Burt Frederick
Die Pilgerschiffe
Der Kerl übertönte sogar den Lautenspieler.
„Eine holde Maid im grünen Hain..." s...
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Burt Frederick
Die Pilgerschiffe
Der Kerl übertönte sogar den Lautenspieler.
„Eine holde Maid im grünen Hain..." sang der Musikant.
Sofort grölte dieser aufgeblasene Kerl, was ihm dazu einfiel:
„Ja, was mag ihr wohl geschehen sein?"
Röhrendes Gelächter und schrilles Kichern waren die Folge. Der Mann mit der Laute
gab auf. Er nahm sein Instrument herunter, stieg von dem kleinen Podest
neben der Theke des „Red Dragon" und schickte sich an, zu gehen.
Der Gröler wurde auf ihn aufmerksam. Im Kreis der Weiber, die sich um ihn geschart
hatten wie Motten um eine Ölfunzel, sprang er auf.
„He, he, mein Freund!Wirst du hier fürs Klampfen und Krächzen bezahlt oder nicht?"
„Ja, Sir", antwortet der Musikant und drehte sich um.
„Aber nicht dafür, mir einen blökenden Esel anzuhören."
Die Hauptpersonen des Romans: Robert Granville - der Kapitän der „Discoverer" ist ein Hundesohn, der sich an armen Auswanderern bereichern will. Delia Mercer - ist jung und hübsch und schafft es, für ihre Familie die Reisekosten für die Fahrt in die Neue Welt zu verdienen. Frank Davenport - der adlige Nichtstuer meint, auf der Schebecke der Seewölfe große Töne spucken zu können. Elisabeth I. - erteilt dem Seewolf einen Auftrag, von dem weder er noch seine Männer besonders entzückt sind. Philip Hasard Killigrew - braucht Härte und diplomatisches Geschick, um sich durchzusetzen.
1. Schlagartig wurde es so still in der Schenke, daß es wie ein Kanonen schuß geklungen hätte, wenn in die sem Moment eine Muck zerbrochen wäre. Der Gröler, ein gutgekleideter Mann mit blasierter Miene und vor nehm blasser Gesichtshaut, riß die Augen weit auf und kriegte den Mund nicht wieder zu. Dann wich das Blasierte einem Ausdruck blanker Wut. Die Hafenmädchen, die ihn umla gerten, hatten erschrocken die Hand vor den Mund geschlagen. Einige sa hen den respektlosen Lautenspieler empört an, als seien sie auf der Seite ihres Gönners. Andere schienen un schlüssig zu sein, was sie mehr be wundern sollten - den Mut des Man nes mit der Laute oder das heilige Donnerwetter, das der sehr ehren werte Mister Frank Davenport gleich vom Stapel lassen würde. Auch im übrigen Schankraum war die Reaktion unterschiedlich. Jene Hälfte, wo Tische und Stühle stan den, war den gut zahlenden Gästen
vorbehalten. Handwerksmeister, Kaufleute und Kapitäne ließen sich dort nieder, um sich mit Getränken und Gunstbeweisen verwöhnen zu lassen. Auch Gäste adliger Herkunft waren dort gelegentlich anzutreffen - wie jener grölende Mister Daven port. All die anderen scharten sich rings um die Theke. Dichtgedrängt standen sie mit den Bierkrügen in der Hand und starrten den Musikanten an, den sie nur als einen zurückhaltenden und fast scheuen Mann kannten. Ein Raufbold war er ohnehin nicht. Daß er auf diese Weise aufbegehrte, bewies wohl nur, wie sehr ihn das Ge tue dieses Schnösels Davenport ge troffen hatte. Jeder der einfachen Männer - Seeleute und Hafenarbei ter zumeist - war auf der Seite des Lautenspielers. Die käuflichen Weiber und ihre Zechkumpane an den vornehmeren Tischen hatten sich unterdessen die ganze Zeit von Davenports albernen Scherzen aufheitern lassen. Keine Frage also, daß sie daher auf seiner Seite stehen würden.
5 Davenport klappte endlich den Mund zu und schluckte trocken. Er war sich der Wirkung seiner Worte bewußt, als er betont leise sprach: „Ich nehme an, daß ich mich nicht verhört habe. Nun, wenn dem so ist, mußte ich es mir soeben bieten las sen, mich mit einem äußerst dummen Tier vergleichen zu lassen. Und das von einem Strolch, der sich Sänger nennt, obwohl er jault wie ein Köter, dem gerade auf den Schwanz getre ten wurde!" Gelächter der Männer und unter drücktes Kichern der Weiber hinter vorgehaltener Hand waren sein Bei fall. Davenport blickte in die Runde und nickte in dem grimmigen Bewußt sein, es recht zu tun. Er war entschlos sen, sich noch nicht zufriedenzuge ben. Der unverfrorene Lautenzupfer würde zu spüren kriegen, was es hieß, einen Mann von Rang und Namen zu beleidigen. Beleidigung? Ach was! Was dieser Wurm sich geleistet hatte, grenzte ge radezu an frevlerisches Benehmen. Einer aus dem Pöbel, der sich erdrei stete, einen Adligen mit verbalem Schmutz zu bewerfen. Unge heuerlich! Davenports Wut wuchs, je mehr er darüber nachdachte. Hölle und Teu fel, er hatte im Grunde das Recht, die sen Strolch auf der Stelle niederzu schießen. Der Musikant, ein schlanker Mann namens Anthony Armstrong, stand stocksteif und war zu einer Entgeg nung nicht mehr in der Lage. Sein Mut hatte ihn verlassen. Die Männer, die in seiner unmittelbaren Nähe aus
harrten, sahen, wie er sich bemühte, ein Zittern zu unterdrücken. Wieder herrschte Stille in der Schenke. Der Wirt und seine Helfer hinter der Theke wußten, daß es rat sam war, sich aus einer Auseinander setzung herauszuhalten. Die große Schar der Männer auf der Theken seite des Schankraums stand stumm und regungslos. Aus ihrer Bewunde rung für Armstrong wurde mehr und mehr Wut auf jenen Schnösel, der hier den dicken Mann markierte. Die harten Gesichter der Männer zeigten dies deutlich genug. Die Zechkumpane des Hochwohlge borenen wurden unsicher. Das spöt tische Grinsen verschwand aus ihren Gesichtern. Wenigstens sie wußten die Lage richtig einzuschätzen. Denn die Männer, die dort dem Musikanten eine unverholene Rückenstärkung gaben, waren von einer Sorte, die sich nicht so leicht unterdrücken ließ. Un gerechtigkeiten wurden nicht einfach mehr hingenommen. Mancher Schi kanierer unter den Handwerksmei stern, Kaufleuten und Kapitänen hatte schon erleben müssen, daß ihm in dunkler Nacht das Fell versohlt worden war - ohne Zeugen. Frank Davenport scherte sich nicht um diese Feinheiten. Ebensowenig ta ten es die käuflichen Weiber, die fest daran glaubten, daß Geld die Welt re giere. Und sie hielten Davenport für einen reichen Mann, der alles und je den kaufen konnte. So wie er auftrat, mußte er wirklich reich sein. Davenport hob die Nase ein Stück höher. „Du hast jetzt noch Gelegen heit, dich zu äußern, Sangesbruder. Mag sein, daß du dich für deine Frechheit entschuldigen willst. Noch
6 hast du die Möglichkeit, es zu tun. Ob wohl es dir die Strafe nicht ersparen wird." Anthony Armstrong biß sich auf die Lippen. Von allen Anwesenden hatte er am wenigsten getrunken. Deshalb fühlte er sich höchst ernüch tert. Welcher Teufel hatte ihn nur ge ritten, daß er gewagt hatte, dem Grö ler die Meinung zu sagen? Er räus perte sich und war soweit, sich tat sächlich zu entschuldigen. Bewegung entstand hinter ihm. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Erstaunt drehte er sich um. Der Mann, der sich herange schoben hatte, war einen halben Kopf größer als die meisten anderen, hatte Schultern wie ein Kleiderschrank und ein gutmütiges Gesicht, in dem jetzt allerdings harte Furchen ent standen waren. „Oh, hallo, Gregory", sagte Arm strong leise, als dürfe der Hochwohl geborene es nicht hören. „Dich habe ich noch gar nicht gesehen heute abend." „Bin auch erst vor zehn Minuten reingekommen", antwortete Gregory Mulhollen. Er wandte sich der höher gelegenen Seite der Schenke zu, wo die Tische von einer Balustrade abge grenzt wurden. Mulhollen war Zim mermann. Jeder kannte ihn, da er als Vorarbeiter auf der Kinsgate-Werft einen guten Ruf hatte. Er erhob seine Stimme zu dröhnender Lautstärke. „Allerdings bin ich noch früh genug dagewesen, um das Wichtigste mitzu kriegen." Oben, an den Tischen, standen die ersten auf und gingen. Der Lauten spieler atmete erleichtert auf. Die Männer rings um Mulhollen knurrten
zornig zustimmend. Erst jetzt zeigten auch die Dirnen Anzeichen von Unsi cherheit. Immer mehr Männer ent fernten sich aus ihrer Nähe, zum Aus gang hin. Davenports vornehme Blässe wurde wächsern. Die erhobene Nase sank tiefer. Von einem Atemzug zum anderen erweckte er den Eindruck, daß er sich sehnlichst ein Loch im Bo den wünschte, um darin versinken zu können. Um so mehr schien es ihn zur Verzweiflung zu bringen, daß er sich wie festgewurzelt fühlte. Der riesenhafte Mulhollen be wirkte das. Fast ein Dutzend Männer schlossen sich dem Zimmermann an, als dieser sich der Balustrade näherte. Anthony Armstrong strahlte vor Freude. Er ging zu dem Podest zu rück, setzte sich auf den Hocker und hob die Laute auf die Oberschenkel. Jetzt konnte er über die Köpfe der anderen hinwegblicken. Wenn Mul hollen und die anderen aufrechten Burschen es wünschten, würde er ein Spottlied anstimmen. Die ersten im Kreis von Daven ports Weibern wollten aufspringen. „Ihr bleibt!" donnerte Mulhollen. Sie erstarrten und wagten nicht mehr, sich zu rühren. Bis auf wenige Kaufleute, die an den entferntesten Tischen ausharr ten, waren Davenports Zechkumpane verschwunden. Mulhollen schob die Jackenärmel hoch und legte seine muskulösen Un terarme auf die Balustrade. „Nun, Mister Davenport", sagte er mit spöttischer Höflichkeit. „Jetzt möchtest du am liebsten weglaufen, was?"
7 Die „Ladys" in der Umgebung des Hochwohlgeborenen sperrten den Mund auf. Daß jemand so respektlos mit ihrem sehr ehrenwerten Gönner redete, hatten sie noch nicht erlebt abgesehen von der Unverschämtheit des Musikanten vor wenigen Minu ten. Was fiel diesem ungehobelten Klotz ein! Gab es denn niemanden, der ihn zurechtwies? Nein. Man konnte sich in der gan zen Schenke umsehen, da war keiner, der sich noch auf Frank Davenports Seite geschlagen hätte. Die wenigen Kaufleute, die eben noch mit ihm ge zecht hatten, waren zu schadenfrohen Zuschauern geworden. Das Erstaunen der Dirnen wuchs noch, als sie ihren adligen Freund in einer unerwarteten Vertraulichkeit antworten hörten. „Ich befehle dir, Mulhollen, mich in Ruhe zu lassen. Du hast nicht das Recht, dich in eine Angelegenheit ein zumischen, in der ich kraft meines Standes die rechtmäßige Gewalt aus übe." „Weißt du was?" Mulhollen grinste. Davenport blinzelte irritiert. „Was denn?" „Ich nehme mir das Recht. Einfach so." Davenport schnappte nach Luft. Er sah dabei aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Aber - das - das ..." „Das hättest du nicht gedacht, was?" Die Männer, die einen Halb kreis um Mulhollen gebildet hatten, lachten glucksend. Der Zimmermann grinste breiter. „In Ordnung. Über was wollen wir zuerst reden? Über die Frage, warum du dich als Mann von Stand in Kneipen wie diese ver irrst?"
„Das - das geht niemanden etwas an", stammelte Davenport. „Doch, mich und ein paar von den anderen hier. Oder müssen wir dir erst die Schuldscheine, die du unter schrieben hast, unter die Nase hal ten? Wie wär's, wenn du mal etwas arbeiten würdest, um uns das Geld zurückzuzahlen? Wo hast du dir dies mal was zusammengeschnorrt, damit du dich hier aufspielen kannst?" „Das ist ungeheuerlich!" keuchte der Hochwohlgeborene. Mulhollen überhörte es. „Nennen wir die Dinge beim Namen, Daven port. Meine Freunde und ich waren so unvernünftig, dir Geld zu leihen, als wir dich noch nicht richtig kannten. Auch wir sind auf dein Gefasel vom unverschuldet notleidenen Adligen hereingefallen. Natürlich nur, weil wir alle schon was getrunken hatten. Sonst hätten wir ja auch kein Mitleid mit so einem Dreckstück wie dir ge habt. Du leihst dir Geld von unserei nem, der dafür hart arbeiten muß, und du schämst dich nicht, einen rechtschaffenen Mann wie Anthony Armstrong anzustänkern? Wer gibt dir dazu das Recht, he?" Davenport zuckte zusammen. „Ich - ich weiß nicht, von was du redest." „Dann müssen wir deinem Ge dächtnis wohl auf die Sprünge hel fen", knurrte Mulhollen. „Oder war es jemand anders als du, der ständig dazwischenbrüllte, als Anthony ver suchte, das zu tun, wofür er vom Wirt bezahlt wird - zu singen?" Die „Ladys" blickten zu Davenport auf, gespannt, welche Antwort er ge ben würde. Aber alles, was sie hörten, war ein immer verworreneres Stam
8 meln. „Be-be-stimmt, da -da mu-muß ein an-anderer ..." Mulhollen schwang sich mit einem Satz über die Balustrade, dessen Ele ganz ihm bei seiner Körpergröße kaum jemand zugetraut hätte. Da venport duckte sich, als ahnte er den ersten Hieb, der ihn treffen mußte, voraus. Dann wollte er fliehen und nach hinten weg. Aber da war die ge ballte Ansammlung weicher weibli cher Formen, die sich nicht so schnell durchdringen ließ. Die enttäuschten, ungläubigen Blicke der Käuflichen trafen ihn bis ins Mark. Der Zimmermann packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. Davenport zappelte vergeb lich. Die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen. „Du wirst dich bei Anthony ent schuldigen", zischte Mulhollen. Sein Gesicht war nur um Fingerbreite von dem käsigen Weiß des anderen ent fernt. „Jetzt sofort. Mit folgendem Wortlaut: Sehr geehrter Mister Arm strong, ich bitte Sie für meine Unver schämtheit vielmals um Entschuldi gung. Hast du das? Wiederhole das!" Er schüttelte ihn. „Niemals!" kreischte Davenport. „Das ist unter meiner Würde! Das brauche ich nicht zu tun!" „Dann werden wir dich eben ein bißchen zwingen", entgegnete Mul hollen mit hartem Grinsen. Er wollte sich mit dem Zappelnden in Bewegung setzen, um ihn zum Po dest des Lautenspielers hinüberzu schleifen. Urplötzlich begann Davenport, sich wie wahnsinnig zu gebärden. Mit al ler Kraft, die er hatte, schlug und trat
er um sich. Dazu schrie er mit schril ler Stimme. Mulhollen war auf diese Verrückt heit nicht gefaßt gewesen. Deshalb traf ihn ein Tritt des Ehrenwerten sehr empfindlich. Er krümmte sich und ließ den Kerl ungewollt los. Mul hollens Gefährten, die eingreifen wollten, waren nicht rechtzeitig zur Stelle. Davenport warf sich herum und schnellte auf die Front der „Ladys" zu. Kreischend wichen sie auseinan der. Einige stürzten, und ein zetern des Knäuel von buntgewandeten Lei bern entstand. Der Hochwohlgeborene schaffte es, sich freizukämpfen und auf den Aus gang zuzustürmen. Die Kaufleute mischten sich nicht ein. Gregory Mul hollen und die anderen nahmen die Verfolgung auf. Ihre Schritte hallten durch die Gassen. Anthony Armstrong stimmte sein Lied an. „Er war ein ra - ha - ben - schwa ha - rzer Hund!" Er synkopierte die darauffolgenden Akkorde mit grel lem Klang, und die in der Schenke Verbliebenen klatschten begeistert. Es gab jetzt niemanden mehr, der den Lautenspieler unterbrochen hätte. „Seine Seele, die war ein Ab grund!" 2. Luke Morgan und Roger Brighton legten in ihrem gemächlichen Rund gang über das Hauptdeck eine Pause ein. Wie auf ein nicht ausgesproche nes Kommando schoben beide ihre Unterarme auf die Backbord-Ver
9 schanzung und blickten über die Themse. Die Schebecke lag nach wie vor an der Towerpier, und die Männer der nächtlichen Deckswachen waren längst mit dem Bild vertraut, das die Stadt bei Dunkelheit bot. Auf dem schwarzen Wasser des Flusses erzeugten die Lampen der To wer Bridge Reflexe, die wie tanzende kleine Irrlichter aussahen. Die Häu ser Londons waren kantige Schatten, die sich vor der Helligkeit weniger Lampen und Fackeln in Stangenkör ben nur verschwommen abzeichne ten. „Nach allem, was man so gesehen hat", murmelte Luke nach einer Weile, „ist es eher schlechter gewor den." „Von was redest du?" fragte Roger, der Bruder des Ersten Offiziers. „Von London. Oder besser: vom Le ben in London." „Wie sollte es besser werden? Im mer mehr Leute verlassen die ländli chen Gebiete, weil sie von den Lords doch nur geknechtet werden und nicht genug zu beißen haben. Was bleibt ihnen? Sie suchen Zuflucht in London, weil irgendein Schwachkopf ihnen erzählt hat, es gäbe hier Arbeit und Brot. Und wenn sie nach fürch terlichen Strapazen dann endlich hier sind, müssen sie feststellen, daß es ihnen noch verdammt viel schlech ter als unter der Tyrannei ihres Land lords geht. Es gibt keine Arbeit, und in den Unterkünften werden sie für teures Geld zusammengepfercht wie Vieh." „Stimmt." Luke, der einst aus der englischen Armee desertiert war, nickte. „Es brauchen dann nur noch
Seuchen auszubrechen, und sie ster ben wie die Fliegen. Aber weißt du, was ich glaube?" „Was?" Roger sah den kleinen dun kelblonden Mann an. „Ich glaube, die meisten, die her kommen, leben von der Hoffnung. Zum Beispiel von der, daß sie eine Passage in die Neue Welt ergattern. Daß man dazu aber eine Menge Geld zusammenkratzen muß, ist wohl den wenigsten bewußt." Roger Brighton brummte zustim mend. „Ganz zu schweigen von den Kapitänen, die den armen Seelen das Fell über die Ohren ziehen. Ich kann mir vorstellen, daß manche drüben anlangen und an Hunger krepieren." „Wenn es sie nicht schon während der Überfahrt erwischt hat", sagte Luke. „Hast du mal davon gehört, wie es auf diesen Kähnen aussieht, wenn sie mit ihrer menschlichen Ladung über den Atlantik klüsen?" Roger wollte etwas entgegnen, aber ein Geräusch hielt ihn davon ab. Es hallte in den Gassen nach. Die beiden Männer drehten sich um. Erst bei nä herem Hinhören war festzustellen, daß es sich um Schritte handelte, sehr schnelle Schritte. Luke und Roger liefen zur Back bordseite. Noch während sie die Ver schwanzung erreichten, sahen sie den hastenden Schatten. Er huschte durch den Lichtkreis eines Pech feuers, das in einem doppelt manns hohen Stangenkorb an der Landseite der Pier brannte. Gleich darauf dröhnten weitere Schritte aus den na hen Gassen. Eine ganze Meute von Verfolgern schien dem Kerl im Nak ken zu sitzen. Im nächsten Moment glaubten die
10 beiden Deckswachen, ihren Augen nicht mehr trauen zu dürfen. Der Fliehende rannte haargenau auf sie zu. Noch bevor sie ihre Ver blüffung überwunden hatten, war er bei ihnen an Bord. Sie schafften es eben noch, ihn an den Oberarmen zu packen und daran zu hindern, sich ir gendwo an Deck zu verkriechen. Der Fremde ruckte und zerrte ver zweifelt. Aber gegen den eisenharten Griff der Arwenacks konnte er nichts ausrichten. Bevor sie eine Frage stellen konn ten, polterten die Verfolger mit har ten Stiefelsohlen über die Planken der Pier. „Nein!" kreischte der Zappelnde in panischem Entsetzen. „Laßt mich los! Laßt sie nicht an Bord! Sie schla gen mich! Sie bringen mich um! Sie zerstückeln mich mit ihren Messern!" Luke und Roger dachten nicht dar an, den Kerl freizugeben. An Bord der Schebecke hatte er nichts verlo ren. Schließlich war der Dreimaster kein Zufluchtsort für alle möglichen Londoner Halunken, die sich in ir gendeine Auseinandersetzung ver strickt hatten. Andererseits verbot das Gerechtig keitsempfinden den beiden Männern, den Kreischenden einfach auf die Pier zurückzustoßen und ihn den Ver folgern auszuliefern. Es war immer hin nicht auszuschließen, daß man damit einem Verbrechen den Weg be reitete. Wer konnte wissen, ob dieser Bursche etwas ausgefressen hatte oder nicht? Auf der Pier gelangte der Pulk der Verfolger zum Stehen. Ungefähr zwanzig Männer waren es, die sich dem bläßlich aussehenden Kerl an
die Fersen geheftet hatten. Ihr Anfüh rer war , ein riesenhafter Mann, ebenso ordentlich gekleidet wie alle anderen. Wie Galgenstricke sahen sie wahrhaftig nicht aus. „Ich bin Gregory Mulhollen", sagte der Riese. „Wir verfolgen diesen Strolch, weil er eine Tracht Prügel verdient hat." In kurzen Sätzen schil derte er, was sich in der Schenke „Red Dragon" zugetragen hatte. Luke Morgan und Roger Brighton nickten im Schein der Bordlaterne. Sie drehten Davenport zur Pier hin um, so daß er gezwungen war, Mul hollen und die anderen anzusehen. Er zitterte spürbar und stemmte sich ge gen den harten Griff der beiden Män ner. Aber gegen ihre Muskelkraft hatte er keine Chance. „Stimmt es, was Mister Mulhollen sagt?" herrschte Luke ihn an. „Wenn es so ist, sollten wir ihn tat sächlich von Bord scheuchen", sagte Roger Brighton zu seinem Gefährten. Davenport straffte seine Haltung und warf den Kopf in den Nacken. „Ich bin nicht ohne Grund auf die ses Schiff geflohen", schnarrte er mit neu erwachendem Dünkel. „Ich bin Passagier dieses Schiffes. Durch Or der der Königin!" Die Männer auf der Pier waren ebenso verblüfft wie Luke und Roger. „Fein", sagte Luke schließlich. „Spielen wir ruhig weiter Märchen stunde. Ich bin der Kaiser von China. Wenn die Königin von England einen Passagier auf meinem Schiff unter bringen möchte, muß sie mich erst mal um eine Audienz bitten." Mulhollen und die anderen lachten. Auch Roger Brighton grinste. „Ich habe nicht nötig, mit einfa
11 chem Decksvolk zu diskutieren", sagte Davenport von oben herab. „Ich verlange, den Kapitän zu sprechen. Und zwar sofort. Als Passagier seines Schiffes genieße ich mindestens die Rechte eines Offiziers." „Weißt du, was du genießt?" brüllte Mulhollen. „Das Recht auf einen Tritt in den Hintern!" „Du sprichst mir aus der Seele, Mi ster Mulhollen", sagte Luke Morgan. Roger Brighton zeigte Anstalten, mit dem linken Fuß auszuholen und tatsächlich zuzutreten. Davenport zuckte zusammen und bog sich in der Körpermitte entsetzt vor, um dem Tritt auszuweichen. Die Männer auf der Pier grölten Beifall. Roger trat jedoch nicht zu. „Ich verbitte mir solche Unver schämtheiten", zischte der Hochwohl geborene. „Ich verlange, losgelassen zu werden und den Kapitän zu spre chen. Auf der Stelle! Eure Strafe wird empfindlich ausfallen, wenn ihr nicht gehorcht." Luke und Roger wechselten einen Blick und konnten nur ungläubig den Kopf schütteln. Sie hatten ja nun schon einige Erfahrung mit jener Sorte Adliger, die sich durch beson ders hirnrissige Blasiertheit aus zeichnete. Aber dieser Bursche schien wirklich allem die Krone auf zusetzen. „Laßt euch nicht von diesem Dreck sack einwickeln", warnte Gregory Mulhollen. „Wahrscheinlich will er sich nur davor drücken, uns das Geld zurückzuzahlen, das er uns schuldet. Bestimmt denkt er, wir geben auf, wenn er die Geschichte nur genug in die Länge zieht." „Unverschämtes Pack!" schnaubte
Davenport. Abermals wurde seine Stimme schrill. „Wenn ich jetzt nicht sofort zum Kapitän gebracht werde..." „Was dann?" unterbrach ihn eine eisige Stimme vom Achterdeck her. Wieder schien es, als hätte Daven port einen Hieb erhalten. Er zog den Kopf ein Stück ein und drehte sich furchtsam um. Luke und Roger grin sten erleichtert. Mulhollen und die anderen blickten gespannt herauf. Wieder gewann Davenport seine Selbstherrlichkeit zurück. „Sind Sie der Kapitän?" schnarrte er. „Allerdings", erwiderte Philip Ha sard Killigrew und trat an die Ver schanzung, so daß er auch die Män ner auf der Pier sehen konnte. Mit ei nem einzigen Blick erfaßte er, daß es sich ausnahmslos um Kerle handelte, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten. Offenheit und Ehrlichkeit in ihren Gesichtern waren zweifelsfrei zu erkennen. „Höchste Zeit, daß Sie erscheinen", sagte Davenport in einem Ton, als spräche er mit einem Dienstboten. „Ich bin Ihr Passagier, Kapitän. Kil ligrew, nicht wahr?" „Für Sie Sir Hasard", entgegnete der Seewolf trocken. Davenport schluckte. Ihm war klar, daß er sich normalerweise als kleines Licht betrachten mußte. Verglichen mit dem Rang dieses hochgewachse nen breitschultrigen Mannes hatte er weder besondere Titel noch irgend welche Auszeichnungen vorzuwei sen. Nichtsdestoweniger kam es aber darauf an, als was man sich fühlte. In dieser Beziehung stand er natürlich
12 haushoch über allen anderen. Je län ger man sich etwas einredete, desto mehr war man schließlich davon überzeugt. Dieser Grundsatz hatte ihn stets weitergebracht. Dabei würde es auch bleiben. Man mußte seiner Umge bung nur durch ein geeignetes eige nes Verhaltensmuster vor Augen füh ren, wie tief sie unter einem stand. „Selbstverständlich, wie Sie wün schen, Sir Hasard", sagte er steif. „Ich bin gern bereit, die Situation aufzu klären. Wenn Sie zunächst freundli cherweise veranlassen wollen, daß diese Schiffsknechte mich endlich loslassen..." „Mister Morgan und Mister Brigh ton sind gleichberechtigte Mitglieder der Crew", unterbrach ihn der See wolf unverändert kühl. „Eine Rang ordnung gibt es an Bord dieses Schif fes nur für den Zweck, einen rei bungslosen und disziplinierten Be trieb zu ermöglichen. Mister Morgan und Mister Brighton werden Sie dann loslassen, wenn ich es für richtig halte. Zunächst sind Sie nichts weiter als ein Eindringling, der sich uner laubt Zutritt verschafft hat." Davenport blinzelte. Sein Adams apfel bewegte sich ruckend auf und ab. „Nun gut", sagte er gepreßt, „dann werde ich den Sachverhalt schil dern." „Nicht Sie", sagte der Seewolf. Er wandte sich zur Pier. „Mister Mulhol len, das Wesentliche Ihrer Geschichte habe ich bereits mitgehört. Wieviel Geld schuldet Ihnen dieser Mann?" Er deutete mit einer Handbewegung auf Davenport, der die Nase schon wieder ein Stück höher hielt.
Der Zimmermann nickte, denn er begriff, auf was Hasard hinauswollte. „Einen Augenblick, Sir!" Er drehte sich zu seinen Gefährten um und be fragte sie. Dann, nach kurzem Zu sammenzählen, wandte er sich wie der dem Seewolf zu. „Insgesamt sechs Pfund, Sir." „Gut", erwiderte Hasard. „Würden Sie sich zufriedengeben, wenn Mister Davenport Ihnen das Geld zurück zahlt? Jetzt, sofort?" Der Hochwohlgeborene wurde weiß wie ein Laken. Mulhollen beratschlagte abermals mit den anderen Männern. Dann stimmte er zu. ,,Jch fürchte aller dings, Sir, daß wir die Sache lediglich verlagern. Wenn er Geld bei sich hat, dann nur solches, das er sich woan ders geborgt hat." „Das ist dann sein Problem", erwi derte Hasard grinsend. Er gab Luke und Roger einen Wink. „Durchsu chen!" „Mit Vergnügen", antwortete Ro ger. Davenport schrie voller Empörung, als sie ihm kurzerhand die Arme auf den Rücken drehten. Roger hielt ihn fest, während Luke seine Taschen durchwühlte. Es klimperte vernehm lich. Luke brachte eine Handvoll Sil bermünzen zum Vorschein. Mulhol len hatte unterdessen die Schuld scheine eingesammelt, trat an die Verschanzung und reichte sie herauf. Hasard warf einen kurzen Blick auf die zerknitterten Papierfetzen. Die errechnete Summe stimmte. „Sechs Pfund", sagte der Seewolf. „Und ein Pfund zusätzlich als Ent schädigung für den Musikanten."
13 Die Männer auf der Pier johlten Beifall. „Also sieben Pfund!" rief Luke Morgan und zählte mit erhobenen Händen sieben Münzen ab. Den Rest steckte er wieder in Davenports Tasche, dazu die Schuldscheine, die Hasard ihm übergab. Luke händigte dem Zimmermann die Münzen aus. „Was die Behauptung dieses sehr ehrenwerten Gentleman betrifft", sagte Hasard, „werden wir morgen überprüfen, was daran stimmt. Wenn er wirklich Passagier sein sollte, muß er das ja beweisen können. So lange wird er wegen unbefugten Be tretens unseres Schiffes in die Vor piek gesperrt." Mulhollen und die anderen taten er neut lauthals ihren Beifall kund. Davenport schrie voller Empörung. „Dazu haben Sie kein Recht, Killi grew! Das dürfen Sie nicht! Ich werde Sie vor Gericht bringen! Sie werden..." Hasard war nahe vor ihn hingetre ten. Sein Blick aus eisigen Augen ließ den Zeternden verstummen. „Hatte ich Ihnen etwas über die richtige An rede gesagt?" Davenport preßte wütend die Lip pen aufeinander. „Ich bin Passagier", fauchte er. „Ob es Ihnen nun paßt oder nicht. Sie wer den sich noch wundern, sehr geehrter Sir Hasard. Was Sie gerade tun, ist die Ungeheuerlichkeit, eine Order der Königin zu mißachten." „Haben Sie ein Dokument, das diese Order belegt?" entgegnete der Seewolf ungerührt. „So etwas brauche ich nicht. In mei nen Kreisen genügt das Wort."
„Ihres reicht mir nicht. Sperrt ihn ein!" Erneut fing Davenport an zu schreien. Luke Morgan packte ihn am Kra gen und zog ihn zu sich heran. „Ich warne dich, Freundchen. Die Männer hier an Bord haben ihren Schlaf ver dient. Wenn du weiter vorhast, sie zu wecken, stopfte ich dir das Maul. Klar?" Frank Davenport schrie nicht mehr. Stumm ließ er sich zur Vorpiek führen. Gregory Mulhollen und seine Gefährten zogen zufrieden ab. Es würde eine lange und heitere Nacht werden - im „Red Dragon". Hasard klopfte den Deckswachen auf die Schulter, nachdem sie Vollzug seines Befehls gemeldet hatten. Als er sich in seine Kammer zurückzog, hatte ihn trotz allem ein merkwürdi ges Gefühl beschlichen. Dieser Davenport war ein arrogan ter und menschenverachtender Lüm mel, ohne jede Frage. Aber es sah nicht so aus, als ob er die Schebecke rein zufällig als Zufluchtsort ausge wählt und seine Passagiergeschichte aufgetischt hatte. Im Londoner Hafen lagen genü gend Schiffe, die Auswahl war wirk lich groß genug. Irgend etwas mußte dahinterstecken. Etwas, das für die Arwenacks keinen Grund zu großer Freude geben würde. Dennoch würde Hasard seine Ent scheidung vertreten können, den adli gen Strolch in die Vorpiek gesperrt zu haben. An Bord seines Schiffes hatte er allein das Recht, solche Ent scheidungen zu treffen.
14 3. Ein kalter Wind wehte an diesem Morgen im Mai des Jahres 1598 die Themse herauf. Graue Wolken ball ten sich über Englands Hauptstadt zusammen. Obwohl kein Nebel herrschte, war doch die Luftfeuchtig keit so hoch, daß die Männer das Ge fühl hatten, sie trügen Kleidung, die nach der letzten Wäsche nicht richtig trocken geworden war. Nichts ließ an diesem Tag auch nur eine Ahnung davon zu, was den Won nemonat auszeichnete. Man schien es eher mit einem verlängerten April zu tun zu haben. Sir John unternahm einen pfeil schnellen Ausflug zur Flußmitte hin und kehrte dann rasch zurück. „Der kann dieses verdammte Wet ter auch nicht ab", sagte Old Donegal Daniel O'Flynn, als der rote A r a Papagei flügelklatschend auf der lin ken Schulter Edwin Carberrys lan dete. „Woher willst du das wissen, Old Man?" fragte der Profos grinsend. „Nun sag bloß, du siehst es ihm an der Schnabelspitze an." Old Donegal, der auf einer Taurolle hockte und mit dem Spleißen eines Tampen beschäftigt war, schüttelte energisch den Kopf. „Diesmal schaffst du's nicht, Mister Carberry, diesmal nicht. Von dir lasse ich mich nicht mehr so leicht herausfordern auf den Arm nehmen schon gar nicht." „Himmel, Arsch und Seegewitter!" dröhnte Carberry. „Da erkundigt man sich nur mal höflich, wie du dem Flattermann das Seelenleben bloß legst, und schon nimmst du's einem
krumm. Vielleicht macht ihn das Wetter ja wirklich krank, kann ja sein. Ich will doch bloß wissen, wie man das bei ihm merkt. Weil ich so was selber noch nicht rausgekriegt habe." „Schon gut, schon gut", entgegnete der alte O'Flynn besänftigt. „Ich habe mit keiner Silbe behauptet, daß ich Sir John ansehe, was er fühlt. Ich habe mir lediglich vorgestellt, daß ein Tier auch merken muß, was Men schen merken. Und weil ich so ein verdammtes Reißen im Holzbein habe, stelle ich mir einfach vor, daß dein roter Vogel gleichfalls unter die ser fürchterlichen Londoner Luft zu leiden hat." „Hm-hm." Der Profos kratzte sich am Hinterkopf. So sehr er sich auch anstrengte, ihm fiel leider nichts ein, womit er eine Verschrobenheit des Alten hätte aufdecken können. Und daran, daß Old Donegal in seinem Holzbein be stimmte Sachen fühlen konnte, glaubte nun wirklich jeder an Bord. Carberry wurde einer weiteren An strengung seiner Hirnwindungen ent hoben, als sich Bob Grey, Smoky, Blacky, Matt Davies und einige an dere Männer an Backbord zusam menscharten und zur Landseite der Pier spähten. Der Profos nickt dem alten O'Flynn noch einmal zu, legte die Hände auf den Rücken und spazierte hinüber, um zu sehen, was für Neuigkeiten es gab. Der Papagei schwankte auf sei ner Schulter und krallte sich fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Wir erhalten Besuch", sagte der Decksälteste, als sich Carberry zu den Männern gesellte.
15 „Hohen Besuch", ergänzte Bob Grey und zog in gespielter Ehrfurcht die Augenbrauen hoch. Der Profos reckte das Rammkinn vor, als er den eleganten Einspänner entdeckte, der am Kai hielt. Ein noch eleganterer Mann stieg aus der Kutsche, sah sich kurz um und stelzte dann auf die Pier. In der Rechten hielt er einen Leder köcher wie er zum Transport von wichtigen Dokumenten verwendet wurde. Sein Ziel war eindeutig die Schebecke, daran gab es nicht den lei sesten Zweifel. Drei Schritte von den Arwenacks entfernt blieb der Elegante stehen schlank, mit einem Barett aus wein rotem Samt auf dem blonden Haar. Sein Gesicht hatte jene Blässe, die in den Kreisen der höheren Gesell schaftsschicht als äußeres Zeichen je nes Privilegs galt, sich das ange nehme Nichtstun leisten zu können. „Ich bin Lord Humphrey Farrow", sagte er. „Im Auftrag Ihrer Majestät, Königin Elizabeth I., wünsche ich den Kapitän dieses Schiffes, Sir Philip Hasard Killigrew, zu sprechen." Die Männer traten von der Pforte im Schanzkleid zurück. Eben dort baute sich Carberry auf und sagte mit seinem dröhnenden Or gan: „Nichts dagegen einzuwenden, Mylord. Wenn Euer Lordschaft sich dann mal an Bord bemühen wol len ..." Die anderen mußten sich zusam menreißen, um nicht zu grinsen. Schließlich kannten sie ihren Profos. Sie wußten, wann er etwas ernst meinte, und wann es der reinste Spott war - trotz seiner todernsten Miene, die er auch in diesem Fall aufgesetzt
hatte. Natürlich kriegte Lord Hum phrey nichts davon mit, und so nickte er lediglich würdevoll. Stelzbeinig enterte er auf und trat durch die Pforte. „Affenarsch", sagte Sir John so klar und deutlich, daß es beinahe menschlich klang. Ruckartig blieb der Lord stehen. Mit steinerner Miene drehte er sich um und starrte den Papagei an. „War er das?" sagte er tonlos, ohne den Blick von dem karmesinroten Fe dervieh zu nehmen. Sir John legte den Kopf schief, ba lancierte mühelos auf einem Bein und kratzte sich mit der rechten Kralle im aufgeplusterten Nacken. Dann stellte er sich wieder auf beide Beine, wiegte sich hin und her und ließ ein Lachen hören, das wie eine Mischung aus dem Meckern eines Ziegenbocks und dem Keckem des Schimpansen Arwenack klang. „Natürlich war er das", erwiderte Carberry breit. „Glauben Sie, un sereiner würde sich erdreisten, Sie Affenarsch zu nennen, Mylord? Es ist die reinste Schande. Die Spanier, de nen er gehörte, müssen ein furchtbar primitives Volk gewesen sein - bevor wir sie mit ihrer Galeone zu den Fi schen schickten. Wir hatten alle Mit leid mit dem armen Vogel. Aber was er uns dann an Wörtern um die Ohren gehauen hat, war nicht mehr feier lich. Selbstverständlich sind wir seit her bemüht, seine Ausdrucksweise zu verbessern. Aber so etwas läßt sich natürlich nicht von heute auf morgen schaffen." „Gib Küßchen, alter Schnarch sack!" schrie Sir John völlig zusam menhanglos.
16 Lord Humphrey schien nicht dar über nachzudenken, wie es geschehen konnte, daß der knallrote Vogel auf einem spanischen Schiff englische Ausdrücke gelernt hatte. Offenbar lag es auch daran, daß der Lord abgelenkt wurde. Denn gemein sam mit den Zwillingen näherte sich jetzt auch Plymmie der kleinen Ver sammlung am Backbordschanzkleid. Dabei sah die Wolfshündin nicht einmal drohend aus, eher neugierig, wie in Erwartung eines Leckerbis sens. Denkbar war auch, daß den Lord die Ähnlichkeit Philips und Ha sards mit ihrem Vater, dem Seewolf, verblüffte. „Ich - möchte jetzt den Kapitän sprechen", sagte er mit geradezu sanft klingender Stimme. Aus einem eitlen Gockel war ein zahmes Lamm geworden. Ben Brighton, Dan O'Flynn und Don Juan de Alcazar hatten unterdes sen das Achterdeck verlassen, um den Boten der Königin zu begrüßen. Dan übernahm es, ihn zu Hasard zu füh ren, der sich noch in der Kapitäns kammer aufhielt. Der Seewolf trug ein einfaches Lei nenhemd. Seine Waffen hatte er noch nicht angelegt. Der breite Ledergürtel betonte seine schmalen Hüften. Über den breiten Schultern und den Oberarmmuskeln spannte sich stel lenweise der Hemdenstoff. In den Stulpenstiefeln aus butter weichem Leder waren seine Schritte fast lautlos, als er auf den Gast zutrat. Seine Bewegungen hatten die Gelas senheit eines Mannes, der es gelernt hatte, dem Tod ins Auge zu sehen dem Tod, der ihn schon in unendlich vielfältiger Form bedroht hatte.
Dan O'Flynn zog sich zurück, nach dem Hasard ihm kaum merklich zuge nickt hatte. Der Seewolf forderte den Besucher auf, sich zu setzen. „Ich überbringe eine Nachricht Ih rer Majestät, der Königin", sagte Lord Humphrey würdevoll. „Es han delt sich um einen Brief, der an Sie persönlich gerichtet ist. Ich habe Or der, darauf hinzuweisen, daß vorerst strengste Geheimhaltung geboten ist." Er öffnete den Lederköcher und ließ ein zusammengerolltes Papier herausrutschen. Hasard nahm es entgegen und zog es auseinander. Es enthielt nur we nige Zeilen. Erstaunt stellte er fest, daß es sich um die Handschrift Eliza beths handelte. „Geschätzter Seewolf! Wir halten es für opportun, Euch die Leitung einer außergewöhnlichen Mission anzuvertrauen. Es handelt sich um eine Reise nach Virginia. Ihr wißt, das ist die Kolonie, die mein hochverehrter Freund Water jenseits des Atlantik gegründet hat. Findet Euch umgehend im Palast von White hall ein, so werden wir alles Weitere unter vier Augen besprechen." Es folgten Signatur und Unter schrift der Königin. Typisch für sie, ihn mit „Seewolf" anzureden, obwohl sie diesen Beinamen nicht selbst er sonnen hatte. Den Sir Walter Raleigh hatte sie stets mit „Water" angeredet, in Verballhornung der richtigen Aus sprache seines Vornamens. Und der Earl of Essex war ihr „Wild Horse", ihr „wildes Pferd". Sie liebte es, Men schen in ihrer Umgebung auf eine Weise zu titulieren, die sie für lustig hielt. Hasard ließ das steife Papier zu
17 sammenrollen und behielt es in der Hand. Er fragte sich, ob der Über bringer den Brief gelesen hatte. Es war anzunehmen, da der Lederkö cher nicht versiegelt gewesen war. Mißgunst, Intrigen und Verschwö rungen hatten bei Hofe schon immer eine unrühmliche Rolle gespielt. Hasard nahm sich daher vor, nie mandem einen Anlaß zu geben, ihn in irgend etwas zu verwickeln. Denn al lein die Tatsache, daß die Königin ihm einen persönlichen Brief ge schrieben hatte, konnte Neider auf den Plan rufen. Er würde sie nicht herausfordern. „Ich danke Ihnen für Ihre Mühe", sagte er, indem er sein Gegenüber an sah. Er stand auf, nahm die Briefrolle in die linke Hand und trat um den Tisch herum. Lord Humphrey sah ihn verdutzt an, folgte dann aber der unmißver ständlichen Aufforderung, sich ebenfalls zu erheben und zu gehen. „Haben Sie keine Antwort, die ich ausrichten soll?" fragte er und ergriff die Hand, die der Seewolf ihm hin hielt - zum Zeichen, daß das Ge spräch unwiderruflich zu Ende war. „Eine Antwort erübrigt sich", sagte Hasard lächelnd. „Denn es ist für mich selbstverständlich, einen Befehl der Königin sofort auszuführen." Lord Humphrey begriff. Die Erwi derung des Seewolfs konnte man als eine allgemeingültige Aussage be trachten - oder als eine direkte Ant wort auf den Brief. Der elegant ge kleidete Mann hatte es eilig, die Kapi tänskammer zu verlassen, denn er wußte, daß Hasard ihn überführt hatte, den Brief gelesen zu haben. Al lerdings ließ sich aus dem Wissen
über den Auftrag der Königin noch kein unmittelbares Kapital schlagen. Es würde davon abhängen, was die ser Auftrag beinhaltete. „Lord Humphrey!" rief Hasard dem Boten nach. Erschrocken drehte sich Farrow um, schon im Gang vor der Kammer. „Ja?" Er sah aus, als hätte er Angst, jetzt zur Rede gestellt zu werden. „Kennen Sie einen Mann namens Frank Davenport?" Der Lord verzog das Gesicht zu ei ner geringschätzigen Grimasse. „Al lerdings. Zum Glück kann ich sagen, daß er nicht zu meinem Freundes kreis gehört. Und daß ich auch nicht das Pech hatte, ihm Geld zu leihen. Einer, der den Reichtum seiner Vor fahren durch Suff, Glücksspiel und Weiber innerhalb von ein paar Jah ren verjubelt hat. Was ist mit ihm?" „Er ist hier an Bord. In der Vor piek." Lord Humphrey grinste schaden froh. „Dann hat er bestimmt ver sucht, sich bei Ihnen Geld zu leihen." Hasard nickte und ließ ihn in dem Glauben. Farrow hatte eine Ge schichte, die er schadenfroh herumer zählen konnte. Er würde weniger an den Auftrag der Königin denken. Und es gab keinen erkennbaren Grund, Davenport aus der Vorpiek freizulassen.
Das Haus war von Geräuschen er füllt. Vom Dach bis zum Keller gab es nichts als diese Geräusche, die von drangvoller Enge zeugten. Menschen schrien sich an, weinten, jammerten, redeten nächtelang. Rückten die we
18 nigen erbärmlichen Möbelstücke hin und her, als könnten sie auf irgend eine Weise mehr Platz schaffen. Klapperten mit Gerätschaften. Lie ßen Spinnräder rattern. Hämmerten und sägten, um immer neue Kisten herzustellen. Seekisten, um das armselige Biß chen, was sie Habe nannten, darin zu verpacken. Delia Mercer betrat das Haus, und diese Geräusche fielen sie an wie ein Ungeheuer, das seinen wogenden Leib über sie stülpt, um sie zu ver schlingen. Beißender Geruch schlug ihr aus dem düsteren Korridor entge gen. Weiter hinten balgte sich eine Schar zerlumpt gekleideter Kinder mit zwei struppigen Hunden um ei nen großen, längst abgenagten Kno chen. Die Kinder schrien vor begei sterter Anspannung. Die Hunde knurrten und bellten. Jedesmal, wenn Kinder und Hunde leiser wurden, war das Gebrüll eines Mannes durch eine der Zimmertüren zu hören. „Betet, ihr undankbaren Geschöpfe! Wollt ihr wohl beten? Nur durch ständige Gebete erlangen wir das Wohlwollen des Herrn! Und was, so frage ich euch unwissende Wesen, brauchen wir mehr als das Wohlwollen des Allmächtigen? Nur er allein kann uns auf der Überfahrt beistehen. Nur er, der Herr, wird Na turgewalten und Ungeheuer von uns abhalten. Also betet gefälligst, oder ihr kriegt's mit dem Knüppel!" Ent setzensschreie folgten, und dann übertönten wieder Kinder und Hunde das Gebrüll. Delia verspürte den Drang, sich umzudrehen, das Haus zu verlassen
und wegzulaufen. Aber in dem Tuch, dessen Enden sie über der linken Armbeuge zusammengeknotet hatte, brachte sie einen Laib Brot und ein Stück Käse. Ihre Eltern und Brüder warteten auf sie, auf das Wenige, mit dem sie ihre hungrigen Mägen mehr schlecht als recht füllen mußten. Sooft schon, wenn sie im Gestank der Londoner Gassen unterwegs ge wesen war, um die notwendigsten Be sorgungen zu erledigen, hatte sie mit offenen Augen davon geträumt, ein fach loszurennen - hinaus aus der Enge dieser riesigen Stadt, zurück in die Weite des grünen Landes, das sie so liebte. Aber sie wußte auch, wovon ihr Va ter träumte, ebenso Stacy und Brian, ihre Brüder. In jener fernen Welt, jen seits des großen Meeres, das Atlantik genannt wurde, gab es unermeßlich viel Land. Es gehörte niemandem, und es wartete nur darauf, in Besitz genommen zu werden. Fünfzig Morgen Land in Virginia erhielt kraft Gesetzes jeder mutige Siedler, der die Reise über das Meer mit seinen tödlichen Gefahren wagte. Wind und Wogen drohten ebenso wie furchtbare Ungeheuer, die in der Tiefe des Meeres hausten und nach Belieben Schiffe verschlangen, wenn ihnen danach gelüstete. Solche Geschichten kursierten im ganzen Haus - wie in all den anderen Häusern Londons, in denen hoff nungsvolle Menschen darauf warte ten, eine Passage nach Virginia zu er halten. Da war von Schiffen die Rede, die plötzlich in die Tiefe gezogen wur den - ohne einen erkennbaren Grund, ohne daß eine Sturmbö schuld daran
19 gewesen wäre. Schiffe verschwanden mit Mann und Maus. Es gab Augenzeugenberichte, denn es fuhren stets mehrere Schiffe im Verband, damit sie sich in Fällen von Seenot gegenseitig helfen konnten. Aus solchen Verbänden waren ein zelne Schiffe in ein Wellental hinun tergerauscht und nie wieder aufge taucht. Delia erschauerte. Vor das Glück in der Neuen Welt hatte das Schicksal eine Menge Ungemach gesetzt. Es fing schon an mit diesen elendigli chen Quartieren, die auch noch teuer bezahlt werden mußten. Und mit je dem Tag, den man wartete, stiegen auch die Preise für einen Platz auf den Schiffen, die nach Virginia segel ten. Nein, sie konnte ihre Familie nicht im Stich lassen. Diese fürchterliche Stadt war kein Zufluchtsort für sie. Und auf den Gutshof, wo ihr Vater gearbeitet hatte, konnte sie auch nicht zurück. Ohne ihn und ihre Brüder würde sie vor den Nachstellungen des jun gen Landlords nicht mehr sicher sein. Mehr als einmal hatte der verkom mene junge Lüstling versucht, über sie herzufallen. Nur der Tatsache, daß ihre Brüder nicht mehr aus ihrer Nähe gewichen waren, hatte sie es zu verdanken, daß der Kerl ihr nicht Ge walt angetan hatte. Vielleicht hatte er auch ein wenig den Zorn des alten Lords gefürchtet, der mit einem Hartholzknüppel um sich schlug, wenn er wütend wurde. Es waren schon zu viele Bastarde mit Dienstmägden gezeugt worden. Delia stieg schweren Herzens die Treppe hinauf. Die altersschwachen
Stufen knarrten, obwohl sie schlank und federleicht war. Eine Tür wurde geöffnet, und jemand pfiff ihr nach. Es folgte eine obszöne Anspielung. Kerle grölten vor Heiterkeit. Delia drehte sich nicht um. Ihr an sprechendes Äußeres wurde oftmals zur Belastung. Der junge Landlord hatte ihr ein mal zugewispert, daß sie ein Schwan unter lauter Graugänsen sei. Womit er auf seine Art auszudrücken ver sucht hatte, daß sie für ein Mädchen aus dem einfachen Volk ungewöhn lich hübsch wäre. Das Zimmer im ersten Stockwerk war winzig und maß nicht mehr als zehn Yards im Quadrat. Früher, als das Haus noch von einer Bürgerfami lie bewohnt worden war, mußte es eine Abstellkammer gewesen sein. Für die Mercers und all die anderen auf demselben Stockwerk gab es nur die eine Waschgelegenheit am Ende des Korridors, in einer behelfsmäßig eingerichteten Küche, wo auch für alle gekocht werden mußte. Das Was ser mußte in Eimern mühsam herauf geschleppt werden. Allein jene er bärmliche Küche war eine Quelle ständigen Zanks. Harriet Mercer blickte von ihrem Lager zu Delia auf. „Du bist wieder da, Kind. Ich bin ja so froh." Delia ging auf ihre Mutter zu und gab ihrem Vater das Bündel mit Brot und Käse. Sie haßte sich für ihre Ge danken, allem den Rücken kehren zu wollen. Es war, als hätte Mom in ih rem fiebrigen Kopf von diesen Ge danken etwas geahnt. Delia kniete neben dem primitiven Bett nieder und nahm die Hand ihrer Mutter. Harriet Mercer mußte sich
20 unendlich anstrengen, um ihrer Toch ter über das schwarze Haar zu strei chen. Roderick Mercer, ein großer, kno chiger Mann, stand mit seinen Söh nen schweigend zwischen den doppel stöckigen Betten. Etwas schien ihnen die Kehle zuzuschnüren. „Ich werde immer da sein. Das weißt du doch, Mom." „Ja, Kind, ja, ja." Die Stimme der früh ergrauten Frau klang brüchig und schwach. „Ich weiß, du wirst dich immer daran erinnern, wo dein Platz ist. Ich wollte, ich könnte diese schöne Neue Welt auch noch erle ben." „Natürlich wirst du das, Mom. So darfst du um Himmels willen nicht reden, hörst du? Wir werden es schaf fen. Wir alle gemeinsam. Ich habe Brot und Käse gebracht. Du wirst jetzt essen, und dann schläfst du erst einmal, damit du wieder zu Kräften kommst." Harriet Mercer schloß die Augen und lächelte. Sie hatte nicht die Kraft, zu widersprechen. Delia richtete sich auf und wandte sich ihrem Vater und ihren Brüdern zu. Roderick Mercer zog ratlos die Schultern hoch. Stacy und Brian, bei de stämmig gebaut und dunkelhaarig wie ihre Schwester, wußten nicht, was sie sagen sollten. Delia wußte, was sie bewegte, denn es war auch das, worüber sie selbst sich am mei sten den Kopf zerbrach. Mit jedem Tag, den sie länger in London zubrachten, schmolz das ge sparte Geld zusammen. Einen Arzt konnten sie nicht rufen, denn dann würde jenes Gesparte in kürzester Zeit aufgezehrt sein.
So waren sie auf die Hilfe einer alten Frau angewiesen, die jeden zweiten Tag vorbeischaute und ihre Heilkräfte unentgeltlich anwendete. Ein tückisches Fieber war es, das Harriet Mercer befallen hatte. Es kam und ging und schwächte sie, doch es ließ nicht erkennen, welche Krankheit möglicherweise daraus entstehen würde. Mehr denn je schwebten die Mer cers im Ungewissen. „Hast du dich wegen der Passage erkundigt?" fragte Delia ihren Vater. Roderick Mercer nickte und preßte voller Bitterkeit die Lippen zusam men. Er wollte sprechen, aber sein Mund war wie versiegelt. Er nahm das Brot und begann es mit dem Messer zu zerteilen. „Das einzige Schiff, auf dem noch Plätze frei sind, ist die ,Discoverer' ", erklärte Stacy für seinen Vater. „Aber der Kapitän, ein gewisser Granville, treibt die Preise willkür lich in die Höhe. Und niemand hin dert ihn offenbar daran. Er verlangt sage und schreibe hundert Pfund für uns alle." Delia sah ihren Bruder erschrocken an. „Das heißt", hauchte sie, „wir können die Überfahrt gar nicht be zahlen?" „So ist es", sagte Brian. „Wir haben nur noch fünfzig, und es werden jeden Tag weniger, wie du weißt." „Dieser Granville ist ein verfluch ter gieriger Hund", sagte Stacy. „Er weiß genau, daß wir nirgendwo mehr einen Platz für die vorgeschriebenen vierzig Pfund finden. Deshalb ver langt er, was er will. Und niemand scheint daran interessiert zu sein, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wir sind
21 Kleidung hätten sie glatt mit der Palastwache Elizabeths konkurrie ren können. Hasard nahm den Platz auf der Achterducht ein und ergriff die Ru derpinne. Er winkte Ben Brighton und den anderen zu, die ihm vom Hauptdeck der Schebecke nachblick ten. Wie gewohnt, übernahm Ben in seiner Funktion als Erster Offizier das Kommando an Bord. Zügig pullten die Männer auf die Themse hinaus. Das Wetter hatte sich nicht gebessert, die Wolken waren eher noch düsterer geworden. Der Wind trieb feuchte Schwaden über die Wasseroberfläche. Möwen, die segelnd auf und ab stiegen, spähten scharfäugig nach unten. Aber da gab es keine freßbaren Abfälle, die aus der Jolle über Bord geworfen wur den. Tiefliegende Lastkähne schoben sich mit ihrer Ladung behäbig fluß abwärts. Flinke Schaluppen und Pi nassen kreuzten durch das kabbelige Themsewasser - unterwegs in allen erdenklichen Arten von Zubringer diensten, von Ausrüstungsteilen für Seeschiffe bis zur Nachricht an ir gendeinen Kapitän, er möge sich bei seiner Shipping Company melden. Von den Werften und den Verlade 4. piers wehten Arbeitsgeräusche her Der Seewolf enterte in das Beiboot über. Hammerschläge dröhnten, und ab, das mit sechs Rudergasten besetzt durch das Kreischen von Sägen wa war. Edwin Carberry, Ferris Tucker, ren die Rufe von Männern zu hören, Smoky, Blacky, Bob Grey und Roger die schwere Lasten von Bord der Brighton hatten die Riemen senk großen Segler in die Lastkähne fier recht zwischen die Stiefel gestellt. ten oder Proviant in Kisten und Säk Die Männer waren mit Pistolen und ken auf die Decks hievten, um das Entermessern bewaffnet. Ihre Stiefel Schiff für die nächste Reise vorzu blitzten, daß man sich darin spiegeln bereiten. konnte, und mit ihrer makellosen London war eine geschäftige Ha diesem Hund ganz einfach ausgelie fert." „Aber woher sollen wir das Geld nehmen?" flüsterte Delia mit halb erstickter Stimme. Ihr Vater sah sie an. Aus seinem Blick war nichts als Verzweiflung zu lesen. Delia bäumte sich innerlich dage gen auf, sich von der hoffnungslosen Stimmung packen zu lassen. Sie war sich darüber im klaren, daß es ein fach einen Weg geben mußte, um doch noch die Plätze auf dem Schiff zu erlangen. Ihr Vater hatte sich lange genug als Stallknecht schinden müssen. Es gab kein Zurück. Und ihre Mutter sollte das gelobte Land erreichen, sie sollte die Zukunft mit eigenen Augen sehen können. Delia schwieg, doch sie war fest ent schlossen, etwas zu tun. Sie war die einzige in der Familie, die etwas tun konnte. Doch um nichts in der Welt würde sie darüber reden. Sie ließ das Gefühl von Bitterkeit, das damit ver bunden war, nicht übermächtig wer den. Sie unterdrückte es mittels der Freude, helfen zu können.
22 fenstadt, in der unvorstellbare Men gen an Gütern umgeschlagen wurden. Die Männer pullten zum Anleger des Palasts von Whitehall, in dem sich die Königin derzeit aufhielt. Ihre Paläste wechselte sie wie die Hem den, behaupteten böse Zungen. Ein geweihte wußten es besser. Mitsamt ihrem Gefolge - den Beratern, dem Hofstaat, den als Gästen geladenen Günstlingen und dem Personal konnte sie sich stets nur für wenige Monate in einem Palast aufhalten. Irgendwann war dann der Zeit punkt erreicht, an dem die Palastbe wohner sich parfümieren konnten, soviel sie wollten, der Gestank drang trotzdem bis zu ihren empfindlichen Nasen durch. Es folgte dann der Um zug in einen anderen Palast, und in das bisherige Domizil rückten die Reinigungskolonnen, die wochenlang beschäftigt sein würden. Hampton Court, so erzählte man sich in London, wurde gerade aus gemistet. Die Queen war vor unge fähr einer Woche nach Withehall um gezogen. Vom Anleger aus erreichte Hasard das Portal über flache Marmorstu fen. Er nannte den Wachen seinen Na men und erfuhr, daß er erwartet wurde. Einer der Männer öffnete das Portal. Drinnen standen Gardisten bereit, die ihn in Empfang nahmen. Zwei hochgewachsene Burschen in silberbetreßter Kluft wurden ihm von einem Offizier zugeteilt, um ihn zur Audienz bei der Königin zu füh ren. Auch der Fußboden der Halle be stand aus kostbarem, hellem Mar mor. Hasard erinnerte sich, daß Eliza beth in früheren Jahren eine Vorliebe
für alles Italienische gehabt hatte von der Sprache, die sie fließend be herrschte, bis zur Gestaltung von Schloßgärten und Parks, denen italie nische Meister ihre unvergleichlich einfallsreiche Handschrift gaben. Die Schritte der Gardisten hallten durch die Korridore. Es herrschte Halbdunkel, die Lampen waren nur in den dunkelsten Winkeln angezün det worden. Das Tageslicht war so trübe, daß es praktisch keine Hellig keit bis ins Innere des Palasts vor dringen ließ. Elizabeth Tudor war schon zu Leb zeiten eine Legende - zumindest auf dem europäischen Kontinent, wo sie von ihren Widersachern verflucht und von ihren Verbündeten und Freunden glühend verehrt wurde. Sie galt als geniale Herrscherin, womit sie sich auch selbst unverblümt rühmte. Schon als junges Mädchen hatte sie ihre Umgebung mit ungeheurem Wis sensdurst verblüfft - nicht weniger als mit ihrer Lernfähigkeit, die ihr unter anderem dazu verholfen hatte, sechs Fremdsprachen perfekt in Wort und Schrift zu beherrschen. Mittlerweile hatte sie die meisten Zeitgenossen überlebt. Und das, ob wohl sie stets gekränkelt hatte und man angesichts ihres zerbrechlich wirkenden Körpers häufig überzeugt gewesen war, daß sie diese oder jene Krankheit nicht überstehen würde. Jetzt war sie 65 Jahre alt, und nicht weniger als 41 Jahre hatte sie regiert. Ohne Ehemann hatte sie diese Lei stung vollbracht. Es war ihr oft zur Last geworden, allein schon, weil sie darüber von ih ren Widersachern - wie Spaniens
23 Philipp II. - verspottet und verhöhnt worden war. Doch wenn auch ohne Ehemann, war sie sicher nicht ohne Liebhaber gewesen. Es war eine Ironie des Schicksals, daß diese bisweilen rätselhafte Frau, der nichtsdestoweniger außerge wöhnliche Leidenschaften nachge sagt wurden, schon jetzt als „Virgin Queen", als jungfräuliche Königin, in die Geschichte eingegangen war. Aus eben diesem Grund hatte Sir Walter Raleigh die Kolonie jenseits des At lantik „Virginia" genannt. „Water", der für kurze Zeit ihr Fa vorit gewesen war. Hasard staunte, als ihm klar wurde, welche Richtung die Gardisten mit ihm einschlugen. Sie führten ihn ge radewegs in das Privatgemach der Königin. Die Elizabeth, die ihn empfing, war eine andere als jene, die sich bei der Übergabe der „Fidelidad" so lebens froh und beinahe kumpelhaft gege ben hatte. Sie saß in einem niedrigen Sessel, allein im Halbdunkel eines großen Zimmers, in dem ein Kamin feuer brannte. „Verschwindet!" herrschte sie die Gardisten an, obwohl diese lediglich vor der offenen Tür ausgeharrt hat ten. Hasard schloß die Tür und ver beugte sich. „Komm schon näher. Setz dich." Er gehorchte. Ihr Anblick stimmte ihn betroffen. Die mit Silberfäden durchwirkte Robe und die hochge türmte rote Perücke vermochten nicht über ihre erschreckende Blässe hinwegzutäuschen. Eine leichte Schwellung ihrer rechten Wange war
zu erkennen, und ihre blauen Augen wirkten stumpf. Ein aberwitziger Widerschein des Kaminfeuers ließ beim Sprechen er kennen, daß ihr viele Zähne fehlten. Hinzu kam aber die Stimmung, in der sie sich offensichtlich befand. Eine Stimmung, die dem Wetter zu ent sprechen schien. Minutenlang sah sie ihn stumm an, ohne zu lächeln. „Ich habe Ihren Brief erhalten, Majestät", erklärte er, nur um etwas zu sagen. „Sonst wärest du nicht hier", ent gegnete sie in ihrer berüchtigt spitzen Art, mit der sie schon manchen Ge sprächspartner brüskiert hatte. „Nun", sie lehnte sich zurück und fal tete die Hände über dem Schoß, „ich sehe dir an, daß du nicht von mir be geistert bist, Seewolf. Du hast recht damit. Verdammt, ich kann mich selbst nicht leiden. Ich war krank, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Sehr krank. So krank wie nie zuvor, glaube ich." „Es tut mir leid, das zu hören, Maje stät." „Ich weiß, daß du kein Phrasendre scher bist. Trotzdem: Ich brauche kein Mitleid. Vielleicht sehen wir uns nie wieder." „Das kann ich mir nicht vorstel len." „Schmeichler! Ich spüre den Tod in allen Knochen, und du tust so, als sähe ich nicht aus wie eine Greisin, die mit dem Kopf wackelt." „Nein, so seht Ihr nicht aus, Maje stät. Aber Ihr seht auch nicht aus wie in der Blüte Eurer Jugend. Das habe ich nicht behauptet. Was ich meine, ist, daß Ihr die Kraft und die Fähig
24 keit habt, noch viele Jahre zu regie ren." Sie lächelte zum ersten Male. „Du verblüffst mich immer wieder, Sir Hasard. Aber im Grunde bin ich eine alte Närrin. Ich habe deine Aufrich tigkeit immer zu schätzen gewußt. Also brauche ich mich jetzt nicht dar über zu wundern." Sie beugte sich vor und senkte die Stimme, als gäbe es Zuhörer. „Hast du dich gewundert, weil ich dich allein empfange?" „Allerdings, Majestät. Ich hätte zu mindest den Earl of Essex in Eurer Nähe vermutet." Ihr Lächeln wuchs zum Grinsen aus. „Eben den wollte ich nicht dabei haben. Ich habe ihn mit einem Son derauftrag nach Irland geschickt. Er soll sich da austoben und diesem ver fluchten Rebellen von Tyrone das Fell über die Ohren ziehen." „Die Spanier werden dabei ein Wörtchen mitreden wollen, Maje stät." „Oh, ich sehe, du bist hervorragend informiert! Weißt du etwa mehr als ich?" „Nein, auf keinen Fall. Ich kann nur vermuten, daß die Dons mit starken Verbänden an der Westküste Irlands landen und versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Was können sie sich mehr wünschen als rebellierende Iren, die noch dazu erfolgreich sind?" Die Miene der Königin umwölkte sich. „Du hast recht mit deiner Ver mutung. Nach Kundschafterberich ten zu urteilen, sieht es kritisch aus auf der verfluchten Ireninsel. Aber genug davon. Ich habe mir lange ge nug darüber den Kopf zerbrochen. Soll Essex endlich etwas tun!" Hasard hätte ihr am liebsten ge
sagt, daß er das für genau die richtige Beschäftigung für den blasierten Kerl hielt. Aber er ließ es. Es gab an dere Gründe, aus denen Elizabeth ein Faible für den rund dreißig Jahre jüngeren Mann hatte. „Wollen Sie mich auch nach Irland schicken, Majestät?" fragte er. „War Virginia nur ein Vorwand?" „Unterstelle mir nicht solche Tricks!" fauchte sie. „Traust du mir so etwas zu?" „Ja." Sekundenlang starrte sie ihn an, als wollte sie ihn mit Blicken erdolchen. Dann lachte sie und sprang auf. Sie begann, das Zimmer mit langen Schritten zu durchmessen. Vor dem Kamin blieb sie stehen und drehte sich zu Hasard um. „Du weißt verteu felt genau, daß ich einen Narren an dir gefressen habe, Seewolf. Du kannst dir eine Menge bei mir heraus nehmen, auch das weißt du." „Ich würde trotzdem nicht unver schämt werden", entgegnete Hasard. „Auch das ist mir klar." Sie stieß sich vom Kaminsims ab, kehrte mit kurzen schnellen Schritten zum Ses sel zurück und ließ sich hineinfallen. „Du hast mich darauf gebracht, daß wir zur Sache kommen sollten." Sie legte die flachen Hände aneinan der und stützte das Kinn auf die Fin gerkuppen. „Es war an der Zeit, daß ich wieder einmal eine Geste zeige, die mir Sympathien einbringt. Ich habe einigen Abtrünnigen der Kirche von England Gnade gewährt und lasse sie außer Landes gehen. Das wird auf drei Schiffen der Fall sein, die über den Atlantik segeln sollen. Diese religiösen Wirrköpfe sollen sich meinetwegen in Virginia nieder
25 lassen und dort ihre frommen Sprüche klopfen. Es handelt sich bei ihnen allerdings nur um eine Minder heit. Die meisten Passagiere - etwa hundert pro Schiff - sind reine Aus wanderer. Kolonisten, die Virginia besiedeln werden - zur Ehre und zum Ruhm der Königin Englands. Wir werden endlich Fuß fassen in der Neuen Welt. Verstehst du?" „Sehr gut, Majestät", erwiderte Ha sard. Ihm schwante längst, worin der Auftrag der Königin für ihn bestehen sollte. Und wenn es sich so verhielt, dann würde er alles andere als glück lich darüber sein. „Du wirst die drei Pilgerschiffe über den Atlantik geleiten", sagte sie denn auch und spähte mit forschen dem Blick nach seiner Reaktion. „Was hältst du davon?" „Ich kann nicht widersprechen." „Das ist keine Antwort auf meine Frage." „Also gut. Ich halte wenig davon, Majestät. Weil ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten eine solche Über fahrt verbunden ist." Sie lächelte. „Du bist der Mann, der Schwierigkeiten meistert. Erzähle mir also keine Geschichten. Ich habe übrigens noch etwas, das dir gefallen wird. Drei Passagiere wirst du an Bord deines sonderbaren Dreima sters nehmen. Es handelt sich um sehr ehrenwerte Gentlemen, deren Aufgabe es sein wird, die Kolonie mit aufzubauen und zu leiten." „Also ist es wahr", sagte Hasard entgeistert und verdrehte demonstra tiv die Augen. „Hüte dich, mir gegenüber in Rät seln zu sprechen", sagte Elizabeth
scharf. „Von was redest du? Heraus damit!" Hasard schilderte ihr die Begeben heit mit Davenport. „Wenn die beiden anderen von ähn lichem Kaliber sind", fügte er hinzu, „dann weiß ich, was mir bevorsteht." Sie kicherte wie ein kleines Mäd chen. „Du hast ihn wirklich in die Vorpiek gesperrt?" „Ich hatte allen Grund dazu, Maje stät." „Herrlich!" Elizabeth hieb sich vor Vergnügen auf die Schenkel. „Das hat er verdient, der Strolch." Abermals beugte sie sich vor und schlug den vertraulichen Ton an, den er schon an ihr kannte. „Ich will so ehrlich zu dir sein, wie du es zu mir bist, Seewolf. Hier bei Hofe ist jeder froh, daß Davenport die Idee hatte, auszuwandern. Er ist ein hochver schuldeter Nichtsnutz, der das Talent hat, andere in seine Schwierigkeiten hineinzuziehen. Dann wäre da noch Sir William Godfrey, schon etwas äl ter. Jeder weiß, daß er ein verschro bener Wirrkopf ist. Und Alec Morris, der dritte im Bunde, ist ein fünfund zwanzigjähriger Schnösel, der nichts als Abenteuer sucht." „Herrliche Aussichten", sagte Ha sard. „Sicher. Aber du wirst auch damit fertig werden. Ich weiß es. Übrigens bin ich mir darüber im klaren, daß die drei Gentlemen nur eines im Kopf haben werden, sobald sie drüben an Land gegangen sind: Sie werden an fangen, nach Gold zu suchen, statt sich um die Aufgaben zu kümmern, die ich ihnen zugedacht habe. Aber es gibt unter den Pilgern und Auswan derern genügend beherzte Leute, die
26 ein waches Auge auf die Burschen ha ben werden." „Warum fahren sie nicht auf einem der Pilgerschiffe, Majestät?" „Das würden sie als eine Zumutung betrachten. Du weißt, was sie von die sen verwanzten Kähnen halten, in de nen die Leute zusammengepfercht werden. Betrachte es als einen Gefal len, den du mir persönlich tust. Wir würden sie hier nicht loswerden, wenn wir ihnen nicht das kleine Pri vileg gönnen." „Selbstverständlich tue ich Ihnen den Gefallen, Majestät", erwider te Hasard und leistete sich ein Lä cheln. „Ich habe es nicht anders erwartet. Noch etwas: Deine Aufgabe wird mit dem Geleitschutz für die Pilger schiffe nicht erschöpft sein. Ich möchte, daß du weiter nach Süden se gelst, nachdem die Auswanderer an Land gesetzt worden sind. Du wirst das Land zwecks weiterer Besiedlung erforschen und dann nach England zurückkehren - zu mir, zum Rap port." Hasard wußte, daß sie seine Zu stimmung für selbstverständlich hielt. Sie sprach auch nicht davon, daß sie den Rapport vielleicht nicht selber entgegennehmen konnte. Die Ahnung des Todes schien ihr zumin dest vorübergehend entglitten zu sein. Hasard pflegte unterdessen ei nen Hintergedanken, der zusehends Gestalt annahm. Die Erforschung des Landes süd lich von Virginia würde ihm Gelegen heit geben, einen Abstecher in die Ka ribik zu unternehmen und im Stütz punkt des Bundes der Korsaren nach dem Rechten zu sehen.
5. Delia Mercer verließ das Haus, als sich die Möglichkeit bot, unbemerkt davonzuschleichen. Die alte Frau war erschienen und kümmerte sich um ihre Mutter. Ihr Vater war mit Hand reichungen beschäftigt, denn die Alte beschränkte sich darauf, Anweisun gen zu geben, was für die Kranke ge tan werden müsse. Stacy und Brian hatten Küchendienst, mußten Wasser in Eimern heraufschleppen und Feuerholz aus einem Verschlag im Hinterhof holen. Schon nach den ersten Schritten verließ sie der Mut. Sie sah die Frachtwagen, die durch die Gasse rumpelten, sowie die grobknochigen Männer mit ihren schwieligen Hän den auf den Kutschböcken, und sie hörte, was ihr aus offenen Toren von Lagerhäusern nachgerufen wurde. Auf einmal fühlte sie sich hunde elend. Dem, was sie sich vorgenom men hatte, würde sie nie und nimmer gewachsen sein. In der Geborgenheit der Familie solche Pläne zu fassen, war leicht. Sie aber in die Tat umzu setzen, erschien ihr auf einmal so gut wie unmöglich. Die Welt war rauh und feindselig. Das Mannsvolk in den Gassen ernied rigte Frauen, die sich nicht zu wehren wußten, mit Blicken, Pfiffen, Grimas sen, Gesten und Zoten. Delia beobachtete eine resolute Frau, die einen Korb mit Lebensmit teln trug. Unvermittelt blieb die Frau stehen, kehrte um und ging gera dewegs auf die drei Kerle zu, die in einem offenen Torweg standen und ihr etwas zugerufen hatten, das Delia nicht verstanden hatte.
27 Die Frau stemmte die freie Hand in die Hüfte und sagte etwas zu den Ker len, was niemand sonst hören konnte. Verblüfft beobachtete Delia, wie alle drei rot anliefen und den Mund nicht wieder zukriegten. Als die Frau sich abwandte und ihren Weg fortsetzte, grinste sie. Delia ging ebenfalls weiter. Sie fragte sich, ob sie die rechte Zeit und den rechten Ort für ihr Vorhaben ge wählt hatte. Kinder lärmten im Schmutz der Gassen. Welche Art von Aufmerksamkeit sie bei den Män nern erweckte, spürte Delia nur zu deutlich. Aber auch bei den Frauen blieb sie nicht unbeachtet. Hier waren es eher mißgünstige Blicke, die ihr folgten. Es fiel ihr schwer, dies einzusehen, aber ihre Mutter hatte ihr einmal ge sagt, daß eine Frau der anderen das bessere Aussehen neiden könne - daß jede Frau letztlich in der anderen eine Rivalin sehe. Immer mehr Gedanken jagten sich in Delias Kopf, während sie ziellos durch die Gassen streifte. Nur durch Zufall gelangte sie auf eine breitere Straße. Ungewollt verharrte sie. Kut schen fuhren unter Bäumen, und die Häuser hatten hübsche Vorgärten. Delia hatte so etwas noch nicht gese hen. Sie zögerte, weiterzugehen. Hier war sie sicherlich erst recht fehl am Platze. Sie blickte an sich hinunter. Ihre Kleidung war nicht gerade angemes sen, um in einer Gegend wie dieser als Müßiggängerin aufzutreten. Zwar konnte sie nur einfache Leute sehen, die zu Fuß unterwegs waren. Dienst boten vermutlich. Aber auch deren Kleidung war sauber und ordentlich.
Delia überwand ihre Zurückhal tung. Sie mußte an ihre Familie den ken, an ihre kranke Mutter, an nichts anderes: Es war ihre Pflicht, über den eigenen Schatten zu springen. Sie mußte diese Willenskraft aufbringen, denn es gab nur diese eine Möglich keit, Geld zu verdienen. Stacy und Brian hatten alles Mögli che versucht, um Arbeit zu finden. Es war ausgeschlossen. London quoll über von Menschen. Die Reichen konnten es sich leisten, ihre Dienstbo ten mit Hungerlöhnen abzuspeisen, denn es gab genügend Menschen, die sich auch noch um die am schlechte sten bezahlten Arbeiten rissen. Nicht anders war es in den Handels häusern und Werkstätten. Das Geld, das man mit den niederen Arbeiten verdienen konnte, reichte eben, um sich davon zu ernähren und einiger maßen menschenwürdig zu kleiden. Delia hörte die Stimme eines Kut schers, der sein Pferd zügelte. Die Hufgeräusche endeten unmittelbar neben ihr, auf der Straße. Sie blickte zur Seite, und augenblicklich häm merte ihr Herz bis zum Hals. Die Tür der einspännigen Kutsche war einen Spaltbreit geöffnet wor den. Das freundliche Gesicht eines elegant gekleideten Gentleman war zu sehen. Sein Haar war an den Schlä fen ergraut. In seinem Blick lag nichts, durch das sie sich hätte ent würdigt fühlen müssen. „Komm näher, schönes Kind", sagte er. „Ich sehe dir an, daß du nicht weißt, wohin mit dir." Zögernd ging sie einen Schritt auf die Kutsche zu. „Aber - ich ...", stammelte sie. Ihr hämmerndes Herz wollte sich nicht beruhigen. Sie war
28 „Sir?" Der Profos hob den Kopf und reckte erwartungsvoll das Rammkinn vor. „Du läßt Mister Davenport aus der Vorpiek frei. Er hat das Recht, sich frei auf dem Hauptdeck zu bewegen. Aber vorläufig nur auf dem Haupt deck. Ich kümmere mich persönlich darum, sobald ich mit Mister Brigh ton zurück bin." „Aye, aye, Sir", erwiderte Carberry militärisch. Er kratzte sich hinge bungsvoll am Hinterkopf und fügte hinzu: „Ist eine Bemerkung erlaubt, Sir?" „Wenn's nichts Unanständiges ist", sagte der Seewolf lächelnd. Der Profos schüttelte den Kopf. „Wollte nur sagen, daß ich diese Or Vom Whitehall-Palast pullten die der verdammt ungern ausführe. Bes Männer zurück zur Towerpier. An ser würde mir gefallen, wenn ich dem Bord der Schebecke unterrichtete Ha Armleuchter verklaren dürfte, daß er sard alle über sein Gespräch mit der noch bis Virginia in der Vorpiek Königin. Die langen Gesichter waren bleibt und verrottet." nicht zu übersehen. Etliche Arwe „Sag ihm, daß er genau dort wieder nacks murrten unverhohlen. landet, wenn er sich nicht ordentlich „Pilgerschiffe", sagte Ferris Tucker benimmt", entgegnete Hasard. dumpf und voller Unbehagen. „Da „Aye, aye, Sir, das ist wenigstens et können wir aber eine Menge Überra was." schungen erleben - mit diesen Rat Die übrigen Arwenacks nickten bei teneimern. Und ich kann mir ziem pflichtend. Sie wußten, daß der lich gut vorstellen, mit was für saube Hochwohlgeborene keinem von ihnen ren Kapitänen wir es zu tun kriegen auf der Nase herumtanzen würde. Er werden." würde rechtzeitig Dampf unter dem Hintern empfangen, und Carberry „Eben die sehen wir uns jetzt an", würde ihm notfalls die Haut in Strei sagte der Seewolf und wandte sich fen von seinem Affenarsch ziehen, Ben Brighton zu. „Wir beide." damit er den richtigen Kurs nicht ver „Aye, aye, Sir", entgegnete der paßte. Erste Offizier. „Dan, du übernimmst das Kom Hasard und Ben verließen die Sche mando an Bord." becke. Am Kai wandten sie sich fluß „Aye, aye, Sir!" erwiderte Dan abwärts. Die Liegeplätze der drei Ga O'Flynn. leonen waren nur einen Steinwurf „Mister Carberry!" weit entfernt. Zwischen den Masten ärgerlich über sich selbst und haßte sich wegen ihrer Unsicherheit. „Ich weiß", sagte der Gentleman. „Du brauchst Geld. Du kannst dir un gefähr vorstellen, wie du dazu kommst. Aber du hast Hemmungen. Nun, steig einfach ein. Du brauchst keine Angst zu haben. Du kannst et was tun, wofür ich dich gut entlohnen werde. Es wird nichts sein, was deine Ehre in irgendeiner Weise verletzen würde." Delia zögerte nicht mehr. Sie faßte Zutrauen zu diesem Mann, dessen Ge sichtszüge keine Falschheit hatten. Sie stieg ein.
29 der vertäuten Schiffe hatte man sie von der Schebecke aus allerdings nicht klar erkennen können. Kisten und Fässer waren am Kai gestapelt. Zweifellos handelte es sich bereits um Proviant- und Trinkwasservor räte für die Pilgerschiffe. Auf der Pier hatten sich Männer, Frauen und Kinder auf ihren gebün delten und in Kisten verpackten Hab seligkeiten niedergelassen. Seeleute, die Fässer unterschiedlicher Größe an Bord mannten, fluchten lauthals, wenn ihnen Kinder aus Unachtsam keit den Weg versperrten. Die Auswanderer, das sahen Ha sard und Ben im Vorbeigehen, waren von stoischer Ruhe und unendlicher Geduld erfüllt. Wahrscheinlich hatte man ihnen erzählt, daß es sich um Formalitäten handelte, die noch erle digt werden müßten, bevor sie an Bord gehen durften. Die Männer und Frauen ertrugen die Wartezeit mit ihrer Hoffnung auf die bessere Zukunft. Für die Kinder war das Ganze ein großes Abenteuer. Wer von ihnen hatte jemals einen Ha fen mit Schiffen gesehen, die über die Weltmeere segelten? „Hast du eine Legitimation?" fragte Ben, während sie auf die Pil gerschiffe zugingen. „Du witterst schon wieder Verdruß, was? Aber ich kann dich beruhigen." Hasard klopfte auf die Brusttasche seiner Lederweste, in der er das Do kument trug, das die Königin ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Natürlich wußte er, auf was Ben an spielte. Man konnte nicht sicher sein, wie die Kapitäne der Pilgerschiffe reagierten. Vielleicht hatten sie das
Gefühl, daß ihnen auf die Finger ge sehen werden sollte. Mit Sicherheit wickelten sie ihre kleinen Nebengeschäfte ab. Dabei würden sie sich nicht gern stören las sen. Hasard hatte dennoch vor, sich genau umzusehen. Unrechtmäßigkei ten, die zu Lasten der Auswanderer gingen, würde er nicht dulden. Die Galeonen „Discoverer" und „Pilgrim" lagen links an der Pier, rechts die „Explorer". Hasard und Ben meldeten sich beim Bootsmann der „Discoverer" und verlangten den Kapitän zu sprechen. Hasard wies die Order der Königin vor und fügte hin zu, daß sich die Kapitäne der beiden anderen Schiffe ebenfalls an Bord der „Discoverer" einfinden sollten. Der Bootsmann brüllte nach dem Läufer und schickte ihn als Boten los. Der Seewolf und sein Erster Offi zier begaben sich unterdessen auf das Achterdeck der Galeone, wo sich keine Menschenseele aufhielt. Der Bootsmann benachrichtigte den Ka pitän, der es offenbar vorzog, gemein sam mit den Offizieren die Gemüt lichkeit in der Messe zu genießen. Hasard und Ben lehnten sich an die Heckbalustrade, von wo sie das Ge schehen am besten überblicken konn ten. Der Mann, der als erster erschien, war dicklich und hatte finstere Au gen. Schnaufend enterte er über den Backbordniedergang auf. „Robert Granville", stellte er sich mit ölig klingender Stimme vor. „Ka pitän der ,Discoverer'. Willkommen an Bord, Gentlemen. Wollen wir uns nicht in die Messe begeben? Dort könnten wir einen kleinen Begrü ßungsschluck zu uns nehmen."
30 Hasard und Ben stellten sich vor. ein beherrscht aussehender schlan Der Seewolf lehnte die Einladung ker Mann, hochgewachsen, dunkel höflich, aber bestimmt ab. Die Atem blond, mit grauen Augen. Hasard zeigte Toolan und Drinkwa wolke, die von Granville ausging, zeigte eindeutig, wo seine Vorlieben ter die Order der Königin und er lagen. Gründlich studierte er die kö klärte ihnen, wie seine Aufgabe lau nigliche Order und gab sie an den tete. Drinkwater nickte nur. Seewolf zurück. „Dann lasset uns gemeinsam be Mit einer ausladenden Armbewe gung wies er auf das Geschehen auf ten", sagte Arnos Toolan mit feierli der Kuhl, wo Decksleute unentwegt cher Stimme und hob den Kopf, als hin und her eilten, um Kisten und erwarte er, in den grauen Wolken Fässer in die Laderäume abzusenken über London ein Zeichen zu sehen. und zu stauen und laufend neue her „Lasset uns den Herrn sanftmütig stimmen, denn es bedarf seiner beizuschleppen. Auf der Back hatten sich die ersten Gnade, wenn es uns gelingen soll..." „Ja ja, schon gut", unterbrach ihn Auswanderer versammelt. Stumm und ergriffen sahen sie aus, wie sie Granville unwillig. „Bete, soviel du das Treiben an Bord und die ganze, willst, wenn du auf deinem eigenen ihnen so fremde Umgebung beobach Schiff bist. Aber geh uns nicht damit teten. Hasard konnte sich verdammt auf die Nerven." gut vorstellen, daß nicht wenige von Toolan preßte beleidigt die Wulst ihnen Angst vor der eigenen Courage lippen aufeinander. kriegten. „Ich nehme an, das ist in Ihrem Sinne", wandte sich Granville an den Kaum einer würde sich dagegen Seewolf, „Wenn man ihn gewähren ausmalen können, was die Überfahrt läßt, labert er stundenlang seine über den Atlantik bedeutete. frommen Sprüche. Er ist ein ver Die beiden anderen Kapitäne er dammter Puritaner von der schlimm schienen bereits in der nächsten Mi sten Sorte." nute. Amos Toolan, der die „Explo rer" führte, ähnelte von der Statur „Und dich wird dein Lästermaul ei her Granville. Beide schienen Essen nes Tages in den schlimmsten Höl und Trinken als überaus angenehme lenschlund stürzen", sagte Toolan gif und bedeutende Beschäftigung zu tig. pflegen. „Gentlemen!" sagte der Seewolf Toolan hatte indessen ein verklärt mit erhobener Stimme. „Ich bin hier, wirkendes Mondgesicht, den Blick um mit Ihnen eine kurze Lagebespre ständig etwas zum Himmel gerichtet chung abzuhalten. Ansonsten soll je und die Hände über dem Bauch gefal der auf seine Weise selig werden, tet. Es sah so aus, als ob er unablässig wenn es den Interessen unseres klei bete. nen Verbandes nicht entgegensteht." Sympathischster in dem Trio war James Drinkwater nickte aber nach Hasards Eindruck Kapitän Ja mals. mes Drinkwater von der „Pilgrim" „Selbstverständlich, Sir Hasard",
31 dienerte Granville. „Genau das ist der Weg, den wir gehen müssen. Wir müssen zusammenhalten. Natürlich sind wir froh darüber, einen so be rühmten und erfahrenen Mann wie Sie zu unserem Schutz abgestellt zu wissen." Hasard und Ben wechselten einen Blick. Sie brauchten nichts zu sagen und ahnten gegenseitig ihre Gedan ken. Es war ein allzu süßlicher Honig, der ihnen da um den Bart geschmiert wurde. „Wann werden Sie bereit sein, an kerauf zu gehen?" fragte der Seewolf. „In drei Tagen", antwortete Kapi tän Drinkwater. „Meine und Mister Toolans Passagierlisten sind voll ständig. Ich denke, daß wir morgen mit dem Laden der Vorräte fertig sind. Anschließend geht es daran, sämtliche Passagiere unterzubrin gen." „Wie viele pro Schiff?" erkundigte sich Ben Brighton. „Höchstens hundert", erwiderte Drinkwater. „Diese Zahl soll nicht überschritten werden, da sonst auch die Ladekapazität der Galeonen überschritten würde." Amos Toolan hatte einen Schmoll mund gezogen und schien sich nicht mehr an dem Gespräch beteiligen zu wollen. „Und was ist mit Ihnen?" wandte sich der Seewolf an Robert Granville. Der Kapitän der „Discoverer" fal tete die Hände und knetete die Fin ger. „Nun, äh, sehen Sie, Sir Hasard, es ist nicht so einfach, die Passagiere - sagen wir - aufeinander abzustim men. Da gibt es tatsächlich Leute, die nicht mit bestimmten anderen Leu ten zusammen auf ein Schiff wollen.
Dann gibt es welche, die bestimmte Platzwünsche haben. Und, und, und. Aber ich bin sicher, daß auch ich die Liste spätestens morgen komplett habe." Hasard nickte. „In Ordnung. Wir betrachten die Drei-Tage-Frist als festgesetzt. Ich brauche Ihnen nicht ausdrücklich zu sagen, daß ich eine Überschreitung der vorgesehenen Gesamtzahl an Passagieren nicht dul den werde." Deutlich war zu bemerken, wie Granvilles Miene sich verdüsterte. Da Tollan ohnehin schmollte, war ihm keine Veränderung anzusehen. Lediglich Drinkwater nickte, wie man über eine Selbstverständlichkeit nickt. Hasard und Ben waren sich dar über im klaren, warum Granvilles Passagierliste noch nicht abgeschlos sen war. Der Bursche versuchte, sein eigenes Süppchen zu kochen. Keine Frage, daß es sich in klingender Münze für seinen persönlichen Geld beutel auszahlen sollte. Damit fingen die Schwierigkeiten schon an. Hasard würde nicht zulas sen, daß ahnungslosen Menschen mehr Geld als nötig aus der Tasche gezogen wurde. Gemeinsam mit Ben unternahm er einen Inspektionsgang, auf dem er sich von den drei Kapitänen jedes Schiff zeigen ließ - einschließlich der Unterdecksräume, in denen man die Pilger und Auswanderer mehr oder weniger zusammenpferchen würde. Die Galeonen waren in einem ein wandfreien Zustand. Was daraus wurde, wenn sich erst einmal die vie len Menschen an Bord befanden, ließ sich jetzt noch nicht im mindesten ab
32 wägen. Es hing von mehreren Fakto ren ab, die man nicht vorausberech nen konnte. Das Wetter war nur einer davon. 6. Als sie zur Towerpier zurückkehr ten, waren sie im ersten Moment überzeugt, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Ben Brighton faßte sich an den Kopf. „Du lieber Himmel!" stöhnte er. „Das kann doch nicht wahr sein!" Hasard erholte sich mühsam von seiner Verblüffung. Drei große Frachtwagen, jeweils von Zweiergespannen gezogen, wa ren bei der Schebecke vorgefahren. Die Ladung befand sich noch unter verzurrten Planen, aber die Kutscher und ihre Begleiter standen zum Ent laden bereit. Einziges Hindernis war ein Profos, der mit verschränkten Armen und grimmiger Miene in der Pforte des Schanzkleids stand. Hinter ihm, in gemessenem Ab stand, grinsten die Arwenacks. Ebenfalls hinter ihm gestikulierte Frank Davenport rastlos und voller Zorn. Doch er versuchte nicht erst, den hünenhaften Mann zur Seite zu schieben, denn er wußte, daß er es nicht geschafft hätte und es ihm über dies schlecht bekommen wäre. Die beiden Gentlemen, die vor Car berry auf der Pier standen, wandten sich erleichtert um, als der Narben mann ihnen verklarte, der Kapitän sei im Anmarsch. Daß sie keinen Grund zur Erleichterung hatten,
sollte ihnen schon bald darauf um so erschreckender deutlich werden. An dem älteren der Gentlemen fie len weniger die grauen Haare als die rötliche Säufernase auf. Hocherfreut ging er auf den Seewolf zu. Der jün gere blieb stehen und blickte betont gelangweilt und geistesabwesend drein, als ginge ihn die ganze Angele genheit herzlich wenig an. Hasard und Ben verharrten. Der Erste Offizier betrachtete die Fracht wagen mit einem Ausdruck unver hohlener Fassungslosigkeit. Hasard nickte dem grauhaarigen Adligen zu. „Sie müssen Sir Philip Hasard Kil ligrew sein!" rief der Mann mit der Säufernase. „Der bin ich. Und Sie sind vermut lich Sir William Godfrey." „Oh, Sie kennen mich bereits?" „Die Königin kann Personen gut beschreiben. In jeder Beziehung." Godfrey lächelte gequält. „Nun, Sir Hasard", sagte er, indem er mit der Hand wedelte. „Ich bin je denfalls froh, daß Sie da sind. Sicher werden Sie das kleine Mißverständ nis im Handumdrehen aufklären. Ihre Männer meinen, sich aufspielen zu müssen. Nun, man kennt das ja. Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Nicht wahr?" Er lachte meckernd. „Übrigens", er wandte sich halb um, „Mister Alec Morris brauche ich Ihnen wohl kaum vorzustellen - nachdem Sie von unse rer geschätzten Queen so trefflich in formiert wurden." Morris deutete eine Art Verbeu gung an und fuhr augenblicklich fort, blasierte Löcher in die Luft zu star ren. Hasard beachtete den jungen
wie im letzten Forum angekündigt, bringen wir hier noch den Rest des Briefes von Herrn M L aus Bergisch Glad bach. Er schrieb: ... also, laßt die Seewölfe noch recht lange ihre Abenteuer auf den damals noch saube ren Meeren erleben (auch wenn mir Old Do negal in letzter Zeit etwas zu sehr mit seiner Spökenkiekerei in den Vordergrund gescho ben wird, aber es gibt ja auch immer etwas zu lachen dabei) und macht weiter so wie bisher, der Kurs der Seewölfe lief bisher für mich immer korrekt. Mit einem kräftigen Arwenack, bis bald. Euer schon nicht mehr ganz so jugendlicher Leser - M L . Sehr herzlichen Dank für Ihren langen Brief, lieber Herr L , sowie für Ihre aus gewogene Kritik. Das will schon was hei ßen, wenn jemand vor über zehn Jahren zu der SW-Serie stieß - und sie heute immer noch liest, sich also vom „ Jung"-Leser zum „Alt"-Leser mauserte. Ja, auf den Index der sogenannten jugendgefährdenden Schrif ten (was man auch immer darunter verste hen mag) kamen wir bisher noch nicht, ob wohl einige Leser meinten, wir sollten et was „kräftiger" zulangen. Nun gut, Span nung läßt sich auch ohne Brutalitäten er zeugen, und dieses Konzept hat sich ausge zahlt, das heißt, die Serie blieb von Eingrif fen seitens der entsprechenden Behörden verschont. Zum Teil ist das für die Autoren eine Gratwanderung, denn wer will schon bewerten, an welcher Stelle Gewalt ver herrlicht wird und an welcher nicht! Was der eine als „lau" empfindet, ist für den an deren schon so „blutrünstig", daß er ver langt, der Roman müsse verboten werden. Insofern sitzt der Autor zwischen zwei Stühlen und muß sich immer wieder fra gen: wie weit darf ich gehen? Was verstößt gegen die „guten Sitten", gegen die „Mo ral", gegen „sittliches und ethisches Emp finden"? Was er selbst vielleicht für harm los hält, darüber entrüstet sich möglicher
weise ein Zensor und beantragt eine Indi zierung. Was der Autor als Maulkorb emp findet, hängt mit dem Gebot oder der Auf gabe der Behörden zusammen, keine ju gendgefährdenden Schriften zuzulassen. Das ist ein Streit, der dauern wird, solange niemand verbindlich erklären kann, wann ein Bürger als mündig zu erklären ist mündig in dem Sinne, eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, was er lesen möch te. Wir meinen nur, daß mit Verboten kaum etwas zu erreichen ist, eher das Gegenteil. Für uns Autoren ist das alles viel mehr eine Frage des guten Geschmacks - und jeder setzt sich selbst die Grenze, über die er nicht hinausgeht, gleichgültig, ob Zenso ren darüber wachen oder nicht. Übrigens, lieber Herr L , Old Donegal ist noch nicht hundert Jahre alt, und die Killi grew-Serie setzte genau im Jahre 1576 ein, nicht in den sechziger Jahren. Dies nur zur Richtigstellung. Und was die Zyklen be trifft: mit der vorliegenden Nr. 621 beginnt ein neuer Zyklus, der unseren „Helden" einiges abverlangen wird. So, und hier haben wir jemanden, der etwas sucht: A J , S , 2820 Bremen 70. Er schreibt: Sehr geehrte Seewölfe-Redaktion! Ich habe die Bitte, an der Börse im Seewölfe-Forum teilzunehmen und würde michfreuen, wenn mein Gesuch veröffentlicht wird. Ich suche folgende Taschenbücher der Howard-Bon ty-Serie: Nr. 2, 5-7,12-18, 21, 22, 24, 26-28, 31,32,39,40,44,45,47-52,54, 56 und 57. Da ich noch Schüler (16 Jahre) bin, hoffe ich auf eine günstige Überlassung (maximal DM 1,50 pro TB) oder Schenkung, wobei ich das Porto übernehme. Mit Dank und freundlichen Grüßen sowie der Hoffnung auf Erfolg - Ihr Leser A J Wir halten die Daumen für eine Schenkung, lieber A ! Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern ein Viermast-Vollschiff vor, also einen „Vollrigger", bei dem alle vier Masten vollgetakelt sind. Die Nummern bedeuten: 1 Fockmast, 2 Großmast, 3 Kreuzmast, 4 Jiggermast, 5 Vor-Marsstenge, 6 Groß-Mars stenge, 7 Kreuz-Marsstenge, 8 Jigger-Marsstenge, 9 Vor-Bramstenge, 10 Groß-Bram stenge, 11 Kreuz-Bramstenge, 12 Jigger-Bramstenge, 13 Vor-Royalstenge, 14 GroßRoyalstenge, 15 Kreuz-Royalstenge, 16 Jigger-Royalstenge, 17 Fockrah, 18 Großrah, 19 Kreuzrah, 20 Jiggerrah, 21 Vor-Untermarsrah, 22 Groß-Untermarsrah, 23 KreuzUntermarsrah, 24 Jigger-Untermarsrah, 25 Vor-Obermarsrah, 26 Groß-Obermarsrah, 27 Kreuz-Obermarsrah, 28 Jigger-Obermarsrah, 29 Vor-Bramrah, 30 Groß-Bramrah, 31 Kreuz-Bramrah, 32 Jigger-Bramrah, 33 Vor-Royalrah, 34 Groß-Royalrah, 35 KreuzRoyalrah, 36 Jigger-Royalrah, 37 Vor-Skysegelrah, 38 Groß-Skysegelrah, 39 KreuzSkysegelrah, 40 Jigger-Skysegelrah, 41 Außen-Klüverbaum, 42 Klüverbaum, 43 Bug spriet, 44 Stampfstock, 45 Besanbaum, 46 Besangaffel, 47Fock, 48 Großsegel, 49 Kreuz segel, 50 Jigger, 51 Vor-Untermarssegel, 52 Groß-Untermarssegel, 53 Kreuz-Unter marssegel, 54 Jigger-Untermarssegel, 55 Vor-Obermarssegel, 56 Groß-Obermarssegel, 57 Kreuz-Obermarssegel, 58 Jigger-Obermarssegel, 59 Vor-Bramsegel, 60 Groß-Bram segel, 61 Kreuz-Bramsegel, 62 Jigger-Bramsegel, 63 Vor-Royal, 64 Groß-Royal, 65 Kreuz-Royal, 66 Jigger-Royal, 67 Vor-Skysegel, 68 Groß-Skysegel, 69 Kreuz-Skysegel, 70 Jigger-Skysegel, 71 Außenklüver, 72 Klüver, 73 Binnenklüver, 74 Vor-Stengestagse gel, 75 Besan, 76 Außen-Klüverstag, 77 Klüverstag, 78 Stampfstock-Backstagen, 79 Wasserstag, 80 Fockstag, 81 Großstag, 82 Kreuzstag, 83 Jiggerstag, 84 Vor-Stengestag, 85 Groß-Stengestag, 86 Kreuz-Stengestag, 87 Jigger-Stengestag, 88 Binnen-Klüverlei ter, 89 Klüverleiter, 90 Vor-Bramstag, 91 Außen-Klüverleiter, 92 Groß-Bramstag, 93 Kreuz-Bramstag, 94 Jigger-Bramstag, 95 Vor-Royalstag, 96 Groß-Royalstag, 97 KreuzRoyalstag, 98 Jigger-Royalstag, 99 Vor-Skysegelstag, 100 Groß-Skysegelstag, 101 Kreuz-Skysegelstag, 102 Jigger-Skysegelstag, 103 Außenklüver- und Klüverschoten, 104 Binnen-Klüverschot, 105 Vor-Stengestagsegelschot, 106 Fockschot, 107 Großschot, 108 Kreuzschot, 109 Jiggerschot, 110 Besanschot, 111 Fockbrassen, 112 Großbrassen 113 Kreuzbrasse, 114 Jiggerbrassen, 115 Vor-Untermarsbrasse, 116 Groß-Untermars brasse, 117 Kreuz-Untermarsbrasse, 118 Jigger-Untermarsbrasse, 119 Vor-Obermars brassen, 120 Groß-Obermarsbrassen, 121 Kreuz-Obermarsbrassen, 122 Jigger-Ober marsbrassen, 123 Vor-Brambrassen, 124 Groß-Brambrassen, 125 Kreuz-Brambrassen, 126 Jigger-Brambrassen, 127 Vor-Royalbrassen, 128 Groß-Royalbrassen, 129 KreuzRoyalbrasse, 130 Jigger-Royalbrassen, 131 Vor-Skysegelbrassen, 132 Groß-Skysegelbrassen, 133 Kreuz-Skysegelbrassen, 134 Jigger-Skysegelbrassen, 135 Fock-Bauchgor dinge, 136 Groß-Bauchgordinge, 137 Kreuz-Bauchgordinge, 138 Jigger-Bauchgordin ge, 139 Vor-Marsbauchgordinge, 140 Groß-Marsbauchgordinge, 141 Kreuz-Mars bauchgordinge, 142 Jigger-Marsbauchgordinge, 143 Vor-Brambauchgordinge, 144 Groß-Brambauchgordinge, 145 Kreuz-Brambauchgordinge, 146 Jigger-Brambauch gordinge, 147 Vor-Royalbauchgordinge, 148 Groß-Royalbauchgordinge, 149 KreuzRoyalbauchgordinge, 150 Jigger-Royalbauchgordinge, 151 Fock-Nockgordinge, 152 Groß-Nockgordinge, 153 Kreuz-Nockgordinge, 154 Jigger-Nockgordinge, 155 VorBramnockgordinge, 156 Groß-Bramnockgordinge, 157 Kreuz-Bramnockgordinge, 158 Jigger-Bramnockgordinge, 159 Besangaffel-Haltetau, 160 Flaggleine, 161 Ruderhorn und 162 Sorgleinen.
37 Schnösel nicht weiter und stellte auch Ben Brighton vor. Godfrey rea gierte lediglich mit einer flüchtigen, gönnerhaft wirkenden Kopfbewe gung. Hasard blickte an ihm vorbei zum Achterdeck der Schebecke. „Mister O'Flynn, was war los?" fragte er laut und vernehmlich und mehr der Ordnung halber, da sich je der normale Seemann an drei Fin gern ausrechnen konnte, was sich ab gespielt hatte. „Die Gentlemen Godfrey, Morris und Davenport", erwiderte Dan, „ha ben wahrscheinlich das Fassungsver mögen unserer Laderäume über schätzt. Außerdem war nicht davon die Rede, daß die Gentlemen vorhat ten, eine größere Partie Waren zu ver schiffen." Hasard bedankte sich mit einem Handzeichen. „Allerdings", wandte er sich wie derum Godfrey zu, „davon hat die Königin nichts erwähnt. Ich emp fehle Ihnen und Ihren Freunden, Sir William, ein geeignetes Schiff zu chartern, damit es Ihre Fracht für Virginia an Bord nimmt und sich ge gebenenfalls unserem Verband an schließt." Sir William starrte ihn mit offenem Mund an. Seine Gesichtshaut rötete sich, seine Nase wurde purpurn. Meh rere Sekunden lang brachte er keinen Ton hervor. Morris hatte seine Geistesabwesen heit aufgegeben und blickte ihn vol ler Geringschätzung an, als könne er ihn dadurch veranlassen, seine Empfehlung schleunigst zurückzu nehmen. Davenport schrie vor Wut. „Das ist keine Fracht, verdammt noch mal!"
Er hüpfte schräg hinter Carberry auf und ab, und hieb mit seinen Fäusten in die Luft. Seine Stimme steigerte sich zum Kreischen. „Laß dich nicht von diesem verfluchten Killigrew auf den Arm nehmen, William! Erkläre ihm, daß das keine Fracht ist, son dern unser..." Er verstummte jäh, denn der Profos hatte sich langsam umgedreht. Davenport wollte zurück weichen, aber hinter ihm war die grinsende Front der Arwenacks. Im nächsten Moment verschluckte er sich. Carberrys Riesenfäuste leg ten sich um seine Oberarme, drück ten sie an den Körper und hoben ihn mühelos hoch. Er gurgelte gequält, und sein Gesicht nahm jenes Kalk weiß an, das es an Bord der Sche becke schon sooft gezeigt hatte. „Entschuldige dich bei Sir Hasard, du vorlautes Würstchen", sagte Car berry in einem Ton, der nur schein bar freundlich war. ,,Entschuldige dich, oder du übernimmst die Reise nach Virginia als Galionsfigur." „Ich - ich entschuldige mich, Sir Hasard!" schrie Davenport. Hasard gab mit einem Handzeichen zu verstehen, daß er die Entschuldi gung annähme. Der Profos ließ den Kalkweißen kurzerhand fallen. Frank Davenport landete der Länge nach auf den Plan ken. Sein Geschrei verstummte, und er war vorerst nicht mehr oberhalb der Verschanzung zu sehen. Sir William Godfrey hatte die Sprache wiedergefunden. „Sir Hasard", sagte er mit unerwar teter Schärfe. „Ich protestiere ener gisch gegen diese Art der Behand lung. Ich fordere Sie hiermit auf, un verzüglich unser Gepäck an Bord Ih
38 res Schiffes schaffen zu lassen. Ande renfalls sehe ich mich gezwungen, bei der Königin persönlich Beschwerde einzulegen. Sie hat die Gentlemen Davenport, Morris und mich schließ lich mit dem Aufbau der Kolonie Vir ginia beauftragt." „Was, bitte sehr, sollen wir an Bord schaffen?" fragte Hasard mit gespiel ter Begriffsstutzigkeit. „Unser Gepäck natürlich. Zu was haben wir es letzten Endes herbrin gen lassen?" Godfrey deutete mit ei ner energischen Handbewegung auf die Frachtwagen. Hasard blinzelte. „Es war nur von drei Passagieren die Rede. Nicht von dreihundert." „Dies ist unser Gepäck!" brüllte Godfrey, indem er mit zitternd ausge strecktem Arm zu den hochbelade nen Wagen wies. „Drei Wagen, wie Sie sehen. Und wir sind drei Perso nen. Mann, ist das so schwer zu be greifen?" Der Seewolf sah ihn einen Moment ruhig an. „Schwer zu begreifen ist das in der Tat", sagte er dann. Seine Stimme wurde schneidend. „Nehmen Sie fol gendes zur Kenntnis, Sir William: An Bord meines Schiffes haben Sie sich meinen Anweisungen zu fügen. Das Wort des Kapitäns ist Gesetz, das ist in der Seefahrt nun einmal so üblich. Und mit dieser Narrenposse ist jetzt Schluß. Als Passagier an Bord der Schebecke steht Ihnen Gepäck von höchstens einer normalen Seekiste Umfang zu. Darüber hinaus nur das, was Sie auf dem Leib tragen. Ist das klar?" Sir William rang nach Atem. „Das kann nicht Ihr Ernst sein",
keuchte er. „Ich werde - ich werde..." „Tun Sie, was Sie wollen", sagte der Seewolf. „Als Passagiere gelangen Sie drei nur mit je einer Seekiste an Bord. Schluß der Debatte." Er ging kurzerhand an ihm vorbei. Ben Brighton folgte ihm grinsend. Morris wollte sich den beiden Män nern in den Weg stellen, ließ es aber, als er den Blick des Seewolf spürte. Nachdem Hasard und Ben aufgeen tert waren, brauchte Carberry nur furchterregend mit rollenden Augen zu blicken, um Frank Davenport auf die Pier zu scheuchen. Dann konnten die Arwenacks in aller Ruhe beobach ten, was sich weiter abspielte. Eine Weile steckten die ehrenwer ten Gentlemen die hochroten Köpfe zusammen und beratschlagten. Doch selbst nach einer halben Stunde konnte sich keiner von ihnen ent schließen, abzuziehen, um die ange drohte Beschwerde bei der königli chen Lissy loszuwerden - geschweige denn, daß sie einen Boten mit einer schriftlichen Eingabe losschickten. Nach ungefähr einer Dreiviertel stunde gaben die Gentlemen viel mehr Befehl, die Planen zu lösen und abzuladen. Den Rest des Tages verbrachten sie mit Umpacken.
Schon lange war die Dunkelheit hereingebrochen, aber noch immer herrschte im Haus keine Ruhe. Kin der schrien, als ahnten sie die Ängste voraus, von denen sie im finsteren Bauch des Schiffs gepeinigt werden würden.
39 Männer redeten laut, und aus ver schiedenen Winkeln des Hauses war Gelächter zu hören. Manche gaben ihre letzten Pennys für Absinth aus, betäubten ihre Angst mit Alkohol und gaukelten sich vor, ständig an ei nem Feiertag zu leben. Andere bete ten. Frauen sangen ihre Kinder in den Schlaf. Harriet Mercer war nach einem un ruhigen Tag endlich eingeschlafen. Delia nahm ihrer Mutter den letzten feuchten Umschlag ab und zog die Decke höher, bis an das Kinn der Kranken. „Ihr Fieber ist gesunken, glaube ich", sagte Delia leise, indem sie sich der einzigen, winzigen Lichtquelle des Zimmers zuwandte. Eine Kerze brannte blakend auf ei ner Kiste. Roderick Mercer und sei ne beiden Söhne würfelten auf einem Tuch, um keine Geräusche zu verur sachen. Die Männer hockten auf den unteren Kanten der primitiven dop pelstöckigen Betten. Sie blickten von ihrem Spiel auf und wandten sich dem Mädchen zu. „Bist du sicher?" fragte Roderick Mercer. „Ziemlich", erwiderte Delia. „Hat die alte Frau nicht auch gesagt, daß es wahrscheinlich schon heute abend oder in der Nacht allmählich besser werden würde mit ihr?" „Das", rief Brian halblaut, „kann sie auch im Interesse ihres Geschäfts gesagt haben! Soll sie unser gutes Geld kassieren und gleichzeitig zuge ben, daß ihre Heilkünste nichts tau gen?" „So dumm kann sie nicht sein", fügte Stacy hinzu. „Das würde sich wie ein Lauffeuer herumsprechen,
und sie wäre in ein paar Tagen ihre gesamte Kundschaft los." Delia vergewisserte sich noch ein mal, daß ihre Mutter gut zugedeckt war und sich nicht im Schlaf herum wälzte. Dann nahm sie ihren Schemel und setzte sich zu ihren Brüdern und ihrem Vater. Der Kräutertee in ihrem Becher war erkaltet. Sie trank den noch einen Schluck. Das Rezept, so hatte die alte Frau gesagt, sei gut ge gen allerlei Krankheiten, von denen man während einer Schiffsreise ge plagt werden könne. „Ihr seid ungerecht", sagte Delia. „Ich bin überzeugt, daß die Frau ehr lich ist. So unverschämt waren ihre Forderungen letzten Endes auch nicht." „Sie hat uns insgesamt drei Pfund abgenommen", entgegnete Roderick Mercer dumpf. „Das soll nicht hei ßen, daß es mir leid tut. Nichts ist für eure Mutter zu teuer, wenn nur ihre Gesundheit wiederhergestellt wird. Nur, wir sollten uns nichts vorgau keln und so tun, als würden wir wirk lich morgen an Bord gehen. Ich brauche nicht einmal mehr mit die sem Halsabschneider Granville zu re den. Wir können nicht bezahlen. Punktum. Wir können vom Rest des Geldes die Miete für diese Bude be rappen, und dann sitzen wir auf der Straße. Wenn dann nicht wenigstens einer von uns Arbeit gefunden hat..." Er hob die Hände zu einer hilflosen Geste und ließ sie wieder sinken. Delia hatte längst beschlossen, ihr Geheimnis nicht länger für sich zu be halten. Sie hatte nur auf einen günsti gen Zeitpunkt gewartet, denn sie hatte ihre Mutter nicht mit Mutma
40 ßungen belasten wollen, die sie un weigerlich angestellt hätte. Sie gab sich einen Ruck. „Ihr braucht euch nicht länger den Kopf zu zerbrechen", sagte sie. „Wir haben genug Geld, um Granvilles Wucherpreis zu zahlen." Ihr Vater und die Brüder starrten sie an. Roderick Mercer runzelte die Stirn. „Du warst heute, gestern und vor gestern oft fort", sagte er gedehnt. „Sehr lange, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Obwohl du überhaupt keine Besorgungen zu erledigen hat test." „Was, zum Teufel, hast du ange stellt?" stieß Brian leise hervor. „Nichts, weswegen ich mir Vor würfe bereiten müßte", erwiderte De lia lächelnd und holte einen schweren Lederbeutel unter ihrem Rock her vor. Sie setzte den Beutel auf den Tisch, und das harte Geräusch vieler übereinanderliegender Münzen war zu hören. Vater und Söhne starrten den Geld beutel an, als handele es sich um ei nen Gegenstand, der mit einem Ver bot behaftet sei. Roderick Mercer wandte sich ruckartig wieder seiner Tochter zu. „Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu", erklärte er rauh. „Sag es mir, Delia, wenn es etwas Unrechtmä ßiges ist. Ich will meine Hände nicht an etwas verbrennen, für das ich mich später selbst hassen würde. Lie ber verzichte ich auf..." „Dad", unterbrach ihn Delia sanft. „Hör mich erst einmal an. Hört mich alle drei an. Ich erzähle euch, was ge wesen ist. Ich werde nichts weglas sen, ihr sollt alles wissen."
„Himmel", sagte Stacy und ver suchte ein Grinsen. „Hätte nicht ge dacht, daß es noch so ein spannender Abend wird. Schieß los, Schwester herz, spann uns nicht länger auf die Folter." Sein Bruder und sein Vater ließen sich von seiner aufgesetzten Heiter keit nicht anstecken. Sie blickten De lia unverwandt fordernd an. „Bitte, öffnet zunächst den Beutel", bat sie. ,,Es sind hundert Pfund, die ich verdient habe." Die Augen der drei Männer wurden weit. „Hundert Pfund", fragte Brian un gläubig. „In diesen paar Tagen hast du hun dert Pfund verdient?" rief Stacy fas sungslos. „Du willst uns doch wohl nicht erzählen, daß du mit ehrlicher Arbeit …" Er unterbrach sich. Sein Blick wurde starr. „Nein", flüsterte er im nächsten Moment. „Das kann ich nicht glauben. Meine Schwester hat sich verkauft!" „Keiner rührt das Geld an", ent schied Roderick Mercer energisch. „Wir wollen kein Geld, das unserer Familie Schande bereitet. Niemals!" Delia nickte geduldig und zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ich habe er wartet, daß ihr so reagieren würdet. Und weil ich damit gerechnet habe, mußte ich bisher schweigen. Ich wollte nichts zerstören, was sich durch eine gütige Fügung ergeben hatte." „Du sprichst in wohlklingenden Rätseln", sagte ihr Vater. „Rede bitte so mit uns, daß wir es auch verstehen. Wir sind einfache Leute - wir sind es immer gewesen, und wir werden es immer bleiben. Hundert Pfund in
41 drei Tagen, das ist - das ist ..." Er fand keine Worte mehr. Schließlich rang er sich dazu durch, seine Tochter anzusehen und ihr die Frage zu stellen: „Sag es uns klar und deutlich, Delia. Stimmt es, was Stacy sagt? Hast du es für Geld mit Män nern getrieben? Bist du eine ..." Et was würgte in seiner Kehle. „Nein, Dad", entgegnete Delia mit fester Stimme. „Ich habe ein reines Gewissen, denn ich habe nichts der gleichen getan. Ich gebe zu, daß ich es vorhatte und in der Absicht auch durch die Gassen und Straßen gezo gen bin. Aber mich hat sehr schnell der Mut verlassen. Ich habe gemerkt, daß ich so etwas nie tun könnte. Nie mals!" „Aber du hast hundert Pfund", sagte Stacy. „Die Sache wird immer spannender. Hast du das Geld etwa geklaut?" „Nein. Es ist alles rechtmäßig, und ihr könnt es nachprüfen, wenn ihr wollt. Es war so: Irgendwie war ich in eine bessere Gegend geraten, wo wohlhabende Leute wohnen. Plötz lich hielt eine Kutsche neben mir, und ein älterer Gentleman forderte mich auf, einzusteigen. Ich dachte, jetzt geschieht das, was du vorhattest und vor dem du weglaufen wolltest. Aber der Gentleman war so freund lich, daß ich die Angst verlor. Und dann, als ich zu ihm in die Kutsche gestiegen war, erklärte er mir, um was es ihm ging. Er versuchte durch nichts sich mir irgendwie zu nähern. Er fragte mich, für was ich Geld brauche. Und wieviel. Ich erzählte ihm alles. Dann sagte er, ich könnte sehr viel Geld von ihm haben, denn er sei ein reicher Mann, und Geld bedeu
tet ihm nichts. Was ich allerdings da für tun müßte, sei so schwer und ko ste so unendlich viel Überwindung, daß er nur selten ein junges Mädchen fände, das sich dazu durchringen könne." „Klingt wie ein Märchen", sagte Brian spöttisch. „Vielleicht mußtest du ein Schwein küssen, damit es sich in einen fetten Haufen Geld verwan delte, was?" Er stieß die Atemluft durch die Nase und wies auf den Le derbeutel auf dem Tisch. „Es ist kein Märchen", widersprach Delia und schüttelte energisch den Kopf. „Ich sagte schon, ihr könnt al les nachprüfen, jede Kleinigkeit. Der Gentleman erklärte mir, daß er vor einem Jahr Witwer geworden sei und nun niemanden mehr habe, der sich um seine Tochter kümmere. Seine verstorbene Frau sei der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der sich seiner Tochter habe zuwenden können. Ich verstand das nicht sofort. Aber er erklärte mir, daß ich mögli cherweise einen Schock erleiden würde, wenn ich seine Tochter sähe. Sie sei erwachsen, sei aber völlig hilf los und könne kein eigenständiges Le ben führen. Ihr Verstand entspreche dem eines dreijährigen Kindes. Viel schlimmer sei aber ihr Äußeres. Sie sei so entstellt, so furchtbar verwach sen, daß fast alle Mädchen, die er als Spielgefährten zu ihr gebracht habe, schreiend davongelaufen seien." „Eine unglaubliche Geschichte", sagte Roderick Mercer kopfschüt telnd. „Warum kümmert sich dieser Gentleman nicht selbst um seine Tochter, wenn er so reich ist?" „Er tut es abends und in der Nacht, wenn sie nicht schlafen kann. Aber
42 tagsüber muß er arbeiten. Er erklärte mir, daß man nicht glauben dürfe, Reichtum erhalte sich von selbst. Er muß dafür arbeiten. Er ist kein Adli ger, der sein Vermögen geerbt hat. Er ist ein Handelsmann, der alles durch ehrliche Arbeit erworben hat." „Wenn ich dich richtig verstehe", entgegnete ihr Vater mit gefurchter Stirn, „hast du es also fertiggebracht, seinem Monstrum von einem Kind die Zeit zu vertreiben. So ungefähr?" „Du sprichst zu hart von diesem ar men Wesen, Dad. Als ich ihr gegen überstand, war es in der Tat ein Schock für mich. Dieses arme Ge schöpf sieht grauenhaft aus. Mary ist ihr Name. Würde man ihr unvorbe reitet im Dunkeln begegnen, könnte man sie für eine Kreatur des Teufels halten." „Und du bist nicht schreiend weg gelaufen?" „Ich war drauf und dran, als mich Mister Baldwin - so heißt der Gentle man - in ihr Zimmer geführt hatte. Aber dann merkte ich auf einmal wie Mary mich ansah. In ihren Augen war etwas, das mich zutiefst an rührte. Ich blieb und spielte mit ihr all die Kinderspiele, die ich kenne. Und Mister Baldwin war glücklich, als er sah, wie gut wir miteinander zu rechtkamen. Am liebsten sagte er, würde er mich für immer in seinem Haus behalten. Aber er wisse auch, daß kein Mensch eine solche Bela stung für längere Zeit aushielte. Ich werde morgen noch einmal zu ihm ge hen, bevor wir an Bord der ,Discove rer' einzutreffen haben, und eine letzte Stunde mit Mary verbringen und mich von ihr verabschieden."
Die Männer wechselten Blicke und schwiegen lange. „Ich meine", sagte Brian schließ lich, „wenn wir ihr nicht glauben, kön nen wir ja hingehen und nachsehen." „Mister Baldwin hat es mir empfoh len", sagte Delia. „Er meinte selbst, daß die Angelegenheit für meine Fa milie so unglaublich klingen müsse, daß er gern bereit sei, das Ganze zu erklären." Roderick Mercer atmete tief durch. „Aber es würde, dann so aussehen, als mißtraute ich meiner eigenen Tochter - als hielte ich sie für eine Lügnerin." Delia sah ihn einen Atemzug lang stumm an. Dann sprang sie auf und umarmte ihn. „Ich bin ja so froh, Dad! Wir werden alle gemeinsam nach Vir ginia fahren und dort genug Geld ha ben, um ein gutes neues Leben anzu fangen." „Ja", antwortete ihr Vater mit hei serer Stimme. „Und wir werden dabei nie vergessen, daß du es uns ermög licht hast." „Nicht ich allein", widersprach De lia. „Ohne das Geld, das du gespart hast, hätten wir London niemals er reicht." Roderick Mercer nickte und lä chelte. Dann öffnete er den Lederbeu tel und schüttete die schweren Mün zen langsam auf den Tisch. Das Sil bergeld funkelte im Kerzenlicht. 7. Robert Granville fühlte sich etwas wohler, nachdem er den Inhalt des dritten Humpens in sich hineinge schüttet hatte. Das Bier in dieser Schenke, die sich „Devil's Horn"
43 nannte, war vorzüglich. Der Wirt ver fügte über eine eigene Brauerei, die er in den angrenzenden Gebäuden rings um den Hinterhof betrieb. Granville saß allein an einem klei nen Ecktisch und ließ sich von Lärm und Stimmengewirr einhüllen. Es wirkte beruhigend auf ihn, allein und doch nicht allein zu sein. Er bedauer te zutiefst, daß man an Bord eines Schiffes keine Brauerei einrichten konnte, nicht einmal behelfsmäßig. Bier in Fässern zu transportieren, bot keinen vollwertigen Ersatz, da es rasch seinen Geschmack veränderte und nicht mehr im entferntesten mit dem frisch gebrauten Gerstensaft zu vergleichen war, den man in engli schen Kneipen erhielt. Aus diesem Grund und wegen sei nes Kummers winkte Granville das dralle Schankmädchen zu sich. Er kniff der ansehnlichen blonden Per son ins Hinterteil, und sie erduldete es, ohne mit der Wimper zu zucken. „Bring mir noch einen Humpen, schönes Mädchen", sagte er weiner lich. „Mehr werde ich von dir ja doch nicht zu erwarten haben." Sie strich ihm mitleidig über die Wange, bevor sie das leere Trinkge fäß aufnahm. „Das hängt davon ab, wie nett du bist, Dickerchen." Sie lachte und ließ ihn mit einer eindeuti gen Geste erkennen, daß sie „nett" gleichsetzte mit der Höhe eines Geld betrages. Robert Granville seufzte schwer, während er ihr nachblickte und den Schwung ihrer Hüften bewunderte. Ausgerechnet jetzt an Geld denken zu müssen, war eine schwere Bela stung. Die Geschäfte liefen schlecht. Nein, schlecht war überhaupt kein
Ausdruck. Es lief praktisch gar nichts mehr, seit Killigrew, dieser Mistkerl, aufgekreuzt war. Granville hatte seine Kapitänskam mer verlassen, die sonst stets behagli cher Zufluchtsort für ihn war. Auf einmal hatte er sich dort beengt ge fühlt. So wie er auch in seiner Ent scheidungsfreiheit eingeengt war. Er hatte die Freiheit gebraucht, durch die Gassen zu streifen, sich in einer x-beliebigen Schenke niederzu lassen, und den lieblichen Saft zu schlürfen, den man Bier nannte. Die ser Killigrew hatte es allen Ernstes fertiggebracht, seine Männer loszu schicken, damit sie das Einschiffen der ersten Passagiere überwachten. Sie hatten ihm auf die Finger ge schaut, als er von denen, die nicht im voraus bezahlt hatten, das Geld für die Überfahrt kassiert hatte. Hölle und Teufel, er war einfach nicht in der Lage gewesen, hier und da ein paar Sondergebühren festzusetzen. Wer von den Dorftrotteln begriff schon, was ein „Präferenzplatz mitt schiffs" war? Oder eine „Privileg-Po sition im Vorschiff"? Nichts davon konnte er sich mehr extra bezahlen lassen, denn die Killigrewmänner sa hen verdammt so aus, als hätten sie keinerlei Verständnis dafür, daß ein Kapitän kraft seines Amtes gewisse Sonderrechte beanspruchen durfte. Beim Gehörnten, es gab seines Wis sens überhaupt keinen Kapitän, der die Vorzüge seiner Amtsstellung etwa nicht ausnutzte. Abgesehen von Killigrew natürlich. Der Schuft konnte es sich auch noch leisten, so verflucht hartherzig zu sein. Es war bekannt, was er bei der Königin für einen Stein im Brett
44 hatte. Das lief praktisch darauf hin aus, daß er sich alles leisten konnte und von ihr auch noch unterstützt wurde. Seinetwegen hatte sie sogar Essex brüskiert, ihren Earl of Essex, das „wilde Pferd". Es hatte sich schnell in den Hafenkneipen Londons herumge sprochen, wie sie den armen Grafen angefahren hatte, als er bei der Über gabe der Schatzgaleone „Fidelidad" gewagt hatte, Killigrew nur vorsich tig zu kritisieren - seine angeblich so großartigen Leistungen ein wenig ins rechte Licht zu rücken. Essex war damit nicht durchge drungen, und er hatte klein beigeben müssen. Diese Niedergeschlagenheit mußte einfach auch dazu beigetragen haben, daß er mit seiner Jacht beim Wettsegeln gegen den lausigen Killi grewkahn den kürzeren gezogen hatte. Unter normalen Umständen hätte Essex überhaupt nicht verlie ren können. Aber Elizabeth hatte ihn eben der art erniedrigt, daß er nicht mehr in der Lage gewesen war, die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeit punkt zu treffen. Man konnte es jedenfalls drehen und wenden, wie man wollte, gegen Killigrew war man machtlos. Im un mittelbaren Einflußbereich der Köni gin war gegen ihn kein Kraut gewach sen. Und wenn man London erst ver lassen hatte, war sowieso alles sinn los. Schließlich konnte man schlecht nachträglich Zusatzgebühren verlan gen. Selbst der dümmste Einfaltspin sel würde einen auslachen. Das Schankmädchen brachte den neuen Humpen. Er flüsterte ihr ein Angebot ins Ohr, während sie sich
über den Tisch beugte und ihm einen Blick in den Ausschnitt ihrer Bluse gewährte. Augenzwinkernd ver sprach sie, ihm noch im Laufe der nächsten Stunde Bescheid zu geben, ob sie sein Angebot annehmen würde. Er fühlte sich besser und trank das frische Bier mit genießerisch langsa men Schlucken. Gesprächsfetzen von einem der Nachbartische drangen plötzlich in sein Bewußtsein vor. Nein, es war ein Name, der ihm aufgefallen war. Da! Da wurde er wieder genannt! Mercer. „... muß ja eine Familie sein! Also, dieser Bursche namens Mercer schickt doch tatsächlich sein hüb sches Töchterchen los..." Das Durcheinandermurmeln war nicht mehr zu verstehen. Dann wie der: „... ist gesehen worden..." „... erst in die Kutsche, dann ins Haus..." „... und beileibe nicht nur an einem Tag..." „... heißt Delia, die Kleine. Soll eine wahre Augenweide sein!" aber so jung und schon so ver dorben!" Die Stimmen schwollen an. Bei der Vorstellung von der Verruchtheit des Mädchens redeten sich die Kerle buchstäblich in lautstarke Begeiste rung. Robert Granville lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fühlte sich auf einmal rundum zufrieden. Sein Kummer verflog. Es war ein Abend, der sich prachtvoll entwickelte. Den Hinweis auf die Mercertochter würde er zu verwerten wissen. Das Bier schmeckte noch besser, als er
KAPTAIN STELZBEIN 2009
46 den nächsten Humpen bestellte. Das Schankmädchen wisperte ihm zu, daß es sein Angebot annehmen werde, wenn er es nur noch geringfü gig erhöhe. Er legte ein volles Pfund drauf. Er war in der Stimmung dazu, und am freudigen Lächeln der drallen Person konnte er ablesen, daß dem angeneh men Abend eine gelungene Nacht fol gen würde. Gerade das Richtige, was ein hart arbeitender Kapitän vor ei ner Atlantiküberquerung brauchte.
„Name?" schnarrte Alec Morris. Seine Miene drückte Abscheu dar über aus, daß er sich überhaupt mit jemandem abgeben mußte, der vom gesellschaftlichen Status her Ab gründe tief unter ihm stand. „Bill", antwortete der schwarzhaa rige junge Mann, der dem arroganten Blick furchtlos standhielt. „Bill was?" fuhr ihn der Adlige an. „Ich habe nur den einen Namen, Sir." „Das gibt es nicht!" schrie Morris. „Du willst mich auf den Arm neh men, Freundchen! Erst die Befehls verweigerung und dann dies! Jetzt ist das Maß voll. Ich werde dafür sorgen, daß du bestraft wirst. Auf der Stelle. Vorwärts, marsch!" Bill schüttelte den Kopf. „So nicht, Sir. Niemand hier an Bord ist ver pflichtet, von Ihnen Befehle entge genzunehmen. Deshalb kann es auch gar keine Befehlsverweigerung ge ben. Ich bin allerdings gern bereit, mit Ihnen zu Sir Hasard zu gehen und die Angelegenheit zu besprechen." Morris schnappte nach Luft.
„Das ist ungeheuerlich", flüsterte er. „Einfach ungeheuerlich. Ich werde dafür sorgen müssen, daß an Bord dieses Schiffes eine Untersu chung stattfindet. Und zwar rechtzei tig, bevor wir auslaufen. Ich denke nicht daran, ausgerechnet auf einem potentiellen Meutererschiff eine Reise über den Atlantik anzutreten. Da muß rechtzeitig ein Riegel vorge schoben werden. Sir Williams Ein fluß bei Hofe wird ausreichen, um das Erforderliche in Gang zu setzen." „Wir treffen uns auf dem Achter deck", sagte Bill und ließ es geradezu erwartungsfreudig klingen. „Sir Ha sard ist um diese Zeit bereits drei Stunden an Deck." Er wandte sich ab, ohne eine abermalige gebrüllte Ent gegnung des Schnösels abzuwarten. Morris überhörte unterdessen den unverblümten Hinweis darauf, wie ausgedehnt die Gentlemen ihre Ko jen abgehorcht und anschließend ge frühstückt hatten. Er stelzte eilig aus der Kammer und zur Messe hinüber, wo Godfrey und Davenport noch immer in aller Ruhe gebratenen Schinken und Spie geleier in sich hineinstopften und dazu frisch gebackenes Brot genos sen, das ihnen eigens von Boten an Bord des Schiffes gebracht worden war - um ein letztes Mal die Vorzüge der Landverbundenheit zu nutzen, wie Sir William das ausgedrückt hatte. Alec Morris beugte sich durch das offene Schott. „Ich brauche eure Un terstützung! Dieser unverschämte Wicht von einem Decksmann gesteht seine Befehlsverweigerung offen ein. Ihr müßt mir helfen, daß ich mich bei Killigrew durchsetze. Jetzt muß
47 wirklich einmal hart durchgegriffen werden, damit wir hier an Bord nicht untergehen." „Solange nur das Schiff nicht un tergeht", entgegnete Frank Daven port feixend. „Du hast gut reden!" fauchte Mor ris. „Reicht es dir nicht, das eine Mal in der Vorpiek gesessen zu haben?" „Doch, eben drum. Deshalb lege ich mich mit Killigrew oder einem von den anderen Bastarden erst wieder an, wenn ich mich körperlich und see lisch gestärkt habe." Morris preßte die Lippen aufeinan der und schüttelte den Kopf. „William!" rief er geradezu flehent lich. „Das kannst du doch nicht zulas sen! Ihr müßt mich doch unterstüt zen! Ich meine, es geht euch doch letz ten Endes genauso an wie mich." Godfrey betupfte sich mit einem Tuch die Lippen und wandte sich dem jüngeren Mann zu. „Alec, ich bitte dich! Siehst du nicht, daß wir unser Frühstück noch nicht beendet haben? Außerdem setzt du dich so ve hement für die Sache ein, daß du es wirklich allein schaffen solltest. Du wirst doch wohl in der Lage sein, Kil ligrew die Meinung zu sagen. Him mel, das wirst du doch zustande brin gen!" Morris schluckte. Dann begriff er. Sie wollten ihn herausfordern und es zu einer Prüfung für ihn werden las sen. „Also gut", sagte er grimmig ent schlossen und straffte seine Haltung. „Ich komme schon allein zurecht. Keine Sorge. Auf euch bin ich über haupt nicht angewiesen. Wenn ihr denkt, ich kann mich nicht durchset zen, habt ihr euch getäuscht."
Godfrey beugte sich zu Davenport vor und sagte halblaut und grinsend: „Das Komische an ihm ist, daß es bei ihm umgekehrt ist als bei den mei sten anderen. Wenn er was getrunken hat, kriegt er meist das heulende Elend. Und wenn er nüchtern ist, fühlt er sich stark." Davenport kicherte. „Lacht nur über mich!" schrie Mor ris. „Wenn ihr heute nacht in euren verlausten Kojen nicht friert, werdet ihr mir dankbar sein!" ,,Aber ja!" rief Davenport gluck send. „Wir werden es wirklich zu schätzen wissen. Also tu's schon. Setz dich ein bißchen für uns ein!" Alec Morris drehte sich auf dem Absatz um, ohne noch etwas zu erwi dern. Bei nächster Gelegenheit würde er sich mit Sir William gegen Daven port verbünden. Es gab immer wie der Möglichkeiten genug, jemanden mit Worten kleinzukriegen. Auf dem Achterdeck standen Kil ligrew, O'Flynn, dieser Spanier de Al cazar, Brighton und natürlich der junge Strolch, der sich erdreistet hatte, die Anordnung eines Alec Mor ris nicht auszuführen. Natürlich würde er seinem hochgeschätzten Ka pitän die Geschichte schon brüh warm aus seiner Sicht berichtet ha ben. Widerstrebend zwang sich Morris, zu berücksichtigen, daß er den Killi grewbastard nicht unnötig herausfor dern durfte. Ein Aufschrei der Empö rung war damals durch gewisse Adelskreise gegangen, als ihn Köni gin Elizabeth I. zum Ritter geschla gen und ihm den Titel „Sir" verliehen hatte. Aber man hatte sich damit ab finden müssen.
48 Leider konnte er zumindest hier in London große Töne spucken, weil er Rückenstärkung durch die hirnris sige Alte hatte, die einfach nicht ster ben wollte. „Sir Hasard", sagte Morris mit er hobenem Kopf, nachdem er breitbei nig stehengeblieben war und die Hände auf den Rücken gelegt hatte. „Als Kapitän dieses Schiffes sind Sie verpflichtet, für Disziplin und Ord nung zu sorgen." „Vielen Dank für die Belehrung", erwiderte der Seewolf spöttisch. „Ich nehme an, Sie haben das nicht als ei nen allgemeinen Hinweis gedacht." „Keineswegs", entgegnete Morris. „Es geht um diesen unverschämten Lümmel namens Bill, wie Sie sehr wohl wissen. Ich verlange, daß Sie ihn unverzüglich zurechtweisen und ihn über seine Pflichten gegenüber meinen Mitpassagieren und mir auf klären." „Das wird nicht nötig sein", entgeg nete Hasard. „Seine Pflichten beste hen darin, Ihnen gegenüber so höflich zu sein, wie es sich unter zivilisierten Christenmenschen gehört, und im üb rigen seinen Dienst zu tun, den ich ihm innerhalb der Crew zugewiesen habe." „Reden wir nicht drumherum", sagte Morris bissig. „Er hat sich eine Befehlsverweigerung erlaubt und ist daher schuldig. Sie haben ihn dafür disziplinarisch zu bestrafen und da für zu sorgen, daß so etwas nicht wie der passiert." Hasard und seine Gefährten be mühten sich, äußerlich ruhig und ge lassen zu bleiben. Sie wußten aber nur zu gut, daß es absolut keinen Sinn hatte, sich durch diesen Inbe
griff eines Schnösels aus dem Gleich gewicht bringen zu lassen. Mit Aus brüchen gerechten Zorns erreichte man bei diesen Burschen überhaupt nichts. „Das ist nicht möglich", antwortete der Seewolf. „Was?" schnappte Morris. „Was ist nicht möglich?" „Daß er einen Befehl verweigert hat. Er hat alle Befehle, die einer mei ner Stellvertreter oder ich gegeben haben, ausgeführt." „Stellen Sie sich nicht dumm!" schrie Morris. „Es geht um einen Be fehl, den ich ihm erteilt habe!" „Ach, ja?" Hasard grinste mit un verhohlenem Spott. „Mir ist nicht be kannt, daß Sie und Ihre beiden Ge nossen auch nur die geringste Be fehlsgewalt an Bord dieses Schiffes hätten. Um was für einen sogenann ten Befehl sollte es sich denn gehan delt haben?" „Das wissen Sie verdammt genau! Ich habe angeordnet, daß er für un sere Wärmflaschen verantwortlich ist. Das heißt, er hat sie am späten Vormittag unaufgefordert in die Kombüse zu bringen und abends rechtzeitig wieder in unsere Kojen zu legen - mit heißem Wasser gefüllt, natürlich." Dan O'Flynn, Don Juan und Ben Brighton mußten lachen. Auch Bill konnte sich ein Grinsen nicht ver kneifen. Morris lief rot an. „Ich weiß nicht, was daran so erhei ternd sein soll!" keifte er. „Keiner von uns wird sich die Mühe bereiten, auch nur zu versuchen, Ih nen das zu erklären", erwiderte der Seewolf. „Es wäre sowieso zwecklos.
49 Waren Sie schon einmal an Bord ei nes Schiffes, das den Atlantik über querte?" „Nein, warum?" „Weil Sie in ein paar Tagen kaum noch an Wärmflaschen denken wer den, Mister Morris. Wie auch immer: Wenn Sie die Dinger unbedingt brau chen, dann besorgen Sie sich selbst das heiße Wasser aus der Kombüse. Ist das klar?" Morris' Kinnlade sackte herunter. Er stierte den Seewolf an und öffnete und schloß die Augen dabei, als könne er sich ein klareres Bild ver schaffen. „Weder Sie noch Sir William oder Mister Davenport haben irgendei nem Crewmitglied Befehle zu ertei len", fuhr der Seewolf fort. „Sie kön nen bestenfalls jemanden um einen Gefallen bitten, den er Ihnen sicher lich auch tun wird, wenn Sie sich an ständig benehmen. Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Versuchen Sie nicht noch einmal, ei nen meiner Männer zu demütigen, in dem Sie derartig lächerliche und er niedrigende Dienstleistungen verlan gen. Noch Fragen?" Morris konnte nur schlucken. „Im übrigen", sagte Hasard, „gilt auch für Sie und Ihre Freunde die Bordroutine. Sie werden sich mor gens aus der Koje bequemen und die erste Mahlzeit einnehmen, wenn alle anderen es auch tun. Die Kombüse wird Ihretwegen nicht noch einmal extra angeheizt." Morris drehte sich einfach um und stelzte davon. Er sah aus wie ein Mann, der die schlimmste Niederlage seines Lebens erlitten hatte. Er war froh, sich in die Achterdeckskammer
zurückziehen zu können, um den spöttischen Blicken der Arwenacks zu entrinnen. Doch dafür erntete er den Hohn Godfreys und Davenports, als er ih nen Bericht erstattete. 8. Die Pier der Pilgerschiffe war das reinste Chaos. Noch trieben Nebelschwaden über den grauschwarzen Fluten der Themse, und es war so kühl, wie es an jedem Tag im April gewesen war. Doch einige trügerische Sonnenstrah len blinzelten herab und schienen die Menschen zu beflügeln. Diese weni gen Lücken, die in der Wolkendecke entstanden waren, bewirkten einen völligen Stimmungsumschwung. Halb London schien sich auf der „Discoverer" noch für die Reise über den Atlantik einschreiben zu wollen. Bei der „Pilgrim" und der „Explorer" drängten sich all jene, denen die Un terdecksplätze bereits sicher waren und die nun darauf warteten, endlich an Bord gelassen zu werden. Roderick Mercer schloß sich gedul dig der Menschentraube an, die sich vor der „Discoverer" gebildet hatte. Er wußte, daß Auswanderer ver pflichtet waren, neben dem persönli chen Gepäck bestimmte Ausrü stungsgegenstände, Werkzeuge und auch Waffen mitzuführen. Das mußte bei jedem einzelnen überprüft werden. Eine langwierige Angelegen heit. Manchmal geriet die Schlange der Wartenden ins Stocken, wenn es bei einem Passagier Unstimmigkeiten
50 gab. Etwa, wenn Streit darüber ent brannte, ob ein Halbwüchsiger eine Pistole mitführen durfte oder nicht. Die Bestimmungen für Auswanderer waren neu. Es steckten nur unzurei chende Erfahrungen dahinter. In vie len Einzelheiten mußten die Regula rien noch vervollständigt werden. Stimmengewirr und Geschrei be stimmten die Szenerie. Inmitten des Durcheinanders waren Decksleute weiter damit beschäftigt, Kisten und Fässer an Bord der Schiffe zu man nen. Sie ließen rauhe Warnrufe hö ren, wenn ihnen jemand im Weg stand. Alles, auch der Arbeitswille der Männer und die Streitereien zwi schen Aufsichtspersonen und Passa gieren, schien von den freundlich zwinkernden Sonnenstrahlen beflü gelt zu werden. Niemand bereitete sich offenbar Gedanken darüber, daß das ungewohnt helle Tageslicht viel leicht nicht einmal die Morgenstun den überdauern würde. Das bißchen Sonne reichte aus, um der Hoffnung auf das neue Leben jen seits des Atlantik Auftrieb zu geben. Die möglichen Schrecken der Über fahrt waren in den Hintergrund ge rückt. Kaum einer dachte zu diesem Zeit punkt noch an Seeungeheuer, die Schiffe mit Mann und Maus ver schlangen, oder an furchtbare Stürme, in denen Schiffe wie Spiel zeuge auf haushohen Wellen tanzten. Alles, was vor den Menschen lag, er schien im schönsten und freundlich sten Licht. Roderick Mercer spürte, wie auch er von dieser Stimmung erfaßt wurde. Wenn nicht der Gedanke an
Granville gewesen wäre, diesen Wu cherer von einem Kapitän, dann hätte auch Mercer sicherlich mit ei ner freundlicheren Miene dagestan den. Hinter ihm setzten inzwischen wei tere Männer die Schlange der War tenden fort. Ja, fast ausnahmslos Männer waren es, die ihre Familien in einem dieser elenden Quartiere zu rückgelassen hatten und nun hofften, noch einen Platz auf einem Schiff zu ergattern. Die Hoffnung war es, die sie alle am Leben erhielt. Roderick Mercer begriff in diesen Minuten, die zur Stunde wurden, wie sehr ein Mensch von der Hoffnung zehren konnte. Sie hatten alles hinter sich abgebrochen und daheim alles verkauft, was sie nicht mitnehmen konnten. Sie hatten jeden Penny zu sammengekratzt, wohl wissend, daß sie nie wieder zurückkehren konnten. Und dann, in London eingetroffen, wurden sie erst einmal nach Kräften ausgenommen. Für ein winziges Zim mer in einem der überfüllten Miets häuser zahlten sie Preise, für die sie auf dem Lande ein ganzes Haus hät ten haben können. Ein Laib Brot ko stete mindestens dreimal soviel wie dort draußen, wo die Welt noch einfa cher war. Doch alle die Unzulänglichkeiten wogen nicht die Tatsache auf, daß man der Knechtschaft und der Besitz losigkeit entrinnen konnte, der Aus beutung durch die Landlords. Für die meisten war es noch unvorstellbar, daß man im fernen Virginia eigenes Land erhalten sollte. Aus einem Habenichts wurde plötz lich ein Mann, der einer anderen Klasse von Mensch angehörte. Ein
51 fach so, ohne daß er neu geboren wer den mußte. Alles, was man brauchte, waren Geld und der Mut, die Reise über den Atlantik anzutreten. Den wenigsten Männern und Frauen in dieser murmelnden und schreienden Ansammlung ging auf, daß sie letztlich auch nur ein Mittel zum Zweck waren. Die Königin gab ihnen das Recht, in Virginia eigenes Land zu besitzen. Was Elizabeth I. sich dafür jedoch im Gegenzug aus rechnete, war die Erschließung ihrer neuen Kolonie, weit nördlich von Neu-Spanien gelegen. Sicherlich spielten dabei auch stra tegische Überlegungen eine Rolle, was den Erzfeind Spanien betraf. Die wenigsten künftigen Siedler waren sich darüber im klaren, wozu sie die Waffen brauchten, die mitzunehmen ihnen als Pflicht auferlegt wurde. Denn es war nur wenig bekannt über die Wilden, die dort in Virginia lebten. Daß sie einem gefährlich wer den konnten, war vielleicht noch vor stellbar. Doch daß sie menschliche Empfindungen hatten und an ihrem Land als ihrem Eigentum festhalten würden, malte sich kaum jemand aus. Viele hielten diese Wilden für eine Mischung aus Tier und Mensch, nichts jedenfalls, was man jemals in vergleichbarer Art gesehen hatte. Roderick Mercer war sich über Zu sammenhänge dieser Art durchaus im klaren. Was er bei allem am we nigsten verstand, war die Tatsache, daß Queen Elizabeth I. solche Halsab schneidereien zuließ wie ein Robert Granville sie sich leistete. Vom Hauseigentümer, der seine Drecklöcher zu Wucherpreisen ver mietete, bis zum Kapitän, der seinen
Passagieren die letzte Münze aus der Tasche zog, bereicherte sich jeder un gestraft an den Menschen, die immer hin den Wohlstand, die Macht und das Ansehen der Königin mehren sollten. Er hatte indessen nie gewagt, solche Gedanken laut zu äußern. So etwas konnte gefährlich werden, das wußte man schließlich. Die Schlange gelangte nur stockend voran. Aber immerhin, das Heck der „Discoverer" war schon erreicht. Ro derick Mercer bemerkte, daß das Schiff wesentlich tiefer im Wasser lag als vor zwei Tagen. Sie hatten also bereits beträchtliche Ladung an Bord genommen. Hin und wieder war einer der Offi ziere zu sehen, wenn sie sich über die Verschanzung des Achterdecks beug ten, um sich einen Überblick über die Lage auf der Pier zu verschaffen. Einer der Männer vor Roderick Mercer wandte sich um, ein grobkno chiger Hüne, dessen Gesichtshaut von Wind und Wetter rosig gefärbt war. Forschend spähte er über die Köpfe der hinter ihm Stehenden. „Was sind wir doch alle für Nar ren", murmelte er. „Wir warten und warten, und dabei gibt es das, worauf wir warten, schon gar nicht mehr." „Wie meinst du das?" fragte Rode rick Mercer verblüfft. „Dieses Schiff ist längst ausge bucht", sagte der Hüne mit einer Kopfbewegung zu dem hoch aufra genden Heck der Galeone. „Jene, die jetzt noch warten, rechnen damit, daß jemand ausfällt. Einer beispiels weise, der die wundersam festgesetz ten Preise nicht zahlen kann. Bis ge stern wurde hier noch kontrolliert,
52 wissen Sie. Die Königin hat Sir Philip Hasard Killigrew beauftragt, die Pil gerschiffe nach Virginia zu geleiten." Roderick Mercer zog überrascht die Brauen hoch. Von dem berühmten Seewolf hatte auch er schon gehört. Über die ruhmreichen Taten Philip Hasard Killigrews erzählte man sich abends an englischen Kaminfeuern. Kein geringerer als dieser Mann führte also den Verband nach Virgi nia! Eine beruhigende Tatsache. „Und warum wird heute nicht kon trolliert?" erkundigte sich Mercer. „Ganz einfach. Alle drei Kapitäne haben gestern komplette Passagierli sten vorgelegt. Mit ordnungsgemä ßen Preisen und allem Drum und Dran. Da erwartet doch kein Mensch mehr, daß noch irgend etwas gedreht wird. Ich kann mir allerdings vorstel len, daß sich bald doch etwas tut, wenn Sir Hasard merkt, was hier los ist." Roderick Mercer biß sich auf die Unterlippe. „Und was ist mit vorno tierten Plätzen?" „Darauf wartest du, mein Freund?" Der Hüne lachte. Einige der Umste henden, die mitgehört hatten, stimm ten ein. „Dann kennst du Granville aber schlecht. Der hat deine Plätze bestimmt schon zehnmal oder zwan zigmal vornotiert. Jetzt nutzt er na türlich die Gunst der Stunde, weil er denkt, der Seewolf kann ihm nicht auf die Finger klopfen. Derjenige, der für einen vornotierten Platz den höchsten Preis zahlen kann, kriegt den Zuschlag. So einfach ist das. Granville hat seine Felle schon da vonschwimmen sehen. Aber jetzt kriegt er Oberwasser. Ist doch klar. Daß er kurz vor Toresschluß doch
noch einen ordentlichen Batzen Pfunde zusammenraffen würde, hatte er wohl nicht mehr erwartet." Roderick Mercer schwieg. Er biß die Zähne zusammen und versuchte, die innere Unruhe zu bekämpfen, die in ihm zu rumoren begann. Er hatte sich so sicher gefühlt und war restlos überzeugt gewesen, daß Delias auf opfernd verdientes Geld in jedem Fall reichen würde, um die Schiffs passage zu bezahlen. Und jetzt mußte er erfahren, daß es umsonst gewesen war, was seine Tochter getan hatte. Granville nutzte seine Gelegenheit, die Rosinen aus dem Kuchen zu picken. Man war also der Willkür dieses raffgierigen Kerls hoffnungslos ausgeliefert. Unvermittelt schrak Mercer aus seinen trübsinnigen Gedanken auf. Er erblickte den dicklichen Mann in seiner eleganten Kleidung, wie er an der Reihe der Wartenden entlangstol zierte. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt, und sein fleischiges Gesicht strahlte vor Wohlgefallen. Er erblickte Mercer im nächsten Moment und eilte mit freudig ausge breiteten Armen auf ihn zu. „Mister Mercer! Werter Freund, warum ste hen Sie hier, wenn Ihre Passage längst gebucht ist? Sie brauchen doch nicht darauf zu warten, daß Plätze frei werden. Himmel, Ihre Plätze sind reserviert, das wissen Sie doch!" Roderick glaubte, sich verhört zu haben. Er war fassungslos und fand keine Antwort. „Kommen Sie, kommen Sie", sagte Granville und erfaßte seinen Arm. „Gehen wir ein bißchen, um uns zu unterhalten." Roderick Mercer ließ sich von
Granville aus der Reihe der Warten den wegführen, zum Kai hin, wo es zwischen den Kisten- und Fässersta peln unbelauschte und unbeobach tete Plätze gab. Granville sah sich si chernd um, als sie einen solchen Win kel erreichten. „Nun, wie sieht es aus?" flüsterte er dann. „Ich hoffe, daß Sie das Geld beisammen haben, mein Freund. Und noch etwas mehr. Leider sind die Ko sten in unvorstellbare Höhe gestie gen. Die Schiffsausrüster sind die reinsten Wucherer, und die Liegege bühren konnte ich im voraus auch nicht abschätzen." „Was soll das heißen?" entgegnete Roderick tonlos, voller Bestürzung. Granville nickte, als hätte er Ver ständnis für das beklemmende Ge fühl seines Gegenübers. „Ich will nicht um den heißen Brei herumre den. Ich muß erhöhen auf hundert fünfzig Pfund. Tut mir leid, aber das ist die rauhe Wirklichkeit. Glauben Sie mir, ich bin selber völlig unschul dig daran. Aber ich stehe zu meinem Wort. Ihre Plätze sind nach wie vor reserviert." Roderick hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu versinken. Es war aus, endgültig aus. Einen Atemzug lang erwachte in ihm der Drang, diesen schwammigen Halunken zusam menzuschlagen. Aber dann resignier te er sofort. Er hatte nicht die gering ste Chance. Es war aus - aus - aus. Er senkte den Kopf und wollte sich ab wenden. „Aber, aber!" drang Granvilles ölige Stimme in sein Gehör, das wie mit Wattebäuschen versiegelt war. „Wer wird denn so schnell aufgeben?
53 Ich vermute, Sie können die hundert fünfzig Pfund nicht aufbringen." „Das wissen Sie doch ganz genau", sagte Roderick müde. Er wollte wei tergehen, weg von diesem Ort, an dem er seine Hoffnungen hatte aufge ben müssen. Granville hielt ihn am Arm fest. „Meine Güte, seien Sie doch nicht gleich beleidigt, Mann. Es gibt immer einen Ausweg, man kann über alles reden." Roderick blieb noch einmal stehen, obwohl er es nicht wollte. „Ich kenne diese Auswege", sagte er dumpf. „Aber ich will keinen davon. Ich denke nicht daran, Ihnen mein Land in Virginia zu überschreiben. Oder Ihnen die Arbeitskraft meiner Söhne vertraglich zuzusichern. Nichts dergleichen. Lieber verzichte ich auf alles." „Aber wer hat denn von so etwas gesprochen? Hören Sie, lieber Freund, ich unterbreite Ihnen einen sehr einfachen und für beide Seiten praktikablen Vorschlag. Es bleibt bei hundert Pfund, und Sie verschaffen mir dafür eine kleine Gegenleistung." Roderick starrte ihn an. „Ja, Sie haben richtig gehört", sagte Granville gönnerhaft. „Ich bin bereit, auf die fünfzig Pfund zu ver zichten. Alles, was Sie statt dessen zu tun brauchen, ist, mir Ihre Tochter zu schicken. Ich habe erfahren, daß sie gewissen Gentlemen bereitwillig zu Diensten ist. Diese Dienste würde ich auch gern beanspruchen. Das ist al les. Es wird Ihnen sicherlich nicht schwerfallen, da Sie Ihr Töchterchen ja ohnehin schon verkuppelt haben." Roderick Mercer wollte losbrüllen und seine Wut hinausschreien wie ein
54 Tier, das zu keiner anderen Reaktion fähig war. Er ballte die Hände zu Fäu sten, wollte sie in dieses speckig glän zende Gesicht hämmern, das ihn vol ler Gier ansah. Doch dann, auf ein mal, wurde ihm bewußt, daß er keine Chance hatte, diesem Zerrbild eines Menschen etwas zu erklären. Roderick Mercer wandte sich ab und ging, ohne noch ein Wort zu sa gen.
Als Dan O'Flynn von seinem kur zen Erkundungsgang zurückkehrte, war das Gebrüll von der Pier der Pil gerschiffe bereits zu hören. „Sie rotten sich zusammen!" rief Dan, noch während er aufenterte. „Pilger und Auswanderer rücken ge gen Granville vor. Der Strolch hat uns belogen und wieder mit seinen krummen Geschäften angefangen. Aber jetzt ist er wohl zu weit gegan gen." Dan blieb vor Hasard und den anderen stehen. „Es hat sich unter den Leuten herumgesprochen, und sie lassen es sich nicht mehr gefal len." Der Seewolf zögerte nicht. Er über gab Ben Brighton das Kommando an Bord und teilte einen Einsatztrupp ein, dem neben ihm Dan O'Flynn, Don Juan de Alcazar, Ferris Tucker, Edwin Carberry, Batuti, Big Old Shane, Smoky, Blacky, Al Conroy, Bob Grey, Stenmark, Matt Davies, Gary Andrews und Luke Morgan an gehörten. Jeder der Männer bewaffnete sich mit Entermessern und Pistolen. Al Conroy nahm außerdem ein Trom blon mit. Da man es mit einer großen
Menschenansammlung zu tun haben würde, war die breitstreuende Waffe möglicherweise angebracht - nur für den Fall, daß sich anders keine Ruhe erzielen ließ. Als sie sich den Pilgerschiffen im Laufschritt näherten, war das wü tende Gebrüll der Pilger und Aus wanderer längst zu ohrenbetäuben dem Lärm angeschwollen. Ihre Wut konzentrierte sich auf die „Discove rer", wo sich Granville mit seiner Be satzung verschanzt hatte. Drinkwater und Toolan schienen sich an der Auseinandersetzung nicht beteiligen zu wollen. Frauen und Kin der hatten sich von der Pier zurück gezogen und verharrten mit angstvol len Blicken vor einem Lagerhaus. Hasard wies seine Männer mit knappen Handbewegungen an, sich in zwei Gruppen aufzuteilen. Die eine Gruppe übernahm er selbst, die an dere Dan O'Flynn. Sie trennten sich, als sie das landseitige Ende der toben den Menschenansammlung erreich ten. In dem Gebrüll waren die Schritte der Arwenacks nicht zu hören. Fäuste wurden in Richtung zum Schiff ge schüttelt. Jemand mußte Steine vom Kai herbeigeschleppt haben. Die ersten Wurfgeschosse flogen kra chend gegen die Außenbeplankung der Galeone. Die beiden Gruppen der Arwe nacks bahnten sich ihren Weg an den Seiten des brüllenden Haufens ent lang. Dort schafften sie es noch am leichtesten. Zügig drangen sie auf der Pier vor. Weder auf der „Pilgrim" noch auf der „Explorer" ließ sich jemand blik ken. Drinkwater und Toolan hatten
55 vermutlich ihre Befehle in weiser Voraussicht gegeben. Sie wollten die aufgebrachte Menge nicht provozie ren. In der Beziehung hatten sie nichts mit Granville gemein. Die Suppe, die er sich eingebrockt hatte, sollte er ge fälligst selbst auslöffeln. Hasard ließ sich durch die Zurück haltung der beiden Kapitäne keines wegs täuschen. Denkbar war, daß sie ihr Schäfchen schon früher ins Trok kene gebracht hatten. Vielleicht war es Gr anvilles persönliches Pech gewe sen, daß ihn die Kontrollmaßnahmen der Arwenacks in der entscheidenden Phase der Geschäftsabwicklung ge troffen hatten. An diesem Morgen mußte er ver sucht haben, seinen geldlichen Ge winn nachträglich aufzubessern. Ganz offensichtlich hatte er dabei den Bogen überspannt. Es geschah, als die beiden Gruppen der Arwenacks nur noch wenige Schritte von der Bordwand der „Dis coverer" entfernt waren. Steine prasselten in rascherer Folge gegen die Beplankung. Die ersten flo gen über das Schanzkleid hinweg. Ein Decksmann, der nicht schnell genug zurückwich, wurde am Kopf getroffen. Er schrie auf, faßte sich mit beiden Händen an die blutende Stirn und stürzte nach kurzem Torkeln auf die Decksplanken. Ein Triumphschrei ertönte in den Reihen der Auswanderer. Weitere Steine flogen. Ein schwarzhaariger Decksmann tauchte über der Ver schanzung auf. Sein Gesicht war wut verzerrt. Mit einem wilden Ruck brachte er eine doppelläufige Pistole in Anschlag.
Hasard erreichte die Bohlen, die zur Pforte im Schanzkleid hinaufführten. Breitbeinig verharrte er, hinter ihm blieben die anderen stehen. Dan O'Flynn war mit seiner Gruppe gleichfalls zur Stelle. „Halt!" brüllte der Seewolf. „Die Waffe weg!" Seine Stimme übertönte das Prasseln der Steine und den Lärm der Wütenden. Sein Radschloßdreh ling flog hoch. Der Decksmann an Bord der „Dis coverer" ließ sich keinen Atemzug lang irritieren. Zwei Mündungsblitze zuckten kurz nacheinander aus seiner Doppelläufi gen. Hasard feuerte im selben Sekun denbruchteil. Der schwere Drehling bäumte sich in seiner Faust auf. Das Krachen der Schüsse vereinte sich zu einem Donnerschlag. Der Decksmann wurde von der Verschanzung wegge schleudert. Kein Schrei drang über seine Lippen. Schlagartig war Stille eingekehrt. Hasard wandte sich zur Seite. Jäh hatte er das Gefühl, ihm müsse das Blut in den Adern gefrieren. Zwei junge Männer waren stumm in sich zusammengesunken. Der eine hatte den Stein, den er schleudern wollte, noch in der Hand. Im Tod hatte sich der andere hilfesuchend an ihn geklammert. Die Siedler starrten fassungslos auf die beiden Toten. Ein älterer Mann, der der Vater sein mußte, sank mit Tränen in den Augen vor ihnen auf die Knie. Hasard und seine Männer stürmten durch die Pforte an Bord. Dan O'Flynn gab den Mitgliedern seiner Gruppe Befehl, auszuschwär men und sich in gerader Linie vor den
56 Siedlern aufzubauen. Vorsichtshal ber zogen die Arwenacks ihre Waf fen. Auch der Seewolf und die anderen hatten ihre Waffen schußbereit, als sie sich auf der Kuhl der Galeone ver teilten. Rasch gewannen sie einen Überblick. Der Decksmann, den Hasard um ei nen winzigen Moment zu spät getrof fen hatte, regte sich nicht mehr. Er hatte seine unbarmherzige Forsch heit mit dem Leben bezahlen müssen, wie Hasard mit einem raschen Blick feststellte. Er nickte Ferris Tucker zu. Der rothaarige Schiffszimmer mann wußte sofort Bescheid. Es ging darum, eine Panik zu verhindern. Die Gefahr, daß die Siedler vor Zorn au ßer sich gerieten und das Schiff stürmten, war keineswegs schon ge bannt. Die Arwenacks wußten nur zu gut, daß sie in einem solchen Fall nur eine geringe Chance hatten, eine Ka tastrophe zu verhindern. Ferris Tucker ging auf den Toten zu, hob ihn hoch und trug ihn zur Ver schanzung. Die Decksleute der „Discoverer" beobachteten es mit schmalen Augen. Doch die feuerbereiten Waffen der Arwenacks sorgten dafür, daß keine Angriffslust aufkam. Ein Raunen ging durch die Masse der Pilger und Auswanderer, als sie den Mörder sahen, der für seine Tat augenblicklich mit dem Leben be zahlt hatte. Robert Granville und die Offiziere harrten unterhalb des Quarterdecks aus, zwischen den beiden Niedergän gen. Mit ungläubigen Mienen beob achteten sie das Geschehen. Granvilles speckiges Gesicht war
kreidebleich, Schweiß rann in klei nen Bächen von seiner Stirn. „Kapitän Granville!" rief der See wolf schneidend. „Hierher! Die Leute wollen Sie sehen!" Beifälliges Gemurmel ertönte aus den Reihen der Männer auf der Pier. Granville erstarrte. Sein Blick wurde flackernd. Abwehrend streckte er die Hände aus. Er schien zu glauben, daß Hasard ihn dem Zorn der Siedler überlassen wollte. Der Seewolf brauchte seinen Befehl nicht zu wiederholen. Carberry marschierte kurzerhand hinüber, schob seine Pistole unter den Gurt und packte Granville am Kragen. Mühelos zog er den Zittern den voran. Granville wimmerte leise, als der Profos der Schebecke ihn ne ben dem Toten aufbaute, den Ferris Tucker noch immer senkrecht hielt. Diesmal ging ein Raunen durch die Menge. Hasard wandte sich den Siedlern zu, während die anderen weiter ein waches Auge auf die Crew der „Dis coverer" hielten. „Diejenigen, die sich von Mister Granville übers Ohr gehauen fühlen, melden sich bitte augenblicklich hier an Bord!" rief er. „Der reguläre Preis für die Überfahrt beträgt vierzig Pfund. Wer zuviel bezahlt hat, erhält sein Geld auf der Stelle zurück. Kapi tän Granville garantiert ihnen das." Hart blickte er zu Granville. „Nicht wahr?" Carberry verstärkte seinen Griff, als der Dicke nicht sofort antwortete. Granville quiekte vor Schmerzen. „Hast du nicht gehört, du sauber ster aller Kapitäne?" sagte er mit der grollenden Freundlichkeit eines Eis
57 Sie fühlte sich unbehaglich. Hinter ihr lag der Abschied von dem armen Wesen, dem sie ein wenig Licht in das Dunkel des Daseins gebracht hatte. Und vor ihr lag etwas, das sie selbst auslösen sollte. Sie spielte den Lockvogel. Es war Nachmittag geworden, die Wolken hatten sich noch mehr aufge lockert. Es schien, als wollte das Wet ter die Menschen, die England zu ver lassen gedachten, zu guter Letzt für die Jahre im eintönigen Grau von Ne bel und Regen entschädigen. Delia tat, als blicke sie nur verson nen über die Themse, wo das geschäf tige Hin und Her großer und kleiner Wasserfahrzeuge jede Landratte in seinen Bann ziehen konnte. Aber aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie unauffällig auch die „Discoverer". Kapitän Granville hatte eine Niederlage einstecken müs sen, wie er sie vermutlich noch nie in seinem Leben erlitten hatte. Ob er an beißen würde, war daher nicht sicher. Delia fühlte sich nicht sehr wohl in ihrer Haut. Sie wußte nicht, zu was der Mann fähig war, wenn er die Kon trolle über sich selbst verlor. Unvermittelt sah sie den dicklichen Mann. Er hatte das Schiff verlassen und tat, als schlendere er landwärts, um sich die Beine zu vertreten oder vielleicht ein letztes Mal vor dem An keraufgehen noch festen Boden unter den Füßen zu spüren. Delia blieb am Kai, so daß er sie 9. weiterhin sehen konnte. Langsam Delia Mercer schlenderte am Kai schlenderte sie ein Stück weiter fluß auf und ab, tauchte in den Gassen zwi abwärts, achtete aber darauf, sich schen den Kistenstapeln unter und er nicht aus der Nähe der gestapelten Ki schien im nächsten Moment wieder sten und Fässer zu entfernen. Nach ei im Sonnenlicht am Themseufer. ner Weile drehte sie sich um und bären. „Du garantierst ihnen, daß sie ihr zuviel gezahltes Geld zurückerhal ten. Sie wollen das von dir hören. Laut und deutlich." Robert Granville gehorchte. Seine Stimme klang verzweifelt und wei nerlich: „Wer einen zu hohen Preis ge zahlt hat, erscheine bitte an Bord. Der Differenzbetrag wird ihm zurückge zahlt." „Das hast du fein ausgedrückt", lobte Carberry den beleibten Mann, der stärker zitterte als zuvor. Der Ge danke an den Verlust seines Neben verdienstes schien ihn mehr zu peini gen als körperliche Schmerzen. Siedler eilten in nicht endenwollen der Kette an Bord. Hasard und seine Männer über wachten das Auszahlen des Geldes, und entgeistert hörten sie, daß Gran ville durch „Sondergebühren" bis zu hundertfünfzig Pfund für eine fünf bis sechsköpfige Familie verlangt hatte. Die Toten wurden fortgeschafft. Die Reise nach Virginia hatte ihren Blutzoll gefordert, bevor sie richtig begonnen hatte. Drei Menschenleben waren der Preis gewesen. Über eins war sich der Seewolf im klaren: Diese Atlantiküberquerung würde die wahnwitzigste werden, die seine Männer und er jemals durchge standen hatten.
58 schritt gemächlich ein paar Yards zu rück. Granville hatte die Pier bereits ver lassen, und er legte jegliche Zurück haltung ab, als er das Mädchen er blickte. Mit eiligen Schritten näherte er sich, als befürchte er, sie könnte ihm im letzten Moment noch entwi schen. Doch Delia verharrte folgsam und sah ihm nun entgegen, als befolge sie die von ihm vermutete Anweisung. Er war außer Atem, als er vor ihr stehenblieb. Sein Speckgesicht war gerötet und glänzte vor Schweiß. „Dein Vater hat dich also herge schickt", sagte er zufrieden und mu sterte sie von Kopf bis Fuß. „Ja, Sir", erwiderte sie folgsam und senkte den Blick. Dennoch sah sie, wie er voller Vor freude grinste. „Du weißt, daß du sehr nett zu mir sein mußt. Eure Überfahrt nach Virginia hängt davon ab. Hat dein Vater dir auch das ge sagt?" „Aber natürlich, Sir. Ich werde al les tun, was Sie sagen - wenn es in meiner Kraft steht." Sein Keuchen rührte nicht mehr von der Atemlosigkeit her. „Oh, ich bin sicher, du wirst mir eine Menge Spaß bereiten. Ich war gezwungen, eure Passage für lausige vierzig Pfund herzugeben. Das ist weniger als der Selbstkostenpreis. Ich weiß nicht, wie ich davon existieren soll. Killigrew, dieser Bastard, treibt uns Kapitäne in den Ruin. Kaltlächelnd. Das interessiert ihn überhaupt nicht. Wie unsereiner zurechtkommt, küm mert ihn genausowenig. Du verstehst, von welchen Sorgen ich geplagt wer de?"
„Aber ja, Sir." „Du kannst dich ein wenig in meine Lage versetzen?" „Was die Sorgen betrifft, Sir. Von den Aufgaben eines Kapitäns weiß ich natürlich fast nichts." Er winkte väterlich ab und trat einen Schritt näher auf sie zu. „Das würde ich auch niemals von einer Frau erwarten. Wenn du mich nur von den Sorgen befreist, nur für eine kurze Zeit, dann bin ich schon zufrie den. Und vergiß nicht: Du machst deine ganze Familie damit glücklich, denn ihr bezahlt für die Passage einen Spottpreis." „Ich weiß, Sir", sagte Delia, „und ich bin dafür wirklich dankbar." Am liebsten hätte sie hinzugefügt, daß sie dem Seewolf dafür dankbar war, denn er hatte es letzten Endes ermöglicht, daß auch ihr Vater die zugesagten Plätze an Bord der „Dis coverer" für den einheitlich festge setzten Preis erhalten hatte. Brian und Stacy hatten von dem Geschehen auf der Pier der Pilger schiffe erfahren und ihrem Vater darüber berichtet, weil dieser selbst nicht mehr dabeigewesen war. „Also gut", sagte Granville und schnaufte. „Dann sind wir uns ja über alles einig. Gehen wir an Bord. In der Kapitänskammer haben wir es ge mütlich und sind ungestört." Delia spielte Erschrecken. „In Ihre Kammer?" hauchte sie. „Davon war aber nicht die Rede, Sir!" Er furchte die Stirn. „Aber was sollten wir denn sonst wohl tun, meine Kleine?" Mit einer Kopfbewe gung deutete er zu den gestapelten Fässern und den Gassen dazwischen.
59 „Hast du gedacht, wir würden hier...?" „Sicher, Sir. Ich möchte nicht mit Ihnen zusammen gesehen werden." „Ist das eine Schande?" Sein Ärger wuchs. „Für mich schon, Sir. Ich bitte Sie, verlangen Sie nichts von mir, was für mich unmöglich ist. Ich bin zu allem bereit, aber ..." Er packte ihren Unterarm. „Du kommst jetzt mit!" zischte er. „Hast du mich verstanden, du Hure?" Sie schrie auf und verstummte so fort wieder. Es war das vereinbarte Zeichen. „Nein, Sir! Um Himmels wil len, lassen Sie mich! Ich will nicht! Ich will nicht!" Mit gut gespielter Verzweiflung versuchte sie, sich los zureißen und in die Gasse zwischen den Fässerstapeln zu fliehen. Er setzte nach und schaffte es in seiner entbrannten Gier, ihre grobe Leinenbluse zu zerreißen. Seine Au gen weiteten sich vor Entzücken, als er ihre Brüste sah. Sie schaffte es nicht, sich seinem Griff zu entwin den, aber es gelang ihr, ihn in die Gasse zu ziehen. Er versuchte, sie auf zuhalten und sich auf sie zu werfen. Delia schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
Doch ihre Brüder waren rechtzeitig zur Stelle. Robert Granville wurde stocksteif vor Entsetzen, als er Brian und Stacy Mercer plötzlich hinter dem Fässer stapel zur Linken auftauchen sah. Mit hartem Lächeln nahmen sie ihre Schwester in die Mitte und sahen ei nen Moment so aus, als wollten sie
ihn zu einem gemütlichen Plauder stündchen einladen. Doch dann hieb ihm Brian so blitz artig auf den Unterarm, daß Gran ville weder die Bewegung als solche noch den Ansatz dazu sah. Nur den plötzlich wilden Schmerz spürte er, wie er ihm bis in die Schulter hinauf zuckte. In seiner Hand, in seinem gan zen Arm, war keine Kraft mehr. Er schrie auf. Delia wich zurück und verschwand. Stacy Mercer versetzte ihm zwei schallende Ohrfeigen, packte ihn am Kragen, zog ihn tiefer in die Gasse und rammte ihn mit dem Rücken ge gen die rundbauchigen Fässer, die Trinkwasser enthielten. Granville rang japsend nach Luft. Stacy wich angewidert von ihm zu rück. Die Brüder blickten den dickli chen Mann voller Verachtung an. „Du Dreckskerl", sagte Brian mit bebender Stimme. „Du hast geglaubt, du könntest unsere Schwester ernied rigen? Du wirst an deiner eigenen Er bärmlichkeit ersticken, verlaß dich drauf." „Ich entziehe euch die Passage auf meinem Schiff!" heulte Granville. „Verschwindet, oder ich rufe meine Crew zur Hilfe! Auf die ,Discoverer' wird jedenfalls keiner aus eurer ver fluchten Familie einen Fuß setzen. Das schwöre ich euch." „Dann ist das schon jetzt ein Mein eid", entgegnete Stacy Mercer gelas sen. „Du glaubst doch wohl nicht, daß du damit durchkommst, Granville?" Der Dickliche reagierte auf heim tückische Art. Jäh zuckte seine in takte Rechte zur Hüfte. Mit ungeahn ter Schnelligkeit brachte er die Pi
60 stole in die Waagerechte und spannte den Hahn. Roderick Mercers Söhne erstarrten zur Bewegungslosigkeit. Die Lauf mündung war auf Brians Brustka sten gerichtet. Und beide sahen die Erklärung für Granvilles enorme Schnelligkeit. Die Pistole hing dreh bar in einer Lederschlaufe. Er hatte nur das Griff stück der Waffe zu pak ken brauchen, um sie in die Visierli nie zu bringen. Stacy wußte, daß er nicht schnell genug sein würde, um seinen Bruder zu retten. Obwohl sie beide nur einen Schritt von Granville entfernt waren, konnten sie doch nicht riskieren, ihn anzugreifen. Der Kapitän würde den Abzug in jedem Fall schneller durch reißen. Ein höhnisches Grinsen spielte um Granvilles Mundwinkel. „Damit hätten wir wieder eine ver nünftige Ausgangsbasis", sagte er und holte tief Luft. „Du", er sah Stacy kurz an und hatte dann sofort wieder seinen Bruder im Auge, „holst jetzt dein Schwesterchen zurück - und bringst sie her zu mir! Solange ich dein Bruderherz vor dem Lauf habe, wirst du nicht versuchen, mich ir gendwie hereinzulegen. Habe ich recht?" „Nicht ganz", erklang eine eisige Stimme, die zu keinem der beiden Mercer-Brüder gehörte. „Lassen Sie die Waffe fallen, Granville! Oder Sie sind ein toter Mann, bevor Sie den Zeigefinger krümmen!" Robert Granville wurde abermals kalkweiß im Gesicht, denn er kannte die Stimme zur Genüge. Der Seewolf stand unmittelbar rechts von ihm, in dem nach dort ab
zweigenden Gang zwischen den Fäs serstapeln. Granville gehorchte, ließ die Waffe an seiner Hüfte mit der Mündung nach unten sinken und ent spannte den Hahn. Trotz aller Wut und Enttäuschung war ihm das Ri siko bewußt, sich selbst ins Bein zu schießen. Stacy Mercer konnte sich nicht zu rückhalten. Mit einem schnellen Schritt war er bei dem schwitzenden Kerl und verabreichte ihm eine Serie von neuen Ohrfeigen, die ihn wim mern ließen. „Lassen Sie es gut sein", sagte der Seewolf, der gemeinsam mit Rode rick Mercer und dessen Tochter her antrat. „Sie haben ihm diese Falle ge stellt, und es wird ihm vielleicht eine Lehre sein. Allerdings nur vielleicht." Er trat vor Granville und sah ihn an. Der Kapitän senkte den Kopf und brachte es nicht fertig, dem Blick des Seewolfs standzuhalten. „Dies, Mister Granville", sagte Ha sard, indem er den Drehling unter dem Gurt verstaute, „sollte die letzte und ausdrücklichste Warnung für Sie sein. Leisten Sie sich keine weiteren Schwierigkeiten. Es würde mir un weigerlich gemeldet werden. Ich hätte immer noch die Möglichkeit, Sie durch einen anderen Kapitän er setzen zu lassen." Granville erschrak sichtlich. Un vermittelt hob er doch wieder den Kopf. „Nein, Sir Hasard, das wird nicht nötig sein, glauben Sie mir. Ich werde mich strikt an die von Ihnen gesetzten Richtlinien halten. Darauf können Sie sich verlassen. Es muß wohl an der Nervenbelastung der letzten Tage gelegen haben, daß ich ein wenig über das Ziel hinausge
61 schossen bin. Ich - ich..." Seine Ge sichtsmuskeln zuckten. Was er als nächstes sagen wollte, fiel ihm sicht lich schwer. „Ich entschuldige mich hiermit in aller Form bei der Familie Mercer. Vor allem bei Ihnen, Miß Mercer. Sie werden alle einen Vor zugsplatz an Bord erhalten. Und wie geht es Ihrer Frau, Mister Mercer? Besser, hoffe ich. Auf alle Fälle wer den wir an Bord für sie sehr gut sor gen. Darauf können Sie sich verlas sen." Sein Redeschwall war kaum noch zu bremsen. Hasard konnte ein Gefühl von Ekel nicht unterdrücken. Die Erklärung für Granvilles Beflissenheit lag auf der Hand. Er hatte bereits seine Pläne für Virginia. Gewinnbringende Pläne zweifellos. Und die wollte er sich nicht in letzter Minute zerstören lassen. „Verschwinden Sie jetzt", sagte Ha sard. „Die Mercers werden nicht auf Ihr Schiff gehen. Ich habe das Erfor derliche schon veranlaßt. Sie über nehmen fünf Passagiere von der ,Pil grim'. Mister Drinkwater übernimmt dafür die Familie Mercer." Granville stierte den Seewolf se kundenlang ungläubig an. Dann wandte er sich ab und schlurfte da von wie ein gebrochener Mann. Sowohl der Seewolf als auch die Mercers wußten jedoch, daß dieser Eindruck bei Granville wahrschein lich nur von kurzer Dauer sein würde. Sie begleiteten Hasard zu der Schebecke und versprachen ihm, sich bei ihm zu melden, bevor sie an Bord der „Pilgrim" gingen. Hasard wollte ihnen auf jeden Fall ein paar Mann als Geleitschutz zur
Seite stellen. Denn Granville sollte sie ungehindert passieren lassen. Harriet Mercer hatte sich zum Glück weitgehend erholt. Doch erst wenn sie alle an Bord der „Pilgrim" waren, würden sie vor Granvilles Tücke end gültig sicher sein.
Eine elegante Kutsche rollte auf die Towerpier, als die Arwenacks längst damit fertig waren, die Vorräte für die Reise nach Virginia zu stauen. Ein elegant gekleideter Gentleman ließ sich von seinem Kutscher ins Freie helfen und bat, Sir Philip Hasard Kil ligrew sprechen zu dürfen. Hasard, Ben Brighton, Dan O'Flynn und Don Juan blickten zum Vorschiff, wo sich die Gentlemen Da venport, Godfrey und Morris offen bar zufällig versammelt hatten. Doch die interessierten Blicke, mit denen sie herüberlinsten, sprachen eine mehr als deutliche Sprache. Edwin Carberry, der den Besucher in Empfang genommen hatte, gelei
62 tete ihn zum Achterdeck. Sir John thronte wie gewohnt auf der Schulter des Profosen. „Lord Gerald Arbuthnot möchte ein paar Worte mit dir wechseln, Sir", sagte der Profos. Der Lord, ein vogelgesichtiger Mann, blickte erstaunt zur Seite. Die Art und Weise, wie dieser Profos sei nen Kapitän anredete, war denn doch äußerst merkwürdig. Es paßte zu den unglaublichen Dingen, die über diese Crew berichtet wurden. Ebenso unglaublich war, daß aus gerechnet die Königin eine solche Crew bevorzugte und diesen Killi grew auch noch mit einer so bedeu tenden Mission wie der VirginiaReise betraute. Hasard und die anderen konnten dem Besucher die Gedanken gera dezu von der Stirn ablesen. „Ich stehe zur Verfügung, Lord Ge rald", sagte der Seewolf höflich. Der Vogelgesichtige deutete eine Verbeugung an und holte eine Papier rolle hinter seinem Rücken hervor. „Ich möchte keine überflüssigen Worte verlieren, Sir Hasard", sagte er, „denn Ihre Zeit wird sicherlich ebenso knapp bemessen sein wie die meine. Ich habe hier eine königliche Order, die sich auf die drei Passa giere bezieht, die bei Ihnen an Bord nach Virginia reisen - die Gentlemen Godfrey, Davenport und Morris." Er rollte das Papier auseinander und hielt es so, daß Hasard und die Män ner den Text lesen konnten. „Wir geben hierdurch zu wissen, daß die Gentlemen Sir William God frey, Alec Morris und Frank Daven port als Passagiere des Sir Philip Ha
sard Killigrew an Bord seines Schif fes den seerechtlichen Status von Of fizieren genießen. Des weiteren steht es den genannten Passagieren frei, über Art und Umfang ihres Gepäcks selbst zu entscheiden. Der genannte Kapitän Killigrew hat sich den ent sprechenden Entscheidungen der ge nannten Gentlemen zu fügen." Es folgten das Siegel der Königin, in glänzenden roten Lack gepreßt, und eine Unterschrift, die wie die ihre aussah. „Geben Sie her!" forderte Hasard schroff. Arbuthnot wich unwillkürlich ei nen halben Schritt zurück. Für einen Moment wirkte er fassungslos. „Ich denke nicht daran", ereiferte er sich dann. „Ich habe genug von Ih nen gehört. Sie bringen es fertig und zerreißen das Dokument." Er hatte nicht auf den Profos geachtet. Carberry zupfte es ihm mühelos aus den dünngliedrigen Fingern und überreichte es Hasard mit einer Ver beugung. „Himmel, Arsch und Mücken pisse!" lästerte Sir John, der sich trotz der Vorwärtsbewegung auf der Schulter Carberrys festhielt. Lord Gerald war zusammenge zuckt - und erbleichte. Der Seewolf betrachtete das Papier aus der Nähe und nickte, da er seine Vermutung bestätigt fand. Er reichte es an Ben weiter. „Lord Gerald", sagte er, indem er die Arme vor dem breiten Brustka sten verschränkte. „Was halten Sie davon, wenn wir beide gemeinsam die Königin besuchen? Ich würde ihr dieses sogenannte Dokument zeigen und sie fragen, ob sie jemals einen
63 solchen Unsinn unterschrieben habe. Sie wissen, eine Audienz erhalte ich sofort. Ihre Majestät kann mich recht gut leiden. Das haben Sie doch be stimmt schon gehört, nicht wahr?" „Ja, äh - ja, natürlich", stotterte der Lord. „Aber - also, ich meine, ich fürchte, das wird überhaupt nicht ge hen. Die - die Königin soll nämlich äh - bettlägerig sein." „Ist das wahr?" Hasard zog die Brauen hoch. „Dann kann sie sowieso nichts unterschrieben haben. Sie wis sen, daß sie sich nichts unterjubeln läßt, wenn sie sich geistig nicht auf der Höhe fühlt. Also? Wie ist es? Be gleiten Sie mich zum Whitehall-Pa last?" Dan O'Flynn hatte das Dokument inzwischen nach mittschiffs weiterge reicht, wo sich die Arwenacks über
die „famose Lissy-Unterschrift" vor Lachen ausschütten wollten. Lord Gerald Arbuthnot stieß einen Fluch aus, stampfte zornig mit dem Fuß auf und stürmte nach einer hasti gen Kehrtwendung von Bord. Dabei schien es, als säßen ihm ein paar lä stige Teufelchen im Nacken. „Und was wird jetzt damit?" rief Ferris Tucker und hielt das „Doku ment" hoch. „Wird als Andenken ins Logbuch gelegt!" entschied der Seewolf unter dem Beifall seiner Männer. Die drei Gentlemen auf dem Vor schiff stierten angestrengt ins Them sewasser, als gäbe es dort höchst in teressante Dinge zu beobachten. Hasard und die Arwenacks waren sich allerdings darüber im klaren,
64 daß sie mit den hochwohlgeborenen nur kurzen Zeit an Bord geleistet hat
Armleuchtern noch jede Menge Är ten.
Doch es gab jetzt Wichtigeres, um
ger haben würden. Jeder konnte un besehen seine Ration Rum darauf das sich Hasard und die Männer küm
verwetten, daß es nur ein kleiner Vor mern mußten.
geschmack gewesen war, was sich die Der Aufbruch in die Neue Welt
Erlauchten während ihrer bislang stand bevor...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 622
Aufbruch in die Neue Welt
von Fred McMason Unerlaubterweise übernahm Kapitän Granville von der „Discoverer" weitere Auswande rer, die mit zwei Booten zu der Galeone gepullt wurden. Das sollte alles schnell gehen und so passierte, was passieren mußte, als die beiden Boote längsseits lagen. Von den Kerlen der „Discoverer" zur Eile angetrieben, drängten sich die Auswanderer an den Jakobslei tern, um aufzuentern. Dabei wurde das eine Boot einseitig belastet und kenterte. Im Nu war der Teufel los. Zwei der Rudergasten gingen über Bord, ein etwa zehnjähriger Junge versank schreiend in den Fluten. Ein hagerer Mann sprang ihm mit einem Schrei der Ver zweiflung nach, erreichte ihn jedoch nicht mehr. Fast alle Auswanderer des gekenterten Bootes landeten in dem kalten Wasser. Sie begannen um sich zu schlagen und laut um Hilfe zu brüllen. Hasard und seine Arwenacks platzten fast vor Wut, während sie mit der Schebecke heransegelten...
ex libris KAPTAIN STELZBEIN
März 1968