Die Physik des Kletterns
Mit Haken und Ösen T INA C ZERMIN | P ETER D ULLNIG | L EOPOLD M ATHELITSCH | W ERNER B. S CHNEIDER Klettern ist eine gerade auch unter Physikern weit verbreitete Sportart. Oft unklar ist indes, welche physikalischen Gesetzmäßigkeiten die Wagemutigen in die Schranken weist. lettern hat als Sportart in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt, wobei die Attraktion durch das Angebot künstlicher Kletteranlagen noch verstärkt worden ist. Diese zusätzlichen Möglichkeiten beeinflussten sicherlich auch die Überlegungen, Klettern in das Schulsportprogramm aufzunehmen. So ist zum Beispiel in Bayern Klettern im Rahmen des differenzierten Sportunterrichts fest verankert. In einem dafür eigens erstellten Lehrplan, der in enger Zusammenarbeit mit dem Alpenverein erarbeitet worden ist, werden dem Lehrer Hinweise zur Gestaltung entsprechender Sportstunden gegeben. Physikalische Gesetzmäßigkeiten setzen dem Klettern Grenzen und legen Rahmenbedingungen fest.Technische Neuerungen verhelfen dazu, sich diesen Grenzen immer mehr zu nähern, sie bieten dem Sportler aber gleichzeitig auch größere Sicherheit.
K
Kraftwandler und Klettern Das vielleicht grundlegende physikalische Prinzip, das Kletterer nutzen, ist der Flaschenzug. Er verhilft zu Kraftgewinn auf Kosten größerer Weglängen (Untersetzung). In der realen Umsetzung ist es allerdings oft schwer,die von der Schulphysik bekannten idealisierten Darstellungen zu erkennen: Die übersichtlichen Rollen sind durch Karabiner ersetzt und dünne Schnüre durch Seile, wobei der Kraftgewinn, wie er bei idealen Flaschenzügen auftritt, bei weitem nicht erreicht wird. Beim Klettern werden hauptsächlich folgende drei Kraftwandler eingesetzt: 62
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Kraftumlenkung durch feste Karabiner („Selbstseilrolle“) Sie ermöglicht, dass sich der Kletterer nach oben zieht (Abbildung 1). Obwohl ein an der Wand befestigter Karabiner (und keine lose Umlenkung!) eingesetzt wird, muss der Kletterer (im Idealfall zu vernachlässigender Reibung) nur die Hälfte seines Gewichts als Kraft aufbringen. Allerdings muss er für 0,5 m Höhengewinn 1 m Seil durch seine Hände ziehen.
Kraftumlenkung durch lose Karabiner („lose Rolle“) Sie wird häufig zur Unterstützung von Erschöpften und zur Bergung von Verletzten eingesetzt (Abbildung 2).Auch hier wird die Rolle durch Karabiner ersetzt. Im Idealfall ergibt sich wieder eine Kraftuntersetzung von 2 :1.
Schweizer Flaschenzug Er besteht aus einer festen und zwei losen Rollen (Abbildung 3) und ermöglicht im Idealfall eine Kraftuntersetzung von 5:1. Im Realfall ist sie allerdings wesentlich kleiner. Seilumlenkungen um einen großen Winkel bewirken große Reibungskräfte, und zusätzlich wird das Seil gedehnt. Aus Sicherheitsgründen muss immer eine Rücklaufsperre eingebaut sein,die einen bestimmten „Durchlauf“ bis zum Sperren aufweist. Für die Kraftuntersetzung gilt folgende Regel: Jede Rolle verteilt die an ihrer Achse angreifende Kraft gleichmäßig auf beide Seilstücke. Für den Fall des Schweizer Flaschenzugs heißt das (Abbildung 3): Die Zugkraft F an der mittleren Rolle wirkt an beiden Seilstücken, an der Achse wirkt 2·F. An der unteren Rolle wirken 2·F an jedem Seilstück, das heißt 4·F an der Achse. An der obersten Rolle wirkt an jedem Seilstück F, so dass sich bezüglich der Last eine Zugkraft von 5·F ergibt. Für alle drei kraftgewinnenden Anordnungen ist die in Abbildung 4 gezeigte Zugweg-Zugkraft-Relation typisch. In der Vordehnphase wird nur Dehnungsarbeit verrichtet, die Last wird noch nicht bewegt. In der zweiten Phase wird die Last gehoben. Danach ergibt sich eine (meist geringe) Senkung der Last, bis die Rücklaufsperre blockiert. Die Energieverluste (schraffiert gezeichnet) ergeben sich aus Reibung, Dehnung des Seils und durch Senkung der Last aufgrund des Durchlaufs. Aus der gemessenen maximalen Zugkraft Fmax die zur Hebung der Last notwendig ist,und dem Gewicht kann man die effektive Untersetzung berechnen
SPORTPHYSIK
ueff =
G Fmax
Messungen [1] ergaben für die lose Rolle ueff =1,4 (Idealfall uideal = 2), so dass der Wirkungsgrad für die Untersetzung η = ueff/uideal = 0,7 beträgt. Für den Schweizer Flaschenzug wurde ueff = 2,2 gemessen (uideal = 5,Wirkungsgrad η = 0,44). Diese Wirkungsgradangaben beziehen sich auf die jeweils maximale Zugkraft.Vergleicht man dagegen die tatsächlich aufzuwendende Arbeit mit der genutzten,so muss man noch die Seildehnung und die Rücklaufbremsung berücksichtigen. Die Ergebnisse hängen dann auch von der Seillänge ab. Man erhält beispielsweiseη real = 0,45 für die lose Rolle (Zugweg 1,4 m) bzw. η real = 0,35 für den Schweizer Flaschenzug (Zugweg 2,38 m).
Die Wahl des richtigen Seils Die größte Gefahr beim Bergsteigen und Klettern ist ein Absturz. Um die Folgen eines möglichen Sturzes zu mindern, sichert sich der Kletterer im Allgemeinen mit einem Seil. Er ist dazu mit einem oder mehreren Kameraden verbunden. Beim Klettern läuft das Seil zusätzlich über Zwischensicherungen, etwa Haken (Abbildung 5). Stürzt ein Kletterer ab, wird er über das Seil aufgefangen („Sturz ins Seil“). Zunächst könnte man annehmen, dass die Sicherheit mit der Belastbarkeit des Seils zunimmt. So gesehen müssten Stahlseile am sichersten sein. Dies ist aber
nicht so. Der Sturz in ein Stahlseil ist ungleich gefährlicher als der in ein modernes Sicherungsseil aus Kunststoff. Ein Stahlseil hat einen sehr geringen Dehnungskoeffizienten, so dass Bremsweg und Bremszeit vergleichsweise kurz und auftretende Beschleunigungen und Kräfte entsprechend groß sind. Im Sprachgebrauch der Kletterer ist es üblich, die maximale Kraft, die beim Sturz ins Seil auftritt, mit Fangstoß zu bezeichnen (siehe „Der Fangstoß“, S. 64). Je geringer die Elastizität des Seils, desto größer wird beim Sturz der Fangstoß. Eine mindestens ebenso große Bedeutung für die Sicherheit hat neben der Belastbarkeit daher die Dehnbarkeit des Seils. In der Fachsprache wird diese durch den Seilmodul M beschrieben. Er gibt jene Kraft an,welche die Länge des Seils dem Hookeschen Gesetz folgend verdoppeln würde, wenn das überhaupt möglich wäre. Je kleiner der Seilmodul, desto dehnbarer ist also das Seil. Die Dehnbarkeit eines Seils hängt aber – bei festem Seiltyp und Seilmodul – auch von seiner Länge ab.Verdoppelt man die Länge, wird bei gleicher dehnender Kraft die Dehnung verdoppelt. Die Stärke des Fangstoßes beim Sturz hängt also nicht nur von der durchfallenen Höhe h und dem Seilmodul M ab, sondern auch von der Länge l0 des „ausgegebenen Seils“. Darunter versteht man die Seillänge
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KLETTERN
Abb. 1. Selbstseilrolle. Der Kletterer zieht sich selbst nach oben, während die Person am Boden nur die Sicherung übernimmt.
<< Abb. 2. Lose Rolle im Modell (a) und in der Praxis (b). Die lose Rolle ist durch den linken Karabiner und die Umlenkrolle durch den rechten realisiert. Die Kraftübertragung zum losen Karabiner erfolgt über eine Reepschnur (dunkelblau-gelb), die über einen Klemmknoten mit dem Hauptseil (blau-weiß) verbunden ist. Die nach oben verlaufende blau-rote Reepschnur ist über einen Klemmknoten mit dem Hauptseil verbunden, der hier als Rücklaufsperre dient. Im Foto ist die Fixierung des oberen Karabiners und der rechten Reepschnur am Fels nicht dargestellt.
Hier ist je nach Situation ein Knoten (Seilfixierung)
< Abb. 3. Schweizer Flaschenzug im Modell (a) und in der Praxis (b). Die beiden „losen Karabiner“ werden über ein unelastisches Band (blau-weiß) am Fels befestigt (oben, außerhalb des Bildes). Die Verbindung des unteren losen Karabiners zum Seil (blau-weiß) erfolgt wie in Abbildung 2 über eine Reepschnur (dunkelblau-gelb) mit Klemmknoten. Der Knoten in den parallel angeordneten Karabinern (Garda-Schlinge, rechts oben) dient als Rücklaufsperre. Diese beiden Karabiner sind mit einem Band am Fels befestigt (oben, außerhalb des Bildes).
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ABB. 4 Zugweg-Zugkraft-Diagramm eines Flaschenzugs für reale Seile. Das Gewicht G wird um die Höhe h gehoben, n ist die theoretische Untersetzung. Die strichlierte Linie zeigt die Vordehnphase, die durchgezogene die Hubphase und die strichpunktierte Linie die Blockierphase. Die schraffierten Flächen entsprechen den Energieverlusten; links: durch Reibung und Dehnung, oben: Reibung, rechts: durch Absinken des Gewichts aufgrund des Seildurchlaufs durch die Rücklaufsperre.
F
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FLASCHENZUG
G n
G·H h·n
s
zwischen dem Kletternden und Sichernden in ungedehntem Zustand. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass der entscheidende Parameter f = h/l0 ist. Er wird Sturzfaktor genannt. In „Der Fangstoß“, S. 64 findet man die Herleitung einer Gleichung für den Fangstoß. Sie zeigt, dass dieser bei gegebenem Gewicht G des Kletterers und gegebenem Seilmodul M lediglich noch vom Sturzfaktor f abhängt. Dabei tritt der für den Kletterer schlimmste Fall f = 2 dann auf, wenn er, ohne Zwischenhaken gesichert, senkrecht nach oben klettert und dann die doppelte Seillänge fällt. Abbildung 6 zeigt die bei einem gesicherten Absturz auftretenABB. 5
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den Fangstöße für verschiedene Seilarten in Abhängigkeit vom Sturzfaktor. Ein Drahtseil (Durchmesser 1 cm) hat typischerweise einen Seilmodul von M = 106 N [3]. Fällt ein Kletterer der Masse 80 kg in dieses Seil, so ergibt sich bei einem angenommenen Sturzfaktor von nur f = 1 ein Fangstoß von Fmax ≈ 40 kN. Dies entspricht einer Beschleunigung von 50 g! (g : Erdbeschleunigung). Bei horizontaler Lage des Stürzenden können nach [4] bereits Beschleunigungen von 3 bis 5 g lebensgefährlich werden (bei senkrechtem Sturz in einen Klettergurt ergibt sich eine Gesundheitsgefährdung im allgemeinen erst bei mehr als 10 g [5]). Dies zeigt, dass ein Stahlseil beim Klettern zur Sicherung nicht verwendet werden darf. Hanfseile, die bis zum Zweiten Weltkrieg in Gebrauch waren, haben auch einen vergleichsweise großen Seilmodul M von 600 bis 800 kN [1]. Ein Sturz ins Hanfseil bedingt einen entsprechend großen Fangstoß, durch den zusätzlich der sichernde Begleiter aus dem Stand gehoben und mitgerissen werden kann.Außerdem kann das Seil reißen. Ein entscheidender Fortschritt für die Sicherheit beim Klettern stellte die Entwicklung von Kunststoffseilen dar,die durch ihre große Elastizität ein sehr großes Energieaufnahmevermögen besitzen. Die technische Ausführung erfolgt in einer Kernmantelkonstruktion, bei der ein tragender Seil-
SICHERUNG D E R FA N G S TOSS
| ∆lmax (Abbildung 5) des Seils führt. Aus dem Energieerhaltungssatz folgt:
Nehmen wir vereinfacht an, dass die rücktreibende Kraft F des Seiles der Dehnung ∆l proportional ist (Hookesches Gesetz) Zwischensicherung
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Seildehnung ∆ l max
Sturz ins Seil bei einer rein statischen Sicherung, das heißt ohne Gurt- und Körperdehnung sowie ohne Seildurchlauf. Es sind zwei Situationen dargestellt. Zunächst der sich noch oben befindliche Kletterer, der dann beim Sturz die Strecke h + ∆ lmax (gesamte Fallhöhe) durchfällt.
(1)
Mit der Seillänge l0 kann diese Gleichung umgeschrieben werden: gesamte Fallhöhe
freie Fallhöhe h
F = k · ∆l.
Wpot = G ⋅ ( h + ∆lmax ) =
F = k ⋅ l0 ⋅ ∆l = M ⋅ ε , l0
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Daraus ergibt sich für die größte Seildehnung
(
∆lmax = 1 G + G 2 + 2G ⋅ h ⋅ k k
)
(2)
wobei mit M = k · l0 der Seilmodul und
und für die maximal einwirkende Kraft, den Fangstoß
∆l mit ε = l0
2⋅ M ⋅ f Fmax = G 1+ 1+ , G
die relative Seildehnung bezeichnet wird. Unter Benutzung dieser Begriffe gewinnt das Hookesche Gesetz folgende einfache Form: Beträgt die relative Dehnung des Seiles beispielsweise ε = 1/10, so ist die dehnende Kraft ε · M also 1/10 des Seilmoduls.
wobei der Quotient h/l0 durch f ersetzt wurde. f = h/l0 wird als Sturzfaktor bezeichnet (h = freie Fallhöhe, l0 = Länge des ungedehnten Seiles).
Fällt eine Person mit Gewicht G aus einer Höhe h in ein Seil der Länge l0, wird die potentielle Energie der Person zunächst in kinetische Energie und dann in Spannenergie (Seil) umgewandelt, was zu einer maximalen Dehnung
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WSpann = 1 k ⋅ ∆lmax2 2
(3)
Der Fangstoß ist nicht direkt von der Fallhöhe h abhängig, sondern nur vom Verhältnis zwischen Fallhöhe und ausgegebenem Seil. Die Werte von f liegen immer zwischen 0 und 2, wobei f = 2 nur dann erreicht wird, wenn der Sportler über die Standplatzsicherung hinaus um l0 senkrecht nach oben klettert und dann um h = 2 · l0 stürzt.
SPORTPHYSIK
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FA N G S TOSS DIE UMLENKREIBUNG
F/N
ABB. 6 Fangstoß f für einen Kletterer vom Gewicht G = 800 N in Abhängigkeit vom Sturzfaktor f für drei Seilarten: oben Drahtseil mit M = 1000 kN, Mitte Hanfseil mit 600 kN und unten modernes Kletterseil mit 30 kN.
KLETTERN
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f
kern von einem schützenden Mantel umgeben ist. Entscheidend für Elastizität, Dehnungsverhalten oder Bruchfestigkeit ist jedoch der Kern. Kletterseile haben einen Seilmodul M von etwa 20 bis 30 kN. Daraus erhält man für G = 800 N und f = 1 einen Fangstoß Fmax von 6 bis 8 kN und eine maximale relative Seildehnung um 30 % von l0. Neben den energieaufnehmenden Seilen benötigt man beim Klettern beispielsweise zum Übertragung von Kräften, zur Befestigung von Haken oder zur Herstellung von Bremsvorrichtungen auch unelastische Seile (runde Reepschnüre oder flache Bänder), die aus dem gleichen Grundmaterial wie die Kletterseile aufgebaut sind. Nach (3) in „Der Fangstoß“ ist der Fangstoß bei gleichem Sturzfaktor nicht von der Fallhöhe h abhängig. Daher sollte ein Sturz ins Seil aus 1 m oder 10 m Höhe bei gleichem Sturzfaktor den gleichen Fangstoß ergeben. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der Sturz aus 10 m Höhe viel ge-
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Ein über die kreisförmige Umlenkvorrichtung gleitendes Seil wird um den Winkel α gegen den Uhrzeigersin umgelenkt (Abbildung). Dabei ist die vor der Umlenkung in Bewegungsrichtung des Seils wirkende Zugkraft F0 größer als die Zugkraft F (α) nach der Umlenkung. Die zur Umlenkung benutzte Vorrichtung überträgt auf das Seil die Reibungskraft FR = F (α) – F0. Diese Reibungskraft ist negativ, weil sie gegen die Bewegungsrichtung des Seils wirkt. Betrachtet werde nun ein infinitesimal kleines Stück des Seils, längs dessen sich die Zugkraft um den Winkel dϕ vom Angriffspunkt A nach B dreht. Die Zugkraft im Seil hat zunächst in A den Betrag F und danach in B den Betrag F + dF, wobei der von der Reibung stammende Beitrag dF, negativ ist. Die beiden Zugkräfte sind jeweils tangential zur Umlenkvorrichtung. Die Drehung wird bewirkt durch die Zusatzkraft dFN, die senkrecht zu F +dF angenommen wird. Sie ist die Reaktion der Umlenkvorrichtung auf die Anpressung des Seiles, also die Normalkraft für das Bogenstück de. Der Abbildung
entnimmt man die für kleine Winkel gültige Näherung dFN = F sin dϕ ≈ Fdϕ für den Betrag dieser Normalkraft. Ist die Reibungskonstante µ, so folgt dF = – µ dFN = – µ · F · dϕ. Das Minuszeichen begründet sich daraus, dass die Reibungskraft den Betrag der Zugkraft im Seil mindert. Integriert man dF = –µ · F · dϕ über den Winkel α und berücksichtigt dabei die Anfangsbedingung F(0) = F0, so erhält man F(α) = F0 · e–µ·α.
B
F+dF dFN
de A F
F
M
α) F (α
F0
Bewegungsrichtung des Seils
An einer Umlenkrolle angreifende Kräfte.
Abb. 7. Seilführung in Karabinern zur Verstärkung der Bremswirkung durch Reibung; Links: Halbmastwurf, rechts: Achter.
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fährlicher ist. Für diese Diskrepanz gibt es zwei Gründe: Erstens hängt eine Verletzung nicht nur von der einwirkenden Kraft ab, sondern auch davon, wie lange diese Kraft auf den Körper einwirkt. Die Bremsphase dauert bei einem Sturz aus 1 m Höhe für f = 1 und M = 30 kN etwa 0,1 s, die aus 10 m etwa 0,3 s. Zweitens wurde bei der Herleitung von (3) vorausgesetzt, dass die kinetische Energie des Fallenden nur vom Seil aufgenommen wird. Das heißt sowohl die Seilverankerung als auch der Körper des Fallenden werden als starr angenommen. Beides ist nicht realistisch. Heute versucht man, die Sicherung dynamisch zu gestalten, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden. Der extreme Fall einer starren Sicherung tritt praktisch nur dann ein, wenn sich das Seil verklemmt. Außerdem ist der Kletterer mittels eines Hüft- oder Ganzkörpergurts mit dem Seil verbunden. Sowohl Gurt als auch Körper verlängern den Bremsweg um insgesamt 20 bis 30 cm. Auch der Körper kann Energie aufnehmen. Bei Belastungen von etwa 2 bis 3 kN (2 m Fallhöhe) nehmen Knoten, Gurt und Körper ungefähr 0,5 kJ Energie auf,dies ist etwa ein Viertel bis ein Drittel der gesamten aufzunehmenden Energie [4]. Nach dem bisher Gesagten können die Folgen eines Sturzes durch einen längeren Bremsweg verringert werden. Auf den ersten Blick erscheint ein Seil mit kleinem Seilmodul für Sicherungsaufgaben beim Klettern besonders geeignet. Die für das Bungee-Springen verwendeten Seile sollten daher die gestellten Bedingungen besonders gut erfüllen. Der Seilmodul M beträgt hier nur etwa 0,6 bis 1 kN, so dass bei einem Sturz aus 10 m (f = 1) der Fangstoß etwa 2,2 kN und der Bremsweg 27 m [6] betragen. Diese Werte erscheinen zunächst ideal. Bedenkt man jedoch, dass bei dem langen Bremsweg und dem nachträglichen Ausschwingen des Kletterers die Gefahr zunimmt, gegen den Felsen zu schlagen,werden die Nachteile dieses Seils für das Sichern beim Klettern deutlich. Gegenüber Seilen zum Bungee-Springen müssen Kletterseile einen größeren Seilmodul sowie eine weit größere Dämpfung aufweisen.
Dynamische Sicherung Ist das Seil nicht starr am Berg verknotet, sondern wird über eine Bremsvorrichtung ein gewisser Seildurchlauf ermöglicht, ergibt sich dadurch eine Bremswegverlängerung. Dies führt zu einem deutlich herabgesetzten Fangstoß.
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K R A F T V E R L AU F
ABB. 9
F/N
6 4 2 0,1
0,2
0,3
0,4
< Klemmkeil in einer Felsspalte.
t/s
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KLEMMKEIL << Messung des Kraftverlaufs bei einem Sturz eines starren Fallgewichts über eine Umlenkkante. 1: statisch abgefangener Sturz, 2: dynamisch abgefangener Sturz. Die strichpunktierten Linien geben den Kraftverlauf auf Seite des Sturzgewichts, die durchgezogene Linie jenen auf Seite der Sicherung an. In beiden Fällen ist die auf die Sicherung wirkende Kraft durch die Reibung an der Umlenkkante verkleinert.
8
0 0,0
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Die erste dynamische Seilbremse wurde von Fritz Sticht erfunden und 1968 in München vorgestellt. Sie ist unter dem Namen Stichtplatte immer noch in Gebrauch. Sie entspricht aber nicht mehr den heutigen Anforderungen an eine dynamische Sicherung im Hinblick auf ihre Handhabbarkeit. Die derzeit gebräuchlichste Sicherung ist die Halbmastwurfsicherung (Abbildung 7a). Eine weitere Sicherung, der so genannte Achter (Abbildung 7b), hat sich eher im Klettersport durchgesetzt. Daneben werden auch noch andere Vorrichtungen zur dynamischen Sicherung angeboten. Das Prinzip der dynamischen Sicherung ist einfach. Durch starke, vor allem mehrfache Seilumlenkungen, durch die ein großer Reibungswiderstand auftritt, wird bei geringem Zug ein Blockieren des Seils erreicht, das ab einer bestimmten Zugkraft in einen gebremsten Durchlauf übergeht. Untersuchungen des Deutschen Alpenvereins im Jahr 1996 am Kletterturm in Böckingen [7] zeigten, dass unter den angebotenen dynamischen Sicherungsvorrichtungen die Halbmastwurfsicherung die größte Bremskraft aufweist (2,5 bis 4 kN). Bei anderen Sicherungen wird der dynamischen Effekt der Sicherung auf Kosten der Bremskraft überbetont. Der damit verbundene größere Bremsweg kann bei schweren Stürzen sowohl für den Stürzenden als auch für den Sichernden (Verbrennungsgefahr der Hände) gefährlich sein. Abbildung 8 zeigt die charakteristischen Unterschiede in der Zeit-Kraft-Abhängigkeit zwischen einem statisch und einem dynamisch aufgefangenen Sturz [8]. Der Unterschied zwischen den Kräften auf der Seite der Sicherung und der Seite des Sturzgewichts ergibt sich aus der Reibung an der Umlenkvorrichtung. Die dynamische Sicherung reduziert den Fangstoß von 9 kN auf 7 kN.Außerdem wird die Bremsphase dadurch um etwa 30 % verlängert. Die Bremswirkung bei der Seilumlenkung um eine runde Kante ist durch F (α) = F0 · e– µ·α, wobei F0 die in Gleitrichtung des Seiles wirkende Zugspannung vor der Umlenkung und F die Zugspannung danach ist F < F0; µ ist der Reibungskoeffizient und α der Winkel, um den das Seil umgelenkt wird (siehe „Die Umlenkreibung“, S. 65). In die Ableitung der Formel geht stillschweigend ein, dass das Seil sehr dünn im Vergleich zum Umlenkradius ist und dass es nicht gequetscht wird.Vergleicht man den Radius eines Karabinerschenkels mit einem Seildurchmesser
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(beide etwa 0,5 cm), so sieht man, dass diese Voraussetzungen nicht zutreffen. Messungen eines der Autoren (P.D.) am Seilsturzstand der Technischen Versuchs- und Forschungsanstalt der Technischen Universität Wien ergaben [8], dass der Reibungskoeffizient µ während der Phase des Abbremsens annähernd konstant ist und bei dynamischen Sturzversuchen einen Wert von µ = 0,2 hat. Wird das Seil durch eine Sicherung mittels Seilumlenkung gebremst, wird die entsprechende Energie auch an dieser Stelle umgesetzt. Dadurch werden Seil und Sicherung stark erwärmt, was zu irreversiblen Schäden am Seil führen kann [9].
Haken und „Friends“ Ähnlich wichtig wie das Seil ist dessen Befestigung am Fels. Hierzu werden spezielle Werkzeuge aus sehr bruchfestem Material,wie Haken oder Karabiner,eingesetzt.Als Schwachstelle tritt damit nur noch die Art der Fixierung am Fels auf. Die klassische Seilbefestigung erfolgt mittels Haken: Man verwendet entweder bereits am Fels angebrachte Haken oder schlägt neue in den Felsen (direkt oder in gebohrte Löcher). Bei Haken, die sich bereits längere Zeit im Fels befinden, besteht die Gefahr, dass entweder das Material korrodiert ist oder dass durch Verwitterung des Gesteins der Haken nicht mehr ausreichend fest sitzt. Als Ergänzung oder Alternative setzen sich in letzter Zeit verstärkt mobile Sicherungsmittel durch (Abbildung 9).Hierzu zählen so genannte Klemmkeile.Sie können leicht gelegt und wieder entfernt werden, beschädigen den Fels kaum und können beliebig oft verwendet werden. Allerdings gilt die Einschränkung,dass sie nur in einem sich nach unten oder nach außen verengenden Riss ihre Klemmwirkung zeigen. Eine bahnbrechende Neuerung war daher 1977 Ray Jardins Entwicklung so genannter Friends. Das Entscheidende an ihnen ist: Sie halten in Rissen, die sich leicht nach außen öffnen (siehe Titelbild). Das diesem Klemmgerät zugrunde liegende Prinzip wird von Kletterern schon lange beim Verspreizen in einem Kamin verwendet: Die Zugkraft nach unten bewirkt,dass die Segmente nach außen gedrückt werden und sich auch aufgrund ihrer gezahnten Außenseite am Fels verankern. Die Berechnung der hierbei auftretenden Kräfte (siehe „Die Physik der Freunde“) zeigt, dass der Winkel ϕ zwischen Auflagepunkt und Achse nur in einem kleinen Bereich von 10 bis 20 Grad liegen darf. Der optimale Winkel sollte außerdem bei unterschiedlich breiten Rissen annähernd der selbe sein. Dies wird dadurch erreicht, dass die äußere Oberfläche eines Friends die Form einer logarithmischen Spirale besitzt.
Zusammenfassung Beim Klettern mit dem Seil spielen zunächst die einfachen Gesetze des Flaschenzugs eine gravierende Rolle. Analysiert man die Gefahr eines Sturzes ins Seil, so spielt neben der Fallhöhe auch die Materialgröße der Seildehnung eine entscheidende Rolle. Bei der Sicherung des Kletterers haben
D I E PH YS I K D E R F R E U N D E
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KLETTERN
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Betrachtet man ein Segment eines Friends (Abbildung rechts oben), muss im Gleichgewichtsfall die Resultierende aus Reibungskraft FR und Normalkraft FN vom Auflagepunkt zur Drehachse weisen, weil das Drehmoment dann verschwindet. Daraus folgt für die Beträge der Kräfte: FR = tan(ϕ)FN. Die Haftreibung FR besitzt eine obere Grenze, die durch FR ≤ µ · FN gegeben ist. Aus beiden Beziehungen folgt die Bedingung tan ϕ ≤ µ. Ist der Winkel ϕ größer als durch diese Ungleichung erlaubt, rutscht der Friend, weil die Normalkraft zu gering ist. Die Reibungskraft zwischen Stahl und Stein (Aluminium und Granit) liegt etwa bei µ = 0,4 (µ = 0,3), so dass ϕ < 22° (ϕ < 17°) sein muss. Es gibt aber auch eine Untergrenze für den Winkel. Für kleine Winkel wird die Normalkraft so groß, dass eine zu große Schubspannung τ zwischen den Segmenten in der Achse auftreten kann. Für die Schubspannung τ gilt: τ = Normalkraft / Querschnittsfläche der Achse = FN/A = FR/(A · tanϕ ) bzw. tanϕ = FR/(τ · A). Hochfester Stahl erträgt eine Schubspannung von bis zu τ = 900 N/mm2, die Achse hat einen Durchmesser von etwa 4 mm und als maximale Reibungskraft nehmen wir FR = 2,5 kN (10 kN auf vier Segmente). Dies ergibt einen unteren Grenzwinkel von ϕ >12°. Der optimale Winkel liegt also im Bereich zwischen 12° und 22° und soll für schmalere und breitere Spalten gleichermaßen zur Anwendung kommen, das heißt die Tangente soll an jeder Stelle der Oberfläche denselben
A
AR FN
An einem Friend angreifende Kräfte.
Winkel mit dem entsprechenden Radiusvektor (Verbindungslinie Achse – Berührungspunkt) einschließen. Eine solche Bedingung wird durch eine logarithmische Spirale der Form r = r0 · eα·tanϕ erfüllt. Die Abbildung unten zeigt eine solche Spirale mit r0 = 1 und ϕ = 14°. Der graue Bereich zeigt die Form eines Segments für den Friend.
–2
1
–1
2
3
4
–1 –2 –3
Die logarithmische Spirale definiert den Bereich (grau), innerhalb dessen ein Friend funktioniert.
sich in den vergangenen Jahren Friends bewährt. Sie greifen auch in Spalten, die sich nach außen leicht öffnen.
Literatur [1] P. Schubert, Tätigkeitsbericht des Sicherheitskreises im Deutschen Alpenverein 1980-83: Sicherheit in Firn und Eis, München (1984). [2] Themenheft Hebel und Rolle, Naturwissenschaften im Unterricht, Heft 23 (1994). [3] P. Dietmaier, Inst. f. Mechanik, Techn. Univ. Graz, private Mitteilung. [4] H. Mägdefrau, Die Belastung des menschlichen Körpers beim Sturz ins Seil und deren Folgen, Dissertation, Fak. Biologie, LMU München (1989). [5] R. Reali, L. Stefanini, Eur. J. Phys. 17, 348 (1996).
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[6] B. Freytag, Praxis der Naturwissenschaften 48, 40 (5/1999); P.G. Menz, The Physics Teacher 31, 483 (1993); R. Hirner, Fa. BungyJumping, Graz, private Mitteilung. [7] T. Czermin, Physikdidaktische Aspekte des Kletterns, Staatsexamensarbeit, Universität Erlangen-Nürnberg (1996). [8] P. Dullnig, Physikalische Aspekte beim Bergsteigen und Klettern, Diplomarbeit, Inst. f. Theor. Physik, Univ. Graz (1996). [9] M. J. M. Leask, G. C. Sills, Eur. J. Phys. 18, 247 (1997). Bildnachweis: Fotos und Zeichnungen (außer Abb. 5) von Tina Czermin.
Die Autoren Tina Czermin, geb. 1970, Studium der Physik und Mathematik in Konstanz und Erlangen, Referendariat in München, unterrichtet in Garmisch-Partenkirchen am Werdenfels-Gymnasium und am Olympiastützpunkt Ski alpin, klettert seit 20 Jahren und ist Sommer wie Winter in den Bergen unterwegs, seit acht Jahren auch als Ausbilderin.
Peter Dullnig, geb. 1970, Lehramtsstudium Physik und Mathematik an der Universität Graz, Diplomprüfung 1996. Derzeit Lehrer an der Höheren Internatsschule des Bundes in Saalfelden. Seit 1993 staatlich geprüfter Lehrwart Hochalpin.
Leopold Mathelitsch, geb. 1950, Studium der Physik und Mathematik an der Universität Graz, 1974 Abschluss des Lehramtsstudiums, 1977 Promotion, 1984 Habilitation für das Fach Theoretische Physik. Forschungsaufenthalte an der Texas A&M University und an der Université Paris-Sud. Derzeit Prof. am Institut für Theoretische Physik der Universität Graz mit den Arbeitsgebieten theoretische Teilchenphysik und Fachdidaktik.
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Werner B. Schneider, geb. 1940, Studium der Physik und Mathematik an der Universität Marburg, erstes Staatsexamen 1967, Promotion 1971, 1973– 1975 Auslandsaufenthalt an der École Normale Supérieure in Paris, zweites Staatsexamen 1977, Habilitation in Experimentalphysik 1978. Seit 1982 Professur für Didaktik der Physik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsgebiete: Computer im Physikunterricht, neue Medien für den Unterricht, neue Unterrichtskonzepte. Seit 1991 Mitglied im Kuratorium von Physik in unserer Zeit. Anschriften: StRin z.A. Tina Czermin, Heimgartenstr. 5, 82441 Ohlstadt.
[email protected] Peter Dullnig, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Theoretische Physik, Universitätsplatz 5, A 8010 Graz.
[email protected] Prof. Dr. Leopold Mathelitsch, Karl-FranzensUniversität Graz, Institut für Theoretische Physik, Universitätsplatz 5, A 8010 Graz. leopold.mathelitsch.kfunigraz.ac.at Prof. Dr. Werner B. Schneider, Physikalisches Institut Didaktik der Physik, Universität Erlangen-Nürnberg, Staudtstr. 7, 91058 Erlangen.
[email protected].