Mythor Die Peststadt von Hans Kneifel Band 03
Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, um ein literarisches Zitat zu wi...
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Mythor Die Peststadt von Hans Kneifel Band 03
Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, um ein literarisches Zitat zu wiederholen: »Die Fantasie ist ein weites Land.« Das gilt natürlich auch für die FantasyLiteratur, in der zahlreiche Autoren ihre faszinierenden Welten beschrieben und erfunden haben. Ob J. R. R. Tolkiens »Mittelerde« oder Andre Nortons »Hexenwelt«, Marion Zimmer Bradleys »Darkover« oder das »Hyborische Zeitalter« von Robert E. Howard – all diese Welten boten den Lesern eine Vielzahl von Abenteuern. Und vor allem die Möglichkeit für den Autor, seine Helden durch ganz unterschiedliche Regionen zu schicken, ihn – oder sie! – mit Dschungel und Wüste, mit Wasser und Feuer, mit Hitze und Kälte zu konfrontieren, ihn in Schlachten zu schicken oder in Liebesabenteuer zu verwickeln. Nicht anders ist dies bei MYTHOR, der erfolgreichsten Fantasy-Serie, die jemals von deutschsprachigen Autoren erfunden und geschrieben wurde. Zwar spielen die ersten Romane der Serie in Ländern wie Dandamar und Tainnia, die sehr stark an Nordeuropa im Mittelalter erinnern – das bezieht sich auf die Landschaft ebenso wie auf die geschilderten Länder und Städte. Die von Dämonenpriestern aufgehetzten Caer sind jedoch ebenso lupenreine Fantasy wie die geheimnisvollen Gegner, auf die der »Sohn des Kometen« stößt. Und in den folgenden Büchern wird die Fantasy-Welt, in der sich MYTHOR, der junge Krieger, bewegt, von Mal zu Mal fantastischer; es warten noch viele spannende Seiten »seiner« Welt auf Ihre Entdeckung. In diesem Buch läßt Sie jetzt erst einmal Hans Kneifel, der bekannte Autor für Science Fiction, Fantasy und historische Werke, teilhaben am erbitterten Kampf um die Hafenstadt Nyrngor, den er in seinen Romanen »Die Peststadt« und »Der
Bestienhelm« schildert. Den Abschlußroman des vorliegenden Buches – »Der Mammutfriedhof« – schrieb Hans W Wiener, ein Schriftsteller, der außerhalb der MYTHOR-Serie kaum in Erscheinung getreten ist. An realitätsnahen Kämpfen wird in diesen Romanen ebensowenig gespart wie an gefühlsbetonten Szenen. Lassen Sie sich von diesen zwei Seiten des Helden MYTHOR überraschen! Klaus N. Frick
Die gierigen Finger des Bösen greifen wieder aus der Dunkelzone nach der Welt der Menschen. Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Von Dämonenpriestern vorangetrieben, machen sie sich daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die seit langer Zeit auf dem Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter der junge Mann, den man Mythor nennt und dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt fest daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. Als er sich auf Nyalas Geheiß in einen unterirdischen Tempel begibt, erfährt er, daß der Sohn des Kometen sich diesen Titel erst erkämpfen muß, indem er mehrere Aufgaben erfüllt. In Elvinon gerät Mythor mitten in die Invasion durch das Kriegervolk der Caer. Die von den Dämonenpriestern geführte Invasionsflotte erstürmt die Stadt. Mythor muß fliehen, um die erste der Aufgaben zu erfüllen, die ihm gestellt wurde: Er soll das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, das in Xanadas Lichtburg aufbewahrt wird. Das stellt sich als recht schwierig heraus, denn die ehemalige Lichtburg ist mittlerweile zu einem Hort der Dunkelheit geworden und wird von einem Dämon beherrscht. Nur mit Hilfe neuer Freunde gelingt es Mythor, bis zur Lichtburg vorzudringen und das Schwert an sich zu bringen.
Doch die Burg wird durch den gewaltigen Nöffenwurm und seine Brut vollständig zerstört. Durch lange unterirdische Gänge flieht Mythor mit seinen Gefährten, ohne zu wissen, wohin ihr Weg führt.
Hans Kneifel
DIE PESTSTADT An diesem nebligen Nachmittag brannte die Stadt Nyrngor an drei Stellen. Aus den Dächern und Erkern entlang den Hauswänden schlugen prasselnd die roten Flammen. Schwarzer Rauch trieb in großen Wolken in der kühlen Herbstluft. Die Häuser zwischen der Stadtmauer und dem Palastplatz waren ineinander verschachtelt und lehnten ihre Mauern gegeneinander. Die vielen Giebel bildeten ein Muster aus Dreiecken; die dicken Bohlen der Fachwerke glühten hell, aus den Fensterhöhlen schlug heulend das Feuer. Frauen, Kinder und nur wenige Männer bildeten zwischen Brunnen und Häusern lange Ketten. Lederne Eimer flogen von Hand zu Hand. Am Haus des Stiefelmachers standen Männer auf schwankenden Leitern und leerten die Eimer in die Flammen. Dampf wallte zischend auf und mischte sich mit dem Rauch. Bemooste Flanken der Türme und Mauern, aus Quadern aufeinandergetürmt, waren schwarz von Ruß und Dämpfen. Hängepflanzen waren längst verbrannt, und lange Spuren aus Schmutz, Asche und Wasser rannen an den Mauern herunter. Wimmernde Stimmen erhoben sich durch das Prasseln und Knistern und riefen in den engen Gassen hallende Echos hervor. »Helft uns!« »Die ganze Gasse wird verbrennen!« Aus dem rauhen Umland Nyrngors, aus Dandamar und Eislanden, waren Raubvögel und schwarze Raben in gewaltigen Scharen gekommen. Sie hatten sich gesammelt und hockten jetzt in langen Reihen auf den Ästen, die ihr Laub verloren hatten. Ab und zu, wie auf magische Kommandos, schwangen
sich die Vögel in die Luft und bildeten Schwärme. Dann schossen sie hinunter, um die Leichen der Caer und der Krieger von Nyrngor zu zerfetzen. Letzte Wassergüsse löschten einen Brand. Für eine Häusergruppe schien die Gefahr gebannt. Durch die Gasse der Tauschläger und Ölhändler donnerte das Geräusch von Hufen. Eine Abteilung der Leibwache Königin Elivaras sprengte in die Richtung des Hafentores. Mitten zwischen den Kriegern ritt die zwanzigjährige Tochter König Carnens. Ihr hüftlanges Haar war aufgesteckt, ihre bernsteinfarbenen Augen schienen Blitze zu schleudern. Die Reiter galoppierten auf den Platz hinaus, wo neben dem Brunnen der riesige Thalisbaum mit weißer Rinde stand. Knappe Kommandos gellten zwischen den Häuserwänden. »Wir helfen ihnen! Der erste Brand ist gelöscht. Und wenn die Vorräte der Ölhändler brennen?« Die Gardisten sprangen aus den Sätteln und warfen die Zügel rußverschmutzten Knaben zu. Mit langen Sätzen kletterten die Leibwachen auf die Leitern, ersetzten Frauen und Kinder und rissen die Eimer hoch. Sie schrien sich aufmunternde Worte zu. In doppelter Eile wanderten die überschwappenden Eimer die Kette entlang, wurden gekippt und ergossen ihren Inhalt in die Flammen und über die Glut. Für kurze Zeit vergaßen sie alle, daß der Schwarze Tod die Stadt in ihrem unerbittlichen Würgegriff hielt. »Schneller! Mehr Wasser! Weg mit der Leiter!« »Auseinander – der Erker bricht herunter!« Brennende Funken schwirrten unablässig hoch. Wieder zischte Wasser auf glühendem Gebälk. Eine Leiter kippte um; zwei Männer blieben mit zerschmettertem Schädel verkrümmt auf dem Pflaster liegen. Man tauchte Mäntel und Teppiche ins Wasser und schlug mit ihnen auf die Flammen. Eine Frau, deren Haar brannte, lief kreischend durch die Menge. Ein Gar-
dist hielt sie fest, ein anderer schüttete den halbvollen Kübel über ihren Kopf aus. Die Pferde der Leibwache konnten nur mühsam gezügelt werden. Immer wieder scheuten sie vor den Flammen und den Hilfeschreien. Königin Elivara richtete sich in den Steigbügeln auf, hob eine Hand an den Mund und rief: »Sie können sich jetzt selbst helfen! Weiter! Der Feind bricht beim Hafentor durch!« Das hatte jedenfalls der Bote hervorgestoßen, ehe er auf den Treppen des Schlosses zusammengebrochen war. Aber die Schreie der Verteidiger, die jede Botschaft stafettenartig von Haus zu Haus, von Turm zu Turm weitergaben, hatten von einem neuen Angriff, nicht aber von einem Durchbruch gesprochen. Die Leibwächter schwangen sich ächzend in die Sättel. Der Trupp ritt weiter, galoppierte um die Hausecken und zog sich auseinander, als ein Pestkarren auftauchte. Niemand von den Soldaten achtete auf den dumpfen Gesang der schwarzgekleideten Scholaren, von denen die verhüllten Leichen begleitet wurden. Elivara warf einen schmerzlichen Blick auf den Karren, dessen Scheibenräder mahlend über die Pflastersteine rollten. Die Stadt und ihre nächste Umgebung ebenso wie der Hafen schienen verloren zu sein: Hungersnot und Pest plagten Nyrngor und die Dandamaren innerhalb der sechs Mauern. Die Gasse verbreiterte sich, als sie in die Hafenstraße überging. Am Ende einer doppelten Baumreihe tauchten die Umrisse des Torbauwerks auf. Dort wurde erbittert gekämpft. Die Belagerung dauerte nun schon fast zwei Drittel eines Mondes. König Carnen und Syda, die Königin, waren einem Meuchelmord zum Opfer gefallen. Wie viele der etwa vierzigmal tausend Nyrngorer von der Pest dahingerafft, auf den Mauern oder im Hafen gefallen oder verhungert waren, wußte niemand. Aber jeder wußte, daß die neuneinhalbtausend Caer zu den
wildesten und gnadenlosesten Kämpfern gehörten, die je ihren Fuß auf das Land von Dandamar gesetzt hatten. Die junge Königin ahnte, daß die Stadt verloren und ihr aller Leben verwirkt war, wenn nicht ein Wunder geschah. Sie zügelte ihr Pferd einen halben Speerwurf vor den dicken, eisenbeschlagenen Balken des Hafentors. Hinter ihr standen junge Burschen, schwangen die langen Lederschleudern und katapultierten handgroße Steine und Mauerbrocken über die Mauer, hinaus auf die Hafenstraße. Ein Speer tauchte über der Mauerkrone auf und beschrieb pfeifend eine leichte Kurve. Zwei Schritt von Elivara entfernt bohrte sich die Spitze in den Kadaver eines Pferdes. Nyrngors Stadtmauer war sechseckig. Wo zwei Mauern aneinanderstießen, erhob sich jeweils ein wuchtiger Turm. Auf etwa halber Strecke zwischen den Türmen befanden sich kleinere und größere Tore. Das wichtigste und breiteste Portal führte auf die Hafenstraße hinaus und wurde am heftigsten von den Caer berannt. Hinter den Zinnen der Mauer standen Bogenschützen und schossen ihre Pfeile schräg nach unten. Immer wieder bebten die Torflügel unter dem wilden Ansturm des Rammbocks. Die dröhnenden Schläge der Ramme ließen die Angeln in den Befestigungen zittern, und ihr durchdringendes Klirren ließ jeden zusammenzucken, der verstand, was es bedeutete. Von der Freitreppe eines Hauses und aus einem Gewölbe hatten die Bewohner schwere Quader herausgebrochen. Ächzend, mit Hebeln und Stangen, abgebrochenen Speeren und Stricken zog man die kantigen Steine über Rundhölzer und schichtete sie hinter dem Stadttor auf. Drei Lagen ruhten bereits übereinander; auf einer schiefen Ebene schoben Soldaten, Händler, Seeleute und junge Burschen einen schwarzen Stein hinauf. Unablässig schlug die Ramme gegen den Spalt zwischen den
Torhälften. Elivara deutete nach links und nach rechts. Ihre helle Stimme schien den Mut der Städter neu anzufachen. »Auf die Mauern! Werft die Angreifer zurück ins Meer!« Sie sprang vom Pferd und rannte die schmale Treppe zum inneren Torturm hinauf. Über der Brüstung lag ein toter Krieger. Ein zerbrochener Speer ragte aus seinem Rücken. Die Königin rannte weiter und zog das kleine Kampfbeil aus dem Gürtel. Hoch über sich sah sie die wuchtige Gestalt Torm Shars, des Stadthauptmanns. Er zerrte einen Stein aus der Brüstung, hob ihn mit beiden Armen hoch über den Kopf und schleuderte ihn schräg hinunter auf die Mannschaft, die den widderköpfigen Rammbock vorwärts wuchtete. Torm duckte sich; Pfeile schwirrten um seinen Kopf wie Hagelschauer. Er stieß einen kurzen Fluch aus, als er Elivara die Stufen heraufstürmen sah. Seine Hand im Lederhandschuh streckte sich aus und riß die junge Frau in den Schutz eines Vorsprunges. »Ich habe dir verboten«, keuchte er mit seiner rauhen Baßstimme, »dich auf den Mauern blicken zu lassen. O’Marn lauert nur darauf, auch dich umzubringen.« Sie bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. »Wir haben zwei Brände gelöscht. Ich mußte den Stadtbewohnern Mut machen. Siehst du? Sie verdoppeln ihren Eifer. Warum die Caer nur mit einer solchen Wut und Zähigkeit angreifen?« Um sie herum tobte der Lärm des Kampfes. Inzwischen waren Mannschaften von den nächsten Türmen herbeigeeilt. Ihre Schwerter und Streitäxte blitzten in der Luft und schmetterten die Angreifer von den Sturmleitern. Lange Lanzen schoben sich zwischen die Sprossen und stießen sie zurück. »Es ist ihr Ziel, die Stadt zu erobern. Dann können sie mit diesem Brückenkopf von Norden aus in Ugalien eindringen«, entgegnete Torm, bückte sich und riß eine Lanze hoch. Er bog
seine Schultern nach hinten, suchte sich ein Ziel und schleuderte die Waffe einem Caer-Anführer in die Brust. Die Männer am Rammbock sprangen in Deckung. »Von dort aus ist der Weg nach dem Rest von Tainnia leicht. Wenn auch Elvinon gefallen ist…« Elivara wischte sich den Schweiß und den Ruß von der Stirn. »Sie dürfen Nyrngor nicht bekommen.« Torm Shar lachte dröhnend auf, aber in seinem Gelächter schwang Verzweiflung mit. »Wir würden sie in die See zurücktreiben und ihre Schiffe verbrennen, Königin! Aber in unserer Stadt herrschen Verrat, Intrigen und Meuchelmörder. Denke an deine Eltern!« Elivara hob ihren ungeschützten Kopf über die Brustwehr, wich einem Trupp vorbeikeuchender Soldaten aus und sah auf dem Felsen, der das südwestliche Ende der Hafenbucht kennzeichnete, eine einzelne Gestalt stehen. Es war ein Caer. Sie glaubte ihn zu kennen. Es konnte niemand anders sein als Coerl O’Marn, der legendäre Nachkomme der Alptraumritter. »Wie könnte ich nicht an meine Eltern denken!« fuhr sie auf. »Ihr Tod geschah im Auftrag der Caer. Ich kann es nicht beweisen, aber du und ich«, grollte Torm, »wir wissen es.« »Wahrscheinlich hast du recht«, meinte die Königin. Er bewunderte die junge Frau, die von Tag zu Tag reifer wurde und ihre von Verzweiflung diktierte Rolle als Nachfolgerin der Königsfamilie mit Kühnheit und Mut erfüllte. Sein Herz und sein Arm gehörten ihr und der Stadt. »Nicht nur wahrscheinlich, Elivara«, wiederholte er. »Aber jetzt sollten wir das Tor freikämpfen. Die Dunkelheit läßt nicht mehr lange auf sich warten.« Er sprang zur Seite und wand den Bogen aus den Fingern eines toten Bogenschützen. Er lehnte den vollen Köcher gegen die Brustwehr und zog Pfeil um Pfeil aus dem Bündel und jagte die Geschosse hinunter zu den Caer, die im Halbkreis um
das Hafentor unentwegt angriffen. Elivara spähte zwischen den schartigen Steinkanten in die Richtung des Hafens. Unverändert lagen dort fünf Dutzend Caer-Schiffe. Die drei prächtigsten Schiffe ankerten abseits der Zwanzigruderer. Die düstere Gestalt O’Marns stand noch immer auf dem Felsen. Boten kamen und gingen und wurden von ihm abgefertigt. Er war unzweifelhaft der Anführer der Belagerer. Schweigend und in erbitterter Wut jagte Torm Shar seine Pfeile in die Reihen der Ramm-Mannschaft. Das Dröhnen und Krachen des Widderkopfs hatte aufgehört. Tote und stöhnende Verwundete lagen rechts und links des Tores. Jetzt schleppte eine Frau große Bündel von groben Pfeilen mit dick umwickelten Spitzen die Steintreppe zur Tormauer herauf. Ein Junge folgte ihr, der einen eisernen Glutkorb trug. Torms Stimme donnerte und gab einige Befehle. Bogenschützen rannten der Alten entgegen und rissen ihr die Geschosse aus den Händen. Elivara erkannte, daß ihre Anwesenheit hier nicht mehr nötig war. Während sie zum Torplatz hinunterstieg und ihre Leibgarde suchte, dachte sie wieder voller Sorge an die ersten Pestfälle. Seit langer Zeit traten die Erkrankungen auf. Die Menschen in der Stadt, die dicht gedrängt wohnten, steckten sich gegenseitig an. Viele waren krank, viele waren gestorben. Am Rand des Schloßplatzes wurden die Gräber ausgehoben. Elivara blieb im Steigbügel stehen und hob ihre Streitaxt. Ihre Leibwächter versammelten sich um sie. Von der Mauer schössen Bogenschützen ihre Brandpfeile nach den Caer und setzten das hölzerne Dach über dem Widder in Brand. »Her zu mir, Männer!« rief sie. »Die Caer greifen auch an anderen Stellen an!« Niemand hatte damit gerechnet, daß die junge Prinzessin nach dem Mord an ihren Eltern sofort die Herrschaft ergreifen und die Verteidigung von Nyrngor in ihre Hände nehmen
würde. Der Stadthauptmann hatte ihr geholfen und die Männer der Stadt, so gut er konnte, zu entschlossenen Verteidigern ausgebildet. Jeder Bewohner Nyrngors half mit allen seinen Kräften, und da die Mauern noch standen, befand sich Nyrngor noch immer in der Hand der neuen Königin Elivara. Wie lange noch – das konnte niemand sagen. Wieder galoppierte der Trupp los. Sie ritten zwischen der Mauer und den Hausfronten zum nächsten Tor. Die Hauswände waren übersät von den Einschlägen geschleuderter Steine, Speerspitzen steckten in den Balken, überall sahen die Gardisten die Spuren von kleinen und großen Bränden. Die Hufschläge klapperten über das Pflaster. Es war aufgerissen und voller Löcher, denn die Stadtbewohner hatten die Steine als Geschosse verwendet. Kurz vor dem nächsten Tor – es war niedriger und schmaler – rissen die Männer ihre Pferde hart zurück. Von einem Erker baumelte ein Strick, der in eine Schlinge auslief. Vier Männer hielten einen fünften fest. Er blutete aus einer Unzahl kleiner Wunden. Ein Peitschenhieb hatte sein Gesicht aufgerissen, seine Kleidung war zerfetzt. In den aufgerissenen Augen des Mannes stand nackte Todesfurcht. Elivara lenkte ihr Pferd zu der Gruppe und fragte: »Was geht hier vor? Wollt ihr ihn hängen?« Ein alter Mann, der noch vor einem Mond im Hafen gearbeitet hatte, nickte. »Er muß hängen. Dieser Tod, bei Fordmore, ist noch viel zu gut für ihn.« Die Hände des Delinquenten waren auf dem Rücken gefesselt. Er zitterte vor Angst, aber in ihm schien eine dämonische Macht zu stecken, etwas, das ihn in erbarmungslosem Griff festhielt. »Was werft ihr ihm vor?« »Königin«, sagte der Sprecher mit fester Stimme, »er wurde von uns allen beobachtet. Draußen wartet ein Trupp Caer. Er
wollte ihnen das Tor öffnen. Sieh die Ketten!« Die wuchtigen Riegel und Krampen des Tores waren mit Ketten versperrt, deren Glieder handgroß waren. Die ersten Schlingen und Knoten der Ketten waren geöffnet, die Enden hingen bis zum Boden herunter. Es war eindeutig, jemand hatte mit viel Mühe versucht, die Halterungen zu öffnen. »Ich sehe die Ketten«, sagte Elivara langsam. »Ich sehe auch, daß Nyrngor beinahe durch die Hand eines Verräters gefallen wäre. Der Alptraumritter wartet auf jede Chance. Wer hat dich angestiftet?« Dies war nicht der erste und sicher nicht der letzte Fall von offensichtlichem Verrat. Heute und hier hatte man den Täter gefaßt. Der Feind schien innerhalb der Mauern Verbündete zu haben. »Ich frage dich noch einmal«, wiederholte die Königin mit schneidender Stimme. »Wer hat dich bezahlt? Was hat man dir versprochen? Warum wolltest du das Tor öffnen?« Der Verräter schüttelte den Kopf. Er öffnete die Lippen und wollte ein Wort hervorstoßen, aber die Stimme versagte ihm. Sein Zittern wurde stärker, es riß förmlich seinen Körper aus den Händen der Männer. Auf seiner Zunge erschien weißer Schaum, er verdrehte die Augen und stöhnte. Ein schrilles Wimmern drang aus seiner Kehle, er krächzte etwas Undeutliches und knickte in den Knien ein. Die Männer rissen ihn in die Höhe, aber er war nicht fähig, auch nur ein Wort zu sagen. Es war unheimlich; die Pferde wichen vor dieser gequälten Kreatur zurück, und der Menschen bemächtigte sich ein lähmendes Entsetzen. »Knüpft ihn auf, dann werft seinen Leichnam hinunter zu den Caer!« befahl Elivara. »Coerl O’Marn soll sehen, daß wir wachsam sind. Weiter!« Die Leibgarde ritt um die Gruppe herum und auf den nächsten Platz zu. Hinter ihnen hallte zwischen den Mauern ein
schriller Schrei, der unvermittelt abriß. Als sich die Königin vor der nächsten Ecke umwandte, starrte sie mit brennenden Augen auf den Körper, der sich schaukelnd unter dem Erker in der Schlinge drehte. Der Anführer der Wache stieß zwischen den Zähnen hervor: »Wenn die Stadt fällt, Königin, dann durch einen solchen Verrat.« »Wir haben nicht genügend Männer, um jeden Winkel und jedes Tor ununterbrochen zu kontrollieren«, sagte sie niedergeschlagen. »Seit Wochen halten wir den Caer stand. Aber niemand schützt uns vor Verrat.« »Das ist die Magie der Caer. Sie sind die Stellvertreter des Bösen. Habt ihr einen Schutz, dort im Schloß Fordmore, gegen das Böse aus der Schattenwelt?« »Nichts anderes als unseren Glauben daran, daß wir alles durchstehen können.« Pest, Brände, Kampf und Verrat wüteten innerhalb der Mauern. Als der Trupp quer über einen kleinen Brunnenplatz ritt, erreichte er das hintere Ende eines Halbkreises von Menschen, die sich vor einem Laden drängten. Es war eine kleine Bäckerei; der Geruch frisch gebackenen Brotes wehte über den Platz. Aber auch in diesen Geruch mischte sich etwas Fremdes. Es war, als habe der Handwerker seinem Teig merkwürdige Substanzen beigefügt. Die Königin hob den Arm, einige Leute drehten sich um und grüßten sie schweigend. »Bäcker!« rief sie. Hinter den flachen, dampfenden Laiben tauchte der Oberkörper des Bäckers auf. »Königin! Hast du Hunger? Oder deine Wächter?« »Wir haben keine Zeit. Was hast du in dein Brot gemischt, daß es so streng riecht?« »Ich habe es gestreckt. Kleie. Körner und gemahlene Rinde!« Er hob einen Laib hoch, brach ihn auseinander und zeigte E-
livara die Bruchfläche. Ein klebriger Streifen verlief durch die Mitte des Backwerks. »Komm heute zum Schloß. Wir haben noch einige Säkke Mehl dort. Es sind nicht mehr allzu viele, aber du sollst besseres Brot machen.« »Ich danke dir!« rief der Bäcker. Ein Murmeln durchlief die Menge der hungernden Menschen. Die Vorräte schmolzen mehr und mehr dahin. Der Hafen war besetzt, das Umland wurde von den Caer kontrolliert, und daher gelangte nichts mehr nach Nyrngor herein. »Keinen Dank. Ich will, daß die Stadt der Belagerung standhält. Viele Caer sind erschlagen worden.« »Wir werden sie zurücktreiben und ihre Schiffe verbrennen!« schrie der Bäcker begeistert und warf seine Brothälften in die Menge. Auch von dieser Stelle der Mauer wurden Steinbrocken und Brandpfeile zu den Angreifern hinuntergeschossen. Der nächste Abschnitt der Stadtmauer verlief über Felsen und Klippen, und man brauchte hier mehr Späher und Wächter als Verteidiger. An den Klippen hatten die Caer erst viermal angegriffen, dagegen belagerten sie das Nordtor besonders wütend. Die müden Tiere wurden ein letztes Mal zur Eile angetrieben. Der Trupp sah überall die Anstrengungen der Verteidiger. Die Bewohner von Nyrngor standen auf den Wällen, stellten Waffen her und füllten Bottiche mit Wasser, um gegen den nächsten Feuerbrand geschützt zu sein. Die Helligkeit des Tages schwand langsam dahin, als sie das Nordtor erreichten. Der höchste Turm, der Sklutur des Beinernen, war nicht mehr fern. Schon von weitem hatte Elivara den Kampflärm gehört. Geschosse aller Art flogen über die Mauer, landeten in den Gassen und wurden von den Verteidigern immer wieder zurückgeschleudert. Ein großer Kessel stand mitten vor dem Tor über
dem Feuer, seine Ketten waren an einem Dreibein befestigt. Die Flammen erhitzten Öl, das die Städter in kleinen und großen Krügen aus den Häusern der Nachbarschaft heranschleppten. Ein erstickender Geruch lastete zwischen den Häuserfronten und dem Tor. Als die Menschen ihre junge Königin erkannten, verdoppelten sie ihren Eifer. Einzelne Rufe der Begeisterung waren zu hören. Elivara schwang sich aus dem Sattel und ging auf das Feuer zu. Hinter der nächsten Häuserzeile wartete ihr kleiner Streitwagen. Ihr Pferd war erschöpft, und die beiden Rappen vor dem Wagen hatten Zeit gehabt, neue Kräfte zu sammeln. Die junge Königin war ununterbrochen in allen Teilen der Stadt unterwegs und wußte, daß der Wille der Verteidiger zusammenbrechen würde, wenn sie nicht mehr sichtbar war. »Was ist das für ein Geräusch?« wollte sie wissen. »Es klingt wie Eisen auf Stein!« Von der Mauer wurde ein großer Holzkübel an einem langen Seil heruntergelassen. Auch zwischen den Zinnen stand ein Dreibein mit einer quietschenden Holzrolle. »Die verdammten Caer«, sagte ein grauhaariger Mann. »Sie schlagen die Torangeln aus den Mauersteinen. Deswegen das siedende Öl, Königin!« Frauen schöpften heißes Öl aus dem Kessel und gossen es in einen Holzkübel. Die Verteidiger zerrten die schwere Last vorsichtig nach oben; die Rolle kreischte herzzerreißend. »Sie hören nicht auf. Sie sind wie Dämonen. So viele sind schon getötet worden, und immer noch berennen sie die Mauern!« Der Anführer der Garde kletterte die Leiter hinauf. Auf der Mauer organisierte er diesen Teil des Kampfes. Brandpfeile wurden in das heiße Öl getaucht und angezündet. Sie zogen kleine Flammen und funkenwirbelnde Rauchfahnen hinter sich her, als sie in der einsetzenden Dunkelheit ins dürre Ge-
sträuch neben den Mauern, in die trockenen Schutzdächer über den Caer und in die gestapelten Ausrüstungen flogen. Sofort entzündeten sich Holz, Felle und Pflanzen. Flammen schossen hoch und leckten nach den Angreifern. Die Caer sprangen unter ihren brennenden Dächern hervor, und jetzt kippten die Verteidiger die schweren Kübel um. Ein breiter Vorhang aus kochendem Öl ergoß sich nach unten und traf viele der Angreifer. Ein zweiter Schauer brennender Pfeile tauchte die Zone vor dem Tor abermals in Feuer und Flammen. Caer, deren Haar und Kleidung brannten, rannten schreiend nach allen Richtungen auseinander. Die Hauptleute versuchten, die Fliehenden aufzuhalten. »Wieder einmal habt ihr gezeigt, daß selbst die Caer von tüchtigen Kriegern zu besiegen sind. Ihr habt es gesehen!« Die Königin wußte wie fast jeder Bewohner, daß die furchtbaren Caer-Krieger mit der Magie und dem Bösen der Schattenzone verbunden waren. Eigentlich sollte Herzog Murdon über die Caer herrschen, aber es war ein offenes Geheimnis, daß die Priester ihn entmachtet hatten, jene unheimlichen Gestalten mit den silberverzierten Mänteln, den spitzen Helmen, die mit bemalten Hörnern und Tierknochen geschmückt waren. Man sah sie von den Mauerkronen aus manchmal zwischen den marschierenden Kriegern hin und her huschen. Auf den Ruf der Königin antworteten die Verteidiger, indem sie jubelten und mit den Waffen gegen die Schilde schlugen. Auch an dieser Stelle umgab bereits ein Wall aus schweren Steinen das metallbeschlagene Tor; falls es zerstört wurde, sahen sich die Eindringlinge einer zweiten Mauer gegenüber, in deren Spalten scharf geschliffene Speerspitzen, Dolche und Eisenstäbe gezwängt waren. Die Schneide der Streitaxt funkelte in den Flammen unter dem Ölkessel, als Elivara rief: »Bringt mein Gespann, versorgt
mein Pferd! Wir müssen zum nächsten Kampfgebiet. Das Schloß steht jedem von euch offen – aber bleibt wachsam!« Was in der Stadt noch in genügender Menge vorhanden war, waren Wasser und Wein. Es ging das Gerücht, daß ein Schenkenwirt den Brand des Dachstuhls mit seinem Wein gelöscht habe. Die Leibwächter entzündeten am Feuer einige Fackeln, und zwei Jungen kamen, die Zügel der Rappen in den Händen, auf den Platz gelaufen. Die schmalen Räder des Streitwagens ratterten über das verwüstete Pflaster. »Du solltest zurück zum Schloß fahren und dich ausruhen, Königin«, sagte der Anführer, als er von der Leiter neben ihr zu Boden sprang. »Ein paar Stunden Schlaf in Fordmore tun dir gut.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe versprochen, in die Pestburg zu gehen. Die Kranken warten auf mich.« »Königin«, keuchte der Anführer, ein hagerer, schwarzhaariger Mann mit unrasiertem, narbigem Gesicht, »du weißt, daß jeder deinen Mut bewundert. Aber der Besuch der Pestburg ist Leichtsinn. Du solltest dein Glück nicht herausfordern.« Sie nahm seinen Arm und ließ sich in den Wagenkorb hineinhelfen. Als sie die Zügel packte, hörte er sie unterdrückt antworten: »Mit dem Mord an meinen Eltern wollten die Caer die Stadt zur Kapitulation reif machen. Wo immer ich mich zeige, schöpfen die Nyrngorer neue Kraft und übertreffen sich selbst. Ich habe das Vertrauen dieser Stadt. Mit dem, was du sagst, hast du recht. Aber ich kann nicht anders. Ich muß überall nachsehen und versuchen, die Stadt zu retten. Du kannst mir am besten helfen, indem du mir weiterhin so zur Seite stehst wie bisher.« Der Anführer schlug mit der Hand gegen seine Brust und versicherte: »Das werde ich tun. Mit dir gehe ich sogar in die Pestburg!« Sie nickte und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Zuerst
sehen wir nach, wie es um die anderen Tore und die Mauern bestellt ist.« »Wir kommen.« Immer mehr Fackeln wurden angezündet und über den Köpfen geschwenkt. In kleinen steinernen Nischen der Mauern und der Häuser wurden flackernde Öllampen aufgestellt. Der Kampfwagen ratterte vom Torplatz weg, in eine gekrümmte, aufwärts führende Gasse hinein und unter Erkern und Baikonen in Schlangenlinien wieder abwärts. Einige Männer der Leibwache blieben am Tor zurück, die anderen folgten der Königin. Schon als sie sich entlang der Mauer dem weiter östlich gelegenen Landtor näherten, bemerkten sie die Aufregung am Brunnenplatz. Die Männer, die in mehr oder weniger gleichmäßigen Abständen auf der Mauerkrone standen und das Land beobachteten, schrien begeistert zur Königin herunter. »Seht ihr Gefahren?« rief der Anführer. »Bei mir ist alles ruhig«, erklang es von oben herunter. »Und bei dir?« Auch hundert Schritt weiter östlich schien es keine Angreifer zu geben. »Ich sehe niemanden. Nur die Schiffe!« So ging es weiter, bis die kleine Truppe den Brunnenplatz erreichte. Dort rannten Menschen wie rasend durcheinander. Viele von ihnen schwenkten Fackeln, und die Königin ergriff, je näher sie kam, mehr und mehr eine dunkle Ahnung. Was sie undeutlich sah, bedeutete nichts Gutes. Der Streitwagen fuhr mitten zwischen die Menge hinein und hielt an. Ein immergrüner Baum mit gezackten Blättern stand, wie an vielen Stellen der Stadt, neben dem Brunnen. Es war ein tiefer Brunnenschacht, der seit Menschengedenken kühles, sauberes Wasser lieferte und nicht einmal in Zeiten größter Dürre ver-
siegt war. Mehr als ein Fünftel der Städter wurde von diesem Brunnen versorgt. Vor der gemauerten Brunnenumrandung lagen vier Gestalten. Zwei von ihnen waren zusammengekrümmt und lagen still da. Die beiden anderen, ein junger Mann und ein Mädchen, wanden sich wimmernd im niedergetrampelten Gras. Auf dem granitenen Abschlußstein stand der Wassereimer, das lange Seil hing in Schlingen herunter. Elivara rannte entsetzt auf die zuckenden Körper zu. Eine Frau bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden und trug einen Krug. Sie beugte sich zu dem Mädchen hinunter und schrie: »Sie sind vergiftet, Königin!« Ein grau gekleideter Mann humpelte auf die reglosen Körper zu und untersuchte sie mit geübten Griffen. Er wandte sich an Elivara und sagte halblaut: »Zu spät. Sie sind tot. Alle vier haben von dem Wasser getrunken.« Er zeigte auf den Brunnen. Elivara blickte sich aufmerksam um, nahm einem Leibwächter die Fackel aus der Hand und näherte sich dem Brunnen. Als sie sich über den gemauerten Schacht beugte, nahm sie einen fauligen, stechenden Geruch wahr. Die Frau, die versuchte, dem Mädchen warme Milch einzuflößen, schrie in ohnmächtiger Wut: »Die verfluchten CaerPriester! Ihre Zauberei hat das Wasser vergiftet!« Der narbige Anführer, der sich seit Tagen immer in unmittelbarer Nähe der Königin aufhielt, nahm eine Fackel und leuchtete in den Brunnen hinein. Er glaubte, auf dem Wasserspiegel einen runden, sackähnlich aufgeblähten Gegenstand treiben zu sehen. »Ich bin nicht sicher«, schrie er, »aber im Brunnen liegt ein Kadaver. Er hat das Wasser vergiftet.« Das Mädchen würgte jeden Schluck, den ihm die Frau ein-
flößte, qualvoll wieder hervor. Ihr dünner Körper bäumte sich auf. »Es waren die Caer!« »Sie haben jemanden von uns mit Magie gezwungen, ein totes Tier in den Brunnen zu werfen«, widersprach die Königin. »Wie auch immer, der Brunnen ist vergiftet worden. Legt Bretter darüber, aber zuerst laßt jemanden hinunter, der den Kadaver heraufzieht! In einigen Wochen ist das Wasser wieder rein. Trotzdem darf niemand einen Tropfen davon trinken. Ich befehle es!« Hände griffen zu und legten die zwei Lebenden auf einen Karren. Unablässig versuchten die Anwohner, die Vergiftung mit warmer Milch zu bekämpfen, das einzige Mittel, das sie kannten. Der Leibgardist sprang, die auflodernde Fackel über dem Kopf schwingend, auf den Brunnenrand und rief nach einem langen Blick der Verständigung mit der Königin: »Ich bin Dhorkan, der Stiefsohn des Stadthauptmanns Torm Shar. Ich begleite die Königin. Tut, was Elivara gesagt hat: Entfernt den Kadaver und verschließt den Brunnen. Es war vielleicht Magie der Caer-Priester, die einen von uns heute dazu brachte, beinahe ein Stadttor zu öffnen. Und es war vielleicht dieselbe Magie, die jemanden antrieb, ein verwestes Schaf oder eine Ziege in den Brunnen zu werfen. Wir werden auch die Priester zurücktreiben, aber nur dann, wenn jeder weiterhin so tapfer kämpft wie bisher. Niemand wird uns helfen! Wir sind ganz allein. Und alle Gegenwehr kommt nur aus den Mauern der Stadt. Hofft auf euch, aber hofft nicht auf ein Wunder! Wir sind vierzigtausend, und die Caer sind weniger als ein Viertel von uns. Und jetzt – gönnt unserer Königin etwas Ruhe! Vielleicht kann ich sie überreden, ein paar Stunden in Schloß Fordmore auszuruhen. Sie hat selbst gesagt, daß die Tore für jeden offenstehen, der ein Anliegen hat.« Er hoffte, während er redete, daß niemand ein Anliegen ha-
ben mochte. Die Königin brauchte mehr als nur ein paar Stunden Ruhe. Er wirbelte noch einmal die Fackel über seinem Kopf und sprang vom Brunnenrand herunter. Er winkte. Die Königin lächelte schon zum zweiten Mal an diesem Abend. Dhorkan nickte ihr zu, schlug mit der flachen Hand knallend auf die Flanke des Rappen. »Los! Und zwar schnell!« Er hatte gesehen, daß die Königin am Ende ihrer Kräfte war. Das Gespann zog an und verließ in langsamer Fahrt den Platz. Drei Schritt hinter dem Wagen der Königin ritt Dhorkan, die linke Hand am Zügel, die rechte am Griff des Schwertes. * Die Dandamaren, ein unabhängiges und stolzes Volk, hatten seit jeher weniger durch Bestellung der Felder ihren Reichtum gesammelt, sondern durch den Handel, der sich in und um ihren Hafen herum abspielte. Sie waren Kaufleute und Seefahrer, und seit Generationen herrschten Könige über sie, die weise, friedliebend und weitsichtig waren. Der letzte König aus dem Geschlecht war Carnen gewesen, der Vater der jungen, mandeläugigen Elivara; seine Frau und er hatten den Stadtstaat zur Blüte gebracht und dafür gesorgt, daß jeder Bürger ein gutes Leben hatte. Während Elivara den Wagen durch die Gassen und Straßen Nyrngors in die Richtung der Pestburg lenkte, dachte sie über diesen Tag nach. Sie war wirklich müde und dachte an ein Bad, an einen langen Schlaf und an Ruhe und Frieden. All das war unmöglich. Krieg und Tod herrschten innerhalb und außerhalb der Mauern, und der Hafen war verloren. Die größte Sorge der Königin galt den heimlichen Verbündeten der Caer in der Stadt. »Was denkst du, Dhorkan?« fragte sie ins Dunkel hinter ihr.
Der junge Mann schluckte einen Fluch hinunter und erwiderte: »Ich denke ununterbrochen nur Böses und Dunkles, Königin.« »Sprich alles aus, was du denkst, aber sage es nur zu mir, nicht zu den Stadtleuten.« »Keine Sorge«, erwiderte er. »Was wir brauchen, ist tatsächlich ein Wunder. Ich bin Krieger und Soldat, und ich muß erkennen, daß es schlimm um Nyrngor steht. Wir können nicht mehr lange durchhalten. Und das magst du selbst ebensogut wissen wie ich: Es wird kein Wunder geben, und die verfluchten Priester der Caer werden über den Rest der Stadtbevölkerung herrschen, weil wir alle zu Sklaven geworden sind.« Ein Hauch magischer Kraft schien die junge Königin zu umwehen. Die Menschen der Stadt schöpften neue Hoffnung, wo sie auftauchte. Sie war alles andere als eine Magierin, aber dadurch, daß sie mit knappen und bestimmten Befehlen Ordnung schuf, Ratschläge erteilte, zu jedermann freundlich und gerecht war und nicht einmal davor zurückschreckte, die Magazine von Schloß Fordmore für die Hungernden zu öffnen, schlug jedes Herz innerhalb der sechseckigen Befestigung für die Erbin des Thrones. Nein! Nicht jedes Herz. Es gab Verräter. »Es wird kein Wunder geben«, antwortete sie, als sie zwischen den letzten Häusern auf die freie Fläche hinauskamen, auf der sich mehrere Gassen kreuzten. Im bleichen Licht des Mondes und der wenigen Fackeln und Öllampen ragte direkt vor ihnen die Pestburg auf. »Nein«, wiederholte sie. »Kein Wunder, Dhorkan. Hier in der Pestburg liegen die Todkranken und die Sterbenden. Seit ich denken kann, gab es nicht soviel Leid in Nyrngor wie in diesen Tagen. Es ist müßig, zu fragen, warum das Schicksal gerade uns schlägt. Es ist so – und unser Leben ist noch lange nicht vorüber.«
Dhorkan antwortete dumpf: »Ich glaube, du bist mutiger als wir alle, Königin Elivara!« »Hoffentlich müssen wir niemals in Wettstreit treten«, sagte sie scheinbar leichthin. * Fürst-Richter Carbell hob langsam den großen, silbernen Pokal. Er fühlte tief in seinem Inneren so etwas wie Rauch oder Nebel oder Beklemmung. Verschiedene Stimmen sprachen immer wieder mit ihm, und wenn sie etwas sagten, so bedeutete es für ihn einen Befehl, einen Zwang, dem er nicht entkommen konnte. Er gehörte nicht mehr sich selbst, aber das wußte er nicht. Carbell sah in der Oberfläche des dunklen Weines sein Gesicht wie in einem Spiegel. Die schwankende Flüssigkeit verschob und verzerrte die Linien; einen Augenblick lang grinste ihn eine dämonische Fratze an. Verwirrt hob Carbell den Pokal an seine Lippen und trank einen tiefen Schluck. »Achtet darauf«, sagte er dann mit schwerer Zunge, »der Königin Elivara darf kein Haar gekrümmt werden!« Farst grinste, drehte die Enden seines Bartes und kicherte: »Aerinnen und Feithearn wollen sie lebend. Ich weiß, warum.« »Schweig!« grunzte Carbell. »Das geht dich und uns nichts an. Sorgt dafür, daß die Männer der Leibwache unschädlich gemacht werden. Besonders dieser junge Narr Dhorkan.« Atoaker spielte mit seinem kurzen Schwert und stieß hervor: »Und welche Garantie haben wir? Die Caer werden uns als Mitwisser betrachten und schneller beseitigen, als wir die Hand aufhalten können.« »Das werden sie nicht. Ich sorge dafür«, versicherte der Fürst-Richter ohne rechte Überzeugungskraft. »Seit wann verhandelst du mit den Caer?« wollte Shorcar
wissen. »Es war einige Tage nach dem rätselhaften Tod des Königs und seiner Frau«, sagte Carbell. Sieben Männer saßen auf Stühlen, Hockern und Kisten in seinem Arbeitszimmer um ihn und einen neunflammigen Leuchter herum. Ihre Augen leuchteten wild und gierig, denn auf dem Tisch zwischen ihnen lagen goldene Münzen. Das Glänzen der Goldstücke erinnerte Carbell an etwas, aber er wußte nicht, woran. Alles, was er wußte, wurde ihm von jenem fremden Willen diktiert. »Damals kamen sie zu mir.« Er stöhnte auf und sprach weiter: »Sie wird heute nacht noch die Pestburg besuchen. Sie hat es versprochen. Der Platz vor den Hütten und Schuppen ist dunkel. Ihr wißt besser als ich, wie man in der Finsternis kämpft.« »Vermutlich, Fürst-Richter«, bestätigte Farst. »Und wohin bringen wir die Königin, vorausgesetzt, wir können die Leibwache überwältigen?« Die Pestburg bestand aus einer Ansammlung alter Häuser, Hütten und Magazine am Rand des freien Platzes um Schloß Fordmore. Das Innere der Häuser war ebenso verfallen und alt wie ihr Äußeres. Hier waren die Opfer der Pest untergebracht. Hier litten und starben die Kranken, und es gab wenige Stadtbewohner, die sich ins Innere dieser stinkenden Räumlichkeiten hineinwagten. Bedächtig gab Carbell zurück: »Ihr fragt, wohin Elivara gebracht werden soll? Nun, es wird rechts in der Gasse der Tuchmacher ein Pestwagen warten.« Shorcan sprang auf und breitete die Arme aus. »Ein Pestwagen? Wir sollen uns wohl anstecken und sterben? Und du behältst alle die Goldstücke hier, wie?« »Narren!« fuhr Carbell auf und stellte den Pokal hart auf den Tisch zurück. »Es ist kein wirklicher Pestwagen. Niemand wird es wagen, die Decken anzuheben. Der Wagen wird aus der Stadt geschafft.«
»Durch die Tore, an denen gekämpft wird? Du mußt verrückt sein, Carbell«, rief Aigouz laut. Carbell winkte mit beiden Händen ab. »Still! Wir fallen auf, wenn wir hier reden und nicht auf den Mauern kämpfen!« Farst, Atoaker, Shorcan und Aigouz waren Matrosen, die für Gold und Versprechungen alles taten, was man von ihnen verlangte. Das Gold hatte sie geblendet. Carbells Zusicherung, daß die Caer beim Sturm auf die Stadt seine Helfer verschonen und ihnen Plätze auf den schnellen Schiffen geben würden, wiegte sie in Sicherheit. Gostak, derjenige, der das Aas in den Brunnen geworfen hatte, stand auf und ging zum Fenster. »Königin Elivara wird von ihrer Leibwache geschützt. Dhorkan nimmt es mit dreien von uns auf. Warum treibst du uns in den Tod?« Fürst-Richter Carbell hatte tagelang nachgedacht und alles geplant. Unter dem Vorwand, Maßnahmen zur Verteidigung der Stadt treffen zu müssen, hatte er sich von den Stadtbewohnern helfen lassen. Sein Plan schien vollkommen zu sein, darüber hinaus war er von bestechender Einfachheit. Carbell, ein großgewachsener, mächtiger Mann mit breitem Gesicht, griff wieder nach dem Weinpokal und sagte, sich selbst zur Ruhe zwingend: »Niemand will euren Tod, Gostak. Alles ist genau berechnet. Wenn die Königin die Pestburg verläßt, überfallt ihr die Leibwache. Ich weiß, daß sich nur Dhorkan in die Burg hineinwagt. Mit ihm werdet ihr zu siebt wohl fertig werden, denke ich. Oder werdet ihr plötzlich zu Feiglingen?« »Nein. Wir bringen die Königin zum Stadttor«, sagte Diveliz. »Und dann?« »Dann wartet ihr, bis die Caer durchbrechen«, antwortete der Fürst-Richter und betäubte mit einem Schluck Wein einen Gedanken, der aus irgendeiner Tiefe aufstieg. »Sie nehmen die Königin mit sich. Als Geisel ist sie unersetzlich. Die Stadt wird
sofort kapitulieren, wenn Elivara in der Hand unserer neuen Freunde ist.« »Ich habe verstanden«, murmelte Arrezen, der letzte der sieben Männer. »Und wann soll das sein?« »In einer Stunde ungefähr«, antwortete Carbell. »Ihr kennt die Pestburg?« »Wer kennt die Pestburg nicht?« meinte Farst. Schmalbrüstige, halb verfallene Häuser mit windschiefen Erkern, modernden Säulen und knarrenden Fenstern, von durchlöcherten Dächern gerade noch zusammengehalten, schmutzig und uralt – das war die Pestburg. Eine Handvoll dieser armen Hütten bildete zwischen drei leeren Gassen das Ghetto für die Unglücklichen, die sich angesteckt hatten und jetzt furchtbare Qualen litten. Aus allen Teilen der Stadt karrten die Pestkarren sie heran, vermummte, behandschuhte Helfer luden die Kranken ab und zerrten die Leichen aus den dunklen Winkeln, in die sich die Opfer verkrochen hatten. Die Gassen und die kleinen Plätze rund um die Pestburg wurden von jedermann voller Angst gemieden. »Jeder kennt sie«, bestätigte Shorcan. »Ihr wißt, was zu tun ist. Dort hinten liegen Waffen«, sagte Carbell düster. »Nehmt, was ihr braucht. Die Hälfte der Bezahlung jetzt, die andere Hälfte, wenn Elivara auf dem Pestkarren liegt.« »Meinetwegen. Bisher haben wir dich alle als einen Mann gekannt, der zu seinem Wort steht«, sagte Aigouz mürrisch. »Wir verlassen uns darauf, daß alles stimmt, was du uns gesagt hast.« Carbell ging zum Fenster, riß den schweren Vorhang zur Seite und starrte hinaus. Sein Haus lag am anderen Ende der Hafentorstraße. Von hier aus sah er den ununterbrochenen Kampf. »Und wenn Elivara aus der Stadt verschwunden ist«, Car-
bells Stimme senkte sich und wurde prophetisch, »wird Coerl O’Marn uns alle belohnen. Der Lohn wird einzigartig sein, denn wir haben den Caer das Land geöffnet.« Er wandte sich um und deutete auf das Gold und die Waffen. »Nehmt euren halben Lohn, steckt die Waffen ein und verlaßt einer nach dem anderen das Haus. Morgen soll nur noch der schwachsinnige Bruder der Königin in Schloß Fordmore sein.« »Wenn es die Caer so wollen«, knurrte Diveliz, schob ein Krummschwert unter seinen Rock und schloß die Tür hinter sich. Der schwarzgekleidete Mann fiel in den Sessel zurück. Wieder sah er sein Gesicht im Spiegel des schweren, aromatischen Weines. Er atmete schwer und schwieg lange. Dann starrte er auf die Goldstücke, die zwischen den Falten des dunkelroten Stoffes lagen und in den Kerzenflammen schimmerten. In Carbell begann ein merkwürdiges Gefühl verschwommen Gestalt anzunehmen. Aerinnen und Feithearn waren für ihn wie aus dem Nichts aufgetaucht, und seit ihrem Gespräch hatte sich sein Leben verändert. Warum er, der Fürst-Richter, nicht wie jedermann auf den Zinnen und an den Toren kämpfte, wußte er selbst nicht. Auch nicht, warum er sich als Vertrauter des ermordeten Königs gegen die Herrscherin von Schloß Fordmore stellte, warum Männer in seinem Auftrag Brunnen vergifteten, Stadttore zu öffnen versuchten und auf andere Weise den Einmarsch der Caer nach Nyrngor herauszufordern trachteten. Daß ihn die Caer-Priester mit einem magischen Bann belegt haben konnten, daß er eine fast willenlose Marionette der Männer in den schwarzen Mänteln geworden war – darauf kam er nicht von sich aus. *
Ein letztes Mal wandte er den Kopf und warf einen langen Blick hinüber nach Nyrngor. Hunderte von Fackeln, Lampen und kleinen Feuern säumten ein Drittel des Horizonts. Die wuchtigen Mauern, auf deren Kronen die Lichtpunkte der Fackeln hin und her wanderten, spiegelten sich im Wasser vor dem Hafen. Nur auf wenigen der dreiundsechzig Caer-Schiffe gab es Bewegungen und Lichter. Coerl O’Marn hob das Visier des Helmes hoch. Der Rand des Schildes schlug klirrend gegen einen Teil der schweren Rüstung. Unter den zerzausten Adlerfedern kam ein braunes, hartes Gesicht zum Vorschein, mit kalten Augen unter grauen, buschigen Brauen. »Bringt Chelm!« sagte er in die Finsternis zu seiner Rechten. Als Antwort ertönte hinter den Teilen einer Belagerungsmaschine das dumpfe Wiehern seines Pferdes. »In zwei oder drei Tagen wird Nyrngor gefallen sein«, sagte der gepanzerte Krieger. Er wußte, daß es so sein würde. Er war in ganz Tainnia gefürchtet, weil es stimmte, was man über ihn raunte. Der größte Kämpfer und Stratege, den es gab, seit die sagenhaften Alptraumritter durch die Lande gezogen waren, eine Spur der Verheerung hinter sich herziehend. Ein Caer mit einer Fackel in der Hand führte den stampfenden Chelm am Zügel vorbei. Der Caer blieb in achtungsvoller Entfernung vor O’Marn stehen. »Caers Blut!« sagte Coerl mit rauher Stimme. »Ich weiß, daß sie heute die Königin fangen werden. Aerinnen hat alles vorbereitet. Ich werde eine Abteilung zum Sturm auf ein Stadttor schicken.« Das Kettenhemd rasselte und klirrte, als sich Coerl in den Sattel schwang. Das Pferd machte ein paar tänzelnde Schritte in die Richtung des schmalen Geländestreifens, der zwischen der Hafenmauer und dem sanft geschwungenen Hafenbecken
mit seinen wuchtigen Magazinen, Handelshäusern, Rampen und Fischerhütten lag. Der Hafen war voller Caer-Schiffe, sie ankerten auch außerhalb und rechts und links der steinernen Leuchttürme. Das Kriegslager der Caer und O’Marns Zelt lagen rechts davon, eine unübersehbar große Menge von Zelten, Stangen und Lagerfeuern. Coerl hob den Arm, der riesige schwarze Rundschild rutschte zur Schulter. Dann spornte der Fünfzigjährige das Pferd und ritt auf das Lager zu. Neben dem Feldzeichen an O’Marns Zelt wartete Feithearn. Der junge Caer-Priester hatte den Langbogen über der Schulter, glitt wie ein Dämon um das Zelt herum und griff Coerl in die Zügel. Chelm scheute, stieg hoch und wurde mit eiserner Hand wieder zu Boden gezwungen. Coerl knurrte: »Was soll das, Feithearn? Gibt es Neuigkeiten?« Die Stiefel unter den geschnürten Beinkleidern O’Marns traten auf Holz oder splitternde Knochen, als er sich aus dem Sattel gleiten ließ. Der Priester kam näher. Seine blauen Augen schienen im Licht des Lagerfeuers aufzuleuchten. Coerl zwirbelte seinen grauen Schnurrbart und betrachtete den Priester mit dem schmalen Gesicht schweigend. »Heute soll die Königin entführt und zu uns gebracht werden.« Der Ritter der Titanenstadt schaute in die Sterne und sah nach der Stellung des Mondes. Dann sagte er, das Gehörte mit finsterer Miene überdenkend: »Das ist nicht neu. Hast du Schwierigkeiten mit Aerinnen?« Er wußte, daß Aerinnen und Feithearn Statthalter der reichen Siedlung Nyrngor werden wollten. Feithearn, der jüngere Priester, war der Lieblingsschüler Drudins, ein Mann von bestechender Eleganz und tiefer Verschlagenheit, dazu ein mehr als begabter Bogenschütze. Aerinnen jedoch – Coerl wußte schon lange, daß ihn der sechzigjährige Intrigant bis aufs Blut
haßte – konnte andere Vorteile für sich ins Feld führen. Wer letzten Endes diese Stadt beherrschen würde, interessierte ihn nur unwesentlich. Wenn dieses Ereignis eintrat, würde er längst an anderer Stelle kämpfen und siegen. »Nein. Nicht heute nacht«, sagte Feithearn und schlang den silberbestickten Mantel um seinen Hals. Der nahe Winter machte sich bemerkbar. »Wir haben Fürst-Richter Carbell fest in unserer Hand.« »Also… was willst du von mir?« »Uns wäre mehr geholfen, wenn du bei dem nächtlichen Sturm auf das schmale südliche Tor selbst dabeisein würdest. Die Städter kämpfen mit dem Mut einer in die Enge getriebenen Bestie.« Coerls tiefes, dröhnendes Lachen ließ die essenden Krieger am Feuer zusammenzucken. »Ich tät’s nicht anders an ihrer Stelle, Caers Blut«, versicherte er ungerührt. »Keine Sorge, Priester. Ich werde dafür sorgen, daß die Stadt an dieser Stelle gestürmt wird.« »Wann wirst du stürmen lassen?« »Wir versuchen es ununterbrochen. In einer Stunde führe ich eine frische Abteilung mit Sturmleitern zum Tor. Ihr habt doch hoffentlich dafür gesorgt, daß von innen jemand die Riegel öffnet?« »Mit Duldamuurs Hilfe.« Es war des Priesters persönlicher Dämon. »Und Carbell wird jemanden bestochen haben, das Tor für uns zu öffnen.« »Dann steht unserem Erfolg in dieser Nacht nichts im Weg«, antwortete Coerl. »Allerdings habe ich ein gewisses Gefühl, das mir sagt: Es geht nicht alles so glatt, wie es die CaerPriester geplant haben. Nyrngor wird mehr Tote fordern als jede andere Stadt, ehe es fällt.« »Auch dies weissagte mir Duldamuur«, pflichtete ihm Feithearn bei.
»Dann geh hinüber zu den frischen Truppen und sage ihnen, daß wir an einer Stelle stürmen, die ich ihnen zeigen werde. Und du? Hilfst du uns mit deinen tödlichen Zauberpfeilen?« Der Spott war nicht zu überhören. Feithearn lächelte und warf sein schwarzes Haar in den Nacken. Er wußte, daß Coerl O’Marn ein aufrechter Mann war, der nur einen Herrn kannte, nämlich sich selbst. »Ich werde versuchen, einige unserer toten Krieger zu rächen«, versprach er. »Bis bald, O’Marn.« Coerl murmelte etwas Unverständliches und schlug den Eingang des Zeltes zurück. Er konnte sich ohne Mühe ausrechnen, daß die Caer vielleicht einen einzelnen Kampf gewannen in dieser Nacht, nicht aber die entscheidende Schlacht um Nyrngor. Und überdies hatte er ein böses Gefühl, wenn er an den ungebrochenen Willen der Verteidiger dachte. Die Stellen vor den Mauern waren übersät mit den steifen Körpern toter Caer. * Zuerst waren die Ratten verendet. Sie kamen auf ihrer Wanderschaft nach Nyrngor und trugen die Seuche mit sich. Pestflöhe stachen die Menschen, und die Erkrankten steckten die Gesunden an. Nach mehreren Tagen entstanden überall auf der Haut eitrige Geschwüre, die Stellen unter den Armen und in den Leisten schwollen an, und während die Menschen schwächer wurden, von bohrenden Schmerzen gepeinigt, brachen die Geschwüre auf und zeigten ihren brandigen Inhalt. Hitziges Fieber schwächte die Körper und rief Erscheinungen hervor, die man als dämonisch bezeichnen mußte: wirre Träume, Angstzustände und innere Blutungen. Im letzten Stadium der Pest verließen die Sterbenden ihre Lager und krochen, solange sie sich noch bewegen konnten, in dunkle Win-
kel. Dort starben sie, weil ihr Herz zu schlagen aufhörte. Bei diesen drei Einwohnern von Nyrngor hatte es ebenso angefangen. Eines Tages zeigte sich ein eitriges Geschwür, das nicht heilen wollte. Jetzt lagen sie nebeneinander auf dem schwankenden Karren, der von einem dürren Klepper gezogen wurde. Die Glocke am Halsband des Zugtiers warnte jedermann. Die Städter sprangen zurück in die Häuser, sobald sie die Glocke hörten. Das Tier kannte den Weg und hielt vor der niedrigen Treppe an. Von rechts ertönten Hufschläge. Der Kampfwagen der Königin und zwei Reiter kamen heran und blieben ebenfalls stehen. Elivara sprang aus dem Wagenkorb, und die Gardisten folgten ihr dichtauf. Ein Greis und zwei alte Frauen halfen dem Arztschüler, die Todkranken vom Wagen zu heben und ins Haus zu schleppen. »Ich rühre sie nicht an!« knurrte Dhorkan und schüttelte den Kopf. »Und auch du, Königin… Ich kann dich immer wieder nur zur Vorsicht mahnen.« Sie sahen die Gestalten nicht, die in der Dunkelheit lauerten. Einige rußende Fackeln und Licht aus wenigen Fenstern erhellten vage den Platz. Nebel näßte die Steine unter ihren Sohlen. Der Anführer der Wache zog aus einer Satteltasche zwei Leintücher und tauchte sie in den großen Krug neben dem Eingang. Die heruntertropfende Flüssigkeit, die sauer und beißend roch, war zu Essig vergorener Wein. »Nimm diesen Lappen, Königin!« bat Dhorkan barsch. »Wenigstens das solltest du tun!« Die Tür knarrte. Aus dem Inneren des ersten Hauses kamen jammervolle Laute. Stöhnen, Wimmern, tappende Schritte und kurze, schrille Schreie erfüllten den Raum und schufen eine gespenstische Kulisse. Aber Elivara blieb hartnäckig. Sie band die Zipfel des feuchten Tuches in ihrem Nacken zusammen, nahm eine Fackel und folgte den Trägern.
Dhorkan stieg hinter ihr die Stufen hinauf, stieß mit der Schulter die Tür auf und blieb neben dem Eingang stehen. Der zweite Wächter hielt die Zügel der Tiere. Vor den Augen der Ankömmlinge breitete sich eine Szenerie des Grauens aus. In Fensternischen standen Öllampen, auf Metallplatten ruhten Feuerschalen, auf die immer wieder Harz oder getrocknete Kräuter geworfen wurden. Die Schalen verbreiteten rote Helligkeit, Hitze und einen Geruch, der zum Teil den Hauch des Todes überdeckte, zum anderen aber betäubend wirkte. Mutig ging Elivara bis in die Mitte des ersten, großen Raumes und sah sich um. Auf einfachen Lagern, auf Decken und auf dem nackten Boden lagen ausgestreckt oder zusammengekrümmt die Kranken und Sterbenden: Kinder, Heranwachsende, Frauen und Männer in den besten Jahren und Greise. Die Pest packte alle ohne Unterschied. Als die Kranken erkannten, wer zwischen ihnen stand, richteten sie sich auf und hoben die Köpfe. Leise Schreie und Bitten ertönten, Hände und Arme reckten sich Elivara entgegen. Eine junge Frau, zum Skelett abgemagert, mit großen, fiebernden Augen, ging einige Schritte und brach neben einem Bett zusammen. Ein Helfer kam und hüllte sie in ein kühlendes Tuch. »Ich kann euch nicht helfen«, sagte die Königin erschüttert. »Ich kann nur versuchen, euch Mut zuzusprechen. Wir tun, was wir können, um die Belagerung zu beenden. Es gibt nicht viele Hände, die euch helfen können, alle kämpfen wir auf den Mauern und hinter den Toren gegen die Caer. Ich werde aus Schloß Fordmore Leintücher und Salben schicken und Decken. Ich weiß, daß schon einige von euch die Pestburg schwach, aber geheilt verlassen haben. Wenn ihr diese Nacht übersteht, können wir alle neue Hoffnung schöpfen.« Sie wußte, daß sie log, denn keines der Pestopfer war gene-
sen. Aber gab es eine andere Möglichkeit, die Unglücklichen etwas zu trösten? Sie kannte keine. Sie hob das Tuch vor ihrem Gesicht und ging mit aufmunterndem Lächeln zwischen den Betten und Decken entlang. Scheu huschten die Helfer, die sich der Gefahr der Ansteckung freiwillig ausgesetzt hatten, hin und her. Eine Frau näherte sich bittend der Königin. »Du hast Tücher und Salbe versprochen, Königin?« »So ist es. Könnt ihr sie vom Palast holen?« »Es ist schwer. Es sind zu wenige Helfer und zu viele Kranke. Schon wieder haben sie welche gebracht.« »Ich schicke meine Dienerinnen mit allem, was ich entbehren kann. Auch die Vorräte von Fordmore schrumpfen.« »Danke, Königin… Sie werden alle sterben.« Die Frau senkte ihre Stimme. Sie sah erschöpft aus, und auch in ihren Kleidern nistete der Gestank, der hier jeden Winkel ausfüllte. Elivara war nahe daran, sich umzudrehen und aus der Pestburg hinauszurennen, aber sie schaffte es gerade noch, sich zu beherrschen. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Aber was kann getan werden, um das Los der Armen zu lindern?« »Wir tun schon alles. Die Kräuter, die wir verbrennen, wirken betäubend und einschläfernd.« »Gut so. Ich schicke meine Dienerinnen, sobald es mir möglich ist«, versprach Elivara und ging langsam weiter. Es war eine Wanderung durch das Zentrum des Schreckens. Stöhnen und Wimmern begleiteten jeden Schritt. Hier lag starr ein Toter, dort verkrampfte sich ein Körper, da stand jemand auf und brach zusammen, wie vom Schwert gefällt, dort wuschen Kranke einen anderen, der noch übler dran war als sie selbst. Verwirrt, hilflos und schaudernd fühlte die Königin, wie Dhorkan sie an den Schultern ergriff und die Stufen wieder hinunterführte. Er riß sich und ihr die Tücher vom Ge-
sicht. Die kalte Nachtluft war ein Schock und gleichermaßen eine Wohltat. Vor dem Kampfwagen blieb Elivara stehen und sah sich noch einmal um. »Es ist schrecklicher als jeder Kampf«, flüsterte sie. »Auch die Pest haben wir den Caer zu verdanken. Warum hassen sie uns so, Dhorkan?« »Das weiß ich nicht. Aber es liegt in der Natur des Bösen, alles zu hassen, was anders ist als das Böse aus der Schattenzone. Und jetzt? Nach Fordmore, Königin?« »Ja.« In dem Augenblick, als der Anführer ihr in den Wagen helfen wollte, ertönte von zwei Seiten das Klirren von Metall auf Stein. Schritte kamen näher, ein unverständliches Kommando ertönte. Dhorkan ließ die junge Frau los, seine Hand fuhr zum Schwertgriff. »Achtung! Das sieht übel aus…«, zischte der Anführer. »Hierher!« Er meinte den anderen Leibwächter. Aus der Dunkelheit kamen plötzlich von allen Seiten schattenhafte Gestalten herangesprungen. Das wenige Licht blinkte auf den Schneiden von Waffen. Wie Katzen sprangen zwei schlanke Männer den Wächter an, ihre Arme mit den Waffen zuckten hoch und senkten sich. Die Dolche fanden ihr Ziel, der Mann sank zwischen den Hufen der scheuenden und auskeilenden Pferde zu Boden. »Verrat! Zu Hilfe!« schrie Dhorkan aus voller Kehle. In seiner Rechten funkelte das Schwert, als er sich umwandte und mit aller Schärfe hervorstieß: »Rette dich, Königin! In den Palast! Zum Schloß! Schnell, ehe es zu spät ist.« Es war zu spät. Der erste der sieben Männer warf sich den Pferden in die Zügel, wurde einige Meter mitgeschleift und brachte das Gespann zum Halten. Dhorkan sprang mit einem riesigen Satz
nach links, sein Schwert beschrieb einen Halbkreis, schlug dem nächsten Angreifer die Waffe aus der Hand und bohrte sich dem am weitesten rechts angreifenden Schatten in die Brust. Keuchend und gurgelnd sank der Mann zu Boden. Während der Anführer die Schwertspitze aus dem Körper zerrte, zog seine Linke den Dolch aus dem Gürtel. Er wirbelte herum und sah, wie die kleine Axt der Königin herunterzuckte und einem zweiten Angreifer den Schädel spaltete. Der Mann hatte versucht, Elivara aus dem Wagenkorb zu ziehen. Rasender Hufschlag, das Wiehern der Tiere, das Rattern und Klirren der Felgen auf dem Pflaster, das schwere Atmen und Keuchen der Kämpfenden und das Geräusch der Waffen erfüllten einige Herzschläge später den kleinen Platz. Niemand kam zu Hilfe. Drei Männer drangen auf Dhorkan ein. Sie kämpften mit der Wildheit von verhexten Caer. Ein Krummschwert schmetterte gegen das Schwert des Wächters und prellte es fast aus seiner Hand. Ein Hieb von einem Streitkolben traf seine linke Schulter und wirbelte den Dolch aus seinen gefühllos werdenden Fingern. Aber der Mann mit dem Narbengesicht kämpfte nicht nur um sein Leben, sondern um das der Königin dazu. Er wehrte sich mit einer wahren Raserei. Stahl klirrte auf Stahl, Metall riß aus dem Pflaster lange Funkengarben. Die scheuenden Pferde zerrten den Wagen vorwärts, die Räder rollten über den toten Leibgardisten, und Elivara wurde aus dem Korb geschleudert. Ein geworfener Dolch pfiff durch die Luft und bohrte sich eine Handbreit neben Elivaras Kopf in einen Balken. Das Schwert Dhorkans schlitzte die Brust eines Angreifers auf. Schreiend brach der dritte Mann zusammen. Der vierte holte mit einer Keule aus, umlief den Gardisten und schlug ihm zwischen die Schulterblätter; der Schlag galt dem Kopf und hätte Dhorkan getötet, wenn er sich nicht in die Höhe ge-
schnellt hätte. Ein furchtbarer, lähmender Schmerz fuhr durch seinen Körper. Die Schwerthand fiel herab, er schwankte hin und her und sah Funken und feurige Kreise vor seinem Auge, dann traf ihn ein zweiter Schlag. Das Schwert kerbte seinen Helm, riß die Bänder ab und betäubte ihn mit furchtbarer Wucht. Zwei Handbreit bevor er auf den Boden aufschlug, sah er wie in der plötzlichen Helligkeit eines Blitzes, wie zwei Männer die Königin vom Wagen wegzerrten und die Hand des einen, den Dolch zwischen den Fingern, herunterzuckte. Dann wurde es dunkel um Dhorkan. Die zwei Rappen scheuten, galoppierten an und rissen den führerlosen Wagen vorwärts. Der rasende Hufschlag der Tiere ließ die flachen Steine splittern. Ein Stein kippte, zersprang, und im Boden bildete sich eine trichterartige Öffnung. Die Räder des Wagens schleuderten, wilde Halbkreise beschreibend, funkensprühend über das Pflaster, rissen die Steine auseinander, und der Trichter vergrößerte sich. Einige Teile im Zentrum des Platzes versanken im Boden, Steine und Gewölbereste prasselten aufstaubend nach unten, in einen Hohlraum hinein. Der Wagen sackte durch, wurde wieder über die Kante nach vorn gerissen und schleuderte weiter. Eine Rauchwolke – oder war es Staub? – stieg in die Höhe. Königin Elivara schrie gellend um Hilfe und wehrte sich verzweifelt, als sie von drei Männern in die Richtung des Pestkarrens geschleppt wurde. Und dann geschah etwas, das an Zauberei grenzte oder gar Zauberei war. Aus dem Boden, am Rand des Trichters, wie ein Geist aus dem Rauch herausspringend, erschien eine Gestalt. Dann noch eine. Eine dritte und eine vierte folgten. Und die erste Gestalt, ein Krieger mit heruntergebrannter Fackel und einem leuchtenden Schwert, begriff sofort, was hier vor sich ging.
Der Schlag mit dem Dolchgriff, der ihren Kopf hätte treffen sollen, traf nur die Schulter der jungen Frau. Sie sah, wie sich der fremde Krieger nach vorn schwang, wieder aufrichtete und umsah. Mit einem einzigen langen Blick hatte er erkannt, daß sie in Gefahr war. Trotzdem rief sie, so laut sie konnte: »Helft mir, Fremder!« Er sprang vorwärts, schwang sein Schwert und stieß dem ersten Angreifer die Fackel ins Gesicht. Als der Mann aufkreischend rückwärts taumelte, schnitt das Schwert seinen Hals durch. Ein anderer Schatten löste sich von ihr; vage nahm sie eine Bewegung wahr, etwas pfiff durch die Luft, und keine Armlänge von ihr entfernt bohrte sich ein Wurfdolch in die Brust des nächsten Verräters. Der Fremde, ein breitschultriger Krieger mit einer eigentümlich leuchtenden Waffe, sprang hin und her und tötete die Angreifer mit Hieben von furchtbarer Wucht und unbegreiflicher Schnelligkeit. Als der letzte Angreifer zusammenbrach, kletterte noch eine fünfte Gestalt aus dem Trichter vor der Pestburg. Neun bewegungslose Körper lagen zwischen den Häusern. Elivara bückte sich und hob ihr Beil auf. Sie ging langsam auf den Fremden zu, der sich mit gesenktem Schwert wachsam umblickte. »Ich danke dir«, sagte sie keuchend und verwirrt. »Ich bin sicher, mich hat ein Zauber gerettet.« »Es war weniger ein Zauber«, antwortete der Krieger mit einer Stimme, der man die Anstrengung des Kampfes nicht anmerkte, »wir waren nur im richtigen Augenblick am richtigen Ort. Wer bist du?« »Ich bin Elivara, Königin dieser belagerten Stadt. Diese Verräter wollten mich vermutlich zu den Caer verschleppen. Wer bist du, mein schwarzhaariger Retter?« Er lächelte zurückhaltend und sagte: »Ich bin Mythor. Und wir fünf kommen geradewegs aus der Unterwelt, wie du ge-
sehen hast.« Seine Augen hefteten sich auf die junge Frau. Königin Elivara wußte, daß sie schön und begehrenswert war. Mythor sah vor sich eine Zwanzigjährige mit aufgelöstem, wirr fliegendem braunem Haar und bernsteinfarbenen Mandelaugen. Ein voller Mund, ein Kinn, das Willensstärke verriet, und stark geschwungene Augenbrauen vervollständigten den Eindruck, der von Klugheit und einer schon jetzt deutlichen Herrscherwürde sprach. Obwohl ihr Körper erkennen ließ, daß sie das Schwert geschickter als manche Männer zu führen verstand und sicherlich nicht weniger schlecht ritt, war er weiblich und vollkommen. Ein Ring schaukelte in ihrem rechten Ohr, und schlanke Beine lugten unter dem Fellrock hervor. »Ich habe es gesehen«, sagte sie, dann drehte sie den Kopf. Ein schwaches Stöhnen kam von einem der bewegungslosen Körper, dann bewegte sich der zusammengebrochene Krieger und versuchte sich aufzurichten. Sofort eilte Elivara hinüber zu Dhorkan und hob seinen Kopf in ihren Schoß. »Hilf mit bitte, ihn in den Wagen zu tragen. Er ist der Tapferste von allen. Sie haben ihn nicht getötet!« Erleichterung sprach aus ihrer Stimme. Mythor schob seine Arme unter den schlaffen Körper, der sich ungeschickt zu bewegen begann. Er schleppte ihn bis zu dem Kampfwagen und ließ ihn in den Wagenkorb gleiten. Dann deutete er auf die Personen, die neben dem Trichter standen. »Es sind meine Begleiter. Wir haben einen langen, beschwerlichen Weg durch die unterirdischen Gänge und Korridore hinter uns. Dies hier ist Kalathee, die mir sehr geholfen hat, die einstige Verwalterin von Xanadas Lichtburg.« Mythor deutete auf ein zartgliedriges Mädchen von ätherischer Schönheit, in blauem, engem Kleid und schwarzen Lederstiefeln, das sich erschöpft an die Schulter eines kleinen, hageren Mannes klammerte.
»Steinmann Sadagar reinigt gerade sein Wurfmesser«, sagte Mythor und wischte über seine Stirn. »Der Kleine Nadomir lenkt meine Hand!« Sadagar verzog sein spitzes Gesicht. Dann ging er auf den Leibwächter zu, um den sich bereits eine alte, bucklige Frau kümmerte. »Die weißhaarige Schönheit dort ist Fahrna, die Runenkundige. Und dieser fellige Krieger nennt sich Nottr. Ein Becher Bier, vielleicht ein dunkler Winkel und etwas Essen würden uns guttun, Königin.« »Kommt zum Schloß Fordmore!« sagte sie. »Wir waren auf dem Weg dorthin. Aber bedenke, daß seit zwei Tagen die Caer die Stadt berennen. Wir alle führen ein armes Leben, selbst im Haus des Königs.« Der Leibwächter stand schwankend auf und hielt sich am Wagen fest. »Wer sind… die Fremden?« stieß er verwirrt hervor. »Haben sie dir geholfen, Königin?« »Sie haben mein Leben gerettet und wahrscheinlich auch deines, Dhorkan. Sie sind jetzt die Gäste der Königin.« »Und diese Verräter?« ächzte Dhorkan, während Elivara und Kalathee sich im Wagen zusammendrängten. »Sie sind tot«, sagte Nottr mit heiserer Stimme. »Alle.« Mythor und er sahen sich schweigend an. Sie begriffen, daß sie nicht nur mitten in einer belagerten Stadt ans Tageslicht oder ans Licht der Sterne zurückgekommen waren, sondern daß es innerhalb der Mauern Verräter gab. * Bei jedem Schritt sahen sich Nottr, Sadagar und Mythor wachsam um. Sie erkannten in dem schwachen Licht, wie stark ineinander verschachtelt die Häuser Nyrngors standen. Die Stadt barst aus allen Nähten, die Menschen hatten höher und
höher gebaut, und ein ernsthafter Brand würde ganze Stadteile in ein Flammenmeer verwandeln. Die Gassen waren eng, gewunden und von schrägen Ebenen und Treppen unterbrochen. In der Mitte der Stadt, wo sich die Gassen zu einem freien Platz weiteten, gab es ein paar Bäume und spärliche Grünflächen. Ein rechteckiges Gebäude aus rötlichem Stein erhob sich wie eine schmucklose Zitadelle inmitten des Platzes. Auf den Zinnen loderten einige wenige Fackeln; viele Fenster und Erker befanden sich im oberen Drittel der senkrechten Mauern. Hinter vielen Öffnungen sahen die Fremden Lichter, vor denen sich hin und wieder Gestalten bewegten. Ein niedriges, aber breites Tor führte in das Schloß. »Das muß Fordmore sein«, meinte Mythor und registrierte, daß sich nur wenige Menschen im Umkreis des Schlosses bewegten. »Das Ziel der Caer und ihrer Dämonenpriester.« »So ist es. Ihr werdet alles dort finden, was ihr braucht.« Als sich das Gespann und die Gruppe dem Tor näherten, stürzten einige Wachen und alte Diener hervor. Jedermann, den Mythor und seine Freunde gesehen hatten, schien zu Tode erschöpft zu sein. Die Diener geleiteten die ganze Gruppe durch die Torgasse, durch einen kleinen parkartigen Hof und eine Treppe hinauf in eine warme, von vielen kleinen Öllampen erhellte Halle. Königin Elivara klatschte in die Hände und gab mit energischer Stimme eine Reihe von klaren Befehlen. Die Schar der Ankömmlinge und auch Dhorkan wurden von den Dienern umringt. Man brachte sie in kleine, gut eingerichtete Räume, schleppte heißes Wasser und Wein herbei, und eine Stunde später klopfte jemand an die Tür von Mythors Zimmer. Mythor war gerade dabei, sich mit einem großen, weichen Tuch abzutrocknen. Er schlang das Tuch um seine Hüften und rief: »Wer ist da?«
Seine Hand streckte sich nach dem Griff Altons aus. Das Gläserne Schwert lag quer über einem Tisch, zwischen Weinkrügen, einem Brett mit Käse, Brot und Braten. »Ein Diener, Herr. Königin Elivara bittet dich, zu ihr zu kommen. Sie will ihren Dank abstatten für die wunderbare Rettung.« »Ich komme, sobald ich angezogen bin«, sagte Mythor. »Wie fühlen sich meine Freunde?« »Sie haben alles genossen, was das Schloß ihnen bieten konnte. Auch sie warten auf dich in der Halle.« Mythor und Nottr hatten auf den letzten Schritten durch den schier endlosen Felskamin undeutliche Stimmen und Geräusche gehört. Der Rauch der flackernden Fackeln war durch eine winzige Öffnung abgezogen worden. Dann konnten die Ankömmlinge durch einen Bodenspalt sehen, wie zwei Wachen und eine junge Frau angegriffen wurden, und noch während sie versuchten, die Platten über ihren Köpfen zu lockern, war ein Teil der Decke eingebrochen. Jetzt erkannte Mythor, daß sie sich für die richtige Gruppe entschieden hatten. Als Mythor, sauber, entspannt und nur sein Schwert in den Händen, in die Halle zurückkam, hatte sich die Szene grundlegend geändert. Glutpfannen verbreiteten Wärme, an eisernen Ringen entlang den Wänden brannten frische Fackeln, ungefähr dreißig Leibwächter bildeten ein Viereck um einen hochlehnigen Thron. Tische mit weißen Laken standen da, Becher, Krüge und Pokale wurden von Dienerinnen und Dienern hereingebracht. Die Bediensteten wichen vor Mythor und seinen Freunden zurück und bildeten eine breite Gasse bis zum Thron. Die fünf Fremden blieben vor den Stufen stehen. Ein weiterer merkwürdiger Anblick bot sich Mythor: Elivara, plötzlich keine kämpfende junge Frau, sondern eine strahlende Schönheit, lächelte Mythor und dann seine Begleiter an.
Dhorkan und ein anderer Mann mit ebenso harten und entschlossenen Zügen standen rechts und links hinter Elivara, halb gerüstet und ohne Helm und Schild. Auf der obersten Stufe, Kopf und Schultern gegen Elivaras Knie gelehnt, kauerte ein etwa siebzehnjähriger Junge. Er wandte das ausdruckslose Gesicht Mythors Gruppe zu, starrte aber die auffälligere Gestalt Nottrs an. Ihm fehlte das linke Auge; dünnes blondes Haar fiel in die Stirn. Der junge Mann wirkte schwächlich und schwachsinnig, er war in kostbare Gewänder aus schillernder Seide gekleidet und bewegte sich ungeschickt. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Elivara war nicht zu übersehen. Als der Junge den Kopf hob, Elivara mit einem unverkennbar liebevollen Blick anstarrte, stammelte er ein paar unverständliche Worte. Die Königin legte ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte ihn. »Meine Freunde!« rief Elivara. »Es sind fünf Fremde unter uns. Hier stehen sie, und sie haben mein Leben gerettet!« »Die Königin ist vor der Pestburg überfallen worden!« ließ sich eine dunkle Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. Als sich der Steinmann und Mythor umwandten, sahen sie einen großen, schwergebauten Mann hinter der Absperrung durch die Wachen. »Es hat sich schnell herumgesprochen, Fürst-Richter Carbell. So war es. Die Verräter sind tot; einige erhielten ihre gerechte Strafe durch Mythor, Sadagar und Nottr.« Elivara winkte die Fremden näher an den Thron und fuhr fort: »Während wir von der Pestburg hierhergingen, tauschten wir unser Wissen aus. Mythor versprach mir, der schwer beschädigten Stadt zu helfen. Ich habe mich entschlossen, ihm als Zeichen meines Dankes und auch dazu, daß jedermann in Nyrngor es sehen soll, die Rüstung meines Vaters zu geben. In ihr soll Mythor für uns kämpfen, und jeder soll ihm helfen, so, wie er mir helfen wird. Ich frage Mythor, ob dieses Geschenk
in seinem Sinn ist. Wirst du für Nyrngor kämpfen?« Mythor antwortete mit fester Stimme: »Für Nyrngor, Elivara und gegen die Caer!« Die Königin winkte abermals, und einige Männer der Leibwache begannen, Mythor die Rüstung anzulegen. Die Teile waren schwer, alt und von herrlicher Handwerkskunst. Ein silberfarbenes Kettenhemd lag über seinen Schultern, darüber ein Waffenrock von blauer Farbe, auf dessen Brust eine gelbe Sonne in weißem Kreis prangte. An seine Unterarme schnallten sie ziselierte Metallstulpen, ebenfalls silberfarben, ein breiter Doppelgürtel wurde ihm angelegt, mit einer ovalen Schnalle und einem Messer in verzierter Scheide und einem ebensolchen Schwert. Ein wappenförmiger Schild wurde ihm überreicht, dazu ein Überhang aus braunem Pelz mit runden Metallspangen. Zuletzt brachte Elivara selbst den Kampfhelm König Carnens. Einen prächtigen Helm mit Kinnblende, hochgestellten Schwingen und einem Dorn über der Stirn, einem weit hinuntergezogenen Nackenschutz und eingeätzten Verzierungen. Es war wirklich der Helm eines Königs. Eines Königs, der, wie Dhorkan gesagt hatte, einem Meuchelmord zum Opfer gefallen war. »Ich danke dir, Königin Elivara«, sagte Mythor. Er schob das Pergament mit dem Bildnis seiner Sehnsucht unter das Wams und trat einige Schritte zurück. Die Krieger der Leibwache schlugen mit den Waffen gegen ihre Schilde, und Elivara erhob ihre Stimme: »Wir werden vielleicht nicht viel Ruhe haben. Ich erwarte ständige Angriffe der Caer, zumal jetzt, da sie wissen, daß sie mich nicht als Geisel in ihre Gewalt bekommen haben. Aber die nächsten Stunden in Schloß Fordmore sollen der Ruhe, einem guten Trunk und einem guten Gespräch gewidmet sein.«
Zu allen anderen, besonders aber zu den vier Begleitern Mythors gewandt, fuhr sie fort: »Ihr sollt eure Wünsche äußern. Was wir besitzen, geben wir gern. Laßt uns an den Tischen vor dem Kaminfeuer sitzen.« Sie stand auf, nahm ihren Bruder an der Hand und führte ihn zu dem Viereck aus Tischen. Die Spannung löste sich, alle Anwesenden verließen ihre Plätze und strebten zu den Besuchern. Was Mythor nicht wußte, war der Umstand, daß der halbblinde Hester über eine versteckte Fähigkeit, eine fast magische Kraft verfügte. Er malte Bilder von Fabeltieren in einer unbegreiflichen Umgebung, und ein paar unverständlich gestammelte Worte zähmten wilde Pferde ebenso wie rasende Hunde. Dienerinnen trugen das Essen und die Getränke auf. »Ich sehe«, sagte Mythor und häufte einen Teil seiner Rüstung auf einen wuchtigen Schemel, »daß euch die Belagerung mehr Wein als Essen gelassen hat.« Es gab trockenes Brot, eine dünne Suppe, reichlich Wein und Bier, dünne Scheiben von Braten und Schinken und ein wenig Käse. Trockenes Obst und verschiedene Nüsse lagen in prächtigen Schalen und Körben, die zu anderer Zeit von saftigen Leckereien übergeflossen sein mochten. »Das hast du ganz richtig erkannt, Mythor«, entgegnete Dhorkan. »Morgen, bei Tageslicht, werdet ihr sehen, wie wenig uns geblieben ist.« Jeder aß und trank, und es kam für ein paar Augenblicke ungetrübte Fröhlichkeit auf. Die Schrecken der Belagerung schienen in diesem Raum, von mildem Licht und dem Raunen leiser Gespräche und gelegentlichem Lachen erfüllt, vergessen zu sein. Die Stadtbewohner musterten den dunkelhäutigen Krieger mit dem schulterlangen Haar und den hellen Augen, in denen der Widerschein der vielen Flammen gelbe Funken hervor-
zauberte. Jede seiner Bewegungen war kraftvoll, aber beherrscht, und viele dachten, daß er und die Königin ein Paar sein könnten, in dem sich Schönheit und kämpferisches Heldentum zusammenfanden. Mythor sah zwar die Müdigkeit in allen Gesichtern, aber er mußte sich sagen, daß die Leibwache der Königin den Caer-Kriegern in nichts nachstand; es waren wilde, entschlossene Krieger. Aber ebenso bestaunt wurde der Lorvaner mit der zerfurchten, tief braungelben Haut und der Narbe über dem Mund, mit dem fehlenden Ohr und dem weißen Fellflecken in der linken Brust. Kalathee spielte mit dem Amulett ihrer goldenen Kette und ließ kein Auge von Mythor. Selbst Nottr, der neben ihr saß und mit ihr zu sprechen versuchte, mußte es erkennen. Als er ungeschickt versuchte, ihr eine Strähne ihres weiß schimmernden Haares von der Schläfe wegzustreichen, senkte sie unwillig den Kopf. »Sie werden auch noch in dieser Nacht angreifen. Ich bin ganz sicher«, meinte Dhorkan, der neben Elivara saß und sich zusehends erholte. »So, wie ich die Caer und ihre Priester zu kennen glaube«, bestätigte Mythor laut, »werden ihre Horden immer wieder gegen die Mauer stürmen. Sie sind wie rasend.« »Und sie sind, bei Erain, ausgezeichnete Krieger!« knurrte Dhorkan widerwillig. Fahrna saß neben dem schweren Mann, der von Elivara als Fürst-Richter angesprochen worden war. Sie unterhielten sich leise, und augenscheinlich hatten sie ein interessantes Thema gefunden. Steinmann Sadagar polierte den Löwenkopf seiner magischen Gürtelschnalle, aber in Wirklichkeit huschten die Blicke seiner listig funkelnden grauen Augen im Saal umher. Ihnen entging nichts. Durch das Knistern der Scheite und die Gespräche drang ein
langgezogener Ruf von außerhalb der Mauern. Elivara und Dhorkan zuckten zusammen. Der Anführer der Leibgarde sprang auf und packte den Schwertgriff. »Still!« Irgendwo stieß jemand in ein Horn. Das Instrument gab einen klagenden Ton von sich, eine hallende Folge einzelner Signale. Es war, als schreie eine Nachtbestie vor Schloß Fordmore. »Diese Hunde aus Caer!« schrie Dhorkan. »Sie greifen an. Es ist wieder das Hafentor!« Lärm, Scharren von Stuhlfüßen, klirrende Sporen und Flüche zersprengten die kurze Idylle. Mythor nickte Dhorkan zu und befahl: »Kalathee, Fahrna! Ihr bleibt hier. Königin, ich kämpfe mit deinen Männern.« »Ich komme mit!« sagte sie. »Wache! Holt die Pferde! Wir sind am Hafentor!« schrie Dhorkan. Die Männer banden die Kinnriemen der Helme, griffen nach Schilden und Schwertern und rannten aus dem Saal. Mythor, Nottr und Sadagar folgten augenblicklich. Sie stoben die Freitreppe hinunter und in den Hof. Schnell waren die Pferde aus den Ställen geholt und gesattelt. Auch Elivaras Gespann ratterte aus einem schwach erleuchteten Torbogen hervor. Schon galoppierten die ersten Krieger aus dem Schloß hinaus. Mythor zerrte am Riemen des ungewohnten Helmes und schob das Gläserne Schwert in den Gurt, neben die Waffe König Carnens. Tief über den Hals des Pferdes gebeugt, ohne auf die Königin zu warten, donnerten Nottr und er, gefolgt vom Messerwerfer in seiner schwarzen Samtjacke, über die freie Fläche und in den Park. Die Gassen wirkten wie schmale, geheimnisvolle Schluchten. Leibgardisten rissen, sich weit aus dem Sattel beugend, Fackeln aus den Ringen über Hauseingängen und schrien rauhe Kommandos.
»Eine ungewöhnliche Stunde für einen Angriff!« rief Nottr. »Es ist bald Mitternacht!« »Für die Caer ist keine Stunde ungewöhnlich«, gab Mythor zurück. Männer mit Waffen stürzten aus den Häusern und folgten den Wächtern. Das Gespann der Königin ratterte hinter ihnen her. Hunderte kampfbereiter, aber noch schlaftrunkener Männer erreichten den Platz vor dem Hafentor. Ein einzeln stehendes Haus brannte; die Flammen beleuchteten den Platz und die Mauern. »Sie sind auf der Mauerkrone!« schrie jemand aus der Menge. Brandpfeile flogen jaulend und fauchend hin und her. Dann, wie ein plötzlicher Takt zu dem Kampfeslärm, ertönte wieder das Dröhnen des Rammbocks gegen die Torflügel. Dhorkan sprengte mitten in die Menge hinein und organisierte einige Kampfgruppen. Mit einem langen Blick, langsam das Schwert ziehend, erfaßte Mythor den Stand des Kampfes. Es sah für Nyrngor nicht gut aus. Auf einer Breite von siebzig oder hundert Schritt kämpften auf der Mauerkrone und zwischen den Zinnen Stadtbewohner und Caer. Immer mehr Köpfe erschienen an den Enden der angelegten Sturmleitern, und immer mehr Caer ließen sich an Seilen herunter oder liefen, kaum von den Verteidigern behelligt, die langen Treppen im Schatten der Mauern herab. »Nottr! Komm mit!« sagte Mythor, hob den fremden Schild und stürmte los. Er stolperte über einen Toten, sprang an einer Gruppe von drei Verteidigern vorbei, die versuchten, einen Caer niederzuschlagen, schob einen Verwundeten mit dem flachen Schild zur Seite und erreichte die unterste von vielleicht hundertzwanzig Stufen. Ein Caer sprang ihn an. Ein furchtbarer Schwerthieb traf den Schild, schlug eine dreieckige Kerbe in
den Rand, dann zischte das Gläserne Schwert herunter, schmetterte durch die Schwertabwehr des Caer und trennte den Kopf vom Körper des Eindringlings. Der Körper fiel schwer gegen den Schild. Mythor stieß einen Schrei aus, stemmte die linke Schulter hoch und kippte den Leichnam nach unten. Er stürmte sechs Stufen aufwärts und duckte sich, als ein Speer sich knirschend in eine Mauerspalte bohrte, keine drei Handbreit vor seinem Gesicht. Der nächste Angreifer sprang die Treppe herunter, das Schwert wie einen Rammsporn vorgestreckt. Mythor winkelte den linken Arm vor seinen Körper, und als er den Fremden erreichte, drehte er sich ruckartig und voller Kraft nach links. Der Schildrand traf den Arm des Caer, das Schwert prallte gegen die Mauer, und mit einem einzigen, furchtbaren Schlag führte Mythor das Schwert Alton senkrecht abwärts. Alton gab sein fernes, singendes Klagegeräusch von sich, und in dem winzigen Augenblick, als der Caer erkannte, daß er starb, verwandelte sich sein Gesicht in eine Maske des nackten Schreckens. Der Körper verlor seinen Halt, brach zusammen und fiel hinunter in die kämpfende Menge. Mythor wandte den Kopf und sah neben sich die Füße eines Caer, der sich an einem Seil herunterließ, einen langen Dolch zwischen den Zähnen. Mythor holte aus und durchtrennte das Tau. Der Krieger stieß einen gellenden Schrei aus, als er die Absicht des Mannes erkannte. Ein Hagel von Pfeilen prasselte auf Mythors Schild und Helm, als er, zwei und drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe weiter hinaufsprang. Weich schmiegte sich das Silber des Griffes in Mythors Finger, als sei es mit ihnen verwachsen. Ein dritter Caer warf seinen Bogen zur Seite, zog das Schwert und stürzte sich auf Mythor. Unaufhörlich arbeitete die Ramme. Überall schrien Stimmen.
Der gesamte Raum zwischen dem brennenden Haus und der Mauer war erfüllt vom Klirren der Waffen. Mythor bückte sich im letzten Moment, kippte den Schild und schlug, als sich der Caer taumelnd und auf einem Bein drehte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, schräg nach oben. Das Schwert bohrte sich tief in den herumwirbelnden Körper, und fast wäre auch Mythor von der Treppe gerutscht. Aber er fing sich, fühlte einen kurzen Ruck, und der Helm wurde durch den Caer von Mythors Kopf gerissen. Der junge Krieger schickte ihm einen kurzen Fluch hinterher und rannte weiter. Hinter ihm sah er Nottr, der ausholte und einen kurzen Speer schleuderte. Das Geschoß summte über Mythors Rücken hinweg und traf einen Caer, ein Dutzend Stufen höher, in die Brust. Wieder wirbelte ein Sterbender von der Mauer. Erneut fielen Seilschlingen, sich aufspulend, dicht vor Mythor von der Mauerkrone. Der Verteidiger hielt an, warf einen blitzschnellen Blick nach oben und riß dann am Seil. Zwei Körper wurden mit unwiderstehlicher Gewalt gegen die Brustwehr gezogen, kippten ganz langsam und fielen dann. »Klug angepackt, Mythor!« schrie Nottr heiser und griff nach einem fallenden Speer. Er drehte die Waffe, schleuderte sie und traf den nächsten Caer, der sich anschickte, die Treppe herunterzurennen. Es blieben noch zwanzig Stufen. Mythor sprang ungehindert hinauf und stand auf der Mauerkrone. Rechts befanden sich zertrümmerte Balken, links die gemauerten Zinnen. Direkt neben Mythor ragten die Klauen über die Zinne, die an den Holmen der Sturmleiter angebracht waren. Mythor warf einen raschen Blick nach unten, sah ferner, daß er auf diesem Mauerabschnitt allein war, dann wirbelte er wieder herum und erstach den Caer, der eben von der obersten Sprosse auf die Mauer sprang. Rasch, noch ehe der Körper außerhalb der Mauer aufge-
schlagen war, stellte Mythor Schild und Schwert gegen den Stein, packte die Krallen und riß die Leiter seitlich von der Zinne. Schreie ertönten in der feuerdurchzuckten Dunkelheit unter ihm. Die Leiter schwankte, als Nottr zupackte und sie mit sich zerrte. Mythor schob, rüttelte daran, und dann kippte die Leiter halb seitlich, halb schräg zurück. Sie verschwand mitsamt der Gruppe stürmender Caer im Dunkel. Schreie, der Aufprall schwerer Körper und das Splittern und Krachen des Holzes ertönten. Sofort riß Mythor wieder Alton und den Schild an sich. Er deutete mit dem Schwert geradeaus. »Dorthin, Nottr.« »Eine Gruppe Verteidiger folgt uns über die Treppe«, stieß der Lorvaner hervor. »Gut.« Immer wieder schossen aus der Dunkelheit Felsbrocken, Pfeile und Speere herauf, prallten gegen die Zinnen oder fielen hinunter in die Stadt. Das Dach des Hauses brach zusammen, und ein gewaltiger Funkenschauer wirbelte in den Himmel hinauf. In dem flüchtigen Licht erblickte Mythor unterhalb der Mauer die Mannschaft an der Ramme und weitere Gruppen der Caer, die sich mit langen Sturmleitern näherten. Vorsichtig blickte er über den Rand des Schildes. »Es sieht nicht gut aus für die Stadt.« »Noch ist die Nacht nicht vorbei.« »Wahr gesprochen, Nottr!« Nebeneinander rannten sie weiter, auf die Mauer, die Zinnen und die flachen Dächer der eigentlichen Torbefestigung zu. Die Steine unter ihren Sohlen bebten rhythmisch unter dem schweren Aufprall des Widderkopfs. Wieder kam aus dem Dunkel von links das oberste Stück einer Sturmleiter. Augenblicklich verhielten die beiden Männer ihre Schritte. Zu ihrer Erleichterung konnten sie sehen, daß die ersten Verteidiger über ebenjene Treppe heraufkamen, die sie freigekämpft hat-
ten. Der erste Caer sprang schreiend zwischen den Zinnen hervor, und Mythors Schwert traf ihn in die Brust. Nottr rammte den Sterbenden mit der Schulter von der Mauer. Wieder ergriffen Nottr und Mythor das Ende der Leiter, schüttelten sie und warfen sie um. Als Mythor den Kopf wandte, sah er Dhorkan und Elivara auf der Mauer. Sie befanden sich in einer Gruppe von schwertschwingenden Verteidigern. Einen dunkel gekleideten älteren Mann kannte er nicht; er meinte jedoch, jenen Fürst-Richter zu erkennen. »Vorsicht! Auch vor dir wird gekämpft, Mythor!« warnte Nottr in gutmütigem Spott und stieß Mythor kraftvoll zwischen die Schulterblätter. Der Krieger stolperte nach vorn, und der Steinbrocken, der aus der Finsternis heraufwirbelte, flog zwischen ihnen hindurch. »Danke.« Mythor legte wieder Schild und Schwert ab, packte einen halb im Stein verankerten, halb abgebrochenen Balken und riß ihn mit einem wilden Ruck aus der Verfugung. Dann stieß er ein kurzes, triumphierendes Lachen aus. »Wir werden ihnen ihre eigenen Leute auf den Rammbock werfen. Jedermann in dieser Stadt will endlich ruhig schlafen.« Vorsichtig spähten sie nach unten. Obwohl die Caer versuchten, die Dunkelheit als Kampfgenossen zu verwenden, gab es doch einige wenige Lichter. Mehr oder weniger deutlich erkannten Nottr und Mythor die Trupps, die auf die Mauern zurannten und die langen Leitern während des Rennens hochkippten. Wieder krallten sich die Anker einer Sturmleiter in die Mauer. Mythor wartete, den Balken in beiden Händen, während Nottr ihm Schwert und Schild holte. Als sich ein Dutzend Caer auf den Sprossen befanden und in rasender Eile aufwärts kletterten, riß Nottr auf einen Wink Mythors die Leiter so weit zur Seite, daß die Krallen ein Kip-
pen nicht mehr verhindern konnten. Es war unmöglich, die Krallen aufzubiegen oder gar die Leiter anzuheben. Aber dann hob Mythor den Balken, ließ ihn auf den Schädel des ersten Caer niederkrachen, zertrümmerte die oberste Sprosse und rammte den Holm nach hinten. Die Leiter kippte, blieb einen Moment lang senkrecht stehen und fiel dann schräg nach hinten. Mehrere Körper wirbelten, sich überschlagend, durch die Luft und durchschlugen teilweise die Schutzdächer über der Ramme. Der Rhythmus der Schläge veränderte sich. Die Verteidiger schleppten nun Feuertöpfe auf die Mauerkrone, warfen die toten Caer hinunter zu ihren lebenden Genossen, gossen Öl auf Strohballen und kippten die auflodernden Bündel über die Mauer, nachdem sie Fackeln daran gehalten hatten. Bogenschützen erklommen wieder die Zinnen und jagten, da ihnen die Flammen die Ziele zeigten, Schuß um Schuß hinunter. Eine Kette bildete sich und wuchtete schwere Steine nach oben, die von den Verteidigern auf die Caer geschleudert wurden. Aber die Angreifer schienen alle ausnahmslos unter dem Einfluß von Dämonen zu stehen. Jene Leitern, die noch nicht zerbrochen waren, wurden von den Caer wieder aufgehoben, und frische Kommandos rannten auf die Mauern zu, stellten die Leitern an und kletterten hinauf. »Laßt Seile heraufbringen, Elivara!« schrie Mythor. »Schnell! Sonst nimmt der Kampf kein Ende!« Mehr und mehr Verteidiger kamen auf die Mauern, nachdem sie jeden der eingedrungenen Caer getötet hatten. Mythor tauchte den Balken in einen Ölkrug, hielt ihn an eine Fackel, bis er brannte, dann jagte er ihn senkrecht nach unten, genau über dem Spalt der beiden Torflügel. Der schwere Holzspeer durchschlug ein breites, schwelendes Dach, erschlug zwei Caer und zerplatzte in ein Bündel hell auflodernder Splitter.
Der Boden und die Mäntel der Toten waren ölgetränkt, und schlagartig breitete sich das Feuer aus. Noch einmal schwang der Rammbock nach hinten und pendelte nach vorn, aber es gab nur ein letztes Pochen. Inzwischen hatten sich Kampfgruppen gebildet. Ein Mann wehrte den ersten Caer auf der obersten Sprosse der Leiter ab, ein anderer schlang ein Seil um die Holme, ein dritter warf die Leiter um. »Zieht an, mit aller Kraft!« Nachdem die Leiter zu Boden gekracht war und die Caer zerschmettert hatte, zogen die Verteidiger mit vereinten Kräften so lange, bis es ihnen gelang, die Sturmleiter über die Kante der Mauer zu zerren und dann nach innen zu kippen. Aber der Erfolg galt nicht für jeden Abschnitt der Mauer. Außerhalb des Bereichs, an dem das fast niedergebrannte Haus für Ungewisse Helligkeit sorgte, kennzeichneten nur einzelne Fackeln den Verlauf der Mauer. Es schien Mythor, daß die Caer – wenigstens in dieser Nacht – nur auf der Seeund Hafenseite der Stadtmauern angriffen, nicht bei den Türmen und Toren, die landeinwärts aufragten. Nottr rannte hinter dem jungen Krieger über die Mauerkrone, vorbei an verlorenen Waffen und Toten beider Gruppen, die verkrümmt über den Zinnen hingen. »Dort vorn, wo die Fackeln geschwenkt werden, scheinen die Nyrngorer unsere Hilfe zu brauchen!« rief Mythor und hob sein Schwert, das vor ihm leuchtende Halbkreise beschrieb und das seltsame Summen von sich gab. »Du willst wohl alle Caer in dieser Nacht töten, Mythor, wie?« gab der Lorvaner zurück und stieß die Schäfte der eingesammelten Speere gegen den Boden. Er trug ein stattliches Bündel dieser Waffen. Sie erreichten den ersten Krieger, der aus einer Schulterwunde blutete, sich gegen die Zinne lehnte und trotzdem mit dem anderen Arm die Fackel hochhielt.
»Ernsthafte Sorgen, mein Freund?« erkundigte sich Mythor. Der andere nickte und deutete mit der Fackel auf die schwarze Silhouette des nächsten Turmes. »Dort sammeln sie sich. Viele von uns sind tot oder verletzt. Helft ihnen!« »Genau deswegen sind wir hier. Hinter uns ist alles frei. Laß deine Wunde versorgen«, sagte Mythor und warf sich, nachdem er dem Mann die halb heruntergebrannte Fackel aus den Fingern gewunden hatte, in die Dunkelheit. Nach hundert Schritten stießen sie wieder auf Caer. Nottr ließ die Speere fallen, und Mythor hob den Schild, preßte sich hart gegen die Mauer. Der Lorvaner packte den ersten Speer, zielte und holte aus. Mit fast eleganten Bewegungen schleuderte er Speer um Speer. Jedes Geschoß fand sein Ziel, obwohl es dunkel war und Nottr an Mythors Fackel vorbeisehen mußte. Nach dem sechsten Speer, nach dem sechsten Stöhnen oder Schrei des Getroffenen, wurden die Caer auf die Position der zwei Männer aufmerksam. Heisere Kommandos ertönten. Langsam zog Nottr sein Krummschwert und sagte: »Für Elivara und gegen die Caer! Vielleicht töten wir einen ihrer Priester.« »Kaum, Nottr.« Sie sprangen auf die Angreifer zu. Zuckende Körper bedeckten die Mauer, die Männer wichen aus, rissen die Schilde hoch, drangen weiter vor. Im Fackellicht leuchteten die Augen der Caer auf, und Schwerter blitzten. Klirrend prallten die Klingen aufeinander, und Alton begann, seine summenden, klagenden Halbkreise zu beschreiben und die schwach leuchtenden Bahnen. Das Gläserne Schwert wirbelte eine Waffe aus der Hand des Caer, spaltete einen Schild und den Arm dahinter, fuhr durch ein wütendes Gesicht, das hinter Schildrand und Klinge auf-
tauchte, hob und senkte sich, bohrte sich zwischen die Maschen der Kettenhemden und zerschmetterte den Stahl der Caer-Schwerter, als sei es brüchige Bronze. Mythor kämpfte schweigend und bohrte seinen Blick in die Finsternis vor sich, aus der er die Schläge mehr ahnte, als er sie sah. Nur ab und zu entfuhr seiner Kehle ein kurzes Keuchen. Schritt um Schritt drang Mythor vor. Ein Hieb dröhnte klirrend gegen den Schild, sein Gegenschlag kam überraschend von unten oder von der Seite, schlug die Deckung zur Seite und brachte den Caer aus dem Gleichgewicht. Die Mauer war zu schmal, es konnten nicht zwei Männer nebeneinander kämpfen. Mythor fühlte den Luftzug der geschleuderten Speere, die vor ihm die Angreifer töteten. Hier kamen keine Caer mehr über die Sturmleitern, aber den Überlebenden schnitt Nottr den Rückweg ab, indem er die leeren und daher leichten Leitern ins Dunkel zurückkippte. Mythor sah weder die Männer mit Fackeln, die unterhalb der Mauer entlangrannten, obwohl er instinktiv merkte, daß es ein wenig Licht gab. Er hörte nicht das rasende Hämmern von Pferdehufen und nicht das Heulen der Pfeile, die ein Bogenschütze vor ihm mit untrüglicher Sicherheit abfeuerte. Aber er blieb stehen, als der letzte Gegner, von seinem tödlichen Schwerthieb getroffen, sich überschlagend von der Stadtmauer fiel. Mythor senkte das Schwert. »Es ist vorbei«, sagte er und ließ auch den Schild sinken. Nottr kam heran und wischte mit zwei Fingern das Blut vom Krummschwert. Aber er steckte die Waffe noch nicht zurück. Drei Männer, davon zwei mit Fackeln, kamen ihnen entgegen. Der Mann in der Mitte, in schwarzer Rüstung, hielt einen langen Bogen. Sein Köcher war leer. Er blieb vor Mythor stehen, hob die Hand im schwarzen Lederhandschuh und sagte knurrend: »Schon lange habe ich kei-
nen solchen Kampf gesehen. Zehn von deiner Sorte, Freund, und die Belagerung ist in drei Tagen vorbei. Du mußt dieser Mythor sein.« »In der Tat, so nennt man mich. Ohne Nottr würde hier noch alles von Caer wimmeln. Und wie nennen dich die Städter, Bogenschütze?« »Ich bin Torm Shar, der Stadthauptmann. Ich schlief irgendwo dort unten, als der Angriff begann. Ich denke, wir haben für den Rest der Nacht Ruhe.« Er deutete nach unten. »Habt ihr Königin Elivara gesehen?« »Sie kämpfte jenseits des Hafentors auf den Mauern«, sagte Mythor. »Was ist das?« Sie sahen das Lager der Caer und die vielen Lagerfeuer. Von der Stadt schlängelte sich ein unregelmäßig breiter Zug von Gestalten, gekennzeichnet durch gelegentliche Lichter und die Bewegung dunkler Schatten vor helleren Hintergründen. Die Menschenmasse dort wirkte auf Mythor wie der Rest einer geschlagenen Armee, und diese Vermutung äußerte er auch. »Du hast recht. Alles deutet darauf hin, daß sie sich tatsächlich zurückziehen. Die härtesten Angriffe kamen stets in den Nächten. Aber der Mond wird voller, und wir haben uns auf diese Art Kampf immer besser vorbereitet.« »Es gab viele Opfer unter den Stadtleuten«, sagte Nottr heiser. »Aber mehr unter den Caer.« »Nur gibt es für einen toten Verteidiger keinen Ersatz«, schränkte Mythor ein. »Die Angreifer können sowohl Nachschub an Kriegern wie auch an Nahrungsmitteln und Waffen herbeischaffen. Nicht so die Leute von Nyrngor.« »Das ist es auch, was uns ernsthafte Sorgen bereitet«, antwortete Torm Shar, als die Männer hintereinander eine steinerne Treppe erreichten und bald darauf, vorbei an Toten, Verletzten und an Menschen, die sich ihrer annahmen, inmitten anderer Gruppen stehenblieben. Dort stand Elivaras Ge-
spann, und Mythor erkannte nach einigen Schritten im Gewühl den narbengesichtigen Anführer der Leibwache. Dhorkan sah Mythor voller Ehrfurcht an, dann hob er den Flügelhelm Carnens hoch und sagte: »Ich fand ihn am Fuß der Mauer. Er gehört dir, Mythor. Ich glaube, ich habe noch niemanden so kämpfen sehen wie dich. Nimm den Helm, der Riemen ist zerschnitten.« Mythor hob dankend den Helm hoch und sah, daß das Lederband wie von einem scharfen Messer zertrennt war. Er faßte sich ans Kinn und merkte erst jetzt, daß er dort verwundet war. Nottr stieß das Krummschwert in die Scheide zurück und sagte: »Niemand weiß, wie lange sie uns schlafen lassen. Aber ich weiß, daß es ein tiefer Schlaf sein wird.« »Für uns alle«, pflichtete ihm der Stadthauptmann bei und sah zu, wie man die Pferde herbeibrachte. Alle überlebenden Männer, die aus dem Schloß hierhergeeilt waren, ritten und gingen erschöpft zurück ins Zentrum der Stadt. In dieser Nacht griffen die Caer tatsächlich nicht mehr an. * Die Sonnenstrahlen durchdrangen nur zögernd den Bodennebel. Die Aasvögel hatten an diesem kühlen Herbstmorgen viel zu fressen und flatterten in großen, dunklen Wolken über dem Hafen und dem schmalen Streifen Land zwischen der Mauer und den schwarzen Schiffen der Caer. Während die Verteidiger der schwer geprüften Stadt die Leichen der Caer über die Mauern warfen, blieb es im Lager der Truppen ruhig. Zwischen den Häusern hing der Gestank von Blut, kaltem Rauch und öligem Ruß. Überall wurden Waffen eingesammelt, Rüstungen und Helme zusammengetragen, Gräber ausgehoben und Verteidigungsgerät bereitgestellt. Die Wachen
wechselten sich auf den Mauern ab, auf den obersten Plattformen der Türme wärmten sich die Späher an den Glutkörben. Nebel hing auch in der Stadt; die Zinnen von Schloß Fordmore und viele Dächer erhoben sich, in einen trügerisch hellen und strahlenden Sonnenschein getaucht, aus der schmutziggrauen Schicht. In einem Winkel des Stalles, in der Wärme einer Glutschale, saßen Torm Shar und Nottr auf Schemeln und aßen dampfende, gut gewürzte Suppe. »Weißt du«, sagte Nottr undeutlich, »noch vor kurzer Zeit war ich ein stotternder barbarischer Lorvaner. Ich habe viel von Mythor gelernt. Er ist einzigartig.« Erwischte sich die Hände an der geflochtenen Felljacke ab und zeigte in einem verlegenen Grinsen seine gelben Zähne. »Du bist ein Mann, der schnell viel lernt«, bestätigte der Stadthauptmann. Torm Shar war ein erfahrener Kämpe. Er sah, daß der Lorvaner mit der bizarren Behaarung ein kräftiger, überlegener Kämpfer war. Nottr schien bekümmert, als er fortfuhr: »Aber diese Frau, Kalathee… sie hat nur Augen für Mythor. Sie denkt nur an ihn. Sie sieht mich, aber sie sieht durch mich hindurch. Ich glaube, ich fange an, Mythor zu hassen.« »Du begehrst diese Frau?« »Mehr als alles andere. Ich liebe sie! Für mich ist sie ein Wesen aus der Lichtwelt. Ich habe sie auf Schritt und Tritt bewacht und vor tausend Gefahren beschützt.« Der Stadthauptmann erwiderte ohne eine Spur von Spott: »Mythor ist auch jünger und schöner als du, mein Freund. Das mußt du wohl zugeben. Liebt er diese weißhaarige, schweigsame Schönheit? Mir wäre sie zu dünn.« »Er liebt sie nicht, er behandelt sie wie eine Schwester. Wenn sie mich nur einmal so ansehen würde, wie eure Königin gestern Mythor anstrahlte. Nur ein einziges Mal!« Torm Shar schlug Nottr kameradschaftlich auf die Schulter
und sagte: »Iß deine Schale leer, Freund! Niemand weiß, ob wir heute noch etwas bekommen. Und merke dir, daß dies Schicksal ist. Menschen finden zusammen oder nicht, und niemand kann es beeinflussen. Vergiß es!« »Ich werde sie begehren, solange ich lebe«, antwortete Nottr, und es klang wie ein Schwur. Seine Treue zu Mythor litt nicht unter dieser Last – noch nicht. * An einer anderen Stelle in Schloß Fordmore standen sich Fahrna, die Runenkundige, und Fürst-Richter Carbell gegenüber. Ihr Gespräch, während der vergangenen Nacht begonnen, war durch den Angriff der Caer und dadurch, daß Carbell aufgesprungen und verschwunden war, unterbrochen worden. Fahrnas runzliges und graues Gesicht hob sich, als sie Carbell anstarrte und krächzte: »Sprich weiter, Mann!« »Gestern haben wir gesprochen. Die ganze Stadt ist voller Begeisterung für Mythor. Du gehörst zu ihm. Aber du scheinst, deinen Reden nach, nicht wegen seiner schönen Augen und starken Muskeln mit ihm zu ziehen. Was ist der Grund?« Die Fremden waren zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt aufgetaucht. Für Carbell gab es im Moment keine Möglichkeit, sich ihrer zu entledigen. Zu viele Menschen befanden sich in Fordmore. »Das hast du richtig gesehen, Carbell«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme und hob eine Knochenhand vor sein Gesicht. »Was du nicht weißt, ich habe das EMPIR NILLUMEN enträtselt und übersetzt. Und aus gewissen Gründen muß ich Mythors Schwert in die Hände bekommen. Es ist der Schlüssel zu vielen herrscherlichen Künsten. Alton, das Gläserne Schwert –
ich werde alles tun, um es zu besitzen.« . Plötzlich wirkte die bucklige Frau sehr ernst und bestimmt. Ihr weißes Haar sah unter dem Kopftuch hervor, und als habe sie mehr von sich gezeigt, als sie durfte, zog sie das Tuch zurück in die Stirn. In Carbell reifte eine neue Idee. »Was würdest du tun, wenn ich das Schwert in deine Hände spielte?« fragte er halblaut. Die drei Zeichen im Schwert, die Runenbotschaft der Königstrolle – die Gier hatte sie gepackt und ließ sie nicht mehr los. Ihre Antwort entsprach ihrer innersten Überzeugung. »Ich tue alles, um in den Besitz des Schwertes Alton zu gelangen«, krächzte sie und erhob dabei ihre Stimme. Das Magazin voller Waffen, Wagen und Ausrüstungsgegenstände war leer. Trotzdem legte Fürst-Richter Carbell den Finger vor die Lippen. »Still! Heute abend werden in einem Verlies, unterhalb von Fordmore, Männer warten. Es sind Männer, die mir gehorchen, die alles tun, was ich verlange. Gelingt es dir, Mythor dort hinunterzulocken, ist das Schwert dein.« »Er wird es nie aus der Hand legen.« »Ich sagte«, wiederholte Carbell mit merkwürdiger Betonung, »daß Alton dir gehört, wenn sich Mythor zu einer bestimmten Stunde an einer Stelle einfindet, die ich bestimme.« Wenn dieser einflußreiche Mann versicherte, daß sie über das Schwert würde verfügen können, bedeutete es nur eines: Seine Männer würden Mythor töten oder zumindest schwer verletzen. »Ich habe verstanden«, sagte sie. »Ich werde tun, was ich kann. Wo finde ich dich?« »Erstens werde ich dich zu finden wissen«, entgegnete er kalt, »zweitens zeigt dir jeder in der Stadt mein Haus.« Er ging auf den Ausgang zu. Er hatte in den Augen der Hexe gesehen, daß sie in diesem Punkt die Wahrheit sprach. Das Schwert war wichtiger für sie als Treue und Ehrlichkeit. Sie
paßte genau in seine Pläne, aber jede Stunde, die verstrich, arbeitete für die Königin und gegen die Wünsche der CaerPriester. »Denke daran! Nach Anbruch der Dunkelheit!« sagte Carbell beschwörend und schob eine Hälfte des Tores zu. Langsam folgte ihm die Runenkundige. Sie wußte, daß ihr ein guter Vorwand einfallen würde, Mythor in die Kammern und Hallen tief unterhalb des Schlosses zu locken. Als Fahrna das Magazin verlassen hatte, raschelte es hinter einem Stapel Sätteln. Ein staubbedeckter Körper tauchte dahinter auf, ein hagerer, spitzgesichtiger Mann. Seine Lippen, trocken und schmal, waren noch mehr zusammengepreßt als sonst. Er hatte nicht jedes Wort verstanden, aber begriffen, worum es ging. Er sprang hinter dem Stapel auf, griff fast automatisch an seinen Messergürtel und schlug dann den Staub aus seiner grauen Pluderhose. Fahrna! Ausgerechnet sie lieferte Mythor einem Mann und dessen bezahlten Mördern aus, der in der Maske des Fürst-Richters mit den Caer zusammenarbeitete. Er mußte von ihnen unter magischen Einfluß gebracht worden sein, eine andere Möglichkeit konnte es nicht geben. Er zwang sich, langsam zu gehen. Als er den Spalt zwischen den Torhälften erreichte, sah er sich prüfend um. Der Hof war voller Menschen, die Pferde tränkten und sattelten; auch er hatte sich lediglich einen leichteren Sattel suchen wollen und war so Zeuge des Gesprächs geworden. »Ich habe endgültig genug von ihr«, murmelte der Steinmann. »Das ist schändlicher Verrat.« Er würde Mythor warnen. Es eilte nicht, denn bis zum Abend war noch viel Zeit. Je mehr er darüber nachdachte, was er gehört und gesehen hatte, desto größer wurden sein Zorn und seine Empörung. Schließlich, nachdem er dem Kommen und Gehen im Hof eine Weile lang zugesehen hatte, riß ihn
seine Wut mit, und er machte sich auf den Weg, um Mythor zu finden. * Ein schwaches Geräusch ließ Mythor auffahren. Seine Hand zuckte zum Griff des Gläsernen Schwertes, das neben seinem Lager lehnte. Es war frühester Morgen, eben verschwanden zitternd die letzten Sterne. Langsam öffnete sich die Tür in der dicken Mauer, eine schlanke Gestalt in einem wallenden Gewand schlüpfte in den Raum. Nackte Füße tappten auf dem fellbedeckten Boden, und Mythor ließ sich wieder zurücksinken. »Königin Elivara«, flüsterte er nicht ohne Überraschung. »Eine frühe Stunde für eine Kampfbesprechung.« Ihr dunkelbraunes Haar reichte fast bis zu ihrer Hüfte, als sie sich in dem schmalen Streifen Licht zwischen den Vorhängen drehte. Elivara ging nicht auf seinen Scherz ein. »Vergiß die Königin, Mythor«, flüsterte sie zurück. »Nach den vielen Kämpfen, in denen ich mich benehmen mußte wie ein Mann, möchte ich spüren, daß ich eine Frau bin.« Er tastete nach ihrer Hand und sagte lachend: »Ich kann es beschwören! Du bist eine Frau. Eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe.« Das Zimmer war nicht groß, im Kamin stand ein riesiger Glutkorb und verbreitete zwischen den Mauerquadern Wärme und eine Spur rote Glut. Schwach schimmerten die Umrisse der prunkvollen Möbelstücke. Elivaras Haut verströmte einen aufreizenden Geruch nach kostbarem Öl und nach seltenen Essenzen. Schmuck klirrte leise, als sie sich an Mythor schmiegte und ihren Kopf an seine Brust legte. »Wir haben nicht viel Zeit. Bald werden die Caer wieder angreifen«, sagte sie melancholisch. »Niemand weiß, was das
Schicksal mit uns vorhat.« »Das ist gut so«, antwortete er, zog sie an sich und fand ihre Lippen. Ihr Körper drängte sich an ihn und suchte seine Zärtlichkeiten. Mythor dachte einen rasch verschwindenden Moment lang an das Frauenbild auf dem Pergament, dann fühlte er das seidige Haar zwischen seinen Fingern und vergaß seine Sehnsucht. Er erwiderte ihren langen, heißen Kuß und spürte, wie Elivara die Agraffe des schleierartigen Mantels löste. Ihre Körper verschmolzen, als die Leidenschaft sie alles vergessen ließ. Später, im ersten fahlen Tageslicht, fuhr sein Finger die geschwungene Linie ihrer Brauen nach. »Die Stadt wird fallen. Keiner von uns wird den Haß der Caer-Priester überleben«, sagte Elivara und tastete über die runde Narbe hinter seinem rechten Ohr. »Was ist das?« »Ob Nyrngor fällt, ist fraglich. Aber wir werden überleben«, antwortete er weich, »und für diese Narbe gibt es keine Erklärung. Sie war schon immer da.« »Wirst du bei mir bleiben?« »Ich bin ein ruheloser Wanderer«, wich er aus, »und auf dem Weg oder besser auf der Suche nach Althars Wolkenhorst. Aber ich werde für dich kämpfen, wie ich es versprochen habe.« Zärtlich streichelte sie seine Schultern. Ihr Gesicht drückte nicht aus, was Elivara dachte. Ihr Körper, im Kampf kräftig und gewandt, schien sich verwandelt zu haben und war weich und zart. »Liebe mich, Mythor«, sagte sie leise. »Die Zukunft wird zeigen, wieviel wir gemeinsam haben.« Er flüsterte zärtliche Worte. Unter seinen Liebkosungen erschauerte Elivaras Körper zu neuer Leidenschaft. Trotz des Tageslichts übermannte sie der Schlaf. Erst als jemand an Mythors Tür klopfte, erwachten sie. »Wer ist da?« rief Mythor unterdrückt.
»Ich. Steinmann Sadagar. Was ich dir zu sagen habe, ist wichtig, Mythor.« »Es wird noch eine Stunde Zeit haben?« »Aber keinen Herzschlag länger, bei Erain!« »Erwarte mich am Kamin in der Halle, Sadagar«, sagte Mythor und richtete sich auf. Sorge und kaum unterdrückte Wut hatten aus Sadagars Stimme geklungen. Elivara schlang ihr Haar zu einem Knoten, und bewundernd betrachtete Mythor ihren vollkommenen Körper. »Auch ich werde in der Halle sein«, versprach sie. »Zuerst muß ich nach Hester sehen; er hat niemanden mehr außer mir.« Mythor schwieg und sah ihr nach, bis sich die Tür wieder hinter ihr schloß. Dann stand auch er von dem zerwühlten Lager auf, wusch sich und kleidete sich sorgfältig an. Elivara war niemandem Rechenschaft schuldig. Trotzdem blickte sie in beide Richtungen des leeren Korridors, ehe sie in ihre Gemächer zurückging. Aber sie sah nicht, daß zwei Augen sie durch einen Spalt einer anderen Tür hindurch beobachteten. Es war Kalathee. Sie sah, daß die Königin aus Mythors Zimmer kam. Der Blick der dunkelbraunen Augen verschwamm in Tränen. Traurig ging das zartgliedrige Mädchen zurück ins Zimmer, schob den Vorhang zur Seite und starrte blicklos hinaus in den lichtdurchtränkten Nebel. Die Königin hatte Mythors Liebe erfahren, und noch immer waren die Blicke, mit denen Mythor sie anschaute, nur von warmem Interesse erfüllt, nicht von Verliebtheit oder Begehren. Und nichts anderes wünschte sie sich sehnlicher. Sechs oder sieben Stunden Ruhe, nicht mehr, lagen hinter ihnen. Jetzt stärkten sie sich mit dem, was die verarmte Küche des roten Schlosses ihnen bieten konnte: heißer Suppe, trockenem Brot, krümeligem Käse und herrlich schäumendem, frischem Bier. Sadagars Falten, die sich wie Netze um seine Au-
gen bildeten, wurden tiefer, als er hervorstieß: »Ich muß es euch sagen! Aber ihr werdet es nicht glauben. Dein FürstRichter, Königin, ist ein Verräter. Und meine langjährige Gefährtin ist nicht besser. Ich habe ihr Gespräch belauscht!« Elivara fütterte ihren Bruder, Dhorkan saß steif und wachsam neben Hester, und Mythor lehnte entspannt in seinem Sessel. Das Bier schmeckte ihm, aber gleich sollte ihm der Geschmack vergehen. »Berichte!« sagte die Königin. Mythor warnte Sadagar. »Und denke daran, daß weder Königin Elivara noch ich eine Lüge zulassen werden. Bei unserer Freundschaft, Sadagar!« Hastig sprudelte der Steinmann hervor, was er beobachtet und belauscht hatte. Immer wieder griff er nach den Schäften seiner Wurfmesser. Mythor dachte, daß es wohl richtig sei, daß Sadagar in all seinem Treiben nur seine Sicherheit und seinen Vorteil suchte. Aber jetzt gab es weder das eine noch das andere. Schweigend hörten sie zu, auf Elivaras Gesicht zeichneten sich Erstaunen und dann Gewißheit ab. »Ich habe nicht gesehen«, unterbrach Dhorkan, »daß FürstRichter Carbell in den letzten Tagen auf den Mauern gekämpft hätte. Niemand scheint ihn dort gesehen zu haben.« »Dann«, murmelte Elivara, »hat er uns auch die sieben Verräter auf den Hals geschickt.« Hester stieß ein blödes Kichern aus. Von seinem Kinn tropfte Speichel. Liebevoll wischte Elivara die Tropfen weg. »Das ist gut möglich«, meinte der Anführer der Garde. »Aber gibt es Beweise?« »Für das Vorhaben, Mythor zu überfallen, und den Diebstahl seines Gläsernen Schwertes gibt es nur mich als Zeugen. Sie müssen beide unter einem Bann der Caer-Priester stehen.« »Die einzige Erklärung«, brummte Mythor. Das Bier schmeckte plötzlich bitter. »Wann?«
»Nach Einbruch der Dunkelheit. Also dann, wenn die CaerAngriffe besonders heftig werden«, sagte Elivara schaudernd, aber dann seufzte sie erleichtert auf. »Dhorkan!« »Königin?« »Suche genügend Männer zusammen. Dann versucht, so unauffällig wie möglich Carbell zu finden. Bringt ihn gefesselt hierher oder kettet ihn in einem Verlies an die Wand. Dort kann er, selbst wenn er von einem Dämon besessen ist, keinen Schaden mehr anrichten.« »Wir schwärmen sofort aus!« Dhorkan legte die Hand an den Schwertgriff, stand auf und entfernte sich mit hastigem Schritt. Mythor ließ das Bier durch seine Kehle rinnen und meinte schließlich: »Ich kann es mir denken. Die magischen Zeichen des Schwertes, obwohl es seinen Glanz noch lange nicht zurückerhalten hat, reizten sie. EMPIR NILLUMEN und die Königstrolle. Sie hat es geschickt verstanden, ihre Gier bis jetzt zu verbergen.« Sadagar deutete mit spitzem Zeigefinger auf Elivara. »Du bist die Herrscherin über die Stadt«, sagte er, »und du befiehlst, was zu geschehen hat. Innerhalb des Schlosses werde ich früher oder später auf Fahrna stoßen. Soll ich sie umbringen, oder…?« »Bring sie lebend hierher«, sagte Mythor nach einem raschen Blick der Verständigung. Sadagar stand auf. »Falls sie sich noch nicht mit FürstRichter Carbell und seinen Mörderbuben getroffen und verbunden hat!« versprach er und zog ein Wurfmesser in einer blitzschnellen Bewegung hervor. Zwei Dienerinnen näherten sich auf einen Wink Elivaras. Sie führten Hester weg, und eine brachte für Mythor noch einen frisch gefüllten Becher, von dessen Rand weißer Schaum tropfte. Mythor wartete, bis die Dienerin außer Hörweite war, dann fragte er beunruhigt:
»Und was nun, meine leidenschaftliche Geliebte dieses nebligen Morgens? Der Verrat nistet in deiner Stadt.« »Es gibt noch eine Möglichkeit, das Geschick zu wenden. Der Turm des Beinernen und der Vertrag mit meinem Vater, aber das erzähle ich dir später, mein starker und kluger Held der Nacht«, lächelte sie schmerzlich. »Wir werden, so uns nicht ein neuer Angriff dabei stört, zu den Toren und den Türmen fahren und den Frauen und Männern von Nyrngor Mut zusprechen.« »Einverstanden.« Kurze Zeit später bestiegen sie den Kampfwagen Elivaras, beide bewaffnet und in voller Rüstung. Mythor trug wieder sein Gläsernes Schwert und die herrliche Rüstung König Carnens. Jetzt, wenige Stunden nach Sonnenaufgang, wirkte die Stadt Nyrngor anders als in der letzten Nacht. Zwar alt und baufällig das meiste, aber stellenweise zeugten die Häuser und ihre Umgebung von Reichtum, blühendem Handel und waren Zeichen eines stolzen, unabhängigen Stadtstaats. * Steinmann Sadagar streifte durch Schloß Fordmore und fragte jeden, den er traf, ob er Fahrna gesehen habe. Er kletterte Treppen hinauf und rannte sie hinunter, kam durch leere Säle, rannte durch die Küche und zahlreiche Speicher, hin und her über den Hof und durch die Ställe, und schließlich stieß er auf Kalathee. Sie saß auf dem steinernen Rand der Brunnenanlage, hielt ihr schmales Gesicht der Sonne entgegen und spielte, wie so oft, mit dem Mammut-Amulett ihrer goldenen Kette. Sie schaute blicklos in weite Fernen, aber Sadagar erriet, wer vor ihrem inneren Auge stand und an wen sie dachte. »Mir kommen die bitteren Tränen, wenn ich dich sehe«, be-
grüßte er sie. »Entschuldige, Kalathee, aber hast du vor kurzer Zeit Fahrna gesehen, diesen Ausbund von Verrat und Grund meiner stechenden Magenschmerzen?« Ihr Blick kam aus weiten Fernen zurück. »Eben war sie hier.« »Wohin hast du sie gehen sehen?« »Dorthin.« Er folgte mit den Blicken der Richtung ihres ausgestreckten Armes. Sie zeigte auf eine nicht sonderlich breite Treppe, die an steinernen Bildnissen vorbei bis zum Dach des Schlosses führte, eine kühne architektonische Konstruktion von raffinierter Einfachheit. Dann sagte Kalathee in einem Ton, als wolle sie sofort in Tränen ausbrechen: »Zuletzt stieg sie die Treppe hinauf. Aber ich sehe sie nicht mehr.« »Wenn sie irgendwo dort ist«, versicherte Sadagar mit Eiseskälte in der Stimme, »werde ich sie finden.« Kalathee mochte von Mythor träumen und dabei Nottr, diesen braven Gesellen, nicht richtig wahrnehmen. Aber sie war alles andere als dumm oder instinktlos. Jetzt riß sie ihre großen, schönen Augen auf und erschrak. »Du… du bist plötzlich so ganz anders, Steinmann«, flüsterte sie. »Was macht dich so wütend?« »Ich erzähl’s dir nachher, wenn alles vorbei ist«, meinte er, tätschelte ungeschickt ihre bleiche Wange und rannte davon. Er erreichte die Treppe und sprang mit einer Schnelligkeit, die im Gegensatz zu seinen geringen Körperkräften stand, die Stufen aufwärts. Verwundert blickte Kalathee ihm nach. Auf dem obersten Treppenabsatz schleppten Männer Bündel von geflochtenen Köchern, Wurfspeeren und anderes Kriegsgerät ins Sonnenlicht hinaus. Kalathee sah, wie Sadagar heftig gestikulierte und fragte und wie einer der Männer nach oben deutete und nickte. Der Steinmann rannte und sprang weiter. Mitten in eine Gruppe alter Frauen hinein, die irgendwelche Wäschestücke
falteten und in Körbe legten. Wieder fragte er, wieder erhielt er die gleiche Antwort und nahm das nächste Stück Treppe. Schließlich erreichte er das Dach. Es war flach und mit Steinplatten gedeckt. Grinsende Fratzen unterbrachen als Wasserspeier die Brüstung. Das Dach entsprach dem Grundriß der darunterliegenden Gebäude und befand sich nicht weniger als zwanzig Mannslängen über dem Boden, ein Viereck mit einem viereckigen Loch in der Mitte, aus dem Hufschlag, laute Schreie und Klirren und Klappern heraufdrangen. Auf den ersten Blick sah Sadagar seine Gefährtin, die an der Brüstung stand und unbeweglich in die Richtung des Hafentors blickte. Lautlos schlich er näher, bis er zehn Schritt von ihr entfernt stand, dann rief er sie an: »Runenkundige Fahrna! Ich bin hier, um dir eine Frage zu stellen. Einen glumen Verrat planst du, wie?« Er wußte, daß sie verstand; sie sprach die meisten der bekannten Sprachen und Dialekte der umliegenden Länder. Jetzt wirbelte sie mit einer Schnelligkeit herum, die er ihr nicht zugetraut hätte. »Du bist selbst glum!« keifte sie. »Wovon redest du?« Er hob die Hand und trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Wenn sie ihn auch nur ein bißchen kannte, mußte sie aus seinem Gesicht ablesen können, wie ernst es ihm war und welcher Zorn in ihm tobte. »Ich rede davon, daß du den Mann, der dich und mich gerettet hat, verraten willst. Und das ausgerechnet an Carbell, der meiner Meinung nach von den Caer-Priestern in magische Fesseln geschlagen wurde. Ausgerechnet du, alte Vettel. Wir haben uns alle in dir geirrt.« Jetzt begriff sie, daß er nicht scherzte. Sie kam auf ihn zu, schielte ihn unter ihrem Umhang hervor an und spreizte ihm die dürren Krallenfinger entgegen. »Was redest du, Steinmann
Sadagar? Wer hat Lügen über mich erzählt? Dieses dürre, fleischlose Geschöpf Kalathee, nicht wahr? Und ich muß mir deine Beschimpfungen nicht gefallen lassen, ich, die Übersetzerin der wichtigsten Bücher, die es diesseits der Schattenwelt gibt.« »Du bist am Ende, Frau«, sagte er schwer. »Ich war in dem Magazin, ich sah Fürst-Richter Carbell, den inzwischen die Leibwache hetzt, und ich verstand jedes Wort. Mythor wolltest du in einen Hinterhalt locken, nur weil du das Schwert in deine gichtigen Krallen bekommen willst. Ich habe Mythor und Königin Elivara davon berichtet.« Ihre Hand fuhr unter ihre raschelnden Umhänge. Sadagar rechnete fest damit, daß sie ein Runenfragment oder ein verwünschtes Pergament hervorziehen und ihn verhexen würde. Oder wenigstens versuchen würde, ihn mit Magie zu blenden. »Die Runenbotschaft der Königstrolle ist alles wert, was ein Mensch besitzt!« schrie sie krächzend. Ihr Gesicht, alt und voller Runzeln, verzerrte sich zu einer Grimasse, die der Steinmann noch niemals bei ihr oder einer anderen Person gesehen hatte. »Mag sein. Aber Verrat gehört nicht dazu!« widersprach er. Fahrna sprang hoch und riß die Hand unter ihrem Gewand hervor. Zwischen ihren Fingern befand sich ein Gegenstand, der halb unterarmlang war, spitz und voller glänzender Bänder. »Ich mußte es tun, verstehst du!« kreischte Fahrna. »Nein, du verstehst es nicht. Du mit deinem beschränkten Verstand und deinem unsichtbaren Kleinen Nadomir. Hier, siehst du?« Sie hob den Arm, als wolle sie die Waffe nach ihm werfen. Sadagar sprang zur Seite und wich aus. In einem Reflex zog er eines seiner Messer und schleuderte es, ohne zu denken und ohne zu zielen. Das Wurfmesser zischte durch die Luft, überschlug sich einmal und funkelte dabei im Sonnenlicht auf,
dann bohrte es sich in die Kehle der Runenkundigen. Fahrnas Finger lösten sich von der anderen Waffe, die klappernd über den Boden rollte. Fahrna sank zusammen, machte einige Schritte und taumelte rückwärts auf die Barriere zu. »Du hast es nicht anders gewollt«, fauchte Sadagar und sprang vorwärts. Zu spät! Die alte Frau schlug mit dem Rücken gegen die steinerne Kante und kippte nach außen. Als Sadagar die Barriere erreichte, sah er den Körper, der sich überschlug und drehte. Einen Herzschlag später erreichte ihn das Geräusch des Aufpralls. Als der Steinmann, dessen Wut der Bestürzung Platz gemacht hatte, über das Dach zur Treppe zurückging, bückte er sich und hob die vermeintliche Waffe auf. Es war ein trockenes, leichtes Knochenstück, in das Runen eingeritzt waren und das mit schmalen Messingbändern umwickelt war. Er betrachtete schweigend dieses Stück, dann warf er es über die Schulter und ging zur Treppe. Als Steinmann Sadagar den Platz vor dem Schloß erreichte, hatte sich um die Leiche ein dichter Kreis ratloser Stadtbewohner gebildet. Er zog sein Wurfmesser aus dem Hals Fahrnas, wischte es an ihrem Umhang ab und steckte es zurück. Zu den Nyrngorern sagte er scheinbar ruhig: »Sie hat ihre gerechte Strafe erhalten. Bringt sie weg! Sie verriet Königin Elivara und meinen Freund Mythor auf das schändlichste.« Dann ging er zurück, um auf Mythor und Elivara zu warten. * Sie hatten ihre Rundfahrt fast beendet. Mit einer gewissen Bewunderung hatte Mythor festgestellt, daß die Stadtbewohner inzwischen fast ausnahmslos zu entschlossenen Verteidigern geworden waren. Die Zone entlang den Mauern, vor den Toren und rund um die sechs Türme war bestens ausgerüstet.
Jeder Angriff hatte die Nyrngorer eine neue Art der Verteidigung gelehrt. Gegen Brände hielten sie Fässer mit Wasser bereit, das Öl kochte allerorten in riesigen Kesseln, überall standen Körbe voller Pfeile und Speere, und all das Beutegut der letzten Nacht war verteilt worden. Aber auch an vielen Stellen sahen die Königin und er die frischen Gräber. Sie befanden sich inzwischen auf der wasserabgewandten Seite der Stadtmauer, winkten den geschäftigen Verteidigern zu und ließen die Zügel auf die Rücken der Pferde klatschen. Eine neue Gasse tat sich vor ihnen auf. »Es ist verdächtig ruhig«, sagte Mythor. »Auch im Lager der Caer. Mir scheint es fast leer zu sein, trotz der Rauchsäulen.« Es war beinahe schon Mittag. Heute brannte die niedrig stehende Herbstsonne sogar. Bei jedem Tor waren Elivara und er auf die Mauer gestiegen und hatten lange Blicke ins Umland geworfen. Nirgendwo rührte sich etwas, an keiner Stelle sah man die Staubsäulen, die marschierende Truppen aufwirbeln mochten. »Ich traue dieser Ruhe nicht. Aber noch verschafft sie allen eine mehr als wohlverdiente Pause«, gab Elivara zurück. Ein Reiter kam ihnen entgegen. Kurze Zeit später erkannten sie Dhorkan, der den Arm in die Höhe streckte und winkte. Neben ihrem Gespann hielt er sein schäumendes Pferd an und rief: »Das Haus des Fürst-Richters ist leer. Seine Dienerinnen wissen von nichts. Sie haben auch keine Ahnung, wo Carbell sich befindet.« »Er hat sich irgendwo in der Stadt verborgen«, sagte die Königin. »Zweifellos. Wenn er nicht zu seinen Freunden, den Caer, übergelaufen ist. Es mag leicht sein, sich an einem Seil von der Mauer herunterzulassen«, gab Dhorkan zurück. »Es ist zu ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm!« Sie sahen sich in die Augen. Jeder von ihnen dachte dasselbe.
Aber soeben hatten sie gesehen, daß jeder Posten auf den Mauern besetzt und wachsam war. Die Caer konnten nicht wie Hagel aus der Luft fallen oder fliegen wie die Totenvögel. Auch Mythor war einen Augenblick lang ratlos und fragte schließlich: »Wo sind deine Männer, Dhorkan?« »Sie sammeln sich, zusammen mit anderen, im Schloß bei Torm Shar.« »Gut. Wir sind in einer Stunde dort. Dann beraten wir. Und wenn sie angreifen«, er deutete in Richtung des Hafens, »dann werden uns, denke ich, wieder die Hörner der Posten auf den Türmen rufen.« »Das ist sicher«, entgegnete Dhorkan. »Trotzdem habe ich ein böses Gefühl kommenden Verderbens.« »Damit bist du nicht allein«, sagte die Königin. »Seht zu, daß ihr trotzdem Fürst-Richter Carbell findet.« Dhorkan grüßte und gab seinem Pferd die Sporen. Das Gespann rollte weiter und hielt am letzten Tor an. Hier wie überall dasselbe Bild. Die Nyrngorer hatten begriffen, daß jeder von ihnen das Äußerste zu leisten hatte. Die Stadt durfte nicht fallen! Aber trotz des Jubels, der sich überall um Elivara erhob, erkannte Mythor die stille Furcht in den Augen der Stadtbewohner. * Kurz nach Mittag hatte sich der Nebel aufgelöst. Noch immer warteten die Verteidiger von Nyrngor auf ein Zeichen. Irgendein Zeichen, sei es eine Staubwolke oder eine waffenstarrende Schar von Caer-Kriegern, die aus dem Lager heranstürmten. Aber alles blieb unnatürlich ruhig. Alle erwachsenen Dandamaren innerhalb der Mauern fühlten diese Stille und begannen zu ahnen, daß der Tag fürchterlich enden würde. Es gab keinerlei wirkliche Anzeichen dafür, aber jedermann
dachte und fühlte dasselbe. Zufällig hatten sie sich alle im Hof von Fordmore getroffen; jetzt standen sie in einer Gruppe um Königin Elivaras Gespann herum. Torm Shar blinzelte in der Sonne und sagte gerade: »… hundert und mehr Wächter. Sie sehen jede Ratte, die sich den Mauern nähert. Es ist heller Tag!« »Jedenfalls sind wir wachsam«, bestätigte Dhorkan. »Und keiner in der Stadt hat Carbell gesehen.« Mythor und Sadagar wechselten kein Wort miteinander. Die Betroffenheit Mythors würde bald vergehen, sagte sich der Messerwerfer, und Mythor würde einsehen, daß Fahrna ihren Tod geradezu herausgefordert hatte. »Ich ahne, daß der Fürst-Richter nicht aufhören wird, uns zu verraten«, meinte Elivara nachdenklich. »Schon mein Vater sagte mir, daß er leicht zu beeinflussen sei.« »Selbst der redlichste Mann wird verdorben, wenn ihn die Caer-Priester in ihrer Gewalt haben«, versuchte Mythor eine Erklärung. »Richtig!« pflichtete ihm Shar bei. »Ich bin auch zu beeinflussen und noch immer nicht ein Opfer der Caer-Priester und ihrer Dämonen!« »Sei glücklich darüber!« warnte Sadagar. »Und gehe ihnen in großem Bogen aus dem Weg.« »Ich werd’s versuchen.« Nottr, der sich aus den Magazinen zusätzliche Waffen geholt hatte, nickte zustimmend und spannte seine Muskeln. Er schien der einzige zu sein, der einem Kampf entgegenfieberte. Mythor, den Flügelhelm Carnens unter dem Arm, wußte zwar, daß er dem Anschlag Carbells entgangen war, daß aber die Gefahr nicht geringer geworden war. Er war ebenso im Bann dieser Stimmung wie viele andere im Bereich der Stadtmauern. Er sagte zu Dhorkan: »Ich bin hier fremd, aber es wird hoffentlich nicht unter deiner Würde sein, jemanden zu
finden.« »Wen?« »Einen Diener, der jedem von uns einen Humpen Bier bringt. Einen kleinen Humpen für Kalathee, nicht wahr?« »Rätselhafterweise«, antwortete Dhorkan, und sein scharfes, ernstes Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, »habe ich gerade dasselbe gedacht. Sofort.« Als die Dienerinnen mit gefüllten Bechern in den Händen die Treppe herunterkamen, griffen die Caer an. Das erste Hornsignal ertönte aus der Richtung des Hafentors, und noch ehe dieses schauerliche Dröhnen abriß, antwortete der Wächter aus dem entgegensetzten Ende der Stadt. Die Bläser der anderen Türme schmetterten ihre Warnungen aus Norden, Süden und Westen, der dröhnende Schall der Hornstöße schien die Stadt zu erschüttern. Mythor kannte die Bedeutung der einzelnen Signale nicht, aber alle konnten nur eines aussagen: Die Caer griffen von allen Seiten gleichzeitig an. Also bewegten sich mehr als tausend Mann gegen jedes einzelne Tor. Trotzdem griffen Nottr und Mythor zu den Bechern. »Wir können nicht überall sein«, sagte Mythor und wischte den Schaum von seinen Lippen. »Und es dauert wohl noch etwas, bis der eigentliche Angriff beginnt. Wohin also? Zum Hafentor?« Die Späher auf den Mauern hatten ihre Signale in dem Augenblick geblasen, an dem sie die ersten Caer gesehen hatten. Bis die Truppen die Türme und Tore erreichten, war noch Zeit. Dhorkan stürzte den Rest des Bieres hinunter und sagte entschlossen: »Los, Torm! Wir sehen zuerst am Hafentor nach.« Sie hoben ihre Schilde auf, banden die Helme fest und rannten zu ihren Pferden. Augenblicke später galoppierten sie aus dem Schloßhof hinaus. Ununterbrochen bliesen die Späher. Die düsteren Signale kamen noch immer aus allen Richtungen.
»Das ist der Angriff, vor dem wir uns alle gefürchtet haben«, stieß Elivara hervor. »Nun, es ist Tag, ein Vorteil für Nyrngors Verteidiger. Wir sind bereit.« Sie winkte mit ihrer Streitaxt, die Gruppe setzte sich in Bewegung und verließ langsam den Hof. Nottr, Mythor und Sadagar schwangen sich in die Sättel und trabten hinterher. In dem Moment, als Elivara, von Mythor, seinen Freunden und einigen Leibwachen begleitet, an der Pestburg vorbeifuhr, wurde eines der Hornsignale lauter, abgehackter und drängender. Königin Elivara schrie auf. »Wieder das Hafentor. Ich habe es mir so vorgestellt.« Augenblicklich handelten sie alle. Das Gespann zog an und ratterte geradeaus, die Pferde wieherten grell, und ein Dutzend entschlossener Männer rasten vor, neben und hinter der Königin auf die Stelle zu, an der die Caer die Verteidiger in Bedrängnis brachten. Als Mythor und Elivara die Mauerkrone erreichten, sahen sie, daß der Späher nicht aus Angst seine Signale derartig abgegeben hatte. Vom Lager und von den schwarzen Schiffen im Hafen marschierten schweigend gewaltige Mengen schwerstbewaffneter Caer heran. Sie schleppten Rammen und zogen Belagerungsmaschinen mit sich. An ihrer Spitze ritt ein Gepanzerter mit Visierhelm und einem schwarzen Rundschild auf einem wuchtig gebauten braunen Hengst. »Das muß Coerl O’Marn sein«, sagte Elivara und deutete auf den Anführer. »Jeder kennt seinen Namen.« Neben dem kraftvoll tänzelnden Braunen gingen zwei CaerPriester. Um die Gruppe hatte sich ein freier Raum gebildet. Die Caer schritten langsam aus. Noch waren die Verteidiger, wie es schien, vor Staunen und Entsetzen bewegungslos, aber dann ertönten einige laute Kommandos. Hornsignale riefen die Kampfgruppen zusammen. Auf den Mauern versammelten sich mehr und mehr Männer, von denen jedem eine Auf-
gabe zugewiesen worden war. Aber in unerschütterlicher Ruhe kamen die Caer näher. »Es müssen zweieinhalbtausend oder mehr sein«, murmelte Mythor betroffen. »Und alle werden zwischen diesen beiden Türmen angreifen«, erklärte Nottr. »Mir machen die Priester Sorgen.« »Nicht nur dir!« Die ersten Caer kamen an den Wall, der von verkohltem und zerbrochenem Belagerungsgerät halbkreisförmig außen vor dem Tor gebildet wurde. Schnell und sicher richteten sie die Schutzdächer über der schweren Ramme auf. Zerbeulte Schilde waren mit Balken darauf befestigt worden. Dahinter spannten die Krieger die Seile der löffelförmigen Schleudermaschinen. Ein Turm aus schräg zulaufenden Balkenbündeln rollte auf kreischenden Scheibenrädern heran, von Tieren und Männern gezogen. Noch befanden sich alle Angreifer jenseits der Entfernung, in der ein guter Bogenschütze etwas treffen konnte. »Das Warten ist es, was mich unruhig macht«, stellte Nottr fest und nahm seinen Bogen von der Schulter. Mythor und Elivara schwiegen und starrten die Übermacht des Feindes an. Kurz vor dem Tor, aber in sicherer Entfernung, blieben die Werfer stehen. Die Schleuderarme waren weit zurückgespannt worden. Die Caer schleppten scharfkantige Steine heran und luden sie in die tiefen Mulden. Alle Arbeiten gingen in großer Schnelligkeit vonstatten. Fast gleichzeitig schlugen die Mannschaften die Bolzen aus den Halterungen. Die Schleudern wurden nach vorn gerissen und schlugen mit dumpfem Krachen an. Die Steine wurden hochgewirbelt, schossen auf die Mauer zu und darüber hinweg, beschrieben steile Bahnen in der Luft und prasselten herunter. Sie zerplatzten an der glatten Fläche der Mauer, rissen Splitter aus den Zinnen, trafen einige Verteidiger und schleu-
derten die aufschreienden Männer mit gebrochenen Knochen hinunter. Große Steine und Felsbrocken schlugen durch Dächer, durchbrachen die Mauern der nächststehenden Häuser und polterten auf die Gasse und den Torplatz. Im gleichen Augenblick sprangen Hunderte Caer auf die Ramme zu, packten Seile und Balken und schoben sie in einem einzigen wilden Schwung bis an das Tor. Von der Mauer aus war der Zustand der Bohlen und Angeln nicht zu erkennen, aber die Königin wußte, wie wenig sicher die Riegel und Befestigungen innen waren. Sie gab nach rechts und links Zeichen, aber die Männer hatten ihre Absicht bereits erkannt. Nach dem Schrecken über den Steinhagel, den sie rasch überwunden hatten, wehrten sie sich. Wieder kippte man Öl über die Mauerkante. Das Öl war seit der Nacht kochend gehalten worden, traf auf die Schutzdächer der Ramme und spritzte rauchend zur Seite. Einige Caer schrien auf und stolperten verbrannt zurück. Sofort sandten die Bogenschützen kleine Schwärme von Pfeilen zwischen den Zinnen heraus nach unten. Gleichzeitig heulten die Brandpfeile abwärts und blieben mit krachenden Geräuschen in dem ölgetränkten Dach stecken. Der erste Schlag der Ramme ließ beide Torflügel erbeben. Das donnernde Geräusch war auch für die Caer ein Signal. Gleichzeitig mit dem zweiten, viel wuchtigeren Schlag schnellten wieder die Wurfgeschütze nach vorn. Der nächste Hagel aus kantigen Felsbrocken traf keinen der Verteidiger, aber Teile der Mauerkrone splitterten ab, weitere Dächerteile und Hauswände wurden zerstört, und einige Männer, die auf dem Platz warteten, wurden getroffen. Unerreichbar für die Pfeile und Speere blieb O’Marn auf seinem Braunen sitzen. Er erteilte kurze Befehle, die Boten rannten und ritten in alle Richtungen. Die Priester in ihren silber-
funkelnden schwarzen Mänteln standen regungslos da, und über ihrer Gesichtshaut, die wie eine gläserne Schicht war, trugen sie die rotsilbernen Masken. Einer der Männer war schlank und schien jünger zu sein; der ältere Caer-Priester war nicht viel kleiner, aber von größerer Körperfülle. »Sie sind vorsichtig!« bemerkte Elivara sorgenvoll. Am hintersten Rand der Ansammlung von Kriegern warteten die Mauerstürmer mit ihren langen Leitern. Die Leitern, soviel sah man von hier aus, trugen an ihren oberen Sprossen zwei lockere, zusätzliche Holme, an denen schwere Steine hingen. Auf diese Weise wurde vermieden, daß die Leitern, wenn sie einmal festgehakt waren, leicht zurückgestoßen oder umgeworfen werden konnten. »Aber sie werden sich, wann auch immer, in die Reichweite unserer Waffen wagen müssen.« »Ich hoffe«, sagte Mythor unruhig zu Elivara, »daß es dann für uns nicht zu spät sein wird.« Die Schläge der Ramme hörten nicht auf. Ihr Rhythmus diktierte den Angriff. Bei jedem Stoß wurden das Knistern und Krachen splitternden Holzes und das Knirschen der sich lockernden Angeln lauter. An vier Stellen brannte der Schutz über der Ramme, und als die Verteidiger Steine darauf fallen ließen, zertrümmerten sie das Holz, zerrissen die Schilde, wirbelten Feuer und Funken auf und erschlugen die Caer. Aber für jeden Caer, der vor dem Tor starb, löste sich aus dem wartenden Heer ein anderer und nahm dessen Platz ein. Hinter dem Tor versammelten sich die Verteidiger. Unaufhörlich liefen Dhorkan und Torm Shar auf den Mauern entlang und brüllten Befehle nach unten. Selbst wenn die Caer durchbrachen, war ihnen der Sieg noch lange nicht gewiß. Die Ramme vergrößerte den Spalt zwischen den Torflügeln. Auch das Holz des Portals brannte. Die Bogenschützen duck-
ten sich, wenn die Steine heranschwirrten, und kaum waren die Geschosse aufgeprallt, zischten die Pfeile hinunter. Speere wurden geschleudert, Steinquader wirbelten senkrecht hinunter, wieder spritzte kochendes Öl abwärts und bildete brennende Bäche vor den Mauern. Coerl O’Marn war unerschütterlich. Einige Schritte vor ihm und den Priestern steckten die Speere und die Pfeile im Boden. Kein einziges Geschoß hatte ihn oder die Männer mit ihren auffällig bemalten Knochenhelmen getroffen. Nottr und Mythor schleuderten in langen Abständen Speere abwärts und trafen auch ihre Ziele. Aber noch ließ der erste Höhepunkt des Kampfes auf sich warten. Wieder schnappten die Schleudern nach vorn. Aber statt eines Hagels kleinerer Brocken warfen die Schleudern jeweils nur einen großen Steinbrocken auf die Mauer zu. Nein, nicht auf die Mauer – in so geringem Abstand, daß es wie ein einziger Donnerschlag klang, krachten die Geschosse gegen die Portale, rissen die Verankerungen aus dem Gestein, zersprengten die Balken und zerrissen die Eisenbänder. Zwei der Steine durchschlugen die Torflügel, die knirschend nach innen kippten, der dritte Quader polterte wieder zurück und erschlug die Mannschaft am Kopf des Widders. Wieder strömten Caer zu Hilfe, von denen die Hälfte starb, ehe sie die brennende Ramme erreichten. Aber die nächsten fünfzehn Schläge zertrümmerten den Rest des Tores. Der Weg war fast frei. Der Sturm begann. Etwa ein halbes Hundert Sturmleitern wurden nach vorn geschleppt. Die Leitern und die bewaffneten Männer rechts und links von ihnen wirkten wie riesige, dunkle Tausendfüßler. Auf den Mauern packten die Verteidiger die Beile und die Schwerter für einen Kampf Mann gegen »Hinunter, Königin!« schrie Mythor durch das Toben. »Hier oben werden wir nicht gebraucht.«
Von den anderen Mauern der Stadt kamen keine Signale. Die Ruhe bedeutete, daß an keiner Stelle ein Durchbruch erzielt worden und daß keine Gruppe von Verteidigern bis zur Stunde in ernsthafter Bedrängnis war. Dies konnte sich ändern; noch sah es so aus, als werde es ein schwerer, aber nicht der letzte Kampf. »Du hast recht. Kommst du mit uns, Nottr?« »Ich kämpfe nur an der Seite Mythors«, schrie er grimmig und fügte dann hinzu: »Und an der deinen, Königin.« Sie sprangen die Stufen abwärts und erreichten die Menge, die sich hinter dem Wall aus Quadern versammelt hatte. Männer standen auf dem Rand dieser zweiten Barriere und schleuderten Speere durch die Öffnung. Jaulend flogen die Pfeile aus den Fenstern der nahen Häuser. Ein Portal, der Länge nach gespalten, bildete eine schräge Fläche vom Torbogen bis zur Oberkante der Rampe aus Steinen. Die ersten Caer schwenkten ihre Waffen, stießen ein gellendes Kriegsgeschrei aus und stürmten über die Trümmer des Tores in die Stadt. »Wartet!« sagte Mythor und hob das Schwert. An den Resten des Rammbocks vorbei drängten sich Hunderte schreiender Caer. Ihre Schreie verschmolzen zu einem einzigen Laut, der greller und höher wurde. Das Geräusch schwoll an wie ein Sturm, wurde zum Jaulen und Kreischen eines Orkans, begann in den Ohren zu schmerzen und steigerte sich immer mehr. Mythor riß Elivara an sich und schrie in ihr Ohr: »Hör nicht hin! Es ist die Magie der Priester. Sag dir immer wieder, daß nichts da ist!« Aber er wußte, daß es gegen diese Art von Magie kein ihm bekanntes Abwehrmittel gab. Als er die Schneide des Gläsernen Schwertes auf die linke Handfläche legte, war ihm, als lasse dieses infernalische Heulen geringfügig nach. Dann riß der Kampf Mythor mit sich und ließ ihn das Heulen und Krei-
schen halbwegs vergessen. Die ersten Caer, die über die schräge Fläche heraufstürmten, starben nach wenigen Schritten. Sie prallten gegen eine dünne Reihe der Verteidiger, die von oben herab mit Beilen und Schwertern zuschlugen. Die Waffen klirrten gegen den Stein, zwischen den Verteidigern hindurch bohrten sich Lanzen in die Körper der Stürmenden, und obwohl viele der Nyrngorer sich vor Schmerzen schreiend die Ohren zuhielten, scheiterte der erste Ansturm. Mythor schlug einen herantaumelnden Caer mit dem Schwert zur Seite und spähte über die Quader. Er sah deutlich, daß die Caer-Priester ihre Arme schräg gen Himmel erhoben hatten. Ihre Finger sahen aus wie geschwärzte Knochen. Der Anführer O’Marn spornte sein mächtiges Pferd und hob den riesigen zerbeulten Rundschild. Er zog sein Schwert und wies mit der Spitze auf das aufgebrochene Tor. Die Sturmleitern waren angelegt worden. Hunderte von Verteidigern auf den Mauern waren in Handgemenge verwickelt. Sie konnten nicht in die Auseinandersetzung am Tor eingreifen. Wieder packten die Caer die Griffe und Seile der Ramme, rissen den langen Baum aus den rauchenden Trümmern heraus und zogen sich einige Schritte zurück. Ein Kommando, sie hoben den Widder an und stürzten vorwärts. Sie rannten und stolperten geradeaus, der Rest des Torflügels zersplitterte unter dem wilden Ansturm, und die Ramme schob in der Mitte der Absperrung die Steinquader auseinander. Nyrngorer fielen von dieser locker aufgetürmten Mauer, und noch immer erschütterte das Kreischen die Menschen und flößte ihnen Grauen ein. Die ersten Reihen der Angreifer starben, noch ehe sie die Griffe der Ramme losgelassen hatten. Aber in die Masse der
Verteidiger kam Unordnung. Die herunterpolternden Quader zwangen sie, zur Seite zu springen. Eine breite Gasse öffnete sich, durch die weitere Caer hereinströmten. Sie wandten sich nach rechts und links und griffen mit schweigender Wut an. Das orkanähnliche Heulen, das von überall her kam, machte aus diesem Kampf ein Chaos. Mythor, Elivara, Nottr, Sadagar und Torm Shar, der eben auftauchte, standen einige Herzschläge lang in einer Reihe nebeneinander, genau gegenüber dem offenen Tor. Nachdem die Caer zwei Kampfreihen gebildet hatten, öffnete sich wieder eine Gasse, durch die ein Stoßkeil frischer Truppen, in ihrer Mitte der breitschultrige Reiter mit geschlossenem Helmvisier, herandonnerte. Noch während das Kreischen seine Tonfolge änderte und anund abschwoll, verdichtete sich rundherum die Luft zu einem dünnen grauen Nebel. Je näher die blitzenden Lanzen und Schwerter der Caer kamen, desto dichter wurde der Nebel. Er kroch wie Rauch von allen Seiten heran. Eine neue, noch schrecklichere Hilfe der Priester für die Krieger, fuhr es durch Mythors Kopf. Dann tauchte unter dem Torbogen, geschützt und umgeben von einer Masse Krieger, der einzelne Reiter auf. Mythor war es, als musterten ihn aus den Schlitzen des Visiers brennende Augen und forderten ihn zum Zweikampf heraus. Als er diese unausgesprochene Kampfansage annahm und sich mit erhobenem Schwert nach vorn warf, folgten ihm die Freunde. Sie prallten gegen die Caer wie eine Brandungswoge. Obwohl auch zwischen den Füßen der Caer, über ihren Köpfen und zwischen ihren Leibern der dunkelgraue Rauch aufstieg, obwohl das Heulen und Kreischen nur um ein geringes leiser geworden war, kämpften Mythor und seine Freunde wütend und voller Kraft. Sadagars Messer waren fast unsichtbar schnell. Nacheinan-
der brachen vor der Gruppe zwölf Caer aufschreiend in die Knie. Sadagar bewegte sich mit überraschender Geschicklichkeit und riß die Messer aus den Körpern der Toten. Sofort verwendete er sie wieder als tödliche Geschosse. Mythors Schwert zerschmetterte glimmend und mit klagendem Summen Schilde und Helme und drang tief in Körper. Meist brachen die Klingen der Caer-Schwerter, wenn sie auf das geheimnisvolle, gläserne Material von Alton prallten. Elivara handhabte ihr doppelschneidiges Kampfbeil mit der Geschicklichkeit eines alten Recken. Ihre Stärke lag im wirbelnden Angriff, der keiner anderen Waffe erlaubte, an ihren Körper heranzukommen. Nottr, in dessen Köcher nur noch wenige Pfeile klapperten, schwang das juwelenbesetzte Krummschwert, parierte die Angriffe von drei Caer nacheinander, zerschnitt ihnen halb die Schilde und die Kettenhemden und wütete schreiend unter ihnen. Schräg hinter Mythor, teilweise als Schutz für den umherzappelnden Steinmann, hämmerte das Schwert Torm Shars gegen die Waffen der Fremden. Aber mehr und mehr verdunkelte sich der Raum zwischen den Mauern. Der Rauch wurde dicker und verwandelte sich in eine schwarze, stinkende Wolke, deren Ausdünstung den Kämpfern den Atem nahm. Mythor hob das Schwert, fegte die Waffe eines Caer zur Seite, spaltete dem Fremden den Schädel und griff den Reiter an. O’Marn schlug senkrecht nach unten, während sein Pferd sich aufbäumte und mit den Hufen nach Mythors Schild schlug. Mythors Arm fuhr hoch, der Schild kippte, und der wütende Schlag donnerte auf das Metall. Im Rand des Wappenschilds erschien wie durch Zauberhand eine Kerbe. Mit der Schulter rammte Mythor genau in dem Augenblick, als das Tier seine Hufe eine Handbreit über dem Boden hatte, die Schulter des Pferdes.
Aus dem Helm des Caer-Anführers ertönte ein überraschter Fluch, als er versuchte, sich im Sattel zu halten: »Caers Blut!« Er schwang sich auf der Mythor abgewandten Seite vom Pferd. Ein Caer sprang heran, packte die Zügel und brachte den Braunen aus der Kampfzone. Hinter der ersten Reihe der Verteidiger kamen nun andere Nyrngorer und hielten die Eindringlinge auf. Wie durch Zufall hatte sich um O’Marn und Mythor eine freie Zone gebildet. Aber der Boden war voller Trümmer, Steinbrocken und Körper von Erschlagenen. Die Pflastersteine waren schlüpfrig vom Blut. Und es wurde immer dunkler. Der massige Krieger in der schweren Rüstung drang auf Mythor ein. Den ersten Schwerthieb, der noch gewaltiger war als der, den der Gepanzerte vom Sattel herab geführt hatte, parierte er wieder mit dem Schild König Carnens. Aber er schlug bereits in dem Moment zu, als O’Marn noch in der Rückwärtsbewegung war. Der runde Schild dröhnte auf wie eine riesige Glocke. Alton schnitt durch den schwärzer werdenden Rauch wie ein Blitz, und noch ehe O’Marn sein Schwert in Schlagbereitschaft hochgerissen hatte, zuckte Mythors Arm nach vorn. Die Spitze des Gläsernen Schwertes bohrte sich in einen der Schlitze des Visiers. Es gab einen mißtönenden Laut, als das Metall zerschnitten wurde. Wieder schnellte das Schwert des anderen vor, wieder fing Mythor den Hieb mit dem Schild ab. Er achtete noch nicht darauf, was rund um ihn geschah. Elivara trieb eine Gruppe Caer Schritt um Schritt zum Tor zurück. Auf der anderen Seite drosch Torm Shar wie ein Rasender, für Elivara im Dunst der schwarzen Wolke fast unsichtbar, auf vier Caer ein, die ebenfalls vor dem Ungestüm seiner Angriffe zurückwichen. Hinter ihm bückte sich ein Caer, hob einen Wurfspeer auf und wollte ihn Shar zwischen die Schulterblätter stoßen. Sadagar sah die verräterische Be-
wegung und schleuderte seinen letzten Wurfdolch. Er drang dem Caer in den Schädel, und Nottr schlug dem Strauchelnden den Kopf vom Hals. Mythor drang vor, schlug und parierte, schnappte nach Luft und erkannte seinen Gegner kaum mehr. Aber O’Marn wich zurück, Schritt um Schritt. Das Dunkel wurde undurchdringlich, in der Nähe des Tores schien die Nacht herabzusinken. Zwei Caer rannten heran. Einer hing am Zügel des Pferdes, aus dessen Nüstern Dampf zu fauchen schien. O’Marn sah sein Pferd und schrie etwas, das wie »Chelm« klang. Aber auch der Caer schrie ihm mit schriller Stimme eine Botschaft zu. Ohne in der Abwehr von Mythors Schlägen unachtsam zu werden, zog sich der Krieger zurück, dann, mit überraschender Wildheit, machte er einen neuen Ausfall und schlug auf Mythor ein, als wolle er ihn bis nach Fordmore zurücktreiben. Mythor parierte jeden Schlag, teils mit der Klinge, teils mit dem Schild. Die Schläge und die urtümliche Kraft des Fremden erschütterten Mythors Körper jedesmal. Obwohl O’Marn kein Schwert wie Alton hatte, war er ein unbesiegbarer Kämpfer. Jetzt verstand Mythor, warum gerade dieser Mann die Caer anführte. Nach dem letzten Schlag, der das Gläserne Schwert am Griff traf und Mythors Finger nahezu lähmte, wandte sich O’Marn um, rannte zu seinem Reittier und sprang mit einem gewaltigen Satz in den Sattel. Das Pferd, für Mythor nur noch schattenhaft zu erkennen, bäumte sich auf, drehte sich auf den Hinterbeinen und donnerte dann in einem wilden Galopp davon. Mythor ließ das Schwert sinken und drehte sich um. Der Caer, der mit blutüberströmtem Gesicht und mit einem Dolch in der Schulter hinter Torm Shar auftauchte, hielt sein Schwert mit beiden Händen. Auch sie waren voller Blut. Der Caer hatte die Waffe wie einen Speer gepackt und stieß sie in
den Rücken des Stadthauptmanns. Nottr hatten den Angriff gesehen, aber er kam um eine winzige Zeitspanne zu spät. Mythor erkannte in der Schwärze zwei Caer vor sich, hob das Schwert und stürmte wieder los. Aber nur einer der Krieger verwickelte ihn in den Kampf – der andere war, falls Mythor richtig sah, der letzte Caer innerhalb der Stadtmauer. Elivara stolperte an ihm vorbei, erkannte den zusammenbrechenden Shar und schrie auf. Im gleichen Moment riß das unirdische Heulen ab. Und die Wolke löste sich auf, so schnell, daß es unbegreiflich schien. Krachend stürzte genau vor dem Tor eine Sturmleiter um, und schrille Schreie ertönten, als die Caer von den Sprossen geschleudert wurden. »Sie haben… Torm Shar… Einen der besten Männer der Stadt«, schluchzte Elivara auf und versuchte, den schweren Körper zu stützen. Mythor sprang in die Mitte der Verteidiger, die sich sammelten, und brüllte: »Schnell! Bringt die Quader unter das Tor. Stapelt sie auf, helft alle zusammen.« Vielleicht schafften sie es bis zur Dunkelheit. Oder sogar bis zum nächsten Angriff. O’Marn jedenfalls befand sich, von einer Masse seiner Leute umgeben, auf halber Strecke zwischen Lager und Tor. Auch die Priester waren im Schutz der magischen Dunkelheit verschwunden. Vor diesem Tor ruhte der Kampf für kurze Zeit. Aber an allen anderen Toren und an den Türmen wurde weiterhin gekämpft. Was hatte dieser Rückzug zu bedeuten? Angst? Sicher hatte Coerl O’Marn andere Gründe als Angst vor einem jungen Mann mit Gläsernem Schwert, der ihm für eine Weile hart zugesetzt hatte. * Mit einem Ruck schob Coerl O’Marn das Visier hoch, warf
einen blitzenden Blick auf die Priester und den dritten Mann und sagte hart: »Das ist euer Geschäft. Ich bin für Kampf und Sieg verantwortlich, nicht für eure magisehen Unternehmungen.« Er riß am Zügel und ritt weiter zum Lager. Fürst-Richter Carbell, ausgerüstet, als habe er Nyrngor verteidigt, konnte dem Blick der vier Augen nicht ausweichen. Sie waren für ihn wie Öffnungen in die Schreckenskammern der Willenlosigkeit. Die Haut unterhalb der Masken, überzogen mit einer glashellen Schicht, der furchterregende Helm… er befand sich wieder in der absoluten Gewalt der beiden Vertreter des Großen Drudin. »Ich… ich habe euch alles berichtet. Die Königin wäre längst in eurem Lager, wenn nicht Mythor…«, stammelte er. Im Schutz der falschen Nacht hatte er sich aus der Stadt geschlichen. »Und auch dein zweiter Versuch schlug fehl«, sagte Aerinnen mit seiner tiefen, spöttischen Stimme. »Mir scheint, wir haben den dümmsten und unfähigsten Mann der Stadt dazu ausersehen, unsere Macht zu vertreten.« »Aber wir geben dir noch eine Möglichkeit«, schnitt die arrogante Stimme Feithearns durch seine angsterfüllten Überlegungen. »Die letzte Möglichkeit. Wir geben dir ein Geschenk für Königin Elivara, und sie wird dir vergeben, wenn du ihr gestehst, daß du in unserer Macht warst.« Nur das letzte Wort machte ihm Hoffnungen. Sein Leben war ruiniert, wenn er nicht aus dem Einfluß der Priester entlassen wurde. Aber schon senkte sich wieder ein fremder Wille über ihn; seine Angst verging, und er wußte plötzlich, daß er alles schaffen würde, was er sich vornahm. Gierig griff er nach dem Bündel und schob es unter seinen Umhang. »Eine magische Waffe«, erklärte Feithearn mit einer wegwerfenden Bewegung. »Ich werde ihr mein Geschenk überbringen«, sagte Carbell
mit fester Stimme. Er richtete sich auf und fühlte neues Selbstbewußtsein. Aerinnen sagte mit trügerischer Milde: »Berichte uns alles von Mythor und seinen seltsamen Begleitern.« Fürst-Richter Carbell kümmerte sich nicht um die Brände hinter der Stadtmauer und um die Leichen, die er auf seinem Weg hierher gesehen hatte. Er sprudelte hervor, was er selbst gesehen und was man ihm erzählt hatte, als er sich in der Stadt versteckt hatte. Warum war er eigentlich geflohen? Der Gedanke verging ebenso schnell, wie er aufgetaucht war. Er vergaß, während sich die zwei Augenpaare förmlich in seinen Schädel bohrten und fraßen und eine neue, starke Kraft in ihn einpflanzten – nur die Schritte seines Auftrags blieben übrig. Listig, wie er zu sein meinte, gab er zu bedenken: »Ich kann das Geschenk nur in Schloß Fordmore überbringen. Solange die Königin an den Mauern kämpft…« »Sei unbesorgt, du kluger Planer und Rechner«, spottete Aerinnen. »Alles geschieht so, wie wir es wollen.« »Ah, gut. Ich werde euch sagen, wie ich es mache.« Die Priester lächelten. Die Lippen verzogen sich, die undurchschaubaren Gesichter schienen Heiterkeit auszudrücken. Feithearn legte die Finger auf Carbells Schulter. Die Finger, die schwarzen Knochen glichen. Von fern drangen jetzt die Geräusche wütender Kämpfe an Carbells Ohren. »Du gehst jetzt. Wir werden den Städtern einen neuen Angriff entgegenwerfen. Du mußt hinein, ehe sie das Tor zumauern. Caer-Soldaten werden gegen dich kämpfen, aber sie werden dich nicht töten. Den Bestienhelm darfst du nicht verlieren, während du so tust, als wärest du ein tapferer Krieger. Geh!« Fürst-Richter Carbell drehte sich um und lief auf das Tor zu. Sein Plan war perfekt, aber in Wirklichkeit kannte er nur einen einzigen Schritt, dann wieder einen – die Gesamtheit existierte
nur in seiner Einbildung. Caer überholten ihn; ein neuer, ausgeruhter Trupp rannte in den Kampf. Und hinter sich hörte er auch die schweren Hufschläge des braunen Pferdes, auf dem der mächtige Anführer ritt und seine Befehle gab. * Die unterste Reihe der Quader war aufgeschichtet worden. Kniehohe Steine, die zwanzig Männer kaum bewegen konnten, bildeten die Basis. In der zweiten Reihe fehlte noch der mittlere Stein, die dritte wurde dort bereits aufgetürmt, wo die Holzflügel an die Mauern angestoßen waren. Da erfolgte der nächste Angriff. »Diesmal, sage ich euch«, keuchte Dhorkan und wuchtete den hölzernen Hebel nach unten, »werden sie einen anderen Zauber anwenden.« Hunderte von Caer rückten gegen das Tor vor. Wieder ritt in der zweiten Reihe Coerl O’Marn auf seinem schweißnassen Pferd. Als die Angreifer näher kamen, fingen sich Sonnenstrahlen auf dem Metall ihrer Waffen. Das Blinken breitete sich aus, bis jeder Metallgegenstand Tausende von unerträglich grellen Funken, Strahlen und Blitzen aussandte, als würden riesige Spiegel unaufhörlich bewegt. Die Verteidiger schlossen die Augen, blinzelten und hoben die Finger vor die Stirn. Aber das unerträgliche Funkeln blieb. »Sie haben diesmal keinen Rammbock!« schrie Mythor. »Schließt die Lücke, bringt Öl und Stroh, und macht euch auf einen schlimmen Kampf gefaßt!« Die ersten Pfeile zischten von der Mauer. Einige Caer fielen, aber diejenigen, die den Zusammenbrechenden nachfolgten, traten nur zur Seite und drangen weiter vor. Je näher sie kamen, desto unerträglicher wurde die funkelnde Helligkeit. Schon Herzog Krude hatte ihm erklärt, erinnerte sich My-
thor, wie schnell die Caer weite Teile Tainnias erobert hatten. Die Bewohner, tapfer, wie sie auch sein mochten, hatten der Schwarzen Magie dieser Art nur aufopfernden Kampf und schließlich ihr Leben entgegenzusetzen. Mythor nickte, hob den Schild und sprang durch die Lücke hinauf auf die obere Kante der Quader. Sie war nicht breiter als zwei Ellen, aber von hier blickte Mythor auf die Köpfe der Caer, auch wenn er sie wie durch ein unendliches Gewitter sah. Er starrte geradeaus und glaubte zu wissen, daß dies einer der letzten entscheidenden Kämpfe werden würde. Als die schreienden, schwerterschwingenden Caer die Mauer erreichten, schien unter dem Torbogen eine neue Sonne aufgegangen zu sein. Im Schutz dieser Lichtflut sprangen die Caer an den Steinen hoch, quollen über die Kante und schoben sich durch die Lücke. Mythor sagte sich, daß hinter jedem Blitz ein Gegner sein mußte, und er kämpfte wie ein Blinder. Aber er spürte, wie sein Schwert durch einen Schild schnitt, wie sich die nadelfeine Spitze in einen Körper bohrte, wie eine Waffe an der Schneide klirrend zersprang. Ein Hieb traf sein Knie. Er sprang von der Mauer, stützte sich an der Schulter eines Verteidigers ab, den er schattenhaft erkannte. Zwischen den Seitenmauern tobte ein wilder Kampf. Ein Speer traf seinen Helm und schrammte mit der Schneide über dem Ohr entlang. Neben ihm schrie jemand grell auf. Überall waren Stöhnen, Keuchen, Schwertklirren. Seltsamerweise sah Mythor jenseits der blitzenden Helligkeit einen Teil einer brandgeschwärzten Hausmauer. Er hob schützend den Schild vor seine Schultern und drang in diese Richtung vor. Je mehr er sich von der Barriere entfernte, desto weniger schlug er um sich – er könnte einen Verteidiger tödlich treffen. Er sprang aus dem blitzenden Gefunkel heraus, drehte sich um und hörte das Geräusch von Schritten, die sich in verdächtiger Eile entfernten.
»Feigling«, knurrte er und bemerkte im gleichen Moment einen Caer, der wie er aus der Lichtwolke herauskam. Aber der Fremde zeigte nicht die geringste Unsicherheit: Er war nicht blind oder geblendet wie die Städter. Mythor griff schweigend und unvermittelt an. Wieder wehklagte das Gläserne Schwert, schnitt durch den Schild und zerfetzte das Kettenhemd des Caer. Eine breite Blutspur besudelte die Rüstung des Fremden, aber er schlug zu. Sein Schwert zerbrach dicht hinter dem Griff. Er warf die nutzlose Waffe wütend in Mythors Richtung; sie prallte klirrend vom Schild ab und streifte die Flügel des Helms. Dann packte der namenlose Caer den Schild mit beiden Händen, hob ihn über den Kopf und fing Mythors nächsten Streich ab. Mythor spannte seine Muskeln, dann zog er den Hieb senkrecht über seinen Kopf hinweg und spaltete den Schild in zwei Hälften. Noch ehe die Spitze des Schwertes in Bodennähe war, stach es zu und durchbohrte den Caer. Als Mythor die Klinge aus dem Körper riß, der sich nach vorn zusammenkrümmte, machte ihn und alle anderen ein ungeheures Krachen halb besinnungslos. Es war lauter und schärfer als der lauteste Donnerschlag. Die Mauern bebten. Einige Nyrngorer fielen wie tot um. In Mythors Ohren war ein summendes Klingeln, aber als er taumelnd nach Luft schnappte und den Kopf schüttelte, erkannte er, daß auch das Blitzen und Funkeln aufgehört hatte. Alle Gegenstände hatten wieder ihr vertrautes Aussehen. »Bei Erain!« rief er. »Und wir leben noch!« Nur noch an vier Stellen wurde gekämpft. Sadagar stand da, als sei er zur Statue erstarrt, ein Messer in den Fingern und ohne Ziel. Dann bewegte er sich wieder wieselgleich und holte seine Wurfgeschosse zusammen. Nottr taumelte auf Mythor zu, sein Körper vom Hals bis zu den Schienbeinen blutbespritzt. Er hob das Krummschwert,
von dessen Schneide ebenfalls rote Tropfen perlten, dann rief er aus: »Wir haben sie wieder zurückgetrieben!« »Um welchen Preis, mein Freund«, stöhnte Mythor. Der Platz lag voller Leichen. Verwundete schleppten sich dazwischen in den Schatten. Elivara lehnte an einer Mauer, preßte die Hand auf die Schulter und keuchte erschöpft. Dhorkan schmetterte seinen zerhauenen Schild zu Boden und blickte prüfend hinauf zur Mauer, aber dort sah er nur die Bogenschützen, die ihre Pfeile den Caer nachschickten. Von der Mauer kam ein Schrei, heiser und voller Verwunderung: »Sie ziehen sich zurück! Alle Caer sammeln sich.« Vom nächsten Turm rechts kam ein Hornsignal. Dhorkan sagte zu Mythor und Nottr: »Das Signal bedeutet dasselbe.« Der Späher des linken Turmes blies nur wenige Augenblicke später dieselbe Tonfolge. »Unfaßbar. Sie waren so nahe daran, die Stadt zu erobern«, sagte Elivara schwach und lehnte sich an Mythors Schulter. Wie ein Echo der beiden ersten Hornzeichen kamen von den anderen Türmen der Stadt die Signale. In den Gassen näher zum Stadtmittelpunkt erhoben sich schwache Siegesrufe. Mythor schüttelte den Kopf, nahm den Helm ab und sagte bestimmt: »Wir haben einen Kampf gewonnen, aber keineswegs die Schlacht. Vielleicht gibt es einen Grund dafür, daß sich das Heer des O’Marn zurückzieht. Wir wissen nicht, wie lange die Ruhe währt, aber jetzt sollten wir rasten.« »Laß mein Gespann bringen!« bat Elivara müde. »Es war nur ein Aufschub«, grollte Nottr. »Die Caer geben nicht auf.« Ein verwundeter Krieger brachte das Gespann. Mythor stützte Königin Elivara und führte die Zügel. Die Schatten der Häuser wurden länger, die abendliche Kühle ließ die abgekämpften Menschen frösteln. Plötzlich sagte Elivara in hoffnungslosem Ton: »Es gibt nur
noch einen Lichtblick. Ich sprach schon davon. Sklutur, der Beinerne, hat mit meinem Vater einst einen Vertrag geschlossen. Sklutur wohnt etwa drei Tagesreisen entfernt im Friedhof der Mammuts. Ich habe ihn nie gesehen. Aber der Vertrag existiert wirklich.« Mythor schwieg und nickte ihr aufmunternd zu. »Skluturs Recht, bei Vollmond den höchsten Turm Nyrngors zu besteigen, ist ein Teil des Vertrags. Der andere ist, daß er sich verpflichtet hat, seine magischen Fähigkeiten für die Kinder Carnens einzusetzen, wenn sie ihn darum bitten. Hester und ich, wir sind diese Kinder. Ich halte nichts von diesem Bündnis – aber kannst du mir mehr Hoffnungen machen?« »Nein«, sagte er. »Aber ich weiß, daß die kleinste Hoffnung besser ist als gar keine. Und, wer weiß, vielleicht ist Sklutur so mächtig, daß er uns gegen die Caer helfen kann?« Im gleichen Atemzug sagte er sich, daß es kaum möglich sei, die Stadt zu verlassen, ohne von den Caer gefaßt zu werden. Es ging vielleicht im Schutz der Nacht. Oder auf geheimen Pfaden, die er nicht kannte. Er fragte nachdenklich: »Und du bist sicher, daß dein Vater mit diesem Sklutur den Vertrag abgeschlossen hat?« »Das weiß ich sicher«, bestätigte Königin Elivara. »Falls wir uns entschließen, diesen winzigen Hoffnungsschimmer zu ergreifen… würdest du mir helfen?« »Ich habe es dir versprochen, Königin.« Er lächelte sie aufmunternd an. Seine Gedanken aber entsprachen nicht einer solchen Stimmung. Nyrngor überlebte vielleicht noch einen Angriff von dieser Wut. Möglicherweise auch zwei. Aber wenn nicht ein Wunder geschah, würde die Stadt fallen. Und zwar schon bald. Er dachte nicht an sein eigenes Überleben, als er sich schweigend sagte, daß jeder, der dann nicht mehr innerhalb der Mauern war, das bessere Los gezogen hatte; gleichgültig, was es ihm bescherte.
* Als Königin Elivara hinter sich zögernde Schritte hörte, drehte sie sich ganz langsam um – und blickte in das verwirrte Gesicht von Fürst-Richter Carbell. Seine ganze Haltung drückte Schuldbewußtsein aus. Schräg hinter ihm, flankiert von zwei Rauchsäulen brennender Häuser am Osttor, stand bewegungslos Mythor. Die Spitze seines Schwertes, das er locker in der Hand hielt, berührte den Boden. »Es erstaunt mich, daß du es wagst, mir gegenüberzutreten«, sagte die Königin. Ihre Sorgen waren zu groß, als daß sie Carbell noch fürchtete. Mythors Blick ruhte auf ihnen, und seine Mißbilligung war nicht zu übersehen. »Ich war in der Gewalt von Aerinnen und Feithearn, zwei Caer-Priestern. Ich konnte mich ihrer magischen Macht nicht widersetzen.« Das Dach von Schloß Fordmore war, abgesehen von ihnen, verlassen. Aus allen Teilen der Stadt drangen die Geräusche der Arbeiten herauf. In einer guten Stunde würde die Sonne untergehen. »Der Überfall, der mit Mythors Begleiterin geplante Verrat? Du bist dafür verantwortlich?« fragte sie kühl. »Du weißt, daß dich Dhorkans Männer suchen?« »Ich stand unter ihrem magischem Einfluß!« sagte er mit der Stimme eines Mannes, der mit seinem Leben abgeschlossen hat. »Und jetzt?« Langsam kam Mythor näher. Er wußte, was er getan hätte. Aber hier war sie die Herrscherin. An ihr lag es, Carbell zu verzeihen oder nicht. »Jetzt ist der magische Bann von mir genommen«, stöhnte er. »Ich sah, was ich beinahe angerichtet hätte.«
»Du warst meinem Vater Freund, Berater und Helfer«, sagte sie. »Aus diesem Grund bin ich gezwungen, großmütig zu sein. Vielleicht kannst du den Sturm der Caer aufhalten?« Er krümmte sich förmlich unter ihrem schneidenden Spott. Aber er begriff, daß sie ihm das Leben geschenkt hatte. Der nächste Schritt lag klar vor ihm. »Ich danke dir, Königin«, sagte er gezwungen. »Ich bereue alles, obwohl mich ein fremder Wille dazu gezwungen hat. Aber ich werde für dich ebenso kämpfen wie für König Carnen damals.« »Du solltest entschlossener kämpfen, denn mein Vater stand niemals davor, Nyrngor zu verlieren. Beim nächsten Angriff sehe ich dich am Hafentor kämpfen.« Er verbeugte sich knapp. Mythor, der neben Elivara an der Brüstung des Daches lehnte, sah, wie der Fürst-Richter langsam zur Treppe zurückging. Mißtrauen und ein warnendes Gefühl, das ihn noch nie getrogen hatte, sagten ihm, daß Carbell keineswegs geläutert oder wieder Herr seines Willens war. Er sagte leise: »Ich bin anderer Meinung als du, Elivara. Es ist deine Entscheidung. Noch in dieser Nacht werden wir wissen, wer Carbell wirklich ist.« Schweigend blickten sie auf die Stadt, die langsam im Dunkel des Abends versank.
Hans Kneifel
DER BESTIENHELM Der wütende Kampf um Nyrngor erreichte in den frühen Nachtstunden einen Höhepunkt. Mit scheinbar ungebrochenen Kräften rannten die Caer an allen sechs Toren gegen die Mauern an. Alle Bewohner der schwer geprüften Stadt, die nicht todkrank oder zu schwach waren, unterstützten die Verteidiger. Das Innere von Nyrngor war fast verlassen, nur in Schloß Fordmore und in der Pestburg hielten sich Menschen in größerer Anzahl auf. Jeder, der eine Waffe halten oder einen Stein schleudern konnte, beteiligte sich an der verzweifelten Verteidigung. An nicht weniger als vierzehn Stellen brannten einzelne Häuser und ganze Häuserzeilen. Fünf Rammen schlugen krachend die Tore zu Splittern. Das dumpfe Dröhnen bildete eine schauerliche Begleitmusik zum Kampf. Nur wenige Feuer brannten im Lager der Caer. Noch dunkler war es im Hafen. Einige Fackeln bewegten sich auf den Decks der nachtschwarzen Schiffe. Es schienen sich alle Caer, selbst die verwundeten, vor den Mauern aufzuhalten. Die riesigen Feuersäulen drehten sich spiralig. Funkenschauer trieben hoch, Rauchwolken drifteten nach Osten. Überall waren Lärm und Schreie, das Klirren der Waffen und ein chaotisches Durcheinander aus polternden Steinen und krachenden Balken, Kommandos und Schritten. Die Mauern waren rund um die Stadt besetzt. Frauen schleppten Waffen auf die Zinnen, Steine flogen hinüber und herüber, ununterbrochen krallten sich die Sturmleitern in die Quader der Zinnen. Panik und Angst beherrschten die Stadt. Gerüchte pflanzten
sich schneller als der Widerschein der Flammen fort. An dem einen Ende hieß es, die Caer seien auf der entgegengesetzten Seite durchgebrochen. Reiter galoppierten, Fackeln über den Köpfen schwingend, hin und her und versuchten, aus den Hilfeschreien herauszuhören, wie schlimm es wirklich stand. Mythor schmetterte mit einem letzten, wütenden Hieb einen Caer zwischen zwei Zinnen hindurch zurück über die Mauer, senkte das Schwert und starrte unter dem Helmrand auf Dhorkan. »Es sieht böse aus«, knurrte er. »Ich glaube, daß die Caer in dieser Nacht das Schicksal Nyrngors auf ihre Weise beenden.« »Das glaube ich auch. Meine Erfahrung sagt mir, daß die Stadt fallen wird. Deswegen solltest du die Königin schützen.« Nottr und Sadagar waren bei ihr in Fordmore. Aber Mythor wußte, daß dieser Schutz zu gering war. Er nickte nachdrücklich. »Ich reite nach Fordmore«, sagte er schließlich. Während sie miteinander sprachen, ließen sie kein Auge von dem Abschnitt der Mauer, der im Lichtschein einiger Fackeln, Glutkörbe und Feuer lag, die unter den Ölkesseln brannten. »Gut. Irgendwo dort unten ist mein Pferd. Nimm es!« »Und du?« fragte Mythor. »Du weißt, daß Königin Elivara von Sklutur dem Beinernen und dem Boot mit dem Einhornsegel gesprochen hat?« »Ich war dabei.« Wieder kletterten Caer an mehreren Stellen auf die Mauer, wandten sich nach links und rechts und griffen die Verteidiger an. Mythor riß sein Gläsernes Schwert hoch, hob den Schild bis unter die Augen und sprang mitten unter die Krieger. Dhorkan und Mythor kämpften Rücken an Rücken und drangen langsam vor. Ihre wilden Schläge trieben die Caer zurück. Die beiden Männer kämpften, bis der Mauerabschnitt frei war von angreifenden Caer. Noch hielten die Torflügel stand,
und die Verteidiger hatten hinter den splitternden Balken so viele Steine und Mauerstücke angehäuft, daß sich das Tor nicht nach innen öffnen ließ. Mythor rief: »Ich reite zum Schloß. Viel Glück, Dhorkan!« Dhorkan schlug mit seinem Schwert gegen den Schild und hob den Arm. Mythor tastete sich die Stufen abwärts, fand ein herrenloses Pferd und schwang sich in den Sattel. Einem Jungen nahm er die Fackel aus der Hand und schwang sie, um sie neu anzufachen. Dann ritt er in scharfem Galopp nach Fordmore. Ein Boot sei abseits des Hafens versteckt worden, hatte Elivara ihm gesagt. Es handelte sich um ein kleines Schiff der königlichen Familie, das von den Matrosen beim Auftauchen der ersten Caer aus dem Hafen hinausgebracht worden war. Ein Einmaster mit der Silhouette eines Einhorns im Sonnenzeichen des Segels. Nur mit diesem Schiff konnten sie Sklutur und den Mammutfriedhof erreichen, um den Beinernen zum Einlösen seines Vertragsteils zu bringen. Was war klüger? Die Stadt weiter zu verteidigen oder von außen Hilfe zu holen? Mythor riß sein Pferd herum, als vor ihm ein Schatten auftauchte. Er hob schützend den Schild, dann erkannte er jedoch im Fackellicht Nottr, der das Krummschwert schlagbereit in der Hand hielt. »Ich habe dich gesucht!« rief Nottr. Er schob das Schwert in die Scheide und hielt sich am Steigbügel Mythors fest. »Sie warten alle auf dich. Elivara will die Stadt verlassen. Sie brauchen dich.« Mythor nickte. In langsamem Trab ritt er auf das Schloß zu. Nottr ließ sich mitziehen und rannte neben ihm her. Die Hufe klapperten durch das Tor. Als Mythor den Hof erreichte, sah er ihn hell erleuchtet von zahlreichen Fackeln. Mägde und ein paar Jungen waren dabei, Pferde zu satteln und auszurüsten.
Die Rappen von Elivaras Gespann bissen aufgeregt auf den Trensen und konnten nur noch mühsam gehalten werden. Sogar bis in diesen Schloßhof, von Mauern und Gebäuden umgeben, drang noch das chaotische Geräusch der Kämpfe herein. Nottr löste sich von Mythors Sattel und lief auf Kalathee zu, die neben einem der Pferde stand. »Wo ist die Königin?« rief Mythor und sprang aus dem Sattel. Eine Dienerin deutete zur Treppe und antwortete: »In ihren Räumen.« Mythor dankte mit einem Kopfnicken und stürmte die Treppe hinauf. Er hatte plötzlich das starke Gefühl, daß sich eine Entwicklung anbahnte, die ihm angst machte. Das Gläserne Schwert in seiner Hand leuchtete schwach. Schloß Fordmore hatte sich auf beängstigende Weise geleert; es befanden sich nur noch Menschen darin, die nicht oder nur ungenügend zur Verteidigung der Stadt beitragen konnten. Mit einigen Ausnahmen. Inzwischen kannte Mythor die Hallen und Korridore, und er rannte zielstrebig auf die Gemächer neben der großen Halle zu. Als er die schwere, dunkle Tür mit den Schnitzereien vor sich sah, hörte er einen furchtbaren Schrei. Eine Frau war es, die geschrien hatte und noch immer schrie. Entsetzen und tödliche Angst klangen in diesem Laut, der Mythor zusammenzucken ließ. Er hob das Schwert, drehte seinen Körper und rammte die Tür, die mit einem krachenden Geräusch aufsprang und gegen die Wand schlug. In einer Wolke aus Staub und Holzsplittern stand Mythor in dem Türrahmen. Was er in dem Raum sah, ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen. *
In der Dunkelheit waren große Truppenteile der Caer in einem weiten Bogen nördlich der Stadtmauern durch die Felder und das leere Land gezogen, vorbei an leeren Bauernhöfen, vorbei an Quellen, Waldstücken und über kleine Brücken. Die Caer trugen alles bei sich, was sie brauchten, um durch eines der kleinen Tore in Nordosten, Osten oder Südosten durchzubrechen. Die Hufe der Pferde waren mit Lumpen und Fellen umwunden gewesen, als sie das Lager verlassen hatten. Die Achsen der Wagen troffen vor Fett. Waffen, Rammböcke, ballistische Geschütze und Verpflegung für die Krieger, Werkzeuge, Sturmleitern und Seile befanden sich auf den Karren. Im Schutz der Finsternis formierten sich drei Stoßkeile, deren Ziel die drei kleinen Tore waren. Auf seinem schweren Pferd galoppierte Coerl O’Marn entlang der nördlichen Streitmacht. Er saß trotz der Schwere seiner Rüstung locker im Sattel. Seine Augen und auch die des braunen Hengstes Chelm schienen die Dunkelheit durchdringen zu können, denn die Caer trugen keine brennenden Fackeln. Sie erkannten die größten Hindernisse auf ihrem Weg nur im schwachen Widerschein der Fackeln, die sich wie ein Lichterkranz entlang der Mauerkrone, den Zinnen der Türme und der Torbefestigung hinzogen. Coerl O’Marn erreichte die Spitze des ersten Zuges und beugte sich aus dem Sattel. Er brauchte weder die magischen Kräfte Drudins noch die beiden Priester Aerinnen und Feithearn, um seine Aufgaben richtig durchzuführen. »Hör zu, Mann«, sagte er, »du wirst keine Männer willkürlich opfern! Berennt das Tor, versucht einzudringen und legt Brände! Aber wir brauchen kein falsches Heldentum in dieser Nacht.« »In ein paar Tagen fällt Nyrngor!« versicherte der Anführer grimmig und voller Zuversicht. »Auch Aerinnen sagte es.« »Ich sage es auch, und ich bin nicht Aerinnen«, gab O’Marn
zurück. »Aber der Hauptangriff wird am Hafentor geführt. Es ist unsere Aufgabe, Verteidiger von dort abzuziehen und hier zu binden. Verstanden?« »Wir gehorchen deinen Befehlen, Ritter!« sagte der Anführer. »Werden auch die anderen wissen, was zu tun ist?« »Ich sorge dafür«, grollte Coerl und schob das Visier wieder in die Stirn. Er hob den Arm, gab Chelm die Sporen und überholte die Spitze des Zuges, wandte sich nach Süden und galoppierte quer über die Felder auf den Anfang des zweiten Stoßkeils zu. Große Brocken schwarzer, kalter Erde und Brocken von Gras und Gewächsen wurden von den Hufen Chelms in die Luft geschleudert. Vor O’Marn tauchte der lange Zug auf. Er bestand aus Männern, Pferden und den unförmigen Haufen der Ausrüstung. Ob die Verteidiger die Gefahr sahen, die fast lautlos auf sie zukroch, wußte der Ritter nicht. Die Männer auf den Mauern, rechts über ihm, zeigten keine Reaktion. Sie kümmerten sich um die halbherzigen Angriffe der Caer, die an den Toren kämpften – Zurückgebliebene und Überlebende des letzten Versuchs, die Stadt zu erobern. In wenigen Stunden, wußte der Nachfahre der Alptraumritter, würden sich die Stellen um die Tore in Zonen wütender Kämpfe und Brände verwandeln, deren die Verteidiger nicht mehr Herr werden konnten. * Alton, das Gläserne Schwert, zuckte in die Höhe. Aber in diesem Zimmer gab es nichts, was durch einen Schwerthieb besiegt werden konnte. Der erste Blick Mythors galt Königin Elivara. Sie kauerte in der Ecke und hielt die Hände in der Höhe des Gesichts. Die
Finger waren gespreizt, und sie starrte ihre Handflächen an. Ihr Gesicht drückte namenloses Entsetzen aus. Ihr Schrei war abgebrochen, als Mythor ins Zimmer gesprungen war. Auf dem Kopf der Königin befand sich ein scheußliches Tier. Auf den zweiten Blick erkannte Mythor einen monströsen Schlangenkopf mit Drachenzähnen und langen Nackenstacheln. Der Kopf lief in einen mehrere Ellen langen Körper aus, reptilartig und schuppig, mit dornenähnlichen Stacheln. Der Schlangenleib ringelte sich in mehreren Windungen um den Körper der jungen Frau. Aber das Tier bewegte sich nicht. Seine Augen, langgezogene, mandelförmige Öffnungen, schienen blind zu sein, ohne Iris und in seltsamer Farbe. Ein langgezogenes Stöhnen kam von rechts, unter einem umgestürzten Tisch hervor. Mythor wirbelte herum und sah den zuckenden Körper von Fürst-Richter Carbell. Carbells Beine krümmten sich zusammen, der Oberkörper hob sich, und das weiße Gesicht wandte sich Mythor zu, als erwarte Carbell Hilfe. Schaum trat auf Carbells Lippen, als er stockend hervorstieß: »Ich wollte es nicht!« Mythors Blick ging hin und her. Dann warf er Schild und Schwert zu Boden und sprang zu Carbell hin. Er wußte, daß das Leben des Fürst-Richters in wenigen Augenblicken zu Ende sein würde. Als er sich neben den zitternden Körper niederkauerte, hörte er die nächsten Worte des Sterbenden: »Ich mußte ihr den Bestienhelm bringen. Aerinnen und Feithearn haben meinen Willen in ihrer Gewalt gehabt. Ich bin frei. Aber ich sterbe. Es ist Aerinnens schrecklichste Waffe! Du bist Mythor, nicht wahr? In einigen Tagen wird die Königin sterben müssen, dann treibt sie der Bestienhelm in den Wahnsinn.« Er schien unvorstellbare Schmerzen zu erleiden. Seine Augen traten weit hervor und verdrehten sich. Aus seinen
Mundwinkeln liefen dünne Blutfäden, seine Zunge schien unförmig geschwollen. Er stöhnte und wimmerte, und seine nächsten Worte waren kaum zu verstehen: »Wenn man den Helm mit Gewalt entfernen will, muß die Königin sterben. Ich bin verdammt, ich habe es nicht freiwillig getan. Auch nicht alles andere… Ich war in der Gewalt der verfluchten Krieger-Priester.« Sein Gesicht war gelb, und das Zittern seines Körpers wurde stärker. Mythor schob in einer Mischung aus Mitleid und Abscheu die Hand unter den Kopf des Richters. »Aerinnen gab dir den Bestienhelm?« »Ich wußte nicht, was ich tat. Bis jetzt. Aber jetzt ist es zu Ende.« Er stieß einen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr hatte. Dann verkrampfte sich sein Körper wieder, schnellte sich aufwärts und zuckte zusammen, als habe die Spitze eines Dolches seine Wirbelsäule getroffen. Carbells letzter Atemzug war keuchend und gurgelnd, ein Sturzbach aus Blut ergoß sich aus seinem Mund. Mythor sprang auf die Füße und war mit zwei Schritten bei Elivara. Als er Elivara fast erreicht hatte, sah er in der offenen Tür Nottr stehen. Der Lorvaner war von dem, was er sah, nicht weniger überrascht. Aber er erkannte den Bestienhelm um Kopf und Körper der Königin als eine reale Gefahr, die mit dem Krummschwert zu besiegen war. Mit einem heiseren Schrei stürzte er sich vorwärts. Mythor breitete die Arme aus und warf sich zwischen ihn und die Königin. »Warte, Nottr!« schrie er. Erst jetzt konnte er Elivara im Licht der vielen Öllampen genauer ansehen, und auch den Bestienhelm erkannte er in seinem ganzen gräßlichen Ausmaß. Hinter ihm murmelte Nottr: »Ich habe dich rennen sehen. Ich dachte, ich müßte dir helfen.«
»Ich kam zu spät!« keuchte Mythor. Die Augen der Bestie waren gelb und glatt und schienen ihn trotzdem warnend anzustarren. Elivara war vor Schrecken und Entsetzen halb gelähmt. Mythor streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. Der Schlangenkopf, der ihren gesamten Kopf umfaßte und nur das Gesicht frei ließ, bewegte sich nicht und lag, einem Helm nicht unähnlich, um ihre Schläfen, den Nacken und über die Schultern. Mythor sagte leise: »Kannst du mich hören, Elivara? Ich bin bei dir.« Seine Stimme hatte auf sie eindeutig eine beruhigende Wirkung. Sie senkte die Hände und ballte sie zu Fausten. Dann schüttelte sie vorsichtig den Kopf. Der Bestienhelm bewegte sich mit, aber die Fänge des schlangenähnlichen Fabelwesens bissen nicht zu, der Schlangenkörper zog seine Umklammerung auch nicht weiter zusammen. »Wir… müssen… die Stadt verlassen«, flüsterte Elivara. »Die Pferde sind bereit«, sagte Nottr heiser. Mythor versenkte seinen Blick in die bernsteinfarbenen Augen der jungen Frau und versuchte, ihr etwas von seiner Zuversicht zu vermitteln. »Vielleicht kann Sklutur der Beinerne dir helfen. Es ist eine kurze Fahrt, wenn wir erst dein Boot erreicht haben.« »Ja. Wirst du mich begleiten, Mythor? Wie du es versprochen hast?« Er merkte voller Erleichterung, daß Elivara bereits versuchte, das schreckliche Erlebnis zu verarbeiten, und sich für die unmittelbare Zukunft interessierte. Mehr und mehr erwachte sie aus ihrer Starre. Mythor deutete auf den leeren, dunklen Gang hinaus und sagte: »Nottr! Rasch, bereite alles vor. Pferde, Waffen und Ausrüstung. Ich denke doch, daß Kalathee und Sadagar mit uns reiten werden und du auch?«
»Sadagar versprach’s«, erklärte Nottr. »Kalathee ist bereit, und ich folge dir ohnehin.« »Wir sind in kurzer Zeit bei euch. Allerdings wird es fast unmöglich sein, die Stadt zu verlassen.« Nottr zuckte die Achseln und rannte aus dem Raum. Mythor wandte sich wieder der Königin zu. »Hester ist in den besten Händen«, kam sie seiner nächsten Frage zuvor. »Niemand wird ihm etwas antun. Um über Nyrngor herrschen zu können, werden selbst die Caer ein Mitglied der königlichen Familie brauchen.« Die Königin rechnete also bereits fest damit, daß sie die Stadt nicht würden halten können. Mythor blickte sich um und entdeckte Tücher und Decken auf dem Wandbrett. Elivara richtete sich auf und kam steif aus dem Winkel hervor. Obwohl ihr jeder Schritt schwerfiel und sie sichtlich bemüht war, den Körper der Schlangenkreatur nicht anzurühren, kämpfte sie gegen ihre bemitleidenswerte Lage bewußt an. »Niemand darf mich so sehen!« beschwor sie Mythor, der bereits ein großes dunkles Tuch hervorzog. »Wenn sie den Bestienhelm sehen, verlieren sie auch den letzten Mut.« »Ich verspreche es dir«, antwortete Mythor und wand aus dem Tuch eine Art Turban um das Schlangenhaupt und den Kopf der jungen Frau. »Ich finde einen Weg, wie du diesen verdammten Schmuck schnell wieder verlieren wirst. Entweder wird uns Sklutur der Beinerne helfen oder Aerinnen.« Mythor fand einen langen Mantel und befestigte ihn um ihre Schultern. Dann nahm er sie an den Händen und zog sie in die Mitte des Raumes. »Der Caer-Priester?« fragte sie tonlos. Ihre Augen waren dunkel vor Resignation und Schmerz. »Derselbe. Auch Schwarze Magie ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Erst aber versuchen wir, Schloß Fordmore und das Sechseck der Mauern zu verlassen.«
Sie atmete schwer. »Wir können die Stadt nur dann verlassen, wenn die Caer eindringen.« »Was sehr wahrscheinlich ist«, entgegnete Mythor und zog sie auf den Korridor, »wenn ich die Menge der Caer-Krieger richtig deute, die vor dem Hafentor kämpfen. Es sind Tausende.« Die Königin sah aus, als habe sie sich zum Schutz gegen die herbstliche Kälte gekleidet. In der Dunkelheit würde niemand den Bestienhelm und den Schlangenkörper sehen, es sei denn, jemand riß Elivara das Tuch vom Kopf. Und das würde Mythor verhindern. Er blieb am oberen Ende der Freitreppe stehen, und beide konnten sie erkennen, daß die Mitglieder der kleinen Gruppe bereits warteten. Elivara zitterte, aber sie zeigte Mythor, daß sie sich weitgehend gefangen hatte. Niemand merkte etwas, als sie neben Mythor die Treppe hinunterschritt und zu den Mägden und Dienern sagte: »Wir versuchen, mit dem Schiff den Mammutfriedhof zu erreichen. Wir kommen mit Hilfe zurück, meine Freunde. Vielleicht ist die Stadt noch so lange zu halten. Mythor hat versprochen, für uns zu kämpfen. Er wird sein Wort halten. Keine Träne, keine Angst… wir kommen zurück.« Stumm senkten die Diener die Köpfe. Es war nicht zu erkennen, ob sie glaubten, was Königin Elivara sagte. Mythor hob die junge Frau in den Wagenkorb des Gespanns hinein und schwang sich in den Sattel eines Pferdes. Er nickte Nottr zu. Der Freund hielt ein Ersatzpferd am Zügel, das für Kalathee bestimmt war. Sadagar hatte ebenfalls einen Mantel übergeworfen. Auch der Pelzumhang des toten Königs war an Mythors Sattel befestigt. Mythor hob den Arm, der König Carnens Wappenschild hielt. »Wir versuchen, die Stadt zu retten!« rief er. »Niemand soll an der Königin zweifeln.« Die alten Dienerinnen würden das Gerücht, die Königin ver-
lasse die brennende Stadt, nicht aus dem Schloß hinaustragen. In langsamem Trab ritt die kleine Gruppe aus dem Schloßhof hinaus und befand sich, kaum daß sie hundert Schritt zurückgelegt hatte, im Mittelpunkt erschütternder Szenen. Wieder hielt Mythor sein Pferd an und wandte sich an Kalathee, Sadagar und Nottr. »Nottr weiß es bereits«, sagte er, »und ihr sollt es wissen. Ehe Carbell starb, gab er Königin Elivara ein Geschenk des Caer-Priesters Aerinnen. Der Bestienhelm, eine magische Kreatur, sitzt auf Elivaras Kopf und wird sie in einigen Tagen in den Wahnsinn treiben. Deshalb die Verkleidung. Wir müssen verhindern, daß die Nyrngorer dieses teuflische Ding zu Gesicht bekommen. Elivara wird uns berichten, wie es Carbell gelungen ist, mit der Kreatur in ihre Nähe zu kommen. Vorwärts jetzt!« Wieder zuckte Nottrs Hand zum Griff der Waffe, aber er beherrschte sich, Mythors Warnungen im Gedächtnis. Kalathee zeigte ihre tiefe Erschütterung durch schweigende Blicke, die sie Elivara zuwarf. Aber Steinmann Sadagar bekam es mit der Angst und hielt sich vorsichtig am Ende des Zuges auf. Die Räder des Gespanns ratterten über das Pflaster, das mit Trümmern übersät war, selbst hier, weit vom Hafentor entfernt. Wie der Donner eines weit entfernten Gewitters kamen die krachenden Schläge der Rammen von allen Seiten. An jedem der sechs Tore waren jetzt frische Caer-Truppen eingesetzt und versuchten mit aller Macht, in die Stadt einzudringen. Die Brände erhellten fast den gesamten Horizont. Mythor ritt neben dem Wagen Elivaras. Plötzlich stieß die junge Frau Worte hervor: »Carbell ließ fragen, ob er mich sprechen dürfe. Dann kam er und sagte, daß er etwas über die Verteidigung wissen wollte. Ich legte gerade meine Rüstung an, als er mich ansprang. Und dann…«
Sie schwieg, erschreckt durch die Erinnerung, und lenkte die Rappen in die Hafentorstraße hinein. Der Schein vieler Fackeln kam näher. In dem zitternden Licht erkannten die zwei Frauen und die drei Männer, daß um das Tor wie besessen gekämpft wurde. »Und dann sprang er mich an. Unter seinem Mantel schoß diese Bestie hervor und schnappte nach meinem Kopf. Die Schlange fesselte meine Arme, bis der Rachen sich festgebissen hatte. Dann brach Carbell zusammen. Den Rest hast du selbst miterlebt, Mythor.« Die kleine Truppe erschauerte unter dem Bewußtsein, welch grauenvoller Mittel sich die Schwarze Magie bediente. Dies durften die Nyrngorer nicht erfahren! Als die ersten Verteidiger das Gespann erkannten, brachen sie in Jubel aus und verdoppelten ihre Anstrengungen. An einer Stelle der Mauer hatten die Caer einen Durchbruch erzielt. Über die obersten Sprossen der Sturmleitern drangen hintereinander entschlossene Caer. Schnell kämpften sie die müden Verteidiger nieder und sprangen die Treppen hinunter. Andere ließen sich an schwankenden Seilen zum Boden hinab. Trotz verzweifelter Gegenwehr erreichten immer mehr Caer die Stellen rund um das geborstene Tor, an denen wilde Kämpfe entbrannt waren. Steine, Speere und Pfeile wurden aus den leeren Fensterhöhlen der gegenüberliegenden Häuser geschleudert. Krachend barsten Dachstühle, und ihre glühenden Balken erschlugen Verteidiger und Angreifer. Die Kämpfenden sprangen zwischen den Trümmern und den Flammen hin und her und kreuzten die Schwerter. Der Raum zwischen den Häusern und der Mauer, eine Anzahl breiterer Gassen und einige kleine Plätze, war voller kämpfender Gruppen, die sich vorwärts und rückwärts bewegten. Mit Mythor an der Spitze donnerte der Zug um Königin Eli-
vara im Galopp zwischen den Eindringlingen und den erschöpften Männern der Stadt hindurch. Aus dem Sattel schlug Mythor zwei Caer zu Boden, die sich ihm entgegengeworfen hatten. Die Nyrngorer erkannten Elivara, schrien ihr begeistert zu und griffen mit neuem Mut wieder an. Auf dem riesigen Haufen aus Quadern und Mauerbrocken, die hinter dem geborstenen Tor lagen, kämpfte man auf engstem Raum. Blutende Körper hingen über den Kanten der Steine. Aber es war deutlich zu sehen, daß die Caer vordrangen und Fußbreit um Fußbreit von der Stadt Besitz nahmen. Das Auftauchen Elivaras und Mythors schuf für kurze Zeit Überraschung, sowohl unter den Caer als auch den Städtern. Während der junge Krieger sich mit dem Gläsernen Schwert einen Weg bahnte, wichen die kämpfenden Parteien für wenige Augenblicke voreinander zurück. Die Gruppe preschte durch den schmalen Zwischenraum und schlug die Richtung auf das nächste Tor ein. Die anschließenden Gassen waren unbelebt. Niemand war da, um die kleineren Brände zu löschen, die immer wieder ausbrachen, durch Wurfgeschosse und Brandpfeile der Caer verursacht. Hinter Mythor rief Elivara durch das Hufgeklapper und das Rattern der Felgen: »Die Stadt ist nicht mehr zu halten!« »Das fürchte ich auch. Trotzdem müssen wir über die Mauer«, gab er zurück. Sie erreichten das Gebiet hinter dem nächsten Tor. Auch hier beleuchteten brennende Hausteile, Fackeln und die Reste verstreuter Brände den Platz. Die Schläge der Ramme waren laut und bedrohlich, und gerade in dem Moment, als die Gruppe in den Platz einbog, splitterten beide Torflügel. Von oben bis unten lösten sich entlang der senkrechten Fuge lange Splitter. Eiserne Bänder verbogen sich, als das Tor aufkrachte und gegen die Mauern schlug. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei der Verteidiger erscholl.
Alle starrten wie gebannt auf die Masse der Caer, die rechts und links neben dem halb zertrümmerten Rammbock eindrangen. Auch die Verteidiger auf den Mauern hörten für lange Augenblicke mit dem Kämpfen auf und waren starr vor Schrecken. Völlig ungehindert konnten die Caer sich bis dicht an die Häuser heranbewegen, ehe der Kampf wieder aufbrandete. Mythor erkannte die einmalige Chance für Elivara sofort. Er riß sein Pferd herum, ritt scharf bis an das Gespann heran und beugte sich weit aus dem Sattel. Als er die Königin um die Hüften packte, raunte er ihr zu: »Mit dem Gespann gibt es kein Durchkommen. Nur im Sattel können wir durch die Reihen der Caer hindurch.« »Du hast recht«, sagte sie und ließ die Zügel los. Sie klammerte sich an den Reiter, und als Nottr das zweite Pferd heranzerrte, schwang sie sich in den Sattel. Schaudernd spürte Mythor bis auf die Haut die Formen des Schlangenkörpers unter Elivaras Umhang. »Los!« schrie er durch den Lärm des Kampfes. »Links an der Mauer entlang und durch die Caer!« Niemand schien in diesem Moment die kleine Gruppe zu beachten. Die Caer bildeten zwei Stoßkeile und drangen in die Gassen hinter dem Tor ein. Die Verteidiger versuchten, ihrerseits das Tor zu erreichen, um den nachdrängenden Caer den Weg abzuschneiden. Die Verteidiger auf der Mauer beantworteten den Vorstoß mit einem wütenden Hagel von Geschossen aller Art. Mythor gab seinem Pferd die Sporen und setzte sich an die Spitze der Gruppe. Er ritt entlang der Mauer und hob den Wappenschild halb über Kopf und Schultern. Einige Steinbrocken prallten dröhnend auf den Schild. Das Schwert gab sein leises Wehklagen von sich, als Mythor es herumwirbelte. Hinter ihm ritt Elivara, den Oberkörper tief über den Hals des Tie-
res gekrümmt. Nottr bildete die Nachhut, und Sadagar hatte sich mit einem Schwert bewaffnet, das er irgendwo gefunden hatte. Zehn, fünfzehn Sprünge schafften die Pferde, dann waren sie eingekeilt in der Masse kämpfender Körper. Mythor ließ den Schild auf einen Caer hinunterkrachen, setzte über den Zusammenbrechenden hinweg und ließ dann, als er abermals vor sich nur eine Mauer aus Körpern, Schilden und Waffen sah, sein Pferd sich zweimal im Kreis drehen. Das aufgeregte Tier schlug aus und zertrümmerte die Knochen einiger CaerKrieger, die sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten. In den frei gewordenen Raum galoppierten die anderen hinein, und wieder warf sich Mythor nach vorn, ließ sein Schwert kreisen und schlug eine schmale Gasse in die eindringenden Truppen. Ein neuer Schwall Angreifer drückte Mythor und Elivara gegen den Torflügel. Sie kamen wieder frei und schlugen wild um sich, als sie vor sich die Fackeln sahen. Die Caer marschierten hier, obwohl von oben Wurfspeere und Steinbrocken durch die Finsternis geschleudert wurden, in langen Reihen hintereinander. Gegen die Flammen und die Helligkeit innerhalb des Torbauwerks erkannten die Caer nicht, zu wem diese fünf Silhouetten wirklich gehörten. Sie wichen zur Seite aus, und jetzt konnten die Flüchtenden fast ungehindert reiten. Nur einem glücklichen Zufall konnten sie es zuschreiben, daß sie kein Geschoß der eigenen Leute traf. Neben und hinter ihnen sanken ächzend und schreiend Caer zu Boden, von Pfeilen oder Speeren getroffen. Vielleicht hielten die Caer die fünf Flüchtenden für eigene Leute, oder sie waren vor Angriffslust so verwirrt, daß sie Mythor nicht einmal an dem leuchtenden Schwert erkannten. Die Gruppe ritt durch die Reihen der Caer
und bog dann nach rechts ab, in die Richtung des Hafens. Mit einigen Sprüngen trieb Elivara ihr Pferd an Mythors Seite. Schluchzend sagte sie: »Die Caer erobern die Stadt. Und in diesem Augenblick verrate ich Nyrngor!« »Das tust du nicht«, antwortete Mythor grollend. »Selbst wenn du eigenhändig auf den Mauern kämpfen würdest, könntest du nicht verhindern, was der Stadt bevorsteht.« Sie ritten weiter in den Schutz der Dunkelheit hinein. Zwischen dem Lager und den beiden Toren bewegten sich lange Reihen von Caer-Kriegern mit lodernden Fackeln. Die Schiffe schwankten leicht hin und her, ihr Tauwerk rieb an Holz und auf Stein, und die Wellen schlugen plätschernd an den Strand und die Hafenbefestigungen. Jenseits der Mauer loderten die Flammen brennender Dächer, und die kämpfenden Gestalten tanzten davor wie Schatten. Niemand beachtete oder verfolgte die kleine Gruppe. »Sie haben nichts bemerkt. Bald sind wir in Sicherheit«, sagte Mythor. Der Kampflärm schien von allen Seiten zu kommen. Das Klirren der Waffen hallte von den Mauern der Hafengebäude wider. Nottr fragte knurrend: »Finden wir den Weg auch in der Nacht? Wir dürfen die Fackeln nicht benutzen.« »Es geht immer am Strand entlang«, antwortete Elivara müde. »Bei Sonnenaufgang müßten wir das Einhornschiff erreicht haben.« Sie wandte sich an Mythor und klagte: »Mir ist heiß. Ich fühle mich wie im Fieber. Es ist diese Kreatur.« »Ich denke gerade über einen Versuch nach«, sagte Mythor. »Ich muß nur etwas Glück haben.« Die Pferde waren unruhig, tänzelten und schnaubten. Mythor streckte sich in den Steigbügeln und erfaßte die Szenerie mit einem langen Blick: die schwankenden Schiffe, die vielen Krieger, die Mauern und das ferne Lager, das jetzt vol-
ler Lichter war. Er hob die Schultern und sagte zu Nottr: »Reitet zum Felsenversteck des Schiffes. Macht das Schiff klar und wartet auf mich. Wenn ich in zwei Tagen nicht bei euch bin, stecht in See. Elivara kennt den Weg zum Mammutfriedhof.« »Was hast du vor?« fragte Kalathee ängstlich. Er nahm seinen Mantel von den Schultern und hängte den Schild an den Sattelknauf. Den Helm schnallte er ebenfalls vom Kinn und band ihn daneben. Sadagar starrte ihn ungläubig an. »Was tust du?« »Vielleicht haben wir Erfolg. Reitet weiter, wie eben besprochen. Ich werde mich für kurze Zeit in einen Caer verwandeln. Ich werde Elivaras seltsames Fieber zu heilen versuchen.« Während er die Rüstung König Carnens ablegte und nur den Waffengürtel behielt, ließ er sich von Elivara den Weg zum Schiffsversteck erklären. Schließlich fragte Nottr kopfschüttelnd: »Du mußt auf eine besondere Art wahnsinnig sein, Mythor. Du wirst diesen Versuch nicht überleben.« »Ich sehe keine andere Möglichkeit«, entgegnete er. »Versucht, ungesehen das Schiff zu erreichen. Es ist nicht so verwegen und aussichtslos, wie ihr alle meint.« Der Mond hob sich hinter den Schiffen aus dem Wasser. In seinem bleichen Licht sah Mythor, wie ihn Elivara und Kalathee mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck betrachteten. Mythor zog aus der Satteltasche ein Tuch und wickelte es um Alton. Dann deutete er nach Norden. »Macht euch auf den Weg. Ich komme, so rasch ich kann, bei Erain!« Sadagar hob den Arm und ritt an. Mythor blickte ihnen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte. Dann huschte er hin und her. Hier fand er einen Helm und setzte ihn auf, dort hob er ein anderes Stück einer CaerRüstung aus dem feuchten Gras und legte es an, und nach kurzer Zeit konnte er sicher sein, einem Caer-Krieger ziemlich
ähnlich zu sehen. Sein Plan war tatsächlich gefährlich und konnte ihn das Leben kosten, aber es schien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, der Königin zu helfen. Ihr Fieber war sicher das erste Zeichen dafür, daß der Bestienhelm des Priesters Aerinnen bereits mit seinem furchtbaren Werk begonnen hatte. * Zunächst schritt er nur zögernd aus, aber er ging auf die Caer zu, die auf Bahren und Schilden Verwundete ins Lager zurückschleppten. Dann, als er schon fast im Sichtbereich der Caer war, begann er zu laufen. Vielleicht hielten sie ihn für einen Boten. Er glitt auf eine Gruppe zu, die einen blutenden Caer schleppte, und packte den Schaft einer Lanze, die durch die Griffe eines Schildes gesteckt war. Der Krieger stöhnte leise vor sich hin. In ganz kurzer Zeit war Mythor von Caer-Soldaten umgeben, immer mehr strömten hinzu und näherten sich dem Lager. Er hielt den Kopf gesenkt und schleppte an dem Schild. Neben ihm knurrte ein Caer: »Kommst du auch vom Tor?« »Woher sonst?« sagte Mythor und versuchte, seine Stimme zu verändern. »Die Nyrngorer haben’s noch immer nicht aufgegeben.« »Morgen gehört uns die Stadt!« »Ganz sicher«, gab er zurück. »Wo reitet O’Marn?« »Weiß nicht. Ich denke, er wird im Lager sein oder auf der anderen Seite der Stadt.« Die ersten Zelte schoben sich näher. Zwischen ihnen brannten mächtige Feuer. An ihnen saßen auf Steinen und einfachen Hockern, auf Sätteln und roh gezimmerten Bänken Caer. Sie waren verletzt, zum Teil trugen sie Binden und Tücher. Sie sprachen laut, einige sangen, andere hielten Becher in den
Händen oder tranken aus Krügen. Die beiden Krieger, die vor Mythor den Verletzten schleppten, brachten ahn im Zickzack zwischen den Zelten hindurch zu einem Platz, der von Planen überdeckt war. Öllampen und heruntergebrannte Haufen Glut und Asche bildeten ein Rechteck. Die Verwundeten, deren Verletzungen hier behandelt wurden, lagen auf Tischen, Bänken und Bahren. Mythor half, den blutenden Mann auf einem blutbesudelten Tisch abzusetzen. Ein Caer stieß ihn an und sagte: »Weg hier. Wir brauchen Platz.« Mythor gehorchte schnell und wortlos. Er ging zwischen den Lampen hindurch und in eine Zeltgasse hinein. Er suchte die Caer-Priester. Hier, in diesem Teil des Lagers, gab es keine besonderen Zeichen, und die auffällige Priesterkleidung hätte er zweifellos bemerkt. Mythor sagte sich, daß er ein Fremder war, daß die Gefahr, ihn als Nyrngorer zu erkennen, mit jedem Atemzug hier inmitten des Lagers größer wurde. Ein Trupp Caer rannte an ihm vorbei. Die Männer schleppten Waffen und Belagerungsgerät mit sich, entzündeten an den Feuern ihre Fackeln und verschwanden in der Dunkelheit. Zwischen zwei anscheinend leeren Zelten blieb Mythor stehen, um sich neu zu orientieren. Das Gläserne Schwert, halb unter seiner Kleidung verborgen, schlug gegen seine Knie. Die Eindrücke waren vielfältig und verwirrend. Hier schrien die Verletzten vor Schmerzen, dort lachten und grölten die Sieger, an der anderen Ecke zogen frische Kräfte in den erbarmungslosen Kampf an der Mauer oder bereits in den Gassen. Ein Reiter galoppierte rücksichtslos durch eine Lagergasse. Aber ebenso wie der Rauch und eine Menge unterschiedlicher Gerüche zog eine Stimmung durch das Lager, hing eine Aura zwischen den Zelten und den Stangen mit den
Fratzen der Feldzeichen, die Mythor körperlich spürte. Es war die Strahlung des Bösen, eine Aura von Schwarzer Magie, von Haß und dem Willen, rücksichtslos Macht zu genießen. Mythor spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten. Wo waren die Caer-Priester? Als er den Rand der Lagerstraße erreichte, befand er sich schon wieder in einem ganz anderen Bezirk. Hier herrschten Ordnung und Disziplin. Neben jedem Zelt befand sich ein Pfosten, in dessen eisernem Ring eine Fackel rußend brannte. Ein Zelt leerte sich, Befehle wurden gebrüllt, und etwa fünfzig Männer stellten sich in Marschordnung auf. Sie packten Werkzeuge, Waffen und Gepäck auf ihre Schultern und marschierten ab. Als der Anführer Mythor sah, hielt er ihn mit einer herrischen Armbewegung auf. »Wohin willst du, Mann?« Mythor reagierte schnell und sagte in ebenso knappem Ton: »Ich suche O’Marn oder die Priester. Eine Botschaft von Ternon am Tor.« »Der Ritter ist nicht im Lager. Die Priester haben sich zurückgezogen. Wie lautet die Botschaft?« »Es sollen nur Krieger eingesetzt werden, die im Kampf zwischen Häusern erfahren sind. Die Tore sind offen«, sagte Mythor und bemühte sich, den Tonfall des Anführers nachzuahmen. Seine Hand tastete nach dem Griff des Schwertes. »Wir sind auf dem Weg.« Mythor rannte weiter, stolperte über eine zerbrochene Zeltstange und war froh, als das Geräusch der Schritte leiser wurde. Er suchte weiter nach irgendeinem Zeichen, das ihm den Aufenthaltsort Feithearns und Aerinnens verriet. Einige Schritte weiter saß ein Wächter vor einem Zelteingang. Mythor fragte ihn, ob er die Priester gesehen habe. »Ich nicht. Aber Thorf und Enfall sind zur Wache eingeteilt.« »Weißt du, wo sie wachen?« »Vielleicht im Hafen, vielleicht dort am Rand«, sagte der
Krieger und deutete in die Richtung des Meeres. Mythor nickte und schlug diesen Weg ein. Er lief durch die Lagergassen, fragte ein dutzendmal und erhielt endlich eine zufriedenstellende Antwort. »Die Priester sind erschöpft. Sie schlafen auf ihrem Schiff. Zwei Wachen sind bei ihnen. Niemand darf sie stören.« Mythor antwortete: »Ich werde warten, bis Thorf und Enfall abgelöst werden.« Mit einer Gruppe von Caer-Kriegern, die gefüllte Köcher und Bündel kurzer Wurfspeere schleppten, verließ er das Lager und schlug wieder den Weg zum Hafen ein. Nach der Hälfte des Weges warf er sich in den Schutz eines dürren Gebüsches. Schwerer Hufschlag näherte sich aus der Dunkelheit. Mythor wartete mit angehaltenem Atem. Suchten ihn Nottr oder Sadagar? Der Mond schuf mit seinem Licht einen breiten Streifen leuchtender Sicheln auf dem Wasser. Die Brände und Fackeln beleuchteten einen kleinen Hügel vor den Mauern. Auf diesen Hügel hinauf sprengte ein einzelner Reiter und hielt dort an. Seine Gestalt war ebenso wuchtig und breit wie sein Pferd. Das kann nur der Gegner sein, der meinem Kampf ausgewichen ist, dachte Mythor. Coerl O’Marn, der Anführer der Caer.
Dieser Koloß dort wirkte düster und drohend. Er saß schwer im Sattel, ließ den Arm mit dem großen runden Schild herunterhängen und stützte sich auf den Griff des Schwertes, das er wohl im Sattelschuh eingesteckt hatte. O’Marn beobachtete konzentriert den Fortgang der Kämpfe, die sich weitestgehend hinter die Mauern und innen vor die Tore verlagert hatten. Er stand nicht weit von Mythor entfernt. Der junge Mann erkannte in dem reglosen Gesicht unter dem Rand des offenen Visiers nur die flinken Augen, in denen sich Licht spiegelte. Das Pferd hob und senkte den Kopf, klirrend bewegten sich die Trense und Teile der Rüstung. Dann klingelten die Sporen, und der
Ritter ließ das Pferd langsam den Hügel wieder hinuntertraben. Mythor schob sich aus dem Gestrüpp hervor. Er drehte sich um und schlich entlang dunklen Mauern zum Hafen. Hier gab es nur tote Caer. Die Schiffe waren in langen Reihen nebeneinander festgemacht. Mythor kletterte eine feuchte Holztreppe hinauf, stützte sich auf die Brüstung und suchte nach irgendeinem Zeichen. Auf einem der Schiffe schliefen die Priester – aber auf welchem? Mythor lief entlang den Pollern und den Taubündeln, die gut aufgeschossen waren. Die geschwungenen Schiffskörper schwankten leicht hin und her. Fender, Tauwerk und Rahen knirschten und knarrten leise. Mythor rannte am Rand des geschwungenen Hafenbeckens entlang und spähte zwischen den Bordwänden hindurch. Als er fast das gegenüberliegende Ende des Hafens erreicht hatte, entdeckte er einen schwachen Lichtschein. Sofort blieb er stehen und spähte hinüber. Ein einzelnes Schiff ankerte jenseits derjenigen, die im Hafen festgemacht waren. Heck und Bug waren von zwei kleinen Lampen notdürftig erhellt. Aber Mondlicht und die Flammen der brennenden Häuser boten genügend Helligkeit, um den archaischen Prunk der Verzierungen erkennen zu lassen. Trotzdem lief Mythor bis zum Ende des Hafens weiter. Aber kein zweites Schiff war beleuchtet. Ein anderes ankerte ebenfalls noch innerhalb der freien Wasserfläche, war aber dunkel, und nichts regte sich darauf. Einige Augenblicke später hörte Mythor durch die verschiedenen Geräusche hindurch so etwas wie regelmäßige Fußtritte. »Dort sind sie also, die Dämonenpriester«, murmelte er zu sich. Das einzelne Schiff war von ihm etwa fünfhundert Schritt entfernt. Er sah sich um, entdeckte Mauern und Rampen der ehemaligen Handelshäuser, sah einen Steg, dessen Oberfläche aus einzelnen Bohlen halb aufgerissen war. Mythor sprang fast
lautlos bis an das Ende des Steges und blieb wieder stehen. Jetzt sah er das Schiff deutlich vor sich. Es war ein Dreimaster mit schlankem, hochgezogenem Bugsteven. Der Schiffskörper war schwarz und stumpf, es befanden sich einzelne Decksaufbauten darauf, und die Öffnungen im Schiffskörper deuteten darauf hin, daß etwa zwanzig Ruder auf jeder Seite benutzt werden konnten. Gegen den helleren Horizont und den sternübersäten Himmel zeichneten sich auf dem Schiffsdeck zwei Gestalten ab. Die Caer hielten die Schwerter in den Händen und gingen langsam und bewußt leise an Steuerbord und Backbord hin und her. Mythor wußte, daß er sich in seiner dunklen Kleidung gegen den Hintergrund nicht abhob. Er fragte sich, wie es ihm am besten möglich sei, das Schiff zu erreichen. Er kauerte sich auf das Ende des Steges und starrte hinüber zum Schiff. Es unterschied sich von den anderen, aber nicht so sehr in der Form, sondern in der prächtigen Ausstattung. Mythor sah die dicken Taue, die schräg im Wasser verschwanden und immer wieder im Rhythmus der langgezogenen Dünungswellen auftauchten und Tropfen versprühten. Schwimmen war der beste Weg. Falls er wirklich ein Boot finden würde, verrieten ihn die Geräusche der Riemen. Was immer er unternahm, es mußte geräuschlos vor sich gehen. Die Wellen, die knarrenden Schiffe und die vielen unterschiedlichen Laute ringsum würden die leisen Schwimmgeräusche übertönen. Er ließ sich ins Wasser gleiten und versuchte, die Kälte zu vergessen. Langsam schwamm er auf das Schiff zu und hielt sich im Schatten des gewölbten Rumpfes. Er hielt nur den Kopf über Wasser, atmete tief und schwamm in langsamen, kraftvollen Zügen. Sein Ziel waren die beiden Ankertaue, die sich vom Heck spannten. Er schaffte es, ohne verräterische Geräusche die Bordwand
zu erreichen und an dieser entlang bis zum Heck zu schwimmen. Er hob einen Arm aus dem Wasser und hielt sich am Tau fest. Schräg über sich hörte er die leisen Schritte eines CaerPostens. Er sah die Ruder, einige herunterhängende Tauschlingen und zwei Riemen, die nicht eingezogen waren. Am Ankertau zog er sich zum Ruder heran, packte ein Tau und stemmte sich vorsichtig in die Höhe. Er wartete, bis das meiste Wasser aus seiner Kleidung und den Fellstiefeln gelaufen war, dann stellte er seinen Fuß auf das Ruder und zog sich an der Heckreling hoch. Als er den Kopf über die Kante hob, konnte er eine Hälfte des Decks und einen Teil der Decksaufbauten übersehen. Die beiden Caer-Posten schritten unverändert hin und her. Mythor spannte seine Muskeln an und schwang sich über die Reling. Er preßte sich in eine Vertiefung zwischen dem Heckaufbau und dem leeren Altar. Über ihm brannte in einer Art Laterne eine mittelgroße Öllampe. Er zog den Dolch und wartete. Entweder Thorf oder Enfall, einer von ihnen kam auf ihn zu. Vom Deck führten einige Stufen zum Heckaufbau hinauf. Mythor glitt aus dem Schatten heraus, als der Posten an ihm vorbeiging, schlich zwei Schritte hinter ihm her und hob den Arm. Mit der linken Hand riß er den Kopf des Postens nach hinten, die rechte schlug hart zu. Der Knauf des Dolches traf den überraschten Caer an der Stirn. Der Körper bäumte sich auf, ein gurgelnder Schrei wurde von Mythors Hand erstickt. In Mythors Arm brach der Caer zusammen. Sein Körper wurde reglos und schwer. Mythor wußte den anderen Wächter in der Nähe des Bugstevens und ließ den Körper zu Boden sinken. In rasender Eile öffnete er die Bänder der CaerRüstung und band die Handgelenke und die Knöchel des Mannes zusammen. Nach einer kurzen Überlegung riß er ei-
nen Fetzen von der Scheide des Gläsernen Schwertes ab und verwendete ihn als Knebel. Der zweite Wächter beendete eine Hälfte seiner Runde und kam an Backbord auf Mythor zu. Wieder sprang Mythor zurück in die Dunkelheit und duckte sich hinter den Altar. Das schwache Leuchten von Altons Schneide verbarg er mit der flachen Hand. Die Erregung verhinderte, daß ihn das Gefühl der eisigen Kälte handlungsunfähig machte. Er wartete, ohne sich zu regen. Das Schiff wiegte sich leicht unter seinen Sohlen. Der Caer duckte sich unter den straff gespannten Wanten, wich dem Ende des schräg hängenden Rahbaums aus und schob sich näher heran. Vor dem aufragenden Heckkastell drehte er sich nach links, sah den zusammengekrümmten Körper neben dem Schild und dem Schwert liegen und stutzte. Dann stieß er einen Laut der Überraschung aus, sprang auf den anderen Caer zu und bückte sich. Er hatte noch nicht gesehen, daß sein Kamerad gefesselt war. Mythor hielt die Klinge in der Linken, als er über den Altar flankte. Seine weichen Stiefelsohlen trafen den Caer im Rücken, schleuderten ihn zur Seite, und dann war Mythor über ihm. Wieder zuckte der Dolch in die Höhe, der Arm senkte sich, und der Knauf schlug den Überraschten bewußtlos. Die fallenden Körper hatten einige polternde Geräusche erzeugt, und Mythor wußte, daß Eile geboten war. Wieder fesselte er die Hände und Fußknöchel des Caer und band die zwei Posten mit ihren eigenen Waffengürteln Rücken an Rücken fest. Ein Sprung brachte ihn zur Laterne am Heck. Er nahm die heiße Öllampe heraus, schirmte die Flamme mit der Hand ab und tastete sich zum Niedergang. Nach einigen Stufen blieb er stehen und befreite das Gläserne Schwert von den Lappen. Innerhalb des Schiffes war es totenstill. Langsam zog er Alton aus der ledernen Schwerthalterung
heraus und nahm die Lampe in die linke Hand. Die Stufen führten in einen kleinen Raum unterhalb des Hecks und dessen Plattform. Mit einem Knarren, das Mythors Sinne schlagartig in Aufregung versetzte, öffnete sich eine schmale Tür. Er ließ sie offen und machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Auf dem Tisch lagen die schauerlich verzierten Helme der Caer-Priester. Er war also auf dem richtigen Weg. »Bei Erain!« flüsterte er und merkte, daß seine Beklemmung zu weichen begann. »Ich schaffe es doch!« Wieder blieb er vor einer Tür stehen und lauschte mit angehaltenem Atem. Seine nasse Kleidung begann zu dampfen. Irgendwo vor ihm waren die Priester. Er hörte schwere Atemzüge und kurze, röchelnde Laute. Die Holzteile des Schiffes, das wieder von der Dünung bewegt wurde, knarrten, und genau in diesem Augenblick riß Mythor die nächste Tür auf. Der unverkennbare Geruch schlafender Männer schlug ihm entgegen, zugleich mit der rauchigen Luft, die von einer Glutschale stammte. Ein schneller Blick zeigte ihm zwei Körper auf breiten Liegen, fellbespannten Boden und dunkle Teppiche mit magischen Mustern an den hölzernen Wänden. Mit den Knien federte er die Aufwärtsbewegung des Schiffes ab und wartete einige Augenblicke, ehe er die Lampe auf einen niedrigen Tisch zwischen den Lagern abstellte. Alton, das Gläserne Schwert, war trotz seines gedämpften Leuchtens der hellste Gegenstand in diesem Raum. Einige Herzschläge lang geschah nichts. Der Körper rechts von Mythor bewegte sich. Es war ein junger Mann mit langem schwarzem Haar. Seine Erscheinung hatte etwas Elegantes und Geschmeidiges. Er richtete sich mit geschlossenen Augen auf, hob die Arme und erstarrte. Eine rauhe Stimme sagte: »Duldamuur ruft Aerinnen! Wach auf, Priester!« Der jüngere Priester war also jener Feithearn, von dem
Fürst-Richter Carbell gesprochen hatte. Mythor wartete, gleich weit entfernt von beiden Schläfern. Langsam hob er den Schwertarm und zielte mit der nadelscharfen Spitze Altons auf Aerinnen. Noch immer hatte Feithearn seine Augen nicht geöffnet. Mythor erkannte, daß es der Dämon war, der jetzt die Herrschaft über den Körper und auch über den Verstand hatte. Duldamuur! Das war wohl der Name des Dämons. Feithearns Körper schaukelte hilflos vorwärts und zurück, und dann schrie seine Kehle wieder: »Aerinnen! Ein Feind steht vor uns! Wach auf! Zusammen sind wir mächtiger!« Mythor war zwar verwirrt, aber er handelte trotzdem richtig. Er holte mit dem Schwert aus und schlug die flache Klinge gegen den Kopf Feithearns. Der Priester sank lautlos um, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und blieb zuckend liegen. Das Schwert beschrieb einen Halbkreis, und jetzt deutete die Spitze wieder auf Aerinnen. Mythor kannte kein Mitleid. Er dachte an den Bestienhelm Elivaras und daran, daß die Dämonen auch ihn bedrohten. Er sah, daß Aerinnen unter der Herrschaft eines Dämons stand. Auch dieser Mann bewegte sich, als hänge er an unsichtbaren Fäden. Aerinnen war untersetzt und von beginnender Fettleibigkeit. Er zählte etwa sechzig Sommer. Sein runder, fast kindlich wirkender Kopf war haarlos. Auch er saß jetzt aufgerichtet zwischen den Decken und den Fellen. Noch waren seine winzigen Augen geschlossen. Die Spitze des Schwertes befand sich nur drei Fingerbreit von dem schwammigen Oberkörper entfernt. Mythor holte tief Luft, er versuchte, seiner Beklemmung Herr zu werden. In diesem Raum herrschte dieselbe dunkle Ausstrahlung wie im Lager, nur viel stärker. »Aerinnen!« sagte er laut. »Ich bin hier, um dich zu töten, wenn du nicht tust, was ich befehle.« Endlich erwachte auch der Körper des Caer-Priesters. Er riß
die Augen auf. Sie waren klein und würden, wenn der Mann ganz wach wurde, listig funkeln und sein Gegenüber lähmen. Mythor ahnte, wie dieser Mann den Fürst-Richter gequält haben mochte, und hob das Schwert. Es ritzte die Kehle des Priesters. »Die Wächter sind ausgeschaltet. Feithearn liegt bewußtlos dort drüben. Noch ist er nicht tot. Vielleicht bist du oder dein Dämon klug genug, um dein Leben zu retten. Bist du wach?« »Ja. Was willst du?« Seine Stimme war ein tiefer, heiserer Baß. Er hatte die Worte Mythors zweifellos gehört, aber nicht völlig verstanden. Er stierte Mythor an, schloß und öffnete seine Augen, dann schüttelte er sich. »Du kommst jetzt mit mir!« In dem Augenblick, als die nadelscharfe Spitze des Gläsernen Schwertes die Kehle des Dämonenpriesters berührte, ging es wie ein Krampf durch dessen Körper. Seine Augen verloren den dunklen Glanz des Bösen. Der Dämon schien sich, das war Mythors unmittelbarer Eindruck, tief in den Körper zurückzuziehen und in eine Art Erstarrung zu fallen. »Wohin? Was soll ich tun?« Der Druck der Schwertspitze verstärkte sich. Mythors Stimme war kalt und drückte seine Entschlossenheit aus. Der Priester begriff, daß der Mann mit dem schwach leuchtenden Schwert ihm keine andere Möglichkeit ließ. Mythor antwortete: »Noch hast du die Wahl. Entweder du stirbst, und mit dir stirbt Feithearn. Oder du entfernst sofort den Bestienhelm von Königin Elivaras Körper.« »Das kann ich nicht!« »Du hast Carbell gezwungen, ihr den Bestienhelm zu bringen. Du hast die Fähigkeit, ihn wieder zu entfernen. Stirbt Elivara, töte ich dich.« »Ich muß«, stöhnte der Dämonenpriester, »den Helm selbst entfernen. Bringe mir Elivara!«
»Ich werde dich zu Elivara bringen«, sagte Mythor. Rätselhafterweise glaubte er dem Caer-Priester. Das änderte seinen Plan, aber auch mit dieser Schwierigkeit konnte er fertig werden. »Steh auf!« sagte er schneidend. Aerinnens Blicke gingen hin und her. Er suchte einen Ausweg, seine Gedanken überschlugen sich. Er sah, daß Feithearn regungslos dalag und daß die Hand Mythors nicht zitterte, obwohl der Krieger triefend naß war. Langsam stand er auf und schlüpfte in seine Stiefel. Als er nach seiner Kleidung greifen wollte, hob Mythor die Hand. »Du brauchst sie nicht. Du wirst so schnell laufen, daß du schwitzen wirst. Weshalb mußt du Elivara sehen?« »Es ist ein Ritual erforderlich. Dazu muß ich in ihrer unmittelbaren Nähe sein«, antwortete Aerinnen. »Carbell ist tot«, sagte Mythor. »Und meine Geduld ist schnell vorbei. Hinauf an Deck, Priester!« Aerinnen gehorchte stumm. Er versuchte, an Mythor vorbeizukommen, aber Mythor drehte sich und hielt das Schwert so, daß es immer an der Kehle des anderen lag. Als Aerinnens Füße die unterste Stufe des Niedergangs berührten, befahl Mythor: »Dreh dich um. Du hast gemerkt, daß dir dein Dämon nicht mehr hilft. Du bist nur noch ein kleiner, dicker Priester.« Aerinnen antwortete nicht. Mythor hatte sich schnell umgesehen und festgestellt, daß von Feithearn keine Gefahr drohte. Mit dem Schwert trieb er Aerinnen die Stufen hoch, auf die Heckplattform hinauf und in die Richtung des Altars. Der Dämonenpriester entdeckte die beiden Wächter, die sich noch nicht gerührt hatten. Für einen langen Augenblick war es über dem Wasser des Hafenbeckens totenstill. Leise warnte Mythor: »Beim ersten Schrei stirbst du!« »Dann hast du niemanden, der Elivara hilft«, gab Aerinnen zurück.
Mythor sagte: »Dieses Risiko gehen wir ein. Aber es ändert nichts an meiner Entschlossenheit. Los, ins Wasser!« Als der Priester an der Reling stand und zögerte, sich in das Wasser des Hafenbeckens zu stürzen, riß Mythor das Schwert zur Seite und stieß Aerinnen mit der Schulter ins Wasser. Er wartete nicht ab, bis Aerinnen eintauchte, sondern sprang ihm sofort nach. Der Priester versank halb, Mythor tauchte wieder in das eisige Wasser und richtete das Schwert auf den kleinen Mann, der wild um sich schlug und gurgelnd nach Luft schnappte. »Zum Ufer. Nach Norden!« sagte er, spuckte einen Strahl salzigen Wassers aus und schwamm dicht hinter dem Priester in die bezeichnete Richtung, auf das Ende des Steges zu, von dem aus er seinen schwierigen Weg angetreten hatte. Der Dämonenpriester schwamm, so gut er konnte, langsam vor Mythor her. Aber Mythor rechnete mit einer neuen List oder einem Fluchtversuch. Er hob den Arm mit dem Schwert aus dem Wasser und richtete Alton auf den Rücken des Priesters. »Es hat keine Eile«, sagte er zwischen den einzelnen Schwimmstößen. »Ich brauche dich lebend, Aerinnen.« Er hoffte, daß das Pergament mit dem Bildnis der unbekannten Schönen keinen Schaden nahm. Er hatte es in der Innentasche des Wamses, in Leder eingeschlagen. Langsam und dadurch fast geräuschlos schwammen sie auf einen Punkt zu, der weiter nördlich vom Ende des zerfallenen Stegs lag. Im Mondlicht funkelte immer wieder die glasartige Haut des runden Gesichts von Aerinnen auf, und die Wassertropfen darauf erzeugten seltsame Reflexe. Noch etwa dreihundert Schritt waren sie von den Felsen, dem Hang und dem schützenden Gestrüpp entfernt, als sich weit hinter ihnen eine gellende Stimme erhob. »Feinde bei den Schiffen! Zu den Waffen!« schrie jemand laut.
Feitheam! fuhr es Mythor durch den Sinn. Der zweite Dämonenpriester war schneller aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwacht, als er es sich wünschen konnte. Er knurrte wütend: »Laß dich nicht von falscher Hoffnung leiten, Priester. Noch haben uns deine Caer nicht eingefangen.« »Du mußt… wahnsinnig sein«, gab der Priester stoßweise zurück und schwamm, als er die Spitze des Schwertes zwischen den Schulterblättern spürte, etwas schneller. »Du forderst… uns und den Großen Drudin heraus. Das überlebst… du nicht.« »Wart’s ab!« knurrte Mythor. Hinter ihnen hallte Feithearns Stimme über das Wasser und schreckte die Krieger im Lager auf. Der Dämon in Feithearn schien die Gewalt über die Stimmbänder übernommen zu haben. Es war unmöglich, daß ein erwachsener Mann derart laut und durchdringend schreien konnte. Es klang wie eine Kriegsfanfare. »Helft mir! Die Nyrngorer haben Aerinnen entführt. Sucht die Schiffe und das Ufer ab! Zu den Waffen! Bringt viele Fackeln mit.« Mythor fühlte keine Angst. Noch nicht. Bis die Caer auch im Wasser und an diesem Teil des Ufers nach ihnen suchen würden, waren sie in sicherer Entfernung. Er wandte den Kopf und blickte quer über die Bucht hinüber zum Lager. Dort herrschte, während Feithearn noch immer schrie, bereits große Aufregung. Gestalten, die Fackeln hoch über den Köpfen trugen, rannten zwischen den Zelten heran. Waffen klirrten, und Kommandos wurden gebrüllt. Vom anderen Ende der Zeltstadt her erklang das Geräusch von Pferdehufen. Jemand blies mit einem schaurig klingenden Horn irgendwelche Signale. Alle Geräusche hallten durchdringend und klar über das stille Wasser der Bucht und brachen sich an den steinernen Wänden der verlassenen und geplünderten Hafengebäude.
Die Geräusche der beiden schwimmenden Männer aber wurden von dem Knarren und Ächzen der vielen Schiffe verschluckt. »Ich kann nicht mehr. Das Wasser… ist zu kalt!« stöhnte Aerinnen nach einer Weile. Das Ufer, dessen Linie sich undeutlich gegen den Sternenhimmel abzeichnete, war ein gutes Stück näher gekommen. »Bitte deinen Dämon, daß er deine Kräfte verdoppelt!« spottete Mythor und schlug mit dem Gläsernen Schwert nach Aerinnen. Entweder half der Dämon tatsächlich, oder Aerinnen verfügte noch über eigene Kraft. Jedenfalls schwamm er schweigend und angestrengt weiter. Wieder drehte sich Mythor um. Auch auf dem abseits ankernden Schiff der Dämonenpriester erschienen jetzt Lichter und Fackeln. Feithearn hatte offensichtlich die Wächter befreit und es geschafft, daß sie wieder aus der Besinnungslosigkeit erwachten. Aus dem Lager rannten Caer und suchten die Ufer ab. Es war deutlich zu erkennen, daß sie binnen kurzer Zeit auch den Hafen und die vertäuten Schiffe erreichen würden. Und es war zweifelhaft, ob es Nottr schaffte, Mythor [mit einem Ersatzpferd entgegenzukommen. Weiter. Mythor wagte nicht, das unersetzliche Schwert, dessen Schneide im Wasser glühte, in den Gürtel zurückzuschieben. Er schwamm und wechselte das Schwert von der rechten in die linke Faust. Seine Muskeln begannen im eisigen Wasser starr zu werden. Jetzt schoben am anderen Ende der mondsichelförmigen Bucht einige Caer Boote ins Wasser und ruderten auf das Schiff Feithearns zu. Fackellicht geisterte in langen Bahnen über die kleinen Wellen. »Ich kann… nicht mehr. Alles ist erstarrt. Ich bekomme keine Luft mehr!« stieß der Priester vor ihm aus. »Wir sind gleich am Ufer. Wenn du nicht mehr kannst, schlage ich dich bewußtlos und zerre dich hinter mir her«, gab
Mythor ebenso stoßweise zurück. Lange hielt auch er es nicht mehr aus. Ihm schien bisweilen, als ob vom Schwert Alton Wellen von Wärme und neuer Kraft ausgingen, aber sicher waren es nur seine überreizten Nerven, die ihm dies vorgaukelten. Die Gruppe kantiger Felsen, die den Übergang des Hafengeländes zum Ödland des nördlichen Strandes bildeten, war nahe. Die plätschernden Wellen brachen sich an den Steinen und warfen Abfall an den Geröllstrand. Etwa ein Dutzend Boote wurden kreuz und quer über das Wasser gerudert. Überall waren Fackeln. Vom Heck des schwarzen Dreimasters schrie der junge Dämonenpriester: »Sucht sie! Aerinnen ist in ihrer Gewalt! Drudin wird furchtbare Rache nehmen, wenn ihr ihn nicht findet!« Überall auf dem Streifen zwischen Hafen, Lager und Wasser kamen die fackelschwingenden Gestalten näher. Und aus dem Lager rannten immer mehr Caer heraus, bewaffnet und voller Jagdeifer. Die Drohung, die Feithearn ausgestoßen hatte, schien sie in panische Furcht versetzt zu haben. Das erste Boot erreichte den Dreimaster und hielt hinter dem Heck an. Hastige Worte wurden gewechselt. Andere Boote suchten zwischen den Reihen der schlanken Schiffe im Hafen. Mehr und mehr Fackeln tauchten zwischen den Fronten der Gebäude auf. Noch zehn Schwimmstöße. Dann schlugen Mythors Knie gegen Kiesel und Steine. Er sprang auf und verwünschte das Wasser, das plätschernd aus seiner Kleidung lief und tropfte. Mit einem schnellen Griff packte er Aerinnen im Nacken und zerrte ihn an den Strand. Mythor deutete den Hang hinauf und sagte: »Ein schneller Lauf wird dir mehr Wärme zurückgeben, als dir lieb ist. Vorwärts! Und keine Geräusche, keinen Schrei. Es wäre dein sicherer Tod.« Er trieb Aerinnen vor sich her. Sie rannten die letzten Schritte durch das seichte Wasser, sprangen über Schwemmgut, das
auf dem Strand lag, dann erreichten sie den Hang hinter der Felsengruppe. Jede Bewegung, die Mythor machte, lockerte die verkrampften Muskeln. Er holte tief Luft und packte Aerinnen mit eisenhartem Griff am Oberarm. Der Priester ließ sich mitziehen, und seine Todesangst schien groß genug zu sein, daß er weder schrie noch Widerstand leistete. Sie rannten und stolperten, immer wieder mit ihrem nassen Zeug ausrutschend, den Hang hinauf. Das erste, am weitesten nach vorn geruderte Boot befand sich jetzt genau dort, wo sie hinter dem zweiten Dreimaster vorbeigeschwommen waren. Aerinnen keuchte auf und rief: »Du bist ein Narr. Kei ner von uns wird das Ziel erreichen.« »Das kannst du mir überlassen«, antwortete Mythor und riß den Dämonenpriester mit sich. Er zog ihn über die Kante des Abhangs. Rechts von ihnen war in der Dunkelheit ein Stück der Mauer Nyrngors zu erkennen. Hier verlief die Mauer von Westen nach Osten, und man sah weder Verteidiger noch Angreifer. Aber hinter der Mauerkrone brannten Häuser, und dumpf erscholl der Lärm vieler kleiner Kämpfe. Sie hasteten weiter. Am höchsten Punkt des Ufers blieb Mythor stehen, zielte mit dem Schwert nach der Brust seines Gegners und überblickte das gesamte Panorama. Das Oval des ausgestorbenen Hafens hatte sich gefüllt. Überall ruderten Caer die kleinen Boote hin und her und leuchteten mit den Fackeln die Wasseroberfläche aus. Eine Gruppe Krieger enterte gerade den schwarzen Dreimaster mit seinen düsteren Verzierungen. Wachen rannten aufgeregt an Deck entlang. Das Geschrei Feithearns hatte aufgehört. Aber die Caer, die den Strand absuchten, hatten inzwischen den gesamten Hafen besetzt, suchten in den Gebäuden und drangen entlang den Kaianlagen auf die Felsengruppe vor. Mythor erkannte, daß noch keine unmittelbare Gefahr drohte.
»Weiter!« Er ließ das Schwert durch die Luft pfeifen. Wieder stieß Alton jenes stöhnende Wimmern aus. Der Laut schien den Priester in Furcht zu versetzen, er stand zitternd da und starrte Mythor an. Die glasähnliche Haut seines Gesichts zerbrach in tausend Falten, als er aufstöhnte und wie von Furien gehetzt davonrannte. Mythor lief mit großen Schritten hinter ihm her, nach Norden, immer in geringer Entfernung von der Trennlinie zwischen Wasser und Land. »Schneller!« Der Dämonenpriester gehorchte noch immer den Befehlen Mythors. Vermutlich erkannte der Dämon die drohende Gefahr, die von Alton ausging. Der kleine, dicke Mann rannte vor Mythor her, und je länger er lief, desto kräftiger schien er zu werden. Mythors Kleidung dampfte, sein Atem bildete Dampfwolken in der kalten Nachtluft, aber er spürte die eisige Kälte nicht mehr. Er erkannte den Weg vor sich nur undeutlich, doch das spärliche Licht der Sterne und des Mondes reichte aus, um einigermaßen gut voranzukommen. Die Mauern Nyrngors und die Flammen der Brände blieben zurück. Kein Caer schien genau zu wissen, wo er zu suchen hatte. Aber der Vorsprung Mythors war gering. Eine einzige berittene Patrouille konnte sie entdecken und Mythors kühnes Unternehmen zu einem Debakel werden lassen. Mythor hob wieder das Schwert und unterdrückte jedes Mitgefühl mit dem erschöpften Priester. Er schlug ihm die Breitseite der Waffe über die Schulter und rief: »Beeil dich! Wir wollen die Königin nicht unnötig warten lassen.« Der Priester knurrte in ohnmächtiger Wut: »Vielleicht kann ich mich nicht mehr rächen. Aber Drudin wird dir ein Ende bereiten, das… das du dir nicht wünschst.« »Darauf will ich es ankommen lassen«, versetzte Mythor un-
beeindruckt. Es war wohl bereits Mitternacht oder später. Der Schweiß Mythors mischte sich mit der Nässe seiner Kleidung. Sie trocknete nur sehr langsam, aber das schnelle Laufen verhinderte, daß sie sich eiskalt an die Haut legte. Die zwei Männer liefen zwischen den Furchen von Äckern, entlang staubigen Weiden und über kaum noch zu erkennende Pfade in nördliche Richtung. Das Lärmen hinter ihnen wurde leiser, die Fackellichter verschwanden, nachdem Aerinnen und Mythor einen Hügel zwischen sich und die Caer gebracht hatten. Nur noch der Widerschein der Flammen verdeckte an einer Stelle das kalte Licht der Sterne. Während Mythor seinen Gefangenen mitleidlos vor sich her trieb, dachte er an die Freunde und den Bestienhelm, der um Elivaras Kopf lag, an den Schlangenkörper, der sich um ihre Schultern und Arme wand. Er wußte, daß die junge Königin unter unvorstellbaren Qualen wahnsinnig werden würde, falls er den Schlupfwinkel und die Kurnis nicht rechtzeitig erreichen konnte. * Die Kurnis war kein großes Schiff, aber schon die Form des schlanken Rumpfes und der kühn aufwärts geschwungene Kiel, der in einen Tierschädel mit weit aufgerissenem Rachen auslief, verrieten Seetüchtigkeit und Schnelligkeit. Von dem einzigen Mast hing der Balken der Rah mit dem aufgeknoteten Segel schräg herunter. Nottr und Sadagar kletterten an Bord. Das Heck war weit auf den Strand heraufgezogen worden. Rund um das winzige Stück Land erhoben sich schwarze, gerundete Felsen. Die Kurnis war gut versteckt. Kalathee hielt die Zügel der Pferde. Die junge Königin saß
starr und schweigend im Sattel. Mit schnellen Sprüngen, die Waffen in den Händen, kontrollierten die beiden Männer das Schiff. Sie hatten zwar nicht erwartet, daß die Caer es entdeckt haben könnten, aber sie gingen kein Risiko ein. Nottr tauchte auf dem Dach des Heckaufbaus aus einer Luke auf und rief: »Schiff leer. Gibt keine Gefahr, niemand ist da!« Er lief zur Backbordreling und sprang hinunter. Als er vor Elivaras Pferd stand, sagte er: »Wir müssen das Schiff ins Wasser schieben. Dann reite ich Mythor entgegen.« »Einverstanden«, antwortete Elivara zögernd. »Hilf mir aus dem Sattel, Nottr!« In der winzigen Bucht zwischen den Felsen und den kahlen Bäumen war es fast windstill. Zuerst wurden die Pferde an einem Baum angepflockt, dann hängten Nottr und Sadagar wortlos ein Ruder aus, schoben es unter das Heck des kleinen Einmasters und wuchteten den Bootskörper handbreitweise ins Wasser. Je größer das Stück des Bugs und der Schiffsmitte wurde, das im Wasser schwamm, desto leichter ging die Arbeit vor sich. »Kalathee!« ächzte Nottr. »Bring die Ausrüstung hierher! Zum Heck. Ja?« Die überschlanke junge Frau schlug den Mantel zurück and schnallte die Waffen und die Packen von den Sätteln, sie lief zwischen den Pferden und den Männern hin und her. Elivara stand schweigend unter dem Heck und zitterte. Sie zwangen sich alle, nicht an Mythor zu denken beziehungsweise nicht daran, daß er scheitern könnte. Die Kurnis schwankte bereits auf den Wellen, ihr Mast pendelte hin und her. Nottr warf zwei dicke Taue an Land, und Sadagar befestigte sie mit ungeschickten Knoten am untersten Teil des nächsten Baumstamms. Schließlich plätscherte auch Wasser unter dem Heck des Bootes. Ein paar kräftige Stöße, und die Kurnis schwamm frei.
Nottr lief auf Elivara zu. »Königin!« sagte er atemlos. »Ich hebe dich hinauf. Es vird alles gut werden. Komm!« Sadagar fand eine Strickleiter und warf sie über die Reling. Sie halfen Elivara an Deck, brachten sie in den großen Raum im Heck und entzündeten dort Öllampen. Nottr und Kalathee schleppten die Ausrüstung aufs Schiff. Als Elivara ihren Mantel und die Tücher ablegte, erschraken sie alle. Die junge Frau zitterte im Fieber. Ihr Gesicht glühte förmlich, ihre Finger flogen. Von der Stirn aus überzog ein milchiger Schorf wie kristallisierendes Glas die Haut ihres Gesichts. Sadagar nahm Kalathees Hand und zog die junge Frau hinüber zu Elivara. Leise sagte er: »Hilf ihr! Hole nasse Tücher und kühle ihr Gesicht. Königin! Wie fühlst du dich? Was können wir tun?« Sie verkrampfte die Finger ineinander und flüsterte: »Holt Mythor! Nur er kann helfen. Bringt mich dort auf die Liege!« »Wir tun alles«, versprach Steinmann Sadagar. »Zuerst du, Nottr. Komm mit mir!« Sie verließen die feuchte Kabine, die sich langsam erwärmte. Sadagar und Nottr verständigten sich schnell. Der Lorvaner löste die Zügel von drei Pferden, ließ aber die Ausrüstung von König Carnen am Sattel des vierten Tieres. »Wenn ihr den Priester mitbringt, ist er zu Pferde schneller da«, sagte Sadagar. »Paß gut auf dich auf und reite nicht in eine Caer-Falle, Freund!« »Werd’s schon richtig machen«, brummte Nottr. »Sieh zu, daß die Königin es gut hat!« »Ich verspreche es.« Nottr ließ die flache Hand auf die Kruppe des Pferdes herunterklatschen, riß an den beiden Zügeln und sprengte davon. Er konnte ziemlich sicher sein, daß Mythor und der Dämonenpriester, falls Mythors Plan geglückt war, etwa denselben
Weg nehmen würden. Nottr ritt in den eigenen, schwach sichtbaren Spuren zurück nach Süden. Er stand immer wieder in den Steigbügeln auf und starrte wachsam nach vorn. Irgendwo dort würde eine oder würden zwei Gestalten auftauchen müssen. Er hoffte es wenigstens, denn der letzte Blick in Elivaras Gesicht hatte ihm neuen Schrecken eingejagt. Während Kalathee versuchte, Elivaras Zustand erträglicher zu machen, durchstreifte Steinmann Sadagar das Schiff. Er hielt eine winzige Öllampe in der Hand. »Ist wirklich ein königliches Schiff«, murmelte er. »Aber es ist lange nicht gesegelt worden.« Sadagar entdeckte Tauwerk, ein zweites Segel, allerlei Holzteile und Krüge in vielen Größen, die mit breiten Bändern befestigt waren. An vielen Stellen war entweder der Kopf oder der ganze Körper eines springenden Einhorns, meist in rundem Wappenfeld, angebracht. Nahrungsmittel sah er keine, aber Ersatzriemen, Waffen und Ballast. Das Schiff war trocken, die Fugen der Längsbeplankung waren auf das sorgfältigste gearbeitet. Ein merkwürdig hochgebautes Bugkastell erhob sich vor dem Bugspriet. Sadagar löste die laufenden Taue und duckte sich unter dem heruntersackenden schweren Segel durch, dessen Stoff sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte. Die Kurnis schaukelte wieder, als das eine Ende der Rah hochschnellte und die nassen Taue auf Deck fielen. »Jetzt brauchen wir nur noch Mythor und ein Wunder«, sagte Sadagar, tastete sich entlang der Reling und bückte sich unter dem Schott, das in den Heckraum führte. Elivara lag halb zusammengekrümmt in den Schlingen des Bestienhelms auf dem Lager. Kalathee versuchte, mit nassen Tüchern die Kruste auf der Stirn zu beseitigen, aber sie wuchs weiter, von den Zähnen des regungslosen Schlangenschädels ausgehend, über die Stirn, von den Ohren her und vom Hals
aufwärts. Das Gesicht Elivaras war kreideweiß und völlig blutleer. Die Augen, weit aufgerissen, zeigten den Schmerz und die Verzweiflung deutlicher als das Stöhnen, das ab und zu aus der Kehle der jungen Frau drang. Elivaras Körper verströmte die Hitze eines schlimmen Fiebers. »Sie ist in einem üblen Zustand, Sadagar«, klagte Kalathee. »Sie versteht nicht mehr, was ich sage.« »Holt… Mythor!« stöhnte Elivara. »Nottr ist unterwegs«, beteuerte Sadagar. »Bald werden sie zurückkommen. Es muß in kurzer Zeit hell werden.« »Bringt… Mythor zu mir«, flüsterte Elivara. Sie hatte die Antwort nicht mehr verstanden. Sadagar war ratlos, und ebenso ratlos war Kalathee. »Was sollen wir tun?« fragte sie flüsternd. »Warten«, entgegnete Sadagar und ließ sich auf einen Hocker fallen. Dann sprang er wieder auf, riß einen Schild und ein Enterbeil aus den Halterungen und stürmte hinauf an Deck. Er kletterte auf das Dach des Heckaufbaus und lehnte sich gegen die Reling über dem Ruder. Aus den verhängten Luken des unter seinen Sohlen liegenden Raumes drang kein Lichtschimmer nach außen. Jetzt, zwischen Nacht und Morgen, frischte der Wind aus dem Westen etwas auf. Die Wellen außerhalb der Bucht bekamen winzige Schaumkronen, die im Mondlicht schimmerten. Sadagar wickelte sich enger in den dicken Mantel und wartete. Seine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen, die zwischen den Felsen und über dem Land lag. Er horchte angestrengt. Aber er hörte weder Schritte noch Hufschlag. Etwa eine Stunde verging. Dann wieherte eines der angepflockten Pferde grell und langgezogen. Jenseits des Hügels antwortete ein anderes Pferd, schwächer und undeutlicher. Sadagar bewegte sich schnell, huschte vom Schiff herunter und sprang von der Reling in den schwarzen Sand. Dann turn-
te er auf den ersten Felsen hinauf, preßte sich in eine tiefe Falte und spähte in die Richtung, aus der er die Laute gehört hatte. Noch hatte sich der Himmel nicht gefärbt, noch war der flackernde Glanz der Sterne nicht vergangen. Sadagars Unruhe wuchs, bis schließlich tatsächlich das Geräusch hart galoppierender Pferde zu hören war. Das dumpfe, hastige Trommeln kam näher und wurde lauter. Dann hoben sich für einen Moment drei Reiter gegen die Kuppe des Hügels ab und stoben, wieder unsichtbar geworden, genau auf das Versteck des Einhornschiffs zu. Das müssen sie sein, sagte sich Steinmann Sadagar. Aber in dieser Nacht traute er niemandem, nicht einmal seinen eigenen Beobachtungen. Er hob das Enterbeil und wartete, bis die drei Reiter sich fast unterhalb des Felsens befanden. * Immer dann, wenn er aufgeregt war, fiel Nottr in sein einfaches, schwer verständliches Idiom zurück. Obwohl er seit dem Zusammentreffen mit Mythor unablässig gelernt hatte, stolperte ab und zu seine Zunge. Er zügelte sein Pferd und stotterte: »Elivara fast tott. Gräßlich. Wir fürchten uns vor Anblick.« Nottr sprang aus dem Sattel, und Mythor zwang den Dämonenpriester abzusteigen. Er selbst ließ Aerinnen nicht aus den Augen. Mit steifen Bewegungen, als sei er eingefroren, kletterte Aerinnen von dem bockenden Pferd herunter. Über den Männern ertönte eine halblaute Stimme: »Dieses Stottern! Es kann nur Nottr sein. Hast du Mythor und den Priester bei dir?« »Komm herunter, Sadagar«, sagte Mythor erleichtert, »und hilf uns!« Sadagar rutschte den Felsen herunter und sprang zwischen die Männer. Die Pferde scheuten und wurden an den Zügeln
zurückgerissen. Sadagar versuchte, den Dämonenpriester genauer zu erkennen, aber es war zu dunkel. Schnell berichtete er, was sich in der Zwischenzeit geändert hatte. Schweigend hörte Mythor zu, dann deutete er mit dem Schwert auf das Heck des träge schaukelnden Schiffes und befahl: »An Bord, Aerinnen!« »Wir haben eine Strickleiter ausgebracht.« Sadagar und Nottr schlangen die Zügel der schweißnassen Pferde an den untersten Ast des Baumes. Nottr nahm Mythors Waffen vom Sattel herunter und erklärte: »Ich habe sie hinter dem Hügel getroffen. Von der Stelle aus sahen wir Nyrngor brennen. Es scheinen Flüchtlinge unterwegs zu sein. Bald ist die Nacht vorbei.« Sadagar deutete zum Schiff. »Elivara sieht fürchterlich aus. Sie versteht nichts mehr, wenn man zu ihr spricht.« »Diese verfluchte Magie!« knurrte Nottr. »Ich traue diesem Dämonenpriester nicht. Er hat sicher einen schmutzigen Plan.« »Hoffentlich kann Mythor ihn zwingen, Elivara zu helfen.« Sie kletterten an Bord der Kurnis. Die Rüstung König Carnens wurde von den Männern in eine kleine Kammer neben dem Heckaufbau gebracht. Dann öffneten sie die Tür zu dem größeren Raum. Mythor versperrte mit seinen Schultern den Eingang und trat zur Seite. Vor ihm stand Aerinnen und ließ seinen Blick angsterfüllt zwischen Elivara und Mythor hin und her gehen. Nottr und Sadagar stellten sich an der Wand rechts und links von Mythor auf. »Du hast diese Frau auf dem Gewissen!« sagte Mythor und näherte sich mit erhobenem Schwert dem Dämonenpriester. »Und du wirst den Bestienhelm wieder entfernen. Wie das geschieht, ist deine Sache. Aber tu es schnell, wenn du am Leben bleiben willst, Aerinnen!« Kalathee ließ das feuchte Tuch fallen, sprang auf und flüchtete sich zu Nottr. Voller Verwunderung, aber ebenso über-
rascht wie begehrend legte der Lorvaner ihr den Arm um die Schultern. »Beginne dein Ritual, Priester!« schrie Mythor. Ein langer Blick in das Gesicht Elivaras zeigte ihm, wie schlimm es um die Königin stand. Aerinnen trat einen Schritt vor. Auch er sah die milchigkristallene Kruste, die bis auf die Augen, die Nasenlöcher und den Mund fast alle Hautteile des kreidebleichen Gesichts der Königin überzogen hatte. Das schuppige Untier rührte sich nicht. Elivara zitterte in einem wilden Fieber. Sie nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr. Mythors Grimm steigerte sich fast zu besinnungslosem Haß. Sein Schwert hob sich zum tödlichen Stich, aber im hetzten Moment riß er sich zurück. »Ich rate dir, schnell Erfolg zu haben, Aerinnen«, sagte er leise, aber in einem Tonfall, der jeden in diesem Raum erschreckte. »Befreie sie von dieser Kreatur!« Die Freunde sahen schweigend und erstarrt zu, wie Gerinnen mit einem unbekannten Ritual begann. Der kleine, dicke Mann strich mit beiden Händen über seine Ohren. Seine Haut glänzte gläsern im Schein der flackernden Öllampen. Er ging nahe an die Liege heran, dann hob er beide Arme bis an die niedrige Decke. Er schloß die Augen und fing mit einem dumpfen, an- und abschwellenden Gesang an. Die Schlange rührte sich nicht. Mit beiden Armen führte Aerinnen kreisende Bewegungen aus. Seine Finger beschrieben seltsame Figuren; jede davon schien eine besondere Bedeutung zu haben. Er brach plötzlich in die Knie und krachte schwer unmittelbar vor Elivara auf die Bretter. Sein Gesang ging unverändert weiter, aber nicht ein einziges Wort davon war zu verstehen. Elivaras Zittern wurde stärker. Die Schwanzspitze der Reptilienbestie begann nervös zu zucken. Ohne mit dem komplizierten Spiel der Finger aufzuhören, ohne die kreisenden Bewegungen der Arme und des Kopfes
zu unterbrechen, ohne den Gesang zu verändern, pendelte jetzt Aerinnens Oberkörper vorwärts und zurück. Sein Körper spannte sich auf unnatürliche Weise, sein Hinterkopf berührte die Fersen. Zum Schrecken über Elivaras Zustand kam jetzt noch die Verwunderung über dieses absolut fremdartige Verhalten. Es war, als sei Aerinnen völlig in der Gewalt seines Dämons. Mitten in der Luft, direkt vor Aerinnens Brust, bildete sich eine dünne graue Rauchfahne. Sie stieg in Spiralen auf, bildete ebenso seltsame Figuren und Schleier, wie sie seine Finger beschrieben, und ließ das Bild der Schlange und Elivaras undeutlicher werden. Mythor fühlte, wie ihn die gleichmäßigen Bewegungen und der durchdringende Gesang des Dämonenpriesters einzuschläfern begannen. Sofort witterte er eine Falle, straffte sich und hob wieder das Schwert, dessen nadelfeine Spitze sich in die Bodenbretter gebohrt hatte. Schlagartig war er wach, und er bereitete sich auf einen tückischen Angriff des kauernden Mannes vor. Der Körper der Schlangenbestie bewegte sich langsam und träge, als erwache die Kreatur aus einer Kältestarre. Eine Windung löste sich vom Oberkörper Elivaras, dann drehte sich die zweite Umklammerung auf. Atemlos und hingerissen zwischen Staunen und Wut, verfolgten die Freunde diesen erstaunlichen Ablauf. Der Körper der Bestie fing an, sich von der Schwanzspitze aus zu verfärben. Aerinnen bewegte sich auf den Knien, ohne das Schwanken des Körpers zu unterbrechen, nach links, in die Richtung auf Elivaras Kopf. Die Verfärbung der Bestie schritt fort. Fast ihr gesamter Körper war jetzt stumpf und ohne Glanz. Die Schuppen ähnelten den kristallartigen Schichten über Elivaras Gesicht. Die Arme des Dämonenpriesters fielen herab und schwebten über dem Drachenkopf des Bestienhelms.
Die nächste Schlinge des muskulösen Körpers zog sich von Elivaras Schultern. Die Bestie ringelte sich, ohne den Griff um den Kopf zu lockern, auf der Liege zusammen. Die Finger Aerinnens berührten den Schädel. Die Augen öffneten und schlossen sich. Sie schienen gelbe Blitze auszusenden. Der dumpfe Gesang dauerte; an, der Rauch verdichtete sich zu rätselhaften Figuren. Lautlos öffneten sich die Kiefer, der Bestienschädel wich in einer langsamen Bewegung vom Kopf der Königin und drehte sich wie suchend hin und her. Aerinnen sang und summte weiter. Seine Finger, seine Arme und der Körper waren zur Ruhe gekommen. Die Bestie öffnete lauernd den Rachen; die Zähne und die lange Zunge kamen zum Vorschein. Die Kreatur war regungslos, und dann, von einem Augenblick zum anderen,: machte sie einen Satz von der Liege bis zu Mythor, stieß während des Vorschnellem ein zischendes Fauchen aus und griff Mythor an. Mit dieser Attacke hatte Mythor nicht gerechnet, aber seine Wachsamkeit ließ ihn richtig handeln. Er hatte das Schwert in der richtigen Position, winkelte es an und stach zu. Alton fuhr wie ein Speer in den Rachen des Untiers. Dann sprang Mythor zur Seite, riß das Schwert zurück und schlug zu. Er durchtrennte mit einem einzigen wilden lieb den Körper der Bestie zwischen Nacken und Schädel. Die Kreatur fiel zu Boden und starb fauchend und zuckend. Gleichzeitig sprangen Mythor und Nottr vor. Nottr rammte sein Krummschwert in den Schädel. Mythor spießte den Körper auf, der sich sterbend um die Schwertklinge ringelte. Sie rissen das Schott auf, sprangen aufs Deck hinauf und warfen die tropfenden Reste ins Wasser. »Das war’s«, murmelte Mythor und hoffte, daß die Beschwörung Elivara auch von ihrer Maske und dem Fieber befreien würde. Sie eilten zurück in den Heckraum und sahen, daß Sa-
dagar und Aerinnen einander schweigend anstarrten. Sadagar hielt eines seiner Wurfmesser in den Fingern der rechten Hand, und in der linken Hand hielt er einen Fächer aus fünf weiteren. Der Dämonenpriester wagte nicht, sich zu rühren. Mythor hielt sich am Türrahmen fest, starrte Aerinnen an, dann Elivara, schließlich sagte er: »Ich habe damit gerechnet, Priester.« Aerinnens stechende Augen suchten schon wieder nach einer Fluchtchance. Von Elivaras Gesicht war die Maske abgefallen, aber die junge Königin lag unverändert starr da und hielt die Augen geschlossen. »Was hättest du an meiner Stelle getan?« fragte Aerinnen nicht ohne Logik zurück. »Etwas anderes, auf alle Fälle«, murmelte Mythor. »Ist jetzt die Gefahr von Elivara genommen?« »Was ich tun kann, habe ich getan«, versicherte der Dämonenpriester. Kalathee setzte sich wieder neben Elivara und hob das nasse Tuch auf. Einige Augenblicke lang wußte niemand, was zu tun sei. Mythor schwang das Schwert und setzte es Aerinnen an die Brust. »Bevor wir in See stechen«, sagte er und lächelte kalt, »sind noch einige Dinge zu klären, Priester. Kalathee und Sadagar, ihr kümmert euch um die Königin!« Im gleichen Augenblick machte die Königin einen langen, wimmernden Atemzug. Ihre Finger hörten zu zittern auf. Nottr stand regungslos vor dem Schott. Er rechnete fest damit, daß Aerinnen einen neuen Versuch machen würde, ihnen zu entkommen. Er hatte nichts mehr zu verlieren. »Warum habt ihr Nyrngor angegriffen? Was sind eure Pläne? Und ich denke, du kannst uns einiges über die Mächte der Schattenzone erzählen, denen du so hingebungsvoll dienst.« Eben noch hatte der Priester mächtig und rätselhaft gewirkt.
Jetzt, als er erschöpft neben dem Sessel stand, sah er nicht anders als ein nasser, dicker Mann aus. Über die gläserne Haut seines Gesichts rannen die Schweißtropfen. »Caer ist…«, begann er, und als er Luft schöpfte, um weiterzusprechen, das Schwert als ständige Drohung an seiner Kehle, zuckten seine Arme in die Höhe. Er gurgelte und riß den Kopf zurück. »Caer will, daß… Drudin die Krieger…« Ein Krampf schüttelte seinen Körper. Mythor erkannte, daß der Dämon aus seiner Erstarrung erwacht war und jetzt zu handeln begann. Dann riß es Aerinnen die Beine unter dem Körper weg. Er schlug schwer zu Boden. Mythor sprang zurück, als er sah, daß Aerinnen an allen Gliedern zuckte, als bohrten sich Dolche in seine Nerven. Er stieß gräßliche Laute aus, die nichts Menschliches hatten. Sein Mund öffnete sich weit; weißer Schaum trat auf seine Lippen. Er schrie, stöhnte und keuchte. Seine Kehle zog sich zusammen, als ob ihn unsichtbare Finger würgten. Sein Körper wurde hochgewirbelt, streckte sich und zog sich zusammen, und seine Schreie schmerzten in den Ohren der Freunde. Kalathee schrie vor Schrecken, und Elivara richtete sich auf. Niemand bemerkte es. Jeder starrte nur den verdrehten, tobenden und gequälten Dämonenpriester an. Mythor riß sein Schwert zurück und wich aus, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. »Er kann nicht antworten«, flüsterte er mit bleichem Gesicht. »Er darf nicht antworten. Sein Dämon…« Aerinnen starb einen schrecklichen Tod. Aus seinen Ohren liefen dünne Blutfäden. Schaum quoll aus seinem Mund, seine Schreie wurden schwächer. Sein Körper war in ununterbrochener Bewegung. Unheimliche Kräfte tobten in ihm. Er krallte seine Finger in die Ritzen der Bodenbretter, riß lange Späne heraus und brach sich die Finger dabei. Dann, völlig übergangslos, lag Aerinnen ruhig. Er keuchte noch einmal auf, jede
Bewegung erschlaffte. »Bei Erain!« murmelte Mythor fassungslos. »Er stirbt.« »Mir scheint, er hat’s schon hinter sich«, meinte Nottr. In den wenigen Augenblicken, seit Aerinnen still dalag, überzog ein Ausdruck sein geschundenes Gesicht, der seltsam genug war. Eine deutliche Spur von Ruhe und Würde zeichnete sich ab, das glatte Gesicht bekam tiefe Falten, die Lider legten sich über die blutunterlaufenen Augen. Tatsächlich sah Aerinnen, der Dämonenpriester, im Licht der brennenden Dochte überraschend menschlich aus. Für einen Augenblick standen sie alle schweigend und betroffen da. Dann ertönte ein überlautes Kreischen und Fauchen. Über dem Körper des Toten oder Sterbenden bildete sich wieder ein Nebel. Er nahm flüchtig die Umrisse eines Menschen an, jedenfalls eines Wesens mit Kopf, Leib und überlangen Gliedmaßen. Die Laute, die der entweichende Dämon ausstieß, ließen die Decke zittern. Elivara sprang von ihrem Lager auf und wich bis in die Ecke zurück. Das nebelhafte Etwas drehte und wand sich. Es schien sich gleichermaßen aufzulösen und durch alle möglichen Ritzen und Spalten aus dem Raum zu fliehen. »Der Dämon«, sagte Kalathee tonlos, »kehrt zurück in die Schattenzone. Zum erstenmal in seinem Leben ist der Dämonenpriester nichts anderes als ein normaler Mensch.« »Ein toter, um es genau zu sagen«, knurrte Nottr. »Königin Elivara! Mir scheint, du bist wieder lebendig.« »Ich fühle mich, als erwachte ich aus einem langen Traum«, sagte sie und schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Mit den Fingerspitzen tastete sie die Haut ab. Mythor öffnete die Tür. »Wir bringen ihn hinaus«, keuchte er und sog die kalte Luft tief ein. Nottr packte die Beine des Toten und zerrte ihn aus dem
Raum. Mythor packte Aerinnen unter den Achseln. Sie schleppten ihn an Deck, ließen ihn hinunter in den Sand und legten ihn zwischen die Felsen. Sie fanden im ersten grauen Licht des Morgens Steine und schichteten sie über ihn. »Wir sollten in See stechen«, drängte Nottr. Ohne daß sie es bemerkt hatten, war der Wind stärker geworden. Die Schaumkämme auf den Wellen waren weiß und breit. Hier zwischen den Felsen herrschte fast Windstille. Draußen, über der See, zeichnete sich ein breiter grauer Streifen ab. »Noch nicht. Sehen wir erst nach Elivara«, schlug Mythor vor. »Die Kurnis ist seeklar?« »Ich verstehe nicht viel von Schiffen«, entgegnete Nottr. »Es schwimmt, die Ruder sind fest, das Segel ist heruntergelassen.« Der Bann war von Elivara genommen worden. Ihr Gesicht war frei, die maskenhafte Kruste verschwunden. Sie stand neben Kalathee und wischte sich immer wieder mit dem feuchten Tuch über die Wangen. Ihr Atem ging stoßweise, und langsam kehrte die Farbe auf ihre Stirn zurück. »Mythor!« flüsterte sie und versuchte ein zögerndes Lächeln. »Ich danke dir.« »Alles ist vorbei«, sagte er beschwichtigend. »In kurzer Zeit bringen wir die Kurnis auf Kurs.« Kalathee sank aufstöhnend in den Sessel. Nottr und Sadagar zeigten schweigende Erleichterung. Mythor schüttelte den Kopf und versuchte, die Eindrücke der letzten Stunden loszuwerden. Er spürte, daß seine Caer-Kleidung noch immer naß und klebrig und voller Salzspuren war. »Es sind alle unsere Vorräte an Bord, Mythor!« bestätigte Nottr. »Kann ich etwas tun? Brauchst du meine Hilfe?« »Ja. Du könntest mir die Kleidung von König Carnen bringen. Ich will diese Fetzen loswerden.«
»Einverstanden. Nichts lieber als das.« Kalathee hatte einen Krug gefunden, daraus einen Becher gefüllt und gab ihn der Königin. Elivara trank den Wein in großen, gierigen Schlucken. Auf den Stufen zum Niedergang trocknete sich Mythor ab, nachdem er die Caer-Ausrüstung ausgezogen und ins Wasser geschleudert hatte. Er holte aus dem feuchten Wams das Pergament hervor, schlug es aus dem Leder und betrachtete es schweigend. Es war nur an den Rändern feucht geworden. Langsam zog er die Ausrüstung an, die ihm Elivara gegeben hatte. Als Kalathee an Deck kam und ihm schweigend einen Becher Wein in die Finger drückte, nickte er ihr dankend zu und trank ihn leer. Sie setzte sich neben ihn auf die Stufen. »Ich bin sicher, daß sich Elivara in ganz kurzer Zeit erholt haben wird, Mythor«, sagte sie. Bis auf den Helm und den Schild hatte Mythor die Kleidung Carnens angelegt und zog den schweren Pelz mantel um seine Schultern. Er fühlte, wie die Wärme und in gewisses Wohlbehagen in seinen Körper zurückkehrten. »Das glaube ich auch«, sagte er. »Aber ob wir bei Sklutur dem Beinernen die Hilfe finden, um die Stadt zurückzuerobern, ist ungewiß.« Er hob den Kopf. Ihm war, als habe er weit hinter sich Hufschlag und menschliche Stimmen gehört. Mythor sprang auf, glitt die Stufen auf den höchsten Punkt des Ruderdecks hinauf und hob spähend die Hand über die Augen. Aus der Richtung der Stadt läherten sich Menschen zu Pferd und zu Fuß. Mythor konnte nicht erkennen, ob es sich bei den Silhouetten um Caer handelte. * Ein Dutzend Fackeln beleuchteten die wuchtige Gestalt, ließen
die Kerben im Schild funkeln und strahlten aus den Augen von Chelm zurück. Ritter Coerl O’Marn hatte das Visier seines Helmes geschlossen und sagte mit dumpfer, dröhnender Stimme: »Der anbrechende Morgen ist die beste Zeit für unseren Angriff!« Noch herrschte nächtliche Dunkelheit. Über dem Lager und der Stadt blinkten die Sterne, über dem Land zeigte sich der erste Streifen Helligkeit. Viele Brände in Nyrngor waren erloschen oder gelöscht worden, viele neue Brände waren entstanden. Auf den Mauern wurde kaum mehr gekämpft. Der Ritter und eine Abteilung der besten Kämpfer befanden sich am Ausgang des Lagers. »Warum greifen wir nicht früher an?« wollte einer der Unterführer wissen. Verwundete Krieger brachten gesattelte Pferde heran. Einige schwer bewaffnete Caer saßen auf. »Dem Ende der Nacht zu werden die Männer müde. Unsere Truppen ebenso wie die des Gegners. Ein Vordringen zu dieser Stunde kann nur uns helfen. Sie werden vor Entsetzen gelähmt sein, denn sie denken, daß die Kämpfe bereits vorüber sind.« »Du hast recht. Wir werden bis Schloß Fordmore vordringen.« »Das ist unser Ziel.« Weitere Caer-Krieger schwangen sich auf die Pferde. Etwa fünfzig Reiter versammelten sich. Sie waren entschlossen, die Stadt völlig in ihre Gewalt zu bekommen, nachdem die Truppen mehrere Tore aufgebrochen und die Verteidiger zurückgeschlagen hatten. »Fertig?« erscholl die dröhnende Stimme. Bei aller Gefährlichkeit und Entschlossenheit wirkte der Ritter seltsam unbeteiligt. Er schien nie zu schlafen, niemals müde zu werden. Er hob seinen alten, zerbeulten Rundschild auf und sah sich um. »Fertig!«
Die berittenen Krieger schwenkten ihre Fackeln und hämmerten mit ihren Schwertern gegen die Schilde. Der wuchtige Braune trabte an, der Ritter setzte sich an die Spitze seines Trupps. Sie passierten die Lagerwachen, fielen in einen langsamen Galopp und bildeten einen lang auseinandergezogenen Keil. O’Marn ritt ganz vorn, hatte sein Schwert gezogen und es quer über den Sattel gelegt. Tote Caer und zerbrochenes Belagerungsmaterial lagen rechts und links des Weges. Das Hafentor mit den zerschmetterten Torflügeln zeigte die Spuren von Bränden, von Beschuß und wütenden Kämpfen. In dem Haufen der Quader war ein schmaler Durchgang geschaffen worden. Dicht vor dem Tor hob O’Marn das Schwert, stieß einen Schrei aus und gab dem Braunen die Sporen. Die Caer schlossen auf und brachen durch die Toranlage. Der Braune setzte mit einem weiten Sprung über die blutbesudelten Quader. Einige Pfeile zischten an Coerl O’Marn vorbei. Die Krieger hinter ihm ritten durch die Passage, sprangen über tote Verteidiger, sammelten sich wieder auf dem trümmerübersäten Platz vor dem Tor. »Geradeaus! Hinter mir her!« schrie der Ritter. Durch die Öffnungen seines Visiers sah er die gewohnten Bilder einer eroberten Stadt. Verbrannte Häuser, eingestürzte Dächer, Berge von Steinen und eine Unmenge zerbrochener Waffen und Ausrüstungen. Aus leeren Fensterhöhlen starrten ihn weinende Frauen an. Rechts von ihm schleuderte ein Mann einen Speer und flüchtete dann in ein windschiefes Haus. Das Geschoß fuhr zwischen zwei Reitern hindurch und blieb in einer Wand stecken. Eine breite, fast leere Straße erstreckte sich vom Tor bis zu einem Gebäude, das im ersten Morgenlicht rötlich aufleuchtete. Coerl zügelte sein Pferd, stellte sich in den Steigbügeln auf und schaute hinter sich. Seine Krieger füllten mit stampfenden
Pferden den Raum zwischen den Mauern. Sie schienen vollzählig zu sein. »Vorwärts!« Rauchwolken zogen durch die schmalen Gassen. Hier und dort brannte es. Durch das dumpfe Trommeln der Pferdehufe hörten sie Waffengeklirr, Schreie und Stöhnen. Ein Stein traf einen Caer und schleuderte ihn aus dem Sattel. Ein Stück weiter verbreiterten sich die Straßen zu einem Platz. Einige Bäume schoben sich ins Blickfeld. Dann öffnete sich in der glatten Front ein Tor. Ein Durchgang folgte, geformt wie ein gemauerter Tunnel. Coerl preschte hindurch und hielt seine Waffe schlagbereit. Er sprengte durch den Hof und hielt das Pferd vor den Stufen einer breiten Treppe an. Chelm drehte sich zweimal um sich selbst, als der Rest der Reiterei in den Schloßhof hereindrängte. Einige Dienerinnen drückten sich ängstlich in die Ecken. Es gab nicht das geringste Zeichen für Gegenwehr oder für versteckte Verteidiger. Nicht einmal ein Pfeil wurde auf sie abgeschossen. Coerl O’Marn schob mit der Linken das Visier hoch. »Eine Vierfachwache ans Tor. Niemand darf herein, keiner hinaus. Eine zweite Wache bleibt im Hof.« »Verstanden!« Männer sprangen von den Pferden und rannten mit klirrenden Waffen an ihre Plätze. O’Marn schwang sich aus dem Sattel, riß eine Fackel aus der Hand des ihm zunächst stehenden Caer und rannte einige Stufen hinauf. »Ihr folgt mir. Ich weiß, wen ich suche. Vielleicht finden wir sie hier.« »Wir kommen.« Ein schneller Rundblick zeigte dem Ritter über dem Ausschnitt des Hofes den heller werdenden Himmel. Viele Fenster, Erker und Kanzeln blickten in den Hof. Nur hinter wenigen Fenstern schimmerte Licht. Die Caer-Krieger stürmten die Freitreppe hinauf und spran-
gen nach rechts und links auseinander. Sie rechneten fest damit, daß es im Schloß von Männern wimmelte, die ihre Königin verteidigten. Natürlich kannte Coerl O’Marn die Absicht der Dämonenpriester, Elivara durch das tödliche Geschenk des Bestienhelmes langsam umzubringen. Ihn interessierte diese magische Aktivität der Priester nur am Rande, seine Aufgaben waren der Kampf und der Sieg. Dämonen kümmerten ihn nicht. Er rannte durch eine halb offene Tür in einen verlassen wirkenden Korridor hinein. Im Korridor herrschte Dämmerlicht. In wenigen kleinen Nischen brannten Öllampen. Die Krieger rissen rechts und links jede Tür auf und stürmten in die Räume linein. Sie stöberten hier einen halbblinden Diener auf, rieben dort einige Mägde auseinander, die sich zitternd zusammengedrängt hatten, durchstreiften leere Zimmer und dunkle Säle. Am Ende des Ganges trafen sie wieder zusammen und sahen sich erstaunt an. »Sucht weiter!« drängte O’Marn. Sie schwärmten sofort wieder aus. Aber sie fanden niemanden, der in der Lage gewesen wäre, sich ihnen entgegenzustellen. Raum um Raum in jedem Stockwerk wurde abgesucht. Nach einem wilden, aber ereignislosen Rennen and Hasten durch fast das gesamte Schloß Fordmore rammte Coerl ein Portal auf. Er stand im Eingang eines großen Saales. In einem prächtigen Kamin brannten die Reste eines Feuers. Waffen und Schilde hingen zwischen Teppichen an den Wänden. Auf den wenigen Stufen, die zu einer Art Thron hinaufführten, standen eine Menge tönerner Lampen, deren Dochte im Öl schwammen. Der Ritter hob die Klinge und stürmte bis in die Mitte des Saales, dann blieb er stehen und schob das Visier des Helmes hoch. Langsam ging er auf die schmale, bewegungslose Gestalt zu, die vor lern Thron auf den Fellen kauerte und
sich an die Beine des Sessels lehnte. »Caers Blut!« stieß O’Marn aus. Vor dem Thron blieb er stehen. Er blickte in ein flaches, ausdrucksloses Gesicht, das einem etwa siebzehnjährigen Jungen gehörte, der nur noch das linke Auge besaß. Der schmächtige Körper war in reich verzierte Kleidung aus schillernder Seide gehüllt. »Du mußt Hester, der halbblinde Bruder der Königin, sein«, murmelte O’Marn verblüfft. Der Junge stammelte etwas und wischte sich in einer ungeschickten Bewegung den Speichel von den Lippen. Dann kicherte er übergangslos und blinzelte den Ritter an. CaerKrieger kamen waffenklirrend durch das Portal und durch zwei andere Eingänge, die sie aufgebrochen hatten. »Erschreckt ihn nicht!« dröhnte O’Marns Stimme durch den Saal. »Er hat nur ein Auge und redet irre.« Ein Krieger blieb neben dem Ritter stehen und sagte halblaut: »Coerl! Drudin hat beschlossen, daß ein Mitglied der Familie von König Carnen die Stadt regieren soll. Eine Magd hat zugegeben, daß Elivara geflohen ist.« Keiner der Krieger wußte, wie das dröhnende Gelächter des Ritters zu deuten war. »Caer beherrscht die Stadt«, sagte schließlich der mächtige Anführer aller Caer-Krieger, unter dessen Gelächter sich der Junge zwischen die Beine des Thrones verkrochen hatte, »und wenn wir diesen armen Einäugigen als König ausrufen, wird kein Nyrngorer gegen uns rebellieren. Das Schloß ist leer?« »Wir haben keinen einzigen Krieger gefunden. Nur Verletzte, Diener und Mägde. Fordmore ist kampflos in unsere Hand gefallen«, lautete die Antwort. O’Marn schob sein Schwert bedächtig in die Scheide zurück. »Die Hälfte meiner Truppe bleibt hier. Richtet euch im Schloß ein! Noch wird in der Stadt und an Teilen der Mauern ge-
kämpft. Die anderen reiten mit mir. Heute nacht wird Ruhe in Nyrngor herrschen. Ich hätte nicht gedacht, daß Königin Elivara ihren Bruder allein zurückläßt, wenn sie flüchtet. Oder verbirgt sie sich noch in der Stadt? Gleichviel, wir werden sie finden.« Er warf noch einen langen, prüfenden Blick auf Hester. Der Junge schien sich vor ihm zu fürchten. Coerl O’Marn kämpfte nicht gegen alte Frauen und schwachsinnige Kinder; er hob die gepanzerten Schultern und lachte noch einmal kurz auf. »Niemand hat gesehen, daß jemand die Stadt verlassen hat!« sagte einer der Krieger. »Natürlich kann es geschehen sein.« »Wir werden Elivara suchen«, versicherte der Ritter, gab ein Zeichen und verließ mit schweren Schritten den Saal. Eine Dienerin löste sich aus der Dunkelheit einer Türnische und glitt auf Hester zu. Sie nahm die Hand des Jungen, zog ihn unter dem Thron hervor und brachte ihn in eine Kammer. Während die Schritte der Soldaten auf den Treppen verhallten, mischte die Frau ein einschläferndes Mittel in einen Becher angewärmter Milch und hielt den Trunk an die Lippen des Halbblinden. Hester trank gierig und wurde schlagartig müde. Die alte Frau bettete ihn auf ein Lager, zog die schweren Vorhänge davor zusammen und verließ den Raum. Sie versteckte ihr weißes Haar unter ihrem schwarzen Umhang und passierte ungehindert alle Wachen, selbst die Posten vor dem Tor zu Fordmore. Der Tag graute bereits. Die Dienerin huschte entlang den Mauern und Hausfronten. Sie lief dorthin, wo sie noch den Lärm letzter Kämpfe hörte. Sie hoffte zitternd, daß sie denjenigen finden werde, der als einziger vielleicht noch in der Lage war, etwas zu ändern. Die Truppen der Caer im achtunddreißigsten Jahr Arwyns, waren tapfer, schnell und zäh. Sie hatten Nyrngor belagert und weitestgehend erobert, aber längst nicht jeden Winkel gesehen.
Dhorkans verzweifelter Plan stützte sich auf diesen Umstand. Er hoffte nur, daß er wenigstens ein bißchen Glück haben würde. Er selbst würde ja zweifellos durchkommen. Die größere Menge Glück brauchten die Nyrngorer, die er in aller Eile zusammengerufen hatte. Noch hielt die Barriere, auf der er zusammen mit vier anderen Männern kämpfte. Sie befand sich zwischen zwei halb abgebrannten Häusern rechts vom Nordtor, durch das soeben die letzten Angreifer hereinströmten. Dhorkan, der Anführer der Leibgarde Königin Elivaras, war erschöpft, von kleinen Wunden bedeckt und ohne viele Hoffnungen. Er hatte miterlebt, wie viele seiner Kameraden gestorben waren. Andere, die an verschiedenen Punkten der Stadt versucht hatten, die Erstürmung zu verhindern, mochten gefangen, verwundet oder ebenfalls tot sein. Mit schier übermenschlicher Kraft riß Dhorkan einen Steinbrocken hoch, schleuderte ihn abwärts und schmetterte einen Caer, den er am Kopf traf, zu Boden. Dann winkte er und rief: »Es ist sinnlos. Kommt, Freunde!« Vor wenigen Augenblicken hatte Dhorkan mit ein paar Getreuen auf der Stadtmauer gekämpft. Er hatte seinen Platz verlassen, als er sah, daß sie niemandem halfen, wenn sie weiterhin von hier oben Speere und Steine schleuderten. Auch dieses Tor war aufgebrochen. Von den Zinnen hatte Dhorkan gesehen, daß die Caer den Strand entlang dem Lager, die Hafenzone und schließlich das Wasser jenseits der Schiffe absuchten. Zweifellos suchten sie nach Elivara und Mythor. Es sah nicht so aus, als hätten sie Erfolg gehabt. Dhorkan rannte über kippende Balken, zerbrochene Möbelstücke und Gebäudetrümmer. Seine Kameraden folgten ihm schweigend. Sie liefen durch einen Hauseingang, kamen in einen kleinen, versteckten Hof, der sich direkt an einige Dä-
cher und die Stadtmauer anschloß. Der Hof war gedrängt voll mit Menschen, Pferden und Gepäck. Es waren hauptsächlich junge Verteidiger mit ihren Frauen oder Familien, schätzungsweise sechzig Leute. Zwei von ihnen standen an einem schmalen Tor in der Stadtmauer. Auf der anderen Seite der Mauer war dieses Tor durch aufgesetztes Mauerwerk kaschiert. Büsche und gewachsener Fels befanden sich rechts und links davon. Es gab nicht die Spur eines Pfades. »Los! Wir brechen aus! Schnell, öffnet die Pforte!« schrie Dhorkan und schwang sich auf den Rücken eines Pferdes. Sie hatten zusammengerafft, was sie hatten finden können. Es ging ums nackte Überleben, draußen in den öden Feldern des Landes rund um Nyrngor, in Höhlen und Einödhöfen. Die Männer rissen das Tor auf. Die Riegel knarrten, Holz splitterte, und dann prasselten die Hiebe der Hämmer und der Streitäxte gegen das dünne Mauerwerk. Die Steinbrocken fielen nach außen, die Löcher wurden größer, und schließlich brüllte Dhorkan: »Hindurch! Die Bewaffneten zuerst. Auf die Pferde!« Ein Gedränge entstand, Pferde wieherten und keilten aufgeregt aus. Mehrere Krieger zwängten sich durch die Öffnung, sprangen hinaus und winkten dann aufgeregt. Einer der Flüchtlinge nach dem anderen verließ hastig den Hof. Dhorkan wartete unruhig. Immer wieder drehte er sich im Sattel um. Er erwartete, daß Caer-Krieger mit gezogenen Waffen hier eindrangen. Wieder verließ eine Gruppe den Hof, duckte sich unter dem obersten Quader und wandte sich sofort nach Norden. Der Hof hatte sich bereits zur Hälfte geleert. Draußen tobte der Kampf weiter. Der Widerstand war geringer geworden, die Fremden drangen ungehindert ins Zentrum der Stadt ein. Wieder zerrten sie die Pferde, auf denen sich Gepäckstücke stapelten, durch den engen Durchlaß. Eini-
ge Frauen rannten hinterher. Das Geschrei und das Gedränge ließen nach. Dhorkan wandte sich an einen Kameraden, dessen Namen er nicht kannte: »Es mutet wie Verrat an, nicht wahr?« Der andere schüttelte den Kopf und ließ sein Pferd einige Schritte nach vorn gehen. »Kein Verrat, Dhorkan. Ebensowenig wie die Flucht Königin Elivaras.« »Elivara ist nicht geflohen. Du weißt es!« »Eben. Das wollte ich dir sagen. Halt! Wer ist das?« Der Hof war fast leer. Durch den Eingang des Hauses drängte sich eine gebückte Gestalt in einem dunklen Umhang. Dhorkan warf einen Blick in das schmale, runzlige Gesicht und sagte: »Swite! Die Dienerin Elivaras!« Sie glitt näher heran und flüsterte: »Der große Ritter war im Schloß. Er hat Hester gesehen.« »Hat er ihm etwas getan?« Die letzten Flüchtlinge schoben sich durch den Spalt und galoppierten, wie es ausgemacht war, sofort davon. Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat nur gelacht und gar nicht aufhören können. Nein. Er schrie, daß die Caer Hester zum Herrscher über Nyrngor machen werden. Ich glaube nicht, daß sie Hester töten. Sie haben auch uns Dienern nichts getan. Das Schloß ist in ihrer Hand.« »Wie hast du uns gefunden?« wollte der andere Krieger wissen. »Ich habe gesucht. Dann ist mir eingefallen, daß jemand von diesem Tor gesprochen hat. Ich bin hierhergelaufen… Aber jetzt kann ich nicht mehr.« »Komm mit uns. Auf mein Pferd!« »Ich kann nicht mehr. Ich werde mich um Hester kümmern. Ich bleibe hier. Die Caer werden sich an mir nicht vergreifen. Beeilt euch!« »Gut. Wenn du es so willst. Wir müssen die Stadt verlassen.
Ich bin sicher, daß wir uns bald unter besseren Umständen wiedersehen. Lebe wohl, Swite.« Hintereinander ritten die beiden Männer, tief auf die Hälse ihrer Pferde gebeugt, aus dem Hof. Als sich Dhorkan wieder aufrichtete und nach hinten blickte, sah er den leeren Hof. Gerade kamen einige Caer hereingestürmt. »Zu spät, Freunde!« Dhorkan grinste kalt und gab seinem Pferd die Sporen. Er stand in den Steigbügeln, um dem Tier die Galoppsprünge zu erleichtern. Zweihundert Schritt vor ihm ritt, sein Pferd peitschend, sein Kamerad. Vor diesem erstreckte sich eine unregelmäßige Kette von Reitern bis zum nebligen Morgenhorizont. Einige Männer liefen neben den Pferden her und hielten sich am Sattel oder an den Steigbügelriemen fest. Ein paar Caer, die zwischen dem Hafen und dem Lager daherrannten, blieben stehen und sahen den Flüchtenden nach. Dhorkan drehte langsam den Kopf, blickte zur Mauerkrone hinauf, sah hinter sich das nächste Tor auftauchen, links von sich die letzten Caer-Schiffe und das Meer, dessen Wellen Schaumkronen trugen. Natürlich kannte Dhorkan das Versteck der kleinen Kurnis. Er rechnete damit, daß Mythor bereits auf dem Weg zum Mammutfriedhof war, zusammen mit Elivara und seinen seltsamen Freunden. Trotzdem wollte er versuchen, Elivara noch zu treffen. Er sprengte in rasender Eile hinter der Reihe der Flüchtlinge her, erreichte den ersten niedrigen Hügel und stellte voller Erleichterung fest, daß er und die anderen nicht verfolgt würden. Noch nicht. Der unmittelbaren Gefahr waren sie entronnen, aber die Caer waren hierhergekommen, um zu bleiben. Als er auf der anderen Seite in geringerem Tempo den Hang wieder hinunterstob, nahm er gleichzeitig mehrere Dinge von großer Bedeutung wahr. Um das einzelne Schiff außerhalb des Hafens wimmelte es
von Booten. Eine große Menge Soldaten zog sich aus der Hafengegend zurück. Sie gingen langsam zurück ins Lager. Jenseits der Stadtmauern loderten noch immer Brände. Jetzt, im ersten Tageslicht, waren die riesigen Rauchwolken zu erkennen, die sich aus den Resten verbrannter Häuser erhoben und von dem stärker gewordenen Wind davongetrieben wurden. Die Flüchtenden schienen in Sicherheit zu sein, und wenn sie noch eine Weile in dieser Geschwindigkeit weiterritten und rannten, würden viele von ihnen schützende Verstecke erreichen. Dhorkan schlug den Weg zum Versteck der Kurnis ein. Auf den hartgetretenen Pfaden würde er keine Spuren hinterlassen. Am Horizont sah Dhorkan, noch undeutlich, den Ort, an dem das kleine Boot mit dem Einhornsegel versteckt war. Er ließ sich in den Sattel fallen und hetzte das erschöpfte Tier nicht mehr weiter. Auch er würde sich wohl verstecken müssen, falls er das Schiff nicht mehr vorfand. Vielleicht verlor sich seine Spur im Umland von Nyrngor. Er war so gut wie allein. Der Winter würde hart werden. Der einsame Mann ritt geradeaus, stets in gleichmäßigem Abstand vom Meeresufer. Über dem Wasser ballten sich dunkle Wolken zusammen. Weit und breit war niemand mehr zu sehen, kein Nyrngorer und auch kein Caer. Die Hufschläge und das Rauschen des Wassers waren die einzigen Geräusche, die er wahrnahm. Dhorkan ritt langsam zwischen die Felsen der betreffenden Bucht hinein. Hinter einer dunklen Steinmasse erkannte er aufatmend das Heck des Schiffes. Die Gestalt, die am obersten Punkt des Heckaufbaus stand, hob langsam den Arm. »Mythor!« rief Dhorkan. »Ich komme also noch zurecht.« »Ich hörte Stimmen und viele Pferde!« rief Mythor. Hinter ihm zeigten sich Nottr und Sadagar an Deck. An einem Baum
waren einige Pferde angepflockt. Ihre Sättel waren leer. »Eine Gruppe ist mit mir aus der Stadt geflüchtet«, erklärte Dhorkan und stieg aus dem Sattel. Er war tatsächlich erschöpft, und jeder Muskel schmerzte ihn. »Sie werden sich irgendwo am Rand der Felder verstecken.« Mythor und seine Freunde sprangen an Land. Die Männer schüttelten sich die Hände. Sofort fragte Dhorkan: »Ist die Königin an Bord?« »An Bord und gesund. Kalathee ist bei ihr. Wir waren unmittelbar davor, abzusegeln.« Dhorkan nickte und versuchte seine Muskeln zu lockern. »Die letzten schlimmen Neuigkeiten habe ich von Swite erfahren. Kann ich mit Elivara sprechen?« »Selbstverständlich. Du kannst die Pferde nehmen. Ihr könnt sie dort draußen sicher gebrauchen.« »Das ist gut.« Nur ein einziges Tau hielt die Kurnis noch an Land fest. Dhorkan schwang sich über die Reling und berichtete der Königin, was er von Swite erfahren hatte. »Wir werden günstigen Wind haben«, sagte Elivara, nachdem er seinen Bericht abgegeben hatte. »Er bringt uns schnell zu Sklutur, und meine Hoffnungen, daß er uns helfen wird, sind groß. Die Caer benutzen den guten Namen des Königshauses, um die Nyrngorer zu zwingen.« Dhorkan senkte den Kopf. »Niemand wird es wagen, gegen Hester zu rebellieren. Du weißt, daß die meisten treu und ergeben sind.« »Das hat Coerl O’Marn ganz richtig gesehen. Nun, in wenigen Tagen wissen wir mehr. Dann kommen wir zurück und vertreiben die Caer.« Die Königin reichte Dhorkan mit einem schmerzlichen Lächeln die Hand. In ihrem Gesicht las er die Spuren ausgestandener Schrecken. »Ich werde versuchen, den Leuten zu helfen, die ins Umland
geflohen sind. Vielleicht gelingt es mir, sie zu sammeln und ein kleines Heer aufzustellen. Aber es wird für keinen von uns leicht sein«, sagte Dhorkan ohne viel Hoffnung und verließ den Heckraum. Sadagar und Nottr zogen das Segel fest. Mythor stand im Heck, hielt eine lange Stange und hob die Hand. »Lebe wohl, Dhorkan!« sagte er laut. »Wünsche uns Glück.« Über das Heckruder kletterte Dhorkan hinunter und sprang aus dem flachen Wasser an den Strand. Er wandte sich um und rief: »Ihr werdet viel Glück brauchen. Kommt bald zurück, Mythor!« Er zog das Schwert und wartete, bis die Kurnis in einer richtigen Lage war. Dann durchschlug er das Haltetau. Mythor spannte seine Muskeln und schob das kleine Schiff ins tiefere Wasser. Ein Windstoß blähte, als das Boot zwischen den Felsen hervorglitt, das Segel und schob die Kurnis vor sich her. Mythor zog die Stange an Bord, stellte sich ans Ruder und rief Sadagar und Nottr zu, wie sie das Segel zu stellen hatten. Dann beschrieb das Boot eine Kurve nach rechts und ging, einen Bogenschuß vom Ufer entfernt, auf Nordkurs. »Viel Glück, Königin Elivara!« murmelte Dhorkan und kletterte ächzend in den Sattel. Er band die anderen Pferde los, befestigte die Zügelenden am Sattelhorn und ritt langsam in die Richtung des Flusses, wo er Höhlen kannte, die ihm als Versteck dienen konnten. Einmal noch sah er die Kurnis. Das Boot durchstieß, vom Südwind getrieben, die Wellen, hob und senkte sich und trieb mit großer Geschwindigkeit nordwärts. Es verschwand hinter den langen Wellen, tauchte wieder auf, und das Segel war prall gespannt. * Mythor fand keine Zeit, sich darüber zu wundern, daß er die
Kurnis bisher anscheinend vollkommen richtig gesteuert hatte. Sein Körper gewöhnte sich schnell an die gleichmäßige Bewegung des knarrenden hölzernen Rumpfes, an die vielfältigen Geräusche des Wassers, an das Fauchen und Winseln des Windes und an die Art, wie das Ruder den Kurs des Bootes beeinflußte. Das Land zur Rechten verschwand hinter den Wellen und zeigte sich wieder. Die Helligkeit nahm zu, aber die Sonne drang nicht durch die dunklen Wolken hinter dem Schiff. Vom Hafen und der Stadt war nichts mehr zu sehen. Mythors Spannung löste sich unter diesen Eindrücken. Ein Abschnitt lag hinter ihm, der reich an gefährlichen Situationen gewesen war. Die Furcht, die er angesichts des Geschenks jenes Dämonenpriesters empfunden hatte, dieser grausige Bestienhelm hatte ihm wieder einmal einen Teil jener Welt gezeigt, die mit der Schattenzone eng verbunden war; einer bösen, schwarzen Welt, in der ein einzelner Mensch allzu schnell zum Spielball der Machtgier wurde. Irgendwo vor ihm lag Althars Wolkenhort. Ebenso wichtig wie die Hilfe für Königin Elivara, die er zufällig getroffen hatte, war sein eigenes Leben. Er befand sich auf der Suche nach sich selbst, nach seiner Ausrüstung ebenso wie nach Kenntnissen und Wissen über sich und alles andere. Im Augenblick waren sie alle in Sicherheit, eine kurze Zeit auf dem Meer würden sie ausruhen und zur Besinnung kommen lassen. Mythor klemmte den Schaft des Ruders unter die Schulter. Nottr und Sadagar befanden sich bei den Frauen unter Deck und schliefen wahrscheinlich. Der junge Krieger griff in sein Wams, zog das Pergament hervor und betrachtete schweigend das Bild der betörend schönen jungen Frau, des Ziels seiner Gedanken. Und Elivara, die geflüchtete Königin? Er begehrte sie, und sie begehrte ihn. Eine gewisse Dankbar-
keit mochte dazu beitragen, ihre Freundschaft zu vertiefen. Er machte sich über diesen Teil der Zukunft keine Gedanken. Seine Aufgabe würde immer sein, für die Lichtwelt zu kämpfen, wie immer dieser Kampf aussehen mochte. Der Bug der Kurnis hob sich, senkte sich wieder, und die Gischt vom Vorschiff sprühte in Mythors Gesicht. Sadagar taumelte den Niedergang herauf und klammerte sich an der Reling fest. Er kauerte sich neben Mythor in einen geschützten Winkel und grinste unbehaglich. »Dieses Schaukeln treibt mich an deine Seite«, sagte er. »Mein Magen hält es nicht aus.« »Du wirst dich daran gewöhnen«, antwortete Mythor. »Das glaube ich kaum. Übrigens, die Königin schläft tief und ist gesund. Jedenfalls sagt Kalathee dies.« »Das höre ich gern«, antwortete Mythor und schob das zusammengefaltete Pergament zurück in sein Wams. »Kannst du ein Schiff steuern?« Sadagar lachte kurz auf. »Ich fürchte, bis ich es richtig verstehe, sind wir beim Mammutfriedhof, Mythor.« »Ob es Nottr kann?« »Vermutlich besser als ich. Du brauchst Schlaf, nicht wahr?« »Mehr als dringend«, sagte Mythor. »Die nächsten Stunden halte ich es aber sicher noch aus.« Die Geschwindigkeit der Kurnis wuchs. Der Wind war kalt und schneidend und riß den Männern die Worte von den Lippen. Gischt sprühte über Deck, die überkommenden Wellen liefen durch die Speigatten ab, der winzige Korb des Ausgucks pendelte hin und her. Die Wanten summten im Wind. Die Silhouette des Einhorns schien über die Wellen springen zu wollen. »Was hältst du von Sklutur und dem Friedhof der Mammuts?« erkundigte sich Sadagar nach einer Weile. Bisher hatten sie weder ein anderes Schiff gesehen noch irgendeine Ein-
zelheit drüben am Land, die auf Gefahr oder Verfolgung hindeutete. Die Küste von Dandamar war hier im Norden felsig und leer. Mythor kannte den Weg nicht und mußte versuchen, immer in Landsicht zu bleiben. »Er ist unsere einzige Hoffnung. Ich weiß wirklich nicht, was uns dort erwartet. Das Wesen, das den höchsten Turm Nyrngors besteigen darf, ist mir unbekannt. Aber wir werden Königin Elivara fragen, wenn sie ausgeschlafen hat und wieder bei Kräften ist.« Ihre Fahrt zu einem fremden Teil des Gestades von Dandamar ging weiter mit gleicher Geschwindigkeit und nicht nachlassendem Wind von achtern. Die vergangenen Abenteuer begannen zu verblassen, Neugierde und Spannung wuchsen, wenn vor ihrem inneren Auge die Vorstellungen vom Mammutfriedhof und dem unbekannten Sklutur heranwuchsen. * Der Dämonenpriester schlug seine Beine übereinander. Der Saum des schwarzen Mantels, prunkvoll mit silbernen Fäden durchwirkt, klaffte auseinander. Mit dem ausgestreckten Finger, der wegen des Handschuhs einem geschwärzten Knochen glich, zeigte Feithearn auf den schweigsamen Ritter. Unter der silberroten Maske klang die Stimme des Priesters verzerrt. »Drudin hat bestimmt, was mit Nyrngor zu geschehen hat, Ritter O’Marn«, sagte er. Auf einem Tisch neben Feithearn lagen der Bogen und der gefüllte Köcher des Priesters. »Mir ist bekannt«, sagte der Ritter in wegwerfendem Ton, »daß Herzog Murdon noch immer die Geschäfte des Herzogtums führt.« »Drudin hat mit ihm gewisse Absprachen getroffen, die uns betreffen«, versicherte Feithearn mit verschlagener Stimme. Jede Bewegung strahlte machtvolle Arroganz aus. »Aus die-
sem Grund werde ich bis auf weiteres in diesem Schloß bleiben.« Coerl O’Marn schien unbeeindruckt. »Und außerdem deswegen, weil es einer unbekannten Gruppe Nyrngorer gelungen ist, Aerinnen zu entführen.« Der Priester faßte mit beiden Händen an den hohen Helm. Die Knochen daran klapperten trocken. »Duldamuur!« stöhnte Feithearn auf. Er rief seinen Dämon. Eine eigentümliche Zwiesprache für O’Marn, denn der Dämon gab nur unhörbare Antworten. »Duldamuur! Sag diesem mißtrauischen Heerführer, daß Aerinnen tot ist, ermordet von unheimlichen Kräften, die selbst sein Dämon nicht abwehren konnte!« »So wird es wohl gewesen sein«, murmelte O’Marn. Sie saßen im größten Saal von Schloß Fordmore. Es war kurz nach Mittag des Tages, an dem der Ritter mit seinen Kriegern ungehindert in Fordmore eingedrungen war und das Schloß besetzt hatte. Tageslicht flutete durch schmale, senkrechte Fenster herein. Trotzdem brannte ein gewaltiges Feuer im Kamin. Die brennenden Scheite krachten und schleuderten Funken in den Saal. Feithearn hatte in dem geschnitzten Thronsessel Platz genommen, der Ritter, von solchen Äußerlichkeiten schwer zu beeindrucken, saß unterhalb der Stufen in einem mit Fell ausgelegten Sessel. »So war es. Hat man Königin Elivara gefunden?« fragte Feithearn, dessen gläserne Gesichtshaut im Feuerschein zu glühen schien. »Nein. Auch nicht den Ritter, der mit ihr zusammen kämpfte.« O’Marn kannte Drudin und dessen Macht. Der Oberste Priester Caers hatte bis zu einem bestimmten Punkt auch über ihn dämonische Macht. Aber aus Gründen, die selbst der Ritter nur schwer verstehen konnte, hütete sich Drudin, diese Macht auszuspielen. Vielleicht war ihm ein selbständiger
Heerführer dienlicher als einer, der von Drudins Dämon beherrscht war. Jetzt, nach dem Sieg über Nyrngor, begann sich der Ritter bereits ein wenig zu langweilen; für ihn waren die Kämpfe vermutlich vorbei. »Jedenfalls haben wir einen Stützpunkt auf Dandamar, einen guten Hafen und sichere Mauern«, sagte der Priester. »Der Sieg ist vollkommen.« »Und die Pest ist in der Stadt. Die Speicher sind leer, unsere Truppen werden in ein paar Tagen hungern müssen«, entgegnete der Ritter. Selten sah man ihn ohne seinen schweren Helm; jetzt hatte er ihn abgelegt. Sein hartes, von Falten durchzogenes Gesicht wirkte über dem Kragen der Rüstung auf seltsame Weise erfahren und zeitlos. »Das sind Aufgaben für deine Krieger, O’Marn«, antwortete Feithearn und musterte den Mann aus seinen blauen Augen. »Ihr werdet sie lösen.« »Sicher. Es wird nur eine Weile dauern und viel Arbeit erfordern.« »Nichts, was nicht zu schaffen ist.« »Alles ist zu schaffen. Erlaubst du mir in der Zwischenzeit, daß ich mir in diesem Schloß ein Bett suche?« »Selbstverständlich. Welch eine Frage. Ich warte auf Botschaft von Drudin. Dann werde ich dir sagen können, wie die nächsten Befehle lauten.« Der Ritter stand auf. Er nahm den Helm vom Tisch schob ihn unter den Arm und starrte lange schweigend in die tanzenden Flammen des Kamins. Dann verließ er mit schweren Schritten, die seine Rüstung klirren ließen, den Saal. Schweigend blickte Feithearn ihm nach. Coerl O’Marns Benehmen war eines der Dinge, die für den jungen, ehrgeizigen Dämonenpriester immer unbegreiflich bleiben würden. Die Sterne schienen unheilvoll zu flackern. Das Licht des Mondes war hell und bleich, und die langgezogenen Wolken-
fetzen, die vor der unvollständigen Scheibe des Gestirns vorbeijagten, schufen ununterbrochen veränderte Lichtverhältnisse. Das Meer hatte sich in eine schauerliche Einöde verwandelt; voller Wellen, deren Täler man nicht erkannte, voller Wellenkämme, von denen der kalte Wind den Schaum wegriß. * Sterne und Mond waren die einzigen Lichtquellen weit und breit. Es gab an Land keine Feuer und nicht die flackernden Zeichen der Leuchttürme oder der Wachplattformen. Nur im Heckraum der Kurnis brannten drei Öllampen, die an langen Schnüren aufgehängt waren. Am Ruder standen jetzt, es war etwa Mitternacht, Nottr und Steinmann Sadagar. Hätte ein Dritter in ihre Gesichter sehen können, hätte er die Angst in ihren Zügen erkannt. Für sie war jetzt, in der ersten Nacht seit dem Ablegen, der neue Höhepunkt des Schreckens erreicht. Das Meer, der Mond und der Wind waren keine Gegner, gegen die man mit Schwerthieben oder geschleuderten Dolchen kämpfen konnte. Es war eine gänzlich neue Erfahrung, das Schiff zu steuern. Eine Gruppe von Sternen, mehrere Handbreit über dem unsichtbaren Horizont, war von Mythor als vorläufiger Zielpunkt bezeichnet worden. Der Bugspriet der Kurnis mußte immer, nach jedem Manöver, jedem Heben und Senken des Schiffes, deutlich auf dieses Sternbild zeigen. »Noch eine solche Nacht«, schrie Nottr durch das nervenzermürbende Knarren und Winseln, Plätschern und Zischen, Brodeln und Fauchen, »und ich habe den Mut einer Maus!« »Noch eine Nacht«, brüllte Sadagar zurück, »und unsere Haare sind weiß geworden. Aber wir stehen das alles durch, Nottr.« »Du bist entweder verrückt, oder du lügst, um deine Angst
nicht zu zeigen«, war die Antwort. Das Schiff schwankte hin und her, bäumte sich auf wie ein Pferd und schlug mit dem Bug krachend und dröhnend in die Wellen zurück. Salzwasser peitschte in die geröteten, eiskalten Gesichter der Männer. »Wenn mich Kalathee sehen würde!« schrie Nottr. »In dieser Dunkelheit?« fragte Sadagar zurück, nachdem sich das Schiff geschüttelt hatte und wieder auf Kurs lag. Das nasse Segel bauschte sich prall auf und knatterte an den Rändern. Ein losgerissenes Tau wedelte durch die Luft. »Sie würde mich lieben müssen«, rief Nottr. »Endlich würde sie sehen, daß ich ein guter Bursche bin.« »Das weiß sie längst!« gab Sadagar zurück. Selbst einem Blinden wäre es inzwischen aufgefallen: Nottr schien in Kalathee das einzige Ziel seiner Wünsche, Begierden und Zärtlichkeit zu sehen. Mehr als je zuvor. Gerade jetzt, da fünf Menschen gezwungen waren, sich auf engem Raum aufzuhalten, mehr oder weniger nur in einem großen hölzernen Verschlag zu leben, zeigten sich die Spannungen. Mythor, unangreifbar, mutig und scheinbar nicht von seinem Weg abzubringen, sprach mit Elivara und versuchte, das Schiff auf dem richtigen Kurs zu halten. Kalathee bemühte sich, ebenso unbeirrbar, Mythor jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie drängte sich immer wieder in seine Nähe, selbst wenn er, in seinen Pelzumhang gehüllt, auf dem Heck stand und steuerte, von Kälte, Wind und Gischt umhüllt. Nottr, stark und unerschrocken, aber trotzdem gefangen in einer Umgebung, die ihn bis zum Äußersten zwang, sich zu beherrschen und seine Furcht zu unterdrücken, hatte nur Augen für Kalathee. Er sprach mit ihr, forderte sie heraus, stellte ihr nach und ließ sie keinen Augenblick unbeobachtet. Sie war freundlich zu ihm, aber sie schien nicht einmal zu bemerken,
daß er sich glühend nach ihr und ihrer Nähe verzehrte. Noch waren diese Spannungen nicht deutlich aufgetreten. Noch versteckte sich alles unter der schützenden, glättenden Decke des gemeinsam zu bestehenden Abenteuers auf dem unbekannten, schrecklichen Meer. Niemand dachte daran, daß diese lautlose Entwicklung sich bis zu einem Höhepunkt würde entwickeln können, der die Freundschaft zwischen den Beteiligten in Gefahr bringen konnte. »Wenn Kalathee weiß, daß ich sie begehre«, rief Nottr mürrisch, »warum tut sie dann, als sei ich aussätzig?« »Willst du etwa eine ehrliche Antwort?« wollte Steinmann Sadagar wissen. Er grinste spöttisch, aber sein Gesichtsausdruck war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. »Ja, natürlich!« »Die Weiber«, erklärte er, »wissen nicht, was gut für sie ist. Die bleiche Kalathee denkt nur an Mythor. Eines Tages wird sie einsehen, daß sie einen Fehler begangen hat. Dann mag es vielleicht zu spät sein. Aber vielleicht auch nicht. Kurzum, Freund Nottr, du mußt viel Geduld haben.« Die Finsternis und das Bewußtsein, die einzig lebenden Wesen inmitten einer leblosen Umgebung zu sein, schufen zwischen den zwei Kampfgenossen eine seltsame Vertrautheit. Sie würde am Morgen, wenn es hell wurde, vielleicht vorbei sein. Jetzt aber suchte jeder von ihnen das Gefühl der ungreifbaren Ängste loszuwerden, indem er mit dem Gegenüber die eigenen Nöte besprach. »Geduld? Wie lange?« »Keine Ahnung. Vielleicht ist der Tag nicht fern.« »Welcher Tag?« »Der Tag, an dem Kalathee in wilder Leidenschaft zu dir entbrennt. Oder der Tag, an dem du stirbst. Oder derjenige, an dem sie verschwunden ist. Irgendein Tag, Nottr. Und viel-
leicht findest du schon morgen oder übermorgen eine andere Frau, für die dein Herz brennt wie ein Feuer.« »Das glaube ich nicht.« »Glauben oder nicht: Alles ist möglich.« Die Kurnis raste auf dem Kamm einer Welle dahin wie ein Vogel. Das Jaulen des Windes ließ nach, jedes Wort der Unterhaltung klang auf einmal doppelt so laut. Dann schwang sich das Schiff hinunter in das Wellental, bohrte den Bug in die Wassermasse und richtete sich ächzend und schwerfällig wieder auf. Eine Wasserflut kam von vorn, brach sich am Mast und zersprang in kleine Wasserarme, die nach den beiden Männern griffen und sie vom Deck fegen wollten. Die Finger der Steuermänner krallten sich um das Ruder, die Kleidung sog sich voller Wasser, und Nottr und Sadagar federten die Stöße mit den Knien ab. Sie wischten sich mit den kalten Unterarmen Wasser und Angstschweiß aus den Gesichtern. Schließlich, nachdem das Boot wieder einigermaßen ruhig lag, stöhnte Nottr auf. »Wäre Mythor nicht mein Freund… ich brächte ihn um.« Die Erregung hatte ihn gepackt. »Myhtor ist dein Freund. Er wird Kalathee nicht anrühren«, rief Sadagar. Er sah keine Möglichkeit, Nottr zu helfen oder dessen starren Sinn zu brechen. Immerhin versuchte er es. »Wenn du zornig bist, so sei es zu Kalathee. Um sie kreisen deine Gedanken!« »Du hast recht.« Obwohl sie jede Stunde verfluchten, die sie am Steuer standen, wußten sie dennoch, daß Mythor schlafen und sich erholen mußte. Seit sie aus den Kavernen und Stollen mitten in Nyrngor aufgetaucht waren, hatte es kaum Gelegenheit gegeben, sich auszuruhen. Für Mythor war diese Fahrt die erste wirkliche Gelegenheit. Sie schworen sich, durchzuhalten. Wenn nicht Ungeheuer aus der Meerestiefe auftauchten oder Dämonen sich aus der stürmischen Nacht auf das Schiff stürz-
ten, würden sie die Kurnis steuern. Das Segel war festgezurrt; die Leinen brauchten nicht angezogen oder gelockert werden. Stunde um Stunde verging. Sadagar und Nottr hingen ihren Gedanken nach. Der Mond beschrieb seinen Weg über ihnen und sank hinter den Horizont. Die Sterne verblaßten, und im Osten breitete sich ein blaßrotes Band Helligkeit aus. Die Höhe der Wellen und die Kraft des Windes blieben gleich. Zum erstenmal an diesem Tag sahen Sadagar und Nottr wieder Land. Es war grau und braun, eine Kette von Felsen, die sich von Südwest nach Nordnordost erstreckten. Die Brandung brach sich an ihnen und vor den kleinen steinernen Inselchen. Vom Schiff aus erkannten sie deutlich die zerstäubenden Wassermassen, die einen weißen Saum bildeten. Das Morgenlicht wurde stärker. Der Streifen änderte seine Farbe. Erste Lichtblitze schossen hinter dem fernen Ufer waagrecht über das belegte Meer. Drei Viertel des Himmels blieben von einer grauen Wolkendecke verborgen. Suchend bewegten Nottr und Sadagar die Köpfe und blinzelten mit geröteten Augen rundum. Es war nicht gleich auszumachen, ob die flach einfallenden Sonnenstrahlen nur eine große Welle, einen treibenden Gegenstand oder tatsächlich zwei Schiffe am Westhorizont anstrahlten. Sadagar stieß Nottr an und deutete darauf. »Was siehst du?« krächzte er und schüttelte Salzkristalle aus dem Haar. Schweigend starrte der Lorvaner auf die bezeichnete Stelle und gab dann zurück: »Schiffe. Zwei Schiffe. Sehr weit weg.« Immer dann, wenn sich die Kurnis auf einem Wogenkamm befand, sahen sie die Rümpfe und die Segel deutlicher. Es waren schwarze Schiffe oder solche, deren Rümpfe und Segel in einer anderen, sehr dunklen Farbe gehalten waren. Die Schiffe hingen schräg im Wind und fuhren einen anderen Kurs.
Aber ihre Bugspriete deuteten auf einen Punkt, der weit voraus auf dem Kurs des kleinen Bootes lag. »Caer-Schiffe, nicht wahr?« »So scheint es.« Ein Funkeln oder Blitzen hoch in der Luft lenkte die Blicke der Männer ab. Hoch über ihnen schwebten drei große Vögel mit weißem Gefieder ruhig im Westwind. Je mehr Sonnenlicht über die Hügel kam, desto deutlicher wurde der Eindruck, daß es nicht große Vögel waren, die ziemlich hoch flogen, sondern riesige Kreaturen, die in noch größerer Entfernung von der Wasseroberfläche suchend kreisten. »Wir sollten Mythor wecken«, schlug Sadagar schließlich vor. »Mir gefällt das nicht.« Die Kreaturen wirkten, als seien sie auf der Suche nach Nahrung. Die Phantasie der zwei Steuerleute ließ die Tiere noch größer und gefährlicher werden. Die zwei Schiffe jedenfalls blieben auch ohne besondere Einbildung eine deutliche Gefahr. Sadagar stieß hervor: »Die Kurnis ist ein kleines Schiff, und die Leute dort müssen in die Sonne schauen. Bisher haben sie uns sicher noch nicht bemerkt.« »Sie werden uns sehen, wenn sie näher gekommen sind. Und sie sind verdammt schneller als wir.« »Richtig. Halte du das Steuer!« Der kleine Mann, dessen weißblondes Haar ihm triefend naß in die Stirn hing, tastete sich an der Reling und den Tauen des Niedergangs nach unten, wurde von einem Stoß über die halbe Breite des Decks geschleudert und fiel schwer gegen die Tür. Er richtete sich fluchend auf und verdammte seine geringen Körperkräfte. Er riß die Tür auf und schwankte in das Gelaß hinein. Mythor blickte ihn an und gähnte breit. »Wenigstens ich ha-
be gut geschlafen«, sagte er und bemerkte, daß die beiden Frauen auf den anderen Lagern schliefen. »Und ihr habt das Schiff gut gesteuert?« »Bis jetzt. Land ist in Sicht. Zwei Caer-Schiffe werden unseren Kurs kreuzen. Und über uns drehen riesige Vogelwesen ihre Kreise.« »Ein schöner Morgengruß«, bemerkte Mythor, der im Kettenhemd geschlafen hatte. Er stand auf und glich geschickt das Schwanken des Schiffes aus. »Ich habe furchtbare Träume gehabt. Lauter Scheußlichkeiten.« »Hoffentlich werden deine Träume nicht wahr«, schränkte Steinmann Sadagar ein und deutete zur Decke. »Wir haben diesen zwei Schiffen und den Vögeln nicht viel entgegenzusetzen.« »Unsere geringe Größe«, sagte Mythor und senkte die Stimme, als er das Schwert packte und sich den wärmenden Umhang über die Schultern warf, »ist die beste Verteidigung.« Sadagar folgte Mythor hinaus aufs nasse Deck. Die Sonnenstrahlen wärmten ein wenig; unter ihnen stieg vom lassen Holz ein dünner Nebel auf. Mit einem Satz schwang sich Mythor hinauf zu Nottr. Seine Augen folgten dem ausgestreckten Arm des Lorvaners. »Tatsächlich«, sagte Mythor nach einer Weile. »Ich sehe für uns nur eine Möglichkeit. Flucht ans Ufer.« »Zwischen die Felsen? Sie werden uns zertrümmern!« rief Nottr aus. »Aber dorthin werden uns die Caer-Schiffe nicht folgen können. Ihr Kiel liegt tiefer als die Kurnis.« Mythor packte Nottr am Arm und zog ihn vom Ruder weg. Die drei schwebenden Riesen waren näher herangekommen und flogen in geringerer Höhe. Für Mythor wirkten sie wie gigantische Fledermäuse von weißer Farbe. Sie waren unglaublich geschickte Flieger, die jede Veränderung des Windes
ausnützten. Im Gegenteil zu den nächtlichen Insektenfressern aber waren ihre Schädel wie die von Reptilien geformt. Im Sonnenlicht warfen die Krallen und die Zähne winzige, blitzende Reflexe. Ihre Flugkreise waren weit auseinandergezogen, aber unzweifelhaft konzentrierten sie sich auf das kleine Schiff. »Es sind riesige Kreaturen!« murmelte Mythor. »Das Meer der Spinnen hat schauerliche Bewohner. Auch wenn sie von den Küsten kommen dürften.« »Von dort kamen sie«, bekräftigte Sadagar. »Was geschieht, wenn sie sich auf uns stürzen? Ihre Krallen können das Segel zerfetzen. Wenn sie uns packen…« »Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen«, sagte Mythor. »Wir werden uns bewaffnen. Die Frauen sollen das Deck nicht betreten.« Er bewegte das Ruder. Die Kurnis legte sich über, aber sie gehorchte dem Druck des Ruders. Mythor schätzte die Entfernung bis zum Land ab. Dabei sah er die gischtenden Wellen, die an die Uferfelsen prallten und daran wie weiße Flammen hochleckten. Von Elivara wußte er, daß die Küste in weiten Teilen zerklüftet, seicht und gesäumt von kleineren und größeren Inselchen war. Der Kurs des Bootes änderte sich. Es lief jetzt fast genau nach Osten. Nottr zurrte das Segel in einer anderen Stellung fest. Jetzt schien es, als flüchte die Kurnis vor den schwarzen CaerDreimastern. Natürlich sagte sich Mythor, es sei noch lange nicht sicher, daß die Caer sie verfolgen würden, falls sie des Bootes ansichtig wurden. Aber das springende Einhorn im Sonnenkreis war das Wappenzeichen der königlichen Familie von Nyrngor, und sicher wußte jeder Caer-Kommandant, daß Nyrngor erobert werden sollte. Wohin die Dreimaster unterwegs waren, ließ sich nicht einmal erraten.
Die Kurnis schnitt jetzt nicht mehr die Wellen, sondern bewegte sich im spitzen Winkel zu den Tälern und Kämmen. Die Stöße, die Gischtwolken und die Geräusche kamen nun stärker und angsteinflößend häufig. Nur der Wind von achtern verhinderte, daß Nottr und Mythor triefend naß wurden. Immer wieder hob sich der Bug so weit aus dem Wasser, daß es aussah, als werde das Boot kentern. Nach einem endlosen Augenblick, in dem das kleine Schiff zu schweben schien und das Wasser gierig nach dem Heck griff, senkte sich der Bugspriet, der hochgezogene Kiel krachte mit einem hallenden Dröhnen in die Wellen. Eine Gischtwolke sprühte hoch, teilte sich und prasselte rechts und links auf das Deck. Die Tropfen, die ins schwere Segel schlugen, klangen wie Geschosse. »Mann!« schrie Nottr kopfschüttelnd. »Entweder bist du tollkühn, oder du kannst wirklich steuern!« »Keines von beiden«, brüllte Mythor zurück. »Nur verzweifelt und auf der Flucht.« Er blickte nach oben. Die drei riesigen weißen Flugdrachen oder wie immer diese Kreaturen genannt wurden, zogen fünfzehn Mannslängen über dem Wasser enger werdende Kreise um das Boot. Sonnenlicht brach sich auf den Enden ihrer Schwingen. Die Tiere stießen gellende Schreie aus, die fast wie Pfiffe klangen und mühelos das Heulen des Windes in der Takelage übertönten. Immer wieder warfen sie ihre spitzen Schädel herum und musterten die Männer an Deck. Mythor winkte Nottr und rief: »Hol jetzt deine Waffen! Sadagar soll auch meine Waffen bringen. Ich glaube, die Tiere sind hungrig.« »Glaub’ ich auch«, gab Nottr zurück und verschwand hinter dem Niedergang. Mit dem Fuß löste Mythor eine Taurolle und versuchte gleichzeitig das schlagende Ruder zu halten und sich am Gürtel und am Eckpfosten der Reling anzubinden. Endlich kam
Sadagar und schleppte König Carnens Helm, den Schild und das Gläserne Schwert mit sich. Er half Mythor, die Waffen anzulegen. Warm und vertraut schmiegte sich der Griff des Schwertes in Mythors Finger. Sadagar trug die Beutewaffen und Teile der Rüstung, die er beim Durchbruch aus der Umklammerung der Caer getragen hatte. Auch er band sich auf Geheiß Mythors fest. Sie waren bereit und warteten. Drei Männer, die sich im Heck angeseilt hatten, wandten die Schwerter und Schilde den fliegenden Bestien zu. Jetzt, als sie nahe genug heran waren, erkannten die unfreiwilligen Seeleute auf den Schwingen und Körpern der Kreaturen lange Narben, zackige Risse und sogar einen abgebrochenen Pfeil, der in einem Muskel eingewachsen war. Mythor murmelte: »Bei Erain! Sie haben schon viele Kämpfe bestanden.« Die Rachen der Bestien öffneten sich wie zu lautlosen Schreien. Lange Schlangenzähne funkelten auf. Die Sonne, zwei Handbreit über dem Land und dem weißen Streifen der hochgeschleuderten Wellen, wurde immer wieder verdunkelt, wenn einer der riesigen Körper vor ihr vorbeischwebte. Die Wesen waren doppelt mannsgroß, und ihre Schwingen schienen so lang zu sein wie vier erwachsene Männer. Mythor schüttelte sich schaudernd, als das erste Untier auf das Heck zuschwebte, die Schwingen hochkippte und zwei riesige Greifkrallen nach vorn streckte. »Nehmt ihnen die Lust an dieser Beute!« schrie Mythor, wuchtete den Arm mit dem Wappenschild in die Höhe und schwang sein Schwert. Das Wimmern des Windes verschluckte das stöhnende Geräusch Altons. Sofort, kaum daß er das Ruder losgelassen hatte, drehte sich die Kurnis aus dem Wind. Das Segel knallte und schlug. Die weiße Riesenbestie kam zwischen den Wanten und der pen-
delnden Rah hindurch, stürzte sich flügelschlagend auf die Männer und wurde von zwei blitzenden Schwertern und einem geschwungenen Beil empfangen. Eine Kralle fuhr über Mythors Schild, zog mit kreischendem Geräusch eine tiefe Rille und schleuderte Mythor drei Schritte zurück. Sein Schwerthieb traf nur die Haut des Tieres und schlitzte sie armlang auf. Nottrs Hieb ging ins Leere. Mythor griff sofort wieder nach dem Ruder, warf sich mit der Brust dagegen, und noch ehe das Schiff seine Fahrt ganz verloren hatte, drehte er es wieder in den Wind. »Achtung! Hinter dir!« Sadagars heulender Schrei alarmierte Mythor. Er duckte sich und hob den Schild über den Kopf. Über sich und vor sich sah Mythor eine riesige Fläche aus Muskeln, dicken Adern, aus blitzenden Krallen und schuppenartiger Haut. Alton stach senkrecht nach oben und bohrte sich in eine harte Schicht. Waren es Knochen oder die ledernen Schwingen? Mythor sah nichts, denn die Kreatur packte den Schild mit den Krallen und riß den Krieger von den Füßen. Nottr und Sadagar sprangen hinzu und schlugen auf die Krallen und Klauen ein. Das Wesen stieß einen ohrenbetäubenden Pfiff aus, der die Männer für einen kurzen Moment erstarren ließ. Wieder schwang Mythor das Gläserne Schwert und stach seitlich des schützenden Schildes in den Körper des Tieres. Aus den Wunden schoß seltsam hellrotes, dünnflüssiges Blut und tropfte auf das Deck. Das Geschöpf schlug wie rasend mit den Schwingen, pfiff und erhob sich auf der Stelle, den wilden Hieben der drei Männer ausweichend, aber gleichzeitig nach ihnen schnappend. Die Zähne des Untiers schlugen mit dem Geräusch klirrender Dolche gegeneinander. Mythor sprang auf, hielt noch immer den Schild über den Kopf und ergriff ungeschickt das Ruder. Wieder schwenkte die Kurnis auf den Kurs ein und wurde
schneller. Der Vogel blieb zurück und strich dicht über den Wellen ab. Ein rascher Blick zeigte Mythor, daß sich die Caer-Schiffe entfernt zu haben schienen. Gleichzeitig kam das Ufer näher. In geringer Entfernung brachen sich Wellen an kleinen Hindernissen aus Stein, die nur dann aus dem Wasser ragten, wenn sich ein Wellental über ihnen senkte. Die dritte Kreatur kam im Steilflug heran. Sie griff, ohne zu kreischen, an. Ihr Schädel, ihre Krallen und fingerartigen Klauen an den Flügelenden waren nach vorn gestreckt und öffneten sich. Das Segel bewegte sich unter dem Flügelschlag. Wie ein Geschoß stürzte sich die Kreatur auf die Person, die mitten auf dem Deck stand und das Schwert schlagbereit hochhielt. Wieder packte der Wind das Schiff und wirbelte es herum. Der Schädel des Untiers krachte gegen den Schild. Die Fänge schlugen in das schichtweise aufeinander befestigte Material, glitten ab und packten ein zweites Mal zu. Mythors Schwert traf eine Klaue. Die Spitze schlitzte die Schwinge auf. Das Tier schrie, versuchte seine Zähne zu lösen und schüttelte den Kopf. Von der Bewegung wurde Mythor mitgerissen und über das Deck hin und her geschleudert. Sadagar und Nottr schlugen auf die Flügelenden ein, die nach allen Richtungen über das Holz peitschten und die Speichen der Reling splittern ließen. Das Schiff trieb immer näher an die ersten Felsen heran. Knirschend bohrte sich die Schneide der Axt in ein Flügelgelenk. Das Untier schrie wie rasend auf und schlug mit den Krallen um sich. Die drei Männer sprangen hin und her, wichen den zuschnappenden Kiefern aus und versuchten, das Tier an die Reling zu drängen. Immer wieder rutschten sie auf dem schlüpfrigen Deck aus. Wieder kam ein Brecher über und wusch das Blut von den Planken.
Mythor hieb eine tiefe Kerbe in den Schädel des Angreifers. Das weiße, blutbedeckte Geschöpf wehrte sich verzweifelt. Die Schwingen peitschten über das Deck. Späne und Spreißel flogen nach allen Seiten. Der blutende Kopf des Untiers schlug auf das Steuerruder, der Schwanz hämmerte gegen das Holz. Mit wilden Hieben versuchten die drei Männer, das Tier über das Heck ins Wasser zu treiben. »Wir schaffen es!« keuchte Mythor, wich einem Schwingenhieb aus und stach mit der Schwertspitze in den schuppigen Hals. Das Wesen bäumte sich auf, sprang über die Reling und blieb mit der hinteren Hälfte des Körpers hängen. Ein Flügel verklemmte sich in den Speichen der Reling und brach. Mit einem Beilhieb durchtrennte Sadagar fast den zuckenden Schwanz des Tieres. Nottr packte die Schwinge und wuchtete sie über die Barriere. Das Tier zuckte hin und her und stieß ununterbrochen gellende Schreie und Pfiffe aus. Dann machte es eine letzte Anstrengung, sich wieder in die Luft zu erheben. Mit verkrampften Bewegungen schob und zerrte die Kreatur ihren Körper ruckweise über die Reling. Mythors Fuß schnellte hoch und beförderte das sterbende Tier mit einem wuchtigen Tritt ins Wasser. Sofort stürzten sich die zwei anderen Flugdrachen, die unablässig die Kurnis umkreist hatten, auf ihren Artgenossen. Mythor ließ Schild und Schwert sinken, sprang zum Ruder und riß es herum. Das Boot wurde von einer Welle hochgehoben und trieb auf den schäumenden Halbkreis zu, der sich um eine ausgezackte Felsnadel bildete. Auf dem Kamm der Welle kippte es nach Backbord. Der Mast mit dem winzigen Ausguck neigte sich so stark, daß die Rah eintauchte. Haarscharf glitt die Bordwand am Felsen vorbei. Mythor wartete auf das scharrende Geräusch, auf das Krachen der Planken, auf das Reißen des Segels. Nichts von alledem geschah. Der Mast kippte zurück
nach Steuerbord, die Rah tauchte auf. Mythor beugte sich weit über die Reling, änderte den Kurs des Bootes wieder nach Norden und sah überall rechts von sich kleinere und größere Felsen. »Hoffentlich übersehe ich keinen Felsen, der unter Wasser liegt.« »Sie zerfetzen ihren Artgenossen!« schrie Sadagar aufgeregt. »Vor diesen Bestien haben wir Ruhe.« Zuerst mußte Mythor die Kurnis aus dem gefährlichen Bereich bringen. Er schrie den Freunden Befehle zu. Sie hangelten sich hinunter zu den Leinen und änderten abermals die Stellung des Segels. Das Boot wurde in leichtem Zickzack zwischen den einzelnen Wirbeln und schäumenden Stellen hindurchgetrieben und schien wieder freies Wasser zu gewinnen. Dann erst kümmerte sich Mythor um die Flugbestie, die beinahe einen von ihnen getötet hätte. Die beiden anderen Untiere flogen hoch, kippten abwärts und schossen auf den weißen Kadaver zu, der im Wasser schwamm. Mit den Zähnen und Klauen rissen sie blitzartig große Brocken aus dem Körper, ohne tief ins Wasser einzutauchen. Im Flug verschlangen sie die Beute und tauchten wieder abwärts. Das Meer um den Kadaver färbte sich blutigrot. »Es scheint, als seien sie abgelenkt«, gab Mythor zu, als (die Kurnis wieder auf Kurs lag. »Die Caer-Schiffe aber sind nicht abgelenkt.« Zuerst hängte er den Schild an einen Haken, schob Alton in den Gürtel, dann löste er den Knoten des Seils. Zwei Bogenschüsse weit entfernt lag das Ufer an Steuerbord. Immer wieder tauchten kleine, vom Wasser umspülte Felszacken auf. Mythor steuerte das Boot noch etwas mehr vom Ufer weg und blickte nach Backbord voraus. Dort zeichneten sich gegen den hellen Hintergrund der Wolken die schlanken schwarzen Rümpfe ab und die Segel der gleichen Farbe. Die Caer-
Dreimaster steuerten einen Punkt an, der weit nördlich des jetzigen Standorts der Kurnis lag. Keuchend kamen Nottr und Sadagar wieder aufs Heck zurück. »Jetzt könnten wir eigentlich schlafen«, sagte Sadagar. »Aber der Kleine Nadomir, den ich unablässig angerufen habe, sagt, daß die Caer Böses im Schilde führen.« »Pah! Nadomir«, sagte Nottr. »Das weiß ich auch ohne Geist. Die Caer führen immer Böses im Schild.« Mythor lachte heiser. »Aber ihr könnt zu Kalathee gehen und zu Elivara. Es gibt sicher etwas zu essen und einen Schluck Wasser. Und ein trockenes Tuch für eure Gesichter.« »Und du?« Mythor blickte in die Richtung der beiden Schiffe, die in geringem Abstand hintereinander segelten. »Ich versuche, das Schiff unter Land zu halten. Vielleicht denken sie, wir sind arme Fischer, die es nicht zu überfallen lohnt. Und wenn sie es dennoch wagen, steuere ich wieder zwischen die Felsen hinein.« Sadagar rammte seine Axt in einen Spalt und trat sie mit der Ferse fest. Dann nickte er Mythor zu und winkte Nottr. Einträchtig tappten und schwankten sie vom Achterdeck hinunter und verschwanden in der Kabine. Der Wind war in der Nähe des Landes etwas weniger heftig. Das Boot wurde langsamer, die stampfenden und schaukelnden Bewegungen ließen nach. An Backbord tauchte eine kleine Insel auf, nicht mehr als eine runde, von einigen zerzausten Pflanzen bewachsene Kuppe. Mythor steuerte zwischen ihr und dem Festland hindurch. »Das Meer der Spinnen«, sagte er zu sich selbst, »eine seiner gefährlichen Überraschungen hat es bereits ausgespien. Ich ahne, daß es nicht die letzte auf dieser Fahrt sein wird.« Das Inselchen und andere, kleinere Hindernisse an Steuer-
bord brachen den Wind. Das Boot, als es sich in der kleinen Passage befand, wurde zum zweiten Mal langsamer. Mythor lächelte stumm; ein zusätzlicher Vorteil gegenüber den CaerDreimastern. Er hielt das Schiff auf demselben Kurs und entspannte sich. Er zog den Pelzumhang dichter um seine Schultern und stützte sich auf das Ruder. Ständig gingen seine Blicke zwischen den zwei Schiffen und der wechselnden Kulisse des Ufers und den vorgelagerten Hindernissen hin und her. Die Position der Caer-Schiffe verschob sich unendlich langsam. Bis vor kurzem hatten sie sich backbords voraus befunden. Jetzt lagen sie mehr geradeaus. Das konnte bedeuten, daß sie das kleine Segel nicht gesehen oder ihm keine Bedeutung zugemessen hatten. Vielleicht hielten sie ihren Nordostkurs bei und verschwanden schon zur Mittagsstunde hinter den Wellenkämmen am Horizont. Nach einer Weile kam Königin Elivara an Deck. Sie blieb neben Mythor stehen. Er legte einen Arm um ihre Schultern, blickte in ihre bernsteinfarbenen Augen und sagte: »Du siehst wieder so aus, wie ich dich in Erinnerung habe. Der Schrecken ist vorbei.Wie fühlst du dich?« Sie schien jeden Atemzug der frischen, feuchten Seeluft zu genießen. Ihr dunkelbraunes Haar war hochgesteckt worden. Tatsächlich bemerkte Mythor keinerlei Spuren des Bestienhelms mehr. »Mein Held«, sagte sie. »Kalathee und Sadagar haben mir alles berichtet. Du hast mich ein zweites Mal gerettet.« »Ich hatte keine andere Wahl«, versetzte er. »Nicht, daß ich mir nichts Schöneres vorstellen könnte als diesen Zwischenfall mit Aerinnen, der jetzt tot ist.« »Ich habe daran eine Erinnerung wie an einen wüsten Alptraum«, gestand Elivara. »Und ich beginne zu zweifeln, ob Sklutur etwas ausrichten kann.« Der große Ring in ihrem rechten Ohr schaukelte heftig, als
sie sich herumdrehte und ihre Arme um Mythors Nacken legte. »Ich danke dir, Mythor!« flüsterte Elivara an seinem Ohr. »Ich mußte es einfach versuchen. Ich bin froh, daß sich das Risiko gelohnt hat. Alles hätte ganz anders ausgehen können. Aber ein wenig Glück hatten wir.« »Das ist sicher.« »Wenigstens haben wir jemanden, der uns den Kurs zeigen kann«, schwächte Mythor ab. »Du kennst hoffentlich den Weg zum Mammutfriedhof?« »Leidlich. So wie hier ist es fast überall. Aber der Kurs, den du steuerst, ist gefährlich.« Er runzelte die Stirn. »Wegen der Felsen und der vorgelagerten Inseln?« »Das Fahrwasser ist heimtückisch. Viele Schiffe sind gescheitert und zerbrochen.« »Also können uns die Caer-Schiffe nicht hierher folgen, selbst wenn sie unser kleines Segel sehen«, sagte er mit Bestimmtheit. »Das ist allerdings richtig.« Wieder begannen sich im Westen und Südwesten dunkle Wolken zusammenzuballen. Die strahlende Sonne, die immer wieder ihre Augen blendete, kletterte höher. Eine schwache Illusion von Wärme, mehr konnte sie nicht hervorbringen. Aber die Sicht war hervorragend. Mythor, der rechts und links und unterhalb des Segels nach vorn spähte, konnte deutlich unterscheiden zwischen gischtenden Wellenkämmen und solchen Erscheinungen, die auf verborgene oder schwach sichtbare Felsen hindeuteten. Noch immer schwang das Boot hin und her und wich den Hindernissen aus. »Sie haben sich hervorragend gehalten«, sagte Mythor nach einer Weile und deutete nach unten. »Die Schrecken des Meeres haben sie nicht stumm und reglos gemacht. Schlafen Steinmann Sadagar und Nottr?«
Elivara nickte. »Die beiden haben gegessen. Kalathee hat sich rührend um mich gekümmert. Von ihr weiß ich auch, was in den letzten Stunden vorgefallen ist. Aber wie können wir Nyrngor helfen?« Er hob die Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Wir müssen jedes Gespräch darüber verschieben, bis wir den Mammutfriedhof erreicht haben.« Ab und zu sprang ein Fisch aus dem Wasser. Vögel jagten zwischen Ufer und den Inseln nach Eßbarem; kleine weiße Sturmsegler, die im Wasser schwammen und sich daraus wieder erhoben. Sie waren ungefährlich, und darüber hinaus schien ihre Anwesenheit zu sagen, daß sich keine gespenstischen Wesen im Wasser verbargen. Die zwei Caer-Schiffe blieben auf Kurs und wurden kleiner. Die Ufer waren leblos. Es gab weder Feuer noch Rauchsäulen und auch keine Spuren von irgendwelchen Uferbewohnern Dandamars. Sicher und mit guter Fahrt zog die Kurnis auf ihrem Kurs dahin. Noch immer stampfte und schaukelte das Boot, aber die Momente der Furcht waren vergessen. Das kleine Schiff hielt sich tapfer vor dem Wind. »Habe ich recht, wenn ich glaube, daß Nottr in Kalathee verliebt ist?« erkundigte sich Elivara später. »So ist es. Aber sie nimmt wenig Notiz von dieser Leidenschaft. Nottr ist verzweifelt. Nur Kampf kann ihn von seinen trüben Gedanken abhalten.« »Oder ein tiefer Schlaf, hoffen wir es«, antwortete Elivara. Wieder schwiegen sie und fühlten die Bewegungen des Schiffes. Die Sonne brannte auf ihren Gesichtern. Vor dem Schiff flatterte ein Schwarm Seevögel auf und strebte dem Ufer zu. Die Wolken weit hinter ihnen wurden dunkler und breiteten sich aus. Das Schiff hinterließ eine breite, flüchtige Schaumspur zwischen den Felsen. »Wenn ich diese Wolken richtig deute«, sagte Mythor und
schüttelte sich, »dann gibt es einen Sturm, dem wir nicht entkommen können. Er wird uns nach Norden treiben. Ich glaube, daß wir einen schauerlichen Abend und eine furchtbare Nacht vor uns haben. Die Wolken verdecken den Mond und die Sterne.« »Vielleicht sollten wir am Ufer ankern?« »Ohne Hafen? Ohne den Schutz einer Bucht? Ich glaube, wir sind besser dran, wenn wir heute, später, diese Zone verlassen und uns weiter aufs offene Meer hinauswagen. Hat uns die vergangene Nacht nicht umgebracht, werden wir auch diese Nacht überstehen.« Elivara lehnte sich an die Reling, die Spuren des letzten Kampfes aufwies. Die Königin sagte laut: »Seltsam. Ich fürchte mich nicht. Vielleicht macht das deine Nähe aus.« »Überschätze mich nicht. Ich bin ein Wanderer und auf der Suche. Für eine Weile verlaufen unsere Wege miteinander«, antwortete Mythor. Der Wind wehte über dem kargen Ufer Staubfahnen in die Luft und trug sie davon. Das Sonnenlicht glänzte auf den Wellen. Aber mehr und mehr nahm es einen scharfen, bösen Glanz an. Nur noch ein Drittel des Himmels war frei und zeigte strahlend blauen Himmel. Der Rest war ein Brodeln und Zusammenballen von dunklen Wolken und schwarzem Nebel. Es war, als bereite sich das Meer auf einen vernichtenden Schlag vor. Das Meer schien unendlich groß, und die Kurnis war so klein und hilflos. Aber jetzt, in dieser Stunde, herrschte noch Friede. Die erschöpften Gefährten ruhten sich aus, während Elivara und Mythor das Schiff steuerten. Mythors Helm baumelte neben dem Wappenschild und schlug bei jedem Aufbäumen des Schiffes gegen das Metall. Die Caer-Dreimaster waren nur noch dunkle Punkte am Horizont. Aus dieser Richtung drohte keine Gefahr.
»Warum lächelst du, Mythor?« fragte Elivara nach einer Weile. Sie hatte sich, in ihren Mantel gehüllt, in einer windgeschützten Ecke hingekauert und lehnte sich an die massive Reling. Die Gischtspritzer gingen über sie hinweg, ohne sie zu durchnässen. »Habe ich das?« fragte er zurück. Seine Gedanken waren an ganz anderen Orten gewesen. In der Vergangenheit, die so kurz und abenteuerlich war, und in der Zukunft, die groß und dunkel vor ihm lag. Er dachte an die Prüfungen, die ihm bevorstanden, und an Althars Wolkenhort, an das Pergament über seiner Brust und vieles andere. Nur nicht an den Friedhof der Mammuts. »Nun«, versuchte er eine Erklärung, »ich habe gelächelt, weil ich lebe, mitten im Sonnenlicht und auf dem Meer, das ich nicht kenne. Es ist so etwas wie Dankbarkeit, ich weiß allerdings nicht, wem gegenüber. Vielleicht dem Schicksal. Gleichzeitig freue ich mich auf den Moment der Landung, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. Und schließlich freue ich mich darüber, daß du hier sitzt und mich fragst, warum ich lächle.« Jetzt lächelte auch Elivara. Sie war jung genug, trotz der Erinnerung an die letzten Tage den Augenblick zu genießen. »Du hast recht«, sagte sie schließlich. »Wir sollten nicht an Gefahren denken, die wir noch nicht kennen.« Aber bei allem wußten sie, daß diese Stunde in Wirklichkeit ein Geschenk war. Früher oder später würde die Wirklichkeit wieder jeden von ihnen einholen und zwingen, bestimmte Dinge zu tun. Dinge, an die niemand dachte, weil sie unvorstellbar waren und in vielen Fällen das Werk dunkler Mächte aus der Schattenzone. Mythor wischte sich einen Spritzer Salzwasser aus dem Gesicht und bewegte das Ruder nach Steuerbord. Noch hatte sie der Sturm nicht ergriffen.
Hans W. Wiener
DER MAMMUTFRIEDHOF Das Meer der Spinnen lag ruhig. Nur langsam und zögernd dämmerte der neue Tag. Ganz allmählich erhellte sich der östliche Horizont. Die Nachtvögel beendeten ihre Kreise. Mit schweren Flügelschlägen wandten sie sich der Küste zu und suchten ihre Verstecke. Noch hing dichter Herbstnebel über dem Wasser. Er verbarg das dandamarische Ufer und hüllte auch die Flotte der flachen Boote ein, die sich in schneller Fahrt der Küste näherten. Die Flotte bestand aus dreizehn schnellen Booten. Bei allen war der Bug hochgezogen und mit einem hölzernen Drachenkopf verziert. Die Augen der Ungeheuer leuchteten im Dämmerlicht auf und waren starr nach vorn auf die Küste gerichtet. Vierundzwanzig Ruderer trieben die Boote an, zwölf auf jeder Seite. Im Heck stand ein Steuermann und umklammerte das hölzerne Seitenruder. Bärtige Gestalten hockten auf den Ruderbänken. Ihre Gesichter waren von Narben entstellt. Ihre Augen funkelten kriegerisch. Rotblondes Haar umwehte in Strähnen ihre Stirn. Obwohl der Morgen noch kühl war, lief ihnen der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Die meisten trugen Helme aus grobem, ungegerbtem Leder. An den Seiten waren sie mit Stierhörnern versehen. Um ihre Hüften schlangen sich breite Ledergürtel und hielten die dicken Pelze zusammen, die sich die Männer um die Oberkörper geschlungen hatten. In kleinen Schlingen der Gürtel steckten die Waffen, Schwerter, Dolche und Streitäxte. Mit rhythmischen Rufen trieb der Steuermann die Ruderer an. Diese dumpfen Rufe, das leise Knirschen der Riemen in
den Dollen, das schwere Atmen der Ruderer und das leise Plätschern der Bugwelle waren die einzigen Geräusche dieses frühen Morgens. Am Bug des ersten Bootes stand ein Hüne von einem Mann. Ein schwarzer Bart umrahmte sein Gesicht. Er stand breitbeinig und fest. Die linke Hand stemmte er, zur Faust geballt, in die Hüfte, die rechte lag auf dem Griff seines Schwertes. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt und wirkten fast blutleer. Um seinen Mund lag ein harter Zug. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Mit scharfem Blick versuchte er den Nebel zu durchdringen. »Lange wird es nicht mehr dauern, Keltur!« rief ihm der Steuermann vom hinteren Teil des Bootes zu. »Der Nebel verschwindet, sobald die Sonne aufgeht. Dann liegt Urguth schlafend vor uns… bereit, von uns genommen zu werden!« Der Angesprochene wandte leicht den Kopf. »Ich will die Stadt noch vor Sonnenaufgang erreichen«, erwiderte er. Seine Stimme klang hart und rauh. »Mein Arm sehnt sich nach neuer Betätigung, mein Schwert will neuen Kampf!« »Nicht nur das deine«, ergänzte einer der Ruderer. Zustimmendes Gelächter folgte den Worten. Die anderen Ruderer nickten. »Wir alle wollen kämpfen«, sagten sie. »Ihr werdet den Kampf bekommen«, versprach Keltur. Sein Blick war wieder nach vorn gerichtet. Dorthin, wo Urguth im Nebel liegen mußte. »Dann legt euch in die Riemen«, forderte der Steuermann. »Um so eher wird der sasgische Sturm über die Pfahlstadt hinwegbrausen!« * Im ersten Licht des dämmernden Morgens leuchteten die Wände der flachen Fischerhütten violett. Nebelfetzen wehten
vom Meer heran und verschleierten die bleichen, aus Knochen errichteten Bauwerke. Schmale Stege auf Pfählen, gedeckt mit den Schädelplatten gewaltiger Mammuts, verbanden die einzelnen Hütten. Ein leichter Wind bewegte die Fischernetze, die zwischen den Hütten zum Trocknen aufgespannt waren. Neben den Türen der Hütten hingen in knöchernen Gestellen Harpunen und Angeln. Boote, aus den Beinknochen riesiger Mammuts gefertigt, waren an die Stege angebunden. Die Boote waren nur so groß, daß sie eine Person tragen konnten. Die Dächer der Gebäude glänzten dunkel. Die Hütten raren mit Seetang gedeckt und mit Schilffasern verstärkt. Aus den niedrigen Kaminen kräuselten sich weiße Rauchwölkchen. Der Wind erfaßte den Rauch, vermischte ihn mit dem Nebel und trug ihn dem Land zu. Unter der Stadt bewegte sich das Meer der Spinnen in einer leichten Dünung. Flache Wellen umspülten die Pfähle aus ausgebleichten Mammutknochen, auf denen die gesamte Stadt errichtet war. Noch lag Urguth still und friedlich. Keiner der Fischer befand sich außerhalb seiner Hütte. Die Einwohner schliefen noch, während der neue Morgen dämmerte. Niemand bemerkte die dreizehn Boote, die wie dunkle Schatten weit draußen auf dem Meer der Spinnen aus dem Nebel auftauchten und sich der Pfahlstadt näherten. Es war die dritte Nacht, seit die Kurnis die gefallene Stadt Nyrngor verlassen hatte. Von Anfang an hatte ein günstiger Wind das Schiff nach Norden getrieben, und es hatte gute Fahrt gemacht. Dennoch war Mythor von Tag zu Tag unruhiger geworden. Es lag ihm nicht, untätig die Zeit verrinnen zu lassen. Er war ein Mann, der nicht warten konnte, wenn wichtige Aufgaben zu erledigen waren. Vieles lag noch vor ihm. Ein einziges Ziel hatte er bisher er-
reicht, sechs weitere mußte er noch finden. Erst dann konnte er ein Kämpfer der Lichtwelt werden. Inzwischen aber waren die dunklen Mächte längst auf dem Vormarsch. Nichts hatte bisher diese Mächte der Finsternis aufhalten können. Sie waren als Sieger aus jeder Schlacht hervorgegangen. Mit jeder Stadt und mit jedem neuen Gebiet, das ihnen in die Hände fiel, schien ihre Macht zu wachsen. Zu diesen Sorgen, die Mythor das Herz schwer werden ließen, kam noch eine andere Unruhe, die ihn gefangenhielt. Etwas, das tief in seiner Seele brannte und zu dem immer wieder seine Gedanken abschweiften. Manchmal gelang es Elivara mit ihrer Leidenschaft, ihn von seinen schweren Gedanken abzulenken. Doch all das verflog schnell wie ein Rausch und ließ die Sorgen anschließend um so größer erscheinen. Auch in diesem Augenblick, in dem Mythor an der Reling der Kurnis lehnte und den langsam dämmernden Morgen beobachtete, wanderte seine rechte Hand langsam unter sein Lederwams. Er fühlte das Pergament mit dem Bildnis der unbekannten Schönen, das ihn nicht mehr losließ. Seine Hand tastete über das Pergament, und obwohl er das Bild nicht sehen konnte, zogen seine Fingerspitzen sanft die zarten Linien nach, und er glaubte, das Antlitz dieser geheimnisvollen Frau spüren zu können. Voller Sehnsucht starrte Mythor auf die Wellen. Unzählige ungelöste Fragen zogen ihm durch den Kopf. Wer mochte diese Frau sein? War sie wirklich oder nur ein Traumbild? War sie vielleicht ein Dämon? Nur geschaffen, um ihn zu quälen? »Ist es eine Frau, die dein Herz schwer werden läßt?« fragte eine sanfte Stimme neben Mythor und ließ das Traumbild verschwinden. Kalathee hatte Mythor gesucht und war leise an Deck erschienen. Als sie ihn schließlich entdeckt hatte, hatte sie ihn
eine Zeitlang beobachtet. Sie spürte genau die tiefe Sehnsucht und Trauer, die ihn umfingen. Vielleicht, weil sie ähnliche Empfindungen verspürte wie er. Liebevoll legte sie die Hand auf den Arm des Kriegers. Sie sah ihm in die Augen und kannte die Antwort auf ihre Frage, noch ehe Mythor etwas sagen konnte. Schweigend standen beide dicht nebeneinander auf dem Schiff und sahen zu dem fernen dandamarischen Ufer hinüber, an dem sie seit Tagen entlangsegelten. Die Küste war immer kahler und zerklüfteter geworden, je mehr die Kurnis nach Norden vorgedrungen war. Bäume gab es dort schon längst nicht mehr, und auch kleinere Pflanzen fanden auf den kahlen Felsen kaum Halt für ihre Wurzeln. An manchen Stellen stürzten Bäche und Flüsse als gewaltige Wasserfälle über die Klippen ins Meer. Langsam bildete sich über dem Land ein schmaler Silberstreifen. Das Licht begann das Dunkel der Nacht zu verdrängen. Der helle Streifen breitete sich aus, wurde violett und tauchte schließlich den gesamten Himmel in ein feuriges Rot. Stumm sahen Mythor und Kalathee dem grandiosen Schauspiel zu. Beide ließen sich von ihren eigenen Sehnsüchten treiben. Ihr Schweigen wurde erst unterbrochen, als Elivara, die Königin von Nyrngor, von ihrem Lager im unteren Teil des Schiffes heraufstieg. Sie entdeckte Mythor und Kalathee an der Reling, beobachtete sie, und ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Bevor sie die beiden ansprach, wandte sie sich um, und ihre Augen suchten Nottr. Der Lorvaner stand am Heck der Kurnis und lenkte das Schiff. Auch er beobachtete Mythor und Kalathee. Doch verriet sein verschlossenes Gesicht nicht, was er dachte. Elivara stellte sich neben den Mast des Schiffes, breitete ihre Arme aus und atmete mit geschlossenen Augen tief die frische
Morgenluft ein. »Wir haben unser Ziel erreicht«, sagte sie laut. »Urguth liegt vor uns.« Sie deutete über den Bug nach vorn auf eine dichte Nebelwand, die über dem Wasser lag und auch Teile der Küste einhüllte. Kalathee war bei den plötzlichen Worten der Königin zusammengezuckt. Sie hatte sich so tief in ihre Gedanken und Wünsche versenkt, daß sie nichts anderes um sich herum bemerkt hatte. Jetzt warf sie Elivara einen Blick zu, in dem sowohl Ärger als auch Mißtrauen lag. »Bei Sonnenaufgang wird sich der Nebel auflösen«, erklärte Elivara und tat so, als ob sie Kalathees Blick nicht bemerke. »Normalerweise kann man die Pfahlstadt schon von hier aus sehen!« Nottr, der am Heck der Kurnis stand, warf das Ruder herum und fuhr näher an das Ufer heran. »Also haben wir es geschafft«, stellte er fest. »Vielleicht«, erwiderte Elivara. »Alles hängt davon ab, ob wir Sklutur finden und ob uns der Beinerne helfen kann. Wenn nicht, stehen meiner Stadt schwere Zeiten bevor.« * Mit den ersten Strahlen der Sonne drang der Lärm des Kampfes zur Kurnis herüber. Das heisere Gebrüll der Angreifer und das Schreien der Verteidiger drangen klar und deutlich durch den Nebel. Verzweiflung und Todesangst lagen in diesen Schreien. Sie drangen Mythor tief ins Herz. Fast automatisch fuhr seine Hand zum Griff des Gläsernen Schwertes. Der Griff Altons schmiegte sich warm in seine Faust. Elivara, Kalathee, Nottr und Steinmann Sadagar starrten erschrocken nach vorn. Sie versuchten vergeblich, etwas zu er-
kennen. Mit einem Fluch riß Nottr sein kurzes Krummschwert aus der Scheide und baute sich breitbeinig auf. Sadagar neben ihm tastete nach seinen Wurfmessern. Mythor streifte Elivara mit einem kurzen, fragenden Seitenblick. Aber er erkannte sofort, daß auch die Königin von Nyrngor keine Erklärung für den Kampf hatte. »Urguth hat keine Feinde«, murmelte sie erstaunt und mehr zu sich selbst. »Die Bewohner sind Fischer, harmlose und friedliche Leute!« »Danach fragen die dunklen Mächte nicht«, sagte Mythor rauh. »Die Caer?« fragte Kalathee leise. »Meinst du, daß die Krieger der finsteren Priester schon vor uns da sind?« Niemand konnte ihr auf diese Frage eine Antwort geben. Nahezu lautlos fuhr das Schiff in den rötlich leuchtenden Nebel hinein. Mit einem Satz stand Mythor neben dem Mast der Kurnis. Er löste die Taue und holte das Segel ein. Das Schiff verlor sofort an Fahrt. Sanft glitt es dem ständig lauter werdenden Lärm der Schlacht entgegen. Verschleiert durch den Nebel, tauchte die Sonne am östlichen Horizont als unscharfe Scheibe auf. Wann verteilten sich die ersten Strahlen über das Meer. Ganz allmählich löste sich der Nebel auf, wie es Elivara prophezeit hatte. Gespannt stand die kleine Besatzung am Bug der Kurnis. Sie sprachen kein Wort. Sie warteten auf das, was sich ihren Blicken bieten würde. Dunkle Konturen schälten sich aus dem grauen Schleier. Anfangs wirkten sie noch verwischt, doch dann wurden sie sehr schnell deutlicher. Je mehr Macht die Sonne über diesen neuen Tag gewann, desto schneller wich der Nebel. Flache Hütten tauchten auf und schienen über dem Meer zu schweben, von unsichtbaren Mächten gehalten. Die Pfahlstadt
Urguth, das Ziel der Kurnis, war erreicht. Die Stadt war nur noch etwa einen Bogenschuß vom Bug des Schiffes entfernt. Der Besatzung der Kurnis bot sich ein phantastisches Bild. »Beim Kleinen Nadomir«, murmelte Sadagar fast tonlos. Seine Augen waren weit aufgerissen. Gewaltige Knochen, die von riesigen Tieren stammen mußten, ragten aus dem dunklen Wasser des Meeres. Auf ihnen waren die flachen Hütten der Stadt erbaut. Auch sie bestanden nur aus Knochen und Gebeinen. Bleich und fahl schimmerte Urguth über dem Meer. Schmale Brücken und Stege aus Schädelplatten riesenhafter Mammuts verbanden die einzelnen Gebäude. Begrenzt wurden die Stege von Geländern, die aus einem Geflecht von Rippenknochen bestanden. Die Dächer der Hütten glänzten dunkel. Sie waren mit Schilf und Seetang gedeckt und bildeten einen eigenartigen Kontrast zu den fahlen Knochen. Das Wasser schien an dieser Stelle sehr seicht zu sein. Die Stadt ragte weit in das Meer hinein. An den Stegen, die am weitesten in das Meer hinausreichten, waren dreizehn Boote angebunden. Es waren dunkle, flache, kleine Schiffe. Der Bug war in einem weit geschwungenen Bogen hochgezogen und an der Spitze mit einem Drachenkopf verziert. Die Ruder waren eingezogen und steckten in hölzernen Scheiden. Wie die Pfosten eines Zaunes ragten sie senkrecht in die Luft. Die Boote bewegten sich leicht in der sanften Dünung. Schwarzer Rauch hing über der Stadt. Viele der flachen Fischerhütten brannten. Über die ausgebleichten Knochen leckten Flammen und färbten sie schwarz. Ein bestialischer Gestank ging von diesen Bränden aus. Auf den schmalen Stegen der Stadt tobte ein Kampf. Große, kräftige Gestalten, mit dicken Pelzen bekleidet, hieben mit Streitäxten und Schwertern auf die Bewohner der Stadt ein.
Verzweifelt versuchten sich die Fischer zu verteidigen. Mit dünnen Harpunen oder mit Keulen aus Knochen wehrten sie die Schläge ab. Es war ein aussichtsloser Versuch. Ihre Speere zerbarsten splitternd unter den larten Hieben der Eindringlinge. Der Angriff mußte völlig überraschend über die Stadt hereingebrochen sein. Die meisten Einwohner kämpften lackt. Sie hatten nicht einmal mehr Zeit gehabt, sich anzukleiden. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich Stück für Stück zurückzuziehen. Ihre Verluste waren erschreckend hoch. Schreie und Wehklagen schallten über das Meer. Weinend irrten Kinder durch das Kampfgetümmel. Frauen warfen sich über reglose Körper, die auf dem Boden lagen. Währenddessen eroberten die Angreifer Hütte um Hütte. »Sasgen!« stieß Elivara hervor. Verbittert beobachtete sie die Schlacht. »Ich erkenne ihre Schiffe!« Mythor stand neben ihr und sah sie fragend an. Seine Faust hatte sich so um den Griff Altons verkrampft, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Seine Lippen waren hart und fest aufeinandergepreßt. Der ungleiche Kampf der sich vor seinen Augen in der Pfahlstadt abspielte, erfüllte ihn mit Verbitterung. Das Unrecht war zu offensichtlich. »Wer sind die Sasgen?« fragte er. »Es ist ein Stamm aus dem hohen Norden«, antwortete Elivara. »Die Sasgen kommen aus Eislanden. Sie sind die kriegerischsten Stämme, von denen ich je gehört habe. Sie kennen weder Viehzucht noch Ackerbau oder Fischfang. Alles, was sie brauchen, rauben sie von anderen Völkern. Ihr Leben besteht nur aus Kämpfen, Töten und Plündern.« »Auch ich kann kämpfen«, mischte sich Nottr ein. In seiner Hand lag sein kurzes Krummschwert. Er schwenkte wild die Klinge. »Mischen wir uns ein wenig ein!« Er entblößte seine großen gelben Zähne und ließ seine Au-
gen kampflustig funkeln. Erregt lief er auf der Kurnis hin und her. Sadagar runzelte die Stirn. »Bedenkt die Übermacht«, warf er vorsichtig ein. »Was würde aus unserem Auftrag, wenn wir unterliegen?« »Unterliegen?« fragte Nottr verwundert. Diese Möglichkeit schien er nicht in Betracht zu ziehen. »Wenn diese Sasgen uns besiegen und töten, ist Nyrngor verloren«, fuhr der Steinmann fort. »Wir sind hier, um Sklutur zu finden. Seine magischen Kräfte sollen das Königreich Elivaras retten.« Nottr blieb abrupt stehen und wirbelte herum. Plötzlich stand er dicht vor Sadagar. Er beugte seinen kräftigen Oberkörper, bis seine Augen in gleicher Höhe mit denen des Steinmanns waren. In der Erregung hatte sich seine Narbe über dem Mund tiefblau verfärbt. »Aber was wird aus unserem Auftrag, wenn wir uns nicht einmischen?« fragte Nottr. »Was wird, wenn Urguth von diesen Barbaren vernichtet wird? Was wird, wenn wir Sklutur den Beinernen nicht mehr sprechen können?« Die Stimme des Lorvaners war immer leiser geworden. Sie klang gefährlich. »Wir werden uns einmischen«, beendete Mythor schließlich den Streit der beiden. »Die Sasgen scheinen uns und die Kurnis noch nicht bemerkt zu haben. Wir haben die Möglichkeit, sie zu überraschen.« »Das werden wir«, rief Nottr kampflustig und führte mit seinem Kurzschwert einige Stiche und Hiebe in der Luft aus. Sadagar seufzte resignierend. Kalathee wandte sich von dem Kampfgetümmel in Urguth ab und drehte sich zu Mythor um. Ihre zarte Hand spielte nervös mit dem Amulett, das sie an einer feinen goldenen Kette um den Hals trug. »Es ist ein großes Wagnis, das du auf dich nimmst«, sagte sie.
Nottr schob sich vor sie. Er stellte sich in Positur und lachte verächtlich. Spielerisch ließ er die kräftigen Muskelstränge seiner Arme unter der Haut rollen. »Was für ein Wagnis meinst du?« fragte er Kalathee. »Glaubst du, daß wir uns nicht wehren können?« »Es ist ein Wagnis«, wiederholte Kalathee. Ihre Blicke gingen durch Nottr hindurch und verloren sich in der Ferne. In der Zwischenzeit hatte sich Mythor mit schnellen Bewegungen seiner Kleidung entledigt. Er legte den Flügelhelm von Elivaras Vater ab, das Kettenhemd, den blauen Waffenrock und die schweren, verschnörkelten Metallmanschetten aus Silber. Lediglich den breiten Doppelgürtel mit dem Messer und dem Gläsernen Schwert und einem ledernen Hüftschutz behielt er an. Elivara musterte unverblümt und bewundernd den sehnigen und muskulösen Körper Mythors. Sie hob ihre Hand und ließ ihre Finger sanft über seine nackte Brust gleiten. »Sieh zu, daß du nicht verwundet wirst«, flüsterte sie ihm zu. Kalathee erwachte wie aus einer Trance. Ihr traumverlorener Blick verschwand, und funkelndes Feuer trat in ihre dunkelbraunen Augen. Ihr zartgliedriger Körper spannte sich, während sie Elivara beobachtete. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Auch Nottr beobachtete Mythor. Er tat verwundert. »Sollen wir zur Stadt schwimmen?« fragte er. »Ich weiß nicht, ob ich eine solche Strecke überhaupt schaffe«, ergänzte Sadagar schnell. »Ich bin kein guter Schwimmer!« »Nicht wir schwimmen zur Stadt«, antwortete Mythor lächelnd. »Nur ich!« »Habe ich richtig gehört?« fragte Nottr entgeistert. »Ich allein werde zur Stadt schwimmen«, bestätigte Mythor.
»Du, Nottr, wirst mit der Kurnis in einem weiten Bogen um die Stadt herumfahren. Du mußt darauf achten, daß dich die Sasgen nicht entdecken. In einer Entfernung von einem Bogenschuß zu den Booten der Sasgen wirst du ankern. Warte dort auf mich!« Nottr schüttelte verständnislos den Kopf. Seiner Begeisterung war ein gewaltiger Dämpfer verpaßt worden. »Du allein willst kämpfen, und wir sollen untätig warten?« fragte der Lorvaner entgeistert. »Ein Kampf wäre aussichtslos«, erklärte Mythor. »Die Übermacht ist zu groß. Zahlenmäßig sind uns die Sasgen weit überlegen.« »Ich habe schon gegen ganz andere Feinde gekämpft«, ereiferte sich Nottr. »Wenn du nur kämpfen willst, wenn du als Sieger von vornherein feststehst, warum kämpfst du dann überhaupt noch?« »Manchmal ist eine List wirksamer als der offene Kampf«, sagte Mythor ruhig. »Er hat recht«, bestätigte Sadagar. »Ich glaube, ich verstehe deine Absicht«, sagte Elivara zu Mythor. »Du mußt es versuchen!« Mythor nickte. »Es ist unsere einzige Chance!« »Und wer erklärt mir, was hier gespielt werden soll?« rief Nottr dazwischen. Wütend schob er sein kurzes Krummschwert zurück in den Gürtel. »Später«, tröstete Sadagar. Mythor stellte sich an den Decksrand und atmete tief durch. Dann stürzte er sich kopfüber in das Meer der Spinnen. »Sei vorsichtig«, rief ihm Kalathee nach. Sie lief an die Reling, lehnte sich über die hölzerne Brüstung und streifte sich mit einer Handbewegung einige Strähnen ihres hellblonden Haares aus dem Gesicht. Ihre Augen wurden feucht. Nottr blickte auf Kalathee, dann auf Mythor, der sich mit
kräftigen Schwimmzügen von der Kurnis entfernte. Der Lorvaner brummte ärgerlich und murmelte einige unverständliche Worte. Anschließend schlenderte er mit gesenktem Kopf zum Heck der Kurnis und ergriff das Ruder. »Hab um Mythor keine Angst«, tröstete Elivara Kalathee, und wieder spielte das seltsame Lächeln um ihre Lippen. »Wenn wir fahren wollen, brauchen wir ein Segel«, brüllte Nottr vom Heck des Schiffes. »Sadagar, pack die Taue und betätige dich!« »Natürlich, sofort«, erwiderte der Steinmann eifrig. Mit schnellen Sprüngen lief er zum Mast. * Mit kräftigen Zügen schwamm Mythor auf die bleiche Knochenstadt zu. Nach der tagelangen Untätigkeit an Bord der Kurnis genoß er es, seinen Körper wieder einmal fordern zu können. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit war die Temperatur des Wassers hier noch erträglich. Vielleicht aber gab es hier auch einen warmen Meeresstrom. Je mehr sich Mythor der Pfahlstadt näherte, um so unerträglicher wurde der Gestank des Feuers. Mythor fragte sich, wie die kämpfenden Fischer und Sasgen dabei überhaupt noch atmen konnten. Immer mehr Rauchwolken quollen aus den knöchernen Hütten und hingen schwer über der Stadt und dem Meer. Der leichte Morgenwind vermochte sie nicht zu vertreiben. Der Qualm legte sich wie ein schwerer Mantel über das Wasser, und Mythor spürte einen brennenden Schmerz im Hals und in seinen Lungen. Eine Zeitlang schwamm Mythor auf dem Rücken, um seine Kräfte zu schonen.
Er sah, daß die Kurnis das Segel wieder gehißt hatte. Das Schiff nahm Kurs auf das offene Meer. Auf der voll geblähten Leinwand prangte die Sonne mit der Silhouette des Einhorns. Es war das stolze Zeichen Nyrngors. Doch wie lange würde es das noch geben? Mit Nyrngor war eine weitere Stadt der Lichtwelt in die Gewalt der dunklen Mächte geraten. Damit hatten die schwarzen Priester in Dandamar Fuß gefaßt. Schneller, als jede Vorstellung es erlaubte, würden sie weiter vordringen. Gab es überhaupt noch eine Möglichkeit, ihren Vormarsch zu stoppen? Die Morgensonne strahlte auf die davonfahrende Kurnis. Doch da der schwarze Rauch über dem Meer ständig dichter wurde, war es unwahrscheinlich, daß die Sasgen das Schiff entdecken könnten. Außerdem sah es so aus, als ob die Angreifer nicht mit Gefahren rechneten. Obwohl Mythor noch weit vom Ufer entfernt war, war das Meer der Spinnen an dieser Stelle nicht sehr tief. Seine Füße berührten den schlammigen Boden, ohne daß das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug. Die Bewohner Urguths hatten diesen Ort gut gewählt. In diesem flachen Wasser sollten sie vor Seespinnen oder anderen Ungeheuern, die in den Tiefen der Meere lauerten, relativ sicher sein. Außerdem war das Wasser fischreich und bot alles, was sie zum Leben brauchten. Der Mammutfriedhof, ein riesiges, flaches Gebiet voller Knochen, umschloß die Stadt hufeisenförmig von der Landseite her. Niemand wagte sich in dieses Gebiet, das aus einem undurchdringlichen Gewirr ausgebleichter Knochen bestand. So war Urguth von Osten gegen jeglichen Angriff geschützt. Wegen der günstigen Lage hatten die Bewohner Urguths darauf verzichten können, Krieger auszubilden und Waffen zu schmieden. Sie waren ein friedliches Volk und um so leichter ein Opfer der plötzlich angreifenden Sasgen geworden.
Als Mvthor die ersten Pfahlhütten Urguths erreicht hatte, war bereits ein Drittel der Stadt von den wilden Angreifern besetzt. Wie besessen zerschlugen die Sasgen die Wände der Hütten mit ihren Streitäxten. Überall legten sie neue Brände. Ihre Zerstörungswut kannte keine Grenzen. In Fischernetzen gebündelt, schleppten die Sasgen die geplünderte Beute aus den Hütten. Sie raubten, was ihnen in die Hände fiel. Die Bewohner Urguths kämpften tapfer, obwohl die Übermacht erdrückend war. Mit lächerlichen Werkzeugen verteidigten die Fischer jeden einzelnen Steg. Doch schon längst war es abzusehen, wie der Kampf ausgehen würde. Mythor hatte nicht viel Zeit zu verlieren. Der Meeresboden unter der Stadt war schlammig und bot nicht viel Halt. Mythor zog sich deshalb an den ins Wasser gelassenen Beinknochen vorwärts, auf denen die Stadt erbaut war. Zum Teil waren die Knochen mit Algen überzogen und fühlten sich weich und glitschig an. An wieder anderen Stellen hatten sich Kolonien von Muscheln gebildet, die mit ihren scharfkantigen Rändern empfindliche Wunden schneiden konnten. Zum Schwimmen war nicht genug Platz. Zu dicht standen die bleichen Pfähle. Mythor wand seinen Körper geschmeidig zwischen ihnen hindurch. Obwohl der Lärm der Schlacht über ihm fast alle anderen Geräusche übertönte, bewegte er sich vorsichtig und leise. Mythor hatte nur ein einziges Ziel vor Augen. Dorthin arbeitete er sich vor. Das Ziel waren die dreizehn Boote der Sasgen.: * Etwa ein Viertel des Weges hatte Mythor zurückgelegt, als er spürte, daß er entdeckt war. Ein sasgischer Krieger beugte sich über das knöcherne Geländer eines Steges und starrte auf den
Schwimmer herunter. Mythor hatte zuerst nur den Schatten des Mannes bemerkt. Als er aufblickte, wußte er, daß es für eine Flucht zu spät war. Mit funkelnden Augen starrte der Krieger auf den Mann im Wasser. Der Rausch des Kampfes hatte das Gesicht des Sasgen verzerrt. Sein schweißnasses Haar hing ihm wirr in die Stirn. Ruß hatte sein Gesicht und seine Kleidung verschmiert. Blut klebte an der scharfen Schneide seiner Streitaxt. Der lederne Helm mit den beiden Stierhörnern war verrutscht und gab eine flammendrote Narbe über dem rechten Ohr frei. »Ich habe einen Frosch entdeckt!« brüllte der Krieger einem anderen Sasgen zu, der mit seinem Schwert eine verängstigte Frau im Kreis herumtrieb. »Einen Frosch, der glaubt, er könnte mir davonschwimmen!« »Ich habe hier ein Hühnchen«, antwortete ihm der andere Sasge. »Kümmere du dich um deinen Frosch!« Der Krieger mit der Streitaxt zerschlug mit einem einzigen fürchterlichen Hieb das Geländer des Steges. Mit einem schrillen Kampfschrei stürzte sich der Sasge anschließend in das Wasser. Seine Augen funkelten mordgierig. Schon nach wenigen Schwimmzügen hatte er Mythor erreicht. »Jetzt werden Frösche geschlachtet!« brüllte der Sasge. Er riß den Arm mit der Streitaxt hoch und ließ sie sofort danach auf Mythor niedersausen. Mythor stand ruhig im Wasser. Er bewegte seine Füße leicht im Schlamm des Grundes, um einen sicheren Stand zu bekommen. Dann wartete er den Angriff ab. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Erst im allerletzten Augenblick drehte sich Mythor zur Seite und warf sich nach hinten. Er sah die Klinge der Streitaxt über sich aufblitzen. Die tödliche Waffe fuhr auf ihn zu, aber er sah auch, daß sie ihn nicht mehr erreichen konnte. Der Hieb mit der Streitaxt ging fehl.
Der Sasge stieß einen Fluch aus. Die Gewalt, die er in den Schlag gelegt hatte, riß ihn selbst mit nach vorn. Der schlammige Grund des Meeres unter seinen Füßen gab nach. Für Sekunden verlor er das Gleichgewicht. Hilflos ruderte er mit den Armen in der Luft. Vergeblich suchte er Halt. Sofort stieß sich Mythor vom Boden ab und packte den Arm des Angreifers, der die Streitaxt hielt. Er verdrehte das Handgelenk und bog ihm den Arm auf den Rücken. Die Finger des Sasgen öffneten sich, und die Waffe glitt ins Meer. Sie versank sofort. Der Sasge stieß einen schrillen Schrei aus und versuchte, die anderen Krieger seines Stammes zu alarmieren. Kurz darauf erstickte das Meer jeden weiteren Laut. Mythor drückte den Mann unter Wasser und hielt ihn eisern umklammert. Der Sasge wehrte sich wie wild. Aber der Kampf dauerte nur kurze Zeit. Sehr schnell wurden die Bewegungen des Kriegers langsamer und kraftloser. Schließlich bewegte er sich nur noch zuckend. Als Mythor ihn freigab, war er bewußtlos. Der schwere Körper trieb bewegungslos an der Oberfläche. Er schwamm auf dem Rücken, der Mund stand halb offen. »Hast du den Frosch geschlachtet?« grölte plötzlich wieder der andere Sasge. An den Bewegungen der Schädelplatten und den leichten Schwankungen des Steges erkannte Mythor, daß sich der Krieger näherte. Mythor schwamm bis dicht an den Steg heran und atmete ein paarmal tief durch. Er pumpte seine Lungen voll Luft und versuchte, den beißenden Rauch der Feuer zu ignorieren. Dann tauchte er unter, zog die Knie bis an die Brust und kauerte sich auf den Grund des Meeres. Jeder Muskel, jede Sehne, jede Faser seines Körpers war in höchster Alarmbereitschaft. Mythor zwang sich dazu, seine Augen zu öffnen. Das Salz-
wasser brannte wie Feuer. Dennoch hielt er durch. Verschwommen durch die leicht bewegte Oberfläche des Meeres sah Mythor über sich den Sasgen am Rand des Steges auftauchen. Die Lichtbrechung durch das Wassers entstellte das Gesicht des Kriegers noch mehr und ließ es zu einer häßlichen Fratze werden. Suchend bewegte sich die Fratze hin und her. Schließlich öffnete sich der Mund. »Wo steckst du?« drang es dumpf an Mythors Ohr. »Zeig mir den Frosch, den du geschlachtet hast!« In diesem Augenblick stieß sich Mythor ab. Wie ein sich aufbäumender Delphin schoß er hoch und erschien in einer schaumigen Wasserfontäne vor dem Gesicht des verdutzten sasgischen Kriegers. Der Sasge hatte die Frau, mit der er sein grausames Spiel getrieben hatte, an den Handgelenken hinter sich hergezogen. Sie hatte sich kaum noch gewehrt. Angst und Verzweiflung standen in ihrem Gesicht. Jetzt ließ er sie los und wich erschrocken einen Schritt zurück. Mit beiden Händen packte Mythor den Krieger. Als er zurück ins Meer fiel, riß er den Sasgen mit. »Du wolltest den Frosch sehen, hier bin ich«, sagte Mythor und schlug ihm noch im Fallen die geballte Faust gegen die Schläfe. Als sich das aufgewühlte Wasser wieder beruhigte, schwammen zwei sasgische Krieger bewußtlos auf der Oberfläche. Mythor wischte sich das Salzwasser aus den brennenden Augen. Seine Mission lief gut an. Zwei Kämpfe hatte er bereits erfolgreich bestanden, und er hatte noch nicht einmal sein Schwert ziehen müssen. »Dich hat der Beinerne gesandt«, murmelte die Frau auf dem Steg heiser. Sie atmete schwer. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und sie gegen ihre Lippen gepreßt.
»Sklutur schickt mich nicht, aber ich bin gekommen, um ihn zu suchen«, verbesserte Mythor. »Sklutur hat uns immer geholfen«, murmelte die Frau. »Auch heute wieder schickt er uns seine Hilfe. Du bist sein Bote!« Mythor erkannte, daß die Frau in den letzten Minuten zu viel mitgemacht hatte, als daß sie jetzt noch ruhig zuhören konnte. Für sie mußte ihre wunderbare Rettung wie etwas Übernatürliches erschienen sein. »Sage mir, lang ersehnter Bote des Beinernen, was ich tun soll«, forderte die Frau. »Laß mich teilhaben an der Rettung der Stadt!« Mythor ging auf das Spiel ein, denn für nähere Erklärungen hatte er keine Zeit. Außerdem sah er ein, daß es ihm wohl kaum gelingen würde, die Frau von ihren Vorstellungen abzubringen. »Haltet durch!« sagte Mythor. »Nur noch kurze Zeit. Lauf zu den Bewohnern der Stadt und mach ihnen neuen Mut. Lange wird die Rettung nicht mehr auf sich warten lassen!« »Ja, wir werden durchhalten«, erwiderte die Frau mit glühenden Augen. »Jetzt weiß ich, daß wir siegen werden. Sklutur verläßt uns nicht. Er schickt uns seine Hilfe. Du bist der Mann, der in höchster Not aus dem Meer aufsteigt und die Feinde besiegt.« Mythor achtete nicht weiter auf sie. Er stieß sich ab und schwamm auf die Boote der Sasgen zu. * Der Teil der Stadt, der weiter ins Meer der Spinnen hinausragte, war längst in der Gewalt der Sasgen. Keine der Hütten war mehr unversehrt. Die meisten waren ein Raub der Flammen geworden. Die Knochen waren verkohlt und glommen
schwach. Sie schwelten und schickten gelbliche und schwarze Rauchfahnen in den Himmel. Inzwischen hatte sich die Schlacht weiter zum Land hin verschoben. Aus diesem Grund gab es in diesem Teil keine Bewohner mehr und auch keine sasgischen Krieger. Ungehindert erreichte Mythor die Boote der Angreifer. Mythor tauchte unter dem Rumpf des ersten Bootes durch und versteckte sich zwischen den dunklen Bootskörpern. Hier ruhte er sich einen Augenblick lang aus und sah sich vorsichtig nach weiteren Gegnern um. Die Vorsicht war unbegründet. Die Sasgen schienen sich so sicher zu fühlen, daß sie nur eine einzige Wache zurückgelassen hatten. Der Mann saß auf dem Steg, an dem die dreizehn Boote angebunden waren. Er hatte die schweren ledernen Stiefel mit dem dunklen Pelzbesatz ausgezogen und neben sich gestellt. Gelangweilt ließ er die nackten Füße ins Wasser baumeln. Von Zeit zu Zeit schirmte er die Augen mit der Hand gegen die noch tiefstehende Sonne ab und blickte landeinwärts. Er beobachtete den wilden Kampf, den sein Stamm mit den Fischern austrug. Wahrscheinlich hätte er selbst gern mitgemacht, denn er murmelte wütend unverständliche Worte. Geräuschlos arbeitete sich Mythor dicht an ihn heran. Je näher er ihm kam, desto deutlicher wurde das Gemurmel. Schließlich waren die Worte gut zu verstehen. Die Wache schimpfte auf einen Mann, den er »Keltur« nannte. Wahrscheinlich war er der Anführer der Sasgen. Die Wache war ärgerlich, weil dieser Keltur immer ausgerechnet ihn vom Kampf fernhielt und als Aufpasser für die Boote einsetzte. Er nahm sich vor, so etwas nicht noch einmal mitzumachen. Mythor grinste. Er würde mit dazu beitragen, daß dieser Mann ganz sicherlich nicht noch einmal als Wache eingesetzt würde.
Etwa fünf Schritte hinter der Wache ergriff Mythor mit beiden Händen den Knochensteg. Langsam zog er sich hoch. Es gelang ihm, ein Knie auf den Steg zu schieben und den Körper nachzuziehen. Er richtete sich auf und zog Alton, das Gläserne Schwert, aus dem breiten Ledergürtel. Der Steg schwankte leicht unter dem Gewicht Mythors. Die ausgebleichten Schädelplatten der Mammuts, mit denen er gedeckt war, rieben aneinander. Ein knirschendes Geräusch entstand und machte den Wächter aufmerksam. »Wie lange wird der Kampf noch dauern?« fragte der Wächter, ohne sich umzudrehen. »Wie sieht es aus?« Wahrscheinlich vermutete er einen seiner eigenen Leute hinter sich. »Was meinst du?« fragte Mythor. »Für mich oder für dich?« Die Wache wandte den Kopf. »Natürlich für…!« Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er Mythor entdeckte. Sein Unterkiefer klappte vor Erstaunen herunter und gab ein lückenhaftes Gebiß frei. Mythor blickte in ein Gesicht, das von zahllosen Verwundungen fürchterlich entstellt war. Eine gräßliche Narbe verlief quer über sein rechtes Auge. Die Nase fehlte und ein Teil der Oberlippe. Das gesunde linke Auge funkelte böse. Das Erstaunen und die Verwunderung der Wache verwandelten sich blitzschnell in volle Kampfbereitschaft. Mit einer Geschwindigkeit, die man dem gewaltigen Körper kaum zugetraut hätte, schnellte der Sasge hoch. Plötzlich hatte er sein Schwert in der Hand. Sein entstellter Mund verzerrte sich noch mehr. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Böse starrte er seinen Gegner an. Vor allem das Gläserne Schwert hielt seinen Blick gefangen und verzögerte seinen Angriff. »Willkommen«, sagte er schließlich. Er musterte seinen Gegner und versuchte ihn erst einmal einzuschätzen. »Ich fürchtete schon, daß es heute für mich keinen Kampf gäbe!« Mythor stand breitbeinig auf dem schwankenden Steg. Alton
lag sicher in seiner Faust. Der Griff schmiegte sich in seine Hand. Auf seiner muskulösen Brust glänzten zahllose winzige Salzkristalle, dort, wo das Meerwasser getrocknet war. »Du bist kein Fischer«, stellte der Sasge schließlich fest. Er wagte noch nicht, den kräftigen und geschmeidigen Gegner anzugreifen. Vor allem von diesem leuchtenden Schwert, das der Fremde in der Hand hielt, ging etwas aus, das ihm Angst einflößte. »Nein, ich bin kein Fischer«, bestätigte Mythor. Er spürte die Unsicherheit und Angst seines Gegners. Sie würde ihm von Nutzen sein, wenn es zum Kampf kam. Die Ränder der langen Narbe, die quer über das Gesicht der Wache verlief, verfärbten sich allmählich. Sie wurden dunkler und traten deutlicher hervor. Eine dicke Ader an der Schläfe des Mannes begann heftig zu pochen und verriet deutlich seine Erregung. »Stehst du auf ihrer Seite?« fragte der Sasge. Er nahm sein Schwert einen Augenblick lang in die linke Hand und wischte mit der Handfläche der rechten über den Pelz, den er um den Oberkörper geschlungen trug. Die Hand war schweißnaß. »Auf deiner Seite stehe ich nicht«, gab Mythor zur Antwort. Der Sasge schien zu einem Entschluß gekommen zu sein. »Dann wirst du sterben wie alle hier«, drohte er. Er hob sein breites Schwert und schnellte auf Mythor zu. Wie ein Wahnsinniger hieb der Einäugige auf seinen Gegner ein. Sein massiger Körper bewegte sich dabei flink und geschmeidig. Er führte das Schwert mit beiden Händen. Er schlug kraftvoll, aber blindlings. Für Mythor war es ein leichtes, die Schläge des angreifenden Sasgen abzuwehren. Er bewegte Alton sicher und schnell. Der klagende Ton der Waffe hing in der Luft. Dabei verzerrte der Sasge sein Gesicht. Der Klang Altons schien ihm in den Ohren zu schmerzen. Immer weiter drängte
Mythor den Gegner an das Ende des Steges. Mit jedem Hieb, den der Sasge ausführte, schlug er sich selbst eine neue Kerbe in die Schneide seines Schwertes. Jeder Schlag zerstörte seine Waffe mehr. Andererseits vermochte der Stahl seines Schwertes nichts gegen das leuchtende Material Altons auszurichten. Das Gläserne Schwert blieb unversehrt. Schon bald sah die Waffe des Sasgen aus wie das Blatt einer alten Säge. Nach kurzem Kampf hatte Mythor den Angreifer bis an den äußersten Rand der knöchernen Plattform zurückgedrängt. Bisher hatte er selbst keinen einzigen Schlag ausgeführt. Er hatte sich darauf beschränkt, nur die Hiebe des Gegners abzuwehren. Der Sasge stand am äußersten Rand des Steges. Unter ihm schlugen die Wellen des Meeres leicht gegen die beinernen Pfähle. Auf seiner zernarbten Stirn bildeten sich glänzende Schweißtropfen. Grenzenloses Erstaunen spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Er spürte, daß er diesmal einen Kampf führte, der mit keiner seiner früheren Schlachten vergleichbar war. Wenn die Sasgen ein Dorf überfielen, waren die Bewohner meist vollkommen überrascht und ahnungslos. Sie waren unbewaffnet und nicht auf einen Kampf eingestellt. Wirkliche Gegner fanden die Sasgen auf ihren Beutezügen selten. Noch nie aber hatte der Einäugige einen Gegner wie diesen gefunden. »Wer bist du?« brüllte er, während er mit letzter Kraft auf Mythor einschlug. »Bist du ein Dämon? Welcher Zauber hat dich geschaffen?« »Du hast mich willkommen geheißen«, erinnerte ihn Mythor. »Du hast dich nach einem Kampf gesehnt. Jetzt nimm deine Chance wahr!« »Also bist du ein Dämon«, sagte der Sasge. »Mein Wunsch hat dich entstehen lassen!«
»Wenn es so ist, wünsch dir den Sieg«, schlug Mythor vor. Der Sasge verlor den Mut. Er spürte die Kraft und Überlegenheit, die von seinem Gegner und dessen leuchtendem Schwert ausgingen. Seine Angriffe wurden schwächer und langsamer. »Was ist das für ein Licht auf deinem Schwert?« fragte er keuchend. »Was ist das für ein Ton, was für ein schreckliches Klagen?« Der Sasge preßte beide Hände gegen den Kopf und gab auf. Mit einem Schrei warf er sich nach hinten. Er verlor sein zerschlagenes Schwert, als er auf dem Wasser aufschlug. Der dichte Pelz des Kriegers saugte sich sofort voll Wasser. Er wurde schwer und drohte den Mann hinabzuziehen. Seine Schwimmbewegungen wurden langsamer, er kam kaum von der Stelle. Mythor schob Alton zurück in den Gürtel und sah dem Sasgen nach. Mit einem Sprung hätte er ihn noch erreichen können, aber es hatte keinen Sinn, den Mann zu verfolgen. Immerhin hatte er sein Ziel bereits erreicht. Er hatte die Boote gefunden, und sie würden, für kurze Zeit zumindest, unbewacht bleiben. So lange jedenfalls, bis die fliehende Wache andere Krieger seines Stammes alarmiert hatte. Und aus einem anderen Grunde noch mußte Mythor sich beeilen. Die Bewohner Urguths würden sich vermutlich nicht mehr lange halten können. Er mußte sich beeilen, um seine Absicht rechtzeitig auszuführen. * Mythor löste fünf der Boote vom Steg und band sie hintereinander fest. Dann zog er sie ein Stück weg von den anderen acht Schiffen. Mit einer einfachen Wurfschlinge befestigte er hier das erste der Boote wieder am Steg. Dann eilte er zur
nächsten zerstörten Fischerhütte. Die Dächer der Hütten waren tief heruntergezogen. So boten sie guten Schutz gegen die schneidenden Winterstürme. Mythor konnte bequem den unteren Rand des Daches mit der Hand erreichen. Die Dächer waren mit Seetang dick gedeckt. Dichte Geflechte aus Schilf verbanden und verstärkten den Tang. Sie hielten das eigentliche Dach zusammen. Mit beiden Händen riß Mythor die Bedeckung der ausgeplünderten Hütten herunter. Bündelweise trug er den ausgetrockneten Tang und das Seeschilf zu den Booten. Gleichmäßig verteilte er die trockenen Meerespflanzen in den acht Schiffen. Ausgetrocknetes Schilf und verdorrter Seetang waren ein ausgezeichnetes Brennmaterial. Wenn es einmal Feuer fing, würde von der stolzen sasgischen Flotte nicht mehr allzuviel übrigbleiben. Wie besessen hatten die Sasgen bei ihrem Angriff in den frühen Morgenstunden die Hütten der Fischer zerstört und in Brand gesetzt. Einige der Knochenhütten in unmittelbarer Nähe des Landungsstegs flammten und schwelten noch immer. Genau dieses Feuer würde nun auch die Boote der Brandstifter vernichten. Mythor löste eine der größten Schädelplatten aus dem Steg, die er in der Eile finden konnte. Er benutzte Alton als Brechstange und sprengte die Platte aus der Halterung. Es mußte ein gewaltiges Tier gewesen sein. Die Platte maß im Durchmesser fast eineinhalb Schritt. Sie war gewölbt wie eine übergroße Schale. Mit dem Schwert schlug Mythor gegen die brennenden Wände einer Hütte und zog die schwelenden und glimmenden Knochen auseinander. Dann schob er die Glut auf die Schädelplatte. So konnte er ausreichend Feuer tragen, um alle
acht Boote der Sasgen in Brand zu setzen. Der hinterhältige Überfall der Sasgen würde nicht ungesühnt bleiben. Als Mythor die Schädelplatte mit der Knochenglut packte und sich aufrichtete, hörte er das Wimmern des Kindes. Leise und erstickt scholl es aus der brennenden Hütte. Es schien unglaublich, aber offensichtlich gab es in diesem vollkommen verwüsteten und zerstörten Teil Urguths noch Leben. Mythor sprang auf und trat die aus Knochen gezimmerte Tür der Hütte ein. Die Knochen hatten sich durch die Hitze des Feuers verzogen, und die Tür splitterte im Rahmen. Dichter gelber Qualm quoll Mythor entgegen. Er biß in den Augen, und sofort verschleierten Tränen den Blick. Trotzdem drang er durch den beißenden Rauch in das Innere. Nur undeutlich konnte er die einzelnen Gegenstände voneinander unterscheiden. Etwas Hartes lag in Mythors Weg. Sein Fuß stieß dagegen, er strauchelte. Vergeblich suchten seine Hände Halt. Er stürzte schwer. Seine linke Hand prallte gegen einen brennenden Beinknochen, und ein furchtbarer Schmerz durchzog den Arm. Nur ganz allmählich verzog sich der dichte Rauch durch die eingetretene Tür. Das Innere der Fischerhütte wurde schemenhaft erkennbar. Kleine bläuliche Flammen zuckten auf, liefen wie fliehende Insekten an den Wänden hoch und erleuchteten den Raum mit einem unwirklichen Licht. Das Innere der Hütte bestand nur aus einem einzigen Raum. Er war vollkommen verwüstet. Die Sasgen mußten gewütet haben wie Besessene. Sie hatten nicht nur geplündert und gemordet, sondern auch Spaß daran gehabt, sinnlos zu zerstören. Der gelbliche Qualm drang Mythor in die Lungen und brannte wie Feuer. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Hustenreiz. Es war kaum vorstellbar, daß es in diesem Chaos aus Trümmern, Feuer und beißendem Rauch noch Leben geben
sollte. Dennoch war jetzt ganz deutlich das erstickte Schluchzen zu hören. Das Wimmern kam aus der hintersten Ecke des Raumes, von dort, wo die Zerstörung am vollkommensten zu sein schien. Mythor zog sein Schwert und räumte mit der leuchtenden Schneide die kohlenden und brennenden Knochen zur Seite, die wirr überall herumlagen. Das, was früher einmal Stühle und Tische gewesen sein mochten, war jetzt nur noch ein bestialisch stinkender, qualmender Knochenhaufen. Als Mythor die Glut zur Seite räumte, flammte sie erneut auf. Die flimmernde Hitze und der Rauch nahmen ihm fast den Atem. Er preßte die noch immer schmerzende linke Hand vor Mund und Nase, um sich wenigstens ein wenig gegen die fliegenden Funken, den Staub und den Gestank zu schützen. Auch in seiner Lunge wütete ein nahezu unerträglicher Schmerz. Allmählich machte Mythor der Mangel an Luft schwer zu schaffen. Er spürte, daß seine Bewegungen langsamer und kraftloser wurden. Mehrmals traf er mit seinem Schwert nicht die Stelle, die er anvisiert hatte. Er wurde ungelenker und begann leicht zu schwanken und zu taumeln. Vor seinen Augen wurde es schwarz. Verzweifelt schüttelte er den Kopf, und es gelang ihm, seinen Blick noch einmal klar zu bekommen. Doch spürte er deutlich, daß er nicht mehr lange würde durchhalten können. Schon jetzt pochte sein Blut heftig in seinem Kopf, um seine Brust legten sich unsichtbare Klammern und zogen sich unaufhörlich zusammen. Plötzlich stieß sein Schwert gegen etwas, das kein Knochen war. Es war ein Bein. Das Bein eines Menschen, einer Frau. Sie lag bewegungslos dort, wo früher einmal die Feuerstelle der Fischerhütte gewesen war. In den Armen hielt sie ein Kind und preßte den kleinen Kopf fest gegen ihre Brust. Das Kind
weinte. Es war das Wimmern, das Mythor aufmerksam gemacht hatte. Die Frau mußte sich mit letzter Kraft in den erkalteten Kamin geschleppt haben. Noch rechtzeitig, bevor das Wüten der Sasgen über die Hütte hereingebrochen war. Offensichtlich hatten die Plünderer sie dort nicht entdeckt. Später hatte der ständige Luftzug, der hier wehte und normalerweise das Feuer in Gang hielt, dafür gesorgt, daß die beiden im erstickenden Qualm des Brandes nicht umkamen. Mythor schob Alton zurück in den Gürtel. Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augen, um wieder den Blick zu klären. Dann beugte er sich über die bewußtlose Frau und öffnete vorsichtig ihre Arme. Sie hatte sich in ihrer Ohnmacht verkrampft und verzweifelt das Kind gegen die Brust gedrückt. Mit Mühe gelang es Mythor, das Kind hochzuheben. Er schützte den kleinen, empfindlichen Kopf mit der Hand gegen die Flammen und trug es aus dem Rauch und dem Feuer. Im Freien legte er es auf einer geschützten Stelle des Steges ab. Dann drang er von neuem in die Hütte vor, hob auch die Frau hoch und trug sie hinaus in Sicherheit. Aus dem Gesicht der Frau war alle Farbe gewichen. Sie atmete nur noch flach und war so bleich wie die Knochen rings um sie herum. Das Kind lachte bereits, als Mythor es in die Arme der bewußtlosen Mutter legte. Es hatte sich schnell wieder erholt. Mythor riß einen Fetzen Stoff aus dem groben Kleid der Frau und beugte sich über den Rand des Steges zum Wasser. Er tränkte den Stoff, preßte ihn aus und legte ihn anschließend auf die Stirn der Ohnmächtigen. Vorsichtig betupfte er ihre blassen Schläfen. Sofort ging der Atem der Frau schneller. Sie seufzte, bewegte den Kopf hin und her und schlug schließlich die Augen auf.
Verwundert blickte sie in den strahlenden Morgenhimmel. Sie spürte das Kind neben sich, preßte es fest an sich und küßte es auf die Stirn. Dann erst entdeckte sie den Mann, der neben ihr hockte und sie beobachtete. Sie fuhr erschrocken hoch und versuchte das Kind hinter ihrem Rücken zu verstecken. Angst trat in ihre Augen. Mythor lächelte ihr beruhigend zu. »Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte er. »Ich bin kein Sasge!« So schnell ließ sich die Frau nicht überzeugen. Sie rutschte über den Steg und schob sich immer weiter zurück. Voller Panik starrte sie auf den Fremden. Das Kind, das sie hinter ihrem Rücken zu verstecken versuchte, lachte dabei und spielte unbefangen mit ihrem Haar. »Bring dich in Sicherheit, Frau!« fuhr Mythor fort. »Wenigstens noch kurze Zeit. Der Kampf ist bald vorüber. Die Sasgen werden fliehen und verschwinden!« Mythor wandte sich um und lief wieder zu der Schädeldecke, die er mit den brennenden Knochenstücken gefüllt hatte. Er hob sie hoch und trug sie zu den sasgischen Booten. Um die Frau und das Kind konnte er sich im Augenblick nicht mehr kümmern. Sie mußten für sich selbst sorgen. Mythor hatte schon zuviel Zeit verloren. Mit zitternden Lippen sah ihm die Frau dabei zu. »Wer bist du?« flüsterte sie. Sie erhielt keine Antwort, denn Mythor konnte sie nicht verstehen. Er stand neben den acht sasgischen Booten, die er mit dem Tang und dem Schilf gefüllt hatte. Gleichmäßig verteilte er die Glut über die Boote. Die ausgedörrten Meerespflanzen fingen sofort Feuer. Knisternd fraßen sich die Flammen durch die Boote und leckten an den geteerten Planken. Das Harz, mit dem die Schiffsrümpfe abgedichtet waren, begann zu kochen und zu brodeln. Gelbe
Blasen bildeten sich aus dem Holz und platzten auf. Stichflammen züngelten über die Bordwände. Prasselnd schlugen die Flammen an den aufgestellten Rudern hoch und erreichten schließlich auch die bemalten Köpfe der Drachen an den Vorderteilen der Boote. Es sah aus, als ob die Ungeheuer Feuer spien. Die Luft flimmerte in der Hitze des Brandes. Der Lärm der Schlacht zwischen den Sasgen und den Fischern drang bis zu den äußersten Stegen der Stadt, aber das Getöse hatte sich verändert. Das Gebrüll der Angreifer war allmählich verstummt. Wahrscheinlich hatte der Wächter der Boote auf seiner Flucht seine Stammesbrüder erreicht. Vermutlich hatte er sie inzwischen gewarnt, und sie wußten, daß ihre Boote unbewacht waren. Mythor mußte sich beeilen. Er schwang sich in das erste der fünf Boote, zog ein Ruder aus der Halterung und sprang zurück auf den Steg. Dann legte er das Blatt seitlich gegen die Bordwand, stemmte sich mit aller Kraft dagegen und drückte das Boot weg vom Steg. Genauso verfuhr er mit den restlichen vier Booten. Jetzt, da die Boote frei waren, erfaßte sie der leichte Wind und trieb sie weiter von der Pfahlstadt weg. Dazu schien hier eine schwache Strömung zu wirken, mit der die sasgischen Boote auf das offene Meer getrieben wurden. »Um so besser«, dachte Mythor, nahm Anlauf und schnellte sich vom Steg in das erste der Boote. Er zog ein weiteres Ruder aus der Halterung, legte beide in die Dollen und ließ sie zu Wasser. Normalerweise wurden die Boote von vierundzwanzig Ruderern bewegt, zwölf auf jeder Seite. Für einen einzelnen Mann war es schwer, ein solches Boot in Bewegung zu setzen. Jetzt hätte Mythor Nottr und Sadagar gut brauchen können. Das Glück schien auf seiner Seite zu sein, denn noch bevor Mythor einen einzigen Ruderschlag getan hatte, hatten ihn der Wind und die Strömung bereits von Urguth weggetrieben.
Immer wieder beugte sich Mythor vor und tauchte die Ruderblätter ins Wasser. Um besseren Halt zu haben, stemmte er sich mit beiden Füßen gegen die Sitzbank, die vor ihm verlief. Die restlichen acht Boote, die noch am Steg lagen, brannten inzwischen lichterloh. Zum Teil waren die Bordwände schon aufgeplatzt, und Meerwasser floß zischend in die Glut. Weiße Wasserdampfwolken quollen auf, stiegen in den Morgenhimmel und vermischten sich mit dem schwarzen Rauch des brennenden Harzes. Die acht Schiffe waren in kurzer Zeit so vollkommen zerstört, daß mit ihnen niemals mehr ein Sasge ein schlafendes Dorf überfallen würde. Die Flammen loderten mehrere Mannslängen hoch und waren ein weithin sichtbares Signal für beide an dieser Schlacht beteiligten Parteien. Schon längst hatten die Sasgen begriffen, daß sie es mit einem neuen, unerwarteten Gegner zu tun hatten. Die Alarmrufe ihres Bootswächters und der helle Schein ihrer brennenden Schiffe hatten sie aus ihrem Wüten aufgeschreckt. Möglicherweise hatten sich auch die beiden Krieger wieder erholt, die Mythor zu Beginn bewußtlos geschlagen hatte. Auch deren Bericht würde die Angreifer verunsichert haben. So plötzlich die Sasgen bei Morgengrauen über die Pfahlstadt hereingebrochen waren, so plötzlich wandten sie sich auch wieder von den Bewohnern Urguths ab. Sie hasteten zurück. Dorthin, wo sie ihre Boote angebunden hatten. Die Hitze der brennenden Boote strahlte zu Mythor herüber und brannte auf seiner Haut. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Sie liefen über seine Wangen und zogen helle Spuren durch sein verrußtes Gesicht. Die Enden der Ruder brannten in Mythors Händen. Vor allem machte ihm die linke Hand zu schaffen, die er bei der Rettung der Frau und des kleinen Kindes verletzt hatte. Doch Mythor achtete nicht auf seine Schmerzen. Seine ganze
Kraft konzentrierte er auf die Ruder. Gleichmäßig und rhythmisch ließ er die Bewegungen ablaufen. Je weiter sich die Boote von dem Steg entfernten, um so stärker wurde die Strömung, und eine um so günstigere Angriffsfläche boten die Bordwände dem gleichmäßigen Landwind. Mythor machte ständig mehr Fahrt und unterstützte die Flucht mit kräftigen Ruderschlägen. Den Bewohnern der Pfahlstadt war die plötzliche Flucht der Angreifer wie ein Wunder erschienen. Der Rückzug der Sasgen erfüllte die Fischer mit frischem Mut und verlieh ihren Körpern neue Kraft. Ihre Verzweiflung schwand dahin wie ein Nebelfetzen im Morgenwind. Mit neu gewonnener Zähigkeit kämpften sie gegen die Eindringlinge. Sie verfolgten die fliehenden Sasgen und stimmten ein Siegesgeheul an. Mit zerbrechlichen Harpunen und knöchernen Keulen ausgerüstet, kämpften sie mit einer solchen Wildheit, als seien sie im Besitz der fürchterlichsten Waffen. Inzwischen war es Mythor gelungen, die schweren Boote mit Hilfe der Strömung und des Windes weit vom Ufer wegzuziehen. Sie befanden sich bereits in einer gleichmäßigen Bewegung, aber sie waren noch nicht schnell genug. Ein leidlich guter Schwimmer würde sie ohne große Anstrengung erreichen können, zumal auch auf ihn die Strömung wirken würde. Bei diesen Gedanken sah Mythor bereits die ersten Sasgen mit riesigen Sprüngen über die Stege der Stadt hasten. Wild schwangen sie ihre Waffen in der Luft und stießen Flüche und Drohungen aus. Während er sich weiterhin mit aller Kraft und seinem ganzen Körper in die Riemen stemmte, wandte er den Kopf und sah sich um. Das, was er sah, verlieh ihm neue Hoffnung und spornte ihn zu neuer Kraftanstrengung an. Mit geblähtem Segel kam ihm die Kurnis entgegen. Nottr stand am Ruder. Er lenkte mit einer Hand das Schiff und
schwang mit der anderen sein Krummschwert über dem Kopf. An der Reling standen die beiden Frauen und der Steinmann. Gleichzeitig hatten die ersten Sasgen die Stege erreicht, die am weitesten ins Meer der Spinnen hinausragten. Schreiend stürzten sie sich kopfüber ins Wasser. Sie versuchten hinter ihren Booten herzuschwimmen. Mythor sah sofort, daß die meisten Plünderer keine Chance hatten. Sobald sie im Wasser waren, saugten sich ihre dichten Pelze voll, wurden schwer und hinderten sie am Schwimmen. Außerdem störten sie ihre Schwerter und Streitäxte, auf die sie nicht verzichten wollten. Sie zappelten hilflos im Wasser und klammerten sich an den Pfählen der Stege fest, noch ehe sie von der Strömung erfaßt wurden. Einer der Sasgen jedoch erweckte Mythors besondere Aufmerksamkeit. Es war ein Hüne von einem Mann. Er überragte seine Stammesbrüder um Kopfesgröße. Er stand breitbeinig am Rand des Steges und starrte mit funkelnden Augen den Booten nach. Seine rechte Faust umschloß den Griff eines Krummschwerts. Der Hüne war der einzige Sasge, der sich nicht blindlings in das Meer stürzte. Er blieb auf dem Steg stehen und überlegte kurz. Dann öffnete er die Schnalle seines breiten Ledergürtels. Er zog seinen Pelz von den Schultern und ließ ihn achtlos zu Boden gleiten. Der Mann schien sich seiner Möglichkeiten und seiner Kraft voll bewußt zu sein. Er bückte sich und löste in aller Ruhe die Verschnürungen seiner Stiefel. Dann zog er sie von den Füßen und richtete sich wieder auf. Bis auf einen schmalen Hüftschutz war der Hüne jetzt nackt. Ruhig atmete er ein paarmal tief durch. Seine breite Brust hob und senkte sich regelmäßig. Währenddessen beobachtete er Mythor scharf aus zusammengekniffenen Augen. Schließlich
trat er einen Schritt vor, umklammerte mit den Zehen den Rand des Steges und stieß sich kraftvoll ab. Der knöcherne Steg schwankte unter dem gewaltigen Stoß. Der Hüne flog langgestreckt mehrere Meter weit, ehe er in einem flachen Winkel ins Meer eintauchte. Es spritzte kaum Wasser auf, als sein massiger Körper die Oberfläche durchstieß. Als er wieder auftauchte, hatte er bereits alle anderen Sasgen überholt, ohne auch nur einen einzigen Schwimmzug gemacht zu haben. Er schob sich das Krummschwert zwischen die Lippen und hielt es mit den Zähnen fest. Elegant glitt der mächtige Körper des Sasgen durch die Wellen. Er schwamm kraftvoll und zerteilte das Wasser mit ruhigen, aber weit ausholenden Bewegungen. Schon nach kurzer Zeit hatte er den letzten Steg der Pfahlstadt weit hinter sich gelassen. Er war nicht mehr weit von dem letzten der Boote entfernt, die Mythor wegzurudern versuchte. Noch einmal drehte sich Mythor um und hielt Ausschau nach der Kurnis, um zu sehen, wie weit die Freunde noch entfernt waren. Nottr warf in diesem Augenblick das Ruder herum. Er mußte einen leichten Bogen fahren, denn nur so konnte er parallel zu Mythors Fahrtrichtung an das Ruderboot anlegen. Sekundenlang flatterte das Segel der Kurnis in falschem Wind, bis es sich von neuem blähte und über dem Schiff spannte. Weiterhin legte sich Mythor in die Ruder. Seine verletzte Hand war inzwischen an mehreren Stellen aufgeplatzt und blutete heftig. Aber er würde noch einige Zeit auf sich selbst gestellt sein. Er mußte dem Lorvaner und seiner Segelkunst vertrauen. Nottr würde noch etliche Minuten brauchen, bis die Kurnis längsseits kam. Das war der Augenblick, in dem der hünenhafte Sasge das letzte der aneinandergebundenen Boote erreichte. Er krallte seine Finger in die groben Planken und klammerte sich am
Rumpf des Bootes fest. So ließ er sich eine kurze Zeit mitschleppen und sammelte neue Kraft. Mythor war klar, daß es zu einem Kampf kommen würde. Wahrscheinlich aber würde dieser Kampf nicht mit den Kämpfen vergleichbar sein, die er in der letzten Stunde mit den anderen drei Sasgen geführt hatte. Der Gegner, mit dem er es jetzt zu tun hatte, war seinen Stammesbrüdern weit überlegen. Inzwischen hatte die Kurnis ihr Wendemanöver beendet. Nottr nahm Kurs auf das erste Ruderboot. Sadagar stand an der Reling. In der Hand hielt er ein zusammengerolltes Tau. Im richtigen Augenblick würde er es Mythor zuwerfen. Mythors Verfolger, der noch immer am letzten der Boote hing, schnellte plötzlich wie ein Delphin aus dem Wasser und packte den oberen Bootsrand. Es gelang ihm, sich hochzuziehen. Dann ließ er sich in das Innere des Bootes fallen. Dem Mann war keine Erschöpfung anzusehen. Sofort war er wieder auf den Beinen. Er ergriff das Schwert, das er zwischen den Zähnen gehalten hatte, und wischte sich mit einer Handbewegung das Meerwasser aus dem dichten Bart. Über die dazwischen liegenden Boote hinweg starrte er auf den Mann, der ihn überlistet hatte. Die Lippen des Hünen waren fest aufeinandergepreßt. Sie wirkten blutleer und glichen einem schmalen Strich. Ein harter, grausamer Zug lag um seinen Mund. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, im Schatten dunkler und buschiger Augenbrauen. Mit einem Seitenblick streifte der Sasge die Kurnis, die in einem spitzen Winkel auf die Ruderboote zuhielt. Er schätzte ab, wie lange das Schiff noch brauchen würde, und rechnete sich seine Chancen aus. Dann ging er zum Angriff über. Er lief über die hölzernen Ruderbänke zum vorderen Teil des Bootes. Dort stellte er sich auf den Bug, stieß sich ab und
sprang auf das nächste Boot. Dabei hielt er sein kurzes Krummschwert fest in der Hand und ließ Mythor nicht aus den Augen. Mythor unterbrach sein Rudern nicht. Er bemühte sich noch, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die Pfahlstadt zu bringen, um anderen Sasgen die Verfolgung zu verleiden. Erst im letzten Augenblick, als der Hüne schon sein Boot erreicht hatte, zog Mythor die Ruder ein. Er erhob sich, stellte sich auf die Ruderbank und zog Alton aus dem Gürtel. Nur drei Schritte voneinander entfernt standen sich die beiden Männer mit gezogenen Waffen gegenüber. Sie standen breitbeinig, ihre Körper federten leicht hin und her, um das Schwanken des Bootes auszugleichen. Sie musterten sich lange und ausgiebig. Aus der Richtung, in der Urguth lag, scholl Jubelgeschrei aus vielen sasgischen Kehlen. Die Krieger hatten beobachtet, daß einer von ihnen die entführten Boote eingeholt hatte. Jetzt glaubten sie, dem Sieg nahe zu sein. »Wenn du darum bittest«, begann schließlich der Hüne, »werde ich dein Leben schonen.« Er sprach mit rauher und harter Stimme. Mythor lächelte knapp. »Das gleiche gilt auch für dich«, erwiderte er. Der Sasge deutete mit der Spitze seines Krummschwerts auf Mythors linke Hand. Es war die Hand, die sich Mythor in der Fischerhütte verbrannt und beim Rudern wund gescheuert hatte. »Du bist verwundet«, stellte der Sasge fest. »Du kannst gegen mich nie bestehen!« Mythor hatte seine Verletzung vollkommen vergessen. Er hatte sich ganz auf seinen Gegner konzentriert. Erst jetzt erinnerte er sich wieder an seine schmerzende Hand. Mythor hob die gesunde Rechte, die den Griff des Gläsernen
Schwertes umklammert hielt. »Das ist die Hand, mit der ich kämpfe«, sagte er lächelnd. Der Sasge spannte den Mund und biß sich leicht auf die Unterlippe. Schließlich nickte er. »Gut, du hast es so gewollt«, sagte der Sasge. »Dann wird dich Keltur, der Fürst der Sasgen, vernichten.« Der Hüne hatte das letzte der Worte noch nicht gänzlich ausgesprochen, als er plötzlich, geschmeidig wie eine Raubkatze, nach vorn schnellte. Sein Krummschwert beschrieb einen Bogen in der Luft, drehte sich in seiner Hand, und die scharf geschliffene Schneide stieß auf Mythors Hals zu. Mythor hatte das kurze Aufblitzen in den dunklen Augen seines Gegners gesehen und den Angriff erahnt, noch ehe sich das Krummschwert bewegt hatte. Er riß Alton hoch und fing sicher den Hieb des Gegners ab. Ein seltsamer Ton ging von der transparenten Schneide des Schwertes aus und stieg klagend in die Luft. Keltur sprang zurück und starrte verwundert auf die ungewöhnliche Waffe. Erst jetzt schien er das fluoreszierende Leuchten der Schneide zu bemerken. Wieder griff der Sasge an. Er handhabte sein kurzes Krummschwert geschickt und mit ungeheurer Schnelligkeit. Sein Körper bewegte sich elastisch und federnd. Allerdings war seine Aufmerksamkeit nur zum Teil auf seine Angriffe gerichtet. Vielmehr beobachtete er das Gläserne Schwert Mythors und lauschte fasziniert dem klagenden Ton. Mythor kämpfte sicher und schnell. Die meisten Angriffe seines Gegners wehrte er einfach dadurch ab, daß er seinen Oberkörper nach hinten oder zur Seite bog, den Stich des Sasgen ins Leere laufen ließ und gleichzeitig selbst einen Angriff vortäuschte, der Keltur immer zu einem plötzlichen Rückzieher zwang. Schon nach kurzer Zeit ging der Atem des Sasgen pfeifend.
Die Anstrengung des Kampfes zeichnete sich auf seiner schweißnassen Stirn und seinem verzerrten Gesicht ab. Seine Bewegungen wurden langsamer und ungelenker. Seine Hiebe verloren an Kraft. Der Hüne wich immer weiter zurück. Schon bald spürte er die Bordwand des Bootes im Rücken. Er lehnte sich dagegen und nahm sein Schwert in beide Hände. Er schlug kreuzweise die Waffe durch die Luft und versuchte seinen Gegner so fernzuhalten. Mythor trat einen Schritt zurück und ließ sein Schwert sinken. Allmählich verstummte der Ton, der bisher den Kampf begleitet hatte. Auch Keltur ließ beide Arme sinken. Er atmete schwer. Seine Brust hob und senkte sich unregelmäßig. Die buschigen Augenbrauen des Sasgen waren hochgezogen. Mit großen Augen starrte er auf das matt leuchtende Schwert. Das Boot hatte durch den Kampf zu schwanken begonnen und wiegte nun die beiden Männer. Das Jubelgeschrei auf den Stegen der Pfahlstadt hatte aufgehört. »Was ist das für ein Schwert?« murmelte Keltur. »Wie kann man mit einem Schwert aus Glas kämpfen?« Mythor hob Alton bis in Brusthöhe. »Du hast es gesehen«, antwortete er. Der Sasge nickte langsam. Seine Augen waren wieder schmal geworden. »Ja, ich habe es gesehen«, sagte er. »Aber noch bin ich nicht geschlagen!« Plötzlich stieß er sich von der Bordwand ab und blieb leicht nach vorn gebeugt sprungbereit stehen. Die rechte Hand hielt das Krummschwert leicht erhoben, in der linken blitzte ein Messer. Mythor hatte nicht gesehen, woher der Sasge die zusätzliche Waffe hatte. Vermutlich hatte er den Dolch unter seinem Hüftschutz verborgen getragen. Auch Mythor knickte in den Knien ein wenig ein, um einen
elastischeren Stand zu haben und um schneller auf Angriffe reagieren zu können. Er streckte den rechten Arm nach vorn und richtete die Spitze Altons auf die Brust des Sasgen. »Laß dein Schwert klagen, Fremder«, höhnte Keltur. »Es wird sich mit deinem eigenen Klagegeschrei vermischen!« Die beiden Männer blickten sich gegenseitig in die Augen. Sekundenlang starrten sie sich so an. Mordlust funkelte in den schwarzen Augen des Sasgen. Mythor bewegte sich zuerst. Er machte einen Schritt nach vorn und stieß mit dem Schwert zu. Keltur wich aus, schlug sein Krummschwert gegen Alton und stach mit dem Dolch gleichzeitig nach Mythor. Der Stich ging fehl, weil Mythor sich sofort zur Seite warf und einen neuen, harten Schlag gegen Kelturs Krummschwert ausführte. Der Sasge stieß einen unterdrückten Schrei aus, in dem sich Wut und Schmerz mischten. Das Schwert wurde ihm aus der Hand gerissen. Es beschrieb einen flachen Bogen, flog auf die Bordwand und trennte dort einen kräftigen Span aus dem harten Holz. Keltur fluchte und sprang hinter seiner Waffe her. Sekunden bevor er sie erreichte, rutschte sie ab und fiel ins Meer. Keltur starrte dem Schwert mit großen Augen nach, als ob er es so zurückhalten könne. Seine Hand krampfte sich verzweifelt um die Bordwand. Das Gesicht des Sasgen war von Haß verzerrt, als er sich zu Mythor umdrehte. Er war bleich geworden. Seine ohnehin blutleeren Lippen wirkten grau wie der Mund eines Toten. »Mit welchen Mächten stehst du im Bunde?« stieß Keltur heiser hervor. »Welche Dämonen kannst du beschwören?« Mythor antwortete nicht. Sein Gegner besaß noch eine gefährliche Waffe. Er ließ das Messer nicht aus den Augen. In diesem Moment stieß die Messerhand des Sasgen wie erwartet nach vorn. Der Dolch löste sich und flog wirbelnd auf
Mythor zu. Mythor riß Alton hoch und hielt die Breitseite des Schwertes wie einen Schild schützend vor den Körper. Es gab eine hellen, jaulenden Ton, als das Messer auf die Schneide des Schwertes schlug. Der Dolch prallte ab, flog taumelnd noch einige Meter und bohrte sich dann zitternd in eine der hölzernen Ruderbänke. Eine vertraute Stimme erscholl hinter Mythor: »Mythor, fang die Leine!« Die Stimme gehörte Steinmann Sadagar. Die Kurnis hatte das Boot erreicht. Sadagar stand an der Reling und wirbelte ein Tau über dem Kopf. Neben ihm standen Kalathee und Elivara. Nottr, am Ruder der Kurnis, stieß einen schrillen Kampfschrei aus. Er lenkte das Schiff so dicht an das erste der Boote heran, daß sich die hölzernen Planken knirschend aneinander rieben. Es gab einen heftigen Stoß, und einen Augenblick lang verlor Mythor das Gleichgewicht. Er taumelte und ruderte mit den Händen nach Halt suchend in der Luft. Dann sah er die Schlinge des Taues durch die Luft wirbeln, warf sich nach vorn und fing die Leine auf. Er sprang hoch und schlang die Schlaufe um den hölzernen Drachenkopf am Bug des Bootes. Sekunden später war die Kurnis vorbei. Das Tau zwischen ihr und den Booten straffte sich. Die fünf sasgischen Boote befanden sich im sicheren Schlepp des dandamarischen Schiffes. Keltur stand noch immer wie gelähmt an der Bordwand. Jetzt stieß er ein furchtbares Wutgeheul aus und stürzte sich mit geballten Fäusten auf Mythor. Mythor ließ den Angreifer dicht an sich herankommen. Ein Krieger, der in blinder Wut kämpft, ist selten gefährlich. Erst im letzten Moment wich Mythor aus und sprang zur Seite. Er ließ den Gegner an sich vorbeilaufen und versetzte ihm dann noch einen leichten Stoß. Der Fürst der Sasgen flog in einem hohen Bogen über die Bordwand. Kopfüber stürzte er ins Meer der Spinnen. Er stieß gräßliche Flüche aus, während sich
Mythor im Schlepp der Kurnis ständig weiter von ihm entfernte. »Wir werden uns wiedersehen«, drohte Keltur und versuchte, hinter seinen Booten herzuschwimmen. »Dieser Tag wird nicht ungesühnt bleiben. Ich schwöre dir bei allen Mächten dieser Welt, Keltur wird dich vernichten!« * Nottr hielt noch immer sein Schwert in der Hand. Er schob Sadagar zur Seite und drängte sich an die Reling, über die gerade Mythor stieg. »Das ist meine Aufgabe«, sagte er. »Wenigstens ein einziges Mal möchte ich in diesem Kampf mein Schwert führen dürfen!« »Nun gut«, gab Sadagar großzügig nach. »Wenn es denn dein sehnlichster Wunsch ist…?« »Er ist es«, sagte Nottr fest. »Er ist es ganz bestimmt!« »Dann habe ich nichts dagegen«, erwiderte Sadagar. Das Gesicht des Lorvaners strahlte vor Freude. »Danke«, murmelte er und gab Sadagar einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, der den schmächtigen Steinmann beinahe durch die Planken der Kurnis getrieben hätte. Nottr baute sich am Heck der Kurnis auf. Dort, wo das kräftige Tau an der Reling verknotet war, das die fünf sasgischen Boote schleppte. Er streichelte liebevoll den Knoten und schaute sich nach den anderen Gefährten um. Mythor, Elivara, Kalathee und Sadagar nickten ihm aufmunternd zu. »Drängt mich nicht«, bat Nottr. »Ein guter Krieger muß besonnen kämpfen!« Der Lorvaner fuhr mit dem Daumen der linken Hand über die geschliffene Schneide seiner Waffe und prüfte die Schärfe. Er schien zufrieden zu sein, denn er nickte. Er trat etwas zu-
rück, suchte sich einen sicheren Standplatz und hob das Schwert. »Sasgen, merkt euch meinen Namen!« brüllte der Lorvaner. »Wenn ihr an diesen Tag zurückdenkt, erinnert euch daran, daß Nottr, der Lorvaner, ebenfalls an eurer Niederlage beteiligt war. Auch er hat das Schwert gegen euch geführt. Vergeßt das nie und vergeßt nie den Namen!« Weithin dröhnten die Worte über das Meer der Spinnen. Dann fuhr plötzlich Nottrs Schwert nieder, drang durch den Hanf des Taues und zerschnitt den dicken Knoten. Das Seilende glitt von der Reling und fiel ins Meer. Der Abstand zwischen der Kurnis und den fünf entführten sasgischen Booten vergrößerte sich zusehends. »Ein hervorragender Hieb«, lobte Sadagar, ohne den Versuch zu machen, den Spott in seiner Stimme zu verbergen. »Ein Hieb, wirklich würdig eines hervorragenden Kriegers.« Die Schneide des Schwertes war tief in das harte Holz der Reling eingedrungen. Nottr hatte Mühe, seine Waffe wieder zu befreien. »Die Königin von Nyrngor benötigt noch ihr Schiff«, sagte Elivara. »Noch ist es zu früh, daß du es zerhackst!« »Das Fieber des Kampfes verhindert oft die richtige Einteilung der Kraft eines Mannes«, entschuldigte Sadagar den Lorvaner spöttisch. Nottr zuckte hilflos mit den Achseln. Aber man sah ihm an, daß es ihm gutgetan hatte, sein Schwert benutzen zu dürfen. Er hatte sich auf der Kurnis nicht wohl gefühlt, als er tatenlos warten mußte, daß Mythor aus der Schlacht zurückkehrte. Den gutmütigen Spott des Steinmanns nahm er nicht krumm. Die Boote der Sasgen waren inzwischen weit zurückgeblieben. Ohne Antrieb schaukelten sie sanft auf den leichten Wellen des Meeres. Einige hundert Meter hinter den Booten bewegten sich zahl-
lose Köpfe in ungeordneter Formation auf die Schiffe zu. Auf einigen der Köpfe saßen lederne Helme, die mit Stierhörnern verziert waren. Es sah aus wie eine schwimmende Herde von Kühen auf einer überfluteten Weide. »Eine größere Erniedrigung hättest du den Sasgen nicht zufügen können«, sagte Elivara nachdenklich zu Mythor. »Zwar ist es ein Volk, das viel auf dem Meer lebt und immer nur vom Wasser her angreift, aber schwimmen zu müssen gilt als Schande.« Die Sasgen hatten sich nach dem plötzlichen Ende des Kampfes in Urguth ins Meer gestürzt und versucht, schwimmend ihre Boote zu erreichen. Da der Großteil ihrer Flotte verbrannt war, waren sie auf die fünf restlichen Boote angewiesen, die Mythor von der Pfahlstadt weggerudert und erst weit draußen auf dem Meer freigegeben hatte. »Es war unsere einzige Chance«, verteidigte sich Mythor. »Nur auf diese Weise konnten wir die Krieger aus der Pfahlstadt weglocken und gleichzeitig verhindern, daß sie einen neuen Angriff versuchten.« »Du hast recht, Mythor«, bestätigte Kalathee. »Wenn die Sasgen sich auf die restlichen fünf Boote verteilt haben, werden sie so hoffnungslos überfüllt sein, daß sie wohl so schnell nicht wieder angreifen werden.« »Ein guter Plan«, warf Sadagar ein. »Das nächstemal wird ihnen auch wohl kaum ein Überraschungsangriff gelingen«, fuhr Elivara fort. »Die Bewohner Urguths sind gewarnt. Bisher haben sie darauf vertraut, unangreifbar zu sein, weil niemand vom Land her die Stadt erreichen konnte. Der Mammutfriedhof ist undurchdringlich, und er umschließt die Pfahlstadt vollkommen. Doch jetzt wissen sie, daß Krieg und Gefahren auch von der Seite des Meeres her drohen.« »Eine verlorene Schlacht für die Sasgen«, stellte Nottr fest.
Noch immer hielt er sein Schwert kampfbereit in der Hand. »Aber sie werden die Niederlage nie vergessen«, sagte Elivara nachdenklich. »Keltur, ihr Fürst, vergißt nie. Er ist ein rachsüchtiger Mann!« »Ich glaube dir«, sagte Mythor. »Ich habe mit ihm gekämpft, und ich habe das wilde Feuer in seinen Augen gesehen.« »Der Fluch, den er dir nachgeschleudert hat, war bis auf die Kurnis zu hören«, ergänzte der Steinmann. »Ein Mann, der solch einen Fluch ausstößt, ist gefährlich. Denkt an meine Worte und vergeßt sie niemals!« Inzwischen hatte der Großteil der Sasgen die fünf Boote erreicht. Sie zogen sich an den Bordwänden hoch und ließen sich erschöpft in das Innere fallen. Mit jedem neuen Krieger, der hineinkletterte, sanken die Boote tiefer ins Wasser. Schon nach kurzer Zeit lagen sie so tief, daß die Oberfläche des Wassers knapp unter der Oberkante der Bordwand lag. Die Männer saßen und standen so dicht gedrängt auf den Ruderbänken, daß es nicht möglich war, die Riemen gleichmäßig durch das Wasser zu ziehen. Die einst so stolze Flotte der sasgischen Krieger war nur noch ein träger und nahezu unbeweglicher Haufen von überfüllten Kähnen. Jedes andere noch so plumpe Schiff wäre schneller gewesen. Langsam entfernten sich die Sasgen in nördlicher Richtung. Am Heck des letzten der Boote stand ein Hüne von einem Mann. Er stand breitbeinig und hatte beide Hände in die Hüften gestemmt. Ein dichter schwarzer Vollbart umrahmte sein Gesicht. Seine dunklen Augen lagen unter buschigen Augenbrauen tief in ihren Höhlen. Er zuckte nicht mit den Wimpern. Mit starrem, schneidendem Blick beobachtete er die Kurnis, die immer weiter zurückblieb. Der schwarzbärtige Sasge starrte auf einen Mann, der an der Reling der Kurnis stand und seinerseits den Booten der sasgischen Krieger nachsah.
Der Mann war groß und schlank, dabei aber sehr sehnig und muskulös. Seine Haut war tief gebräunt und wirkte dunkel. Dunkelbraune Haare, die ihm fast auf die Schulter hingen, wehten um sein scharf geschnittenes Gesicht. In dem breiten Ledergürtel seiner Kleidung steckte ein armlanges Schwert. Die Schneide dieses Schwertes war durchsichtig wie Glas und schien von innen heraus zu leuchten. Wenn es der Mann schwang, entstand ein Ton wie ein fernes Wehklagen. Die Erscheinung dieses Fremden hatte sich fest und unauslöschlich in die Erinnerung des hünenhaften Sasgen eingeprägt. Niemals würde er ihn vergessen. Er ballte die Hände so fest, daß sich die Nägel der Finger schmerzhaft in den Handflächen bohrten. Er starrte noch immer zurück, auch als ein leichter Dunst über dem Meer der Spinnen aufzog, alles einhüllte und die Kurnis mit ihren Passagieren längst nicht mehr zu sehen war. »Ich werde dich vernichten«, murmelte der Sasge. * Nur an den Stegen, die am weitesten ins Meer der Spinnen hinausragten, war das Wasser für die Kurnis tief genug. Mit einem gelungenen Manöver lenkte Nottr das Schiff an einen der Stege heran und legte an. Knirschend rieben sich Planken an den bleichen Knochenpfählen. Das rechteckige Segel mit der strahlenden Sonne und der Silhouette des Einhorns fiel rauschend in sich zusammen. Die Kurnis hatte die Pfahlstadt Urguth, ihr Ziel, erreicht. Eine unüberschaubare Menschenmenge hatte sich an der Landungsstelle eingefunden. Die Knochen und Schädelplatten ächzten und stöhnten unter dem Gewicht der Massen. Keiner der Bewohner Urguths hatte es sich nehmen lassen, die Befreier und Retter zu begrüßen.
Noch immer hing dichter Rauch über der Stadt. Zwar waren fast alle Feuer gelöscht, doch die Knochen schwelten noch. Hinter der Kurnis ragten die Reste der acht verbrannten sasgischen Boote wie verkohlte Gerippe aus dem flachen Wasser. Ein deutliches Zeichen für die Niederlage der Angreifer. Die Bewohner Urguths jubelten und lachten, als die Besatzung des dandamarischen Schiffes von Bord ging. Sie drängten sich um die Ankömmlinge, und jeder der Fischer versuchte die Retter wenigstens kurz zu berühren. Mythor, Elivara, Kalathee und Sadagar konnten sich nur mit Mühe der Menge erwehren. Vor Begeisterung wurden sie fast ins Meer gedrückt. Lediglich Nottr machte der Ansturm nichts aus. Er stand fest wie ein Felsen mitten in der jubelnden Menge. Die Begrüßung der Fischer beantwortete er mit freundschaftlichem Schulterklopfen. Allerdings waren die Schläge mit solcher Kraft geführt, daß sich bald kaum noch einer der Einwohner in seine Nähe traute. Nottr lachte dröhnend. Er entblößte seine großen gelben Zähne und fühlte sich wie ein heimkehrender Feldherr nach erfolgreicher Schlacht. Von hinten drängte sich ein schlanker und hochgewachsener Mann durch die Menge nach vorn zu den Ankömmlingen. Er war mit einem einfachen braunen, sackähnlichen Gewand bekleidet, das in der Hüfte von einer Kette aus ringförmigen Knochen zusammengehalten wurde. In diesem Gürtel steckte ein einfacher Dolch mit einem Griff, der aus dem Stoßzahn eines Mammuts geschnitten war. Der Mann bewegte sich sicher und würdevoll durch die Menge, wie jemand, der es gewohnt ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Ehrerbietig wichen die Bewohner der Pfahlstadt vor ihm zurück und bildeten eine schmale Gasse, um ihn vorbeizulassen. Hinter ihm verstummte der überschäumende Jubel, auf dem Steg wurde es allmählich ruhiger.
Mit einer leicht angedeuteten Verneigung seines Kopfes blieb der Mann schließlich vor der Besatzung der Kurnis stehen. Prüfend ließ er seinen scharfen Blick über die fünf Retter gleiten. Besonders die beiden Frauen, Elivara und Kalathee, sah er mit den Augen eines Mannes an, der weiß, wann er wirkliche Schönheit vor sich hat. »Ich begrüße euch im Namen der Stadt Urguth und danke euch für euren mutigen Einsatz«, begann der Mann schließlich. Er sprach mit einer tiefen, aber wohltönenden Stimme. »Ich bin der Fürst dieser Stadt, man nennt mich Jenersen.« Erneut brandete der Jubel der Einwohner auf. Die Leute klatschten in die Hände. Die hinteren sprangen in die Luft, um wenigstens einen kurzen Blick auf die Fremden zu erhaschen. Andere hoben ihre Kinder oder Frauen auf die Schulter und gestatteten ihnen so einen Blick über das wogende Meer der Köpfe. »Euer Eingreifen kam im letzten Augenblick«, fuhr Jenersen fort. »Es hat die Stadt und unser aller Leben gerettet. Ich weiß nicht, was es ist, das euch in diese verlassene Gegend führt, aber ich bitte euch, meine Gäste zu sein. Meine Hütte ist die eurige, solange ihr es wünscht. Die Dankbarkeit der Stadt wird sich als groß erweisen!« »Ich danke dir, Jenersen«, erwiderte Elivara. »Ich bin die Königin von Nyrngor, und die Zerstörung meiner Stadt trieb mich hierher in den Norden und ermöglichte es so, die gänzliche Zerstörung deiner Stadt zu verhindern.« Mit einer Handbewegung deutete Elivara auf ihre Begleiter. »Meine Gefährten Mythor, Kalathee, Sadagar und Nottr haben mich auf meiner Fahrt begleitet, denn es ist nicht Flucht, die mich hierher verschlagen hat, sondern eine Mission, die ich zum Wohl meiner Stadt zu erfüllen habe!« »Eine Mission?« fragte Jenersen. »Wenn du nicht darüber schweigen mußt, so sprich. Ich werde dir helfen, soweit es in
meiner Macht steht. Urguth wird dir alles geben, was du brauchst!« »Du kannst uns helfen«, sagte Elivara. »Es ist nicht viel, um was ich dich bitten möchte. Nur das eine: Zeig mir den Weg, der durch den…« Abrupt wurde Elivara unterbrochen. »Das ist er!« rief eine Frau und deutete mit der ausgestreckten Hand auf Mythor. »Das ist der Held, der die Stadt befreit hat!« Mit heftigen Rippenstößen und unter Einsatz von Händen und Füßen hatte sich die Frau durch die dicht stehende Menge nach vorn durchgearbeitet. Sie stieß auch Jenersen zur Seite und warf sich vor Mythor auf die Knie. Heftig umklammerte sie seine Beine. »Das ist der Mann, der mich gerettet hat«, rief sie dabei immer wieder und küßte seine Füße. »Ich erkenne ihn wieder, er ist es.« Auch Mythor hatte die Frau erkannt. Er hatte sie aus der Gewalt der beiden sasgischen Krieger befreit, die ihn als Frosch bezeichnet hatten. Mühsam wehrte er die Frau ab und versuchte sie hochzuziehen. In die Menge der Zuschauer kam neue Bewegung. Jeder wollte unbedingt das Schauspiel miterleben, das auf den vorderen Stegen stattfand. Mit Hilfe von Jenersen gelang es Mythor schließlich, seine Beine aus der Umklammerung der Frau zu befreien. Er zog sie auf die Füße. »Die gesamte Stadt ist ihm dankbar«, versuchte Jenersen sie zu beruhigen. »Uns alle hat er gerettet!« Sanft zog er sie zurück. So schnell jedoch ließ sich die Frau nicht beruhigen. Sie riß sich los, stürmte von neuem auf Mythor zu und ergriff seine Arme. Sie beugte ihren Kopf und versuchte seine Hände zu küssen. Plötzlich jedoch stutzte sie und richtete sich auf. »Er ist verwundet«, rief sie und hielt Mythors Linke hoch.
»Er blutet. Während ihr hier redet und jubelt, blutet der Held.« Mythor versuchte die Hand zurückzuziehen, aber es gelang ihm nicht. Die Frau hatte ihn fest im Griff. »Ja, du brauchst Hilfe«, stellte jetzt auch Jenersen fest. »Die Hand muß verbunden werden.« »Ich werde ihn pflegen«, sagte die Frau bestimmt. »Ich habe das Blut entdeckt, ich werde es stillen!« Ohne sich weiter um die anderen zu kümmern, zog sie Mythor mit sich fort durch die Menge. Hilflos sahen ihm die Freunde nach. »Sie wird ihn gut versorgen«, murmelte Jenersen. »Sie versteht etwas von Wunden. Sie sammelt Pflanzen aus dem Meer und kleine Tiere. Daraus bereitet sie Salben und Tinkturen. Sie hat schon viele der Unsrigen geheilt. Danach werden wir weiter miteinander sprechen.« »Du wirst uns helfen können«, sagte Elivara. »Du bist der Fürst der Pfahlstadt, und du wirst viel wissen über Sklutur!« Bei der Nennung des Namens zuckte Jenersen kaum merklich zusammen. Für Sekunden wurden seine Augen schmal und lauernd. »Ihr sucht Sklutur?« fragte er leise. Elivara nickte. »Ihr nennt ihn den Beinernen«, fuhr sie fort. »Nyrngor braucht seine Hilfe!« Das freudige Lärmen der Bewohner der Pfahlstadt war mit einem Schlag verstummt. Eine plötzliche Stille lastete über Urguth. Auch Jenersen schwieg lange. Er schien über etwas nachzudenken. Elivara und Kalathee sahen sich verwundert an. Sie begriffen nicht, was sich mit einemmal verändert hatte. Der Steinmann wich unwillkürlich einige Schritte zurück, als ob es etwas vor ihm gebe, was ihn bedrohte. »Wir werden später darüber sprechen«, sagte Jenersen schließlich leise. *
Die Frau zog Mythor quer durch die Pfahlstadt. Sie liefen über schmale Stege, durch enge Gassen und über breite Brücken, die so fest waren, daß sie unter den Schritten nicht einmal schwankten. Zu Beginn des Weges mußten sie noch häufig über die Trümmer von zerstörten Hütten klettern. Später erreichten sie einen Teil der Stadt, der noch völlig unversehrt war. Mythor schloß daraus, daß sie sich dem Festland näherten, denn hier schienen die Sasgen noch nicht gewütet zu haben. Im übrigen hatte er die Orientierung in den kleinen, winkligen Gassen verloren. Die Frau hielt Mythor am Handgelenk des verletzten Armes und schützte die Wunde mit ihren Händen. Sie lief schnell, mit kleinen trippelnden Schritten, und sprang behende und geschickt über Hindernisse und Trümmer, die ihnen im Weg lagen. Während des gesamten Laufes durch die Stadt sprach sie kein einziges Wort. Schließlich blieb sie vor einer Hütte stehen, die eine der niedrigsten und kleinsten war, die Mythor bisher in ganz Urguth gesehen hatte. »Du wirst den Kopf einziehen müssen«, sagte die Frau und stieß die kleine Tür auf. Im Inneren der Hütte herrschte ein warmes, dämmriges Licht. Die Hütte hatte kein einziges Fenster. Kleine Flämmchen, die in mit Fischtran gefüllten Lampen brannten, erleuchteten schwach den Raum. Bizarre Schatten tanzten an den Wänden. Der Innenraum der Hütte war angefüllt mit den seltsamsten Dingen. Auf schmalen Regalen lagen eigenartig geformte Knochen. Mythor konnte nicht entscheiden, von welchem Tier sie stammen mochten. Dazwischen lagen oder standen Gefäße aus Ton, ausgehöhlte Beinknochen, die Pulver der verschiedensten Art enthielten, und seltsame Nadeln, Löffel und Mes-
ser. Die Decke war mit Fischhaut bespannt. Die Schuppen glänzten und flimmerten in den ungewöhnlichsten Farben. Fischköpfe waren an den Wänden befestigt. In den weit aufgesperrten Mäulern brannten ebenfalls winzige Tranflämmchen. Die Augen der Fische bestanden aus glänzenden, bunten Muscheln. Mythor bewegte sich tief gebeugt, um nicht an die niedrige Decke zu stoßen. Interessiert ging er an den Wänden entlang und besah sich die sonderbaren Gegenstände. »Setz dich dort hin!« befahl ihm die Frau und deutete auf einen flachen Hocker, der mit einem glatten, lederartigen Stoff bespannt war. »Leg den Arm auf den Tisch!« Auf dem Tisch lagen Tang und verschiedene andere Pflanzen. Sie waren sorgfältig zurechtgeschnitten und geordnet. Mythor legte seinen Arm vorsichtig dazwischen. Ein starker, fast betäubender Duft ging von diesen Pflanzen aus. »Du interessierst dich für solche Dinge?« fragte die Frau und deutete auf die zahllosen seltsamen Gegenstände, die auf den Regalen der Wände lagen. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete Mythor. Die Frau nahm einen der steinernen Tiegel von dem Regal und hielt ihn über die schwache Glut des Kaminfeuers. Sie drehte ihn langsam und erwärmte ihn gleichmäßig. Dann füllte sie ihn mit den verschiedensten Pulvern. Sie fügte einige der Blätter vom Tisch dazu und begann dann das Ganze mit ruhigen Bewegungen zu verrühren. »Aus diesen Dingen stelle ich Salben und Pulver her«, sagte sie. »Damit kann ich fast alle Schmerzen, Wunden und Krankheiten heilen.« Ihre Stimme wurde leise und klang beschwörend. »Es ist eine große Kunst. Nur wenige kennen die Geheimnisse!« Sie setzte sich neben Mythor und begann mit einem weichen
Stück Stoff die Wunden an seiner Hand zu säubern. Mit einem feinen Messer trennte sie die Hautfetzen ab, die sich über den Brandblasen gebildet und gelöst hatten. Mythor spürte keinen Schmerz. Sorgfältig sammelte die Frau die abgetrennten Hautstückchen, legte sie auf ein kleines Brettchen und begann, sie in winzige Stücke zu zerschneiden. Anschließend warf sie sie in den Tiegel zu dem Pulver. Wieder begann sie sorgfältig zu rühren und zu zerreiben. »Nichts darf verlorengehen«, murmelte sie. »Alles ist ein großer Kreislauf!« Unter den Bewegungen der Frau veränderte sich der Inhalt des Tiegels. Es bildete sich eine feuchte, zähe Masse. Zuerst war sie grau, später wurde sie weiß. Die Frau nickte zufrieden. Sie nahm einen länglich geformten, flachen Knochen als Löffel und bestrich die geschundene Hand Mythors mit der Masse. Dort, wo die Salbe die Wunden berührte, stoppte die Blutung sofort. Ein warmes, angenehmes Gefühl durchfloß die Hand und den Arm. Die Schmerzen, die Mythor schon seit Stunden peinigten, wurden schwächer und hörten schließlich gänzlich auf. Zum Schluß umwickelte die Frau die Hand mit einem Streifen Stoff und verknotete die Enden. »In zwei Tagen ist die Hand geheilt«, sagte die Frau. Mythor erhob sich. »Ich danke dir«, sagte er. »Ich habe noch große Aufgaben vor mir, und es ist wichtig, daß ich mich auf meine Hände verlassen kann.« »Ich habe zu danken«, entgegnete die Frau. »Die ganze Stadt hat zu danken!« Mythor erhob sich und wandte sich der Tür zu. Dort blieb er noch einen Augenblick stehen. Er deutete auf winzige, ineinander verschlungene Knochen, die auf einem der Regale lagen. »Was sind das für Knochen?« fragte Mythor. »Von welchem
Tier stammen sie?« Die Frau sah ihn ernst an. »Es sind keine Tierknochen«, sagte sie mit leiser, dumpfer Stimme. * Die Hütte des Ratschlags war das größte Gebäude in Urguth. Sie war kreisförmig und mit einem spitzen, kegelförmigen Dach gedeckt. Die Wände bestanden aus senkrechten, ausgebleichten Knochenpfählen, die direkt im Grund des Meeres verankert waren. Dadurch war dieses Gebäude das stabilste der ganzen Stadt. Die Zerstörungswut der Sasgen hatte ihm nichts anhaben können. Mythor, Elivara, Kalathee, der Lorvaner und der Steinmann saßen im Inneren der Hütte des Ratschlags auf niedrigen, gepolsterten Schemeln. Ihnen gegenüber hockte Jenersen. Er hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und hielt den Kopf gesenkt. Nachdenklich und in sich versunken starrte er vor sich hin. Rechts und links neben dem Fürsten der Pfahlstadt saßen je vier uralte Männer. Ihre Gesichter waren zerfurcht und faltig. Ein langes, hartes Leben als Fischer auf dem Meer der Spinnen hatte sie geprägt. Schlohweißes Haar hing ihnen lang bis auf die hageren Schultern. Sie hatten die Hände im Schoß gefaltet, und ihre dürren, knochigen Finger sahen aus wie Krallen. Hinter den alten Männern und Jenersen standen die meisten der übrigen Bewohner der Pfahlstadt und warteten geduldig und stumm auf den Beginn des Gesprächs. Sie starrten in das niedrige Feuer, das in der Mitte der Hütte brannte. Ein feiner Rauchfaden stieg senkrecht von diesem Feuer auf und verschwand durch eine kleine Öffnung in der Spitze des Hüttengiebels. »Urguth war eine friedliche Stadt«, begann schließlich Jener-
sen mit monotoner Stimme. Wahrend er sprach, hielt er noch immer den Kopf gesenkt und sah vor sich auf den Boden. Seine Rede glich einem Selbstgespräch. »Wir kannten keine Feinde und keine Gefahren. Wir haben keine Kriege geführt und brauchten uns nicht zu fürchten vor den Bedrohungen des Meeres. Der undurchdringliche Gürtel des Mammutfriedhofes gab uns das Material für unsere Hütten und trennte uns von allem Bedrohlichen, was das feste Land in sich barg!« Elivara unterbrach ihn ungeduldig. »Du sagst, das Meer hatte keine Gefahren für euch«, sagte sie. »Haben euch nie die Riesenspinnen angegriffen, habt ihr nie gegen die Vallsaven kämpfen müssen?« Jenersen hob den Kopf und sah die Königin von Nyrngor an. »Doch, sie haben uns angegriffen, aber wir haben nie gegen sie kämpfen müssen«, antwortete er. Elivara blickte ihn verständnislos an. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. Jenersen lächelte, als er ihre Verwirrung bemerkte. »Auch wir haben das lange Zeit nicht verstanden«, fuhr er fort. »Schon viele Male sahen wir die gewaltigen Spinnen weit draußen auf dem Meer auftauchen. Schneller als das schnellste Schiff näherten sie sich unserer Stadt. Wir haben das häßliche Schmatzen ihrer Kiefer gehört. Manche der Unsrigen sind fast gestorben vor Angst; wir alle fürchteten, umkommen zu müssen. Doch immer dann, wenn wir keine Hoffnung mehr sahen, griff eine gewaltige Macht ein, über die ich nichts weiß. Die Spinnen und die Vallsaven fielen übereinander her. Sie zerrissen sich gegenseitig und verschlangen sich in einem wilden Kampf. In solchen Augenblicken verdüsterte sich der Himmel, schwarze Nebelbänke trieben über das Wasser, und in der Luft hing ein dumpfes Dröhnen wie das Stöhnen und Klagen eines gewaltigen Wesens. Unirdische Gewalten übernahmen dann die Macht, hoben die uralten Gesetze der Natur auf,
nach denen sich bis dahin der Lauf der Welt richtete, und führten für uns den Kampf gegen die Bedrohungen, die sich aus dem Meer erhoben.« Jenersen machte eine Pause und schwieg lange. Auch Elivara unterbrach die Stille nicht und stellte keine Fragen. »Erst später haben wir mehr darüber erfahren«, fuhr der Fürst der Pfahlstadt nach einer Weile fort. »Es gab jemanden, der seine schützende Hand über Urguth hielt. Er beobachtete uns, wie man spielende Kinder beobachtet und schützt. Er sorgte dafür, daß wir friedlich und ohne Gefahren leben konnten, daß es uns an nichts mangelte. Ja, auch wenn wir in schlechten Zeiten vom Hunger bedroht wurden, schickte er uns Schwärme von Fischen und ließ uns in Völlerei schwelgen!« »Sklutur«, murmelte Elivara leise. »Ja, Sklutur, den wir den Beinernen nennen«, bestätigte Jenersen. »Er hütete uns wie seine Kinder.« Mythor hatte nachdenklich zugehört. Ihm war aufgefallen, daß Jenersen von dem Beinernen immer nur so sprach, als ob er eine Erscheinung aus einer längst vergangenen Zeit sei. »Wenn es so ist, wie du sagst, wie konnte es dann geschehen, daß die Sasgen ungehindert über eure Stadt herfallen und sie fast ganz zerstören konnten?« fragte Mythor. »Du hast recht«, antwortete ihm Jenersen. »Das läßt sich nur schwer verstehen. Wir wissen es auch nicht. Wir haben keine Erklärung dafür. Schon seit einer gewissen Zeit können wir uns nicht mehr auf Sklutur verlassen. Früher geschah es von Zeit zu Zeit, daß er seinen Sitz im Mammutfriedhof verließ und die Stadt besuchte. Er stand nächtelang auf den letzten Stegen weit draußen im Meer und starrte wortlos in die Ferne. Doch schon seit ungefähr einem halben Jahr hat ihn niemand mehr gesehen. Etwa seit dieser Zeit blieb auch seine Hilfe für uns aus.«
Mythor sah Elivara nachdenklich an. »Kommen wir zu spät?« fragte Elivara leise. »War unsere Reise umsonst?« »Warum schickt ihr keine Abordnung zu ihm?« fragte Mythor den Fürsten. »Habt ihr nie versucht, ihn zu sprechen?« Jenersen sprang erregt auf. Auch die Greise neben ihm, die bisher ruhig und in sich zusammengesunken zugehört hatten, strafften ihre eingefallenen Körper und blickten erschrocken auf den Frager. Ein Raunen und Tuscheln lief durch die Hütte. »Niemand darf den Mammutfriedhof betreten!« rief Jenersen mit lauter Stimme. Die Wände der Hütte warfen die Worte als Echo zurück. »Das ist das einzige Gebot, das der Beinerne erlassen hat. Der sofortige Tod ist die Strafe für die Mißachtung dieser Anordnung!« Einer der Greise neben dem Fürsten erhob sich und ging mit zögernden Schritten auf Mythor zu. Dicht vor ihm blieb er stehen. »Ich ahne, warum ihr gekommen seid«, begann er mit brüchiger Stimme. »Ihr hofft, daß ihr die Macht des Beinernen für die bedrohte Stadt Nyrngor erlangen könnt. Sklutur soll euch helfen, wie er Urguth hilft oder geholfen hat. Es ist euer gutes Recht, so etwas zu wünschen. Aber niemals dürft ihr das Verbot Skluturs übertreten. Auch uns hat er geholfen, ohne daß wir ihn darum gebeten haben.« »Es gibt ein Abkommen mit dem Beinernen«, mischte sich Elivara ein. »Sklutur hat meinem Vater das Versprechen gegeben, ihm beizustehen, wenn er seine Hilfe benötigt. Wir sind hier, um an dieses Versprechen zu appellieren!« »Mag sein.« Der Greis zuckte mit den dünnen Achseln und wandte sich ab. Mit schlurfenden Schritten ging er zurück zu seinem Schemel. Erschöpft ließ er sich darauf nieder. »Mag alles sein«, sagte er dort noch einmal. »Der Mammutfriedhof ist verbotenes Gebiet«, sagte Jenersen
hart. »In der Pfahlstadt seid ihr willkommen und werdet bewirtet wie die Fürsten. Ihr habt die Stadt gerettet, unsere Dankbarkeit ist euch gewiß. Aber wenn ihr es wagt, euch über das Verbot hinwegzusetzen, seid ihr Feinde.« Er drehte sich auf der Stelle um und verließ die Hütte des Ratschlags. Die Greise folgten ihm, danach die zahlreichen Zuschauer. Die fünf aus Nyrngor blieben allein zurück. * Mythor löste sich aus der Umarmung Elivaras und lehnte sich zurück. Er blickte in den funkelnden Sternenhimmel über sich und ließ den milden Nachtwind über seine Haut streichen. Unter sich hörte er das leise Plätschern des Meeres, wenn die Wellen gegen die fahlen Stützpfähle schlugen. »Oft wünsche ich mir, du wärest nicht der Sohn des Lichtboten«, flüsterte Elivara und ließ ihre Hand über Mythors Körper gleiten. »Vor allem in Augenblicken wie diesem.« Mythor schloß die Augen und schwieg. Er achtete weniger auf die Worte der Frau als vielmehr auf die sanften Berührungen ihrer Hand. »Manchmal wünsche ich mir, daß wir uns in ein Land zurückziehen könnten, in dem es nur uns beide gibt und nur Momente unbeschreiblichen Glücks«, fuhr Elivara fort. »Ich wünsche es mir und ersehne es brennend, und schon im nächsten Augenblick schäme ich mich dafür. Ich schäme mich dafür, daß ich nur an mich denke und dabei mein Volk vergesse, das von den Mächten der Schattenzone geknechtet wird.« Leises Stimmengemurmel und ein kaum merkliches Schwanken des Steges unterbrachen Elivara. Sie setzte sich auf und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Irgendwo in ihrer Nähe bewegte sich jemand.
»Ich glaube, Jenersen läßt uns überwachen«, flüsterte die Königin. »Selbst in Augenblicken wie diesen läßt er uns nicht unbeobachtet. Er fürchtet, daß du trotz des Verbots den Mammutfriedhof betreten willst.« »Ganz unrecht hat er damit nicht«, antwortete Mythor leise. »Vielleicht aber sind es auch Aufpasser, die Kalathee für dich geworben hat«, fügte Elivara etwas spöttisch hinzu. »In diesem Moment erduldet sie wahrscheinlich schlimme Qualen, denn sie weiß, daß wir beide allein sind.« »Was meinst du damit?« fragte Mythor und schlug die Augen auf. Elivara zuckte mit den Schultern und verzog schnippisch ihren Mund. »Oh, nichts Besonderes«, sagte sie. »Ich beobachte nur sorgfältig und mache mir so meine Gedanken. In den Augen einer Frau kann man meistens besser lesen und mehr über ihre Wünsche erfahren als durch die Worte, die sie spricht.« Mythor sah Elivara lange an. Er blickte tief in ihre bernsteinfarbenen Augen. Ihr voller Mund öffnete sich leicht, und ihre weißen Zähne leuchteten hell hinter den glänzenden Lippen. »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mythor. Er zog Elivara dicht an sich heran. Ihr Körper gab nach, und sie schmiegte sich an ihn. * Die Pfahlstadt Urguth lag in tiefem Schlaf. Finsternis lag über der Stadt. Von Westen her zogen schwarze Wolken über den Himmel und verdunkelten auch noch das schwache Licht der Sterne. Vereinzelte Fackeln erleuchteten nur unvollkommen die verlassenen Stege. Auf der Meerseite patrouillierten Wachen. Die Bewohner der Stadt hatten aus dem Überfall der Sasgen gelernt und würden künftig wachsamer und vorsichtiger sein. Schon am vergan-
genen Abend hatten sie begonnen, Urguth mit einer Befestigung zu umgeben. Sie hatten akzeptiert, daß auf ihren alten Schutz, auf Sklutur den Beinernen, kein Verlaß mehr war. Künftig würden sie auf sich selbst gestellt sein und für sich selbst sorgen müssen. In die dunklen Schatten der Fischerhütten preßte sich eine vermummte Gestalt. Sie war mit einer langen schwarzen Kutte bekleidet, der Kopf war unter einer Kapuze verborgen. Sie schlich vorsichtig und geduckt. Jeden Schatten zwischen den niedrigen Hütten nutzte sie aus, um sich zu verbergen. Vor der Hütte des Ratschlags verharrte sie. Sie drückte sich gegen die festen Pfähle der Wand und sah sich vorsichtig nach allen Seiten hin um. Dann glitt sie plötzlich auf die Tür zu und war schon im nächsten Augenblick im Inneren der Hütte verschwunden. Das Feuer in der Mitte des Raumes war niedergebrannt. Weiße Asche bedeckte in einer dünnen Schicht die noch warme Glut. Um das Feuer herum lagen fünf längliche Bündel. Die Bündel atmeten, eins schnarchte rasselnd. Langsam bewegte sich die vermummte Gestalt auf die Schlafenden zu. Sie beugte sich über die Gesichter jedes einzelnen und betrachtete sie. Schließlich blieb sie stehen. »Mythor!« flüsterte die Gestalt und berührte das Bündel vor sich leicht mit der Hand. Das Atmen des Schlafenden wurde unregelmäßig. Er bewegte sich und zuckte mit der Hand. »Mythor, wach auf!« flüsterte die Gestalt noch einmal. Im nächsten Augenblick war Mythor hellwach. Er richtete sich auf und starrte die vermummte Gestalt über sich an. »Folge mir«, sagte die Gestalt. Sie faßte Mythor an der Hand und zog ihn hoch. »Aber sei leise!« Mythor fuhr sich mit der Hand über die Augen, um sich von den Resten des tiefen Schlafes zu befreien, die ihn noch gefan-
genhielten und seine Sinne benebelten. Die vermummte Gestalt drängte. »Schnell, wir haben nicht viel Zeit!« Irgend etwas in Mythor warnte ihn, zu folgen. Er zögerte, und seine Hand tastete nach dem Gläsernen Schwert im Gürtel. Der Griff schmiegte sich warm in seine Handfläche und strahlte ein Gefühl der Beruhigung aus. »Wer bist du?« fragte Mythor ebenso leise wie sein seltsames Gegenüber. Er hatte noch nicht einmal unterscheiden können, ob es sich bei der Gestalt um eine Frau oder einen Mann handelte. Die tonlose Stimme gab darüber keinen Aufschluß. »Später«, flüsterte die Gestalt. Sie griff wieder nach seiner Hand, um ihn mit sich zu ziehen. Dabei spürte sie, daß Mythors Hand auf dem Schwert lag. Erschrocken wich sie zurück. »Ich bin ein Freund«, sagte sie schnell. »Laß die Waffe stecken und folge mir, ehe es zu spät ist. Du willst zu dem Beinernen, ich kann dir helfen!« Der Hinweis auf Sklutur gab den Ausschlag. Mythor zerstreute alle Bedenken. Er wollte keine Möglichkeit ungenutzt lassen, die sein Vorhaben beschleunigen konnte. Er verließ die Hütte. Die Gestalt lief mehrere Schritte vor Mythor her. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, sah sich um und winkte ihm. Sie entfernte sich nicht weit von der Hütte des Ratschlags. Schon bald huschte sie in eine schmale, dunkle Gasse. Die Fischerhütten standen hier so dicht, daß kaum das Licht der Fackeln in den Durchgang drang. Wieder kamen Mythor Bedenken. Er hatte nicht einmal seine Gefährten informiert. Was, wenn dies eine Falle war? Um gegen jede mögliche Gefahr gewappnet zu sein, zog er Alton aus dem Gürtel. Fahl leuchtete die Klinge in der Dunkelheit der Gasse. Nach weniger als hundert Schritten blieb die Gestalt stehen
und drehte sich nach Mythor um. Sie wartete auf ihn. Er näherte sich langsam und vorsichtig. Mythor achtete auf jede Bewegung der Gestalt. Er versuchte zu erkennen, ob sie Waffen trug. Aber der weite schwarze Umhang verbarg alles. Selbst ihre Hände waren in den Falten verborgen. »Wer bist du?« fragte Mythor und versuchte durch den schmalen Schlitz, den die Kapuze frei ließ, das Gesicht zu erkennen. Aber er sah nur Dunkelheit. Sehr langsam bewegte sich die Gestalt. Ihre Arme zogen sich aus dem Gewand zurück. Jeden Augenblick mußten die Hände erscheinen. Mythor rechnete damit, daß sie einen Dolch oder eine andere Waffe hielten. Er trat einen Schritt zurück und hob sein Schwert. Er richtete die leuchtende Spitze auf die Brust der Gestalt. Jetzt hatten die Hände den Umhang verlassen. Die Haut schimmerte hell im schwachen Licht. Die Hände waren zartgliedrig und fein. Die Handflächen waren geöffnet und wiesen nach oben. Sie hielten keine Waffe. Mythor entspannte sich ein wenig, aber er blieb noch immer aufmerksam. Er hielt Alton weiterhin stoßbereit. Die Arme der Gestalt wanderten nach oben. Ihre Hände ergriffen den Rand der Kapuze und schlugen sie zurück. Im unsicheren Licht der flackernden Fackeln sah Mythor das Gesicht einer Frau. Es kam ihm sofort bekannt vor, er hatte sie schon einmal gesehen. Es war die Frau, die er mit ihrem Kind in einer der Fischerhütten entdeckt und gerettet hatte. »Erkennst du mich wieder?« fragte sie. Mythor nickte wortlos. Er schob das Schwert zurück in den Gürtel. »Du hast mein Leben und das meines Kindes gerettet«, flüsterte die Frau weiter. »Jetzt kann ich dir einen Gefallen tun.« Wieder sah sie sich gehetzt um, um versteckte Lauscher oder
Beobachter frühzeitig zu erkennen. Mythor ahnte, daß sie viel riskierte. »Ich weiß, daß du zu Sklutur willst. Deshalb sollst du wissen, daß es jemanden gibt, der das Recht hat, den Mammutfriedhof zu betreten. Aber wir müssen vorsichtig sein, Jenersen läßt dich überwachen. Er fürchtet, daß du trotz des Verbotes versuchen willst, in den Friedhof einzudringen.« »Ich weiß«, sagte Mythor. »Ich habe die Bewacher bereits gesehen.« »Zur Zeit glauben die Wachen, daß du fest schläfst, und sind unaufmerksam. Sie sitzen weit draußen auf den Stegen und trinken Tranwein. Wir haben etwas Zeit.« »Erzähl mir, was du weißt«, drängte Mythor. »In dieser Hütte dort wohnt Sanderholm«, erklärte die Frau und deutete auf ein verfallenes Gebäude am Ende der Gasse. »Er ist ein Greis, niemand weiß, wie alt er wirklich ist. Solange irgend jemand auch nur zurückdenken kann, wohnt er schon in Urguth. Er beteiligt sich nicht am gemeinsamen Fischfang und lebt für sich allein. Er spricht nie, er ist stumm. Wir nennen ihn den Schlafenden Fischer, weil er immer schlafend in seiner Hütte liegt. Tag für Tag und Nacht für Nacht schläft er fest. Nur manchmal wacht er auf. Dann nimmt er ein wenig Nahrung zu sich und verschwindet im Mammutfriedhof. Es heißt, er besucht Sklutur. Man sagt, daß er von dem Beinernen immer von neuem die Kraft der Jugend erhält, denn wenn er zurückkehrt, scheint er gestärkt und verjüngt.« »Du meinst, Sanderholm kann uns führen?« fragte Mythor. »Wenn du den Beinernen finden willst, brauchst du die Hilfe des Schlafenden Fischers«, sagte die Frau. »Niemand außer ihm hat jemals den Mammutfriedhof lebend verlassen!« Die Frau zog die Kapuze wieder über ihren Kopf und verbarg ihr Gesicht hinter dem dunklen Tuch. »Ich muß gehen«, flüsterte sie. »Jenersen darf nicht erfahren, daß ich mit
dir geredet habe.« »Ich werde schweigen«, versprach Mythor. In der verfallenen Hütte herrschte ein furchtbarer Gestank. Es roch nach Tran und Moder. Der Geruch legte sich schwer auf Mythors Lungen, als er die niedrige Tür aufstieß und das Innere der Hütte betrat. Ein einziges Licht erhellte notdürftig das tiefe Dunkel. Die Lampe bestand aus einer knöchernen Schale, die mit einer öligen Flüssigkeit gefüllt war. In der Mitte befand sich ein Docht aus einem gedrehten Stück Stoff, der eine flackernde Flamme nährte. Ein Schauer durchfuhr Mythor, als er entdeckte, daß die Schale aus einem Schädel gefertigt war. Einem Menschenschädel. Riesige Schwärme von Fliegen und Käfern bevölkerten die geschwärzten Wände und den nackten Boden. Überall bewegte es sich, wimmelte und krabbelte. Schleimbedeckte Lurche und Schlangen lagen in den dunklen Ecken und starrten den nächtlichen Besucher aus großen schwarzen Augen an. Von Zeit zu Zeit verirrten sich Insekten in die Flamme der Lampe. Ihre transparenten Flügel und kleinen Panzer knackten häßlich, wenn sie verbrannten. Diese Geräusche und die regelmäßigen Atemzüge des schlafenden Mannes in der Mitte der Hütte waren die einzigen Laute. Der Mann lag auf dem Boden und hatte die angewinkelten Knie fest an die Brust gezogen. Sein Kopf ruhte auf dem linken Arm. Der Mann war barfuß. Sein dürrer, ausgemergelter Körper steckte in einem schlichten, dunkelbraunen Tuchkleid ohne Gürtel und ohne jegliche Verzierungen. Mythor schob die Lampe näher an den Schlafenden heran und betrachtete ihn. Es war unmöglich, das Alter des Mannes zu schätzen. Das Gesicht war grau und eingefallen, die blutleeren Lippen waren so dünn, daß der Mund wie ein schmaler Strich aussah. Das ganze Gesicht bestand fast nur aus Falten.
Das schlohweiße Haar des Mannes war von silbrigen Strähnen durchzogen und zu einem langen Zopf geflochten, der bis auf die Hüfte reichen mochte. Jetzt lag er zusammengerollt wie eine Schlange neben seinem Kopf. Mythor faßte den Greis an der Schulter. Er erschrak, weil sich sein Körper so dünn und zerbrechlich anfühlte, als ob er nur aus hauchdünnen Knochen bestünde. Vorsichtig bewegte Mythor den Mann. Er fürchtete, daß er ihm unter den Händen zerbrechen könnte. »Sanderholm«, flüsterte Mythor. »Sanderholm, wach auf!« Allmählich ließ Mythor seine Stimme lauter werden und schüttelte den Schlafenden auch heftiger. Doch seine Bemühungen waren umsonst. Es war nicht möglich, den Greis aufzuwecken. Er veränderte weder seine Haltung, noch wurden die Atemzüge unregelmäßiger. Etwas Feuchtes, Kaltes kroch über Mythors Hand. Er zuckte zurück und sah einen fast armlangen schwarzen Lurch. Der breite Kopf des Tieres pendelte gemächlich hin und her. Eine klebrige, schleimige Masse klebte dort an Mythors Hand, wo ihn das Tier berührt hatte. Der Lurch richtete sich auf und öffnete den Mund. Ein Fauchen wie von einer Katze drang aus dem feuerroten Schlund. Es klang warnend und drohend. Noch einmal sprach Mythor den Schlafenden Fischer an, um ihn zu wecken, doch auch diesmal vergeblich. Der Mann schlief so tief und fest, wie kein Irdischer je geschlafen hat. Er schlief wie betäubt. Mythor sah ein, daß er in dieser Nacht nichts erreichen konnte. Er erhob sich und zog sich zur Tür zurück. Langsam und gemächlich kroch der Lurch wieder in seine dunkle Ecke. *
Die Hände tauchten plötzlich aus der Dunkelheit auf und packten Mythor von allen Seiten. Sie rissen an seiner Kleidung, umklammerten seine Beine und preßten seinen Hals. Sie bogen ihm die Arme auf den Rücken und verdrehten die Handgelenke. Soweit es Mythor in der Dunkelheit erkennen konnte, wurde er von sechs Männern gleichzeitig angegriffen. Es mußten alles große, bärenstarke Kerle sein, denn ihre Umklammerungen und Griffe waren so hart und fest, als wären sie aus Eisen. Mythor bäumte sich auf. Er spannte seine Muskeln und versuchte seine Arme zu befreien. Zwei der Angreifer strauchelten und gingen zu Boden. Einen dritten bekam er an der Kleidung zu fassen. Er riß ihn näher zu sich heran und schlug ihm die geballte Faust gegen die Schläfe. Aufstöhnend sackte der Mann in sich zusammen. Die übrigen Angreifer waren von der heftigen Gegenwehr einen Augenblick überrascht. Wahrscheinlich hatten sie damit gerechnet, leichtes Spiel zu haben. Sie wichen einige Schritte zurück, um aus Mythors Reichweite zu kommen. Mythor knickte in den Knien ein, um einen festeren Stand zu haben. Er hob die linke Hand und ballte sie zur Faust. Die rechte legte er auf den Griff des Gläsernen Schwertes. Nur wenig Licht drang von den vereinzelt aufgestellten Fackeln bis in diese Gasse. Die Schatten vollführten einen wilden Tanz auf den bleichen Knochenwänden der Fischerhütten. In dem unsicheren Licht musterte Mythor die Männer. Er wunderte sich darüber, daß sie zwar mit Schwertern und Dolchen bewaffnet waren, die Waffen aber nicht aus den Gürteln zogen. Aus diesem Grund ließ er Alton ebenfalls in der Gürtelschlaufe stecken. Von neuem griffen die Männer an. Doch auch diesmal gingen sie nur mit den bloßen Fäusten auf ihn los. Allerdings verstanden sie zu kämpfen. Wie ein Hagelschauer prasselten die
Schläge auf Mythor ein. Es gelang Mythor kaum, die Schläge abzuwehren. Von allen Seiten hieben die Angreifer auf ihn ein. Mit kurzen, knappen Schlägen versuchten sie seine Deckung zu durchbrechen und ihn am Kopf zu treffen. Ihre Gesichterwaren verzerrt, ihr Atem ging pfeifend. Vor den Mündern kondensierte ihr Atem zu einer weißen Wolke. Mit einem plötzlichen Vorstoß gelang es Mythor schließlich, einen weiteren Angreifer so hart zu treffen, daß der Mann rücklings über das niedrige Knochengeländer des Steges stürzte und ins Meer der Spinnen fiel. Erschrocken und verängstigt wichen die restlichen beiden Männer einige Schritte zurück, doch diesmal wollte Mythor ihnen keine Kampfpause gönnen. Er sprang vor, um anzugreifen. »Er kämpft wie ein Dämon«, murmelte einer der Angreifer atemlos. Zu sechst hatten sie einen einzelnen Mann aus dem Hinterhalt angefallen, jetzt waren sie nur noch zu zweit. Sie hatten kein leichtes Spiel. »Kein Dämon, nur ein guter Kämpfer«, meldete sich eine Stimme hinter Mythor. Mythor wirbelte herum. Drei weitere Männer waren aus der Dunkelheit aufgetaucht. Oder hatten sich die Angreifer, die Mythor gleich zu Beginn des Kampfes niedergeschlagen hatte, schon wieder erholt? Mythor hatte keine Zeit, über diese Frage nachzudenken. Ein seltsamer schwarzer Schatten löste sich aus der Hand eines der Männer. Der Schatten breitete sich aus und flog auf Mythor zu. Der schlug mit der Faust gegen den Schatten, um ihn abzuwehren, aber er traf nur etwas Weiches, was sofort nachgab und sich um seinen Arm schlang. Gleichzeitig erreichte der Schatten seinen übrigen Körper und hüllte ihn ein. Sobald sich der Schatten um Mythor gelegt hatte, nahm er an Festigkeit zu. Er preßte Mythors Arme an den Leib und
schnürte seinen Körper fest zusammen. Mit einem Triumphgeschrei stürmten die Angreifer auf Mythor ein. Er war unfähig, sich zu bewegen. Das Fischernetz, in dem er sich gefangen hatte, war unzerreißbar. Mit jeder heftigen Bewegung zogen sich die Maschen enger zusammen. Die Angreifer schlugen Mythor gegen die Beine und stießen ihn um. Ohne sich mit den gebundenen Händen abstützen zu können, schlug er hart auf die Knochenplatten des Steges. Ein brennender Schmerz durchzog seine Schulter. Vor seinen Augen tanzten zahllose winzige Sterne. Obwohl Mythor nun wehrlos und zu jeder Bewegung unfähig war, schlugen die Angreifer weiter auf ihn ein. Den Ärger und die Wut über ihre anfängliche Niederlage ließen sie nun an ihrem Gefangenen aus. Noch einmal versuchte Mythor sich aufzubäumen, dann traf ihn die Faust eines Angreifers mit voller Wucht seitlich am Kopf. Ein gleißender Blitz explodierte in seinem Kopf und raubte ihm die Sinne. Er versank in einem wirbelnden Strudel und hatte auf einmal das Gefühl zu schweben. Er spürte nicht mehr, daß die Männer seinen wehrlosen Körper weiter mit Tritten und Schlägen traktierten. * Tausende von Mammuts tauchten am Horizont auf und ließen die Erde erzittern. Die Herde jagte über die Ebene und stampfte alles nieder, was sich ihr in den Weg stellte. Sie hinterließen eine Spur totaler Verwüstung. Der Boden bebte, in der Luft lag ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Mythor wußte, daß die Mammuts auf ihn zujagten. Das Trommeln der stampfenden Beine raubte ihm fast die Besinnung. Er versuchte zu fliehen. Er richtete sich auf, öffnete mühsam die verklebten Augen, und ringsum war alles ruhig.
Nirgendwo eine Bewegung, nirgendwo ein Mammut. Nur das schmerzhafte Dröhnen blieb. Es kam aus seinem eigenen Kopf. Mythor wußte wieder, was geschehen war. Das zarte Gesicht Kalathees beugte sich über Mythor. Ihr weißblondes, lockiges Haar fiel nach vorn und wallte über sein Gesicht. »Er kommt wieder zu sich«, sagte sie. Mythor starrte nach oben und sah weit über sich das kleine Lüftungsloch im Dachgiebel der Hütte des Ratschlags. Eine weiße Rauchwolke suchte dort oben den Weg ins Freie. Mythor wußte wieder, wo er sich befand, und die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte vollends zurück. Er richtete sich auf und sah zu seinen Füßen die Reste des Fischernetzes liegen. Kalathee legte ihm einen feuchten, kühlen Lappen auf die Stirn. Seine Gedanken wurden wieder klar, das Dröhnen und schmerzhafte Pochen in seinem Schädel ebbte allmählich ab. »Sie haben dich ganz schön zugerichtet«, sagte Elivara und hockte sich neben ihn. »Du mußt sie in ziemliche Aufregung versetzt haben.« »Sie werden es büßen müssen, sie werden mich kennenlernen«, schimpfte Nottr. Er hatte sein Schwert gezogen, lief in der Hütte hin und her und fuchtelte mit der Waffe in der Luft herum. »Wir dürfen nichts überstürzen«, warnte Sadagar vorsichtig. Er kratzte sich nachdenklich die faltige Stirn. »Erzähl, was geschehen ist«, forderte Elivara. »Warum treibst du dich in der dunklen Nacht in der Stadt herum?« fügte sie mit einem spitzbübischen Lächeln und mit einem Seitenblick auf Kalathee hinzu. »Ich habe einen Führer gesucht«, erklärte Mythor. »Es gibt jemanden, der einen Weg durch den Mammutfriedhof kennt!« »Was soll uns das nützen?« fragte Sadagar. »Denkt an die Wachen!«
»Wachen?« fragte Mythor. Elivara nickte. »Nachdem sie dich als zusammengeschnürtes Bündel im Fischernetz zurückgebracht haben, sind vor der Tür Wachen aufgezogen. Zehn schwerbewaffnete Männer. Sie werden regelmäßig kontrolliert und ausgewechselt. Wir können die Hütte nicht verlassen. Wir sind Gefangene!« »Gefangene?« brüllte Nottr. »Niemand nimmt einen Lorvaner gefangen.« Er stand in der Mitte der Hütte, das gezogene Schwert in der ausgestreckten Hand. »Gebt mir ein Zeichen, und es gibt keine Wachen mehr!« »Laß uns erst darüber nachdenken«, beschwichtigte ihn der Steinmann. »Jetzt darf man keine Fehler machen!« Mythor tastete nach seiner Hüfte und beruhigte sich, als er den warmen Griff Altons in seiner Hand spürte. »Sie haben uns nicht entwaffnet«, stellte Elivara fest. »Obwohl sie bei dir die Gelegenheit dazu hatten!« »Ja, wir hatten dazu Gelegenheit!« Jenersen, der Fürst der Pfahlstadt Urguth, war unter der niedrigen Tür der Hütte erschienen. Der schlanke, hochgewachsene Mann blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben es nicht getan, weil wir euch nicht als Feinde betrachten wollten. Ihr habt uns gerettet. Wir haben viel an euch gutzumachen.« »Sehr richtig«, bestätigte Sadagar eifrig. »Aber ihr habt versucht, euch über die Gebote dieser Stadt hinwegzusetzen«, fuhr Jenersen fort. »Ihr habt euren Plan, in den Mammutfriedhof einzudringen, nicht aufgegeben, obwohl es euch verboten wurde. Wir mußten euch vor euch selbst schützen. Deshalb dürft ihr diese Hütte nicht mehr ohne Bewachung verlassen!« »Soll ich dir etwas sagen, Fürst«, sagte Nottr mit betont ruhiger Stimme und stellte sich dicht vor den hageren Mann. »Ich bin es gewohnt, immer selbst zu entscheiden, was ich darf und was ich nicht darf.« Er setzte die Spitze seines Schwertes
auf Jenersens Brust. »Es gibt nur eine Sache, die er gern möchte, aber trotzdem nicht darf«, kicherte Sadagar und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Kalathee. Sobald der Satz heraus war, biß sich der Steinmann auf die Lippen, duckte sich und sah ängstlich zu Nottr auf. Der Lorvaner hatte die Worte entweder nicht gehört, oder er beachtete sie einfach nicht. Er blickte dem Fürsten fest in die Augen. »Ich weiß, daß ihr tapfer seid«, antwortete Jenersen. »Ihr habt es bei der Rettung der Stadt bewiesen. Aber ich kann nicht anders handeln. Der Mammutfriedhof darf nicht betreten werden!« Ohne sich noch weiter um die fünf aus Nyrngor zu kümmern, drehte sich der Fürst um und ging auf die Tür zu. »Die Fässer der Kurnis werden von meinen Leuten mit frischem Trinkwasser gefüllt, ebenso der Lagerraum mit Dörrfisch und allen anderen notwendigen Lebensmitteln. Wenn ihr zurücksegeln wollt, das Schiff ist jederzeit bereit!« »Noch werden wir nicht zurücksegeln«, murmelte Mythor. Seine Hand schloß sich um den Griff des Gläsernen Schwertes. Mit ihrem unteren Rand berührte die Sonne am fernen Horizont das Meer der Spinnen. Mit ihren Strahlen färbte sie das Wasser blutrot und tauchte auch die bleichen Wände der Pfahlstadt in ein warmes Licht. Die Wachen vor der Hütte des Ratschlags wurden für die Nacht verstärkt. Zwanzig schwerbewaffnete Männer hockten vor der Tür der Hütte auf dem Boden. Sie schliffen die Schneiden ihrer Schwerter und schärften die Spitzen der Speere und Dolche. Neben der nur angelehnten Tür, die in das Innere der Hütte führte, standen zwei weitere Krieger und blinzelten gelangweilt in die tiefstehende Sonne. Sie standen gegen die Türpfos-
ten gestützt und hielten Schwerter in ihren Fäusten. Außerdem patrouillierten Wachen in unregelmäßigen Abständen um das Gebäude. Die Hütte des Ratschlags war zu einem ausbruchsicheren Gefängnis geworden. Eine Frau näherte sich durch eine schmale Gasse den Wachen. Auf den Schultern trug sie ein knöchernes Traggestell mit mehreren dickbauchigen Gefäßen. Hinter ihr ging Jenersen. »Willkommen, Helar«, wurde die Frau von den Soldaten begrüßt. »Du bist stets der angenehmste Anblick des Tages!« Die Frau verzog ihr Gesicht. »Ihr seid eine verfressene Bande«, schimpfte sie. »Nicht mein Anblick erfreut euch, sondern der Anblick der Fischtöpfe!« »Nicht doch, Helar«, behaupteten die Soldaten. »Dein Essen erhält erst durch deine Anwesenheit die richtige Würze!« »Was wißt ihr schon von Würze«, gab die Frau zurück. »Euch interessiert doch nur, daß der Wanst gefüllt wird. Was ihr eßt, ist euch völlig egal. Ich begreife selbst nicht, warum ich mir soviel Mühe mit euch mache!« Inzwischen hatte sie den Kreis der Soldaten erreicht und setzte das schwere Traggestell ab. In den dickbauchigen Gefäßen schwappte eine dunkle, dampfende Flüssigkeit. Die Wachen suchten ihre Eßgefäße und versammelten sich um die Töpfe. »Wartet!« schaltete sich Jenersen ein. »Ihr könnt nicht gleichzeitig essen. Wechselt euch ab, die Tür muß ständig bewacht bleiben. Laßt sie keinen Augenblick aus den Augen! Unsere Gäste sind geschickt und schnell. Unterschätzt sie nicht!« Murrend zogen sich vier der Soldaten wieder zurück und bauten sich neben der Tür auf. Mit gierigen Augen sahen sie ihren Kameraden beim Essen zu. Hungrig leckten sie sich über die Lippen. Jenersen entfachte in der Zwischenzeit das niedrige Feuer
neu und verteilte Fackeln rings um das Gebäude des Ratschlags. Als die Sonne untergegangen war, erhellten zahllose flackernde Flammen die gesamte Umgebung der Hütte. »Seid wachsam!« mahnte Jenersen abschließend die Wachen. »Bei den geringsten Anzeichen eines Ausbruchs gebt ihr Alarm.« »Sie werden uns nicht entwischen«, versprach eine der Wachen, während sie große Schlucke von der dunklen, heißen Brühe schlürfte. »Stärkt euch!« forderte Helar. »Mein Essen ist genau das richtige für euch.« * Ein niedriges Feuer brannte im Inneren der Hütte des Ratschlags. Mythor, Elivara, Kalathee, Nottr und Sadagar hockten um die Flammen. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Mythor hatte die Beine dicht an den Körper gezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Er hatte sein Kinn aufgestützt und starrte stumm in die Flammen. Kalathee beobachtete ihn verstohlen, und ein wehmütiger, sehnsuchtsvoller Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Ein seltsamer Glanz verschleierte ihre Augen. Nottr beobachtete Kalathee. Auch auf seinem Gesicht lag ein sanfter, sehnsuchtsvoller Ausdruck, der so gar nicht zu seinem sonstigen Auftreten passen wollte. Sein Blick wurde nur dann härter, wenn seine Augen dem Blick Kalathees folgten und auf Mythor fielen. Immer dann entrang sich ihm ein gequälter Seufzer. Sadagar lag auf dem Rücken und spielte mit einem seiner Wurfmesser. Er schleuderte die Waffe hoch in die Luft, bis fast unter den spitzen Giebel der Hütte, und fing sie dann wieder
geschickt mit einer schnellen Bewegung auf. Elivara saß Mythor gegenüber und stocherte mit einem dünnen, langen Knochen in der Glut des kleinen Feuers. Sie dachte an ihre Stadt und an das Unheil, das über Nyrngor hereingebrochen war. »Trotz allem müssen wir es wagen«, sagte sie schließlich und unterbrach das Schweigen, das schwer über der kleinen Gruppe lastete. Nottr schreckte wie aus einem Traum auf. Dann fuhr seine Hand zum Griff des Schwertes und umschloß ihn. »Ja, laßt es uns wagen«, stimmte er zu. »Dieses untätige Herumsitzen bringt einen Mann nur auf schlechte Gedanken!« Der Steinmann kicherte in sich hinein. Wahrscheinlich hatte er eine beißende Bemerkung dazu auf den Lippen, aber er verkniff sie sich rechtzeitig, als er den wütenden Ausdruck auf dem Gesicht des Lorvaners sah. Es war nicht gut, die ohnehin gespannte Stimmung noch durch Spott aufzuheizen. »Nyrngor ist gefallen«, fuhr Elivara fort. »Ich darf mein Volk nicht im Stich lassen. Wie hoch der Preis auch immer ist, ich muß versuchen, Hilfe zu holen. Auch wenn es mein eigenes Leben kostet!« »Nichts überstürzen«, warnte Sadagar wieder schnell, dem die plötzliche Entschlossenheit gar nicht gefiel. »Elender Feigling!« stieß Nottr verächtlich hervor. Erbost richtete Sadagar seinen kleinen Körper auf und versuchte, einen stolzen Blick zustande zu bringen. »Feigling nennst du mich?« ereiferte er sich. »Beim Kleinen Nadomir, du weißt…« Der Steinmann wurde plötzlich unterbrochen. Die nur angelehnte Tür der Hütte des Ratschlags wurde aufgestoßen, und der Kopf eines Fischers erschien im Türrahmen. Er schaute sich in der Hütte um und schob dann eine flache Schüssel mit einer dampfenden Flüssigkeit herein.
»Eine kleine Stärkung«, sagte er dabei. »Es ist das, was auch die Wache zu essen bekommt. Eine Spezialität der Pfahlstadt. Ich wünsche euch einen guten Appetit.« Der Kopf verschwand, die Tür schlug wieder zu, die Schüssel blieb zurück. Ein würziger Geruch erfüllte den Innenraum der Hütte. Genießerisch schnupperte Nottr. »Hm, riecht nicht schlecht«, stellte er fest. Er sprang auf und trug die Schüssel zum Feuer. Er hob das Gefäß an den Mund, schnupperte noch einmal und nahm dann einen tiefen Schluck. Befriedigt wischte er sich ein paar Tropfen aus dem Bart. »Schmeckt wirklich nicht schlecht«, lobte er. »Ob du für uns auch noch etwas übrigläßt?« fragte Sadagar und hielt fordernd beide Hände ausgestreckt. »Natürlich«, erwiderte Nottr gereizt. »Zuerst die Frauen!« Er schob die Arme des Steinmanns zur Seite und kniete sich neben Kalathee. Mit einem liebevollen Lächeln bot er ihr die Schüssel an. Kalathee nahm ihm das Gefäß aus der Hand. Sie trank, ohne Nottr dabei anzusehen. Anschließend reichte sie die Schüssel an Sadagar weiter. Für den Lorvaner hatte sie keinen weiteren Blick. »So geht das«, spottete Sadagar. Als er den gereizten Blick Nottrs auffing, setzte er schnell die Schüssel an die Lippen und trank, als ob es das letzte sei, was er in diesem Leben tun durfte. Elivara winkte ab, als der Steinmann ihr schließlich das Gefäß weiterreichte. »Ich werde nicht eher wieder etwas essen, bis ich meine Mission, die mich hierhergeführt hat, erfüllt habe«, schwor sie und erhob sich. Auch Mythor winkte ab. Er war ebenfalls nicht in der Stimmung, in der er etwas hätte essen können. Alles schien festgefahren. So viele Aufgaben lagen noch vor ihm. So viele Dinge
mußten noch erledigt werden. Die Zeit drängte, und er saß, gefangen und untätig, in einer Hütte, gefertigt aus den Gebeinen eines Mammuts. Seine Hand tastete zu seiner Hüfte. Automatisch fand sie den Griff des Gläsernen Schwertes und umschloß ihn. Warm schmiegte er sich in seine Handfläche, und das Gefühl von neuer Kraft und Stärke floß in seinen Körper. Es schien Mythor so, als ob er sich von außerhalb seines Körpers selbst beobachte. »Wir müssen es wagen«, hörte er sich sprechen. »Aber ohne mich«, lallte Nottr mit schwerer Zunge. Seine Knie wurden weich und gaben nach. Mit einem leisen Seufzer sank der Körper des Lorvaners in sich zusammen. Dicht neben dem Feuer blieb er liegen. Sein Mund öffnete sich, ein tiefes Schnarchen drang aus seiner Kehle. * »Gift?« fragte Elivara erschrocken und starrte Mythor an. »Glaubst du, die Fischer wollten uns vergiften?« Mythor zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Aber jeder von ihnen hat von der Brühe getrunken.« Er deutete auf Kalathee, Nottr und Sadagar, die dicht nebeneinander auf dem Boden lagen. Sie schliefen so fest, als wären sie betäubt. »Nottr brach als erster zusammen. Er hat auch als erster getrunken. Danach Kalathee, zum Schluß Sadagar. In dieser Reihenfolge sind sie auch eingeschlafen. Nur wir beide wurden verschont. Aber wir haben auch nicht getrunken!« »Vielleicht hast du recht«, gab Elivara bitter zu. »Aber ihre List soll ihnen nichts nützen. Weder Jenersen noch irgendeine andere Gewalt kann mich daran hindern, Sklutur zu suchen und von ihm Hilfe für meine Stadt zu erbitten.« Ihre Augen
schossen Blitze. »Du selbst hast gesagt, daß wir es wagen müssen. Willst du mit mir gehen?« Mythor überlegte kurz, schließlich nickte er. »Wir sind nur zu zweit, es wird nicht einfach sein. Aber wir werden es versuchen!« Mit einem leisen Knirschen schwang die Tür der Hütte auf. Mythor und Elivara fuhren herum. Ein Wächter erschien im Türrahmen. Er hielt den Kopf gesenkt, die Arme hingen schlaff an seinem Körper herunter. Schwer stützte er sich gegen den Türpfosten. Unendlich langsam drehte er sich um sich selbst. Sein kurzes Schwert entglitt seiner kraftlosen Hand. Dann gaben die Beine des Mannes nach, und er rutschte an der Wand hinab zu Boden. Bewegungslos blieb er liegen. Ein leises Schnarchen drang aus dem halb geöffneten Mund. »Er auch?« flüsterte Elivara. Mit wenigen Schritten hatte Mythor den Mann erreicht. Er beugte sich über ihn und schüttelte ihn. Doch die Wache rührte sich nicht. Er schlief ebenso fest wie Nottr, Sadagar und Kalathee. Vorsichtig spähte Mythor aus der Hütte des Ratschlags hinaus. Auf dem kleinen Vorplatz brannte ein hohes Feuer, überall standen Fackeln und Öllampen. Die gesamte Umgebung der Hütte war gut erleuchtet. Mythor konnte alles genau überblicken. Ungefähr zwanzig Männer lagen bunt durcheinandergewürfelt um das Feuer und in den seitlichen Gassen auf dem Boden. Sie lagen bewegungslos. Die meisten von ihnen schnarchten laut. »Was bedeutet das?« fragte Elivara. Neben Mythor verließ sie das Gebäude, das ihnen als Gefängnis gedient hatte. Vorsichtig überquerten sie den erleuchteten Vorplatz. Die ganze Pfahlstadt lag still wie in tiefem Schlaf. Außer
dem Schnarchen der Männer war kein Laut zu hören. »Ist das ein Zauber, der hier wirksam wird?« fragte Elivara leise. »Gibt es eine Macht, die ihre schützende Hand über uns hält?« Ein leises Kichern folgte den Worten. Mythor und Elivara fuhren herum. Mythor glaubte im Schatten einer Hütte eine huschende Gestalt entdeckt zu haben, doch als er die Stelle erreichte, war niemand zu sehen. »Jemand ist in der Nähe«, flüsterte Elivara. »Ich spüre es deutlich!« Wie zur Bestätigung der Worte hörten sie leise, trippelnde Schritte. »Hörst du?« flüsterte Elivara. »Jemand beobachtet uns!« Sie ergriff Mythors Hand und drückte sie. Wieder erscholl dieses leise Kichern, diesmal von der anderen Seite des Platzes. Doch wieder war niemand zu sehen. Außer vielleicht ein Schatten, der für die Dauer eines Augenaufschlags über eine der fahlen Knochenwände huschte. »Was wird hier gespielt?« fragte Elivara. Mvthor konnte ihr keine Antwort geben. Er beugte sich über eine der schlafenden Wachen und untersuchte den Mann. Er suchte nach Wunden oder irgendwelchen Zeichen von Gewaltanwendung. Er fand nichts. Der Mann lag einfach friedlich da und schlief. Mythor griff die Wache an der Schulter und schüttelte sie. Dann versuchte er den Mann mit leisen Schlägen auf die Wange aufzuwecken. Es war vergeblich. Er schlief tief und fest. Plötzlich wieder dieses helle Kichern und anschließend Worte, die so tief und dumpf klangen, als kämen sie aus einer Gruft. »Du weckst ihn nicht auf, Mythor«, sagte die Stimme. »Laß ihn ruhen!« Im flackernden Licht einer Fackel stand eine Gestalt. Sie war
groß, aber ungewöhnlich hager. Ein einfaches Tuchkleid schlotterte um den ausgemergelten Körper. Die Gestalt war barfuß. Dürre, knochige Füße ragten unter dem Saum des Kleides hervor. Langsam bewegte sich die Gestalt und ging auf Mythor zu. Das Licht des Feuers tanzte auf ihrem Gesicht. Es war grau und eingefallen. Die blutleeren Lippen waren so dünn, daß der Mund wie ein schmaler Strich aussah. Das ganze Gesicht bestand aus unzähligen Falten, die das hohe Alter eingegraben hatte. Das schlohweiße Haar war von silbrigen Strähnen durchzogen. Es war zu einem langen Zopf geflochten, der bis zur Hüfte hinabreichte. Dort, wo die Gestalt gestanden hatte, kroch ein armlanger schwarzer Lurch über den Boden und verschwand im Schatten einer schmalen Gasse. »Sanderholm«, flüsterte Mythor. »Der Schlafende Fischer?« fragte Elivara und starrte die dürre Gestalt mit großen Augen an. »Der bin ich«, bestätigte Sanderholm, als er die beiden erreicht hatte. »Ich begrüße euch in meiner Stunde dieser Nacht!« Mythor grüßte mit einem Kopfnicken. »Dann ist dies dein Verdienst?« fragte er und deutete auf die fest schlafenden Wachen. »Zum Teil«, sagte Sanderholm. »Den meisten Anteil an der Sache hatte Helar. Es ist die Frau, die deine Hand versorgt hat, Mythor. Sie hat ein Pülverchen gemischt und es dem Essen der Wachen beigegeben. Sie werden schlafen, bis die Sonne am Morgen ihre neue Bahn beginnt und die Erde erwärmt!« Mythor war noch mißtrauisch. »Warum tust du das alles?« fragte er. »Weißt du etwas von unserer Reise, von unserer Aufgabe?« Sanderholm lächelte nachsichtig. Hunderte von Falten spielten um seine Augen und seine Mundwinkel.
»Ich weiß alles«, behauptete er. »Ich weiß auch, was Sklutur einst König Carnen von Nyrngor versprochen hat. Nur deshalb bin ich hier, und nur deshalb werde ich euch den Weg durch den Mammutfriedhof zeigen!« Elivara blickte überrascht auf. »Du weißt von der Abmachung?« fragte sie. »Ich weiß alles über Sklutur«, antwortete Sanderholm. »Es wird erzählt, Sanderholm sei stumm«, warf Mythor ein. »Noch nie hat ihn jemand sprechen hören. Wie kommt es, daß du dich mit mir unterhalten kannst, wenn du stumm bist?« »Mich hat noch nie jemand sprechen hören, weil ich niemandem etwas zu sagen hatte«, erwiderte Sanderholm kurz. »Laßt uns nicht zu lange zögern«, drängte Elivara. »Je eher wir den Beinernen erreichen, um so eher kann die Hilfe mein Volk retten!« »Ja, wir müssen aufbrechen«, bestätigte Sanderholm. »Es wird Zeit.« »Erzähl mir, wer ist Sklutur der Beinerne?« forderte Mythor. »Später«, versprach der Schlafende Fischer. * Von weitem glich der Mammutfriedhof dichtem Unterholz. Im fahlen Licht des Mondes türmten sich die Knochen übereinander wie das bizarre Gewirr abgestorbener Zweige und Äste. Ein ständiges Knacken und Brechen lag in der Luft. Es war das Geräusch von berstenden und aneinanderreihenden Knochen. Dazu erscholl ein Jaulen und Pfeifen. Mal klang es schrill und aufpeitschend, mal dumpf und wehmütig. Ständig veränderte sich die Tonhöhe. »Hört ihr?« flüsterte Sanderholm. »Das ist das Lied des Windes. Er spielt auf den hohlen Knochen seine feine Melodie. Wer es versteht, sie richtig zu hören, wird sie lieben und nie-
mals mehr von ihr loskommen. Sie enthält eine geheime Botschaft!« »Was ist das für eine Botschaft?« fragte Elivara. Sanderholm lächelte milde. »Hör zu!« riet er. Nachdem sie die Pfahlstadt verlassen hatten, ging ihr Weg sehr schnell steil bergan. Sie erklommen die Knochenhügel wie den lockeren und ständig nachgebenden Geröllabhang eines Berges. Immer wieder gerieten die aufgetürmten Knochen ins Rutschen und zogen die Wanderer mit sich. Sanderholm führte Mythor und Elivara und schritt sicher, schnell und gewandt aus. Seine nackten Füße ertasteten geschickt den besten Halt. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und wartete auf Mythor und die Königin, die sich beide noch nicht an den nachgebenden Untergrund gewöhnt hatten und dem Führer nur schwer folgen konnten. Erst bei Sonnenaufgang gelang es Mythor schließlich, sich auf gleicher Höhe mit Sanderholm zu halten. In der Nacht, beim milchigen Licht des Mondes, hatte sich Mythor mehr darauf beschränkt, den richtigen Halt für seine Schritte zu suchen. Doch als die Sonne am östlichen Horizont erschien und warme, helle Strahlen sandte, hatte er Zeit, sich umzusehen. Es bot sich ihm ein phantastisches Bild. Schier endlos erstreckte sich der Mammutfriedhof in das Land hinein. So weit der Blick auch reichte, entdeckte das Auge nichts anderes als bleiche Knochen und Schädel. Teilweise hatten sich weite Täler gebildet und Berge, die so hoch waren, daß man sie nicht überblicken konnte. Skelett lag an Skelett und Knochen an Knochen. Bei jedem Schritt krachten die Gebeine und schufen eine unheimliche Begleitmusik zu dem Jaulen und Pfeifen des Windes. Den Boden konnte Mythor an keiner Stelle entdecken. Die Knochenschicht mußte mehrere Schritt dick sein. Eine riesige Anzahl von Mammuts war hier verendet.
Plötzlich blieb Sanderholm stehen und hielt auch seine beiden Begleiter an. Er schloß die Augen, legte beide Hände trichterförmig hinter die Ohren und lauschte. »Das ist wieder eins«, murmelte er leise. Von weit aus der Ferne drang ein leises Stöhnen und Ächzen. Nur hin und wieder wurde es vom lauten Krachen brechender Knochen übertönt. Dazwischen mischte sich ein Ton wie von einer gewaltigen Fanfare. »Sie kommen von weit her«, erklärte Sanderholm. »Sie wandern manchmal jahrelang. Nur um hier zu sterben!« »Ein Mammut?« fragte Elivara. Der Schlafende Fischer nickte. »Es muß ein gewaltiger Kerl sein«, sagte er. »Was ist das für eine Macht, die die Tiere hierhertreibt?« fragte Elivara. »Wer leitet sie?« Sanderholm hob die mageren Schultern. »Irgend jemand wird es wissen«, sagte er. »Ich kann dir darauf keine Antwort geben. Aber ich weiß, daß es fast nur Einzelgänger sind. Bösartige Riesen, die sich von der Herde abgesondert haben. Seit Jahrhunderten folgen sie einem seltsamen Trieb.« Die kleine Gruppe schritt schweigend weiter. Sie lauschten auf das Trompeten und Stöhnen des sterbenden Tieres, irgendwo in der Weite dieser Knochenwüste. Manchmal klang es, als ob sich das Mammut nähere. Aber es konnte auch der Wind sein, der die Ohren täuschte. Bis gegen Mittag wurde kein weiteres Wort gewechselt. Sanderholm schritt weit aus. Obwohl sie schon so lange unterwegs waren, waren dem alten Mann keine Zeichen von Erschöpfung anzusehen. Im Gegenteil. Es schien, als ob seine Kraft ständig zunehme, je mehr sie sich dem Beinernen näherten. Mythor spürte deutlich diese Kraft. Es war ihm, als werde etwas in ihm in Bewegung gesetzt und zum Vibrieren ge-
bracht. Ähnlich einer Saite, die, wenn sie angeschlagen wird, auch benachbarte Saiten mit in Schwingungen versetzt. Diese Macht oder was auch immer es war, kam ihm einerseits bekannt und vertraut vor, andererseits stieß sie ihn ab und erfüllte ihn mit Furcht. Schließlich rang er sich dazu durch, das lange Schweigen zu brechen. »Wer ist Sklutur?« fragte er. »Was ist das für eine Kraft, über die er verfügt und die ihm die Macht gibt, Urguth zu schützen?« Sanderholm starrte ernst in die Ferne. »Du hast mich schon einmal danach gefragt«, sagte er schließlich. »Und ich nehme an, daß du immer weiter forschen wirst, bis du die Antwort gefunden hast. Deshalb werde ich dir sagen, was ich weiß.« Der Schlafende Fischer ließ sich auf einem ausgebleichten Mammutschädel nieder. Elivara setzte sich vor ihn, froh, daß eine Pause eingelegt wurde. Mythor blieb stehen. »Auch Sklutur war ein Einzelgänger wie die Mammuts, die hierher zum Sterben kommen«, begann Sanderholm. »Die Enge seines Stammes bedrückte ihn, und er verließ sein Volk. So streifte er durch die Welt. Er lernte viele Völker kennen, lernte ihre Sprachen, Sitten und Gebräuche und erfuhr all das, was der Wissensdurst den Menschen offenbart hatte. Schließlich führte ihn sein Weg auch hierher auf den Mammutfriedhof. Nach seinem bewegten Leben genoß er diese Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Er ließ sich nieder, baute sich aus Knochen eine Hütte und beschloß, all sein Wissen aufzuschreiben. Es sollte ein Buch werden, das die Völker mahnen würde, ihre Zwietracht zu begraben und sich zu einen, und das sie ständig daran erinnern sollte, sich auf die große Bedrohung vorzubereiten, die über die Lichtwelt hereinbrechen würde. Genau zu dieser Zeit begann ein Dämon aus der Dunkelzone von ihm Besitz zu ergreifen. Für die schwarzen Mächte bedeutete Sklutur eine Gefahr, und sie wollten ihn entweder für sich gewin-
nen oder vernichten.« »Ist es ihnen gelungen?« unterbrach ihn Elivara erschrocken. Sie fürchtete mit einemmal, daß ihre Mission vergeblich sein würde. »Ein Teil ihres finsteren Planes hat sich erfüllt. Sklutur war nicht mehr in der Lage, sein Wissen niederzuschreiben und den Völkern mitzuteilen. Aber er war immer noch stark genug, den Dämon aus der Dunkelzone, der in ihn eingedrungen war, seinerseits zu beherrschen. Sklutur bekam den Dämon unter Kontrolle und fing ihn in seinem Körper. All sein Wissen, das er sich auf seinen langen Reisen angeeignet hatte, mußte er dazu aufbieten, aber es ist ihm gelungen. Seither konnte er die magischen Kräfte des finsteren Dämons für seine eigenen Zwecke nutzen!« »Er hat die Macht der Finsternis benutzt, um in der Welt des Lichtes zu wirken?« fragte Elivara ungläubig. Sanderholm nickte. »Genauso ist es. Mit diesen Kräften hat er die Pfahlstadt Urguth vor Bedrohungen aus dem Meer geschützt und hat zahlreiche Schiffe, die in Seenot geraten waren, in den sicheren Hafen der Pfahlstadt geleitet.« Ungläubig hatte Mythor zugehört. Der Gedanke, daß Kräfte der Schattenzone benutzt werden konnten, um für die Lichtwelt eingesetzt zu werden, erschien ihm ungeheuerlich. »Warum aber hat er dann die Stadt nicht vor dem Angriff der Sasgen geschützt?« fragte Mythor. Sanderholm machte eine ernste Miene. »Das ist etwas, das auch ich mir nicht erklären kann. Schon lange ist der Schutz des Beinernen ausgeblieben. Der Angriff einer Seespinne vor einigen Monden konnte nur mit Mühe von den Bewohnern abgewehrt werden. Zum Glück war es nur ein kleines Tier, das sich in diese Gewässer verirrt zu haben schien.« »Wann hast du Sklutur das letztemal besucht?« fragte Mythor. Ein schrecklicher Verdacht drängte sich ihm auf.
Sanderholm seufzte. Er schien plötzlich um viele Jahre gealtert zu sein. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Haut war grau geworden. Seine Hände zitterten. »Das ist lange her«, flüsterte Sanderholm heiser. * Gellend schrie Elivara auf. »Mythor, dort!« Das Mammut stand etwa einen Bogenschuß entfernt auf einem flachen Hügel aus Schädelknochen und funkelte die drei Wanderer mit den gelben Augen an. Heißer Atem dampfte aus dem halb geöffneten Maul. Wie blankgeschliffene Klingen blitzten die geschwungenen Stoßzähne im Licht der Sonne. Unruhig pendelte der lange, behaarte Rüssel hin und her. Ein brauner, zottiger Pelz bedeckte den massigen Körper des Tieres. Schwärme von Fliegen summten um seinen Leib, ließen sich auf dem schweißnassen Fell nieder und stiegen plötzlich wieder auf, als gehorchten sie geheimen Kommandos. »Sklutur steh uns bei!« murmelte Sanderholm. Schritt für Schritt wich Elivara zurück. Ihre Lippen bewegten sich und formten Worte, aber ihre Stimme versagte. Mythor stand fasziniert und starr vor diesem gewaltigen Bündel aus Fleisch, Knochen und unbändiger Kraft. Die kleinen Augen des Mammuts, die so gar nicht zu dem massigen Körper passen wollten, funkelten listig und zuckten zwischen Elivara, Sanderholm und Mythor hin und her. Es hatte den Anschein, als ob sich das Tier in aller Ruhe ein Opfer aussuchen wolle. »Solch einen Riesen habe ich noch nie gesehen«, murmelte Sanderholm. »Wenn uns Sklutur nicht hilft, sind wir verloren.« »Wenn uns Sklutur nicht hilft, hilft uns Alton«, verbesserte Mythor mit fester Stimme. Er ergriff das Gläserne Schwert und
zog es mit einem Schwung aus der Gürtelschlaufe. Die Klinge beschrieb einen weiten Bogen und sandte ihren klagenden Laut aus. Der Gesang des Schwertes übertönte selbst noch das Spiel des Windes. Wie um eine Antwort zu geben, hob der zottige Koloß den Rüssel und stieß ein ohrenbetäubendes Trompeten aus. »Er hat es auf uns abgesehen«, murmelte Sanderholm. »Einzelgänger sind bösartig und angriffslustig. Er wird uns niederstampfen. Bald werden unsere Gebeine ein Teil dieses Friedhofs sein!« »Dies ist ein Mammutfriedhof«, widersprach Mythor. »Ich werde dafür sorgen, daß es auch so bleibt!« Noch einmal stieß das Mammut einen schrillen Trompetenstoß aus und schlug mit dem Rüssel wie mit einer Peitsche in die Luft. Der Augenblick des Angriffs war gekommen. Langsam setzte sich das gewaltige Tier in Bewegung. Unter dem tonnenschweren Gewicht des massigen Körpers zerbrachen die kräftigsten Knochen und ausgebleichten Schädel wie dünne Hölzer. Mit knirschenden Geräuschen wurden die Gebeine zermalmt. Mythor lief ein Stück zur Seite und schwang das leuchtende Schwert über dem Kopf, um den Koloß von Sanderholm und Elivara abzulenken. Der Trick gelang. Das Mammut wandte seine ganze Aufmerksamkeit Mythor zu. Der Geruch von Schweiß und Wildheit wehte Mythor entgegen. Die Fliegenschwärme erhoben sich wie eine dunkle Wolke von dem Tier und schwebten wie dichter Nebel über dem massigen Körper. Es war nicht einfach für das Mammut, sich auf den Knochenbergen längst verstorbener Artgenossen zu bewegen. Die säulenartigen Beine zerstampften die Gebeine und brachen ein. Dabei bohrten sich spitze Knochen von allen Seiten in den Leib des Tieres. Die Schmerzen jedoch heizten die Kampflust
und die Wut des Kolosses immer weiter an. Aus dem Maul rann Geifer, und Schaumfetzen flogen nach allen Seiten. Stinkender Atem schlug Mythor entgegen. Doch ohne darauf zu achten, sprang er vor und griff an, als das Mammut mit allen vier Beinen gleichzeitig einbrach. Der pelzige Rüssel des Tieres schoß wie eine Schlange vor und versuchte, nach dem Mann zu greifen. Mythor holte mit dem Schwert aus und trennte die Spitze des Rüssels mit einem einzigen Hieb ab. Dröhnendes Gebrüll entrang sich der Kehle des Mammuts. Der Schmerzensschrei des Tieres drohte Mythor die Trommelfelle zu zerreißen. Er spürte den Schmerz in seinem Kopf und preßte beide Hände gegen die Ohren. Die Beine des Kolosses stampften in die Knochenberge und versuchten, sich zu befreien. Das Tier wälzte sich auf die Seite und zermalmte die Gebeine. Überall krachte und splitterte es. Das Gläserne Schwert sang seine tödliche Melodie dazu. Alton lag sicher in Mythors Faust. Er wirbelte die leuchtende Waffe durch die Luft und hieb auf den tobenden Koloß ein. Noch mehrmals traf er den wie eine Peitsche zuckenden Rüssel. Aber es gelang ihm nicht, eine wirklich schwere Wunde zu schlagen. Mythor versuchte einen Angriff von der Seite. Er warf sich nach vorn, duckte sich unter dem zustoßenden Rüsselstumpf weg und schnellte sofort nach rechts. Wütend brüllte das Mammut auf und versuchte, sich zu dem Gegner umzudrehen. Doch wieder brachen die schweren, säulenartigen Beine ein, und Mythor hatte einen Augenblick Zeit, sich seitwärts auf das Tier zu stürzen. Mit beiden Händen klammerte er sich in dem zottigen, dichten Fell fest. Er zog sich hoch und schwang seine Beine über den Rücken des tobenden Mammuts. Mit der linken Hand umklammerte er den Fettwulst im Nacken des Tieres. Er spürte, wie die Muskeln des kämpfenden Tieres geschmeidig unter
dem Fell rollten, und ahnte die Kraft, die in diesem Fleischberg steckte. Mythor hob sein Schwert und stieß es mit aller Gewalt in den Körper. Die Klinge sank tief in den gewaltigen Leib. Aber sie ging nicht tief genug. Die Spitze Altons stieß gegen eine Rippe. Mythor riß die Waffe zurück und stieß wieder zu. Diesmal drang sie bis zum Heft ein. Das Mammut hob den Kopf und versuchte, den Gegner mit dem verwundeten Rüssel vom Rücken zu fegen. Ein fürchterliches Stöhnen drang dabei aus seiner Kehle. Das Stöhnen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll und wurde dann plötzlich erstickt und zu einem gurgelnden Ächzen. Ein dicker Schwall Blut schoß aus dem Maul des Kolosses. Die vorderen Beine brachen ein. Durch den plötzlichen Ruck wurde Mythor vom Rücken des Tieres geschleudert. Vergeblich versuchte er, im Pelz Halt zu finden. Erst im letzten Augenblick gelang es ihm, den Griff Altons zu fassen und die Waffe aus dem Körper der Bestie zu reißen. Dann stürzte er nach vorn. Er prallte in eine Knochenmulde, die der Koloß wenige Augenblicke vorher gestampft hatte. Er lag unmittelbar unter dem Kopf des Mammuts. Der zottige Riese stieß ein triumphierendes Gebrüll aus, das kurz sein Stöhnen und Ächzen übertönte. Der gewaltige Kopf pendelte hin und her. Mit den geschwungenen Stoßzähnen versuchte er den Gegner zu erreichen. Noch einmal sammelte das Mammut alle Kraft und bäumte sich im Todeskampf auf. Die Spitze des Stoßzahns stieß auf Mythor zu. Mythor packte sein Schwert mit beiden Händen. Er lag auf dem Rücken, seine Beine hatten sich zwischen geborstenen Knochen verfangen. Es gelang ihm nicht, sich aus dem tödlichen Bereich des Mammuts zu entfernen. Als ihn der Stoßzahn fast erreicht hatte, schlug Mythor zu. Er schlug mit aller Kraft. Die scharf geschliffene Klinge Altons durchschnitt das El-
fenbein so leicht, als ob sie in weichen Lehm stieße. Der vordere Teil des Stoßzahns stach neben Mythor in den Boden. Dennoch wurde er hochgerissen. Er flog mehrere Mannslängen durch die Luft und krachte dann in einen Knochenhaufen. Er spürte einen Schmerz im Rücken und an der Schulter, aber er wußte, daß er gewonnen hatte. Sein Schwerthieb hatte den Teil des Zahnes abgetrennt, der ihn sonst unweigerlich durchbohrt hätte. Noch einmal sprang Mythor auf und packte Alton fester. Aber er sah sofort, daß der Kampf beendet war. Der gewaltige Koloß wälzte sich auf den Rücken. Blut floß in dicken Strömen aus dem Maul und dem Rüssel. Im Todeskampf strampelten die Säulenbeine in der Luft. Das Mammut stieß gurgelnde Laute aus. Doch wurden diese Geräusche übertönt durch das Brechen der Gebeine unter dem sterbenden Riesen. Bald würde im Mammutfriedhof ein neues Skelett in der Sonne bleichen. Schwer atmend sah Mythor dem Todeskampf des zottigen Einzelgängers zu. Der klagende Gesang seines Schwertes verstummte. * »Wo ist Sanderholm?« fragte Mythor Elivara und sah sich suchend um. Der Schlafende Fischer war nirgendwo zu entdecken. Auch Elivara war überrascht. »Ich weiß es nicht«, sagte sie verwundert. »Ich hatte nur Augen für deinen Kampf mit der Bestie. Ich habe noch nie einen Mann so kämpfen sehen wie dich.« »Sanderholm!« rief Mythor und legte beide Hände zu einem Schalltrichter an den Mund. »Sanderholm, wo steckst du?« Alles blieb ruhig, die Frage unbeantwortet. Nur der Wind
spielte wieder seine ständige Melodie, und die Fliegenschwärme summten über dem Kadaver des Mammuts. Mythor schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und blickte sich um. Schließlich stieß er Elivara an und deutete nach Norden. »Deshalb ist er verschwunden«, stellte er fest. »Er hat seine Aufgabe erfüllt.« Elivara drehte sich um. »Wir sind am Ziel«, sagte sie. Nur etwa zwei Bogenschüsse entfernt erhoben sich in einem weiten Knochental seltsame Bauwerke. Mythor wunderte sich, daß sie ihm erst jetzt auffielen. Ein magischer Schleier mußte sie bisher verborgen haben. Ein übermannshoher Pfahlzaun umgab die Gebäude. Er war aus den Beinknochen gewaltiger Mammuts erbaut und wohl ursprünglich als Schutz gegen Tiere wie auch gegen eventuelle Feinde gedacht gewesen. Inzwischen aber war er an vielen Stellen zerfallen. Niemand hatte sich um seine Erhaltung gekümmert. Auch die Gebäude innerhalb des Zaunes wirkten vernachlässigt und waren teilweise bereits eingestürzt. Bis auf eine winzige Hütte in der Mitte, die noch einigermaßen gut erhalten war, wirkte alles wie eine Geisterstadt. »Die Residenz des Beinernen«, stellte Elivara fest. »Selbst seine Burg gleicht einem Gerippe!« Ein eigenartiges Gefühl beschlich Mythor, als er sich der Burg Skluturs näherte. In Ansätzen hatte er dieses Gefühl schon auf dem gesamten Weg hierher verspürt. Doch jetzt wurde es so stark, daß er unwillkürlich stehenblieb. Schauer liefen über seinen Rücken. Einerseits drängte ihn eine starke Macht nach vorn, andererseits versuchte ihn eine andere Kraft zu halten. Diese beiden verschiedenen Mächte führten einen so heftigen Kampf in ihm aus, daß es in seinem Kopf zu dröhnen begann und ein stechender Schmerz durch sein Rückenmark lief.
Elivara war inzwischen weitergegangen. Jetzt blieb sie stehen und sah sich um. »Was ist mit dir, Mythor? Dein Gesicht ist bleich. Du siehst mit einemmal krank aus!« »Es ist nichts!« Mythor fuhr sich mit der Hand über die Augen und ging weiter. Nach wenigen Schritten hatte er Elivara eingeholt. Je näher sie den Bauwerken kamen, um so deutlicher fiel beiden der starke Brandgeruch auf, der von den verfallenen Gebäuden ausströmte. Elivara erwähnte es zuerst. »Riechst du es auch?« Mythor nickte. »Der gleiche Geruch lag über Urguth, als die Sasgen die knöchernen Hütten in Brand gesteckt hatten. So riechen brennende Gebeine!« »Aber ich sehe keinen Rauch«, stellte Elivara fest. »Als Urguth brannte, lag dichter schwarzer Rauch über der Stadt!« »Und dennoch ist der Gestank hier stärker. Weit intensiver als in der Pfahlstadt. Es riecht, als brenne ein gewaltiges Feuer!« Sie erreichten die knöcherne Palisade. Sie suchten eine Stelle, an der die Pfähle umgestürzt waren, und kletterten über die Trümmer in das Innere des Hofes. Erschrocken blieben sie beide gleichzeitig stehen und sahen sich an. »Hörst du mich?« fragte Elivara. »Dich höre ich«, antwortete Mythor. »Aber ich höre nichts anderes mehr!« Elivara nickte. »Kein Singen des Windes, kein Bersten der Knochen!« Mythor drehte sich um und kletterte zurück auf die andere Seite des Zaunes. Das Jaulen des Windes hob wieder an und das Krachen und Aneinanderreiben der Knochen, Geräusche, die ihn den gesamten Weg seit Urguth begleitet hatten. »Ich höre es wieder«, sagte Mythor. Durch die Bruchstelle in der Palisade beobachtete Mythor E-
livara. Er sah, daß sich die Lippen der Frau bewegten. Sie sprach zu ihm, aber er hörte sie nicht. Wieder überkletterte er den Zaun, und jetzt konnte er sie verstehen. »… magische Grenze!« Mythor stimmte ihr zu. »Diese Pfahlwand ist eine Grenze. Sie schirmt Skluturs Reich gegen bestimmte Dinge ab!« »Warum aber können wir sie überschreiten?« Es war eine Frage, auf die sie keine Antwort fanden. Ohne sich abgesprochen zu haben, wandten sie sich beide gleichzeitig der kleinen Hütte zu. Wenn eins dieser Gebäude noch bewohnt war, dann wahrscheinlich diese Hütte. Die Tür der Hütte war nur angelehnt. Mythor schlug ein paarmal mit der Faust dagegen. »Sklutur!« rief er. »Kannst du mich hören?« Unter dem Klopfen Mythors schwang die Tür langsam nach innen auf. Sie quietschte leicht in den ledernen Angeln. Ein seltsam bläuliches Licht erleuchtete mit zuckenden Blitzen den Raum. Mythor trat einen Schritt vor, aber er wurde von Elivara am Arm zurückgehalten. »Nein«, warnte sie. »Es ist eine Falle! Ich spüre es deutlich!« Elivara sprach aus, was auch Mythor fühlte. Im Widerstreit der beiden Empfindungen in seinem Kopf gewann allmählich diejenige die Oberhand, die ihm riet, sich zurückzuziehen. Dennoch machte er sich von Elivara los. »Es muß sein«, sagte er. Er überschritt die Schwelle und betrat den Raum. Im nächsten Augenblick prallte er entsetzt zurück. Elivara schrie auf. Sie preßte eine Hand vor den Mund und taumelte zurück. Sie stolperte und fiel. »Nein!« schrie sie. Ihre Stimme überschlug sich. An dünnen Fäden hingen von der Decke herab die abgetrennten Köpfe Kalathees, Nottrs und Sadagars. Sie pendelten leicht hin und her. Ihre Augen waren weit aufgerissen und
blickten starr und kalt auf die Ankömmlinge. Grelles, vibrierendes Licht beleuchtete die Szene. »Das kann nicht sein«, flüsterte Elivara leise. Sie zitterte am ganzen Körper. Nottrs Lippen bewegten sich. Er entblößte seine großen gelben Zähne und grinste höhnisch. Ein Blutfaden lief aus seinem Mundwinkel. Auch Kalathee und Sadagar grinsten. Ein schrilles, unwirkliches Kichern drang über ihre bleichen Lippen. Gleichzeitig begannen die Fäden, an denen die Köpfe hingen, zu schwingen. Eine unsichtbare Macht bewegte sie. Dabei entstand ein dumpfes Dröhnen, das die Wände der Hütte zum Vibrieren brachte. Immer mehr näherten sich die abgetrennten Köpfe dem Gesicht Mythors, der wie erstarrt auf der Türschwelle stand. Die toten Lippen Kalathees spitzten sich, als wollten sie Mythor küssen. Nottr begann zu sprechen. Hohl und dumpf rollten die Worte über seine bleichen, blutverschmierten Lippen. »Wir begrüßen dich, Mythor, Held der Lichtwelt!« Die Worte gingen unter in schallendem Gelächter von Kalathee und Sadagar. Als vielfaches Echo wurde es von den knöchernen Wänden der Hütte zurückgeworfen und verlor sich in den verwinkelten Gebäuden der Geisterstadt. »Küß mich!« lockte Kalathee. Ihr abgetrennter Kopf schwang dicht an Mythor heran. Totenbleiche Augenlider legten sich über die blutunterlaufenen Augen. Die kalten blauen Lippen öffneten sich. Mythor wich zurück und riß gleichzeitig sein Schwert aus der Gürtelschlaufe. Mit einem einzigen Hieb durchtrennte er die dünnen Fäden, die die Köpfe hielten. Eine gelbliche, stinkende Wolke explodierte in der Mitte des Raumes. Die Köpfe verschwanden, aber das schrille Gelächter blieb. Es kam von allen Seiten. Der Gestank des gelben Rauches trieb Mythor aus der Hütte.
Er schlug die Tür hinter sich zu und riß Elivara wieder auf die Beine, die zusammengekauert auf dem Boden gehockt hatte. »Hier können wir keine Hilfe mehr erwarten«, sagte Mythor. »Wir kommen zu spät!« »Dieses Gelächter«, rief Elivara und preßte beide Hände gegen den Kopf. »Ich halte es nicht aus. Woher kommt das? Wer ist das?« »Das bin ich!« kam die Antwort. Das Gelächter verstummte. Nur fünf Schritte von Mythor und Elivara entfernt stand eine hohe Gestalt. Sie war mit einem weiten blauen Umhang bekleidet und trug einen langen, bis zum Boden reichenden Schal. Krallige, verknöcherte Hände ragten aus den weiten Ärmeln des Umhangs. Auf dem Kopf trug sie eine hohe Knochenkrone aus Schädeln und ineinander verflochtenem, spitzem Gehörn, dazu um den Hals eine Kette aus Krallen, Zähnen und Knochenplatten. An einer Stelle klaffte der weite blaue Umhang auf. Auch dort schimmerten bleich Knochen und Schädel auf, die zum Teil Hörner trugen. Bei jeder Bewegung der Gestalt schlugen die Gebeine gegeneinander und spielten eine unwirkliche Melodie. »Sklutur der Beinerne«, flüsterte Elivara. Die Gestalt schien die Worte gehört zu haben, denn wieder brach das schrille, kreischende Gelächter los. Das Gesicht Skluturs wirkte verzerrt und wie von einem schrecklichen Feuer entstellt. Es leuchtete rot und hatte nichts Menschliches an sich. Plötzlich lief ein Zittern durch den Beinernen. Sein Gesicht verzerrte sich noch mehr und wurde zu einer wahnwitzigen Fratze. Seine krallenartigen Finger verkrampften sich in dem langen Schal und zerrten und rissen an der Kleidung. Gleichzeitig bewegten sich die Knochen, die um ihn herumlagen. Von einer magischen Gewalt getrieben, fanden sich Beinknochen zueinander, fügten sich an herumliegende Hüft-
knochen und bildeten groteske Skelette, die sich aufrichteten und klappernd auf Mythor und Elivara zustrebten. Überall bildeten sich neue Skelette, und eine ganze Armee entstand aus den toten Gebeinen des Mammutfriedhofs. Mythor zog Elivara hinter sich und hob sein Schwert. Als das Klagen der Waffe das Gelächter des Beinernen übertönte, schrie Sklutur auf und brach zusammen. Er wälzte sich auf dem Boden, schlug mit den Armen in der Luft und stieß ein fürchterliches Jaulen und Jammern aus. Mit jedem Hieb Altons zerschlug Mythor angreifende Skelette. Die trockenen Knochen spritzten unter seinen Streichen nach allen Seiten auseinander. Doch dort fügten sie sich sofort von neuem zusammen und wankten wieder auf Mythor zu. Elivara hatte sich einen Beinknochen gegriffen und schwang ihn wie eine Keule. Sie stand mit dem Rücken zu Mythor und schlug auf die Skelette ein, die von hinten angriffen. Inzwischen gab es so viele der grotesken Gegner, daß sie von allen Seiten bedrängt wurden. »Er hat die Kontrolle über den Dämon verloren!« schrie Elivara atemlos. »Sklutur ist in der Gewalt der finsteren Mächte!« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als plötzlich sämtliche Skelette in sich zusammenfielen. Gleichzeitig verstummte auch das schreckliche Geheul des Beinernen. Er lag ruhig auf dem Boden. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig. »Hilf mir, Mythor!« flüsterte Sklutur. Mythor wußte, zu welchen Tricks und Bosheiten die Mächte der Schattenzone fähig waren, und ging nur langsam und vorsichtig auf den scheinbar leidenden Mann zu. Das Gesicht Skluturs hatte sich verändert. Das Fratzenhafte, Entstellende war verschwunden und einem gutmütigen Ausdruck gewichen. Sklutur hatte die Augen geschlossen. Alle Kräfte, die ihm noch verblieben waren, konzentrierte er darauf, den Dämon in der Gewalt zu halten.
»Du mußt mich töten, Mythor«, flüsterte Sklutur. »Ich habe nicht mehr viel Kraft!« Die Lippen Skluturs preßten sich aufeinander. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Körper bäumte sich auf. Für einen Augenblick verzerrte sich wieder sein Gesicht, doch dann gewann es den friedlichen Ausdruck zurück. Als er seine Hände wieder öffnete, floß Blut über seinen Arm. Beim Kampf gegen den Dämon hatte er sich selbst die Nägel der Finger tief in die Handflächen gebohrt. »Töte mich, Mythor«, bat er noch einmal, diesmal drängender. »Die Mächte der Schattenzone rüsten sich, die Lichtwelt zu erobern. Aber niemals will ich ein Werkzeug der dunklen Gewalten werden!« Mythor stand über dem Beinernen und blickte erschüttert auf ihn hinab. Er sah ein, daß er dem Wunsch Skluturs folgen mußte, wenn er ihn von dem Dämon befreien wollte. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, den Schwertstreich zu führen. Langsam richtete sich Sklutur auf. Er blickte Mythor fest in die Augen, und dieser Blick hielt den Mann gefangen. Die Lippen des Beinernen öffneten sich. Er grinste. Ganz allmählich verzerrte sich wieder sein Gesicht. Es wurde rot und fratzenhaft. »Dann werde ich dich töten!« kreischte Sklutur. Der Dämon hatte wieder die Macht über den Körper übernommen. Die knöchernen Gebäude der Geisterstadt fielen prasselnd in sich zusammen. Aus den Gebeinen bildeten sich wieder groteske Ungeheuer, die sich formierten und auf Mythor und Elivara zuwankten. Überall tat sich der Boden auf. Fallgruben wurden sichtbar, auf deren Grund angespitzte Knochen bereit waren, die Opfer aufzuspießen. Gelbe Nebel wehten heran und strömten einen bestialischen Gestank aus. Schrille Töne reizten die Trommelfelle und lähmten die Bewegungen der
Menschen. Sklutur streckte die Krallenhände aus und wankte langsam auf Mythor zu. Noch immer wagte Mythor nicht, das Schwert gegen den Beinernen zu führen. Er hielt die Waffe lediglich erhoben, die Spitze auf die Brust Skluturs gerichtet. »Töte ihn!« schrie Elivara. Höhnisches Gelächter des Dämons verschluckte die Worte. Plötzlich hatte Sklutur einen Dolch in der Hand, der aus der Spitze eines Mammutstoßzahns gefertigt war. Er hob die gefährliche Waffe. Mythor trat einen Schritt zurück. Dabei stieß sein Fuß gegen einen bleichen Schädel. Er strauchelte. Vergeblich versuchte er neuen Halt zu finden. Er stürzte nach hinten. Sklutur sprang auf ihn los und warf sich über ihn. Mythor riß das Schwert hoch. Dann schlug er hart auf dem Boden auf. Für wenige Augenblicke herrschte vollkommene Stille über dem Wohnsitz des Beinernen. Eine Stille, wie sie Mythor noch niemals erlebt hatte. Um so schrecklicher wirkte unmittelbar darauf der Schrei, der den gesamten Mammutfriedhof erzittern ließ. Sklutur lag neben Mythor auf dem Boden. Aus seinem Rücken ragte die armlange Schneide Altons. Der Griff ragte aus der Brust. Er hatte sich selbst in das Schwert gestürzt. Eine schwarze Rauchwolke schwebte über Sklutur, stieg in den blauen Himmel auf und verschwand in südlicher Richtung. Das Gesicht des Beinernen wirkte friedlich und entspannt. Es hatte nichts Fratzenhaftes mehr an sich. Seine Augen waren geschlossen. Doch dann bewegte sich sein Mund noch einmal. »Es ist gelungen«, flüsterte Sklutur mit gebrochener Stimme. »Der Dämon ist besiegt. Er muß zurück in die Schattenzone!« Blut rann aus seinem Mundwinkel und tropfte auf den blauen Umhang.
Mythor kniete sich neben Sklutur und bettete den Kopf des Sterbenden auf seinen zusammengerollten Schal. »Danke«, flüsterte Sklutur. »Du hast deinen Dämon besiegt«, begann Mythor. »Wir jedoch müssen weiterkämpfen. Die schwarzen Mächte sind auf dem Vormarsch. Sag uns, was du über sie weißt!« »Hütet euch vor Drudin«, flüsterte Sklutur. »Er ist der schlimmste Vertreter der dunklen Mächte. Vielleicht sogar einer der Herrscher der Schattenzone selbst!« Er begann zu husten, und ein Schwall Blut brach aus seinem Mund. »Ich habe nicht mehr viel Zeit«, fuhr er leise fort. »Fragt nicht mehr, laßt mich nur sprechen. Ich kenne ja eure Anliegen.« Mythor nickte ihm zu. »Dir, Elivara, kann ich nicht helfen. Das Versprechen, das ich deinem Vater gegeben habe, kann ich nicht mehr einlösen. Denn nur durch die Beherrschung des Dämons hatte ich Macht.« Das Gesicht des Beinernen verzerrte sich, sein Körper krampfte sich vor Schmerz zusammen. Nur unter großen Anstrengungen konnte er weiterreden. »Du, Mythor, suchst Althars Wolkenhort, um den Helm der Gerechten zu erlangen. Such ihn im Land Yortomen in der Nähe der Stadt Lockwergen.« Wieder wurde er von einem Anfall unterbrochen, diesmal heftiger und schlimmer als je zuvor. Als er endlich wieder ruhig sprechen konnte, waren seine Worte kaum noch zu verstehen. Mythor beugte sich dicht über seinen Mund. »Habt keine Angst um eure Gefährten, die ihr in Urguth zurückgelassen habt. Das Bild ihrer Köpfe in der Hütte hat euch nur der Dämon vorgegaukelt. Sie…« Die Worte brachen einfach ab, Skluturs Atmen hörte auf. Mythor drückte ihm sanft die Augen zu. »Ich höre wieder das Heulen des Windes«, sagte Elivara.
»Ebenso das Bersten und Knacken des Mammutfriedhofes«, fügte Mythor hinzu. Die magische Grenze, die die Knochenstadt Skluturs umgeben hatte, war zusammengebrochen. Die Macht des Beinernen war für immer gebrochen. Mythor und Elivara bestatteten Sklutur in der kleinen Hütte, in der sie der Dämon mit den entsetzlichen Bildern gequält hatte. In der Nähe der Hütte fand Mythor Sanderholm, den Schlafenden Fischer. Sanderholm war tot. Zusammengekrümmt lag er in einer Knochengrube. Sein ohnehin schon hagerer Körper war noch mehr zusammengefallen. In kurzer Zeit war er um Jahrzehnte gealtert. Die magischen Kräfte Skluturs, die ihn die ganzen Jahre über am Leben erhalten hatten, waren versiegt. Mythor und Elivara brachen auf. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, bis sie die Pfahlstadt Urguth wieder erreicht haben würden. * Mythor nahm den Flügelhelm vom Kopf, legte den blauen Waffenrock ab, öffnete die Schnallen des Kettenhemdes und des breiten Doppelgürtels und zog die Metallmanschetten von den Handgelenken. »Es ist die Ausrüstung deines Vaters«, sagte er dabei zu Elivara. »Nimm sie zurück und gib sie einmal demjenigen, der würdig ist, neuer König von Nyrngor zu werden!« »Niemand wäre würdiger gewesen als du«, meinte Elivara. »Aber ich verstehe, daß du deine Reise fortsetzen mußt. Ich schenke dir die Kurnis. Versuch, den Helm der Gerechten zu finden, und erfülle deine Aufgaben!« »Ich habe einen feinen Hengst gefunden«, rief Nottr schon von weitem und führte ein feuriges Pferd an den Zügeln hin-
ter sich her. »Jenersen hat ihn mir gern geschenkt. Er sieht uns lieber heute als morgen verschwinden.« »Ich werde ihm den Gefallen tun«, sagte Elivara lächelnd. »Mit dem Pferd werde ich in wenigen Tagen meine Stadt erreicht haben. Ich werde die versprengten Getreuen um mich versammeln und einen unerbittlichen Kampf gegen die Herrschaft der Caer führen. Nyrngor wird bald wieder frei sein!« »Ich wünsche es dir und unserer Welt«, antwortete Mythor. Elivara schwang sich auf den Rücken des Pferdes und ordnete die Zügel. In ihren Augen loderte ein wildes Feuer. Sie war eine Königin, wie Nyrngor sich keine bessere wünschen konnte. Ihr Wille, die Feinde zu besiegen, war nicht zu brechen. Mit den Schenkeln drückte sie das Pferd herum, hob die Hand zu einem kurzen Gruß und preschte über den Knochensteg quer durch die Stadt auf das Festland zu. Mythor, Kalathee, Nottr und Sadagar blieben an Bord der Kurnis zurück und starrten ihr nach. Der Lorvaner war nicht sehr glücklich über Elivaras plötzlichen Aufbruch. Er fürchtete, daß sich Mythor nun doch Kalathee zuwenden könnte. Seinen ohnehin schwachen Stand in diesem Spiel würde das noch mehr untergraben. Kalathee atmete auf, als die Königin von Nyrngor hinter den ersten Knochentälern aus dem Blickfeld verschwand. Sie schloß die Augen, und eine tiefe Zufriedenheit machte sich auf ihrem hübschen Gesicht breit. Sadagar schmunzelte listig. Sein Blick wanderte zwischen Nottr und Kalathee hin und her. Er dachte sich seinen Teil. »Hißt das Segel!« kommandierte Mythor und stellte sich ans Ruder. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!« ENDE
Der nächste MYTHOR-Band Nachdem Mythor einsehen mußte, daß er Königin Elivara und ihrer von den Caer eroberten Stadt im Augenblick nicht weiter helfen kann, setzt er sich neue Ziele: Er will den Wolkenhort Althars finden. Dort will er den nächsten magischen Ausrüstungsgegenstand finden, der ihm als »Sohn des Kometen« ermöglichen soll, den Kampf gegen die Caer und ihre Dämonenpriester weiterführen zu können. Mit seinem kleinen Schiff und den treuen Gefährten läuft er die Insel Zuuk an, vor der düstere Legenden die Seeleute warnen. Das Eiland macht von außen her einen friedlichen Eindruck, doch bald erweist sich Zuuk als eine Insel des Schreckens. Diesen Schrecken muß Mythor widerstehen, denn immer deutlicher erweist sich, daß er die einzige Hoffnung der Welt im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit darstellt. Er darf auch nicht vor der Geisterstadt Lockwergen zurückschrecken, schon gar nicht vor den Banditen, die in dieser Gegend ihr Unwesen treiben, und auch nicht vor dem Wolfsmann, der angeblich über Lockwergen herrscht. Die farbenprächtigen Abenteuer Mythors und seiner Gefährten können Sie im nächsten Band der Serie erfahren – er trägt den Titel:
INSEL DES SCHRECKENS