Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 194
Die Piraten der Mikrowelt Der Kristallprinz unter Plünderern gefährliche Abente...
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Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 194
Die Piraten der Mikrowelt Der Kristallprinz unter Plünderern gefährliche Abenteuer im Land ohne Sonne von Hans Kneifel Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol Hl. ein bruta ler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten ließ, um selbst die Herr schaft antreten zu können. Gegen den Usurpator kämpft Gonozals Sohn Atlan, Kristallprinz und rechtmäßiger Thronerbe des Reiches, mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen, die Orbana schols Helfershelfern schon manche Schlappe beibringen konnten. Mit dem Tage jedoch, da der Kristallprinz Ischtar begegnet, der schönen Varganin, die man die Goldene Göttin nennt, scheint das Kriegsglück Atlan im Stich gelassen und eine Serie von empfindlichen Rückschlägen begonnen zu haben. Gleiches gilt aber auch für Atlans Gegenspieler, den Imperator. Denn Orbana schols Streitkräfte haben gerade eine schwere Niederlage im Trantagossa-Sektor er litten – infolge eines Überraschungsangriffs der Maahks und des Einsatzes einer neuen Waffe. Um den Besitz dieser neuen Waffe, des Molekularverdichters, geht es Atlan, als er sich mit Ischtars Hilfe zum Maahk-Stützpunkt Skrantasquor begibt. Doch Ra, der Bar bar, spielt dem Kristallprinzen aus Eifersucht einen bösen Streich, so daß Atlan durch den Molekularverdichter erneut in den Mikrokosmos befördert wird – in das Land oh ne Sonne und unter DIE PIRATEN DER MIKROWELT …
Die Piraten der Mikrowelt
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Kristallprinz freundet sich mit Piraten an.
Gjeima - Ein Mädchen, das Atlan nachstellt.
Darrnogh - Anführer der Plünderer von Jansonthen.
Pverganth und Scaltok - Zwei Ballonfahrer von Jansonthen.
1. Mit der Geschwindigkeit eines abgeschos senen Armbrustbolzens raste der Bruzack nach Süden. Langsam ließ meine Erregung nach. Ich atmete mehrmals durch und beru higte mich mühsam. Versuche, das Gerät unter Kontrolle zu bekommen, ehe es irgendwo zerschellt und euch tötet! schrie unüberhörbar der Extra sinn. Mehr und mehr ließ das Leuchten der Nachtwolken nach. Ich blickte durch die sie ben unregelmäßigen Öffnungen oder Luken dieses erstaunlichen Apparates. Frischluft strich, leicht erwärmt, von irgendwoher. Der Raum um die Sitze war geschlossen, aber ich kannte inzwischen den Schalter, der die Segmente zurückschob. Die Bedeutung von mehr als neun Zehnteln der anderen Uhren, Skalen, Hebel und Knöpfe kannte ich nicht. Die Landschaft, die ich bereits gesehen hat te, lag hinter uns. Soeben hatten wir die Hü gel überflogen. Vor einigen knappen Minuten war der Bruzack röhrend und mit rauschenden Stich flammen aus den Hecklöchern durch eine Gruppe von Büffelreitern hindurchgeschos sen und hatte die Krethors in helle Panik versetzt. »Wir sind in Sicherheit! Sie können uns nicht folgen«, flüsterte Gjeima und lächelte mich an. Ihre plumpen Finger suchten die Nähte meines Hemdes. Ich schob sie mit der Schulter zurück in ihren Sitz. »Aber die Maschine kann uns umbrin gen«, sagte ich streng. »Jetzt ist nicht die rechte Zeit für Liebe!« »Wann?« Ich lachte kurz und versicherte: »Auf der Flucht ist niemals Zeit für Liebe!«
Die Wolken lösten sich auf. Der sonnen lose Himmel erschien über dem Land. Die Schneedecke, die immer dünner wurde, machte Pfützen und kleinen Eisflächen Platz. Überall sah ich die tiefen Spuren der Büffel. Die runden Löcher im schwarzen Boden hatten sich mit Wasser und Schlamm gefüllt. Dunghaufen lagen herum. Ein abge brochener Speer stak im Boden. Der Bruzack raste weiter. Mit gleichmäßiger Ge schwindigkeit, mit einer riesigen Rauchwol ke, die träge in die Höhe stieg und verweht wurde, mit einem tierischen Röhren, das wir im Innern kaum hörten. Hin und wieder klickte ein Schalter. »Wohin fliegt der Bruzack, Atlanlieb ling?« erkundigte sich Gjeima mit unver hüllter Gier in der Stimme. Sie hatte Hunger – auf mich. »Ich habe keine Ahnung«, gab ich zu und bewegte vorsichtig einen Hebel. Die Rich tung änderte sich nicht, aber im Bug schob sich eine Klappe zurück und ließ ein stump fes Rohr erkennen, das sich langsam nach schräg vorn ausrichtete. »Auf alle Fälle nach Süden.« »Im Süden«, stimmte sie begeistert zu, »ist es wärmer. Dort können wir baden, At lan. Und uns im Sand lieben!« Die Aussicht auf Wärme stimmte mich versöhnlicher, ihre Erwartungen aber würde ich mit Sicherheit enttäuschen müssen. Sie tat mir leid, denn sie war abgrundtief häß lich. Mitleid reichte vielleicht für eine brü chige Freundschaft, sagte ich mir, aber nie mals für Verliebtheit. Ich hatte Farnathia und die Goldene Göttin geliebt, und meine Erinnerung war noch frisch. Wie die Nar ben, die ich von diesen Begegnungen davon getragen hatte. »Wir werden genug zu tun haben, um zu überleben«, sagte ich, während die Berge im
4 Norden verschwanden und der Himmel wie der sein Fleckenmuster aus verschiedenen, ineinander überfließenden Farben annahm. Mir scheint es, als wäre er bereits hier, zehn Minuten oder mehr Fahrt von Krothenbeet und Darga entfernt, wesentlich heller und freundlicher. Noch rasten wir über die Ebene, auf der die Krethors aufmarschiert waren, ehe sie uns überfielen. Wieder suchte ich nach einem Schalter, mit dessen Hilfe ich die seltsame Flugma schine anhalten oder wenigstens beeinflus sen konnte. Ich war hilflos. Eingesperrt in die Zelle des Bruzack, immer wieder die Hände des Mädchens wegschiebend, unru hig und aufgeregt. Die Maschine, in der wir gefangen waren, konnte mich jede Sekunde überraschen. Wieder warf ich einen langen Blick durch die verschiedenen, ringsherum und über uns angebrachten Öffnungen. Sie waren einseitig verspiegelt; in der Scheune hatte ich nicht hindurchsehen können. Aber jetzt sah ich die Änderungen der vorbeihu schenden Landschaft. Ich tippte auf einen Knopf, den ich noch nicht kannte. Durch das unirdische Heulen drang ein hartes, krachendes Geräusch. Aus dem Rohr vor uns schoß eine Art Harpune, ein langer Anker, der rasend schnell hinter sich ein Seil aufspulte. Das Geschoß beschrieb, leicht vom Wind abgetrieben, eine flache Kurve. Aber der Bruzack wurde nicht langsamer. Er schwebte unter dem Tau hindurch. Am Scheitelpunkt der Bahn, fast direkt über uns, angekommen, verlangsamte die Harpune ih ren Flug, kippte und raste dann schräg dem Boden entgegen. Ich duckte mich unwillkür lich und begann zu ahnen, was die Folge dieser Überraschung sein würde. »Festhalten, Gjeima!« schrie ich und kroch tiefer in die weichen Polster des Sitzes hinein. Flüchtig sah ich, wie das Seil ange zogen wurde und sich straff über das Dach des geradeaus weiterschwebenden Bruzack legte. Irgendwo weit hinter uns schlug die Harpune mit unerhörter Wucht tief in den
Hans Kneifel Boden. Ich wartete mit verkrampften Mus keln und zusammengebissenen Zähnen. Eine Sekunde, zwei Skunden … dann gab es einen Ruck. Aber wir wurden nicht nach vorn ge schleudert! Der harte, erschütternde Schlag blieb aus. Nur der Bruzack wurde langsamer, ohne daß ich einen Schalter berührt hatte. Dann änder te er seine Richtung und bog scharf nach rechts ab. Gleichzeitig ertönte vor uns ein vibrierendes Summen. »Atlan! Warum hält der Bruzack an? Was tut er?« schrie Gjeima neben mir auf und klammerte sich angsterfüllt an mich. Ich be freite mich von dem Griff ihrer Hände und spähte nach rechts aus einer der Luken. Ich sah, daß etwa dreihundert Meter entfernt die Harpune bis zum Ende im Boden steckte. Das Seil hatte sich hart gestrafft und das Rohr war gedreht worden. Und wieder wur de die teuflische Maschine schneller. Sie begann, im Kreis um die Harpune her umzurasen. »Ich weiß das alles nicht«, erwiderte ich und überlegte, was ich tun konnte. Nichts. Selbst das Aussteigen war bei diesem irrsin nigen Tempo unmöglich. Die Geschwindig keit nahm abermals zu. Die Fliehkraft drückte uns nach links, und Gjeima rutschte aus dem Sitz und auf mich zu. »Halte dich fest!« sagte ich scharf. Du mußt diese Kreiselfahrt beenden! Drücke die Knöpfe! befahl der Logiksektor. Ich grinste kalt. Vielleicht gelang es mir, uns in die Luft zu sprengen. Ich überlegte, welche Schalter mitsamt deren Funktionen ich kannte; es waren nur wenige. Meine Hand schnellte vor und bewegte einen Kipp schalter. Außerhalb der Kabine begann eine Sirene aufzujaulen. Dann sah ich, wie sich das Werferrohr abermals bewegte, und ein neuer Ruck bewies, daß irgendwo eine Win de anlief und sich schnell drehte. »Was tut der Bruzack?« heulte Gjeima auf. Ich beachtete sie nicht und knurrte: »Er spult sich auf.« Die unbegreifliche Maschine raste im
Die Piraten der Mikrowelt Kreis herum, aus dem, je mehr sich die Win de drehte und je mehr vom Seil sie aufspul te, eine Spirale wurde. Der Gleiter hing an dem Harpunenanker wie ein Stein an der Schnur eines spielenden Kindes. Ich begriff nichts mehr – wozu diente diese Ausrüstung des Bruzack? Die Spirale wurde enger, da durch erhöhte sich die Geschwindigkeit. Ich wurde gegen den Rand der Kabine gepreßt, Gjeima lastete wie ein Sack voller Steine auf mir. Und schließlich, als wir beide würgend nach Luft schnappten, bremste der Bruzack. Achtung! Eine neue technische Überra schun!] warnte der Extrasinn. Wir fielen erschöpft in die Sitze zurück. Die Maschine drehte sich und stieß einen krächzenden Schrei aus. Dann wurde das Summen der unsichtbaren Seilwinde schär fer, das Vehikel begann stärker zu vibrieren. Das Seil spannte sich bis zum Zerreißen. Dann kämpften die Maschinen des Bruzack gegen den festsitzenden Harpunenanker. Es war einst vielleicht ein Jagdgerät? ver mutete der Logiksektor. Wir warteten atemlos. Die Schwingungen des Bruzack wurden stärker, aus dem Heck brach eine weiße Dampfwolke, und wieder ertönte dieses nervenerschütternde Ge räusch. Dann öffnete sich vor dem Loch des Harpunenwerfers eine kleine Klappe. Ein Gegenstand, der wie die Mischung einer Sä ge mit einem Skalpell aussah, zuckte hervor und bewegte sich rasend schnell auf und ab. Mit ungefähr dreißig Schnitten zertrennte er das Tau. Der Bruzack, von der Last be freit, ruckte nach hinten. »Das ist wohl nicht zu glauben!« murmel te ich verblüfft, als sowohl das Schneideblatt als auch das Werferrohr wieder in ihren fu genlosen Öffnungen verschwanden. Gjeima starrte mit hervorquellenden Augen auf die ses Wunder. Wieder stieß ein unsichtbares Horn einen schrecklichen Ton aus. Der Bruzack drehte sich um etwa hundert achtzig Grad, so daß ich wieder direkt nach Süden blickte. Augenblicklich schossen lange, vielfarbi ge Flammen aus dem Heck. Eine weiße
5 Dampfwolke folgte und verhüllte den Blick auf die ferne, fast nicht mehr erkennbare Bergkette. Dann kochte ein ungeheurer pechschwarzer Strahl Rauch nach hinten, die Flammen durchschnitten ihn, und der Bruzack nahm wieder Fahrt auf. Gjeima wimmerte auf, schluckte und ver stummte, als der Andruck sie gegen die Rückenlehne des Sessels preßte. »Ich bin nicht einmal dazu gekommen, dieses verdammte Verdeck zu öffnen«, knurrte ich. »Geschweige denn, auszustei gen. Die Fahrt geht also weiter. Und ich wette, nicht einmal der Bruzack selbst weiß, wohin.« Röhrend und qualmend schoß die Maschine unbeirrbar auf ihrem Südkurs da hin. Es war heller geworden. Im Augenblick verzichtete ich darauf, irgendwelche Knöpfe zu drücken und an Hebeln zu ziehen, aber es juckte mich in den Fingerspitzen. Für eine kurze Zeit verhielt sich auch Gjeima still; sie schien vorübergehend vergessen zu haben, mich zur Liebe aufzufordern. Wir waren jetzt bereits jenseits der wei ten, nassen Ebene. Der Himmel strahlte tat sächlich viel heller, und das Licht begann, durch die halbdurchsichtigen Fenster einfal lend, unsere Haut zu wärmen. Die Land schaft wechselte jetzt unmerklich ihr Ausse hen. Schneereste und Nässe verschwanden. Wieder tauchte ein breites Band niedriger Hügel auf, die mit kleinen, dichten Wäld chen bewachsen waren. Eine Grassteppe be gann am Fuß der Hügel. Wir rasten darauf zu, die Nase des Bruzack hob sich. Die Ma schine folgte den Windungen eines flachen Tales und wich den Hügeln aus. Hier war das Gras nicht mehr staubig und verdorrt, sondern wurde von Minute zu Minute grü ner. Ich schätzte die Geschwindigkeit auf rund zweihundert Kilometer in der Stunde. Dann hörten die Schlingerbewegungen auf, der Bruzack schwebte wieder schnurgerade nach Süden. Vor uns breitete sich eine Step pe aus: ich kannte die Merkmale einer sol chen Landschaft. Kehrt der Bruzack vielleicht zu seinen Er
6 bauern zurück? flüsterte der Logiksektor. »Das wäre eine Erklärung«, murmelte ich im Selbstgespräch. »Soll ich mich ausziehen, Liebling?« flü sterte Gjeima und begann, an ihrer Kleidung zu nesteln. »Nein!« brüllte ich. Sie zuckte er schrocken zusammen und sah mich begriffs stutzig an. »Später!« sagte ich beschwichtigend und lehnte mich zurück. Ich war ausgeliefert, wenn es mir nicht gelang, die Maschine wirklich unter Kontrolle zu bekommen. Wieder ergriff mich die Furcht, in neue Abenteuer verschleppt zu werden, die ich nicht überstehen konnte. Als ich mich wieder der Landschaft zu wandte, hatte sie sich abermals verändert. Rundherum war Steppe mit hüfthohem Gras, über das der Bruzack dahinschwebte. Aus diesem endlosen Gräsermeer, das sich in ei nem leichten Wind bewegte wie Wasser, er hoben sich unregelmäßig verstreut kleine, halbkugelige Gebüsche aus Bäumen und dunkelgrünen Sträuchern. Ab und zu tauch ten harmlos aussehende, aber große Tiere auf. In den Gräsern und den Vegetationsin seln würde es von kleinem Getier wimmeln. Es schien weder Krethors zu geben, die auf Büffeln ritten, noch Angehörige eines ande ren Stammes, deren Reitvögel durch das Gras trabten. Hin und wieder sah ich riesige Vögel hoch in der Luft. Ich riskierte, einen Knopf zu drücken, dessen Funktion mir bekannt war. Mit einem feinen Sirren schob sich ein Segment über unseren Köpfen zurück. Warme Luft fuhr ins Innere des Bruzack. »Kennst du diese Gegend?« fragte ich Gjeima, die ununterbrochen nach draußen blickte und vor Dingen Angst zu haben schi en, die ich nicht kannte. »Nein. Ich war niemals hier. Aber es ist unsere Welt. Ich werde mit dir zusammen eine Familie aufbauen können, Liebling!« behauptete sie mit einer Sicherheit, die ich nicht begreifen konnte. »Vermutlich nicht«, erwiderte ich. Ich
Hans Kneifel wartete auf den nächsten Zwischenfall. Er würde nicht lange auf sich warten lassen. Wenn der Bruzack wirklich zu seinen Er bauern zurückkehrte, wenn es eine Maschine war, die der Verfolgung und der Jagd auf Großtiere diente, dann würde ich am End punkt dieser rasenden Wanderung einen wil den, unbarmherzigen Stamm finden. Wieder zog ich an einem Hebel, den ich nicht kannte. Nichts geschah. Jedenfalls nichts, was ich merken konnte. In unregelmäßigen Abständen sah ich jetzt große, annähernd pyramidenförmige Fel strümmer, die verstreut aus dem Gras auf tauchten und nicht größer waren als ein Haus in Krothenbeet. Sie schienen aus stark geädertem Gestein zu sein, in dem in dem vielfarbigen Licht große, funkelnde Ein schüsse leuchteten. Kleiner, größer, einige zusammen, dann eine Reihe hintereinander, schließlich wieder riesige Zwischenräume – so verteilten sich diese Spitzkegel über die Fläche. Nacheinander drückte ich vier Schalter, die in einer Reihe nebeneinander dunkelrot leuchteten. Aus vier Punkten der Außenhülle schoben sich teleskopisch lange, silbern glänzende Rohre hervor. Sie trugen an ihren Enden ku gelförmige Elemente, die wie Linsen wirk ten. Der Bruzack wich zuerst einer Vegetati onsinsel aus, schlug dann vor einer Fels gruppe einen Haken und steuerte, nachdem die Röhren sich schräg nach oben voll her ausgeschoben hatte, plötzlich nach links. Der schwarze Rauch aus den Düsen ver schwand. Ein blauer Nebel drang anstelle dieser Abgase hervor, während das Gefährt langsamer wurde und sich wie suchend im Zickzack über das Gras bewegte, aber im mer die Hauptrichtung beibehielt. Es gab im Mikrokosmos zweifellos über raschende Dinge. Teilweise schien es so, als ob zwischen diesem submikroskopischen Bereich und der Wirklichkeit seltsame Ver bindungen bestünden. Vielleicht fand ich bei den Erbauern des
Die Piraten der Mikrowelt Bruzack irgendeine Möglichkeit, auf dem Umweg über den Mikrokosmos die Mörder meines Vaters anzugreifen? Vielleicht gab es Bezüge zwischen diesem Teil des Kos mos und dem entsprechenden Teil des Mi krokosmos, der sich in der Nähe Orbana schols befand? Ich wußte es nicht. Eine reichlich kühne Hypothese! schaltete sich der Extrasinn ein. So war es. Aber diese Hypothese war letz ten Endes nicht kühner und nicht ungewöhn licher als das, was ich gerade erlebte: ich be wegte mich in einer Welt, die der wirklichen ähnlich war und doch nichts anderes dar stellte als ein paar Moleküle dieser »normalen« Umgebung. Der Angstschweiß brach mir plötzlich aus, als ich diesen Unter schied ins Auge faßte. Und noch immer suchte ich Crysalgira und Grek-3. Ich bezweifelte, ob ich sie finden würde. Suchend, langsam, leise und in schlän gelnden Linien schwebte der Bruzack in et wa eineinhalb Metern Höhe über die Spitzen der Gräser. Unter uns bewegten sich die Ge wächse. Der Wind schob sie hin und her, kippte sie, und sie drehten die matten Unter seiten der Blätter nach oben. Soweit ich se hen konnte, gab es dieses Wellenmuster. Die Pflanzeninseln und die Felsen bildeten For mationen, die tatsächlich wie Eilande wirk ten. Und nachdem der Bruzack um eine Fel sengruppe herumgeschwebt war, hielt er plötzlich an. Fünfzig Meter vor uns hob ein Tier seinen Schädel aus dem Gras, drehte einen Schlan genhals und sah uns mit hellen Reptilaugen entgegen. Dann eine zweite Bewegung, mit der sich der Koloß aus dem Gras erhob. Der Bruzack begann erregt zu vibrieren und stieß einen fanfarenähnlichen Ton aus. »Atlan! Ein Tier! Ich kenne es nicht! Es wird uns töten!« kreischte Gjeima und krall te sich an meinen rechten Arm fest. Viel leicht, hatte ich durch meine Schaltungen ei ne Art Jagdprogramm der Maschine akti viert? »Es wird uns nicht töten!« versprach ich
7 und versuchte sie zu beruhigen. Sie verstand mich, wie immer, falsch. Augenblicklich ging sie zum Angriff über und begann mich zu streicheln. Das Tier stand erstarrt da und glotzte uns an. Der Bruzack heulte ein zweites, längeres Signal hinaus, schwebte aber noch immer über der Stelle. Dann fuhr er langsam die vier Optiken ein und schloß die Klappen. Wollte diese Satansmaschine tatsächlich die ses Riesentier jagen? Es schien ein harmlo ser Pflanzenfresser zu sein, aber natürlich kannte ich den Tiergiganten nicht. Ein riesiger, gelbhäutiger Vierfüßler. Die Haut hatte schwarze Flecken, auch rund um die knotigen Gelenke war sie dunkel ver färbt und trug dicke Hornhäute. Der Schwanz war ebenso lang wie der Hals. Das Tier schien eine Art Saurier zu sein, auf alle Fälle eine Echse. Zwischen den kleinen, run den Ohren begann ein Hornkamm, der über den gesamten Hals, über den Körper und den Schwanz lief, wo er in einem riesigen Haken endete. Auf der Stirn des runden Schädels saß ein kurzes, dreieckiges Horn. Als der nächste Fanfarenstoß des Bruzack über die Ebene gellte, riß die Riesenechse den Schwanz steil in die Höhe und begann zu flüchten. Das war der Augenblick, auf den der Bruzack gewartet hatte. Unvermittelt setzte sich die silberglänzende Maschine in Bewe gung. Rechts und links des Vorsprungs, in dem wir saßen, schoben sich zwei lange, schlanke Läufe aus der Verkleidung hervor. Gleichzeitig erhellten sich zwei kreisrunde Felder im Material des Armaturenbrettes. Eine Art Zielkreuz erschien in der leuchtenden Fläche. Also doch ein Jagdgerät! In einem schnellen Trab flüchtete die Echse. Ihr Hals und der Schwanz federten auf und ab. Sie wirkten als Steuerorgane. Die Echse rannte auf eine Gruppe von Fel sen zu, die wir in der Ferne sahen. Die Ma schine würde zwischen den aufragenden Felsnadeln, den würfelförmigen, spitzkegeli gen und säulenartigen Steinformationen die
8 Jagd nicht fortsetzen können. Aber der Bruzack handelte vollkommen selbständig, ohne daß ich etwas schaltete. Das gelbe Riesentier rannte davon, die Maschine schob sich näher heran und glitt geräuschlos, nur lange Flammen und blauen Nebel ausstoßend, links des Tieres dahin. Die Läufe der beiden Waffen – waren es diesmal Energiegeschütze? – drehten sich mit, so daß sie wie ein automatisch gesteuer tes Geschütz immer auf das Tier deuteten. Die Echse flüchtet. Das bedeutet, daß sie diese Maschine kennt oder schon gejagt worden ist, erklärte der Extrasinn. Ich zweifelte nicht daran, denn die Ge schwindigkeit des Tieres steigerte sich. Der Bruzack folgte mühelos und hielt immer denselben Abstand. Er handelte wie ein Jä ger, der das Tier nicht töten, sondern nur hetzen wollte. Ich blickte gespannt auf den Rücken des Tieres. Die großen Füße hinter ließen im hohen Gras eine breite Spur, das Gras wurde niedergewalzt. Wieder wandte das Tier den Kopf, sah nach seinem Verfol ger und stieß einen Schrei aus, der mühelos mit dem Horn der Maschine wetteifern konnte. »Atlan! Was tut die Maschine?« Ich hob die Schultern und warf Gjeima einen Blick zu. Sie war ratlos. Die einfache Ordnung ihrer kleinen Welt war seit dem letzten Angriff der Krethors umgeworfen worden. Sie verstand nichts mehr und fiel von einer Verwunderung in eine andere, ein Schrecken löste den anderen ab. Es war ver ständlich, daß sie sich immer wieder wie ei ne Ertrinkende an mich klammerte. Ich war zwar weitestgehend in derselben Situation, aber ich verstand mehr. »Diese Maschine jagt das Tier. Warum, das weiß ich nicht. Je länger ich hier bin«, sagte ich voller Unsicherheit, »desto weni ger begreife ich. Ich bin auf alles gefaßt.« Die Worte schienen sie innerlich wieder aufgerichtet zu haben. Sie strahlte mich an und flüsterte. »Wenn du bei mir bist, Atlanliebling, dann wird alles gut.«
Hans Kneifel Der Bruzack war zu schnell. Sonst wäre ich schreiend aus der Luke gesprungen und geflüchtet. Überflüssig war der Kommentar des Extrasinns: Damit hättest du dich zusätzlich in Ge fahr gebracht. Die seltsame Jagd ging weiter. Das Tier war jetzt nur noch einen halben Kilometer von den ersten, kleineren Ausläufern der Felsengruppe entfernt. Es befand sich in Pa nik, schrie ununterbrochen und schlug stän dig Haken. Der Schwanz schien die Waffe des Tieres zu sein, denn zweimal stellte sich der Riese, drehte den Körper blitzschnell halb herum und schwang den Schwanz wie eine Peitsche. Aber der Bruzack wich eben so schnell aus. Vor mir knisterten und knackten Schal tungen. Die gesamte Automatik der Maschi ne befand sich in hellem Aufruhr. Nach wie vor deuteten die beiden Läufe auf das Vor derteil des Tieres. Die Felsen kamen näher. Ich konnte bereits die einzelnen Gewächse auf den Steintrümmern erkennen. Die Echse schlug nach uns und senkte, nachdem die Schwanzspitze pfeifend dicht über die Öffnung vorbeigezischt war, den Kopf. Mit dem Horn zielte die Echse auf das Vorderteil des Bruzack. Die Maschine heul te angriffslustig auf und reagierte sofort. Die Jagd hatte ein bestimmtes Stadium erreicht. Der Bruzack wich aus, drehte sich herum, die Rohre folgten der Bewegung. Dann krachten in schneller Folge scharfe, laute Entladungen. Winzige, helle Kugeln verließen die bei den Rohre und flogen viel langsamer als Ex plosivgeschosse auf die Echse zu. Die Rohre zielten auf den Schwanz und den Kopf der gelbhäutigen Beute. Während des Fluges wurden die Kugeln größer. Jedenfalls eine neue, überraschende Waffe. »Kaum zu glauben!« keuchte ich. Die Kugeln wurden größer. Ein nicht en den wollender Strom flog durch die Luft und blähte sich auf. Die erste Kugel aus dem lin ken Rohr erreichte die scharfe Hornplatte des Schwanzendes, die zweite Kugel berühr
Die Piraten der Mikrowelt te, inzwischen zu doppelt kopfgroßer Größe angeschwollen und durchsichtig geworden, den Hals dicht unterhalb des Kopfes. Ich wartete, atemlos vor Spannung. Der Kopf zuckte aus einer Höhe von nicht weniger als fünfzehn Meter herunter, und das Horn würde den Bruzack rammen. Im letzten Moment führte die Maschine eine ge ringfügige Schwenkung aus. Das Horn bohr te sich zwei Handbreit tief in den Boden, der Kopf verschwand im Gras. Dann platzte der erste Ballon. Die Haut überzog sich mit ei nem milchigen Film. Der zweite Ballon zer riß, die übrigen Kugeln verfolgten die Be wegungen des Tieres. Der Bruzack schob sich aufbrummend zurück. Für einen Augen blick hörte der Beschuß der merkwürdigen Kugeln auf. Ich beobachtete das Tier scharf. Es richtete sich auf und sprang röhrend mit allen vieren in die Höhe. Aber ich sah, daß sich der Hals schwerfälliger bewegte. Und auch der letzte Teil des Schwanzes wirkte wie paralysiert. Einige Kugeln waren geradeaus weitergeflogen, die anderen trafen jetzt. Die Geschosse schwebten in engen Krei sen um den Körper des Tieres. Sie trafen die Gelenke, sie hefteten sich, gewaltig aufge bläht, an die Haut des Halses und des mus kulösen Schwanzes. Das Tier schrie gellend vor Schmerzen. Nach wie vor bewegten sich die Rohre und folgten den einzelnen Bewe gungen. Wieder löste sich ein Schuß, und als das Tier, wütend vor Schmerz, den Bruzack angriff, wobei seine Bewegungen immer schwerfälliger und schwächer wurden, lan dete die aufgeblähte Kugel direkt auf dem Kopf des Reptils. »Das war der Fangschuß!« sagte ich leise. Die Kugel platzte. Das Tier, das sich in unserer Richtung in Bewegung gesetzt hatte, stampfte und polterte heran. Es wirkte wie ein wütender Saurier, und trotz der unbehol fenen Schritte und der Lähmung war das Tier nach wie vor gefährlich. Allein das Ge wicht des Körpers konnte den Bruzack zu sammenpressen und in den Boden rammen.
9 Aber der Bruzack wich langsam rück wärts aus, und die Entfernung zwischen dem torkelnden Tier und der Maschine blieb gleich groß. Die letzte abgefeuerte Blase platzte, der Film legte sich über die Ohren, das Horn und die Augen der Echse. Und über das weit aufgerissene Maul. Der letzte Schrei der Riesenechse wurde abgeschnit ten. Verzweifelt schwang der Körper hin und her. Der lange Schwanz zitterte in hal ber Lähmung. Der Hals bog sich aufwärts und abwärts – das Tier war nicht mehr Herr seiner Sinne. »Ich verstehe das alles nicht!« wiederhol te Gjeima fassungslos zum zehntenmal. »Warum haben sie gekämpft?« »Weil die Maschine dafür konstruiert wurde. Man hat sie dafür hergestellt«, er klärte ich. Die Echse blieb stehen. Der gesamte Körper geriet in unkontrol lierte Zuckungen. Dann senkte sich der Kopf bis tief auf den Boden. Der Körper schwank te hin und her. Nach einigen Sekunden, in denen irgendwelche Gifte in dem Material der Kugeln zu wirken begannen, kippte der Koloß einfach auf die Seite. Obwohl der Bruzack schwebte, glaubte ich die Erschüt terung zu fühlen. Triumphierend ertönten das Horn, die Fanfare und alle anderen akustischen Geräte des Jagdgleiters. Der Bruzack drehte auf der Stelle und wurde wieder schneller. Er raste weiter nach Süden. Diese Jagd, ob einpro grammiert oder nicht, war nur eine kurze Episode gewesen. Einige Minuten vergingen schweigend, und ich sah, daß wieder lange Flammen und schwarzer Rauch aus dem dröhnenden Hinterteil der Maschine entwi chen. Elegant kurvte die Konstruktion um das nächste Wäldchen herum, scheuchte mit ihrem Röhren und Donnern einen Schwarm heller Vögel auf und nahm Kurs nach Sü den. Es war später Morgen. »Wir müssen anhalten, ich habe Hunger und Durst!« sagte Gjeima unvermittelt. »Tatsächlich!« gab ich zu. »Bisher habe
10 ich es nicht gemerkt. Aber ich kann dieses verfluchte Gerät nicht anhalten.« Ich hielt es durchaus für möglich, mit die ser verblüffenden und verwirrenden Maschi ne den Trick zu vollziehen, an den ich eben gedacht hatte. Vielleicht gelang es, mit dem Bruzack in jenen Bereich einzudringen – in Form einer Art von Transitionssprung viel leicht –, in dem sich Orbanaschol befand. Das wäre eine überraschende Wendung des Geschehens. Ich würde dann nicht mehr pas siv sein und nur auf Anstöße reagieren, son dern wieder aktiv handeln können. »Wenn der Bruzack weiterfliegt, werden wir verhungern!« sagte Gjeima düster. »Und hier gibt es sicher wilde Stämme, die uns überfallen.« Du bist unbewaffnet, denke daran! sagte der Extrasinn. »Kennst du sie?« fragte ich zurück. »Nein. Du müßtest sie kennen. Denn du kommst aus dem Süden!« erwiderte sie er staunt. Ich konnte ihr nicht erklären, woher ich wirklich kam. Ich nickte und erklärte: »Aber ich habe einen anderen Weg zu rückgelegt. Über diese Ebene voller Felsen und Gras bin ich nicht gekommen.« Der Bruzack machte einen Satz, um ei nem im Gras verborgenen Hindernis auszu weichen. Das Heck senkte sich und schlug schwer gegen etwas Hartes. Donnernd ent wich eine Flammensäule den Auspufflö chern. Ich hielt mich fest und hörte durch den entsetzten Schrei des Mädchens ein knirschendes, krachendes Geräusch. Dann vollführte die Maschine eine Serie merkwürdiger, schneller Bewegungen. Sie folg einen langgestreckten Zickzack kurs, dabei schwebte sie auf und nieder. Ein mal befand sie sich drei oder vier Meter über dem Gras, dann wieder tauchte sie tief bis auf den Boden hinab und wurde durch die raschelnden Halme abgebremst. Vertrocknetes Holz und Erdhügel wurden getroffen, brachen splitternd und wurden von der Spitze des Bruzack zur Seite ge schleudert. Prasselnd schlugen kleine Steine gegen das Metall und die einseitig durch-
Hans Kneifel sichtigen Flächen. Die Geschwindigkeit nahm zwar nicht ab, aber die Maschine gab eine Reihe von lauten, auffallenden Ge räuschen von sich. Eine Fehlschaltung! Die Fahrt geht zu Ende! schrie der Extrasinn. »Ducke dich! Halte dich fest!« schrie ich. Mein Arm schnellte nach vorn, als der Bruzack wieder einmal schleuderte und sich schräg stellte. Ich drückte die Schalter, von denen ich wußte, daß sie das stählerne Ver deck öffneten. Gjeima rutschte auf ihrem Sessel nach vorn und verbarg ihren Kopf in den hochgehaltenen Armen. Ich ließ mich, nachdem ich die Wirkung der Schaltungen sah, einfach fallen und bereitete mich auf einen Zusammenprall mit einem Felsen vor. Einige Sekunden vergingen … Heulend und trompetend, mit knatternden und donnernden Auspuffgeräuschen, in ei nem verwirrenden Kurs, der uns hilflos un ter den Sitzen herumschleuderte, bewegte sich die Maschine. Sie glich einem Boot, das über tobenden Wellen dahinraste. Im Innern knackte und summte es. Schaltungen erfolg ten in rasender Schnelligkeit. Die Geschwin digkeit nahm zu, dann bremste das Gerät wieder hart, kippte und beschleunigte aber mals. Dieser abrupte Wechsel wiederholte sich mehrmals. Ich sah nichts mehr. »Atlan! Sie wird uns töten!« kreischte Gjeima undeutlich. »Wir werden es überleben!« gab ich zu rück. Ich spürte direkt körperlich, wie der Bruzack mit erhöhter Geschwindigkeit di rekt auf ein Felsmassiv zusteuerte und dort zerschellen würde. Keine Panik! Wieder schwang sich die Maschine auf wärts, überschlug sich halb in einer Drehung um die Längsachse, dann tauchte sie abwärts und verschwand im hohen Gras. Der Boden schrammte über glatte Steine. Ein grauen haftes Geräusch ging durch den Körper. Der Bruzack wurde aus der Bahn geworfen, drehte sich mehrmals und schlug dann hart irgendwo an. Ein splitterndes, knirschendes Geräusch,
Die Piraten der Mikrowelt mit dem sich Metall verformte und Stein brach. Eine Lawine von Steinen prasselte auf das Oberteil herunter. Ich bewegte mich, klammerte mich an die Polster und stemmte mich nach oben. »Schnell, hinaus!« schrie ich. Mit einem dröhnenden Fanfarenstoß und einer Kette von Explosionen löste sich der Antriebsme chanismus auf. Ich roch Rauch von trockenen Pflanzen. Ich krachte, als ich mich nach oben schob, mit dem Rücken gegen das Armaturenbrett und rammte den Schädel ge gen ein Stück der Schaltung. Dann schwang ich mich, mit beiden Händen zupackend, aus der Öffnung. Ich fiel ins Gras, wirbelte her um und kam wieder auf die Beine. Ich warf mich nach vorn und griff nach den Armen des Mädchens. »Los, laß dir helfen!« sagte ich kurz und zog Gjeima aus dem Bruzack heraus. Eine heiße, ölige Flüssigkeit war aus dem Heck ausgetreten, versickerte im Boden und hatte sich entzündet. Flammen züngelten, und dünne Fäden dunkelgrauen Rauchs erhoben sich in der heißen Luft. »Wir werden verbrennen, Liebling!« wimmerte Gjeima. Ich fing sie auf, als sie vom Sitz heruntersprang. Ihr Anprall riß uns beide zu Boden. »Das können wir verhindern, wenn wir rennen!« murmelte ich, packte sie an der Hand und sah mich zwei Sekunden lang um. Dann begannen wir in die Richtung einer kleinen Insel zu rennen. Sie bestand aus dunkelgrünen, saftigen Gewächsen, die sich hinter dem hohen Gras erhoben. Nach vier Schritten explodierte ein Teil des Bruzack. Flammen schlugen hoch und breiteten sich aus. Einige Schritte später sah ich neben den Felsen eine dicke, schwarze Rauchsäule, die wie ein Signal schräg in die Höhe trieb. Die rasende Fahrt nach Süden war zu En de. Aber noch lebten wir. Hungrig, durstig, waffenlos. Und wenn hier jemand lebte, würde ihn der Rauch dieses Feuers sehr schnell angelockt haben. Ich dachte an die Grausamkeit der Kämpfe um Krothenbeet
11 und erschauerte. Um uns herum wogte und knisterte das Gras. Es war schulterhoch, und zahlreiche Tiere versteckten sich zwischen den Halmen. Ich hustete würgend; Blüten staub legte sich auf die Schleimhäute und brannte in den Augen.
2. Von hier aus wirkte die Szene wie ein Teil aus einem phantastischen Drama. Halb hinter der Ansammlung spitzkegeliger, zer rissener Felsnadeln verborgen, brannte der rätselhafte Bruzack aus, den Dophor, Gjei mas Vater irgendwo erstanden hatte. Die Rauchsäule konnte kaum übersehen werden. Sie erhob sich aus dem Grasland und reichte bereits in eine erstaunliche Höhe, in der sie zerfaserte und unter dem gefleckten Himmel nach Osten abtrieb. Von der Stelle jenseits der Felsen, wo der zerstörte Bruzack ausbrannte, bis in den hal ben Schatten unter den ersten, ausladenden Ästen eines großen, dichtbelaubten Baumes, führte eine breite Doppelspur. Es war unser Weg durch das hohe Gras. Hier, in einem Kreisring um die Vegetationsinsel, wuchs das Gras nicht mehr so stattlich; kleine Steinanhäufungen, Laub, trockenes Geäst und kaum kniehohe Büsche unterbrachen die Grasfläche. Mitten in dem zusammenge trampelten Pfad stand oder kauerte ein klei nes Tier mit einem grünbraunen Fell und langen Ohren. »Was tun wir jetzt, Atlan?« fragte Gjei ma, die sich mühsam beruhigt hatte und meine Hand umklammerte, als wäre ich ihr einziger Halt. »Wir versuchen weiterzuleben«, sagte ich leise. »Zuerst brauchen wir Wasser, Waffen, Essen und dann ein festes Ziel.« Sie deutete auf das Dunkel unter den Zweigen und Ästen und erklärte: »Wir müssen uns zugespitzte Stöcke her stellen. Wir werden Wasser finden. Ohne Wasser keine Bäume.« Ich suchte nach meinem Messer und fand es, wie erhofft, im Stiefelschaft. Es war
12 mehr als warm, und wir begannen in der dicken Kleidung zu schwitzen. Gjeima bückte sich und suchte drei mittelgroße Stei ne zusammen. »Was hast du vor?« fragte ich leise. Das kleine Pelztier sah uns unverwandt aus großen Augen an. »Essen, Atlan. Wir müssen essen. Ich se he keine Früchte, also brauchen wir einen Braten.« »Du willst das Tier mit einem Stein erle gen?« fragte ich ungläubig. Die Entfernung betrug mindestens fünfzehn Meter. »Mit drei Steinwürfen, ja!« bestätigte sie. Ich hatte vor, nach Süden weiterzuwan dern. Undeutlich sah ich über dem Horizont eine Art Gewitterwolke. Allerdings hütete ich mich, meine Erfahrungen allzu sehr in die Mikrowelt zu projizieren. Es konnte ebensogut etwas anderes sein. Aber wo Wolken sind, gibt es meistens Wasser oder einen ausgedehnten Regenwald. Unterwegs würden wir uns von kleinen Tieren und Früchten ernähren und versuchen müssen, Waffen zu finden oder herzustellen. Über die notwendigen Fähigkeiten dazu verfügte ich. Ra hatte mir vieles beigebracht. Wieder packte mich das Heimweh nach Kraumon und die Sehnsucht nach meinen Freunden. Schon der Gedanke an den Bauchaufschnei der munterte mich auf. Ich trat zurück in den Schatten und sah zu, wie Gjeima den Arm hob. Schnell nacheinander schleuderte sie die drei Steine. Der erste schlug hart hinter dem Tier in das verfilzte Gras. Das Tier schnellte sich mit einem weiten Satz nach vorn. Der zweite Stein surrte durch die Luft und traf das Tier in den Rücken. Es zuckte mitten im Sprung zusammen und fiel zu Boden. Dort zer schmetterte der dritte Stein dem hasen großen Tier den Schädel. »Siehst du? Jetzt haben wir einen Bra ten«, sagte Gjeima zufrieden. »Gib mir das Messer, Liebling.« Ich warf das Messer hoch, packte es an der Schneide und gab es ihr. Während sie
Hans Kneifel auf das Tier zulief, um es aufzubrechen und auszunehmen, hob ich einen dicken, trockenen Ast auf und trat ein paar Zweige davon ab. Mit dieser primitiven Waffe aus gerüstet, ging ich nach rechts. Ich hatte vor, die nähere Umgebung zu untersuchen. Das Gras war feucht gewesen, und der Brand des Bruzack hatte kein Flächenfeuer ausgelöst. Aber noch immer brannte die Ma schine mit knatternden Flammen und be trächtlicher Rauchentwicklung. Ein stechender Geruch breitete sich aus und scheuchte mehr Tiere auf als ich mit meinen Schritten. Hoch am Himmel sammelte sich langsam ein Schwarm von Vögeln, die träge ihre Kreise zogen. Der Rauch. Er ist ein deutliches Signal. Dazu kommen die Vögel. Wenn in dieser Grasebene jemand haust, wird er die Zei chen sehen und nachforschen! erklärte der Logiksektor. »Richtig!« brummte ich und machte grö ßere Schritte. Ich hielt mich genau an der Grenze zwischen niedriger und hoher Vege tation. Ich sah Kotspuren, kleine Vogelne ster in den Zweigen, den Rest eines Feuers, das vor Monaten hier gebrannt hatte, Kno chen und zerbrochene Eierschalen. Schlan gen und handgroße Echsen huschten vor meinen Stiefelabsätzen in Sicherheit. Plötz lich betrat ich weichen Boden. Unter den Sohlen preßte sich nasses Moos zusammen. Ich blieb stehen, blickte nach beiden Seiten und folgte dann der feuchten Spur. Sie führ te in das Innere des kleinen Waldes hinein. Ich ging schneller, sprang über Wurzeln und schob mit den Armen Äste zur Seite, die peitschend zurückfederten. Aus der nassen Zone wurde, als Steine auftauchten, ein win ziges, schmales Rinnsal, das den Wald durchquerte und mehr Zulauf erhielt, als ich einen leichten Abhang hinunterrutschte. Ich folgte dem Wasserlauf und kam auf der ge genüberliegenden Seite wieder aus dem Wald hinaus. Hier war aus der Quelle bereits ein kleiner Bach geworden, der über Sand und Steine
Die Piraten der Mikrowelt lief und zwischen den Gräsern versickerte. Ich rannte halb um den Wald herum und schrie: »Gjeima! Hierher!« Als ich auf die Stelle zurannte, an der ich das Mädchen zurückgelassen hatte, sah ich kleine Büsche, an denen Früchte hingen. Ich merkte mir die Stelle. Ich tauchte unter ei nem breiten Ast hindurch und stand vor Gjeima. Das Mädchen lachte mich an und hielt das ausgeweidete und abgezogene Tier an den Hinterläufen hoch. »Ich habe Wasser gefunden«, sagte ich. »Und Früchte.« »Wir brauchen nur noch Feuer«, erklärte sie, und offensichtlich schien Gjeima aus nahmsweise im Augenblick nicht an Liebe zu denken. »Holst du welches? Wir haben keinen Feuerstein.« Der Brand schwelte noch immer hinter dem Felsen. Ich beschrieb den Weg zum Bachlauf und rannte dann davon, um Feuer zu holen. Als ich mit dem brennenden Ast zurückkam, hatte Gjeima schon alles vorbe reitet. Das hasenähnliche Tier drehte sich über dem Feuer. Fett tropfte in die aufzischenden Flammen. Auf gewaschenen Blättern lagen aufge schnittene Früchte. Wir tranken Wasser mit der hohlen Hand. Nur das Salz fehlte. Über uns hatte sich der Vogelschwarm vergrößert. Die Rauchsäule war vergangen, und die ersten Vögel schraubten sich ab wärts, um über die Innereien des Tieres her zufallen. Inzwischen war es Mittag oder spä ter geworden. Ich lehnte mich an einen Baumstamm und schleuderte einen abgenag ten Knochen ins Gras. Denke an die kommende Nacht, warnte der Extrasinn. Am Rand des Grasfelds tauchte der ge hörnte Schädel eines Tieres auf, das ein klei nerer Artgenosse der Krethor-Büffel sein konnte. Das Tier warf uns einen Blick voller Mißtrauen zu, brüllte dann ärgerlich und sog den Geruch des Feuers und der Bratenreste in die Nase. Dann trollte sich das Tier
13 durchs Gras davon. »Wir gehen zu Fuß weiter, Atlan?« fragte Gjeima. Das Bratenfett lief aus ihren Mund winkeln. »Ja. Nach Süden. Wir suchen uns für die Nacht einen sicheren Lagerplatz. Ich bin ei nigermaßen ratlos.« »Warum?« »Ich habe fest geglaubt, daß uns der Bruzack dorthin bringt, wo er einmal gebaut wurde. Das ist jetzt vorbei.« Gjeima wußte nicht, was sie von meinem Hang nach dem Süden halten sollte. Sie fragte mißmutig: »Warum willst du eigentlich dorthin? Was suchst du dort? Deine Heimat? Es ist sicher sehr weit bis dorthin?« Ich vermied es, sie anzusehen. Sie würde nur wieder glauben, daß ich sie zur Liebe auffordere. »Ich suche einen Weg, diese Welt zu ver lassen. Ich habe gedacht, daß ich es mit Hil fe des Bruzack oder seiner Erbauer tun könnte. Aber das ist nun vorbei. Ich weiß, daß die Maschine irgendwo dort hätte anhal ten sollen. Also gehe ich zu Fuß in diese Richtung.« »Warum willst du unsere Welt verlas sen?« Erschrecke sie nicht zu sehr. Sie versteht zu wenig, warnte der Extrasinn. »Weil mein Ziel auf einer anderen Welt liegt. Ich bin nur ein Wanderer. Ich bleibe nirgends lange.« »Auch nicht bei mir?« Sie kroch langsam näher. Ich wich ein wenig zurück, aber ich sah ein, daß es sinnlos sein würde, zu flüchten. Sie kannte nur dieses Ziel. Andererseits brauchte ich sie, denn sie kannte Tiere und Früchte besser als ich. »Ich fürchtete, auch unsere Bekanntschaft wird von kurzer Dauer sein«, wich ich aus. »Das kann ich nicht glauben!« meinte Gjeima und stand auf. Die letzten Vögel wa ren inzwischen gelandet und stritten sich um die wenigen Reste des Tieres. »Du wirst es glauben müssen«, sagte ich.
14
Hans Kneifel
»Komm, gehen wir. Gib mir das Messer; wir suchen uns einen Platz für die Nacht.« Sie hauchte lächelnd: »Für die Nacht der Liebe, Atlan!« Ich schluckte eine Verwünschung herun ter und stand ebenfalls auf. Ich steckte das Messer in den Gürtel, nahm den zugespitz ten Ast mit dem Knollen an einem Ende in die Hand und sah in die Richtung der dunklen Wolken, die irgendwo im Süden schwebte. »Man sagt, daß es weit im Süden große Wälder gibt!« murmelte das Mädchen, als ich in das Meer von Gras eindrang und in mittelschnellem Tempo geradeaus zu gehen begann. Eine lange, schweißtreibende Wan derung begann.
* Einige Stunden später blieb ich stehen und stützte mich schwer gegen den heißen Fels. Abermals hatte sich die Landschaft verändert. Nicht grundlegend, denn sie bestand nach wie vor aus Wäldchen, Felsen und Gras. Aber das Gras war kurz und weitestgehend verdorrt, die Bäume waren kleiner, und die Felsen zahlreicher. Dies hatte den Vorzug, daß wir den Horizont besser erkennen konn ten. »Kennst du die Gegend? Hast du irgend etwas davon gehört?« fragte ich und wischte den Schweiß und den Blütenstaub aus mei nem Gesicht. Weit im Westen sah ich wieder einen Schwarm Vögel. Sie waren winzig klein und schienen sich kaum zu bewegen. Gjeima deutete in dieselbe Richtung. »Ich kenne eine Sage. Im Westen ist eine Hochebene. Ihr Name ist Jansonthen. Die Menschen sollen sehr geschickt sein, man erzählt sich viele Geschichten über ihre zau berischen Künste.« »Was weißt du noch von ihnen?« »Nichts. Nur Sagen. Ich glaube nicht, daß es sie wirklich gibt. Keiner von uns hat je einen Menschen aus Jansonthen gesehen.«
»Ich verstehe«, meinte ich unschlüssig und nahm meine Wanderung wieder auf. Zwischen der Wolke im Süden, die über einer Art Mauer schwebte – diese Mauer stellte mit Sicherheit den Rand eines großen Waldes dar –, und unserem schattigen Platz lag die Ebene. Sie war völlig flach, wie eine Tischplatte. Ich konnte nicht einen einzigen Hügel entdecken. Die hügelige Zone lag schon ein gutes Stück hinter uns. Ich schätz te den Abstand bis zum Waldrand auf etwa dreißig Kilometer, wenn ich hier im Mikro kosmos die gleichen Maße gelten ließ wie an anderer Stelle. Es war merkwürdig: seit dem Augenblick, in dem ich mich im Schnee nahe Krothenbeet wiedergefunden hatte, war ich nicht eine Stunde lang unsi cher gewesen, irgendwann wieder in meine normale Größe zurückzuwachsen. Wir gingen weiter. Nicht mehr so schnell wie in den ersten Stunden, aber in gutem Tempo. Die Vögel im Westen bildeten jetzt eine Kette und schienen näherzukommen. Eine Stunde lang wanderten wir schwei gend geradeaus. Eine volle Stunde lang versuchte Gjeima nicht, mich zu verführen oder mehr oder we niger zur Liebe im Schatten eines Busches oder Baumes aufzufordern. Wir sahen ver schiedene Tiere, wir stolperten über Steine, sprangen über träge dahinfließende Bäche, umrundeten Sandflächen und gingen immer wieder durch Zonen verdorrten Grases. Die Hitze nahm nicht mehr zu, aber sie war groß genug. Wenn es in der Nacht nicht zu kalt wurde, dann konnte ich sicher sein, daß der Bruzack uns tatsächlich in eine andere Kli mazone entführt hatte. Jetzt verdichteten sich auch im Osten einzelne Strukturen zu einem dunklen Band, das wie ein weit ent fernter Waldrand aussah. Ich setzte mir für den nächsten Ruhepunkt eine Marke. Sie lag etwa dreitausend Meter entfernt – ein grüner Fleck mit einigen Bäu men neben einem Felsen, der wie eine abge brochene Säule aussah. Als ich mich nach einer Weile umdrehte, sah ich Gjeima nach
Die Piraten der Mikrowelt Westen deuten. »Atlan!« rief sie. »Die Vögel dort! Es sind gar keine Vögel!« Ich blieb stehen und starrte in die Rich tung. Tatsächlich! Aus den Punkten, die sich zu einer weit auseinandergezogenen Linie formiert hatten, waren deutlich unterscheid bare Formen geworden. Eine neue Gefahr! Verstecke dich! warnte der Extrasinn. Ich wartete, bis Gjeima aufgeholt hatte, beschattete die Augen mit der flachen Hand und spähte den eiförmigen Gegenständen entgegen. »Das kann ich nicht glauben«, flüsterte ich verblüfft. Ich ahnte, daß diese Welt aber mals mit einer gewaltigen Überraschung ausholte, um mich zu verblüffen. Natürlich geschah nichts meinetwegen, aber was ich dort sah, ließ mich erstarren. Etwa ein Dut zend Dinge, die aussahen wie riesengroße Eier, die dickeren Enden nach oben, mit schreiend bunten Linien und Punkten, Zick zackmustern und Farbfeldern, Sternen und allerlei geometrischen Figuren bemalt. Ballons! flüsterte der Extrasinn. Die Ballons flogen fast in gleicher Höhe. Sie bildeten eine Linie, die sich schräg nä herte. Der erste Ballon flog einige Meter hö her als die anderen und schien Leitfunktion zu haben. Gjeima rannte in mich hinein, weil sie un verwandt die Ballons anstarrte. Sie kamen langsam näher, völlig geräuschlos, nur von dem warmen, leichten Wind getrieben. Jetzt erkannte ich die Taue, die sich netzartig über den Ballon spannten und einen Korb hielten. »Was ist das dort, Atlan!« fragte Gjeima und deutete mit zitternden Fingern auf die näherdriftenden Objekte. »Das sind Ballons!« sagte ich, noch im mer starr vor Verwunderung. Sekunden spä ter, nach einem erstickten Atemzug, begann Gjeima gellend zu schreien. »Ballons! Ballons!« Dann wandte sie mir ihr schreckensblei ches Gesicht zu und fragte: »Was sind Ballons, Atlan?«
15 Fasziniert betrachtete ich die näherschwe benden Ballons. Etwa fünf- bis sechshundert Meter trennten den vordersten Ballon mit seinem würfelförmigen Korb von uns. Hat ten sie uns gesehen? Im vordersten Ballon sah ich zwei Männer mit Helmen aus hellem Metall oder kahlrasierten Schädeln. »Ballons«, sagte ich langsam und sah zu, wie die beiden Männer Ballast abwarfen, und wie der Ballon unmerklich seine Rich tung änderte und auf uns zudriftete, »sind Dinge, die leichter sind als Luft und deshalb schweben. Sie schweben so wie Luftblasen im Wasser.« »Aber … da sind Männer! Es sind die Zauberer von Jansonthen! Wir müssen flüchten, Atlan! Sie bringen uns um!« Ich blieb stehen und versuchte zu erken nen, was die Ballonfahrer taten. Einer von ihnen warf köpf große Steine aus dem Korb. Ich sah, daß außerhalb der Ballongondel an einem langen Arm eine Halbkugel hing, aus der Rauch aufstieg. »Sie bringen uns nicht um! Sie kennen uns nicht«, erwiderte ich. Die Linie änderte geringfügig ihre Richtung. Die Männer hat ten uns gesehen. Ich sah sie gestikulieren, und aus den anderen Ballonkörben kamen entsprechende Antworten. Je näher sie ka men, desto aufgeregter wurden sie. Als ich in der Hand eines der Männer einen Bogen sah, griff ich nach Gjeimas Arm. »Los! Wir versuchen, an ihnen vorbeizu kommen. Sie treiben nach Osten. Wir müs sen laufen, Mädchen.« Sie nickte, und wir spurteten los. Noch zweihundertfünfzig Meter, aber die Reihe der Ballons war mindestens einen Kilometer lang. Wir rannten nach Süden. Ich sprang über die Grasflächen, versuchte, in Deckung zu bleiben, aber die wenigen Sträucher ge nügten nicht. Bleiche Holzstücke, die wie uralte Knochen aussahen, lagen im Gras und lösten sich in modrig stinkenden Wolken aus Holzmehl auf, wenn wir darauftraten. Das dürre Gras raschelte unter unseren Schritten auf. Hinter uns erhoben sich kleine Staub wölkchen.
16 »Schneller! Sie werden uns fangen!« keuchte Gjeima hinter mir. »Sind sie bösartig?« rief ich zurück. »Ich weiß es nicht. Sie richten die Waffen auf uns!« Ich blieb kurz stehen. Schweiß rann über mein verstaubtes Gesicht. Jetzt erkannte ich die Gondeln und die Männer darin sehr ge nau. Wieder flogen einige Ballaststeine nach unten. In manchen Körben waren zwei, in den meisten drei Männer. Ihre Oberkörper waren nackt, aber sie steckten in ledernen Wamsen, die mit Metallplatten oder Nieten verstärkt waren. Der Mann im zweiten Bal lonkorb legte einen langen Pfeil auf den Bo gen, hielt die Spitze in die Nähe des Feuer korbes, dann spannte er den Bogen und feu erte einen Pfeil in unsere Richtung ab. Sie greifen tatsächlich an! Flucht! befahl der Extrasinn. Plötzlich bekam alles eine gefährliche Be deutung. Der Einruck des Leichten, Schwe benden war augenblicklich verwischt. Die Leute aus Jansonthen kannten uns nicht, aber sie griffen an. Der erste Brandpfeil, der über uns hinwegheulte, eine Rauchspur hin ter sich herzog und mit einem trockenen Schlag in den Boden fuhr, war der deutliche Beweis. Flieht! Schneller! Die Ballons sind nur in Grenzen steuerbar! meldete sich der Extra sinn. Wir rannten weiter. Ich zog Gjeima mit mir, aber ihre kurzen Beine konnten mit meinen langen Schritten nicht mithalten. Wir keuchten und schwitzten, als wir unsere Flucht in Richtung Süden fortsetzten. Jetzt hörte ich bereits die Kommandos, die zwi schen den einzelnen Mannschaften hin und hergingen. Wieder drehte ich mich um. Wir befanden uns jetzt in einem großen Fleck staubtrockenen Grases, durchsetzt von kleinen, dürren Büschen, an denen vertrock nete Früchte hingen. Der brennende Pfeil war am Rand der Grasfläche eingeschlagen. Augenblicklich begann das Gras zu brennen. Eine tödliche Falle baute sich auf.
Hans Kneifel »Schneller! Wir sind erst in Sicherheit, wenn wir feuchten Boden erreichen«, keuch te ich und steigerte mein Tempo. Auch Gjei ma strengte sich mehr an. Sie hatte begrif fen, daß es um unser Leben ging. Der erste Ballon befand sich hinter uns, aber in einer Höhe mit der Geraden unseres Flugwegs. Wieder spannte der glatzköpfige Mann in der Gondel seinen Bogen und schoß einen zweiten Brandpfeil hinter uns her. Das Geschoß schlug an anderer Stelle ein und entfachte abermals einen neuen Brand. Die Zone des Brandes hatte sich ver größert. Ein Halbkreis aus Rauch kroch hin ter uns her. Jetzt hörten wir auch das Knistern und Prasseln der Flammen. Eine warme Luftströ mung würde aufsteigen und die Ballons hö hertreiben, was uns aber nicht rettete. Wir versuchten, auf dem schnellsten Weg aus dem Grasfleck herauszukommen, aber die Flammen wurden schneller, und der Gras fleck schien kein Ende zu nehmen. Von rechts schob sich der zweite in der Reihe der Ballons heran. Er schwebte genau an die Stelle heran, an der wir uns in einigen Sekunden befinden würden. Mir lief der Schweiß in die Augen, ich blinzelte. Der Führungsballon schwebte weiter und wurde, was den Angriff betraf, unwichtig, aber jetzt kamen wir in den Bereich der gezielten Brandpfeile des zweiten Ballons. »Schließt sie ein!« »Der Fremde darf uns fnicht entkommen!« »Sagt dem dritten, was zu tun ist!« Ich hörte die Kommandos über mir. Sie waren in einem Dialekt gebrüllt, den ich ver stand. Er war so ähnlich wie derjenige, den die Leute von Krothenbeet sprachen. Was ich nicht verstand, konnte ich erraten und heraushören. Ich blickte nach oben. Zwei Männer befanden sich in der Gon del, die aus geflochtenem Material bestand, das wie Bast oder flachgewalztes Rohr aus sah. Einer von ihnen warf gerade einen Bal laststein nach Gjeima, der aber nicht traf. Der andere zielte mit einem Pfeil, dessen
Die Piraten der Mikrowelt Spitze zu Rauchen begonnen hatte. Auch hier sah ich den Feuertopf außerhalb der Kanzel, daneben hing ein tropfender Was serschlauch. Der Pfeil jaulte durch die rau cherfüllte Luft und schlug an einer Stelle ein, an der das neu entstehende Feuer in den langgezogenen Halbkreis des ersten Flä chenfeuers übergehen würde. Ihr Ziel war klar. Sie wollten uns einschließen und töten, oder dann, wenn wir vom Rauch hilflos ge worden waren, in die Gondeln hinaufholen. »Gut«, sagte ich grimmig. »Ich werde es euch zeigen.« Ich riß Gjeima mit mir und spurtete los. Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und raste schräg nach Südosten, entfernte mich also von dem anvisierten Punkt. Hinter uns bildeten die drei Feuer eine breite, nicht weniger als zweihundert Meter umfassende Mauer aus Rauch und Flammen, die sich mit derselben Geschwindigkeit näherte, mit der wir flüchteten. Zahllose Insekten surrten hin und her und kamen in den Flammen um. Ei nige der hasenähnlichen Tiere rasten mit brennendem und rauchendem Fell im Zick zack durch das Gras. Wo sie rannten, bilde ten sich neue Zentren der Flammen. In eini gen Minuten würde das gesamte Grasfeld ein einziges Meer aus Flammen und Rauch sein. Wieder pfiffen einige Pfeile ins Gras, rechts und links von unserem neuen Flucht weg. Ich stolperte. Ich fing mich wieder, aber meine Zehen schmerzten. Ich war über eine Ader aus scharfkantigen Steinen gestol pert, die sich wie das ausgetrocknete Bett ei nes schmalen Baches durch das Gras zog. Eine Idee ließ mich zusammenzucken. Ich hielt Gjeima an der Schulter fest und stieß hervor: »Du kannst gut werfen, Gjeima. Traust du dir zu, einen Ballon zu treffen?« Sie nickte eifrig, und sofort sammelten wir Steine in der richtigen Größe und mit scharfen Kanten auf. Über uns trieb der zweite Ballon vorbei und warf Ballast ab, um nicht in den direkten Bereich der Flam men und des Rauches zu kommen.
17 »Groß genug ist er!« sagte Gjeima schwer atmend mit langen Pausen zwischen den ein zelnen Worten. »Welcher Ballon, Atlan?« Wir rannten weiter, auf der Flucht vor dem Feuer, das jetzt von hinten und von rechts auf uns zukam. Die Sicht nahm im mer mehr ab. Noch hatte uns der Rauch nicht erreicht, und wir befanden uns nicht in unmittelbarer Lebensgefahr. Aber die Frist nahm von Sekunde zu Sekunde ab. »Der dritte. Er kommt gerade in der rich tigen Geschwindigkeit näher.« Wir änderten abermals unseren Kurs. Hin ter uns schoß die Besatzung des zweiten Ballons noch einige Male ins Gras und griff dann nicht mehr in den Kampf ein. Aber die beiden Männer mit den spitzen Ohren und den großen, dunklen Augen sahen konzen triert zu, was die Besatzung des folgenden Ballons unternahm. Der erste Ballon hatte weit außerhalb der Feuerzone eine Leine mit einem Haken ausgeworfen und schwebte re gungslos in dreißig Metern Höhe über der Ebene. Vermutlich würde auch der zweite Ballon ein solches Manöver unternehmen. Jetzt kam der dritte Ballon, etwas tiefer schwebend, in die richtige Position. Ich hielt an und sah mich um. Achte auf die Pfeile! beschwor mich der Logiksektor. Noch waren Flammen und Rauch nicht heran, aber die Lage wurde bedrohlich. Gjei ma holte aus und schleuderte mit aller Wucht den ersten Stein. Er beschrieb eine leichte Kurve, schien weit unter der roten, grünen und mit einem breiten schwarzen Mäander bemalten Hülle des eiförmigen Ballons hindurchzufliegen, aber dann … ich sah, daß ich einer optischen Täuschung erle gen war. Der Stein traf und verschwand in der dün nen Hülle. Ich sah nichts mehr als einen kopfgroßen Riß, der sich aber nicht erwei terte. Sofort holte das Mädchen ein zweites Mal aus, und der zweite Stein traf die Hülle weiter oben, da der Ballon nähergetrieben und um einige Meter abgesackt war. Der Bogenschütze feuerte einen nicht brennen
18 den Pfeil auf uns ab, aber wir warfen uns rechtzeitig auseinander. Ich hechtete nach dem Pfeil, der im Bo den steckte. Ich riß ihn heraus und brach ihn eine Handbreit hinter der Spitze ab. So hatte ich eine zweite Waffe. Der dritte Stein, gera dezu virtuos von Gjeima geschleudert, riß entlang einer Naht oder Verbindungsstelle ein langes Loch in die obere Hülle, und jetzt war der Ballon entscheidend getroffen. »Renne weiter!« schrie ich. »Dorthin! Da ist kein Feuer, und dort kommt auch kein Ballon mehr vorbei! Schnell!« »Und du?« »Ich versuche, einen Ballon in meine Ge walt zu bekommen!« schrie ich und rannte los. Die Besatzung in der Gondel hatte die Gefahr erkannt. Der Ballon sank deutlich tiefer. Mehr und mehr Ballast wurde aus dem Korb geworfen. Der Korb begann zu schwanken und zu pendeln. Offensichtlich waren die Hüllen mit einem leicht brennba ren Gas gefüllt, denn in den Gesichtern der Männer sah ich deutlich die Panik. Sie küm merten sich nicht mehr um mich, sondern nur noch um sich selbst. Als erstes sah ich, wie eine Strickleiter aus dem Korb gekippt wurde, die sich schnell aufrollte und auf den Boden aufschlug. Dort schleifte sie ein gan zes Stück nach. Der Ballon sank, aber nicht so schnell, daß er innerhalb der Feuerzone niedergehen würde. Ich schlug einen Haken und spurtete auf die Stelle zu, an der die Lei ter durch das Gras schleifte. Ein schneller Blick nach rückwärts: Gjeima rannte schräg an einem Ausläufer des Feuers vorbei. Ich war jetzt nur noch drei Sprünge von dem durchhängenden Teil der Leiter ent fernt. Über mir sah ich, als ich beide Hände ausstreckte und meine Muskeln spannte, den Boden des Korbes. Achtung. Sie werden das zusätzliche Ge wicht bemerken! Ich nahm einen Anlauf und sprang. Meine Hände klammerten sich um eine Strebe, ich wurde nach vorn und zur Seite gerissen. Ei nige Sekunden lang hing ich hilflos in der Luft, dann wirkte sich das zusätzliche Ge-
Hans Kneifel wicht aus. Die Gondel sank tiefer. Ich zog meine Beine an und konnte den rechten Fuß auf eine Sprosse stellen. Sofort griff ich höher und umklammerte die näch ste Sprosse. Die Leiter knickte ab, und ich wurde durch das aufstaubende Gras gezerrt. Wieder zog ich mich höher. Ich warf einen Blick nach oben und sah in der letzten Se kunde den schweren Ballaststein, der haar scharf an meiner Schulter vorbeifiel und das Ende der nachschleifenden Leiter traf. »Ich werde … es euch zeigen!« keuchte ich und zog und stemmte mich Sprosse um Sprosse höher. Der Ballon sank immer tiefer. Jetzt betrug der Abstand zum Boden nur noch fünfundzwanzig Meter, nicht mehr. Ich wurde nach vorn gerissen, schaukelte hin und her, aber ich war frei vom Boden. Einen Augenblick lang orientierte ich mich. Weit hinter mir waren die anderen neun Bal lons, Gjeima rannte um ihr Leben, aber sie würde gerade noch am ersten Ausläufer des Feuers vorbeikommen und einen grünen Fleck erreichen. Dann allerdings war sie im Bereich der nächsten Gondel. Der erste Bal lon hatte einen Anker ausgebracht, der zwei te Korb begann ebenfalls zu schaukeln, als der zweite Schlepphaken griff. Die Ballons schwebten über einer saftiggrünen Zone aus Büschen und kleinen Bäumen. Ich legte den Kopf in den Nacken. Jetzt befand ich mich fünf Meter unterhalb des Korbes. Das wilde Schaukeln hatte aufge hört, aber der Ballon sank weiter nach unten. Ich setzte zu einem letzten Angriff an und zog mich Holm um Holm höher, so schnell es ging. Wasser tropfte mir auf den Kopf. Ein paar Steine sausten unschädlich an mir vorbei in die Tiefe. Unter mir brannte das Gras; drei Streifen Feuer bildeten ein Dreieck. Schräg trieb der graue Rauch aufwärts und ließ mich husten. Meine Augen begannen zu trä nen, aber ich hatte weder Zeit noch Gelegen heit, mich darum zu kümmern. Jetzt um klammerten meine Hände diejenige Sprosse der Strickleiter, die auf gleicher Höhe mit
Die Piraten der Mikrowelt dem Korbboden war. Obwohl ich wie beses sen geklettert war, befand ich mich noch im mer gleich weit vom Boden entfernt. Der Ballon, aus dem das Gas entwich, beschrieb eine abwärtsweisende Gerade. In weniger als zweihundert Metern würde er den Boden berühren. Versuche, in den Korb zu gelangen! flü sterte drängend der Extrasinn. Ich streckte den Kopf vor. Die beiden Männer schienen noch immer in panischem Schrecken zu versuchen, den Abstieg des Ballons zu verhindern. Der Bal lon, den ich entern wollte, war zudem lang samer geworden, und ich konnte hören, wie die Besatzung der nächsten Gondel zu schreien begann. Sie sahen mich inmitten der Rauchschwaden unterhalb des Korbes schaukeln. Ich zog mein Messer aus dem Gürtel und klemmte es zwischen die Zähne und zog mich in einer letzten Anstrengung hoch. Ich griff gerade nach dem Rand des Korbes, als einer der Männer sich umdrehte und mich sah. Er schrie einen Namen oder einen Begriff, den ich nicht verstand, dann hob er einen dicken Schlagstock hoch und zielte nach meinen Händen. Ich löste blitzschnell die ei ne Hand und griff, nachdem das Vorderteil des Stockes schwer in das Flechtwerk des Korbes schlug, nach dem Ende. Der Ballonfahrer riß wütend daran. Ich nutzte den Zug aus, stieß mich ab und ließ mich halb in den Korb hineinziehen. Dann griff ich an. Ich riß das Messer zwischen den Zähnen hervor und sah, daß der andere Mann kaum in den Kampf eingreifen würde. Er war da mit beschäftigt, aus einer merkwürdig ausse henden Apparatur Gas in den Füllschlauch strömen zu lassen. Es sah aus, als würde das Gas durch einen chemischen Prozeß erzeugt, zu dessen Fortgang sie die Feuerschale brauchten. »Hör auf!« brüllte ich, kappte mit dem Messer eines der Halteseile und wehrte mit Unterarm und Schulter die Schläge des an deren Mannes ab.
19 Der Mann, der versuchte, mich wieder aus dem Korb hinauszudrängen, war dürr wie ein Skelett und kahlköpfig. Seine Augen tra ten weit hervor, sie waren groß und dunkel. »Hört auf!« schrie ich ihn an. »Wir sind harmlose Wanderer!« Er starrte mich grimmig an, während ich mit einem Schnitt das zweite Halteseil kapp te. Der Korb kippte um einen halben Meter, und als der Ballonfahrer auf mich zustolper te, schlug ich zu und traf sein Handgelenk. Der Schlagstock wirbelte durch den Rauch davon. Ich trieb den Verteidiger mit dem Messer zwei Schritte zurück in eine Ecke und preßte ihn gegen den Rücken des ande ren, der an seinem Gerät hantierte. »Wir sind keine Feinde!« wiederholte ich. »Aber ihr seid zwischen uns und dem Ruinenwald. Ihr seid die Barbaren, die uns immer wieder angreifen.« »Wir kommen weit aus dem Norden«, sagte ich und stach eine Finte mit dem Mes ser, um zu verhindern, daß er zu einer ande ren Waffe griff. »Und wir haben euch nicht angegriffen.« Der andere Ballonfahrer schrie plötzlich auf und sprang zur Seite. Die Gondel geriet in heftige Schwankungen, und ohne daß die Schneide meines Messers ein Seil berührte, riß ein weiteres Haltetau aus der Befestigung des Korbes. An dem dünnen Füllschlauch des Ballons kroch rasend schnell eine winzi ge Flamme hoch. »Er brennt! Hinaus aus dem Korb!« schrie der Ballonfahrer. Ich senkte das Messer und blickte nach oben. Ich hörte das Summen und Brausen der Flammen. Das Gas brannte an einer Stelle, die wir nicht sahen. Vermutlich an dem großen Riß fast am oberen Pol des Ballons. Dort war das große Loch, das Gjeimas Stein gerissen hatte. Die Abwärtsbewegung des Ballons wurde schneller, der Boden schoß uns förmlich entgegen. Ich sagte kurz: »Hinaus! Schnell! Sonst verbrennen wir! Ich helfe euch!« Ich steckte das Messer ein, machte kurz die Geste des Friedens und schwang meinen
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Körper auf den Rand des Korbes. Meine Fußspitzen berührten die erste Sprosse der Leiter. Aus den anderen Gondeln schrien die Mannschaften und deuteten auf uns. Ich streckte die Hand aus und versuchte, einem der dünnen Männer zu helfen. Im gleichen Augenblick spannte sich die Strickleiter. Es gab einen harten Ruck, der mich und den einen Ballonfahrer förmlich zur Seite katapultierte. Der Ballon hatte sich quer gelegt, er brannte mit laut heulenden Flammen, und wir landeten in dem netzför migen Geflecht der Halteseile, die sich zwi schen Korb und Ballon spannten. Dann, am Ende der Strickleiter, die sich irgendwo festgehakt hatte, krachte der Korb auf den Boden. Die Gaserzeugungsanlage detonierte mit einem peitschenden Knall. Glühende Stücke flogen nach allen Richtun gen, und jetzt begann auch das Unterteil des Ballons zu brennen. Und die glühenden Teile des Fahrzeugs setzten an vielen Stellen das Gras in Brand. Ich rollte mich zur Seite, aber die Ballonhül le senkte sich auf uns. Verzweifelt versuchte ich, meine Arme und Beine aus den Schlin gen der Taue zu befreien, aber ich würde es nicht mehr schaffen. Auch nicht die beiden anderen Männer.
3. Es gab keine Möglichkeit mehr. Die Front des Bodenfeuers kam näher und war nur noch zehn Meter entfernt. Ich sah direkt in die Flammen. Der Rauch bildete an drei Sei ten rund um den brennenden Ballon eine dichte Wand. Der eiförmige Ballon schlug auf und zer riß. Das Material brannte, die farbigen Strei fen und Felder färbten sich braun und schließlich schwarz, dann wirbelte das Ma terial in Flocken davon. Das Gras flammte auf. Ich bekam einen Arm frei, stützte mich auf und zog den rechten Fuß aus dem Netz. Eine Woge Gas kam auf mich zu und mach te mich halb bewußtlos. Weg vom Feuer! Rette dich! schrie der
Extrasinn. Ich kam taumelnd auf die Beine. Wieder sackte ein Teil des Ballonmaterials zusam men. Flammen zuckten puffend durch die Luft. Ich stolperte mit brennenden und trä nenden Augen aus dem Bereich des aufflam menden und sich auflösenden Ballons und holte würgend Luft. Dann sah ich wieder klar, die Benommenheit wich. Einer der zwei Männer kroch auf allen vieren aus dem Bereich der Schlingen her aus. Ich machte einen Satz, packte ihn am Arm und rannte mit ihm durch die Flammen in den Bereich der weißen Asche hinaus. »Bleib hier!« stieß ich hervor. Dann holte ich tief Luft, stürmte in die Richtung des schwelenden Korbes und packte den leblos daliegenden zweiten Mann unter den Achseln. Ich bot meine letzte Kraft auf, um ihn durch die Trümmer des Ballons und durch den Rauch nach außen zu ziehen. Dann knickte ich in den Knien zu sammen und fiel in den heißen, aufstauben den Ruß und die weiße Asche. Ich wurde wach, als ich spürte, daß sich jemand an meinem Kopf zu schaffen mach te. Zuerst fühlte ich etwas Kühles, Feuchtes über den Augen, dann hob ich mühsam den Kopf. Ich blickte in Gjeimas breites Gesicht. Sie starrte mich besorgt an und wischte immer wieder mit einem feuchten Fell über meine Stirn. »Ich habe dich abstürzen sehen, Lieb ling!« sagte sie besorgt. »Sind die beiden anderen in Sicherheit?« fragte ich mühsam. »Ja. Dort! Ihre Leute …« Sie drehte meinen Kopf. Ich sah zwei Bal lons, die nebeneinander auf der Stelle schwebten. Von ihnen gingen lange Doppel seile aus und endeten am Boden. Vermutlich hatten sich die Anker festgehakt. Stricklei tern führten hinunter in die Asche. Zwei be waffnete Männer kamen langsam näher. Sie schwiegen, aber sie blickten irgendwie ver wundert. Die beiden Männer blieben regungslos
Die Piraten der Mikrowelt vor uns stehen. In den Händen trugen sie halblange, gebogene Schwerter, deren Spit zen breiter als die Klingen unterhalb des Griffes waren. Die langen, einwärts ge krümmten Dornen der Spitzen deuteten in die Asche. »Ihr seid Barbaren aus dem Ruinen wald?« fragte schließlich der ältere der zwei Bewaffneten. »Wir sind Bewohner des Nordens!« sagte ich und richtete mich mit Gjeimas Hilfe in sitzende Stellung auf. »Keine Barbaren? Warum seid Ihr ge flüchtet?« Gjeima sprang auf die Füße, stemmte die Arme in die Hüften und schrie die Männer an. »Nein, keine Barbaren! Atlan ist ein Mann aus dem Süden, und ich bin die Toch ter Dophors. Wir kamen im Bruzack! Ihr habt den Rauch gesehen?« »Ja. Warum seid ihr gerannt, als ihr die Ballons saht?« Ich röchelte: »Wir flüchteten erst, als der erste Pfeil ab geschossen wurde.« Ich versuchte, aufzustehen. Ich schaffte es erst, als Gjeima mir half. Die zwei Ballon fahrer lagen nach Luft schnappend auf dem Boden. Auch ihre Gesichter waren gereinigt worden. Zwischen uns lag der Wassersack – Gjeima mußte ihn geholt haben. »Woher kommt ihr?« Ich antwortete und vergaß nicht, die aben teuerliche Fahrt mit dem Bruzack zu schil dern. Die Verständigung war leichter, als ich gedacht hatte. »Und wohin wollt ihr?« »Dorthin, wo die Maschine hin wollte. Ich denke«, erklärte ich und registrierte, daß meine Kräfte langsam zurückkehrten, »daß die Erbauer des Bruzack mir helfen kön nen.« »Es gibt niemanden, der eine solche Ma schine bauen kann. Sie ist vielleicht aus dem Ruinenwald. Kennt ihr die Barbaren vom Ruinenwald?« »Wir kennen nicht einmal den Ruinen
21 wald«, entgegnete ich. »Und jetzt – kämpfen wir weiter, oder sind wir so etwas wie Freunde?« Große, hervorquellende Augen musterten mich abschätzend und ein wenig verwun dert. Die Hosen aus gutem Tuch lagen dicht an, die Füße der Männer steckten in leichten Stiefeln. Sie machten den Eindruck kühner, vagabundierender Leute. Ich mußte, wenn ich sie ansah, an Piraten denken. »Du hast zwei Männer aus den Flammen gezogen!« war die knappe Antwort. Ich drehte den Kopf und sah hinüber, wo die schwelenden Reste des Ballons lagen. »Ich habe die Männer gerettet, die mit Brandpfeilen nach uns geschossen und uns beide beinahe getötet haben. Vielleicht reicht es euch!« Ich deutete auf die Männer neben mir, die gerade versuchten, aufzustehen. Sie hatten mehr Rauch geschluckt als ich. Ihre Gesich ter sahen schlimm aus. »Es reicht. Wir danken euch. Ihr seid kei ne Barbaren … aber du, Fremder! Du bist nicht wie wir!« »Du sagtest es schon«, gab ich zurück. »Ich bin fremd hier. Ich komme weit aus dem Süden. So weit, daß es schon eine ande re Welt ist.« Gjeima murmelte: »Ich weiß heute noch nicht, wie du zu uns gekommen bist, ohne das Land zu kennen, das zwischen deiner Heimat und Krothen beet liegt.« »Ich war nicht bei Sinnen«, entschuldigte ich mich. »Wohin fliegen eure Ballons?« »Zum Ruinenwald.« »Wo ist der Ruinenwald?« fragte ich. Ich versuchte, nicht zu neugierig zu wirken. »Dort, im Osten.« »Und wie kommt ihr mit den Ballons wie der zurück nach Jansonthen, das im Westen liegt?« Die Männer lachten und halfen endlich ih ren Kameraden. Die beiden Männer, deren Brauen versengt waren, tranken das Wasser mit gierigen Schlucken. »Wir warten auf günstige Winde.«
22 »Ich verstehe. Ich war auf dem Weg nach Süden. Wir sind vor der Vernichtung ge flüchtet, denn Barbaren griffen uns an. Sie ritten auf Büffeln. Und ein sehr merkwürdi ger Apparat brachte uns bis dorthin. Er zer schellte an einem Felsen. Wir gingen zu Fuß weiter. Ich hoffte, die Erbauer des Bruzack könnten mir zu bestimmten Einsichten hel fen.« »Vielleicht findest du eine ähnliche Ma schine in den Ruinen. Willst du mit uns kommen?« Gjeima schlug die Hände vors Gesicht und fragte aufgeregt und ungläubig: »Ihr meint, in euren fliegenden Dingern?« »Genau das meine ich. Wollt ihr euch uns anschließen? Wir brauchen Hilfe und Helfer, und die Ruinen sind sehr bemerkenswert.« »Wie ist dein Name?« fragte ich und deu tete auf den Mann, der mit größter Autorität sprach und irgendwie den Eindruck eines Anführers machte. »Ich bin Darrnogh, Fremder. Und du?« »Mein Name ist Atlan«, erwiderte ich. »Schließen wir Frieden, Darrnogh?« »Schließen wir Frieden, ja!« Ich streckte meine Hand aus. Auch diese Männer waren um mehr als einen Kopf klei ner als ich, aber nicht so wuchtig gebaut wie Dophors Leute oder seine Töchter. Ich lach te kurz; die Kette von Abenteuern, die mir mehr oder weniger sinnlos erscheinen muß ten, riß nicht ab. Und das ferne Ziel war die verschwindend geringe Möglichkeit, mit Hilfe einer Maschine, einem Super-Bruzack etwa, diese Dimension zu verlassen. Ich schüttelte die Hände von Darrnogh und dem anderen Mann, der Pverganth hieß. Dann wandte ich mich an Darrnogh: »Ich suche eine junge Frau, die so ähnlich aussieht wie ich. Ihr Name ist Crysalgira. Ihr Begleiter ist ein Wesen mit dem Namen Grek. Er hat folgendes Aussehen …« Ich schilderte in wenigen Sätzen die Cha rakteristika eines Maahks. Dann schloß ich meine Frage ab. »Habt ihr sie gesehen? Wißt ihr etwas von dem Mädchen und dem Grek? Kennt ihr je-
Hans Kneifel manden, der euch etwas erzählt hat? Denn ihr selbst habt gesagt, daß ihr mit den Bal lons weite Strecken zurücklegt.« Pverganth und Darrnogh schüttelten lang sam die Köpfe. »Nein. Wir wissen nichts. Wir haben auch nichts von solchen Fremdlingen gehört. Die se Welt ist groß und voller Rätsel, und wir kennen nur ein paar von ihnen. Der Ruinen wald ist eines von ihnen.« Darrnogh richtete seinen Blick nach Osten und schien an Dinge zu denken, die wir nicht sehen konnten. »Nein«, wiederholte er. »Wir haben nichts gesehen und gehört.« Das Feuer, das im Gras keine Nahrung mehr gefunden hatte, war an zwei Seiten er loschen, weil es im feuchten Gras keine Nahrung mehr gefunden hatte. Ein Streifen brannte weiter und entfernte sich in Rich tung Süden. Die Gewitterwolke über dem fernen Wald hatte sich verdichtet und ver größert. Sie schien näherzukommen. »Ihr fahrt zum Ruinenwald?« fragte Gjei ma. »Ja. Wollt ist mitkommen? Dein Freund sieht aus, als könnte er uns bestimmte Dinge erklären.« »Ich komme mit!« sagte ich sofort. Es war die richtige Entscheidung, sagte der Extrasinn. »Tatsächlich? Das wird bei der Verteilung Probleme geben«, erklärte Darrnogh. »Aber das regeln wir später.« Pverganth deutete nach Südosten und dann auf die Ballons, die jetzt in vorbildli cher Anordnung in einer schrägen Reihe hintereinander ankerten. »Wir müssen noch vor Anbruch der Nacht dort sein. Los, in die Gondeln. Du und das Mädchen – ihr solltet zu Scaltok einsteigen. Drei Personen passen gut in einen Korb.« »Einverstanden.« Ich nahm Gjeimas Hand und folgte Darr nogh, der auf den übernächsten Ballon zu ging. Schon bevor wir den Korb erreichten, der wie alle anderen etwa zehn Meter über dem Boden schwebte, schrie Darrnogh eini
Die Piraten der Mikrowelt ge Befehle. Sie waren unverständlich für mich. »Hinauf!« lachte Darrnogh. »Und wenn es ernst wird, in dem Korb sind genügend gute Waffen.« Ich schluckte. »Ihr rechnet mit weiteren Kämpfen, Darr nogh?« fragte ich leise. »Das ganze Leben ist ein einziger Kampf«, versicherte er mit einem trockenen Grinsen. »Beeilt euch, wir müssen weiter.« Wir enterten die Strickleiter, während Darrnogh weitere Anordnungen brüllte, die von Gondel zu Gondel weitergerufen und bestätigt wurden. Ein einzelner Mann rannte von einem Anker zum anderen und riß die Metallhaken aus dem Boden. Dann schwang er sich auf eine Strickleiter, die aus dem elf ten Ballonkorb pendelte und kletterte hinauf. Lautlos setzten sich die Ballons in Bewe gung. Der Wind hatte, das sah ich deutlich aus dem immer höher kletternden Korb, ein wenig gedreht und wehte nun nach Süd osten. Genau dorthin, wo die dunkle Wolke aufhörte. Ich lehnte mich gegen die federnde Ge flechtwand des Korbes und sah zu, wie die Konturen des Bodens kleiner und schärfer wurden. Lautlos, immer schneller, in immer größerer Höhe, nur begleitet vom Zischen ausströmenden Gases und gelegentlichem Brummen oder Knurren des kahlköpfigen Mannes aus Jansonthen. Was war die Ruinenstadt im Dschungel? Was suchten die Piraten dort? Warte es ab! empfahl der Extrasinn.
* Ich versuchte mich zu entspannen. Auch Gjeima, die auf einer Stange saß, schwieg im Augenblick. Die Stange ging von einer Seite des Korbes zur anderen und bildete einen primitiven Sitz. Aus der kleinen Anla ge, die aus einem runden Keramiktopf, eini gen Röhren und einer vernieteten Eisen schachtel bestand, fauchte ein Gasstrom in das Füllrohr in der Mitte der Gondel.
23 In einer Ecke lehnten zwei lange Bögen. »Scaltok?« fragte ich halblaut. »Was gibt es, Fremder?« »Mein Name ist Atlan, Bruder der Luft. Meine Frage: wohin genau fliegen wir?« Scaltok wandte sich um. Vor ihm war die Gondel von einem Netz aus Pflanzenfasern abgeteilt. Dort Jagen die schweren Ballast steine und anderes Zubehör. Scaltok sah ebenso aus wie die anderen, aber zwischen seinen Brauen gab es auf seinem kahlen Kopf eine grüne Locke, die sich in die Stirn kringelte. »Wir steuern den Ruinenwald an, Atlan. Er liegt mitten im Dschungel.« Ein Ruinenwald im Dschungel. Diese Männer, die mehr denn je den Eindruck von Piraten machten, segelten mit ihren elf Bal lons in etwa dieselbe Richtung, die der Bruzack eingeschlagen hatte. Ich mußte an nehmen, daß es zwischen den Ruinen und der seltsamen Maschine einen direkten Zu sammenhang ab. Ruinen! Das bedeutete, daß diese Stadt, oder was immer es war, ausge storben und uralt war. Also gab es auch kei ne Bewohner mehr. Ich mußte annehmen, daß die Ballonfahrer von Jansonthen Piraten, Räuber und Plünderer waren. Was gab es in den Ruinen zu plündern? »Gut. Wir fliegen also über die Ebene, über einen Teil des Waldes …« »Richtig, Atlan.« »Und irgendwo im Wald dort drüben«, ich deutete in die entsprechende Richtung, »liegen die Ruinen. Ihr sucht dort nach Din gen, die ihr brauchen oder mit denen ihr handeln könnt. Richtig?« Er nickte. Er schien ein ruhiger Mann zu sein und nicht sehr redselig. »Ja.« »Darrnogh ist euer Chef, euer Häupt ling?« fragte ich weiter. Gjeimas Blicke gin gen halb verständnislos von einem zum an deren. Sie scheute sich, aus so großer Höhe den Erdboden anzusehen. »Er ist der Mann, der die meiste Beute be kommt«, erklärte Scaltok. »Und er führt uns immer wieder an die besten Plätze. Er ist der
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Fürst der Ruinen. Und er kämpft am besten. Ja, er ist unser Häuptling.« »Jetzt verstehe ich alles!« murmelte ich. Wir folgen einmal ziemlich direkt nach Süden, dann wieder trieb uns der flotte Wind nach Südosten. Unter uns zeichneten sich Grasgebiete ab, kleine Stein- oder Sandflä chen, dann wieder ein halb ausgetrockneter Bachlauf. Keine Reste von Gebäuden, Straßen oder Brücken. Nicht die Spur irgendwelcher technischer Einrichtungen. Auch keine Zeugen, die mir sagen würden, daß es hier Zerstörungen ge geben hatte, die von schweren Waffen oder Bomben herrührten. Inzwischen hatte ich begreifen müssen, daß für die Mikrowelt dieselben Gesetze des Lebens galten, die ich gewohnt war. Es gab keinen Unterschied. »Wann erreichen wir die Ruinenstadt? Den Ruinenwald?« erkundigte ich mich nach einer Weile, in der ich den Flug genos sen und zwei Becher des Wasservorrats ge trunken hatte. »Ich denke, wir können noch vor Beginn der Dunkelheit dort ankern. Ich weiß aber nicht, ob Darrnogh einen guten, unberührten Ankerplatz findet.« »Das ist klar.« Ich war, ebenso wie Gjeima, müde und hungrig. Bisher war ich nicht in der Lage gewesen, auch nur ein einziges Teilziel mei ner Vorhaben zu erreichen. Langsam kam das dunkle Band des Waldrands näher. Ich blickte nach den anderen Ballons, die eine vorbildliche Flugordnung einhielten. Was würde mir dieser Aufenthalt bei den Ballon fahrern einbringen? Trotz aller Gewißheit, daß ich mein Schicksal nur bis zu einem bestimmten Punkt beeinflussen konnte, begann ich unge duldig und nervös zu werden. Aber dieses ruhige Schweben beruhigte meine aufge wühlten Nerven.
*
Fasziniert hing ich über dem geflochtenen Rand der Gondel und blickte nach unten. Wir schwebten hundertfünfzig Meter über dem Boden und etwa hundert Meter über den Wipfeln der höchsten Bäume. In der langsam einsetzenden Dunkelheit wirkte der Dschungel gefährlich und geheimnisvoll. Mein Herz begann heftiger zu schlagen. Ein optischer Eindruck kann täuschen, flüsterte der Extrasinn drängend. »Das kann gut möglich sein«, meinte ich. In unserem Rücken ballte sich die Wolke immer mehr zusammen. Sie hing wie die Trombe eines Vulkans über dem Dschungel. Der Ballon des Anführers ging langsam tiefer. »Werden uns die Tiere angreifen?« fragte Gjeima. Scaltok lachte gutmütig. »Nicht, solange wir in der Luft sind!« war meine Antwort. Ich sah nur Laub und Lia nen, einzelne Vögel mit weißen Schwingen, die zwischen den Wipfeln hin und her flo gen, verschwanden und wieder auftauchten. Vieltausend verschiedene Tierstimmen schrien, kicherten und heulten dort unten. Zu uns drang nur ein Summen, ein unbestimm ter Geräuschpegel herauf. »Wie weit ist die Stadt vom Dschungel rand entfernt, Scaltok?« wollte ich nach ei ner weiteren Zeitspanne wissen. »Siehst du den Berg dort hinten?« Ich hob den Kopf und starrte in die heiße, flimmernde Luft über dem riesigen Regen wald. Tatsächlich! In mehr als zwanzig Ki lometern Entfernung ragte mitten aus dem dunkelgrünen Meer unter uns ein Berg auf, der wie ein spitzer Vulkankegel aussah. »Ja. Ich sehe.« »Rund um diesen Berg liegt die Stadt. Wir kennen nur einen kleinen Teil von ihr, denn wir sind erst seit zehn Jahren in diesen Luftströmungen unterwegs.« »Aber ihr kennt die Technik der Ballons schon länger?« Die Antwort verblüffte mich. Wenn es stimmte, dann gab es hier kaum technische Weiterentwicklungen. »Seit zehn Generationen fliegen wir mit
Die Piraten der Mikrowelt den Ballons in alle Teile unserer Welt. Wir, die Leute aus Jansonthen, kennen die Welt am besten. Lasse dir von Darrnogh die Chronik erzählen; er kennt sie fast auswen dig.« Zehn Generationen! Mindestens dreihun dert Jahre meiner Rechnung! Eigentlich hät te ich nach dieser Auskunft riesige, mit sämtlichen Raffinessen ausgerüstete Ballons erwarten müssen, aber tatsächlich schienen die geringen technischen Möglichkeiten eine Weiterentwicklung nicht zuzulassen. Ich blickte nach links und sah, wie die Besat zung des Führungsballons zu winken be gann. Scaltok schaute hinüber, nachdem ich ihm ein Zeichen gegeben hatte. »In Ordnung«, murmelte er. »Wir werden landen. Seht genau zu, was Darrnogh tut. Wir ankern wieder in einer Linie.« »Ich versuche es.« Der Wind war einmalig günstig. Er trieb die langegezogene Kette der Ballons, die über der grünen Fläche mit ihrer schreienden Bemalung mehr als fremd wirkten, genau auf den abgeschnittenen Berggipfel zu. Ich suchte unter uns nach Einzelheiten. »Was suchst du, Atlan?« Gjeima hatte sich näher herangeschoben und preßte ihre Hüften gegen mich. »Ich weiß es selbst nicht. Einzelheiten. Ir gendwelche Dinge. Die Ruinen.« »Ruinen?« »Ja. Ich vermute, daß derjenige, der dei nem Vater den Bruzack verkaufte, ihn hier aus dem Dschungel geholt hat.« Die Bäume standen dicht und gleichmä ßig. Hin und wieder sah ich dort, wo einer der Bäume umgestürzt war, eine Bresche, die mit kleineren Pflanzen gefüllt war. Ich konnte nichts bemerken, wenn ich schräg nach unten blickte. Nur im Blickfeld senk recht nach unten zeichnete sich hin und wie der etwas ab, das ich als Fragment eines Straßenstücks, einer Brücke oder eines Ge bäudes erkannte. »Siehst du, Scaltok, was ich sehe?« fragte ich. Scaltok rollte das Seil für den Anker auf
25 und schraubte an seiner Gaserzeugungsanla ge. »Ja. Die ersten Teile des Ruinenwalds. Der erste Teil der Stadt. Achte auf Darrno gh!« »Genau das tue ich!« Meine Aufregung wuchs. Was ich bis jetzt gesehen hatte, entmutigte mich. Es wa ren Ruinen gewesen, die bis zur Unkennt lichkeit überwuchert und verfallen waren. Aber vielleicht gab es im Zentrum der Rui nen lohnenswertere Dinge. Der erste Ballon trieb jetzt, keine fünf Meter über den höchsten Wipfeln, vor dem abgeschnittenen Bergkegel vorbei. Ich sah, wie Darrnogh oder sein Partner den Anker nach unten schleuderte. Der Haken blitzte im letzten Licht auf. Aber noch war der An ker nicht bis zum Boden heruntergelassen worden. »Gibt es ein Signal, wenn Darrnogh lan det?« erkundigte ich mich. »Ja. Ein Horn. Er bläst in ein Horn.« Die Ruinen sind uralt. Vielleicht stammt der Bruzack von hier. Du wirst erst Gewiß heit haben, wenn du dich selbst umsiehst! sagte mit klarer Logik mein Extrasinn. Noch ankerte der erste Ballon nicht. Wir trieben ruhig dahin. Die steinernen Zeugen unter uns wurden zahlreicher. Zwi schen den Bäumen gab es immer mehr freie Flächen. Ich erkannte immer nur eine einzi ge Anordnung: breite Mauern, bis zur Un kenntlichkeit überwuchert, hin und wieder eine freie Steinplatte. Jetzt sah ich eine auf ragende, zerbröckelnde Mauer mit den Aus sparungen ehemaliger Fenster oder sonsti gen Öffnungen. Der Berg blieb zurück. Als ich nach vorn schaute, sah ich die Stadt in ihrer wahren Ausdehnung. Sie war riesig. Die Reste einer hochentwickelten Kultur! sagte der Logiksektor. Plötzlich hörten die Bäume auf. Es gab nur noch Gestrüpp. Vor uns breitete sich ei ne ungeheure, ausgedehnte Fläche aus. Mein Auge war einigermaßen trainiert, und ich
26 konnte aus allem nur einen einzigen Schluß ziehen. Die Ruinenstadt war riesig. Sie war vor langer Zeit nicht nur von ge waltiger Ausdehnung gewesen, sondern die Gebäude erreichten damals auch eine be trächtliche Höhe. Die Erbauer dieser Stadt schienen entweder sehr lange oder mit ge waltigem Aufwand gebaut zu haben. Lang gezogen, ohne erkennbare Konturen, hier und dort ausgebuchtet, von einer Insel der gewaltigen Bäume unterbrochen, zum Teil über einen reißenden Urwaldfluß gebaut, dessen Bett von Trümmermassen durchsetzt war und halbe Stromschnellen bildete. Ich schätzte die Ausdehnung auf mehr als fünf zig Kilometer; die Grenzen verloren sich un sichtbar am Horizont. Jetzt plötzlich begriff ich mehr. Dies mußte ein erstklassiger Platz für die Piraten der Mikrowelt sein, Beute zu ma chen. Welcher Art war sie? Jedenfalls war dies ein deutliches Zeichen dafür, daß dieser Bereich der Mikrowelt eine Hochkultur beherbergt hatte. Weder Kro thenbeet noch Jansonthen würden diese Grö ße und Wichtigkeit jemals erreichen können. Wir befanden uns jetzt über dem ersten Viertel der Stadt. Sie verlief in der Hauptrichtung von Nordwesten nach Süd osten. Über ihr wölbte sich der gefleckte Himmel, irgendwo über ihrem Ende konden sierten sich mehr und mehr die pechschwar zen Wolken. Dort konnte ein Gewitter oder ein Wirbelsturm entstehen. Ein Hornstoß ertönte. »Wir ankern und suchen uns ein Lager für die Nacht«, erklärte Scaltok. »Du bist also der Mann, der uns allen erklärt, welchen Sinn diese Ruinenstadt hat und wer sie er baute?« »Vielleicht bin ich der Mann!« sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. Ich war sicher, auch hier einige bemerkenswerte Überra schungen zu erleben. Aus dem Korb des Führungsballons fiel der Anker; der Rest des Seiles wurde über
Hans Kneifel den Rand geworfen. Darrnogh beugte sich vor, packte das Tau und begann, das Seil zu bewegen. Der Anker mit seinen scharfen Haken schwang hin und her und schien einen Punkt, an dem er einschlagen und sich festhaken würde, selbst zu suchen. Auch aus den anderen Ballonkörben fie len die Taue mit den Mehrfachankern. Sie pendelten langsam hin und her, wurden an gezogen und nachgelassen. Hin und wieder klirrte das Metall hart gegen den Stein einer Wand oder eines anderen Ruinenteils. Im letzten Licht des Tages erkannte ich, wie die Geräusche der klirrenden Anker zahlreiche Tiere aufscheuchten. Riesige, saurierartige Vögel schwangen sich mit hei serem Kreischen und mit klatschenden Flü gelschlägen aus Fensterhöhlungen und von Mauervorsprüngen. Die Tiere verschwanden in langsamem Zickzackflug zwischen ande ren Ruinen und dem Grün des Waldes. Ich sah affenartige Tiere, die mit aufge regtem Schreien die Mauern herunterturn ten, sich an Lianen über die Zwischenräume schwangen und in Höhlen und anderen Ver stecken verschwanden. Direkt vor dem schwingenden Anker »unseres« Ballons sprangen zwei schlanke Raubtiere auf. Sie glichen Tigern oder Leo parden. Ihre Felle waren gestreift und boten hervorragende Tarnung. Die Raubtiere ris sen die kantigen Schädel hoch, sahen zu uns herauf und fauchten so laut, daß wir es bis hierher deutlich hören konnten. Gjeima be gann zu zittern. Dann setzten die Tiere mit eleganten Sprüngen von Mauer zu Mauer, schossen durch Lücken im Gesträuch, und nur noch wippende Äste und sich schüttelnde Blätter bewiesen, daß die Tiere ein ande res Versteck suchten. Jeder Dschungel ist eine Gefahr. Und ei ne Ruinenstadt wie diese setzt die Gefahren noch herauf, sagte der Extrasinn. Im gleichen Augenblick faßte unser An ker. Ein leichter Ruck ging durch die Gon del. »Faßt mit an!« sagte Scaltok ruhig. »Wir müssen den Ballon tieferziehen.« Er holte
Die Piraten der Mikrowelt tief Atem und schrie zur Nachbargondel hin über: »Wir ankern! Alles klar! Wir treffen uns unten!« »Verstanden, Scaltok! Bringe die Frem den mit!« Er winkte, und wir zogen an dem dünnen Tau. Der Haken saß, und halbmeterweise sank der Ballon tiefer. Als wir uns zehn Me ter über einer annähernd ebenen Fläche be fanden, erklärte Scaltok: »Haltet das Seil. Ich gehe hinunter und nehme Ballast auf!« Er bückte sich, packte eine Art zusam mengerolltes Netz und kippte es über die Bordwand. Die Strickleiter folgte. Dann schwang er sich über den Rand und kletterte mit bemerkenswerter Schnelligkeit abwärts. Gjeima und ich hielten das Ankertau, und ich wickelte es schließlich um die Sitzstan ge. Wir hatten den Ruinenwald erreicht.
4. Scaltok schlug mit dem Schwert zu und lockerte einzelne Quadern mit dem Dorn an der Spitze des Krummschwerts. Das Netz hing, halb offen und mit schlaffen Verbin dungsschnüren, unter der halb gekippten Gondel. Der Mann mit dem kahlen Kopf ar beitete schnell und umsichtig und schichtete einen Stein nach dem anderen in das Netz. Ich hatte nach kurzem Nachdenken die Ge wißheit: mit geringstem Aufwand und gera dezu herausfordernd einfacher Technik be herrschten die Leute aus Jansonthen den Ballonflug. Anstatt das kostbare Gas abzulassen, lu den sie eine Unmenge von Ballast ein. Die ser hielt den Ballon fest am Boden. Nach er folgter Plünderung wurde der Ballast durch Beutegut ersetzt und die Gasmenge erhöht. Durch Abwurf der überflüssigen Ruinenstei ne konnte das Verhältnis genau eingeregelt werden. Außerdem setzten sie sich nicht dem Risiko aus, daß durch Kappen der An kerseile oder durch einen plötzlichen Luft zug, oder dadurch, daß sich ein Anker löste,
27 der unersetzliche Ballon davonflog. Einfach, aber fast genial! Du kannst selbst von ihnen noch lernen, Arkonide! erklärte der Logiksektor. Ich beugte mich über den Rand und rief: »Können wir herunter, Scaltok?« »Ja. Schicke das Mädchen. Wir lagern hier!« »In Ordnung.« Unser Ballon befand sich in der Mitte der Reihe. Die rechts und links von uns schwe benden Mannschaften versuchten dadurch, daß sie die Anker seitlich schwingen ließen, aufzuschließen. Mehrere von ihnen arbeite ten zusammen, indem die Bodenmannschaf ten die Anker umsetzten. Alles ging äußerst zielstrebig vor sich. Ich sah, daß die Männer am Boden schwer bewaffnet waren. Längst hatte ich in unserem Korb das Fach ent deckt, in dem mehrere Schwerter, Dolche und Werkzeuge lagen. Auch ich würde nicht unbewaffnet den Boden dieser Stadt betre ten. Ich fand einen langen Dolch und reichte ihn Gjeima. »Hier«, sagte ich. »Du wirst die Waffe hoffentlich nicht brauchen. Ich bin sicher, daß du den Männern aus Jansonthen gewisse Hausfrauendienste erweisen mußt. Ich kom me sofort nach.« »Ja. Das denke ich auch. Werde ich heute auf deinem Lager schlafen?« Ich hob die Schultern und sah sie an. Wie der suchte ich nach einer Ausrede, aber schließlich murmelte ich: »Wir werden sehen, Gjeima.« Die elf Bal lons ankerten alle im Bereich einer einzigen, großen Fläche. Vor vielen Jahren schien dies ein hochgelegener Platz gewesen zu sein oder ein Dach einer riesigen Halle. Überall ragten Ruinenstücke hoch. Alles war über wachsen. Ich zählte die Männer in den Gon deln am Boden. Insgesamt waren wir zwei unddreißig Personen. Langsam kletterte Gjeima nach unten. Einige Ballonfahrer ka men mit brennenden Fackeln auf den Mittel punkt der Fläche zu. Sie redeten leise mit einander. »Atlan!« rief Scaltok nach einiger Zeit.
28
Hans Kneifel
»Der Ballon ist gesichert! Du kannst herun terkommen. Bringe die Ausrüstung mit!« »Verstanden!« rief ich zurück und beob achtete argwöhnisch die Ränder des Dschungels. »Ich komme.« Ich bewaffnete mich, schnallte mir eine Art Tornister um und warf andere Ausrü stungsteile über die Schulter. Dann kletterte ich vorsichtig die Sprossen der Leiter ab wärts und stand neben Scaltok. Darrnogh kam auf unsere Gruppe zu. »Heute ist nichts mehr zu unternehmen«, sagte er mit seiner rauhen Stimme. »Wir schlagen ein Lager auf. Achtet auf Spuren der Waldbarbaren.« »Hier?« fragte Scaltok erstaunt zurück. »Sie sind überall!« erwiderte Darrnogh kurz. In der Ferne donnerte es, aber das Ge räusch war schwach und undeutlich. Wir gingen daran, ein befestigtes Lager aufzuschlagen. Es war logisch, daß seine Grenzen dort verliefen, wo die Anker hingen und die mit Quadern beschwerten Netze.
* Über den Ausschnitt, dessen Grenzen von wenigen Mauern und der Kulisse des Wald rands gebildet wurden, entwickelte sich jetzt der Nachthimmel. Er war von einem intensi ven Dunkelrot. Keine treibenden und leuch tenden Wolken, keine Flecken, kein Strei fenmuster. In diesem dunkelroten riesigen Feld, das wie das Innere einer Blase wirkte, erschienen langsam fünf Lichtpunkte. Helle re Stellen, die in ihrem Zentrum strahlten, als wären sie weit entfernte Sonnen; ein an derer Vergleich fiel mir nicht ein. Aber sie vermochten nicht, den Ruinenplatz zu erhel len. Drei mächtige Feuer brannten. Wir hatten während einer ersten Suche nach Höhlen oder versteckten Raubtieren eine gewaltige Menge Holz zusammengetragen. Dort, wo die Anker mit zusätzlichen Hammerschlägen in die Steinfugen hineingetrieben worden waren, sah ich kleinere Feuer oder brennen de Fackeln. Decken waren ausgebreitet wor-
den, und Gjeima hantierte an einem Kessel, aus dem Dampf aufstieg. Ich stand mit Darrnogh in der Höhlung ei nes ehemaligen Portals. Vor uns breitete sich der Platz aus. Ein unbehagliches Gefühl hatte mich beschlichen. Auch Darrnogh war nervös und unruhig. Die Kulisse aus Dun kelheit und Schreien, undeutbaren Ge räuschen und Tierstimmen beunruhigte uns. Wir hatten Köcher und Bögen über den Schultern und hielten die geschliffenen Schwerter in den Händen. »Welche Art Beute sucht ihr hier, Darrno gh?« fragte ich leise. Unablässig suchten un sere Augen den Bereich jenseits der Hellig keit ab. Jede Bewegung dort konnte gefähr lich sein. »Alles, was du dir denken kannst, Atlan. Nur keine Nahrungsmittel. Du wirst es mor gen erfahren. Du kannst mit uns kommen. Ich, Pverganth und Scaltok sind die Ent decker unserer Gruppe.« Ich nickte. Dort, wo geradeaus der Platz in eine fast unkenntliche Gasse überging, sah ich eine Bewegung. Ich stieß Darrnogh an und deutete in die Richtung. »Ein Tier!« sagte er. »Bist du sicher?« »Absolut. Sieh die Augen.« Ich bemühte mich, über die Feuer hinweg und durch das zuckende Streulicht hindurch die Reflexe in den Raubtieraugen zu sehen, aber alles, was ich erkennen konnte, war ei ne verwischte Bewegung. Die Augen des Mannes neben mir mußten phänomenal scharf sein. »Ich habe nichts gesehen.« Darrnogh schlug mir mit dem Ellbogen gegen die Rippen. Er lachte kurz und versi cherte im Tonfall ruhiger Gewißheit: »Glaub mir, Fremder mit dem weißen Haar und den roten Augen. Ich erkenne einen Dschungelbarbaren ziemlich früh. Sie greifen niemals in der Dunkelheit an. Oder fast niemals.« »Verdammt!« antwortete ich gereizt. »Aber es gibt hier Raubtiere. Ich habe sie selbst gesehen!«
Die Piraten der Mikrowelt »Noch nie gehört, daß Raubtiere eine Scheu vor Feuer haben, Fremder?« »Doch. Ich weiß es, aber ich weiß nicht, ob dieses Gesetz auch für die Raubtiere des Ruinenwalds gilt.« »Es gilt.« Je mehr ich von der Ruinenstadt sah, de sto sicherer war ich, daß sie von einer tech nisch hochstehenden Rasse erbaut worden war. Schon allein die Größe deutete darauf hin. Ich war sicher, daß wir hier eine Menge Geheimnisse vorfinden würden. »Wie wird die Nacht verlaufen?« Darrnogh drehte sich halb herum. »Wir stellen Wachen auf. Zehn Männer. Der Rest schläft – nach dem Essen werden wir uns ausruhen.« »Ich melde mich für die erste Wache.« »Gut. Ich bin auch dabei«, sagte er. »Hast du weitere Fragen, Atlan?« »Nicht im Augenblick.« Wir nickten uns zu und verließen den Platz. Auf kaum erkennbaren Pfaden, über Moospolster und auseinanderbrechende Platten, durch ein Gewirr von Schlingpflan zen, aufwärts und abwärts, unter einem ge schwungenen Torbogen hindurch, gingen wir langsam um das Lager herum. Plötzlich blieb ich stehen. »Halt!« schrie ich und packte Darrnogh am Arm. »Was ist das?« Hinter einigen jungen Stämmen und ei nem uralten, modernden Baumstamm tauch te eine leuchtende Fläche auf. Ich blickte ge nauer hin. Vor uns schob sich aus der Dun kelheit ein Gewirr von Linien und Punkten. Eine Mauer, auf einer Seite gerade, auf den anderen treppenförmig zerbrochen und zer bröckelt. »Das sehen wir oft. Die Fugen zwischen den Steinen leuchten in der Nacht«, erklärte Darrnogh. Ich war wie elektrisiert, denn ich versuchte, hinter den Linien ein System zu entdecken. »Einen Augenblick!« sagte ich und folgte mit den Augen den verwirrenden Mustern des strahlenden Mörtels. Ich hatte ein sol ches Material noch niemals gesehen und war
29 verblüfft. Bisher hatte ich nur mehr oder weniger regelmäßig große Quadern gesehen. Aber hier erkannte ich, daß Steine verschiedener Größen mit dem Mörtel verbunden waren. Außerdem leuchteten nicht sämtliche Fugen. Ich sah Winkel, offensichtlich einfache Fi guren, Zeichen, die ebenso eine Formel wie einen versteckten Hinweis bedeuten konn ten. Losgelöste Kombinationen aus Linien, die ich für Buchstaben oder Zahlen halten konnte. Tagsüber waren sie verschwunden, aber in der Dunkelheit waren sie offenkun dig. Darüber hinaus waren die leuchtenden Mörtelschichten nicht bewachsen oder über wuchert. »Kennst du das?« fragte ich nach eine Weile. Brummend erwiderte Darrnogh: »Ja. Überall gibt es solche Stellen. Über all habe ich die Linien gesehen. Sie sind ein Zeichen.« »Wofür? Wovon?« »Hier gibt es unterirdische Gänge und Hallen, die voller wunderbarer Dinge sind.« »Das werden wir morgen feststellen.« Du kannst sicher sein, daß der Bruzack in einer solchen oder ähnlichen Kultur entstan den ist, mutmaßte der Logiksektor. »Einverstanden!« sagte ich und ging hin ter ihm her. Die Wachen begannen mit ih rem Rundgang. Das Essen schien fertig zu sein, denn der Geruch nach starkem Gewürz zog über die Lichtung. Die Laute und das unaufhörliche Knacken und Knistern rund um waren leiser geworden. Wir sahen vor uns eine halb zerstörte Treppe, die auf einen Sockel führte, von dem wiederum eine Brücke auf den Platz der Feuer zu erkennen war. Wir stiegen, noch immer mit den Schwertern in den Händen und voller ge spannter Aufmerksamkeit, zwischen den Büschen und den Halmen unbekannter Ge wächse die Treppe hoch. Ich war zwei Schritte hinter und unter dem Anführer. Gefahr! Rechts! schrie plötzlich der Ex trasinn. Ich duckte mich, fuhr halb nach rechts herum und stieß einen leisen Schrei aus.
30 Darrnogh begriff und sprang auf die nächst höhere Stufe. Mein Schwert beschrieb einen Halbkreis und zischte durch die Luft. Der lange Dorn, ebenfalls scharf geschliffen, kappte einige Gräser. Dann sah ich das Raubtier, das auf uns zusprang. Es hatte ir gendwo zwischen den Pflanzen gelauert, jenseits der Wand mit den leuchtenden Lini en. Ich sah den aufgerissenen Rachen und weiße Fangzähne. Jetzt spiegelte sich auch das zuckende Licht unserer Feuer in den großen Augen. Augenblicklich stellte sich Darrnogh so auf, daß er das Tier abwehren und sich gleichzeitig in Sicherheit bringen konnte. Ich blieb auf meiner Stufe stehen, federte tief in die Knie und machte eine ab lenkende Bewegung mit dem linken Arm. »Stehenbleiben!« donnerte Darrnogh von oben. Ich hatte nichts anderes vor. Die Hin terläufe des Raubtiers rissen Bündel von Moos und Pflanzen von den Steinplatten und schleuderten sie schräg nach hinten. Ich hör te das dumpfe Geräusch der Pranken und das keuchende Atmen der Bestie. Wir befan den uns in einem Bereich, der nicht hell ge nug war. Das Tier schien rasend vor Wut oder Hunger zu sein. Noch zwei Sprünge, dann war es bei uns. Meine Bewegung hatte es abgelenkt. Es wußte nicht, wen es angreifen sollte. Die Unsicherheit dauerte nur einen Sekunden bruchteil, dann entschied sich das Tier mit den dunklen Streifen im hellen Fell. Ich stand tiefer, es warf sich halb herum und sprang auf mich zu. Ich erwartete das Tier. Als es sich zum letztenmal losschnellte und in einem flachen Bogen durch die Luft sprang, hechtete ich nach vorn, dann nach links und eine Stufe höher. Mein Arm hob sich. Das schwere Schwert lenkte sich fast selbst. Eine Tatze streifte meine Jacke und riß sie in breiten Streifen auseinander. Ich roch den heißen, stinkenden Atem der Bestie. Sie ver fehlte mich nur um einige Handbreiten. Mein Arm mit dem Schwert zuckte herunter, und die Klinge grub sich mit einem knackenden Geräusch in den Nacken.
Hans Kneifel »Zurück, Atlan!« schrie Darrnogh, der mit gestrecktem Arm, das Schwert wie einen Dolch haltend, die Treppe abwärts rannte. Von den Feuern her hörten wir Schreie und das Näherkommen einiger Männer. »In Ordnung!« keuchte ich. Das Tier schrie grollend auf. Es kam drei oder vier Stufen tiefer auf und warf sich in der Luft herum, kaum daß die Vorderpran ken den Stein berührt hatten. Das Fell war blutüberströmt, als sich das Raubtier tief ge duckt in kleinen, hastigen Sprüngen wieder die Stufen aufwärts kämpfte und diesmal Darrnogh als Gegner annahm. Darrnogh schien laut zu lachen oder einen besonders merkwürdigen Angriffsschrei auszustoßen. Dann prallten er und das Tier zusammen. Das Raubtier, nicht kleiner als ein Tiger, lief direkt in die Waffe des Anführers hin ein. Der Stachel bohrte sich knirschend in den Schädel des Raubtieres. Es schrie laut auf, sprang senkrecht in die Höhe und fiel wieder zu Boden. Die Läufe schlugen rasend schnell aus und fetzten die Gewächse von den Steinstufen. Ich kam heran und schlug zu. Die geschliffene Schneide spaltete den Schädel des Tieres. Ich sprang mit ausge breiteten Armen zurück, um nicht von den Pranken getroffen zu werden. »Zurück. Herauf zu mir!« schrie Darrno gh besorgt. Ich lächelte und bewegte mich schnell aus dem Bereich des zuckenden Kör pers heraus. Breite Blutbahnen liefen über die Stufen und versickerten im Moos Die er sten Wachen erreichten uns, aber Darrnogh winkte sie zurück. »Wir waren schneller!« sagte er und wandte sich an mich. »Du scheinst ein guter Kämpfer zu sein, Atlan?« »Ich habe es lernen müssen«, gab ich zu. »Außerdem war das Raubtier fast schneller als ich.« »Es wird hier liegenbleiben. Die anderen werden es zerreißen und uns nicht mehr an greifen!« Wir schritten zurück zum Feuer. Während die Wachen ihre Runden gin
Die Piraten der Mikrowelt gen, aßen wir. Schließlich übernahmen Darrnogh und ich, zusammen mit acht ande ren Männern, die erste Nachtwache. Wir wurden abgelöst, ohne daß der geringste Zwischenfall uns gestört hatte. Aber trotz der Ruhe und der Ereignislosigkeit hatte ich, als ich auf eine der Decken zuging und mich hinlegte, kein gutes Gefühl. Ich glaubte, daß uns Hunderte von Au genpaaren unausgesetzt beobachteten. Trotz dem schlief ich übergangslos ein.
* Wach auf! Du hast Grund zur Unruhe! flüsterte eindringlich das Extrahirn. Ich taumelte in die Höhe, sah mich um und versuchte, mich schnell zurechtzufin den. Noch immer war es dunkel. Meine Fin ger tasteten nach dem Griff des Schwertes. Ich riß die Augen auf. Noch immer war es Nacht. Im dunkelroten Himmel standen die ste chenden Lichtpunkte mit dem helleren Hof darum. Unweit von mir sah ich die Glutkrei se der drei Feuer. Aus dem Augenwinkel nahm ich einen Posten wahr, der mit bren nender Fackel seine Runde ging. Warum war ich aufgewacht? Ich kam auf die Beine, ließ aber das Schwert nach unten hängen. Gjeima lag in meiner Nähe auf Fellen und Decken und schlief. Sie schnarchte leise vor sich hin. Als ich den Kopf drehte, sah ich, daß Darrnogh ebenfalls wach geworden war und in meine Richtung blickte. Ich flüsterte: »Ich wurde plötzlich wach. Du auch?« »Du hast mich aufgeweckt«, wisperte er zurück. »Aber ich bin auch unruhig.« Ich setzte mich auf einen Steinblock, den wir vor dem Essen gesäubert und von Pflan zen befreit hatten. Langsam ließ ich meinen Blick rundum gehen. Ruinen und Pflanzen hoben sich scharf gegen den Himmel ab, dessen diffuse Lichtquellen einen deutlichen Helligkeitsunterschied schufen. Die Stein mauern standen bewegungslos, die Wipfel wiegten sich leise hin und her. Es gab fast
31 keinerlei Geräusche mehr. Nur hin und wie der ein kollerndes Steinchen oder ein knackender Ast. Aber allen Geräuschen fehlte eine alarmierende Regelmäßigkeit. »Hörst du etwas?« fragte Darrnogh leise. Auch die anderen Wächter waren aufmerk sam. Ich sah sie im Licht der weiter entfern ten Feuer und im Schein der Fackeln umher gehen, stehenbleiben. Ich zählte sie. Es wa ren zehn. »Nein. Nichts«, gab ich zurück. Aber das Gefühl trog mich nicht! Ich kannte es. Wenn mich der Extrasinn mitten aus dem tiefsten Schlaf riß und derart deutlich warnte, gesch ah dies nicht ohne Grund. Etwas fesselte mich; eine bestimmte Un regelmäßigkeit in einem der nächsten Baum wipfel. Während die linke Seite deutlich die Konturen dichtbelaubter Äste zeigte, be merkte ich auf der anderen Seite des ober sten Stammes einen dunklen Klumpen. Es konnte ein großes Nest sein, ein Tier oder ein paar Vögel, die sich dort zum Schlafen niedergesetzt hatten. Ich erstarrte und lehnte das Schwert vor sichtig, ohne ein Geräusch zu verursachen, gegen den Quader. Ich zog einen Pfeil aus dem Köcher und nahm den Bogen in die Hand. Als ich hinter mich blickte, bemerkte ich, daß ich für einen Beobachter nur eine undeutliche Gestalt vor dunklen Hintergrund sein konnte. Meine Bewegungen fielen also nicht auf. »Ein Barbar?« flüsterte Darrnogh fragend. Bisher war noch niemand außer uns wachge worden. »Vielleicht!« murmelte ich und legte den Pfeil auf die Sehne. Unausgesetzt starrte ich den dunklen Klumpen an. Fünfzig oder mehr Meter entfernt, etwa zwanzig Meter über dem Niveau des Platzes. Die Konzentration auf ein und dieselbe Stelle spielte meinen Augen einen Streich. Ich sah Umrisse und Formen, wo es keine gab. Aber in einem täuschte ich mich nicht: dort oben war etwas, das jeden Funken Licht aufzusaugen schien. Die Blätter ringsum zeigten einen fernen, winzigen Abglanz des
32 Lichtes, das von Feuern und Fackeln aus ging. Wenn sich die Blätter bewegten, spiel ten auch die Lichtpunkte im roten Himmel darauf. Aber in der Mitte, jener Klumpen, der immer wieder die Gestalt zu verändern schien … er blieb dunkler als die Umge bung. Ich hob den Bogen, spannte ihn aus und konzentrierte mich drei Sekunden lang auf mein Ziel. Die Sehne schlug hart gegen meinen lin ken Unterarm. Der Pfeil flog mit einem fah len Heulen durch die Dunkelheit. Dann hör te ich einen schmatzenden Laut, kein kra chendes Geräusch, das entstanden wäre, wenn die Pfeilspitze sich in Holz gebohrt hätte. Noch während ich den linken Arm be wegte und die Waffe absetzte, hörte ich ein metallenes Geräusch. Ich starrte abermals auf das Ziel. Jetzt bewegt sich der Klumpen! Eben war er nocht dort oben gewesen. Und jetzt glitt er senkrecht nach unten, wie eine Spinne an ihrem eigenen Faden. Die Umrisse verschmolzen mit der schwarzen Masse des Hintergrundes. Ein paarmal knackte und knisterte es noch, dann herrsch te wieder Stille. Drei oder vier Posten sahen zu uns herüber und machten Anstalten, ihre Plätze zu verlassen. »Bleibt dort!« zischte Darrnogh quer über den Platz. Die Männer erstarrten. Ich ging so leise und vorsichtig wie möglich zu dem Anführer hinüber und blieb vor ihm stehen. »Was hast du davon?« Er breitete die Arme aus und machte eine unschlüssige Geste. Dann versicherte er ver drossen: »Ich weiß es nicht. Es könnte ein Wald bauer gewesen sein. Oder auch ein großes Pelztier mit vier Gliedmaßen und einem lan gen Greifschwanz. Wir werden es morgen erleben.« »Wie meinst du das, Darrnogh?« Er setzte sich wieder und zog seinen Fell mantel glatt. »War es ein Barbar, dann werden sie mor gen mit aller Wucht angreifen. Es sind nie-
Hans Kneifel mals viele. Kleine Stämme, kleine, wandernde Gruppen. Aber sie kämpfen wie die Teu fel. Sie wissen nicht, wann sie verloren ha ben. Ich glaube, sie sind schrecklich primi tiv.« Er nickte mir zu. Es war die deutliche Aufforderung, ihn schlafen zu lassen. Ich ging zurück, legte meine neuen Waffen zu recht und streckte mich aus. Gjeima war nicht wach geworden. Auch ich schlief bald wieder ein.
* Die Jansonther waren sehr vorsichtig. Sie gingen kein Risiko ein. Vierzehn Männer und Gjeima bildeten einen Kreis. Dieser Kreis befand sich im Zentrum des Platzes. Innerhalb der Verteidigungslinie an kerten sieben Ballons. Alle Männer waren schwer bewaffnet und hatten sich hinter Rui nenstücken verschanzt. Ich ging sicher nicht fehl, wenn ich mir sagte, daß dies die besten Kämpfer waren. Wir hatten gegessen: Früchte von den na hen Bäumen, Scheiben von mitgebrachtem Braten, dünne, harte Brotfladen und Stücke einer scharfgewürzten, langen Wurst. Dazu gab es kaltes Wasser aus den Wassersäcken, von denen noch sieben an den Ballonkan zeln hingen. Eine zweite Gruppe von Männern hatte sich gebildet. Darrnogh, Pverganth und Scaltok waren die Anführer, die jetzt gerade Fackeln verteilten und ihre Werkzeuge be reithielten. »Wir fangen an«, sagte Darrnogh. »Scatltok – du hast gestern noch gesucht. Was hast du gefunden?« Scaltok, der zwei Fackeln in der Hand und mehrere in einer Art Rucksack trug und mit einer riesigen Zange bewaffnet war, sag te gleichmütig: »Dort drüben eine breite Treppe. Sie ist gut erhalten und führt sehr tief nach unten. Die Zeichen, die wir schon kennen, sind an den Seitenmauern.« »Vielversprechend?«
Die Piraten der Mikrowelt »Besser als das letztemal«, sagte Scaltok. »Und Atlan wird uns erklären, was wir nicht wissen.« Er lachte mich gutmütig an. »Wenn ich es selbst erkenne, werde ich gern erklären, was ich begriffen habe. Ich weiß nur, daß jene Stadterbauer ein großes, mächtiges und kluges Volk gewesen sein müssen.« »Auch wir wissen dies«, bekannte Pver ganth und grinste listig. »Deswegen holen wir, was wir verstehen und brauchen kön nen. Was sie übriggelassen haben, brauchen wir nicht herzustellen.« »Es geht los, Freunde. Dieselben Sicher heitsvorkehrungen wie immer, ja?« »Verstanden.« Ein langer Zug bewaffneter und ausgerüs teter Piraten formierte sich. Wir vier bilde ten die Spitze. Ich vermied es, mich nach G jeima umzudrehen, denn ihre Blicke waren brennend vor Sehnsucht und Leidenschaft. Nach zehn Schritten wurden wir alle abge lenkt, auch die Posten. Selbst Gjeima zuckte zusammen und blickte nach oben. Ein hämmerndes, ratterndes Geräusch er tönte. Die Geräuschquelle war unsichtbar. Das Geräusch näherte sich, denn es wurde lauter und deutlicher. Es ging in ein lautes Dröh nen über, gleichzeitig ertönte das Pfeifen und Heulen bewegter Luft. Dann sahen wir, hoch über uns in dem freien Ausschnitt zwi schen den Baumgipfeln und den hochragen den Mauern, einen seltsamen Apparat. Er flog so hoch, daß wir nicht genau er kennen konnten, worum es sich handelte. Die Maschine sah aus wie ein Kreuz und be stand aus einem Gerüst, zwischen dessen einzelnen Stücken Stoff oder ähnliches Ma terial straff gespannt war. Verschiedene Flä chen dienten wohl dem Auftrieb oder be stimmten Steuermanövern. Ein Flugapparat mit einer geräuschvollen Maschine. Ich wandte mich an Darrnogh und fragte mehr als entgeistert: »Ist diese Maschine auch aus eurem Stamm?«
33 »Ich sehe sie zum erstenmal in meinem Leben!« sagte Darrnogh. Sein Gesicht war bleich, seine Nase stach noch spitzer als sonst hervor. Er war überrascht wie wir alle. Ein altertümlicher Flugapparat, ebenso alter tümlich wie diese Ballons. Er flog einmal fast über die gesamte Lichtung, dann kippte er ein wenig über eine Schwinge und flog ei ne Kurve von hundertachtzig Grad. Ratternd und dröhnend flog das Gerät wieder in die Richtung, aus der es gekom men war. Es verschwand hinter den Baum wipfeln, das Geräusch wurde schwächer und höher, dann wurde es immer leiser und riß plötzlich ab. Der Spuk war vorbei. Ich wuß te nicht, ob ich meinen Augen trauen durfte. Du hast richtig gesehen, warf der Logik sektor ein. Fast grimmig wandte sich Scaltok an mich und fragte laut: »Das ist das erste, was du uns erklären mußt, Atlan!« Ich faßte zusammen, was ich von solchen Apparaten wußte. Dann erklärte ich ihnen in wenigen Sätzen, wie meiner Meinung nach ein Apparat dieser Art funktionierte. »Vielleicht ist es das, was ich einst hör te«, murmelte Darrnogh plötzlich. »Es gibt sie also doch!« »Wen? Was?« Er machte eine Pause, dann erklärte er: »Es gibt Sagen und Märchen. Sie berich ten von Dingen aus alter Zeit. Aus einer Zeit, in der diese Stadt und andere Städte le bendig und neu waren. Es gab einen Stamm, der sich die Somoren nannte. Sie waren, wie wir, große Reisende. Und man sagte mir, daß sie in der Lage waren, zu fliegen wie die Vögel.« Wieder erfuhr ich, daß die Mikrowelt ebenso ihre Vergangenheit hatte wie meine Welt der normal Großen. Und sie hatte si cher auch ihre übergeordneten Dimensionen. Was für Bewohner der Mikrowelt ein Tran sitionssprung war, konnte vielleicht ein Vor stoß in die Realwelt sein. Und es gab viel leicht auch Raumfahrt. Aber was war dies für eine Art Weltraum? Ich verstand diesen
34 Kosmos nicht mehr. Und es gab niemanden, mit dem ich über dies alles sprechen konnte. Ich seufzte auf und hörte dem Ende der Er zählung zu. »Aber es gab etwas. Sie nannten es Welt untergang, die, von denen ich die Sagen kenne. Seit dieser Zeit gibt es auch keine Somoren mehr und keine Dinge, die fliegen konnten wie große Vögel. Aber – was sollen die alten Geschichten! Los, brechen wir auf. Seit einer Stunde ist es hell, und wir werden in zwei Tagen starten müssen. Es hat in der Nacht geblitzt und ge donnert. Ich bin sicher, wir erwischen eine gute, schnelle Luftströmung.« Wir hatten noch vor dem Essen nachgese hen; es gab dort am Baum keinerlei sichtba re Spuren. Wen oder was immer mein Pfeil getroffen hatte – es war spurlos verschwun den. Wir überquerten in langer Reihe den halben Platz, kamen in der Nähe des bis zur Un kenntlichkeit zerfetzten Kadavers vorbei, er reichten die oberste Stufe einer halbkreisför mig geschwungenen Treppe, die amphithea tralisch wie ein halbierter Trichter nach un ten führte und sich dabei stark verengte. Sie mündete in einer hohen, rechteckigen Öff nung, mindestens fünfzehn Meter tiefer als das Gelände des Lagerplatzes. »Hinter mir her! Zündet einige Fackeln an!« rief Darrnogh nach hinten. Seine Män ner gehorchten und reichten die brennenden Lichtquellen weiter. Der Himmel war wie der strahlend hell, und Schwärme winziger Insekten umkreisten uns und bildeten lästige Wolken um unsere Köpfe. Licht fiel auch einige Meter weit in den Eingang hinein und zeigte uns wuchernde Pflanzen. Ich war aufgeregt und bereitete mich vor, auch hier Dinge zu sehen, die mich erschreckten und erstaunten. Bleibe ruhig. Es wird auch hier keine Wunder geben, sagte der Logiksektor. Einer der Männer blieb am Eingang ste hen. Er trug keine Fackel, aber er war be waffnet und bereitete sich vor, uns zu war nen, wenn es notwendig wurde. Wir gingen
Hans Kneifel weiter. Das Licht ließ nach, als ich hinter Scaltok und Darrnogh in einen großen Raum kam, den das Licht unserer vier Fackeln we niger als notdürftig erhellte. Wir wurden lei se, sprachen kaum, blickten nur nach allen Seiten. Eine eigentümliche Stimmung hatte uns alle erfaßt. Über unseren Köpfen wurden von den Flammen und von den Bewegungen, dem zitternden Licht und dem stinkenden Rußfa den der Fackeln Vögel aufgeschreckt. Sie flatterten ratlos umher, stießen gegen Vor sprünge und gegeneinander und stoben dann in die Richtung der Öffnung, die immer klei ner wurde. »Geht an die Wände!« sagte Darrnogh. Seine Stimme war dumpf und hohl. Sie klang als Echo wider. Drei der Ballonpiraten gingen nach rechts, drei oder vier nach links. Jetzt sprangen die Mauern aus der Finsternis hervor, und die Reliefs begannen scheinbar zu leben. Ich blieb stehen und blickte nach beiden Seiten. »Nein!« stieß ich hervor. »Was siehst du?« murmelte Scaltok halb beunruhigt, halb belustigt hinter mir und hielt mich am Arm fest. »Ich sehe Sterne«, sagte ich verwundert. Sterne! Bisher hatte ich alle nur denkbaren Arten von Firmament gesehen, aber keinen klaren Nachthimmel mit den vertrauten Lichtpunkten. Aber hier gab es ein breites Band von Halbreliefs. Je mehr die Piraten auseinandergingen und die Wände beleuch teten, desto deutlicher sah ich die Bilder. Sie schienen auf einfache Weise eine Geschich te zu erzählen. »Ich sehe einen Platz, auf dem Schiffe stehen. Schiffe, die zwischen den Sternen dahinfahren wie Schiffe auf dem Meer. Ich sehe Menschen, die diese Schiffe bauen und die Mannschaften stellen. Ich sehe Linien und Zeichnungen und die Träume von dem Ziel der Schiffe.« Der Boden der Halle war mit Unrat, zu sammengewehtem Laub und dem Kot der Vögel bedeckt. Knochen, Eierschalen und trockene Äste krachten bei jedem Schritt.
Die Piraten der Mikrowelt Ich nahm einem der folgenden Männer die brennende Fackel aus der Hand und ging bis zu einer Stelle, an der ich den »Anfang« des Reliefs vermutete. Ich wurde nicht ent täuscht, aber von Schritt zu Schritt wurde mein Verdacht zur unumstößlichen Gewiß heit. Die Erbauer der Stadt in der Mikrowelt kannten alle Bezüge der »normalen« Raum fahrt. Dieses Rätsel wird dich noch lange be schäftigen, bemerkte der Extrasinn prophe tisch. Ich ging weiter. Verschiedene Formen primitiver und wei ter entwickelter Raumschiffe. Menschen da zu im Größenvergleich, der nicht immer ex akt eingehalten wurde. Es gab eine Art Be deutungsperspektive, in der Fürsten oder Raumkommandanten größer als die anderen Menschen gezeichnet waren. Sterne und un bekannte Sternkonstellationen. Starts und Flüge der Schiffe. Fremde Sonnen und frem de Monde, kraterübersät und öde. Und die Landungen auf den Zielplaneten oder auf Welten entlang der Flugroute. Fremde und phantastische Wesen, von denen die Raum schiffe und die Raumfahrer umringt wurden. Kämpfe mit diesen Wesen und gegen techni sche Zwischenfälle. Das alles sah ich mit ständig wachsender Begeisterung und Span nung, während ich langsam entlang der vier – häufig durch Öffnungen unterbrochenen – Wände ging und die Fackel hochhielt. »Atlan!« Der Ruf hallte als mehrfaches Echo durch die Halle. »Hier!« »Was siehst du? Eile dich, denn wir su chen nicht nach Sternen!« »Ich komme!« sagte ich und rannte auf die vorderste Gruppe der Piraten zu, die einen Hauptkorridor gefunden hatten, der schräg nach unten führte, in eine tiefer lie gende Ebene hinein. Unter unseren Sohlen knirschte jetzt nicht mehr so viel Schmutz. Ein Mann mit einer brennenden Fackel blieb am Ausgang der Halle stehen. Wir konnten ihn noch nach dreihundert Schritten sehen.
35 »Ich habe gesehen, daß die Erbauer dieser Stadt die Sterne kannten und zu den Sternen reisten!« sagte ich. »Sterne sind uns kein Begriff. Und wir sind froh, wenn unsere Reisen gut enden!« sagte Pverganth. »Und wenn wir keine Bal lons verlieren, mit denen wir kostbare Beute hätten transportieren können.« »Was ein treffliches Beispiel dafür ist, daß zuviel Angriffslust schädlich sein kann!« murmelte ich. Reize ihn nicht, warnte der Logiksektor. Der Korridor endete. Wir befanden uns in einem kleinen Saal. Er war erstaunlich gut erhalten. Es schien eine Art Magazin gewe sen zu sein, denn nachdem jemand mit ein paar Hammerschlägen eine rostende Tür niedergelegt hatte, sahen wir uns langen Re galen aus Stein gegenüber, in denen Gegen stände lagen und standen. Gegenstände aller Größen und Formen, zum Teil mit einem halbdurchsichtigen Gespinst versehen, zum Teil ohne oder in Kisten, die vermodert wa ren. Die Männer schwärmten aus. Ich inter essierte mich nicht so sehr für die Beute, denn sie würde mir nichts nützen. Ich suchte nach Hinweisen oder Anlagen, die vielleicht die Erfüllung meiner Wünsche bedeuteten. Ich stolperte, fing mich wieder und verlor beinahe die Fackel. In einem Funkenregen fiel ich gegen die Wand und rammte mit der Schulter eine Platte, die knackend nachgab. Sekunden später erhellte strahlendes Licht den gesamten Saal. Und als ich mich um drehte und die Piraten schreien und lachen hörte, sah ich, daß auch in den naheliegen den Korridoren das Licht aufgeflammt war. Vertraue nicht darauf, daß die uralten Anlagen lange leistungsfähig bleiben, dämpfte der Extrasinn meinen neu erwa chenden Optimismus. »Darrnogh! Jetzt könnt ihr ohne Fackel licht suchen!« rief ich begeistert. »Das ist noch niemals geschehen, seit wir die Stadt besuchten!« schrie er zwischen den Regalen hervor. Er trug über der Schulter ei ne Maschine, die so aussah, als könnte es ei
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Hans Kneifel
ne automatische Säge sein. Interessiert kam ich näher. Wie sollte sie ohne Energieaggregat funk tionieren? Suche es! sagte der Extrasinn. Aber meine Einsicht war tiefer und we sentlicher. Wenn hier das Licht noch funk tionierte, wenn Maschinen wie der Bruzack selbständig Großtiere jagten, dann gab es hier noch andere Überrraschungen. Ich verließ den Raum. Ich wanderte durch leere Korridore, öffnete Tore und Portale, schaltete unbekannte Maschinen an und fand ein Lager voller manuell zu handhabender Werkzeuge. Dies war vorläufig der wichtig ste Fund für die Piraten. Die Männer würden jubeln, wenn ich sie hierher brachte.
5. Schließlich, nachdem der kleine Raum von den Ballonfahrern bis auf den letzten Metallnagel geplündert, nachdem sämtliche Gegenstände bis hinauf ans Ende der ersten Treppe geschleppt worden waren, stand ich am unteren Ende einer steinernen Wendel treppe, die in einem zylindrischen Raum in unbekannte Höhen führte. Ich zog das Schwert und watete durch den knöcheltiefen Staub die Treppe aufwärts. Etwa hundertfünfzig Stufen. Die letzten Stufen schwangen weit aus und brachten mich in eine Halle, deren Be leuchtung sich eingeschaltet hatte, als ich ei ne der Stufen niedergedrückt hatte. Welch eine Beleuchtung! Sterne! Sonnen! Ich blieb stehen und drehte mich langsam. Der Raum schien ein Planetarium zu sein. Wir besaßen eine solche Fiktivprojektion in der Kruste des Planeten Kraumon. Ich sah den halbkugeligen Raum, dessen Material glasartig war. Winzige Löcher oder noch kleinere Lampen simulierten einen Kosmos, der sich nicht im mindesten von einer arko nidischen Sternkarte unterschied. Tausende von Sternen in allen Farben. Sternhaufen und Galaxien, Nebel und Milchstraßensysteme. Ich lehnte mich an das
letzte Stück des steinernen Geländers und betrachtete mit mühsam erzwungener Ruhe die Konstellationen, die Farben und die La ge der Sternarchipele. Ich erkannte nicht einen Stern. »Es sind Galaxien des Mikrokosmos«, murmelte ich verzweifelt. »Und ich bin nicht in der Lage, diesen Umstand zu begrei fen.« Warte! Früher oder später … meldete sich erneut der Extrasinn. Weit unter mir schleppten die Piraten in ihren Säcken und Tornistern all die Sägen und Hämmer, die funkelnden technischen Instrumente, die Nägel und Schrauben des Magazins hinaus, sie prüften die Kunst stofftaue, die Folien und die Metallplatten, die in diesem Magazin gestapelt waren und freuten sich wie die Kinder über meinen Fund. Nach intensiver Suche hätten sie den Raum wohl selbst gefunden. Ich starrte die Sterne an und versuchte herauszufinden, welchen Sinn dies alles ergab. Alles lief auf eine einzige Frage hinaus: Wohin flogen die Raumfahrer der Mikro welt? Ich wartete. Die Sterne des Planetariums bewegten sich ziemlich schnell. Ein weiteres Rätsel. Die Mikrowelt war also gleichzusetzen mit einem Planeten, der sich um seine Achse und um eine Sonne drehte. Die Nacht hier verging ziemlich schnell, die Sternbilder wanderten. Ich erkannte auch die einzelnen Planeten, die sich anders zu bewegen schei nen als die Sterne. Ich faßte einen roten Stern, der ziemlich nahe stand, ins Auge. Irgend etwas faszinier te mich daran. Kurze Zeit später erkannte ich den Grund. Der Stern flackerte, sein Leuchten nahm zu. Verwirrt hob ich den Kopf. Nein! Das Leuchten aller Sterne nahm an Intensität zu. Sie strahlten auf. Vieltausendmal schien sich dort eine Nova aufzubauen. Der Raum wurde heller. Die Schwärze des glasähnli chen Materials, die Beschichtung des Plane tariums, wurde stumpf und grau. Die Galaxi
Die Piraten der Mikrowelt en wurden zu Feuerrädern, die roten Sterne flammten auf, und plötzlich durchzog ein stechender Geruch nach schmorender Isolie rung die muffige Luft des uralten Raumes. Ein Blitz zuckte auf und schlug in den Boden ein. Ich fühlte elektrische Kriechströ me durch meine Stiefelsohlen. Ein zweiter Blitz folgte mit hellem, gefährlichem Knat tern. Eine Galaxis flammte auf und verging in einem Regen von stinkenden Tropfen und knatternden Blitzen. Ich ging rückwärts und schirmte meine Augen ab. »Das Ende!« murmelte ich. Vor meinen Augen löste sich die gesamte Anlage in ei nem energetischen Gewirr aus Blitzen, Lichtbögen und Entladungen auf. Glühende Teile der Decke fielen krachend herunter. Ich sprang rückwärts mehrere Stufen nach unten, rutschte im Staub aus und fing mei nen Sturz mit den Händen ab. Vor meinen Fingern fiel ein halber Quadratmeter ko chende Deckensubstanz in den Staub und elektrisierte ihn. Stinkender Rauch qualmte auf, als ich die Treppe hinunterstolperte und flüchtete. Das Schauspiel hatte nicht einmal zwan zig Minuten lang gedauert. Ich hatte nur so viel Zeit gehabt, bis die Anlage, nach Jahr hunderten oder Jahrtausenden wieder akti viert und für kurze Zeit zum Leben erwacht, sich endgültig zerstörte. Ich war noch mit dem Leben davongekommen, aber an ande ren Anlagen würde sich die tote Stadt auf gefährlichere Art lebendig zeigen. Ich stol perte, sprang und rutschte durch eine dicke Staubwolke die Wendeltreppe nach unten und rannte geradeaus, nachdem mich die un tersten Stufen in den leeren Raum hineinge schleudert hatten. Im Durchgang zu einem kleinen Raum stand breitbeinig Darrnogh, das Schwert an Griff und Spitze in beiden Händen, quer vor den Schenkeln. Als er mich sah, senkte er die Waffe. »Du wirst verfolgt?« fragte er. »Nein. Ich war in einem sehr interessan ten Raum«, erläuterte ich atemlos und hu stend. Ich wirbelte den Staub aus meinem Haar. »Interessant für mich. Der Raum stirbt
37 soeben dort oben. Die Energie schlägt durch. Wir müssen vorsichtig sein.« »Komm!« sagte er, und seine großen Au gen schienen zu leuchten. »Wir haben etwas gefunden.« Überall gab es Zeichen an den Wänden oder im Staub des Bodens. Niemand würde sich verirren – sie waren erfahren und listig, diese Plünderer. »Was ist es?« »Dinge, die man zum Leben braucht.« »Ich verstehe nicht«, sagte ich verwirrt und folgte ihm. Zwei Piraten kamen uns ent gegen. Sie schleppten lachend eine Anlage, die wie ein stumpfläufiges Geschütz aussah. Ein dritter zog eine Kiste hinter sich her. »Gleich wirst du es sehen. Du wirst er kennen, wie die Sternenfahrer gelebt ha ben.« Vermutlich gab es hier unten Anlagen für jeden Zweck, für ein Leben unter der Erde. Vom Eingang jedenfalls hatten wir uns ziemlich weit unterirdisch entfernt. Aber es war sicherer, den bereits bekannten Weg zu benutzen und sich nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen. Überall sah ich überdimensio nierte Kontaktschalter. Die Piraten hatten begriffen, wie man das Licht einschaltete. Aber in einigen Räumen funktionierte die Anlage nicht mehr. Wir wanderten eine Weile durch helle und dunkle Räume, folg ten immer den verschiedenen Spuren und kamen schließlich in einen sehr merkwürdi gen Raum. Er war viereckig und sehr hoch. In seiner Mitte verlief vom Boden – wir befanden uns etwa in der Mitte der Anlage – bis zur Decke eine mattgläserne Röhre mit etwa zwei Metern Durchmesser. Wir traten an die Öffnung eines Geländers heran. Hinter der Öffnung begann ein Steg, der bis zu einem senkrechten Eingang führ te, der sich in diesem Rohr befand. Ich dach te sofort an einen Antigravschacht oder an einen halbmechanischen Lift. »Was ist das?« fragte Darrnogh. »Ein Gerät, mit dem man von dort unten nach dort oben«, ich zeigte dorthin, »fahren
38 kann. Oder konnte. Ich glaube es wenig stens. Aber ich würde es nicht benutzen. Es kann versagen, und wir sind eingeschlossen. Aber was ist dahinter?« Ich zeigte auf eines der vielen Fenster, die in diesen »Innenhof« gingen. Der Licht schacht war von einem Rundgang abge grenzt. Dieser von der Decke her erleuchtete Gang ließ eine Unzahl runder Fenster erken nen, die so schmutzig und staubig waren, daß es von hier aus unmöglich war, dahinter etwas zu erkennen. Darrnogh grinste und packte mich am Arm. »Es sind Räume. Wohnungen. Gut erhal ten.« Waren wir in einem unterirdischen Mili tärlager gelandet? Vielleicht fand ich eine gute Waffe, die ebenso konserviert war wie die Werkzeuge. Ich folgte dem Piraten um mehrere Ecken und durch Räume, deren Be leuchtung bereits zu flackern begann. Schließlich sprengte er mit einem Fußtritt ei ne Tür auf. »Hier!« Ich tastete nach einem Schalter. Tatsäch lich flammte an verschiedenen Punkten Be leuchtung auf. Es hätte eine Kabine eines kleinen Raumschiffs sein können. Die weni gen Möbel waren eingebaut, zweckmäßig und schmucklos. Die Größenverhältnisse zeigten mir, daß die Bewohner dieser Stadt etwa ebenso groß gewesen waren wie Darr noghs Leute aus Jansonthen. »Was erwartest du?« erkundigte ich mich, während ich einen Schrank öffnete und au ßer verrosteten Fragmenten nichts als bis zur Unkenntlichkeit verrottete Textilien fand. Ich schlug die Tür verärgert wieder zu. »Nichts. Ich dachte, es hilft dir weiter. Hier haben viele Menschen gewohnt.« »Über der Erde noch mehr.« Ich suchte in einigen Räumen, aber sie waren leer. Leer deshalb, weil alles, das nicht aus Glas, Stein, Kunststoff oder Metall war, sich während der langen Zeit aufgelöst hatte und zu Staub geworden war. Nach etwa zwanzig Räumen, die sich gli chen wie ein Blatt dem anderen, blieb ich
Hans Kneifel vor Darrnogh stehen und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mehr interessiert. Wenig stens nicht daran. Was nun?« Er griff an sein Schwert. »Ich werde nach meinen Leuten sehen. Viel können wir nicht mehr herausholen, denn die Ballons tragen nicht solch schwere Lasten. Außerdem traue ich den Barbaren nicht.« »Einverstanden. Wir machen ja morgen einen neuen Vorstoß. Vielleicht finden wir in einem anderen Bezirk interessantere Din ge.« Wieder spürte ich starke Unruhe. Ich ver suchte, den Grund festzustellen. Irritiert fragte ich: »Wieviel Stunden haben wir hier unter den Ruinen verbracht, Darrnogh?« Er schien mehr als zufrieden zu sein, und wenn ich daran dachte, was derartig hoch entwickelte Werkzeuge für eine relativ nied rige Zivilisation bedeuteten, konnte ich Darrnoghs gute Laune verstehen. »Es wird dunkel sein«, gab er grinsend zurück. Ich hatte das Zeitgefühl verloren. Waren wir tatsächlich schon solange hier umherge wandert? Wir folgten den Spuren. Hin und wieder brannte ein Beleuchtungskörper mit einem peitschenden Knall durch. Wir hatten die Grabesruhe gestört, und diese falsche Wiedererweckung würde nur ganz kurze Zeit dauern. »Deine Leute?« fragte ich beunruhigt. »Sie sind alle auf dem Platz. Sie laden die Beute ein.« Wir sahen weit vor uns, unter dem näch sten Eingang, einen Ballonfahrer mit zwei brennenden Fackeln in den Händen. Er winkte. Meine Unruhe wurde stärker, als wir schneller auf ihn zugingen. Auch Darrnogh wirkte plötzlich aufgeregt und begann zu laufen. Wir schlitterten durch Staub und Schmutz auf den Posten zu. »Was ist los?« »Die Ballons! Der Sturm kommt, Darrno gh!« sagte der Posten und schloß sich uns
Die Piraten der Mikrowelt an, als wir durch die dunkle Halle rannten. Als wir uns in der Mitte befanden, hörten wir das hämmernde Krachen eines Donner schlags. Das Licht eines Blitzes riß einen langen Keil Helligkeit aus der Halle. »Verdammt!« sagte Darrnogh. Jetzt schi en er mehr Angst zu haben als ich. »Die Bal lons! Wenn sie sich losreißen, sind wir ver loren.« »Richtig.« Wir rannten weiter. Wieder krachte der Donner. Als der Ballonfahrer, der zwischen Treppe und Halleneingang stand, uns kom men sah, warf er die Fackeln in die Halle hinein und schrie aufgeregt: »Die Ballons! Der Sturm ist da! Du mußt uns helfen, Darrnogh!« Unsere hastigen Schritte klangen hohl und bildeten Echos. Keuchend rannten wir zum Ausgang und schlossen geblendet die Au gen, als der nächste Blitz aufzuckte und den Himmel mit strahlender Helligkeit aufriß. Augenblicklich krachte ein ohrenbetäuben der Donnerschlag. Wir sprangen die ersten Stufen hoch. Regentropfen schlugen uns ins Gesicht. »Zu den Ballons!« schrie Darrnogh, so laut er konnte. »Schnell! Haltet sie.« Wir rannten in großen Sprüngen die schlüpfrig gewordenen Stufen auf den Platz hoch. Überall sah ich Gruppen von Män nern, die mit den Ballons kämpften. Das Ge witter war direkt über uns. Die riesige schwarze Wolke war in den vergangenen Tagen gewandert und hatte jetzt die Wald landschaft im Bereich der Ruinenstadt er reicht. Ununterbrochen schlugen Blitze in den Erdboden und in einzeln stehende Bäu me und Mauerreste. Ich sah, wie jenseits des letzten Ballons ein Blitz eine hochragende Mauer von oben bis tief in die Fundamente hinein spaltete. Die beiden Hälften fielen langsam auseinander, Fontänen aus brennendem Mörtel und aufplatzenden Gewächsen schossen nach allen Seiten. Entlang des Ein schlagskanals begann der Stein zu brennen, ehe sich die Mauern in einzelne Quadern auflösten und zu Boden krachten.
39 »Atlan! Zu dem Ballon dort! Wenn er sich losreißt, schießt Löcher in die Hülle oder zieht die Reißleine!« »Ich habe verstanden«, sagte ich und warf den Bogen zurück auf den Rücken. Dann rannte ich los und spurtete im Zickzack auf den nächsten Ballon zu. Sämtliche Taue al ler Ballons waren zum Zerreißen gespannt. Die riesigen, eiförmigen Körper zerrten und rissen an den Ankern und an den Seilen, die in den Ballastnetzen endeten. Ich erreichte den Ballon. Nur Gjeima und zwei Männer hingen in den Seilen und ver suchten, den Ballon tiefer herunterzuziehen. Er würde sicherer sein, wenn er unterhalb dem Baumwipfelgrenze schwebte. Aber im mer wieder packte ein Windstoß die Hülle und riß sie schräg nach oben. Der Himmel war tief schwarz. Die leuchtenden Flecken waren ver schwunden, aber hinter der Gewitterwolke sahen wir die harten Linien. Lichtstrahlen brachen dort hervor und wirkten wie mächti ge Scheinwerfer, die sich nach unten richte ten. Immer wieder krachte der Donner. Die Blitze zuckten senkrecht und quer über den dunklen Hintergrund, ihre Verästelungen bildeten wirre Muster. Heulend fuhr der Sturm zwischen den Bäumen hindurch und tobte um die Ruinen. Gräser, abgefallene Blätter, Moosfetzen und die Reste unserer Feuer flogen durch die Luft. Auch unsere Decken und Mäntel se gelten über den Platz. Die Wipfel der Bäume und die Büsche schüttelten sich und wurden schwer zur Sei te gedrückt. Vogelnester wirbelten durch die Luft und lösten sich in einen Hagel von Hal men und Klumpen auf. Vögel kämpften mit wahnsinnigen Flügelschlägen gegen den Druck des Sturms an. Krachend brach ein Baum, die Krone raste schräg davon und verschwand im Wald. Der Ballon, unter dem ich stand, riß an seiner Verankerung. Knirschend dehnten sich die Seile. Das Netz mit dem Ballast und der Korb, durch eingelagertes Werkzeug und Beutegut schwerer geworden, hoben sich in
40 Rucken und krachten wieder herunter. »Festhalten!« schrie der Pirat neben mir. »Die Reißleine ziehen!« Ich legte den Kopf in den Nacken und spähte nach oben, während ich zurückbrüll te: »Wo ist die Leine? Oben im Korb?« »Ja!« Das Gewitter war offensichtlich genau über der Lichtung. Von Zeit zu Zeit rauschte ein dichter Regenschauer herunter. Der Re gen war so dicht, daß er uns blendete. Das Wasser sammelte sich auf der Ballonhülle, rann daran herunter und bildete entlang des Füllschlauches einen Sturzbach. Aus dem Boden des Korbes schossen breie Ströme nach unten und trafen unsere Köpfe. Plötz lich, in einer der winzigen Pausen zwischen Donnerschlägen, knisternden Blitzen, Sturmstößen und dem Brechen der Baum stämme, hörten wir den Hornstoß. Wir fuhren herum. Es ist Darrnogh! sagte der Extrasinn alar miert. Es muß etwas geschehen sein! Darrnogh stieß mit aller Kraft in das Horn und deutete in meine Richtung. Mein Kopf wirbelte herum, und dann sah ich, was der Anführer der Piraten meinte. Die Barbaren griffen an! Ein Stoßkeil nasser, triefender Männer kam zwischen den Stämmen hervor. Die er sten befanden sich an der Stelle, wo der Ka daver des Raubtiers verweste. Durch die Schleier des peitschenden Regens sahen wir die Gestalten. Sie waren klein, und der ins Auge springende Eindruck war der absoluter Schwärze. Ich erkannte schwarze Helme, schwere Panzer, über die das Wasser ebenso rann wie über unsere Körper. Die Schilde, die dicken, schweren Speere und die Arm brüste waren stumpfschwarz. Die Waffen und Schilde schienen ebenso wie die Panzer das letzte Licht auf der Plattform aufzusau gen. Die Barbaren kamen schnell näher, und in der dritten Reihe des Stoßkeils sah ich, wie die Speere geschleudert und die Arm brustbolzen abgefeuert wurden. »Rettet euch! In die Ballons!« schrie
Hans Kneifel Darrnogh durch das hohle Sausen des Stur mes. Ein Donnerschlag schluckte das Ende des Satzes. Ein Blitz zuckte quer über den Platz, und wieder sah ich, wie das Licht von den stumpfschwarzen Rüstungen und Schil den geschluckt wurde. Einen Augenblick lang drang das infernalische Geschrei der anrückenden Barbaren in unsere Ohren. Ein Armbrustbolzen schlug in die Brust des Mannes neben mir und warf ihn vier Schritte rückwärts in die nassen Büsche. Gjeima schrie gellend auf. Dann platzte der erste Ballon. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Die schlaffe Hülle und der schwere Korb be gruben zwei Piraten und die ersten Barbaren auf dem linken Flügel unter sich. Ich hielt eine Sprosse der Strickleiter fest, die waag recht durch die Luft geschleudert wurde und Gjeima traf. Rette dich! Hinauf in die Kanzel. Der Kampf ist aussichtslos! tobte der Logiksek tor. Wurfspeere flogen durch die Luft. Einige wurden durch den Sturm abgelenkt. Andere trafen ihre Ziele. Es waren die Ballons und die Piraten. Ich riß an der Leiter und holte mit einem Schwert aus. »Gjeima! Hierher!« schrie ich und hielt ihr die Leiter entgegen. Sie griff danach, verfehlte das Holz aber. Ein weiterer Ballon zerriß, als ihn Bolzen und Speere trafen. Die Piraten ließen ihre Ballons los und griffen zu den Waffen. Ein Inferno brach aus, und über allem tobte der Gewittersturm mit unerhörter Kraft und oh ne Unterbrechungen. Der Stoßkeil der Waldbarbaren kämpfte sich schnell gegen den geringen Widerstand der Piraten bis in die Mitte des Platzes vor. Ich erschlug einen Mann, der seitlich aus scherte und auf den Ballon schoß, unter dem ich mich mit Gjeima befand. Dann enterte ich mit der linken Hand die Strickleiter und schob das Schwert in den Gürtel. »Komm her! Halte dich an meinem Gurt fest!« schrie ich und wartete. Die Strickleiter schwankte und schleifte über den Boden.
Die Piraten der Mikrowelt Gjeima sprang ein zweitesmal auf mich zu und packte jetzt eine Strebe. Ich kletterte höher und hoffte, daß nie mand mich bemerkte. Im Zentrum des Platzes kämpften die Piraten gegen zwei Drittel der Waldbarbaren. Ein weiterer Ballon platzte und stürzte her unter. Ein Drittel der Angreifer kappte die Seile der Ballons und schoß in die prallen, nassen Hüllen. Und der Regen strömte in furchtbaren Bächen herunter. Fliehe mit dem Ballon! Sie werden dich sonst töten! befahl der Logiksektor. Ich kletterte, den schweren Körper Gjei mas hinter mir, fünf Sprossen höher. Im Au genblick schien ich vergessen zu sein. Aller dings rollte jetzt wieder ein besonders star ker Sturmstoß über uns hinweg. Der Regen bildete mit Myriaden Tropfen einen dichten Vorhang zwischen der Hauptmasse der Bar baren und mir. Nichts war zu hören außer dem Donner und dem Rauschen des Was sers. Wir schienen uns in einer anderen Welt zu befinden. Ich sah mich um, konnte aber nichts er kennen. Das nasse Haar lag wie ein Tuch um meinen Kopf. Halbblind tastete ich mich höher, noch immer klammerte sich Gjeima mit einer Hand an mir fest. Dicht vor mei nem Gesicht führte das straffe Seil des Bal lastnetzes nach unten. Der Ballon sprang auf und nieder wie ein störrisches Reittier. »Schneller, Atlan! Sie kommen!« hörte ich Gjeima schreien. Ich verdoppelte meine Anstrengungen und kämpfte mich gegen Regen, Sturm und die wilden Bewegungen des Ballons höher. Endlich erreichte ich den Rand des Korbes und klammerte mich dort fest. Ich faßte nach hinten und packte Gjeimas Hand. Dann schwang ich mich ins Innere des Korbes und trat in einen Haufen Werkzeuge und Ballaststeine. »Hilf mir!« kreischte sie. Ihr Gesicht war ganz nahe. Es war vom Ausdruck der hilflo sen Panik gekennzeichnet. Ich packte fester zu und sah schräg an der Schulter des Mäd chens vorbei, daß sich einige Barbaren nä
41 herten, deren Armbrüste nach oben gerichtet waren. Ich zog mit aller Kraft, aber Gjeima klammerte sich angsterfüllt an die Stricklei ter. Es geht um dein Leben! schrie der Extra sinn. Ich zog das Schwert, beugte mich tief aus dem Korb und schwang die Waffe. Die Schneide prallte hart gegen das gestraffte Seil des Netzes. Wieder rollte der Donner über den Ruinen hin und her, und die Blitze beleuchteten die Barbaren, die zehn Meter tiefer auf uns und den Ballon zielten. Mit einer langgezogenen Bewegung schrammte die geschliffene Schneide das Seil entlang, und dann riß die Schnittstelle auf. Ich warf das Schwert nach einem der Bar baren und griff nach rechts, um Gjeima her aufzuziehen. Sie schrie auf und streckte die Hand aus. Ich blickte direkt in ihre großen Augen. Ihr Mund öffnete sich zu einem zweiten Schrei, aber ich hörte nur ein rö chelndes Gurgeln. Dann drang ein Schwall blasiges Blut aus ihrem Mund und wurde von herunterpras selnden Wasser weggespült. Ich beugte mich weiter vor, und der Satz, den der Ballon auf wärts machte, preßte mich schwer gegen den Korbrand. Ich sah den Armbrustbolzen aus dem Hals des Mädchens herausragen. Die Finger Gjeimas lösten sich langsam und zitternd vom Rand der Gondel und von der obersten Sprosse der Strickleiter. Dann fiel das Mädchen nach unten und schlug neben einem der Barbaren in die Bü sche. Ein Blitz schlug keine zehn Meter ne ben der Gruppe in den Platz und sprengte sie auseinander. Der Luftstoß, der den Ballon erfaßte, drehte ihn wie ein Kreisel und riß ihn schräg nach oben, auf die Wipfel der hin und her schwankenden Baumriesen zu. Ich klam merte mich fest und sagte leise: »Arme Gjeima. Irgendwie werde ich dich vermissen – du warst ein Mensch, und zum Schluß habe ich dich gemocht.« Das Bild verfolgte mich:
42 Der armlange Bolzen, das Blut, das Ge sicht, eine Maske des Schreckens. Der Fall und der harte Aufschlag des Körpers. Bin nen weniger Sekunden war ich aus dem Be reich der Waffen verschwunden, und der Regenschauer, der sich zwischen die Gondel und den Erdboden legte, war wie ein Vor hang, der nach einem dramatischen Schau spiel heruntergelassen wurde. Um mich waren Wasser, das Heulen des Sturmes, der Donner und die blendenden Blitze. Der Ballon stieß schräg in die Höhe, wurde rasend schnell herumgewirbelt und schaukelte hin und her. Der Korb vollführte noch heftigere Bewegungen. Ich packte einen Seilrest und versuchte, ihn mit der rechten Hand unter dem Gürtelschloß hin durchzuschieben und zu verknoten. Hilflos wurde ich im Korb von einer Ecke zur anderen geschleudert. Der Korb bewegte sich aufwärts und abwärts wie eine Schau kel. Die Rucke machten mich halb besin nungslos, denn gleichzeitig drehte sich der Ballon. Es waren wilde, systemlose Bewe gungen in drei Ebenen. Immer höher ging es hinauf. Es wurde dunkler, dann lösten Ne belschwaden den Regen ab. Aber noch im mer kreischte der Wind, krachte unaufhör lich der Donner. Endlich gelang es mir, den Knoten festzu ziehen. Du wirst in eine unbekannte Gegend fort getrieben! Denke an die Reißleine! warf der Logiksektor ein. Mühsam klammerte ich mich fest. Das Wasser, das aus meinem Haar lief, schmeck te auf den Lippen salzig und mineralisch. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob ich mich drehte, oder ob sich die Bilder vor meinen Augen drehten. Mein Magen begann zu revoltieren. Noch immer drehte sich der Ballon, raste schräg aufwärts und fiel um fünfzig Meter oder mehr abwärts, wurde herumgerissen, und manchmal flog die Hül le mit einer solchen Geschwindigkeit, daß der Korb waagrecht hinterher geschleppt wurde. »Wahnsinn!« schrie ich, aber ich hörte in
Hans Kneifel dem Lärmen nicht einmal mehr meine eige ne Stimme. Wieder schoß der Ballon in eine Nebel wand hinein. Plötzlich wurde es eisig kalt. Die rasenden Bewegungen nach allen Seiten beruhigten sich etwas. Donnerschläge waren nur noch gedämpft zu hören, aber der Nebel glühte bei jedem Blitz auf wie das Gas in ei ner Leuchtröhre. Dem Pfeilhagel der Schwarzgepanzerten war ich entkommen. Vielleicht hatten sich auch einige der Bal lonfahrer gerettet. Wenn sie nicht mit den Ballons geflüchtet waren, dann konnte sie nur die Flucht in die Tiefe der Ruinen retten. Die Waldbarbaren waren in der Überzahl gewesen, und jetzt war ich überzeugt, daß mein Pfeil nachts doch einen Späher getrof fen hatte. Es gab keine Möglichkeit mehr, den Gedanken zu Ende zu führen, denn die Gondel wurde aus dem Nebel herausgeris sen und mitten in die schwarze Wolke geso gen. Ich spürte, daß sich der Ballon jetzt im Trichter einer Windhose befand, denn die Geschwindigkeit, mit der er herumgewirbelt wurde, stieg schnell an. Ich kauerte mich in den Winkel zwischen Boden und Wand. Um mich war pechschwarze Nacht. Der Brodem der schwarzen Wolke nahm mir den Atem. Nur noch undeutlich sah ich den ge genüberliegenden Rand des Korbes. Die Wolke bewegte sich, der Strudel riß mich in einer weiten Spirale höher und höher. »Die Luft … wird sie dünner?« Mein Schädel dröhnte. Jedes Wort, das ich aussprach, um meine Stimme zu hören, stach wie eine Nadel und erzeugte ein brül lendes Echo. Abgesehen davon, daß ich rei nen Wasserdampf atmete und deswegen würgend zu keuchen begann, schien ich noch nicht so hoch zu sein, daß ich Angst zu haben brauchte, der Ballon würde durch den Überdruck zerreißen. Noch nicht. Der Sturm reicht nicht so hoch! sagte der Extrasinn. Ich wußte nicht, woher dieses Extrahirn sein Wissen nahm, wie es dazu kam, solche Schlüsse zu ziehen. Wieder warf mich ein Stoß nach vorn und in
Die Piraten der Mikrowelt den Haufen der Werkzeuge hinein. Gjeima war tot. Der Angriff und der Sturm hatte meine neuen Freunde buchstäblich in alle Winde zerstreut. Ich raste mit einer Windhose da hin. Wo befand ich mich? Über welche Land schaft raste dieser wahnsinnige Sturm da hin? Ich weiß es nicht. Wie lange würde der Tornado noch wü ten? Wie lange drehte ich mich noch in dem Mahlstrom aus Nebel, Regen und Wolken? Und wo würde mich der Sturm absetzen? In einem Land, das du nicht kennst. Ich befand mich in einer werkzeugbelade nen Gondel und besaß als Waffe nur noch einen Dolch. Nicht einmal Essen gab es hier, der Wassersack war weggerissen worden. Die Zeit verging, ohne daß ich es abschätzen konnte. Ununterbrochen strömte Regenwas ser in mein Genick. Einmal war es eiskalt, dann wieder wärmer. Und es stank nach Asche und Chemikalien. Und plötzlich pras selte ein Schauer von großen Hagelschloßen in den Korb hinein. Die Eiskugeln trafen meine Haut mit der Wucht von Geschossen. Ich hob meine Unterarme und schützte den Kopf, aber der Hagel schlug ununterbrochen zu. Wieder donnerte es, wieder packte ein Sturmstoß die Gondel und trieb sie nach rechts. Der Irrflug ging weiter. Selbst die Elemente des Mikrokosmos schienen es auf mich abgesehen zu haben.
6. Es mochte eine halbe Stunde später sein. Vor mir rissen die Wolken auf. Der Nebel verschwand, und ein letztes Hagelkorn hüpf te von der Ballonhülle in den Korb und schmolz langsam auf dem Griff eines Ham mers. Das Licht des Tages schlug mir in die Augen und blendete mich. Ich schob das triefende Haar aus der Stirn und blinzelte, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Der Ballon bewegte sich noch immer in
43 einem weiten Kreis. Aber die Stöße vergin gen innerhalb von ganz kurzer Zeit. Ich stemmte mich zitternd vor Kälte und Er schöpfung in die Höhe und schob den Kopf über den Rand der Gondel. Ich spähte in einen gewaltigen runden Schacht hinein. Er öffnete sich einen Kilometer über mir zu einem riesigen Trichter. Dorther kam das Licht. Es mußte genau die Zeit zwischen Dämmerung und Nacht sein. Ein neuer Schrecken durchzuckte mich: oder war es schon die Morgendämmerung? Ich blickte nach unten. Der nächste Schock. Der Schacht war das Auge des Hurrikans. Er war nicht ganz gera de, sondern bildete eine korkenzieherartige Spirale. Aber ich erkannte unglaublich tief unten den Boden dieser mörderischen Welt. Mir gegenüber flog eben aus der Innenwand der Windhose ein riesiger Vogel heraus, kei ne fünfhundert Meter entfernt. Er machte ein paar hastige Flügelschläge. Bei jeder der Be wegungen lösten sich ganze Büschel nasser Federn aus dem Gefieder und schwebten da von. Zehn Schwingenschläge später riß das Tier den Kopf in die Höhe, streckte die Fän ge aus und versank wie ein Stein trudelnd in der Tiefe. Ich wandte mich schaudernd ab. »Die Schrecken hören nicht auf!« mur melte ich. Als ich die Hände vom Gesicht nahm, erkannte ich die Blutspuren in den Handflächen. Hagelkörner hatten die Haut meines Gesichts aufgerissen, das Wasser be gann in den Wunden zu schmerzen. Wieder blickte ich nach unten, von dem schreckli chen Ausblick gebannt und fasziniert. »Eine neue Teufelei!« Warte es ab. Die Wucht des schlimmsten Sturmes hört früher oder später auf. Ich lachte bitter. Früher oder später würde ich auch sterben müssen. Ich gab mir nicht mehr viele Chancen. Der Boden dort unten, ziemlich deutlich sichtbar, bewegte sich ra send schnell. Dies bedeutete, daß die Wind hose in rasender Geschwindigkeit über die Landschaft zog und dort eine Bahn der Ver nichtung hinterließ.
44 Undeutlich erkannte ich die Verwüstun gen, die von dem Sturm angerichtet wurden. Pflanzen und Erdreich wurden gelockert, umgeworfen und in den Strudel hochgeris sen. Ich sah ganze Bäume, die dort unten er schienen und mit den weißen Wurzeln, von denen sich das Erdreich löste, in den Strudel hineingesogen wurden. Sie traten wie mein Ballon in die tödliche Spirale ein. Auch ich befand mich noch in dieser Spi rale. Der Ballon war jetzt, seit ich wieder Licht gesehen hatte, wesentlicher höher. Sei ne Geschwindigkeit war vermutlich gleich geblieben, aber der Kreis, den er flog, hatte einen größeren Durchmesser. Irgendwann würde ich den oberen Rand des trichterförmigen Wirbels erreichen, und was geschah dann? Ich klammerte mich fest und wartete. Et was anderes konnte ich nicht tun. Abgese hen davon, daß ich erbärmlich zu frieren be gann und mein keuchender Atem zu einer weißen Dampfwolke kondensierte. Dreitau send Meter oder mehr – das war die Höhe, in der ich mich schätzungsweise befand. Es ging weiter. Der Ballon raste entlang der unsichtbaren Kurve, immer in der Nähe der schwarzen Wolke, deren Innenrand wie eine massive Mauer wirkte, sobald ich den gegenüberlie genden Bezirk anblickte. An den Haltetauen, von denen einige gerissen und andere ange rissen waren, bildeten sich Kristalle. Eis! Ich hatte Fartuloon berichten hören, daß der Tod des Erfrierens leicht war, denn man schlief und dämmerte dem Ende entgegen; ein schlägige Erfahrungen im Grenzbereich hat te ich sogar selbst. Ich begann mich zu be wegen und klemmte die Finger unter die Achseln ein. Mehr und mehr Eis bildete sich. Dann gab es einen Ruck, die Bewe gungsrichtung änderte sich. Ich zuckte zu sammen und schaute mich um. Ich hatte den höchsten Punkt erreicht! Der Ballon raste auf dem höchsten Punkt des Trichters dahin. Ich sah den Boden nicht mehr, sondern nur noch ein Stück in den ra senden Schlauch hinein. Jetzt packte eine
Hans Kneifel besondere Art von Zentrifugalkraft den Bal lon und schleuderte ihn über den oberen Grat der Wolke dahin. Nach außen, durch die Wolke hindurch, denn sofort tauchte die Kanzel wieder in die Schwärze der Wolke ein. Inzwischen sah ich, daß diese Helligkeit nicht der letzte Rest Tageslicht war, sondern die Morgendämmerung. Stundenlang war ich also nicht nur durch den Sturm, sondern auch durch die Nacht getrieben. Wieder schlug die Dunkelheit um mich zusammen. Es wurde wärmer. Das Eis begann zu schmelzen. Wieder begann das Wasser zu tropfen. Ich hörte keinen Donner und sah keine Blitze mehr. Die Schwärze wurde in tensiver, der Dampf legte sich erstickend auf meine Schleimhäute und reizte die Lungen. Ich begann wahnsinnigen Hunger zu spüren. Meine Finger zitterten. »Wann hört das endlich auf?« murmelte ich, als der Ballon und der Korb wieder wie wild zu schlingern und zu schaukeln began nen. Der zweite Teil der Höllenfahrt begann offensichtlich. Diesmal gab es nur das Röh ren und Brausen des Sturmes, der Donner fehlte. Aber er würde sich bald wieder ein stellen, fürchtete ich. Plötzlich spaltete sich vor mir die Wolke. Ich sah nur noch das grelle Leuchten, das hoch über mir begann, gleichzeitig einen langen Kanal nach unten bildete und dann aufflammte. Die Elektrizität ließ mein Haar knistern, die Werkzeuge klirrten, und als der Blitz aufflammte, sackte ich zusammen und schlug schwer in die Werkzeuge. Ich wurde mit einer Plötzlichkeit bewußt los, als habe man eine Schockwaffe gegen meinen Hinterkopf abgefeuert. Die Welt existierte für mich nicht mehr …
* Irgendwann kam ich wieder zu mir. Ich lag zusammengekrümmt auf dem Bo den des Korbes. Stechende Schmerzen fol terten mich. Sie gingen vom Kopf aus und
Die Piraten der Mikrowelt strahlten über die Schultern bis in die Hüften hinunter. Ich öffnete den Mund und atmete tief ein und aus. Dann riß ich die Augen auf und tastete um mich. Steh auf! Du bist noch immer im Korb des Ballons! rief der Extrasinn. Mit zitternden Knien versuchte ich mich zu erheben. Ich krallte mich an der verbogenen Sitzstange fest und richtete mich langsam auf. Der Bal lon trieb noch immer dahin. Es war tiefe Nacht. Ich sah nichts, nur über mir spürte ich die Masse des eiförmigen Flugkörpers. Er hatte den Sturm überstanden. Ringsherum war es ruhig, oder hatten meine Ohren gelit ten? Nein. Ich hörte tatsächlich etwas. Verschiedene Geräusche waren in der Dunkelheit. Unter mir ein helles, durchdringendes Rauschen, schon fast ein Zischen. Ich fror nicht mehr, aber die Vorstellung, den größten Teil des Tages bewußtlos in der dahinrasenden Gon del verbracht zu haben, ängstigte mich. Je denfalls war der geringe Versuch der Orien tierung in diesem merkwürdigen Mikroland restlos dahin. Meine Lippen waren rissig und trocken. Ich hatte wahnsinnigen Durst, und wenn ich meine Gesichtsmuskulatur bewegte, rissen die Wunden auf und begannen zu schmer zen. Mein Magen knurrte hörbar. Er übertönte sogar das Geräusch der Luft, durch die der Ballon geschoben wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie schnell und wie hoch ich flog. Meine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Ich erkannte undeutlich über mir den Himmel. Er war schwarz, ohne Farben, und ich sah auch wieder jene leuchtenden Punk te. Meine Augen begannen sich langsam an die schlechten Lichtverhältnisse zu gewöh nen. Wolken befanden sich am Himmel, das wrar sicher. Ich erkannte über mir und links und rechts der Gondel langgezogene Wol kenformationen, hell und ein wenig leuch tend und voller Turbulenzen. Der Sturm hat te sich entweder aufgelöst oder mich ausge
45 worfen. Jetzt trieb ich mit großer Geschwin digkeit in einem schräg abfallenden Luft strom dahin, auch das konnte ich merken. Ich beugte mich über die Kante und blick te nach unten. Ich sah helle Nebelfetzen, die rasend schnell dahintrieben. Also war auch die Geschwindigkeit des Ballons noch hoch und gefährlich. Welches Schicksal erwartet mich? Mache dich darauf gefaßt, bald zu lan den] sagte der Extrasinn warnend. Es war ziemlich kalt, aber ich fror nicht mehr. Hin und wieder klatschte von schräg oben ein Regenguß durch die Nacht und traf Ballon und Korb. Meine Muskeln schmerz ten; wieder war ich völlig hilflos, abgesehen davon, daß ich die Reißleine ziehen oder die Haltetaue durchschneiden konnte. Mehr nicht. Weit vor mir sah ich eine dunkle Mas se, unter den Nebelschwaden tauchte hin und wieder das hellere Band eines Flusses auf oder eines langgezogenen Sees. Diese dunkle Barriere – war es wieder eine Wolke, oder handelte es sich um ein Gebirge? Ich konnte es nicht erkennen. Mit einem plötzli chen Ruck sackte der Ballon nach unten durch und fing sich wieder. Krachend schlu gen meine Zähne aufeinander. »Verdammt! Was kommt jetzt auf mich zu?« knurrte ich mit ausgedörrter Kehle. Ich machte einige Kniebeugen, straffte meine Schultermuskeln und atmete tief durch; langsam belebte sich mein Kreislauf wieder, und ich vergaß für kurze Zeit zwar Hunger und Durst, aber nicht völlig meine mißliche Lage. Du bist immerhin lebend dem Hurrikan entkommen! tröstete mich der Logiksektor lakonisch. Die Wolkenschichten bewegten sich. Ich erhaschte immer wieder einen längeren Blick auf das Gelände unter mir und vor mir. Der Ballon raste in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf den Mittelpunkt der breiten, schwarzen Bank zu, die sich vor mir ausdehnte. Wieder wehte ein Nebelschleier zur Seite. Ich sah einen scharfen Berggipfel, der keine zwanzig Meter unter dem Gondel
46 boden auftauchte, schnell nach hinten weg zog und wieder verschwand. Ein Gebirge! Offensichtlich eine Ansammlung sehr ho her und unbewachsener Berge. Der Gipfel war scharfkantig gewesen, und ich glaubte Schnee- und Eisreste in einer Spalte bemerkt zu haben. Wenn der Ballon hier strandete, war ich verloren. Eine öde Landschaft, ver bunden mit halsbrecherischen Klettereien, wenn ich nicht beim Aufprall zerschmettert wurde. Ich fluchte unterdrückt, aber das half mir keineswegs zu einer optimistischeren Betrachtung der Umstände. Denke an die Reißleine! sagte der Logik sektor. Ich tastete nach oben, aber als ich die Lei ne zwischen den Fingern spürte, dachte ich daran, daß sie mich auch nicht retten konnte. Es gab keine Möglichkeit, ein besseres oder schlechteres Ziel anzusteuern, indem ich das Gas aus dem Ballon ließ. Ich kannte die Landschaft nicht, die unter mir lag. Auch gab es keinerlei Gewähr dafür, daß ich in ei nem Tal landete, von dem aus ich mich durchschlagen konnte. »Verfluchte Mikrowelt!« schrie ich wü tend auf. Mein Schrei verhallte ohne Echo im Brausen des Sturmes, das jetzt in relati ver Nähe des Bodens wieder lauter gewor den war. Ein zweiter Berggipfel tauchte auf, raste rechts der Gondel vorbei und ver schwand wieder. Ein zweiter Ruck des Bal lons ließ das Fahrzeug abermals tief absin ken. Eine Sekunde lang schrammte der Bo den des Korbes irgendwo auf. Ich hörte durch den Nebel das Klappern und Rollen kleiner und großer Steine, und etwas später ging dort, wo der Korb aufgesetzt hatte, eine Steinlawine herunter. Das Echo schallte zwi schen den Bergen hin und her. Jetzt konnte ich mir wenigstens akustisch ein etwas deut licheres Bild machen. Der Ballon trieb durch ein langgezogenes Tal, in dessen Grund ein Fluß zu sehen war. War es das Rauschen von Wasser, oder handelte es sich um das Rauschen des Win des, das immer lauter und heller wurde?
Hans Kneifel Ich zuckte zusammen, als der Korb zu schwanken begann. Vor mir tauchte wie ein Gespenst eine kahle Felsplatte auf, die sich in Flugrichtung erstreckte. Gleichzeitig setz te ein wütender Regen ein, der den Ballon von hinten packte und nach unten drückte. Der Boden des Korbes setzte auf, kippte und schleuderte mich in einen Winkel zu rück. Ich packte die Sitzstange und klam merte mich daran fest. Dann zog der Ballon die Gondel auf einer Kante über die Fels platte. Das knarrende, reißende Geräusch war furchtbar. Ich erwartete jeden Augen blick, daß der Boden aufreißen und mich hinausschleudern würde. Aber nach einem Weg von schätzungsweise fünfzig Metern durch die regengepeitschte Dunkelheit schwang die Gondel wieder frei hinaus über den Abgrund. Einige Sekunden vergingen. Der Ballon stabilisierte sich wieder und schwebte ruhi ger dahin. Sollte ich die Reißleine ziehen? Ich war unentschlossen und stand wieder auf. Mein Körper mußte von Prellungen und blauen Flecken übersät sein. Ich dachte zu lange nach. Plötzlich schmetterte mich ein furchtbarer Schlag gegen den Korb. Die Gondel war ge gen eine Felswand geprallt. Der Ballon über mir riß mit einem langen, knirschenden Ton. Ich roch einen Augenblick lang das entwei chende Gas. Dann duckte ich mich, rollte mich im Korb zusammen und klammerte mich fest. Der Ballon fiel auf mich herunter, die Gondel begann zu fallen, und als erstes umgab mich das Werkzeug aus der Ruinen stadt, das haltlos herumfiel und klappernd aus dem Korb polterte, der sich überschlug und zu rollen begann. Bei diesem Rollen wickelte der Korb die Haltetaue und die schlaffe Hülle des Ballons um sich, so daß eine Art Walze entstand. Festhalten! Es geht um dein Leben! be fahl der Logiksektor. Ich klammerte mich an allem fest, was meine Finger erreichten. Die Werkzeuge tra fen meinen Körper und wurden durch aufge
Die Piraten der Mikrowelt rissene Löcher des Korbes geschleudert. Ich hörte das Klirren und Prasseln auf dem nackten Stein. Der Abhang war nicht regel mäßig. Einmal fiel ich um eine unbekannte An zahl von Metern, dann wieder rollte die Walze mit mir in eine schräge Fläche hinun ter. Überall war Wasser; ich geriet in eine Zone, in der es wütend regnete. Klatschend und schleifend rollte der Korb weiter. Wie der wurde ein Hagel kleiner Werkzeuge und Teile über den nackten Felsen verstreut. Ein harter Teil traf meinen Kopf, Kanten bohr ten sich in meinen Rücken. Mein Körper schlug hart gegen die Wand. Der Umstand, daß sich die Ballonhülle um den Korb gewickelt hatte, rettete mich. Aber ein langer schräger Hang, den diese Kombination jetzt, immer schneller werdend und sich drehend, hinunterrollte, schleuderte mich wie eine Gliederpuppe von einer Ecke zur anderen, übersäte meinen Körper mit Prellungen. Wieder verlor ich das Bewußt sein … … aber nur für wenige Augenblicke. Ein erneuter, harter Stoß. Die Walze kam zu einem plötzlichen Halt. Dann kam von al len Seiten gleichzeitig Wasser in das Ge fängnis mit den durchlässigen Wänden, de ren Geflecht sich aufzulösen begann. Ich rang nach Luft, schluckte Wasser und keuchte. Ich suchte in einem Reflex nach dem Dolch, um mir einen Weg ins Freie zu schneiden, denn in wenigen Sekunden wür de ich erstickt sein. Ein zweiter Stoß! Wieder gerieten die Reste ins Rollen. Aber jetzt rollten sie nicht mehr über nack ten Fels, sondern durch Wasser. Vermutlich war ich in ein Bachbett geraten, in dem die Wassermassen des gewaltigen Regens nach unten strömten und alles mit sich rissen, was sich hier befand. Der Ballon löste sich auf, die Fetzen der Hülle blieben an Felsen oder Gewächsen hängen. Jeder dieser unzähligen kleinen Rucke verlangsamte die rasende Abwärtsbe wegung ein bißchen. Steine schoben sich in
47 den Korb, der jetzt begann, kleine Sprünge zu machen. Das Wasser floß ab, ich konnte wieder atmen, aber sofort kam eine neue Welle und packte mich. Wieder rissen einige Taue. Die Dunkel heit um mich herum schwand langsam. Mehr und mehr Stoff der Ballonhülle ver schwand und blieb irgendwo hängen. Der Strom des Wassers schwoll an. Ich rollte, wurde herumgewirbelt, schwamm einige Meter, schlug gegen einen Felsen, taumelte im Zickzack von einer Seite der Geröllrinne zur anderen. Knirschend rissen weitere Seile. Der Ballon war jetzt verschwunden. Die Öffnung des Korbes richtete sich für einige Sekunden nach oben, und ich holte schnell Luft. Sie war warm und feucht. Es regnete noch immer, aber ich erkannte schemenhaft abgestorbene Gewächse, weiße Baumstäm me, denen die Wucht des Gerölls die Rinde abgerissen hatte, Felsen und riesige Kiesel steine. Eine breite Wasserrinne verlief hier durch den Berghang. Ich befand mich in ei nem Strom, der rasend schnell abwärts stürzte und dem Zickzack des Wildbachbet tes folgte. Es gab Pflanzen. Also gab es auch Früchte und Tiere. Hier konnte ich vielleicht überleben. Ich packte den Rand des Korbes und zog mich hoch. Ich wollte mein Gefängnis verlassen, das jetzt für eine gewisse Zeit schräg mit dem Wasser abwärts raste, ohne sich zu über schlagen. Gerade, als ich mich seitlich aus dem Korb schnellen wollte – ich handelte nicht mehr bewußt, sondern in blinder Lebenser haltung –, traf abermals ein schwerer Stoß die Konstruktion. Meine Finger wurden ge fühllos, als ich mich anklammerte, dann öff nete sich der Griff. Ich prallte wieder mit dem Rücken gegen den Korb, der herumge wirbelt und gekantet wurde. Und ganz plötzlich – NICHTS. Stille. Nur ein fernes Rauschen. Ich wurde für einen Moment schwerelos. Dann reali sierte ich, was geschehen war. Das stürzende
48 Wasser hatte mich über einen Felsen hinaus katapultiert, und ich flog durch die Luft. »Nein!« schrie ich in den peitschenden Regen hinein. Niemand hörte mich. Der Flug dauerte höchstens drei Sekun den, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann schlug der traurige Rest der Gondel ins Wasser ein und tauchte tief hinunter. Das Wasser schlug über mir zusammen. Willen los klammerte ich mich fest, anstatt mich ab zustoßen. Ich konnte nicht mehr klar den ken. Ich spürte nicht einmal mehr die Schmerzen. Auch unter Wasser herrschte ein starker Sog. In kleinen Blasen entwich die Luft aus meinen Lungen. Das Wasser war eiskalt, der Schock brachte mich wieder zu Bewußtsein. Der Sog riß mich mitsamt dem Korb nach vorn, drehte mich und wirbelte mich dann aus dem Bereich des Tiefwassers hinaus. Der Korb tauchte auf, ich rang nach Luft, und als ich die Augen öffnete, sah ich, daß ich mich wieder in einem breiten Rinnsal befand. Der Korb war halb eingetaucht und lag schief im Wasser. Das Material selbst schwamm auf. Ich gurgelte, spuckte Wasser und holte keuchend Luft. Trotz des wilden, unkontrol lierten Schaukelns und Drehens dieses hin fälligen Bootes erhaschte ich eine Reihe lan ger Ausblicke auf die Ufer. Keine zwanzig Meter hinter mir sah ich die langgezogene Fontäne eines Wasserfalls. Das Wasser schoß in einem engen Bogen mehrere Meter über die Kante, bildete einen Schleier und fiel in ein kleines Becken vol ler Schaum und Blasen. Dort schien das Wasser zu kochen. Kleine Tiere und Baum stämme trieben darin, Pflanzen und irgend welche Blätter. Das WTasser floß schnell ab, raste durch eine schräge Rinne und bil dete jetzt bereits einen breiten Bach. Ich war in meinem Korb gefangen, denn die Ge schwindigkeit war selbstmörderisch. Was sollte ich tun? Warte auf eine günstige Gelegenheit in
Hans Kneifel ruhigerem Wasser! sagte das Extrahirn mit Nachdruck. Das war wohl das beste. Ich hielt mich fest und blieb passiv. Felsen und Bäume vol ler Schwemmgut in den hochliegenden Wur zelgeflechten rasten an mir vorbei. Der Bach machte eine Schwenkung, ergoß sich wieder über Geröll und dann über eine lange Reihe von Felsabstürzen und Unterbrechungen ter rassenförmig nach unten in einen breiteren Flußlauf. Auch dort trieben Pflanzen und Teile vom Bäumen. Ich sah ein Tier, das sich verzwei felt gegen die Strömung und den Sog wehr te. Es kämpfte, bis es außer Sicht geriet. Das Tier würde nicht lange überleben können. Die Stämme, die gegeneinander stießen und aneinander mahlten, würden es töten. Ebenso konnte es mir ergehen, wenn ich nicht aufpaßte. Der Korb wurde nach links und rechts ge rissen, schwang sich durch die langen, schäumenden Wellen und landete in einem rasenden Wirbel mitten im Fluß. Die Strö mungsgeschwindigkeit des Flusses war noch größer als die des Baches. Mein Gefährt wurde mitgerissen und jagte kreiselnd, im mer wieder untertauchend und hochkom mend, flußabwärts. Ich hielt mich fest, stieß mit der anderen Hand die Baumstämme in eine andere Rich tung, schob starke Äste zur Seite, die sich vor den Korb geschoben hatten. Ständig ver änderte die Landschaft am Ufer, die ich un deutlich im licht der kleinen Leuchtpunkte des roten Himmels erkennen konnte, ihr Aussehen, Karge Wiesen, halb verkrüppelte Bäume, fast nur Felsen und weiß gewaschene und abgerundete Steine, dahinter Geröll in allen Größen und Felsen. Es gab nur Hän ge von verschiedenen Neigungswinkeln. Ich sah weder Lichter noch andere Zeichen von menschlichen Behausungen. Auch keine Tiere konnte ich erkennen. Nur Wasserflu ten, die von allen Seiten herunterstürzten und binnen einer kurzen Strecke den kleinen Fluß in einen reißenden Strom verwandel ten. Ich war ein zweitesmal in eine Katastro
Die Piraten der Mikrowelt phe hineingeraten; diesmal in einen unge heuren Regenfall, der von den Resten des Tornados oder Hurrikans ausgelöst worden war. Ich wurde müder und schläfriger, je län ger die rasende Fahrt durch das schwarze Wasser dauerte. Das andauernde Drehen und Herumwir beln, die pausenlosen Stöße, das Untertau chen und der Umstand, daß mein Körper im mer mehr auskühlte, schläferten mich ein. Ich handelte nur noch automatisch, ohne zu denken. Eine lange Serie von Reaktionen ließ mich überleben. Ich agierte wie im Traum. Eine Art Dämmerzustand erfaßte mich.
* Meine Odyssee ging weiter, ohne daß ich es merkte. Wach auf! Du kommst um! Gjeima war tot. Der Ballon war zerfetzt, und ich trieb waffenlos, durstig und hungrig über das schwarze Wasser eines Flusses, dessen Strömung mehr und mehr wuchs. Schneller und schneller ging es in leichten Windungen aus dem Gebirge hinaus, aber ich merkte auch das nicht mehr. Aufwachen, Arkonide! Meine letzten Freunde, die Ballonfahrer, waren entweder tot, gefangen oder mit dem Sturm weggerissen worden. Die Ruinenstadt gehörte der Vergangenheit an. Alles war vorbei. Ich merkte immer weniger von mei ner Umgebung. Es war tiefste Nacht, gleich mäßig stark rauschte der Regen herunter. Auch das merkte ich kaum. Öffne die Augen! Du stirbst! Ich konnte nichts mehr erkennen, wenn es mir hin und wieder gelang, die Augen zu schmalen Schlitzen zu öffnen. Beide Ufer waren so weit entfernt, daß ich hinter den Regenschleiern nichts erkennen konnte. Zwischen zerfetzten Baumstämmen, toten Tieren und allen nur denkbaren Abfällen trieb der Korb, mehr als halb voll Wasser, ir gendwohin. Ich hatte keine Chance mehr. Ich war hierher gekommen, um die schö
49 ne Arkonidin und den Maahks zu finden. Ich hatte nicht einmal eine Spur von beiden ge funden. Die Müdigkeit lastete auf mir wie schwere Gewichte. Ich hatte immer mehr Mühe, hin und wieder die Augen aufzurei ßen, um festzustellen, wo ich war. Ich ignorierte sogar die eindringliche Stimme meines Extrahirns. Aufwachen! Versuche, das Ufer zu errei chen, Atlan! schrie der Logiksektor immer lauter und deutlicher. Gjeima, Crysalgira, Grek-3! Nichts hatte ich geschafft! Ich war nur auf einem langen, abenteuerlichen Weg durch diese Mikrowelt gestolpert, von einem Ereignis zum anderen. Mein Wissen und meine Kenntnisse waren gewachsen, aber ich sah nicht die geringste Möglichkeit, etwas Konstruktives zu tun. Würde ich es jemals verstehen, mich in die ser verrückten Welt zu bewegen? Die Höllenfahrt auf dem strudelnden Wasser ging weiter, unbeeinflußbar durch meine Überlegungen. Ich konnte den Stru deln nicht entkommen. Mir blieben nur die schwachen Versuche, mein Leben zu erhal ten – und meine Gedanken. Nicht einschlafen, Atlan! Der Schlaf ist dein Tod! Denke an deine Aufgaben, an dein Ziel! Ich hielt mich mit einem letzten Rest von Lebensenergie wach. Gedanken stürmten auf mich ein, aber, wie merkwürdig, selbst sie schienen langsamer abzulaufen. Ich trieb einem ungewissen Schicksal entgegen, und wenn mich nicht alles täuschte, dann war es der Tod. Du stirbst, wenn du dich selbst aufgibst! schrie wütend der Extrasinn. Auch das war mir gleichgültig. Ich wollte nichts anderes als Schlaf, Ruhe, Entspan nung, Erholung … Rings um mich gurgelte das schwarze Wasser. ENDE
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