Buch Maggie O'Connor, verwitwete New Yorker Geschäftsfrau, hat ihr Leben fest im Griff und lässt sich so leicht nicht e...
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Buch Maggie O'Connor, verwitwete New Yorker Geschäftsfrau, hat ihr Leben fest im Griff und lässt sich so leicht nicht erschüttern. Allerdings ist sie vom Schicksal mit einer drogenabhängigen Tochter geschlagen. Eines Tages steht Jenna überraschend auf der Türschwelle ihrer Mutter - mit ihrem Baby auf dem Arm. Jenna gibt die kleine Cody wie einen unerwünschten Gegenstand bei ihrer Mutter ab. Maggie nimmt sich ihrer Enkelin liebevoll an, und drei glückliche Jahre vergehen. Aber dann taucht Jenna aus heiterem Himmel wieder auf, diesmal mit einem Mann, und blutenden Herzens muss Maggie ihnen die kleine Cody überlassen. Doch als klar wird, dass Cody von einem Satans-Kult festgehalten wird, da bangt Maggie nicht nur um Codys Leben, auch ihre eigene Welt wird von den Mächten des Bösen attackiert und droht zu zerfallen. Die starke Bande zwischen Enkelin und Großmutter gibt Maggie jedoch die Kraft, gegen alles und jeden anzugehen, der dem Kind Schaden zufügen will. Selbst wenn es der Teufel selbst ist, der sich ihr in den Weg stellt ...
Autorin war früher Vizepräsidentin des weltbekannten Kaufhauses »Bloomingdale's« in New York City und Direktorin in einer großen Kosmetikfirma. Sie hat mehrere Bestseller verfasst, die bereits in sechzehn Ländern veröffentlicht wurden. Mit Ehemann und zwei Töchtern lebt sie abwechselnd in New York und auf dem Land in Connecticut.
CATHY CASH SPELLMAN
Von Cathy Cash Spellman außerdem bei Goldmann lieferbar: Und immer flüstert der Wind. Roman (42854)
Cathy Cash Spellman
Die Prophezeiung Roman
Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld
GOLDMANN
Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Bless the Child« bei Warner Books, New York
Dieses Buch ist bei Goldmann bereits unter dem Titel »Das Herz der Nacht« (42287) erschienen.
Scanned by Doc Gonzo
Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Taschenbuchausgabe November 2000 Copyright © der Originalausgabe 1993 by The Wild Harp and Company, Inc. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, m der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Advanced Film Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 45037 Redaktion: Ilse Wagner RM • Herstellung: Sabine Schröder Made in Germany ISBN 3-442-45037-3 13 5 79 10 8642
Dieses Buch ist meinem Vater Harry Cash gewidmet mit mehr Liebe und Dankbarkeit, als Worte es ausdrücken könnten.
Dieses Buch ist ein Roman. Keine darin vorkommende Person oder Organisation darf mit dem wirklichen Leben verwechselt werden. Ein Isis -Amulett oder ein Sekhmet-Stein existiert nicht, soweit mir bekannt ist.
1.TEIL Die Frauen Am Anfang war Isis. Die Älteste unter den Alten, war sie die Göttin, aus der alles Werden entsprang. Sie war die Hohe Frau, die Herrin über das Haus des Lebens. Die Herrin über das Wort Gottes. Sie war einzig. In all ihren großen, wunderbaren Werken war sie eine klügere Magierin und herrlicher als jedes andere göttliche Wesen. Theben, Ägypten 14. Jahrhundert v. Chr.
1 Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen schaltete Maggie O'Connor die Alarmanlage ein. Sie drehte den Schlüssel im Türschloß des kleinen Antiquitätengeschäftes Ecke Sixty-eight Street und Madison Avenue, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestritt, und bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen. Die Stimme am Telefon hatte sie ganz durcheinandergebracht. Ihre Tochter Jenna hatte angerufen. Jenna, aufsässig, eigensinnig, feindselig und seit fast zwei Jahren vermißt. Die dringliche Stimme, nicht ganz vertraut... der nahezu kindliche Tonfall weckte den brennenden Schmerz der Erinnerung... die harten Fragezeichen, wo sie gewesen sei, ein zermürbendes Rätsel. Ein beängstigendes Kaleidoskop aus Visionen durchströmte Maggie bei diesem Klang. Jenna, das gehätschelte Kind, das sie mehr geliebt hatte als ihr Leben - Jenna, trotzig und unversöhnlich bei einem vergeblichen Entzug nach dem anderen, Jenna, die Heroinsüchtige, die ihr für ihren nächsten Schuß das Herz herausgeschnitten hätte. Maggie schüttelte heftig den Kopf, um die unerwünschten Bilder zu vertreiben, und winkte im strömenden Regen nach einem Taxi.
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»Ich muß dich heute abend sehen, Mutter«, hatte Jenna gedrängt, eine körperliche Stimme aus dem Nirgendwo. Lag da Wut, Raserei oder Verzweiflung in dem Tonfall? »Zu Hause. Halb sieben. Um Himmels willen, sei da!« Dann nur noch der Summton, ein Beweis, daß der Anruf Wirklichkeit gewesen war. Ab wann war es zwischen ihnen so schiefgegangen? Zum millionsten Mal durchwühlte Maggie ihre Seele auf der Suche nach einer Antwort. Wo war all die Liebe geblieben? Gewiß hatte das empfindsame kleine Mädchen, an das sie sich so lebhaft erinnerte, sie einstmals geliebt. Das Kind mit der glänzenden silberblonden Mähne und mit Augen wie die Irische See, das ihre Hand hielt und, während sie Napfkuchen aßen, Geschichten lis pelte, dieses Kind hatte sie geliebt. Vierzehn war das unbegreifliche Alter gewesen, das Jahr, als das Silberkind für immer verschwunden und statt seiner ein mürrischer, trotziger Teenager zum Vorschein gekommen war. Mit vierzehn hatte ihre geliebte Tochter sich in ein unliebenswertes, unnahbares Wesen verwandelt. Wie oft hatte Maggie danach die Hand nach ihr ausgestreckt und war mit vorwurfsvollen Worten und feindseligen Beschuldigungen zurückgewiesen worden? »Ihre Ohren sind nicht auf deine Frequenz eingestellt, mein Herz«, pflegte Jack, ihr Mann, zu sagen, während er bestürzt den Kopf schüttelte. »Es ist schrecklich mitanzusehen, Maggie, aber es ist, als könnte sie keines der Worte begreifen, die du sagst. Vermutlich ist es so eine Freudsche Muttergeschichte, die sich auswächst, du wirst sehen. Wenn wir erst alt und grau sind, werden wir darüber lachen.« Der Schmerz, den diese Worte hervorriefen, ließ Maggies Atem stocken. Jacks Stimme, die ihr noch immer in den Ohren klang... Jacks Gesicht, das ihr noch immer unversehrt im Ge dächtnis war. Hieß es nicht, die Zeit heilt alle Wunden? Hieß es nicht, die Einsamkeit läßt nach? Sie blinzelte die Tränen fort. Nein, sie würden nie miteinander lachen, nie zusammen alt werden, nie begreifen, warum das Leben sie auf eine solch unzumutbare Bahn geworfen hatte. Jack war tot. Auch wenn sie in den langen Stunden vor dem Morgengrauen noch auf dem Kissen nach ihm tastete... auch
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wenn sie in Gedanken noch Gespräche mit ihm führte, wann immer sie einen Rat brauchte. Auch wenn sie sich manchmal einbildete, daß er ihn ihr gebe. Jack war tot. Wenigstens hatte er es nicht mehr erlebt, wie sein kleines Mädchen mit Einstichen im Arm auf der Eighth Street ihren Körper verkaufte, um an Geld für Heroin zu kommen. Das hatte Maggie allein ertragen. Sie versuchte, ihr Herz zu einem erträglichen Rhythmus zu zwingen, bezahlte den Fahrer und stellte zum Schutz vor dem unaufhörlichen, schiefergrauen Regen den Kragen hoch. Maggie brauchte die Behaglichkeit ihres Zuhauses. Jenna lümmelte in der Eingangstür, ein Bündel Kleider in den Armen. Das dachte Maggie zumindest, bis das Bündel weinte. »Es ist kalt hier draußen!« Jennas Stimme klang vorwurfsvoll, als würde Maggie das Wetter machen. Keine Begrüßung, kein: »Ich hab dich vermißt, Mom. Wie geht's dir so?« »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, mein Herz. Ich konnte nicht glauben, daß du das wirklich warst am Telefon. Ich habe dich so schrecklich vermißt!« Maggie schlang die Arme um die durchnäßte Gestalt und bemühte sich, ihre Verletztheit zu unterdrücken, als Jenna sich der Umarmung entzog. Maggie schloß mit flatternden Fingern auf und tastete drinnen nach dem Lichtschalter; Tränen erstickten all die Worte, die sie hätte sagen müssen. Sie starrte auf das winzige Wesen in Jennas Armen, wie betäubt angesichts des Liebreizes eines so kleinen Geschöpfes und all dessen, was es über die Vergangenheit und die Zukunft mutmaßen ließ. »Sonst hast du nichts zu sagen, Mom?! Ich dachte, du würdest dich freuen, uns zu sehen.« Spindeldürr stand Jenna in der Diele, triefend wie eine Regenrinne. Zornig wie eh und je, noch immer unversöhnlich. »Vor zwei Jahren wäre ich froh gewesen, dich zu sehen!« platzte Maggie heraus, während sie ihren tropfenden Regenmantel abwarf, doch sofort bereute sie ihren Ausbruch. Sie ist zu Hause, hielt sie sich vor. Nur das zählt. Sie lebt. Alles andere können wir klären.
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»Natürlich freue ich mich, dich zu sehen, mein Herz, ich bin so überwältigt, weil du wirklich da bist. Ich habe so lange von diesem Augenblick geträumt! O Jenna, ich wußte nicht, ob du lebendig oder tot warst... ich habe alles versucht, um dich zu finden - einen Privatdetektiv, die Polizei. Aber sie sagten, es gäbe keine Spur...« Die Worte waren nur Bruchstücke, winzige Kürzel der erlittenen Qual, des Leids, das für immer in einem Geheimfach ihres Herzens verschlossen war. Jenna hörte nicht mehr zu. Ihre Augen huschten durch den Raum, taxierten die Möglichkeiten. Eine ums Überleben Kämp fende, die das Terrain sondierte. »Ich hab Hunger«, sagte sie, während sie das Kind auf einen Stuhl legte, unbekümmert, als wäre es eine Schachtel von Bloomingdale's. Maggie schüttelte sich, um das Gefühl von Unwirklichkeit, von vernunftloser Angst zu verscheuchen. »Das Kind, Jenna? Ist es deines?« Dumme Frage. Nein, Mutter, das hab ich in der U-Bahn gefunden. Maggie nahm das Bündel zögernd hoch, als sei es ein Gebilde aus Feenflügeln. Sie schlug das nasse Einschlagtuch ein wenig zurück und staunte über die atemberaubende Vollkommenheit des zarten, zappelnden Lebewesens. »Mein Gott, Jenna. Das Kind ist ja ganz klein.« »Sie ist zehn Tage alt. Die Geburtsurkunde ist an die Innenseite der Decke geheftet. Ich dachte mir, daß du sie vielleicht brauchen würdest.« Maggie blickte rasch hoch und erforschte das Gesicht ihrer Tochter. »Daß ich sie brauchen würde? Wozu, um alles in der Welt, sollte ich sie brauchen?« Jenna sah zur Seite, die Frage interessierte sie nicht. »Was dagegen, wenn ich mir was zu essen mache? Ich hab seit einer Weile nichts gegessen. Sie ist auch hungrig.« Sprunghaftigkeit war die typische Art von Drogenabhängigen, erinnerte sich Maggie, und bei diesem Gedanken zog sich ihr Magen zusammen. Als ob das Gehirn sich nur auf eine willkürliche Auswahl konzentrieren könnte, wie ein entsprechend programmierter CD-Spieler.
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Maggie versuchte, ihre Besorgnis zu unterdrücken. Sie schlug die durchweichte Decke vollends zurück, nahm das winzige Kind heraus und drückte es an ihr Herz. »Komisch, man vergißt nie, wie man ein Kind halten muß, egal, wie lange es her ist«, flüsterte sie, völlig gefangen von dem kleinen warmen Wesen. »Fünfzig Millionen Jahre Biologie, denke ich.« Jenna blinzelte ihre Mutter an, verständnislos wie eine Eidechse auf einem Stein. Ohne zu wissen, was sie als nächstes tun sollte, machte sich Maggie, den Tränen bedenklich nahe, auf den Weg in die Küche. »Mit vollem Magen redet sich's besser...«, sagte sie leise. Alles war besser, als dazustehen und sich von den geisterhaften, blicklosen Augen anstarren zu lassen. »Wie heißt deine Tochter, mein Herz?« rief sie in krampfhaft munterem Ton über die Schulter. »Cody. Ich nenne sie Cody.« Maggie lächelte auf das Kind hinunter und flüsterte probeweise den Namen. »Ein schöner Name... ich finde, er paßt zu ihr. Stammt er aus der Familie ihres Vaters?« Das durchnäßte Mädchen spie die Antwort förmlich hervor: »Hör zu! Ich bin hier, weil ich sonst nirgends hin kann.« Die Stimme war schleppend. Maggie holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen, Jenna... ich bin nur vollkommen ratlos. Ich weiß lediglich, daß ich dich liebe, und egal, in was für Schwierigkeiten du steckst, wir können sie ausbügeln ...« Das Mädchen fiel seiner Mutter mit einer unwilligen Geste ins Wort. »Hör mir zu, Mom. Ich hab das Kind gekriegt, aber ich kann mich nicht um sie kümmern. Ich muß sie irgendwo lassen. Sie ist deine Enkelin, um Himmels willen!« Entsetzt wandte sich Maggie vom Kühlschrank ab, und die Worte strömten gegen ihren Willen aus ihr hervor. »Das kann nicht dein Ernst sein, Jenna! Du tauchst mir nichts, dir nichts hier auf, hast zwei Jahre nichts von dir hören lassen und willst mir sagen, du bist nur hier, um mir dein Kind auf die Türschwelle zu legen? Das ist einfach unerhört! Wo hast du ge-
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steckt? Warum hast du mich nicht wissen lassen, ob es dir gut geht? Wo kommt dieses Kind her? Wenn du Hilfe brauchst, du weißt, daß ich dir helfe...« »Ich brauche einen Platz, wo ich das Kind lassen kann«, beharrte die Stimme, hart wie Graupeln und doppelt so kalt. Dies passiert wirklich, dachte Maggie; ihr Blut pulsierte so heftig, daß ihr schwindelig wurde. Instinktiv drückte sie das Kind fester an sich, und es begann zu wimmern, ein winziges Geräusch. O Jack, wo bist du, wenn ich dich brauche? »Sie ist klitschnaß, Jenna«, sagte Maggie leise, weil sie nicht wußte, was sie sonst sagen sollte, um den Wahnsinn durch etwas Normales abzumildern. »Hast du Windeln für sie? Ich wollte dich nicht anschreien. Laß uns ganz ruhig bleiben und versuchen, zu einer Lösung zu kommen, okay?« Jenna erforschte das Gesicht ihrer Mutter, achtete auf jede Nuance. »In der Diele«, erwiderte sie rasch, »ich hab ein Paket Windeln auf die Kommode gelegt. Ich geh sie holen.« Maggie hörte die nassen Turnschuhe auf dem Parkettboden der Diele quietschen und dachte an andere, bessere Zeiten zurück. Dann hörte sie die Eingangstür zuschlagen und wußte, daß Jenna gegangen war. Maggie saß in dem alten Schaukelstuhl, den sie aus dem Keller geholt hatte, und sang leise zu dem Säugling in ihren Armen. Irische Revolutionsballaden... mit zwanzig rührseligen Strophen. Seit über einer Stunde sang sie nun schon, voll von Erinnerungen... Und ewig geht das Leben weiter, wie das Nagen einer Maus, hatte Edna Millay gesagt. Eine Frau mußte es wissen. Allein das Kind anzusehen war Balsam fürs Herz. Die durchscheinenden Augenlider waren im Schlaf geschlossen, die winzigen Lippen noch naß von der Kindernahrung, die sie im Drugstore an der Ecke besorgt hatte. Ein Fäustchen umgriff Maggies Finger so fest, als ob es ihn nie mehr loslassen wollte. Noch vor einer Stunde hatte Maggie sich elend gefühlt vor Zorn und dem unauslöschlichen Gefühl des Versagens, das sie nach Jennas Fortgang durchströmt hatte. Sie hatte sich ihren
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Frust leise von der Seele geschluchzt, während sie das Kind wiegte. Als Jack gestorben war, hatte sie sich genauso gefühlt, vernichtet von Kräften, über die sie keine Kontrolle hatte. Doch nichts davon erschien jetzt auch nur im entferntesten wichtig. Das Kind machte das alles seltsam unbedeutend. Cody war Vollkommenheit. Cody war Liebe. Sie verdiente Lachen, keine Tränen. Wie konnte jemand nicht dankbar sein, daß sie existierte? Maggie stand vorsichtig auf und legte das schlafende Bündel mitten auf ihr breites Bett, dann knipste sie das Licht aus und kletterte neben ihre Enkeltochter, behutsam, um sie nicht zu stören. Morgen würde sie eine Wiege besorgen müssen und unzählige andere Dinge... Lichter flackerten in kunstvollen Zickzackmustern über die Zimmerdecke, und sie sah ihnen zu, dankbar für die vielen stillen Stunden, bevor der Morgen kam. Sie mußte nachdenken, nicht schlafen. Und sie mußte beten.
2 Maggie klopfte an die Glastür des Geschäftes, das ihr seit zehn Jahren gehörte, und wartete nervös, daß Amanda Bradshaw sie einließ. Um acht Uhr morgens war kein Verkehr auf der Madison Avenue; die sonst so geschäftige Straße wirkte surreal in ihrer Heiterkeit. »Sag bloß nicht, das ist kein Kind, was du da auf dem Arm hast!« Amandas schleppende Stimme klang erschrocken, besorgt; sie hatte den abgespannten, übernächtigten Ausdruck in Maggies Augen bemerkt. Sie war Maggies Geschäftsführerin, aber das war kein Hindernis für die echte Freundschaft, die sich im Laufe der Jahre zwischen den zwei Frauen entwickelt hatte. »Ach, du denkst, du bist überrascht?« antwortete Maggie nervös. Sie warf ihren Mantel ab, während sie Cody auf dem Arm balancierte. »Jenna ist aus dem Regen aufgetaucht, hat mir das Kind übergeben und ist wieder abgehauen. Ich war die ganze Nacht wach...« »Hat dir das Kind den Schlaf geraubt?«
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»Nein. Ich hab mir den Schlaf geraubt. Mein Hirn steht unter Hochspannung, Amanda. Wo hat Jenna die ganze Zeit gesteckt? Nimmt sie noch Drogen? Hat sie vor zurückzukommen? Mir ist, als wäre ich in den Kaninchenbau gefallen und hätte auf dem Boden ein Kind gefunden!« Maggie hatte den Eindruck, als würde Amandas hochaufgeschossene Gestalt sich stets in einer fließenden, diffusen Art bewegen; eine geheime Anmut, entstanden aus Generationen alter Privilegien, vermutete Maggie. Die hübsch manikürten Hände griffen nun behutsam in das Einschlagtuch, um das Kind aufzudecken. »Oh, ist das herzig, Maggie. Es hat fast etwas Leuchtendes an sich, nicht? Wie konnte eine Drogenabhängige einen so köstlichen kleinen Pfirsich hervorbringen?« Maggie betrachtete das winzige Geschöpf in ihren Armen und seufzte. »Sie hat mich schon vollkommen eingewickelt, Amanda. Es dauert nicht mehr als zehn Minuten, um sich in sie zu verlieben.« »Und die reizende Jenna?« erkundigte sich Amanda vorsichtig, die Lippen mißbilligend gestrafft. »Wie ist es ihr ergangen?« Sie hatte Maggies verzweifelte Anstrengungen, Jenna zu rehabilitieren, zu oft auf unfruchtbaren Boden fallen sehen, um sich wegen des Mädchens Illusionen zu machen. Die Heilungsquote unter Heroinabhängigen betrage eins zu sechsunddreißig, sagten die Ärzte; sie glaubte nicht, daß Jenna darunter sein würde. »Wie es ihr geht oder erging, werde ich vielleicht nie erfahren. Sie ist wieder weg.« »Du meinst, verschwunden?« Maggie nickte erschöpft. »Sie hat gesagt, sie braucht einen Platz, wo sie das Kind lassen kann.« »Und das bist du?« »Das bin ich.« »Das ist ja eine schöne Bescherung. Und von dir wird einfach erwartet, daß du in die Bresche springst, dein ganzes Leben umkrempelst und die barmherzige Mutter spielst?« »Ich glaube, darauf läuft es hinaus.« Amandas scharf konturierte Augenbrauen hoben sich vielsa-
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gend. »Und das egoistische kleine Stück wirft einfach wie eine Hündin und macht sich aus dem Staub? Also, wenn du jetzt nicht die Nase gestrichen voll hast!« »Amanda!« erwiderte Maggie entsetzt. »Ich liebe Jenna! Ich will doch nur versuchen, ihr zu helfen, aber sie entzieht sich mir andauernd... Sie sah wirklich fertig aus gestern abend. Verzweifelt und mutterseelenallein. Ich fürchte, selbst wenn wir sie finden würden, wäre sie nicht in der Verfassung, sich um das kleine Herzchen zu kümmern.« »Aber du?« Maggie sah das Kind lange an, bevor sie antwortete. »Ich glaube, ja«, sagte sie zögernd. »Ist das nicht verrückt? Ich glaube wirklich, daß ich es kann.« Maggie sah jünger aus als zweiundvierzig, fand Amanda, trotz der schlaflosen Nacht. Ihr Gesicht war hübsch, nicht schön, aber die Züge waren mit Charme gealtert, die jugendliche Straffheit des Kinns war zu schlichter Kraft gereift; das Lachen in ihren Augen hatte Leid und Bedrängnis überlebt und war geblieben, und so schien dort stets ein Lächeln zu verweilen, das versuchte hervorzubrechen. Aber da war auch Kummer, meistens verschleiert. Es war ein Gesicht, das seine private Verletzlichkeit verbarg und die Welt nur Großmut sehen ließ. Maggie suchte in den Augen ihrer Freundin nach Verständnis. »Es ist so lange her, daß ich jemanden hatte, der mich braucht, Amanda... jemanden, den ich aufrichtig lieben kann. Es ist schwierig zu erklären, aber die Kleine und ich kennen uns schon sehr gut.« Amanda lächelte nachsichtig. »Aber natürlich, Darling. Ihr seid schließlich schon mindestens zwölf Stunden zusammen.« Maggie stöhnte. »O Go tt, ich höre mich an wie eine Großmutter, nicht?« »Welch grauenhafte Vorstellung. Wir müssen uns eine andere Bezeichnung für deinen Zustand einfallen lassen. Du siehst jung genug aus, um ihre Muter zu sein, Darling... es gibt jede Menge Frauen, die in deinem Alter Kinder kriegen.« Maggie lächelte über die Schmeichelei ihrer Freundin. Sie hatte Amanda wegen ihrer sensationellen Antiquitäten-Kennt-
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nisse eingestellt und wegen ihrer fabelhaften gesellschaftlichen Verbindungen, die dem Geschäft die Creme de la creme der Käufer zugeführt hatten. Aber es hatte nicht lange gedauert, um die tiefgründigeren, edleren Eigenschaften zu entdecken. Die echte Gutmütigkeit, den schlüpfrigen Sinn für Humor unter der wohlerzogenen Oberfläche, den bohrenden Intellekt, der einen falschen Gedanken oder unechten Gegenstand gleichermaßen mit sarkastischer Gewandtheit aufspießen konnte. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, wie gründlich das Schicksal einen manchmal beutelt, Amanda. Keine Verzärtelung, keine Zweideutigkeit, es fragt nur: ›Wer bist du eigentlich, Maggie?‹ Meine Mutter sagte immer: ›Charakter ist, was du im Dunkeln bist‹, und jetzt verstehe ich allmählich, was sie damit gemeint hat.« Amanda lehnte sich an die Kante eines Tisches aus dem neunzehnten Jahrhundert und lächelte. »Tja, Darling, in den letzten Monaten hatten wir hier einen akuten Mangel an Aufregungen. Schätze, eine kleine Verrücktheit ist längst überfällig.« »Ich bin zweiundvierzig Jahre alt«, fuhr Maggie ernst fort. »Das ist viel zu alt, um ein Kind aufzuziehen. Jack ist tot, und es ist nicht richtig, dieses Kind ohne Vater aufwachsen zu lassen. Hier gibt's eine Menge große Fragezeichen...« Sie zögerte, dann sprach sie weiter. »Seit Jack tot ist und Jenna fortlief... fühle ich mich ausgehöhlt durch den Verlust, Amanda. Durch Kummer... durch Schuld... sogar durch Sühne, nehme ich an. Und durch unzählige Emotionen, die mich verwandelt haben, so daß ich nicht mehr diejenige bin, die ich vorher war.« »Du mühst dich wirklich ab mit dieser Sache, was, Darling?« erwiderte Amanda ruhig. »Aber du mühst dich gerne... hab ich recht? Gegen alle Chancen und jede Vernunft und den Willen der Mehrheit... und den letzten beißen die Hunde...« Ihr leises Lachen war kehlig und wohl berechnet. »Kein Wunder, daß ich dich liebe, Maggie. Nach außen siehst du so aufrichtig und vernünftig aus, aber darunter bist du so weich wie eine Schale Maisbrei. Darf ich fragen, wie du ein Kind hüten und ganztags arbeiten willst? Soviel ich weiß, hat Jack dich nicht gerade auf Rosen gebettet zurückgelassen. Außerdem brauchst du den La-
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den, um mit den Leuten in Kontakt zu bleiben. Wärst du auf dich selbst angewiesen, du wärst bestimmt eine Einsiedlerin geworden.« Maggie erwiderte nichts. »Und, was vielleicht noch wichtiger ist, hast du Maria Aparecidas Zorn schon über dich ergehen lassen?« bohrte Amanda weiter, als könnte das eine gefährliche Brücke sein, die es zu überqueren gilt. Maggie zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. »Du weißt, sie ist in Wirklichkeit eine empfindsame Seele. Sie kann nichts dafür, daß sie eine Figur hat wie Pilar in Wem die Stunde schlägt.« »Und das entsprechende Temperament, soweit ich mich erinnere.« »Nur, wenn es gerechtfertigt ist... und vielleicht jeden zweiten Donnerstag... im übrigen war sie ein Geschenk des Himmels, seit ich allein bin, Amanda. Maria als Haushälterin zu haben ist die einzige Beständigkeit, die mir aus früheren Tagen geblieben ist.« »Du brauchst keine Beständigkeit aus früheren Tagen, Maggie. Du brauchst ein neues Leben im Jetzt.« Das Kind in ihren Armen öffnete Augen und Mund gleichzeitig und gurrte; Maggie hob es sachte an ihre Schulter. »Sieht mir ganz so aus, als hätte mir das die Schicksalsgöttin beschieden«, sagte sie mit einem sanften Lächeln. »Du bist verrückt, das steht fest«, erwiderte Amanda heiter. »Aber ein schrecklich guter Mensch.« Sie scheuchte Maggie mit dem Kind zur Tür hinaus und sah ihnen nach, als sie auf der Madison Avenue zu einem Taxi gingen. Es war vermutlich nur das silbrige Licht des frühen Morgens in New York oder vielleicht ein bißchen zuviel Courvoisier nach dem Essen gestern abend, aber sie hätte schwören können, daß beide sanft in der Morgensonne schimmerten. »Nossa Senhora! Sie hätten mir ruhig sagen können, daß wir ein Kind erwarten«, verkündete Maria grimmig. Maggie lachte, als die kräftig gebaute Frau ihr das Kind aus den Armen nahm und
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es wie ein Kissen an ihren mächtigen Busen drückte. Cody gluckste zur Antwort. »Hätte ich ja, wenn ich's gewußt hätte«, erwiderte Maggie. Sie schüttelte ihre widerspenstigen Locken, nachdem sie sie von dem Hut befreit hatte, den sie zum Schutz vor der Morgenkühle aufgesetzt hatte. Ihr Haar war braun mit goldfarbenen Sprenkeln, und die weichen Locken hatten ihren eigenen Willen. Sie hatte sich in ihrer Jugend alle Mühe gegeben, um sie zum Ge horsam zu zwingen, jetzt war sie froh, daß sie ihr so wenig Mühe machten. »Jenna?« murmelte Maria mit der Vertraulichkeit einer langgedienten Angestellten, die sämtliche Familiengeheimnisse kennt. »Sie ist gestern abend gekommen und gegangen.« »Und die Drogen? Hängt sie noch an der Nadel?« »Das nehme ich an.« »Dann ist das Spätzchen hier wenigstens von unserem Blut«, erklärte die Frau voll Zufriedenheit. »Das ist gut. Wenn wir eines adoptieren, können wir nicht sicher sein wegen dem Blut.« Maggie hätte fast laut gelacht. Man wußte nie, was man von Maria zu erwarten hatte. Ein großes Herz und ein launisches Temperament, aber ehrlich bis auf die Knochen. Maggie konnte sich nicht erinnern, seit wie vielen Jahren die Frau ihr den Haushalt führte - etwa zwanzig. Sie mußte sogar einmal jung gewesen sein, obwohl sie im immer gleichen, unbestimmbaren Alter zu sein schien. »Wenn wir sie aufziehen, gibt es eine Menge Extraarbeit, Maria, ich kann nicht von Ihnen verlangen, daß Sie -« »Wie meinen Sie das, Dona Maggie, wenn wir sie aufziehen?« fiel ihr Maria ins Wort. »Sie ist unsere Familie. Was sollen wir sonst tun, sie beim Tierschutzbund abgeben?« Die große Frau herzte das winzige Kind mit dem Geschick der echt Begabten. Ohne Maggie um Erlaubnis zu fragen, tappte sie zur Küche, und das Kind thronte noch an ihrem Busen. »Coitahinda, Coitahinda!« murmelte sie beim Gehen. Armes kleines Ding. Maggie sprach nicht Portugiesisch, aber nach all den Jahren mit Maria Aparecida hatte sie ein paar Dutzend Redewen-
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dungen aufgeschnappt. Sie sah den beiden nach und dachte, daß der Herr vielleicht trotz allem wußte, was er tat. Maggie streifte die Schuhe von den Füßen und setzte sich mit einem Seufzer auf ihr Bett, mit dem Vorsatz, alles zu durchdenken. Seit Jacks Tod war die Reihe silbergerahmter Fotografien an ihrem Bett der Hafen geworden, den sie aufsuchte, wenn es um schwierige Entscheidungen ging. Sie nahm ein Lieblingsfoto von seinem Platz, und das Gesicht ihres Mannes sah sie an mit lachenden Augen, die in den Winkeln nur ein klein wenig faltig waren. Komisch, daß sie das Silber in seinem Haar nie bemerkt hatte, als er noch lebte... solch kräftiges, volles Haar hatte er gehabt, so richtig gut, um mit den Fingern durchzufahren... Tränen verschleierten plötzlich das Bild des Mannes, den sie so lange geliebt hatte, und sie wischte sie fort, ärgerlich, weil sie immer noch so leicht weinte. »Oh, du hast nahe am Wasser gebaut, mein Kind«, hatte ihr irischer Vater oft gesagt, als sie klein war... Ihn vermißte sie auch. Wie viele von den Menschen, die sie aufrichtig geliebt hatte, waren tot? Jenna war nun auch verloren... vielleicht für immer. Was hatte ihr der Arzt in der letzten Reha-Klinik gesagt? »Sie haben die Sucht Ihrer Tochter nicht verursacht, Mrs. O'Connor. Sie können sie nicht kontrollieren, und Sie können sie wahrscheinlich nicht heilen. Solange Sie das nicht in Ihren Kopf kriegen, werden Sie niemals Frieden finden.« Begriff er nicht, daß es einfach war, es in den Kopf zu kriegen, daß es ihr Herz war, das die Zusammenarbeit verweigerte? Und ihre Seele, die sich danach sehnte, Jenna zu retten. Deswegen hatte sie nicht aufgegeben... deswegen würde sie niemals aufgeben. »Meine süße, süße Jenna«, flüsterte Maggie dem blondhaarigen Mädchen zu, dessen Bild im Silberrahmen festgehalten war. »Ich vermisse dich so. Ich liebe dich so.« Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe, o Herr. Sie bemühte sich, es aufrichtig zu meinen, als sie das alte Gebet aus ihrer Kindheit flüsterte. Du mußt lernen, den Willen Gottes zu akzeptieren, Maggie, hatte die Mutter Oberin sie vor Jahren ge-
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scholten, als sie fragte, warum Gott die unheilbare Krankheit ihrer Mutter nicht heilte, auch wenn sie noch so fest betete. »Du meinst, Gott soll gefälligst deine Forderungen erfüllen. Das ist eine Sünde des Stolzes, Maggie! Du hast kein Recht, dich in Gottes Plan einzumischen. Du kannst nicht weit genug sehen, um zu wissen, was er im Sinn hat.« »Aber es würde ihn so wenig Mühe kosten, sie gesund zu machen, Schwester. Warum gibt er nicht besser Obacht auf seine Freunde?« Sie war in den Klosterbau geschickt worden, um zur Sühne für diese kleine Respektlosigkeit Extraaufgaben zu verrichten. Sie hatte die Küche der Schwestern geschrubbt, bis sie ihren Ausbruch bereute, aber das bedeutete nicht, daß sie anderen Sinnes geworden war. Mit einem Seufzer drückte Maggie das geliebte Bild an die Lippen, bevor sie es wieder auf den Nachttisch stellte. »Ich will dir was sagen, lieber Gott«, sagte sie inbrünstig. Die alte Gewohnheit, Gespräche mit Ihm zu führen, war so selbstverständlich wie das Atmen. »Ich kümmere mich um dieses Kind, und du kümmerst dich für mich um Jenna.«
3 Maggie ging mit Cody auf dem Arm auf und ab. Sie versuchte, nicht an die Schmerzen in Rücken, Armen und Schultern zu denken, die vom Gewicht des kräftigen, vierzehn Monate alten Kindes herrührten. Sie ist nicht schwer, Vater, sie ist meine Enkeltochter. .. Der Gedanke brachte sie fast zum Lachen. Cody zahnte, und sie hatte Schnupfen. Mit beängstigender Deutlichkeit konnte Maggie jeden Atemzug fühlen, der durch den Rücken des Kindes rasselte. »Wegen des Atems können Sie unbesorgt sein, Mrs. O'Connor«, hatte der Kinderarzt gestern gesagt. »Mit den Antibiotika haben wir das im Nu kuriert.« Aber Cody war nicht sein Kind, und welche Großmutter würde sich bei einer so wesentlichen Funktion wie Atmen keine Sorgen machen? Zwei Nächte lang war Maggie alle halbe Stunde aufgewacht, um im Dunkeln auf Codys mühsames Atmen zu lau-
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schen, und heute nacht hatte sie so gut wie überhaupt noch nicht geschlafen. Die Kälte kroch unter ihr Nachthemd, und ihre Füße waren eiskalt, aber jetzt konnte sie nicht aufhören, auf und ab zu gehen. Cody war fest eingeschlafen, es war der unruhige Schlaf kranker Kinder, der von der geringsten Abweichung von dem Rhythmus aus Gehen, Summen, Beruhigen gestört wird. Sie nahm das Kind fester in die Arme, als wollte sie Gefahr und Krankheit allein mit der Kraft ihres Willens bannen. Ich kann das! Maggie nahm sich zusammen, als sie merkte, daß sie der Müdigkeit zu erliegen drohte. Kein Wunder, daß der Herrgott dreiundzwanzigjährigen Frauen Kinder schenkt. Der Wecker zeigte 3 Uhr 38, und Maggie war erschöpft bis auf die Knochen. Ich kann ohne Schlaf leben, sagte sie sich beherzt. Der heilige Simon saß dreißig Jahre auf einer Fahnenstange. Er kann nicht viel geschlafen haben. Aber der heilige Simon mußte auch nicht morgens aufstehen und seinen Lebensunterhalt verdienen, oder? nörgelte eine kleine Stimme in ihrem Inneren. Sie seufzte und ging weiter auf und ab. Dieses Kind allein aufzuziehen war die schwierigste Aufgabe, die sie je übernommen hatte, und schwierige Aufgaben sahen nachts noch bedrückender aus. Zahnen und Schnupfen waren ein Klacks gegen das, was ihr noch bevorstand, dachte sie verzagt. Masern und das Einmaleins, Spieltage und Eltern-versammlungen mit Frauen, die halb so alt waren wie sie: Mit alledem mußte sie fertig werden, ganz zu schweigen vom College. Krieg's in den Griff, Maggie! schalt sie sich, als sie die schlafende Cody vorsichtig in ihre Wiege legte. Du bist erschöpft - morgen sieht alles anders aus. Sie deckte Cody zu, dann blieb sie einen Moment stehen und sah auf das Engelsgesicht des Kindes hinunter, das sie so sehr liebte. »Es ist mir egal, wie schwer es ist oder wie müde ich bin«, flüsterte sie dem schlafenden Kind zu. »Du lohnst jede Mühe.« Maggie gähnte, schenkte sich ihre vierte Tasse Morgenkaffee ein und plagte sich mit dem Papierkram für die Neuerwerbung aus London. Ein sehr guter Kunde war seit zehn Jahren hinter
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der kleinen Bronzestatue des Gottes Ptah hergewesen; es war ein großer Glücksfall, daß der Mann, in dessen Besitz sie sich befand, beschlossen hatte, sich von einem Teil seiner Sammlung zu trennen. »Ich habe endlich eines der großen Rätsel des Lebens gelöst«, sagte Maggie grimmig zu Amanda, die auf der anderen Seite des kleinen Büros saß, das zum Geschäft gehörte. »Die Zutaten für geschäftlichen Erfolg sind: Talent, Humor, rasche Auffassungsgabe, Ausdauer, Hingabe, Ehrgeiz, Geschäftstüchtigkeit, Intuition, Extravaganz, gute Garderobe, harte Arbeit und genug Schlaf. Und letzterer ist das Wichtigste.« Amanda sah amüsiert von ihren Notizen auf und ergänzte: »Es schadet auch nicht, wenn du in die richtige Familie hineingeboren bist, die geeigneten Schulen besuchst, den besten Clubs angehörst und männlichen Geschlechts oder eindeutig mannstoll bist und unmißverständlich flirten kannst.« Maggie lachte laut auf. Es war schwer, bei Amanda das letzte Wort zu behalten.
4 Maggie stieß die Schaukel an und atmete die Köstlichkeit des herrlichen Tages ein. Der Klang von Codys Lachen entzückte sie immer wieder. Wie schnell drei Jahre verfliegen können, dachte sie, während sie den kleinen Beinchen zusah, die zuversichtlich strampelten, um die Schaukel zwischen den Stößen in Bewegung zu halten. Drei Jahre, in denen ein Leben neu geformt wurde, die Freude wieder Einkehr hielt. Drei Jahre voll Liebe und Lachen, voll Selbstlosigkeit und Wehwehs fortküssen, kleine Fertigkeiten lehren und unzähliger anderer »Mutter«Dinge, die ihrem Leben wieder einen richtigen Sinn gegeben hatten. Die frische, klare Luft war belebend, der Himmel blauer, als er sich den ganzen Winter über gezeigt hatte. Sie knöpfte den alten irischen Fischersweater zu, der Jacks Lieblingsstück gewesen war, und lauschte Codys fröhlichen Glückslauten, die wie Glocken im Spätjanuarwind klangen.
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»Sie liebt Sie, Dona Maggie«, hatte Maria Aparecida beim Frühstück festgestellt. »Das Kind liebt Sie weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Ich bin ihre Freundin, aber die Fasern ihres Herzens sind mit Stahlseilen mit den Ihren verflochten. Sie werden sehen, meine Worte sind wahr.« Maggie wußte, daß es wahr war. Sie und Cody erkannten ihre jeweiligen Bewegungen wie Tänzerinnen... ein Auf und Ab im gegenseitigen Rhythmus. Wenn sie zusammen waren, war die Welt in Ordnung. »Wie sehr doch das Leben von unseren ach so vernünftigen Erwartungen abweicht«, hatte Jack wehmütig gesagt, als er im Sterben lag... er hatte natürlich recht, aber manchmal waren es auch gute Überraschungen. Wie das Ge schenk dieses lachenden, liebenden Kindes, das so unverhofft in ihre Welt gekommen war. »Höher, Mim. Höher!« piepste das Stimmchen kichernd. Doch statt dessen hielt Maggie spontan die Schaukel an und umfing ihre Enkelin mit einer plötzlichen, ungestümen Umarmung. Einen langen Augenblick stand sie da, Cody eng an sich gedrückt, in dem Bedürfnis, zu halten und gehalten zu werden. »Hast du ein Wehweh, Mim?« fragte Cody, bestürzt über die Tränen in Maggies Augen. Mit ihren rundlichen Fingerchen wischte sie eine Träne fort. »Nein, Herzchen«, schwindelte die Großmutter und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich glaube, die Sonne ist mir ins Auge gekommen.« »Ich tu ein Küßchen drauf«, erbot sich das kleine Mädchen, erleichtert, weil sie wußte, wie der Schmerz zu heilen war. Sie drückte ihre süßen Lippen auf Maggies Gesicht und küßte das Wehweh zuversichtlich fort. »Laß uns heimgehen und nachsehen, was Maria uns heute Gutes gebacken hat«, erwiderte Maggie, aufgerichtet von der Liebe des Kindes. »Brownies, hoffe ich.« Sie knöpfte Codys Jacke zu und küßte das Kind auf die samtige Wange. »Ich hab dich lieb, Schätzchen«, sagte sie, und sie meinte es mit jeder Faser ihres Herzens.
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»Ich hab dich auch lieb«, erwiderte das Kind fröhlich, und Hand in Hand machten sie sich auf den Weg nach St. Luke's Place. »Sie ist zu klug, das wird ihr noch mal zu schaffen machen, Dona Maggie.« Maria schüttelte den großen Kopf, eine tiefsinnige Geste, halb Verärgerung, halb Bewunderung. Ihre Haare waren grau wie ein Schlachtschiff und zu einem dicken Zopf geflochten, der auf ihren Rücken fiel, dessen gerade Haltung der West-Point-Militärakademie alle Ehre gemacht hätte. Sie hatte Cody in den Jahren, die sie an ihrer Erziehung mitgewirkt hatte, fest in ihr Herz geschlossen. »Heute hat sie dem Metzger gesagt, er soll die Scheibe Mortadella, die er ihr schenken wollte, den armen Kindern im Waisenhaus geben. Können Sie sich das vorstellen? Als wäre sie vierzig Jahre alt und eine Wohltäterin der Armen.« Maggie lachte, als sie sich die Szene ausmalte. »Sie ist schon ein seltenes Spätzchen, Maria«, sagte sie liebevoll. »Ihre Kindergärtnerin hat mir erzählt, Cody versucht bei Streitigkeiten zwischen den Kindern immer Frieden zu stiften. ›Man könnte meinen, sie säße beim obersten Gericht, Mrs. O'Connor‹«, ahmte sie die Stimme der Kindergärtnerin nach. »›Die anderen Kleinen kommen mit ihren Kümmernissen immer zu ihr. So was hab ich noch nie gesehen.‹« Maria bekreuzigte sich rasch. »Sie hat magische Kräfte, die Kleine. Sie werden sehen, Dona Maggie. Sie hat die Gabe. Einer in meinem Dorf hat sie gehabt... er ist mit der Glückshaube überm Gesicht geboren worden. Das ist das Zeichen, daß jemand die Gabe hat.« Maggie seufzte. »Nur Jenna kann wissen, ob dieses kleine Menschenkind eine Glückshaube hatte, Maria. Und nach so vielen Jahren bezweifle ich, daß sie jemals nach Hause kommen wird, um es uns zu sagen.« »Madam geht jeden Abend voll Kummer ins Bett«, murmelte Maria in aufrichtiger Anteilnahme. »Ohne zu wissen, ob ihre Tochter lebendig oder tot ist.« »Nein, Maria«, sagte Maggie hastig, »sie ist noch am Leben,
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irgendwo.« Das war das einzige, wovon sie überzeugt war. »Ich würde es wissen, wenn etwas Schlimmes passiert wäre.« Der Tod würde die Seelenschnur durchtrennt haben, die sie mit Jenna verband, doch die Schnur zog noch an ihr; sie hielt die Erinnerung am Schwingen, hielt die Hoffnung am Leben. Die Haushälterin bekreuzigte sich und machte rasch das Zeichen gegen den bösen Blick. Ich werde Marias Aberglauben scharf im Auge behalten müssen, wenn Cody alt genug ist, ihn zu verstehen, dachte Maggie flüchtig. Sie hatte nichts gegen die Bauernfrömmeleien der Frau einzuwenden, auch wenn sie ein bißchen extrem waren, aber sie wollte nicht zulassen, daß Cody mit unheimlichen Geschichten geängstigt würde. »Wissen Sie, daß Cody gestern ihr Lunchpaket diesem Obdachlosen am University Place geschenkt hat, Maria?« sagte Maggie. Es war ihr plötzlich wieder eingefallen. »Dem, der in dem Pappkarton haust. Wir waren mit Erdnußbutter- und Marmeladenbroten auf dem Weg zum Spielplatz, als sie ihn erspähte und fand, er sähe hungrig aus. Sie ist so schnell hingeflitzt und hat ihre kleine Tüte in seinen Hut geworfen, daß ich kaum wußte, was geschah.« »Das Herz ist groß, und Sanftheit ist in der Seele«, intonierte Maria ehrfürchtig. »Das ist die beste Gabe: ein großzügiges Herz.« Die Worte der Haushälterin weckten eine weitere Erinnerung aus jüngerer Zeit, und lachend erzählte Maggie ihr die Ge schichte. »Auf dem Spielplatz ist ein kleiner blonder Junge, Maria. Seit ein paar Wochen kommt er jeden Tag zu mir und klettert auf meinen Schoß. Er spielt mit meinen Haaren und schmiegt sein Gesichtchen an meine Brust, dann klettert er hinunter, sagt ›danke ssön‹ zu Cody und geht. Schließlich habe ich sie gefragt, was das soll, und sie hat ganz lieb gesagt: ›Seine Mami hat kurze Haare und einen harten Busen, darum hab ich ihm dich geliehen, damit er kuscheln kann.‹« Beide Frauen lachten; sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, sich gegenseitig Anekdoten von dem Kind zu erzählen. Ihre kleine Familie, so seltsam das nach herkömmlichen Maßstäben scheinen mochte, war ausgesprochen glücklich.
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Cody hielt den verletzten Vogel zärtlich in ihren pummeligen Händchen, die fast zu klein für ihn waren. Der verunglückte Spatz wehrte sich nicht gegen ihren Griff, so daß Maggie glaubte, er wäre tot. »Ich kann ihn heil machen«, sagte Cody mehr zu sich selbst als zu Maggie. »Ich fürchte, das Vögelchen stirbt, sonst würde es sich nicht so von dir halten lassen, Herzchen«, sagte Maggie bekümmert. »Wir können ihn vielleicht nicht retten.« Cody sah ihre Großmutter nachdenklich an wie eine Erwachsene, die zu entscheiden versucht, wieviel sie einem begriffsstutzigen Kind sagen soll. »Ich weiß, wie man das macht, Mim«, sagte sie leise, aber mit absoluter Zuversicht. »Keine Bange. Ich kann kranke Sachen heil machen.« Maggie runzelte verwundert die Stirn; sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Das kannst du, Herzchen?« fragte sie erstaunt. »Wo hast du das gelernt?« Cody lächelte, während sie den Vogel in einer Hand hielt und ihn mit der anderen streichelte. »Das hab ich nicht gelernt, Mim«, erwiderte Cody geduldig. »Ich weiß es einfach.« Ohne weitere Diskussion ging sie auf der Suche nach Maria ins Haus. Nachdem Maggie dem Kind dabei geholfen hatte, es dem Vogel in einem Schuhkarton bequem zu machen, nahm sie ihre Haushälterin beiseite. »Wissen Sie was darüber, von wegen kranke Sachen heilen, Maria?« »O ja, Dona Maggie. Sie hat heilkräftige Hände, das kleine Hühnchen. Haben Sie das nicht gewußt? Wenn der Rheumatis mus in meinem Bein mir große Schmerzen macht, legt sie ihre Händchen darauf, und bald ist der Schmerz wie weggeblasen. Sie werden sehen, morgen wird das Vögelchen fliegen.« Nachdem Maria zu ihren Pflichten zurückgekehrt war, blieb Maggie noch einen Augenblick stehen und überlegte, was sie wegen dieser Phantasterei unternehmen sollte, aber da es nicht schädlich zu sein schien, ging sie einfach an ihre Arbeit.
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5 Das Schulbusgelb ihres neuen Mantels versetzte Maggie in heitere Stimmung. Sie schlang sich einen schwarzweißen Seidenschal mit Hahnentrittmuster um den Hals, band ihn zu einer kecken Schleife und betrachtete sich ein letztes Mal im Dielenspiegel. Nicht übel für eine mittelalterliche Oma, dachte sie grinsend. Die Tatsache, daß das Paar im Park sie gestern für Codys Mutter gehalten hatte, ließ sie sich wieder jung fühlen. In Wahrheit war es Cody, die sie sich wieder jung fühlen ließ und voller Möglichkeiten. Maggie hörte das ausgelassene Gelächter von Cody und Maria Aparecida in der Küche - die Stimme des Kindes, das Kicherlaute in die Luft trillerte, und die der älteren Frau, tief und heiter. Sie waren enge Freundinnen, was es Maggie möglich machte, unbesorgt halbtags im Geschäft zu arbeiten. Und da Amanda Maggies eingeschränkte Arbeitszeit klaglos hinnahm, konnte Maggie einen Teil jeden Tages sowie abends und an den Wochenenden Ersatzmutter sein. Sie überprüfte ihre Handtasche, ob sie alles Notwendige dabei hatte, und ging durch die Eingangstür hinaus, froh, am Leben zu sein. Die schwarze, überlange Limousine hielt genau in dem Moment, als Maggie die unterste Treppenstufe erreichte. Sie betrachtete den Wagen, erstaunt, so eine Luxuskarosse in ihrer Nachbarschaft zu sehen. Jemandes Sohn mußte ein Popstar geworden sein, ohne daß sie es mitbekommen hatte. Ein uniformierter Chauffeur stieg aus, öffnete den hinteren Wagenschlag, um einen gutaussehenden, vierzigjährigen Herrn aussteigen zu lassen. Maggies Neugierde wurde angefacht durch den tadellos geschnittenen, italienischen Anzug und das geschliffene, selbstverständliche Auftreten, das den Mann so europäisch wirken ließ. Er bewegte sich wie ein Polo-Spieler, selbstsicher und an Beachtung gewöhnt. Er erwiderte Maggies Blick mit einem kleinen Lächeln, dann griff er in den abgedunkelten Wagen, um einer jungen Frau mit langen, wohlgeformten Beinen zu einem anmutigen Ausstieg zu verhelfen.
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Groß, gertenschlank, blonde, schulterlang wehende Haare... Maggie hielt erschrocken den Atem an. Die junge Frau war Jenna. »Gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle, Mrs. O'Connor«, sagte der Herr mit einem leicht europäischen Akzent, den Maggie nicht einordnen konnte. »Mein Name ist Eric Vannier. Ihre Tochter hat mir so viel von Ihnen erzählt, daß ich Sie sogar ohne die Fotografie erkannt hätte, die sie bei sich trägt.« Er streckte eine manikürte Hand aus, die Maggie automatisch ergriff. Sie konnte den Blick nicht von ihrer Tochter losreißen. Armani-Kostüm, Hermes-Handtasche, Frisur und Make-up vom Vogue-Titelbild geklaut - und dennoch Jenna. Die grau-grünen Augen, umrahmt von dunklen Wimpern... das blasse ovale Gesicht und die vollen, aufgeworfenen Lippen, alles herzzerreißend vertraut. Unwillkürlich streckte Maggie die Hand aus, um das Mädchen zaghaft zu berühren. Jenna erwiderte die Berührung nicht. »Schön, dich zu sehen, Mutter«, sagte sie verbindlich und warf mit dem nervösen Ruck eines Fohlens, das Fliegen verscheucht, die Haare zurück. »Eric und ich sind gerade von unserer Hochzeitsreise aus Europa zurück und wollen Cody abholen.« Cody abholen... Die Worte trafen Maggie wie ein Schrotschuß. Cody abholenl Als wäre sie ein in der U-Bahn vergessenes Paket, das jetzt im Fundbüro abgeholt wurde. Maggie gab sich Mühe, sich zu beruhigen, um eine passende Antwort zu geben, wie immer diese lauten mochte. Eric, der die Spannung spürte, nahm die Dinge in die Hand. »Wir sind auf einen Familiensitz in Greenwich gezogen, Mrs. O'Connor, keine Stunde von hier. Wir waren sicher, daß Sie Cody weiterhin sehen wollen, deswegen haben wir beschlossen, eine Zeitlang hier in den Staaten zu leben, um den Übergang für uns alle leichter zu machen. Jenna hat mir erzählt, welch ein Engel Sie waren, sich um ihre Tochter zu kümmern, als es ihr nicht gut ging.« Cody sehen... Übergang... eine Zeitlang. Die Worte taumel-
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ten in Maggies Kopf übereinander und verfestigten sich zu einem stummen Schrei. Wer sind diese Leute? Wie können sie auch nur daran denken, Cody fortzuholen? »Ich bin ziemlich erschüttert«, stammelte sie. »Ich habe jahrelang nichts von meiner Töchter gehört. Ich wußte nicht mal, ob sie am Leben war... ob sie jemals wiederkommen würde...« Ihre Worte verloren sich; sie war außerstande, alles zu sagen, was sie meinte. Erics Lächeln war blendend: vollkommene Zähne, vollkommenes Kinn, vollkommenes sicheres Auftreten... aber dahinter lag etwas Unvollkommenes. Maggies überdrehter Verstand schickte sich an, den Makel zu erfassen, aber Jenna unterbrach sie. »Nicht wiederkommen? Wie konntest du so etwas auch nur denken, Mutter? Mir ist es einfach nicht gut gegangen. Du hast doch nicht vergessen, daß ich ein Drogenproblem hatte?« »Vergessen, daß du ein Drogenproblem hattest?« stieß Maggie keuchend hervor. »Bist du verrückt? Natürlich weiß ich, daß du ein Drogenproblem hattest! Warum hättest du sonst ein zehn Tage altes Kind bei mir zurückgelassen und wärst drei Jahre nicht wieder erschienen?« Sie war plötzlich wütend, wütend auf die unerschütterliche Kälte der beiden, auf die Unverschämt heit, mit der sie ihr Leben manipulierten. »Du benimmst dich, als wäre ich ein Schließfach, wo du Sachen hinterlegen und nach Lust und Laune wieder abholen kannst. Glaubst du, deine Tochter ist ein Gegenstand, den du nach Belieben in Empfang nehmen kannst? Verdammt noch mal, wo hast du gesteckt, Jenna? Was hast du mit deinem mistigen Leben angestellt? Warum hast du nicht mal eine Postkarte geschrieben? Du siehst nicht so aus, als hättest du dir die Briefmarke nicht leisten können. Ich denke doch, ich habe hier und jetzt das Recht auf ein paar Antworten, bevor wir davon sprechen, etwas abzuholen, bei dem es sich um mehr handelt als einen leblosen Gegenstand!« Jenna wandte sich an Eric, ihre Ruhe hatte sich in Zorn aufgelöst. »Ich habe dir gesagt, daß sie so reagieren würde, Eric. Egoistisch und abweisend.«
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Das Durcheinander von Stimmen hatte Maria aus dem Haus gelockt; sie stand in der Tür, dicht hinter ihr Cody, die sich an ihr festhielt. Eric war froh um die Ablenkung. »Du bist ja eine atemberaubende kleine Schönheit«, erklärte er Cody mit gespieltem Ernst. »Du hast die wunderbaren Augen deiner Großmutter und das herrliche Haar deiner Mutter.« Das strahlende Lächeln fand den Weg zu Cody, und sie nahm es auf, ohne die Begrüßung zu erwidern. Sie spähte nur hinter Marias massiger Ge stalt hervor, um den fremden Mann zu mustern. Wie in Trance ging Maggie die Treppe hinauf und forderte die Besucher stumm auf, ihr ins Haus zu folgen. »Mim?« flüsterte Cody ängstlich und zupfte ihre Großmutter am Ärmel. »Wer ist die Dame?« Maggie bückte sich zu dem Kind hinunter und rang um Worte; ihr Herz klopfte so heftig, daß sie kaum atmen konnte. »Ich habe eine wunderbare Überraschung für dich, Herzchen«, brachte sie mit gezwungen fester Stimme hervor. »Erinnerst du dich an die vielen Geschichten, die ich dir von deiner schönen Mami erzählt habe? Von der Dame auf dem Bild an meinem Bett?« Sie wartete Codys Nicken ab, bevor sie fortfuhr. »Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, wie lieb sie dich hat und daß sie eines Tages kommen würde, um es dir selbst zu sagen?« Zögernd nickte das kleine Mädchen; eine bestimmte Nuance in Maggies Stimme machte ihr angst. »Mein Liebling«, sagte Maggie sanft, bemüht, die Tränen zurückzudrängen. »Die schöne Dame ist deine Mami.« Auf diese erstaunliche Offenbarung drehte Cody langsam den Kopf herum und sah Jenna eindringlich an. Es war eindeutig ein anerkennender Blick. Und noch etwas anderes lag darin, etwas Undefinierbares. Jenna starrte hingerissen auf das Kind. Sie trat mit ausgestreckten Armen vor, aber Cody wandte den Kopf ab und barg ihn zur Sicherheit an Maggies Busen. Trotz der Abweisung versuchte Jenna entschlossen, Maggie das Kind aus den Armen zu reißen. Cody schrie: »Nein!« und klammerte sich verbissen an Maggie fest.
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Und Maggie klammerte sich ebenso verzweifelt fest. Sie sah, daß Eric die Situation abschätzte. »Es ist ganz natürlich, daß sie bei dir ein bißchen fremdelt, Liebling«, erklärte er mit einer Stimme wie warmes Öl. Er sah sehr gut aus, stellte Maggie fest; die Sinnlichkeit eines spanischen Tänzers, der Hochmut eines Granden. »Das wird sich geben, sobald wir zu Hause sind.« »Zu Hause?« stieß Maggie hervor. »Sie können unmöglich beabsichtigen, sie heute mitzunehmen? Das ist absurd! Dies hier ist das einzige Zuhause, das Cody je gekannt hat!« »Sie ist mein Kind, Mutter, nicht deines«, warf Jenna ein. »Ich habe sie bei dir gelassen, solange ich krank war, nicht für immer. Jetzt bin ich wieder da, und ich will meine Tochter.« Maggie richtete sich auf, das dreijährige Kind, das sich an sie klammerte, eng an ihr klopfendes Herz gedrückt. »Du magst es wollen, Jenna, aber das heißt noch nicht, daß es richtig ist. Es kommt für mich viel zu plötzlich, um damit fertig zu werden, wie kannst du da erwarten, daß ein kleines Kind das verkraftet? Du mußt uns ein bißchen Zeit lassen, um das alles zu verarbeiten.« Sie holte tief Luft, während sie um Ruhe rang. »Sie sagen, Sie haben ein Haus in Greenwich? Und Sie sind verheiratet? Haben Sie noch weitere Überraschungen für mich parat? Etwa, daß Sie der Präsident von General Motors sind oder daß Sie noch heute die Regentschaft in einem Land der Dritten Welt zu übernehmen gedenken?« Maggies irisches Temperament kam nun langsam auf Touren. Eric erwiderte ruhig, um die eskalierende Wut zu entschärfen: »Mrs. O'Connor, ich versichere Ihnen, Jenna und ich verstehen Ihre Überraschung und Ihr Widerstreben, sich von dem Kind zu trennen, an dem Sie offensichtlich hängen. Vielleicht kann ich sie beruhigen, wenn ich Ihnen ein wenig von mir erzähle, damit ich nicht als der geheimnisvolle Fremde erscheine.« Maggie nickte, von seiner Höflichkeit entwaffnet. Sie wies unsicher auf die Couch, und die zwei Besucher setzten sich. »Ich komme aus einer alten, angesehenen Familie in Europa, Mrs. O'Connor...« »Wo genau in Europa?«
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Eric lächelte. »Ursprünglich stammen wir aus dem Mittleren Osten. Aber vor vielen Generationen sind die Vanniers nach Paris übersiedelt, und obgleich wir Bankgeschäfte und philanthropische Einrichtungen in ganz Europa haben, dürfen Sie uns getrost als Pariser betrachten.« Etwas an dieser öligen Glätte, mit der Eric die rohe tierische Gewalt überdeckte, die Maggie in ihm spürte, war beunruhigend. »Wenn Sie mir gestatten fortzufahren, verspreche ich, Sie soweit über meinen Lebenslauf aufzuklären, um wenigstens einige Ihrer Bedenken zu zerstreuen, Mrs. O'Connor. Obwohl unser Familienvermögen hauptsächlich in internationalen Bankgeschäften festgelegt ist, ist mein persönliches Anliegen die Leitung der Vannier-Stiftung, einer ziemlich umfangreichen philanthropischen Einrichtung, die eine Menge Geld an würdige Projekte vergibt. Meine Arbeit bringt es zwangsläufig mit sich, daß ich viel auf Reisen bin, doch, wie bereits gesagt, mit Rücksicht auf Ihre offensichtliche Zuneigung zu dem Kind meiner Frau habe ich mich in einem der Häuser meiner Familie niedergelassen, das nahe genug liegt, so daß Ihr Übergang von der Ersatzmutter- zur Großmutterschaft...«, er lächelte wieder gewinnend, »so absurd die Bezeichnung ›Großmutter‹ auch scheinen mag, wenn man Sie sieht, Mrs. O'Connor... nicht so schmerzhaft ist.« Maggie bedankte sich mit einem kleinen Nicken für das Kompliment und versuchte, sich zu Fairneß zu zwingen. Er war mit Sicherheit gebildet und kultiviert; vielleicht ließ er ja mit sich reden. »Darf ich fragen, wie Sie meine Tochter kennengelernt haben, Mr. Vannier?« erkundigte sie sich. »Als ich sie das letzte Mal sah, schien sie nicht in den Kreisen zu verkehren, von denen Sie sprechen.« »Bitte nennen Sie mich Eric, Mrs. O'Connor. Ich bin immerhin Ihr Schwiegersohn«, erwiderte der Mann, die dunklen Augen sprühend vor Charme. »Und vielleicht darf ich Sie Maggie nennen?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Es ist ein glücklicher Zufall, daß Jenna und ich uns begegnet sind. Ich hatte eine leichte Rückgratverletzung, die ich mir bei einem Reitunfall im
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Central Park zugezogen hatte, und man brachte mich ins Roosevelt Hospital, wo, wie das Schicksal so spielt, zufällig Jenna von ihrer Sucht genas. Zu ihrer Therapie gehörte auch, daß sie innerhalb des Hospitals Pflegedienste leistete und auf verschiedene Art für andere Krankenhauspatienten Sorge trug - ähnlich wie eine Schwesternhelferin, wenn Sie so wollen. Sie war besonders nett zu mir, als ich ruhelos dalag wie ein Tiger in einem Käfig.« Eric lächelte Jenna vielsagend an. »Ich muß sagen, ich war sehr von ihr eingenommen, und sobald ich mich imstande sah, dem Krankenhaus zu entfliehen, bat ich Jenna, mich in unser Chateau in Luzern zu begleiten, um mir während meiner Genesung beizustehen. Jenna sagte, sie habe keine Bindungen, die dies verhindern würden... und der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Wir genasen zusammen... und zu meiner großen Freude sind wir seither zusammengeblieben.« Während dieses ungewöhnlichen Monologs hatte Cody ihren Klammergriff gelockert und saß nun still auf Maggies Schoß, von wo aus sie die übrigen Anwesenden mit beflissener Neugierde betrachtete. Jenna war bemüht, die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich zu ziehen, und Cody musterte ihre Mutter eingehend, doch ohne einen Schritt in ihre Richtung zu tun. »Ich liebe meine Tochter, Mutter«, warf Jenna unvermittelt ein, mit einem flehenden Ton in der Stimme. »Ich liebe sie sehr. Und ich habe sie entsetzlich vermißt. Ich weiß, du hast nicht viel Grund, mir zu trauen, aber du siehst ja, daß es mir jetzt gut geht. Ich bin glücklich verheiratet mit einem wunderbaren Mann, der gut für uns beide sorgen wird. Ich habe endlich die Chance, Cody ein vollkommenes Leben zu bieten. Bitte, bitte, hilf mir, unser Leben so zusammenzufügen, wie es von Anfang an hätte sein sollen... um meinet- und um Codys willen.« Ihre großen Augen glänzten vor Tränen, und Maggie war hin und her geris sen. Wenn Jenna nun wirklich von ihrer Sucht geheilt war? Wenn sie sich wirklich um Cody kümmern konnte und wollte? Was, wenn Cody endlich nicht nur richtige Eltern haben konnte, sondern auch alle Privilegien, die ihr dieser offensichtlich wohlhabende Mann bieten konnte? Sie, Maggie, schuldete
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es allen Betroffenen, daß sie sich bemühte, fair und selbstlos zu sein. Maggie redete Cody zu, auf den Boden zu rutschen, in der Hoffnung, daß sie Jenna irgendein Zeichen von Zuneigung geben möge, aber das Kind war unnachgiebig. »Ich brauche jetzt dringend eine Tasse Tee«, sagte Maggie schließlich, da sie einen Vorwand suchte, um ihnen zu entkommen und alles zu überdenken. »Wenn ihr mich für einen Augenblick entschuldigen wollt, sage ich Maria, sie soll Wasser aufsetzen.« Das Telefon in der Küche, dachte Maggie verzweifelt. Sie wollte John McCarthy anrufen, den Anwalt ihrer Familie, und ihn um Rat fragen. Sie setzte den Kessel auf und flüsterte Maria hastig zu: »Jenna ist verheiratet. Sie sind gekommen, um das Kind abzuholen.« »O meu Deus! Senhora...« Maggie konnte dem Wortschwall nicht folgen, aber der Tonfall ließ keinen Zweifei an dem Sinn. »Sie können eine solche Sünde nicht zulassen, Dona Maggie. Das ist Teufelswerk!« »Maria!« sagte Maggie scharf; die Anspannung war ihrer Stimme anzumerken. »Wir wollen wenigstens versuchen, vernünftig zu bleiben. Bitte.« Sie wählte die Nummer, während sie sprach. »John, Gott sei Dank, daß du da bist!« flüsterte sie, als der Anwalt abnahm; sie waren seit Jahren gute Freunde. »Ich brauche einen klugen Rat, und zwar rasch. Jenna ist aus heiterem Himmel zurückgekommen, und sie will mir Cody wegnehmen. Sie ist mit einem reichen Europäer verheiratet, und sie haben ein Haus in Greenwich, und... O mein Gott, John, sie wollen das Kind heute mitnehmen... jetzt gleich! Was soll ich tun?« »Als erstes sollst du dich so weit beruhigen, daß ich verstehe, was du mir erzählst, Maggie. Fangen wir einfach von vorne an. Jenna ist wieder da, und weg von der Nadel, nehme ich an? Okay. Und verheiratet. Das kompliziert die Lage erheblich, vor allem, wenn sie reich ist. Das Gesetz ist in diesem Fall sehr eindeutig, Maggie, das Kind gehört Jenna. Die Kleine war nur wegen der Unfähigkeit ihrer Mutter bei dir, aber wenn Jenna jetzt
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gesund ist... imstande, für Cody zu sorgen... würde ich sagen, du mußt sie ihr überlassen.« Maggie sank der Mut. »O John, ich weiß einfach nicht, was hier richtig ist. Wenn Jenna wirklich gesund und clean ist, dann soll sie Cody natürlich haben... egal, wie sehr es mir das Herz bricht. Ich weiß, das ist richtig. Aber sie sind beide Fremde für sie. Cody kennt sie überhaupt nicht! Sie fürchtet sich. Ich kann sie nicht einfach mit Jenna zur Tür hinausgehen lassen. Woher weiß ich, daß Jenna clean ist... woher weiß ich, daß der Mann kein Hackebeil-Mörder ist? Was ist hier richtig, John? Das Ge setz kann mich mal - ich rede von Recbt!« Sie hörte ein leises pfeifendes Ausatmen am anderen Ende der Leitung. »Wenn du mich als Vater fragst und als jemanden, der das Betragen deiner Tochter in den letzten paar Jahren mitbekommen hat, Maggie, würde ich meinen, richtig wäre, ihnen zu sagen, sie sollen dich am Arsch lecken. Wenn du mich nach meinem Rat als Anwalt fragst, muß ich dir sagen, sie haben das Recht voll und ganz auf ihrer Seite. Herrgott, Maggie, um der leiblichen Mutter das Sorgerecht zu entziehen, mußt du praktisch beweisen, daß ein Kind zweimal täglich in siedendes Öl getaucht wird... und theoretisch ist das ein gutes Gesetz. In der wirklichen Welt... in diesem Fall... wer, zum Teufel, weiß, was richtig ist? Rechtsanwälte wissen es bestimmt nicht, das kann ich dir versichern. Ich kann dir nur eines sagen: Wenn sie die Polizei holt und sagt, daß sie Cody will, wirst du ihr das Kind überlassen müssen.« Maggie legte den Hörer auf und wischte sich die Tränen der Enttäuschung aus den Augen. Sie sah Maria in der Wohnzimmertür stehen und Eric mit abschätzendem Blick mustern. Sein weltmännischer Charme schien sich nicht auf Hausgehilfinnen zu erstrecken. »Holen Sie den Mantel des Kindes!« herrschte er die Frau an. O Gott, sie gehen! Maria Aparecida verschränkte die Arme vor ihrer mächtigen Brust, zog ihre Frida-Kahlo-Augenbraue hoch und rührte sich nicht vom Fleck, während sie auf ein Zeichen von Maggie wartete. »Ich flehe dich an, Jenna«, sagte Maggie und sah ihrer Toch-
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ter ins Gesicht. »Denk doch zuerst mal an Cody! Sie ist ein sensibles kleines Mädchen, und ihr seid Fremde für sie. Können wir uns nicht auf einen sanften Übergang einigen, der ihr Zeit läßt, euch beide kennenzulernen? Ich könnte sie an den Wochenenden zu euch bringen, oder ihr könntet sie hier besuchen... Ich bin bereit, euch in allem entgegenzukommen, das euch hilft, euch gegenseitig lieben zu lernen.« »Leider verhätschelt ihr Amerikaner eure Kinder maßlos, Maggie«, warf Eric ihr vor. »In Europa sind wir der Ansicht, je strengere Regeln und Vorschriften wir für die Kleinen aufstellen, um so leichter ist es für sie, sich zu fügen. Verhaltensnormen, Disziplin... soweit ich das hier beobachtet habe, legen Sie in Amerika wenig Wert auf diese Dinge.« »Aber wir legen großen Wert auf Liebe und Mitgefühl«, erklärte Maggie barsch. »Vielleicht wiegt das unsere anderen Defizite auf.« Erics Lächeln verblaßte. »Wie dem auch sei, Maggie«, fuhr er unbeirrt fort, und seine Stimme war um einige Grade kühler als vorher, »meinen ersten Doktortitel habe ich in Jura erworben, und ich versichere Ihnen, wie unterschiedlich unsere Ansichten über Kindererziehung auch sein mögen, das Gesetz wird dafür sorgen, daß Jenna und ich Cody aufziehen... nach unseren eigenen Vorstellungen. Sie scheinen eine Zeitlang eine durchaus akzeptable Ersatzmutter gewesen zu sein, aber dieser Ersatz ist nun nicht mehr erforderlich. Die richtige Mutter ist da und will ihr Kind. Um Ihret- und um Codys willen, versuchen Sie nicht, sich uns in den Weg zu stellen, sonst werden Sie uns schlicht und einfach zwingen, Cody Ihrer Einflußsphäre auf Dauer zu entziehen.« Eric ließ die Drohung so unheilvoll im Raum schweben, daß Maggie sich eine scharfe Erwiderung verkniff und den Drang unterdrückte, ihn gegen das Knie zu treten. Sie starrte Eric an, dann Jenna, aber es war offensichtlich, daß sie von dieser Seite keine Unterstützung erhalten würde. »Ich ziehe Cody an«, sagte sie heiser, die sich sträubenden Worte kaum hervorbringend. »Maria wird ihre Sachen packen,«
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Unter einer Flut von Flüchen packte Maria den kleinen Koffer. Maggie verstand nur »ungebildet von Vater- und Mutterseite« und »räuberischer Ochse«, während sie dastand, Codys Hand umklammerte und fühlte, wie die Angst des Kindes ihre eigene anfachte. O Gott, das kann ich nicht tun. Ich kann sie nicht von ihnen ins Nirgendwo bringen lassen. Nicht mehr mit ihr lachen, ihre Verletzungen verarzten, das kann ich nicht. O himmlischer Vater, woher wollen sie wissen, daß sie ohne ihr zerknülltes Kis sen nicht schlafen kann? Werden sie beachten, daß sie von Haferschleim Ausschlag bekommt oder daß die Katze Yehudi auf ihrem Bett schläft? »Ich kann die Frau nicht leiden«, sagte Cody leise. »Der Mann hat böse Augen.« Maggie bekämpfte die Tränen und zwang sich, um Codys willen tapfer zu sein. »Hör mir zu, mein Liebes«, bat sie. »Du mußt mir jetzt zuhören! Deine Mami hat dich vor langer, langer Zeit in meiner Obhut gelassen...« Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Kehle stiegen, und drängte sie zurück. »Sie war damals sehr krank und konnte sich nicht um dich kümmern, deshalb bat sie mich, dich hier zu behalten. Und ich habe es getan und liebe dich von ganzem Herzen. Jetzt ist sie wieder gesund, Engelchen, und sie hat dich die ganze Zeit vermißt, und sie will, daß du nach Hause kommst.« »Zuhause ist hier!« sagte Cody entschieden; Maggie drehte es den Magen um. »Ja, Herzchen, dies wird immer dein Zuhause bleiben, aber deine Mami hat ein hübsches neues Haus, wo sie mit dir wohnen will.« »Kannst du mitkommen und auch da wohnen?« »Nein, Liebes. Ich muß hier bei Maria bleiben.« »Ich will auch hier bleiben!« Maggie sah den Widerwillen in Codys Augen. »Bitte schick Cody nicht weg, Mim«, flehte sie, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Bitte laß mich nicht mit den bösen Leuten gehen. Ich hab dich lieb. Ich will brav sein!« Sie begann zu schluchzen, und Maggie warf Maria, deren strenges Gesicht schon tränenüberströmt war, einen Blick zu und faßte einen Entschluß. Sie würde den Kampf aufnehmen,
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wenn es sein mußte, aber sie würde nicht zulassen, daß sie das Kind mitnahmen. Zumindest nicht heute. Maggie hielt Cody eng an sich gedrückt, als sie die Treppe hinunterging. Sie konnte das Herz des kleinen Mädchens gegen ihr eigenes schlagen hören. »Jenna, Eric«, begann sie, während sie Cody an sich drückte. »Bitte versucht zu verstehen, was ich sagen werde, denn es ist sehr, sehr wichtig. Ich glaube, Cody gehört zu ihrer Mutter, wenn Jenna imstande ist, für sie zu sorgen - aber dies ist nicht der richtige Weg, das in die Tat umzusetzen. Ihr müßt sehen, wie erschütternd und schwierig es für mich und Cody ist... sie hat nie ein anderes Zuhause als dieses gekannt, keine andere Familie als mich und Maria...« »Genau deswegen sind wir hier, um das zu beheben«, warf Eric seelenruhig ein. »Den Abschied zu verlängern macht ihn nicht leichter, Maggie.« »Warum muß es ein Abschied sein?« wollte Maggie wissen. »Warum können Sie sie nicht einfach lernen lassen, Sie zu lieben, bevor Sie sie von allem fortholen, was ihr Geborgenheit gibt?« Was dann kam, geschah so schnell, daß es nur ein gespenstischer Schatten war. Cody schlang Arme und Beine um Maggie und begann zu schreien, als Jenna versuchte, sie Maggie aus den Armen zu reißen. Cody, in Todesangst und trotzig, schlug Jenna mitten aufs Kinn, und Eric, der auf eine Gelegenheit zum Eingreifen gewartet hatte, zerrte die Kleine von den beiden Frauen fort. »Nein!« schrie Maggie. »Nicht!« Aber Eric stürmte schon zur Tür hinaus. »Sie ist erst drei. Sie versteht nicht, warum Sie das tun!« »Sie wird es verstehen, Maggie«, rief er über die Schulter und spurtete die Treppen hinunter, während Cody verzweifelt in seinen Armen zappelte. Maggie lief hinter ihnen her, versuchte das Kind zu packen, aber Eric und Jenna waren zu schnell für sie; mit quietschenden Reifen entfernte sich der riesige Wagen vom Randstein. Maggie
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sah, daß Cody fassungslos ihr Gesicht ans Rückfenster preßte und lautlos schluchzte. Mit einem Gefühl, als habe man ihr das Herz aus der Brust gerissen, umklammerte Maggie das Verandageländer, wie betäubt, blind von Tränen und ohne die Blicke der Passanten zu beachten. Sie ließ sich auf die Treppenstufen sinken, stützte den Kopf in die Hände und weinte.
6 Dreißig Tage waren vergangen, seit die Tiffany-Karte von Jenna gekommen war, mit einem Absender in Greenwich und der Ermahnung, sich einen Monat lang fernzuhalten, »damit Cody sich an ihre neue Umgebung gewöhnen kann«. Maggie prägte sich die Wegbeschreibung ein, die sie mit Tesafilm an das Armaturenbrett ihres Volvo geklebt hatte. Sie bog von der I-95 auf die Roundhill Road ab und schaltete den Kilometerzähler auf Null zurück, damit sie die viereinhalb Kilometer bis zur nächsten Abbiegung ablesen konnte. An der Ampel links, nach der Kirche wieder links, und sie befand sich im Pferdeland. Winzige Knospen versuchten gegen die graubraune Kahlheit des Winters anzukämpfen, mit geringem Erfolg, aber der kalte Wind war nicht mehr ganz so schneidend. Unter normalen Umständen würde sich Maggie an der spätwinterlichen Landschaft und der Luft von Connecticut erfreut haben. Heute zählte nur eines: Cody war irgendwo hinter der nächsten Straßenbiegung. Cody, deren geliebte Stimme sie einen Monat nicht gehört hatte, würde bald wieder in ihren Armen sein; lachend und plappernd würde sie die Befürchtungen zerstreuen, die sie seit dem entsetzlichen Moment von Jennas Rückkehr Tag und Nacht geplagt hatten.Wie tragisch, daß ein Wiedersehen, das ein freudiges hätte sein sollen, so schiefgegangen war. Es mußte einen Weg geben, die Wunden zu heilen. Jedes Kind gehört zu seiner Mutter, hatte sie sich seit der grauenhaften Trennung zehntausendmal vorgesagt. Wenn Jenna gesund war, wie es den Anschein hatte, würden sie und Cody einander lieben und gut zueinander sein, wie Gott es vor-
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gesehen hatte. Und Maggie würde eine Großmutter wie andere Omas sein. Sie würde das Kind in den Spielwarengeschäften verwöhnen. Sie würden zusammen in den Tierpark gehen und ins naturgeschichtliche Museum. Sie würde Cody unterweisen und ihr Enkelkind nachsichtig lieben, wie es andere Großmütter taten, ohne die Schwierigkeiten oder die Verantwortung der Elternschaft. Maggie zählte all diese vollkommen vernünftigen Argumente zum -zigsten Mal auf und fühlte sich kein bißchen besser. Für Cody zu sorgen war mehr Segen als Verpflichtung gewesen; sie würde sie vermissen bis zum Tage ihres Todes. Sie seufzte und kurbelte das Fenster herunter, um sich von der kalten Luft den Kopf abkühlen zu lassen. Es geht nicht um dich, Maggie, ermahnte sie sich. Es geht darum, daß Cody ein glückliches Leben genießt. Solange sie es nur gut hat, sagte sie laut zu der üppigen Landschaft, bemüht, ihren Lebensgeistern Auftrieb zu geben. Nur das zählt. Die Gegend hatte sich verändert. Die dicht nebeneinanderstehenden großen Häuser waren weitläufigen eleganten Wohnsit zen gewichen. Maggie überprüfte die Entfernung und kam zu dem Schluß, daß die riesigen Eisentore unmittelbar vor ihr das Anwesen der Vanniers sein mußten. Sie schienen unverschlossen und unbewacht. Eine lange kurvige Zufahrt wand sich nach rechts und verschwand in Weymouth-Kiefern und Ahornbäumen, die das Grundstück bis hin zur Bucht bewaldeten. Maggie lenkte den Volvo über die Zufahrt, bis vor ihr ein Haus aufragte - »Haus« war allerdings kaum die passende Bezeichnung für die Villa, die nach der letzten Biegung sichtbar wurde. Hinter einem Rasen, der so gepflegt war, daß er aussah wie das achtzehnte Grün im St.-Andrews-Golfclub, stand ein französisches Chateau aus spätgotischer Zeit. Erlesen gestaltete Türmchen, Mansardendächer und Balkone mit steinernen Balustraden verliehen dem Ort das gespenstische Aussehen einer Festung aus einem früheren Jahrhundert. Das Unsterblichkeitsstreben eines übergeschnappten Räuberbarons, dachte Maggie. Also wirklich! Maggie parkte mitten auf der kreisförmigen Auffahrt, ver-
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blüfft über die unerwartete Grandiosität des Anwesens. Das Eisentor vor der zweieinhalb Meter breiten Flügeltür am Eingang trug nicht dazu bei, ihre Verblüffung zu mildern. Verwundert betätigte sie das schallende Glockenspiel, dann betrat sie den Marmorfußboden der Halle und reichte einem uniformierten Hausmädchen ihren Mantel. »Madam empfängt Sie im Ostsalon«, sagte das Mädchen im Flüsterton und bedeutete Maggie, ihr durch eine Flucht von eleganten Räumen zu folgen. Die unheilvolle Stille erfüllte sie mit Bangen; hier gab es keine Anzeichen von Leben oder Lachen. Wo waren die Kinderlaute in diesem Mausoleum? Wo die kleinen Fingerabdrücke an den Wänden? Eine Uhr schlug aufdringlich und erschreckte sie, und sie konzentrierte sich nun stärker auf den Raum, in den das Mädchen sie geführt hatte. Ihr geübter Blick erfaßte eine exquisite Sammlung von Kulthaken aus Neuguinea und eine Vitrine mit malaiischen Dolchen; über dem Türbogen prunkte ein Kulthaus-Fenstersturz, und sie erinnerte sich, daß die Stämme vom Sepik-Fluß, die solche Bilder schnitzten, Kannibalen waren. Eine höchst ungewöhnliche Sammlung für einen Ort wie Greenwich. Eine Anzahl seltsamer Geräte aus Metall und Leder in einer Glasvitrine zog ihre Aufmerksamkeit auf sich; sie kamen ihr entfernt bekannt vor, aber außer Daumenschrauben fiel ihr nichts ein, was sie hätten sein können, und das war absurd. »Guten Morgen, Mutter«, schreckte Jennas Stimme sie auf. Sie hörte sich an, als hätte sie bei Katherine Hepburn Sprechunterricht genommen. Maggie drehte sich um und sah ihre eigene Tochter, elegant in einem maßgeschneiderten Ungaro-Kostüm, den Raum betreten. Die hochhackigen Schuhe, Strümpfe, Schmuck, alles war ausgesucht, aber seltsam förmlich für diese frühe Stunde. »Du siehst so... erwachsen aus, Jenna«, sagte Maggie, von der Erscheinung verwirrt. »Es fällt mir schwer, dich in meiner Vorstellung als Teenager zu sehen, als den ich dich in Erinnerung habe, und jetzt... bist du so elegant.« Sie lächelte und ging zögernd auf ihre Tochter zu; Jenna ließ sich ohne Begeisterung umarmen. Maggie holte tief Luft und versuchte es noch einmal.
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»In all den Jahren habe ich immer daran geglaubt, daß du eines Tages nach Hause kommen würdest, mein Herz, aber ich habe mir nicht vorgestellt, daß du so voller Überraschungen heimkehren würdest.« »Ich führe jetzt ein wunderbares Leben, Mutter«, erwiderte Jenna, aber Maggie hörte keine Freude in den Worten. »Das Haus ist ja riesig, Liebes. Du, Eric und Cody, ihr müßt bestimmt eine Spur aus Brotkrumen streuen, um abends in eure Zimmer zu finden.« Jenna entspannte sich ein bißchen. »Es sind gut fünfzig Räume... ich habe sie noch nicht alle gesehen. Erics Großvater hat das Haus vor der Jahrhundertwende gebaut, es ist die Nachbildung einer Villa, die sie im Loiretal besitzen.« »Und die Sammlungen sind erstaunlich«, tastete sich Maggie weiter vor; sie fragte sich, ob Humor die Spannung lockern würde. »Wer hat sie arrangiert... Torquemada? Daumenschrauben sammelt nicht jeder, weißt du.« Jenna blinzelte, unsicher, wie sie reagieren sollte. »Erics Vater und Großvater sind in der ganzen Welt auf die Jagd gegangen, Mutter. Sie haben von überall die Gerätschaften mitgebracht. Ich werde Eric bitten, dich herumzuführen.« »Und wie kommt Cody mit der Pracht zurecht?« Sie hört sich clean und klar an, dachte Maggie unbehaglich. Wieso sträuben sich meine Nackenhaare? »Erzähl mir von Eric, Jenna. Bist du glücklich mit ihm?« »Eric ist klug und charmant, Mutter. Er befaßt sich mit ungewöhnlichen Projekten. Er ist ein wunderbarer Ehemann und Vater. Cody betet ihn an.« Sie spricht genau wie die Frauen von Stepford, dachte Maggie verstört. Wie ein aufgezogenes Spielzeug. Wo waren die mädchenhaften Beteuerungen der Liebe und Bewunderung? O Mom, er ist wunderbar! Hast du die süßen Grübchen gesehen, wenn er lacht? Und es war keine Einbildung, daß Jennas Pupillen leicht geweitet waren. »Ich bringe dich ins Kinderzimmer, Mutter. Dann kannst du selber sehen, wie gut Cody es hat.« Jenna schwebte vor ihr her, ein gespenstisches Wesen in den stillen Räumen.
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»Das Kinderzimmer ist im Westflügel«, erklärte sie im Gehen. »Erics Familie hat einen ganz bestimmten Verhaltenskodex für Kinder und alle möglichen Regeln und Vorschriften für ihre Erziehung. Das muß natürlich sein - in ihren Kreisen erwartet man von Kindern von klein auf perfektes Benehmen.« Maggie verkniff sich die Bemerkung, die ihr in den Sinn kam, und folgte Jenna durch eine Anzahl aufwendig dekorierter Räume; ein jeder enthielt Kunstwerke und Gegenstände von unschätzbarem Wert. Ein Gemälde, in dem Maggie einen Raphael zu erkennen glaubte, zierte einen Flur, ein Tizian und ein Goya hingen in einem anderen. Es waren alles erlesene Gemälde, aber Maggie fand ihre Themen bedrückend. »Die Bibliothek wird dir gefallen, Mutter«, bemerkte Jenna, als sie zu einem höhlenartigen, über zwei Stockwerke reichenden Raum kamen, der vom Fußboden bis zur Decke mit ledergebundenen Büchern gesäumt war. Maggie trat staunend in die prächtige Bibliothek; ihr Blick wurde von einem antik aussehenden Band in einer Glasvitrine angezogen. Sie blieb stehen, um ihn zu betrachten. »Das ist doch nicht etwa ein Clavicule de Salomon, Jenna?« fragte sie verblüfft. Das einzige Exemplar, von dessen Existenz sie wußte, hatte den Borgias gehört. »Ich meine, es muß eine Kopie sein... das Original wäre unbezahlbar! Ich glaube, sie sind seltener als Gutenberg-Bibeln.« »Wenn du Genaueres wissen willst, mußt du Eric fragen, Mutter, aber ich bezweifle, daß sie hier etwas anderes als Originale haben. Mein Mann mag keine Fälschungen.« Was muß er dann von dir denken, fuhr es Maggie durch den Kopf, aber dann ärgerte sie sich über sich selbst wegen eines so unwürdigen Gedankens, und sie sagte nichts. Sie gingen am Ende des Flügels eine Treppe hinauf und betraten einen riesigen Kindertrakt. »Das ist kein Kinderzimmer, Jenna«, sagte Maggie erschrocken. »Das ist eine ganze Welt.« »Ja, nicht wahr? Zum Kindertrakt gehören ein Andachtsraum, ein Schulzimmer und eine kleine Bibliothek. Sogar eine Küche und ein Eßzimmer. Alles in sich geschlossen.«
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»Und sehr weit entfernt vom übrigen Haus.« »Eric möchte nicht gestört werden, wenn er arbeitet.« »Ich verstehe. Und wann bekommt Cody dich und Eric zu sehen? Bei den Mahlzeiten... tagsüber?« »Cody nimmt ihre Mahlzeiten natürlich hier ein. Sie ist viel zu klein, um ins Speisezimmer zu dürfen.« Sie bogen um eine Ecke, und plötzlich sah Maggie Cody in einem Fleck aus blassem Sonnenlicht auf dem Fußboden sitzen und eifrig in einem Buch malen. »Herzchen!« rief sie aufgeregt und breitete die Arme aus. Cody sah auf; ein Ausdruck der Freude und Erleichterung überströmte ihr kleines Gesicht, dann verging er wie die zurückweichende Flut. Das Kind stand auf und trat mit ernstem Gesicht auf sie zu; Spannung lag in jeder Bewegung. Maggie lief hin und hob sie in ihre liebenden Arme. »Ich hab dich so vermißt, Kindchen!« flüsterte sie in Codys Haare, während sie sie umarmte. »Ich habe jede Minute an dich gedacht, und ich hab dich die ganze Zeit vermißt! Laß dich anschauen, mein Engel. Du mußt mir alles ganz genau erzählen, was du in deinem neuen Leben erlebt hast...« Maggie fühlte den kleinen Körper in ihren Armen steif werden. Der Kopf ging ruckartig hoch, und der Blick des Kindes wanderte zur Türschwelle. Eine gewaltige dunkelhäutige Frau war ins Kinderzimmer getreten. Sie war über einen Meter achtzig groß, und der Eingeborenen-Kopfputz, den sie trug, ließ sie noch größer wirken. Sie hatte eine majestätische Haltung und brennende schwarze Augen, die auf das Kind in Maggies Armen gerichtet waren. An ihrer Seite waren zwei mächtige Rottweiler, still und bedrohlich. Cody entwand sich Maggies Umarmung und stellte sich vor die Frau hin, in einer Art stummer Habachtstellung, wie in Erwartung von Befehlen. »Mutter, das ist Ghania, Codys Kindermädchen«, sagte Jenna hastig. »Sie ist aus Madagaskar, und sie ist seit Jahren in Erics Familie. Sie war auch Erics Kindermädchen und hat ihn vom Säuglingsalter an aufgezogen. Es ist ein großes Glück für uns, daß wir sie für Cody haben.«
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Wie alt die Frau wohl sein mag? fragte sich Maggie automatisch. Wenn sie Eric großgezogen hat, der vierzig sein muß... Ghania wirkte alterslos wie eine Nordatlantik-Klippe. Und genauso umgänglich. »Guten Tag, Ghania«, sagte Maggie höflich, aber sie dachte verzweifelt: O mein armes, liebes Kind, was soll aus dir werden in der Obhut dieser Frau? »Ich grüße Sie, Madame«, antwortete Ghania. Ihre volltönende Stimme war gefärbt von dem Malagassi-Französisch ihrer Inselheimat. »Ich habe meine Enkelin so vermißt«, sagte Maggie. »Ist es ihr gut gegangen?« Was sollte man nur zu einem solchen Wesen sagen? »Ja. Wenn nicht, hätte ich sie instand gesetzt.« »Wie einen Queen-Anne-Stuhl?« versetzte Maggie aufgebracht. Aber die Kinderfrau hatte keinen Sinn für Humor; sie machte eine Handbewegung, und Cody trat gehorsam an ihre Seite wie ein Hund, der auf Handzeichen abgerichtet ist. Das ist ganz bestimmt nicht Mary Poppins, dachte Maggie verzagt. Das Kind drehte sich zögernd um. Ohne eine Erlaubnis abzuwarten, durchquerte Maggie das Zimmer und hob sie hoch, bevor Ghania einschreiten konnte. »Laß uns ein Weilchen draußen spielen, mein Liebes«, sagte sie. »Das Kind muß jetzt ausruhen«, wandte die Kinderfrau ein. »Das Kind muß mit seiner Großmutter spielen«, entgegnete Maggie liebenswürdig und ging zur Tür. Sie sah mit Erleichterung, daß ihre Tochter ihr folgte. Im Laufe des Tages probierte es Maggie auf dutzenderlei Art, auf einer menschlichen Ebene zu Jenna durchzudringen, doch alle Türen und Fenster ihres Herzens schienen verschlossen. Die Fassade war schön, aber wer wohnte hier? Worin ihr Leben hier bestehe? fragte Maggie sie. Ob sie einen Therapeuten oder Berater habe, der ihr helfe, clean zu bleiben? Was Jenna den ganzen Tag treibe? Ob sie ihre früheren Freundinnen noch sehe? Maggie stellte die Fragen, und Jenna parierte sie teilnahmslos. Es bestand nur eine oberflächliche Beziehung zwischen Mutter
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und Tochter, und was Jenna über Eric sagte, klang wie eine auf Band aufgezeichnete Aussage. Maggie und Ghania waren über nahezu jeden Aspekt von Codys Tagesablauf uneins. Sie dürfe nicht mit anderen Kindern spielen, wurde der Großmutter erklärt. Ein Kindergarten komme nicht in Betracht. Die Kinderfrau habe ihre einzige Lehrerin und Gefährtin zu sein. Jenna hielt uninteressiert Distanz und gab Ghania in allen Punkten recht. Hältst du jemals deine kleine Tochter im Arm und dankst Gott dafür, daß es sie gibt auf dieser Welt? hätte Maggie ihre Tochter gerne gefragt, aber sie tat es nicht. Spielst du mit ihr und lachst mit ihr und bringst ihr bei, was sie wissen muß, um glücklich zu sein? Oder führt Ghania jetzt das Regiment über jede Sekunde von Codys Leben? Der Gedanke ließ sie frösteln. »Findest du Ghania nicht ein bißchen streng?« fragte sie schließlich. »Sie ist ein ausgezeichnetes Kindermädchen, Mutter«, erwiderte Jenna obenhin. »Codys Manieren sind jetzt tadellos, nach nur einem Monat. Und sie ist nicht mehr so verwöhnt.« Maggie nahm den Hieb kommentarlos hin; wenn sie den Kontakt mit Cody vollständig verlöre, würde das kleine Mädchen verschluckt in dieser einsamen Welt ohne Lachen, einer Welt von Müttern, die sich schick anzogen, um nirgends hinzugehen, von Vätern, die sich von Kinderlärm gestört fühlten, und Kindermädchen, die aussahen, als sollten sie die Kinder der Addams Family hüten. Den ganzen Nachmittag kämpfte Maggie, um die seltsame Reserviertheit, die sie bei Cody bemerkte, zu durchbrechen; sie spielte alle ihre alten Spiele und sang ihr die irischen Lieder vor... wie eine Therapeutin, die ein Opfer von Gedächtnis schwund mit vertrauten Szenen zurücklockt. Im Verlauf des Tages schien das Kind der Cody, die sie in Erinnerung hatte, ein bißchen ähnlicher zu werden. Und dann war es Zeit zu gehen. Maggie zögerte das Abschiednehmen hinaus; sie war keineswegs erleichtert durch das, was sie gesehen hatte, sondern beunruhigter als bei ihrer Ankunft. Cody stand folgsam neben Ghania und starrte Maggie an, die
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sich zum Gehen anschickte; die Verzweiflung im Blick des Kindes spiegelte ihre eigene wider. Maggie bückte sich, um ihr einen Abschiedskuß zu geben, hielt sie länger als nötig im Arm, hauchte jeder Zelle des kleinen Körpers ihre eigene Kraft ein. Sie empfand es als Verbrechen, Cody an diesem beängstigenden Ort zurückzulassen, aber sie sah keine andere Möglichkeit. »Ich hab dich lieb, mein Käferchen«, sagte sie, und noch einmal hob sie Cody auf die Arme und drückte sie fest an sich. »Ich muß jetzt gehen, aber ich verspreche dir, ich komme ganz, ganz bald wieder.« Die kleinen Armchen umfaßten Maggie entschlossen. »Nimm mich mit, Mim!« flüsterte das Kind seiner Großmutter eindringlich ins Ohr. »Bitte bring mich nach Hause. Sie tun Cody weh.« Maggies Magen verkrampfte sich; das waren die Worte, die sie und Maria immer benutzten, wenn Cody sich den Kopf gestoßen oder das Knie aufgeschrammt hatte. Hat was Böses Cody weh getan? Keine Bange, wir geben ein Küßchen drauf und machen es wieder gut. »Du solltest wirklich versuchen, dem Berufsverkehr zuvorzukommen, Mutter«, drängte Jenna, während sie einen bedeutungsvollen Blick auf die Patek-Philippe-Uhr an ihrem Handgelenk warf. Sie streckte die Hände aus, um ihrer Mutter das Kind aus den Armen zu nehmen; Maggie und Cody ließen beide mit Widerstreben los, und Maggie war nur bis zur Tür gekommen, als es geschah. »Mim!« schrie Cody in jäher Verzweiflung und riß sich von Jenna los. Sie lief Maggie nach und umklammerte ihre Beine mit eisernem Griff. »Laß mich nicht hier!« schrie sie. »Sie tun Cody weh!« Ghania bewegte sich mit einer für eine so große Frau unglaublichen Behendigkeit. Sie durchquerte den Raum mit einem einzigen langen Schritt und zerrte Cody mit einer so grimmigen Verrenkung aus Maggies Armen, daß Maggie loslassen mußte, wollte sie verhindern, daß das Kind entzweigerissen wurde. »Hilf mir, Mim! Hilf mir!« schrie Cody und hieb mit ihren kleinen Fäusten und Füßen auf Ghania ein, als die Frau sie forttrug.
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»Bitte, Jenna! Tu das nicht!« flehte Maggie unter aufsteigenden Tränen. »Laß sie für ein Weilchen wieder mit mir nach New York kommen. Sie fehlt mir so sehr. Ich bringe sie dir in ein, zwei Tagen zurück. Bitte, Jenna. Sie ist ja ganz durcheinander!« Ihre Worte gingen fast unter in Codys Schreien. »Ich denke, es ist das Beste, wenn du jetzt gehst, Mutter«, erwiderte Jenna eisig. »Jenna, bitte! Sie muß getröstet werden«, bettelte Maggie. »Laß mich wenigstens versuchen, sie zu beruhigen.« »Mim! Hilf mir!« Codys Schreie hallten durch den langen Flur. Sie klangen weit entfernt. »Guter Gott, Jenna!« flüsterte Maggie wütend, erschüttert. »Ist das wirklich nötig?« »Wenn Ihre Besuche dem Kind solche Qual bereiten, Mrs. O'Connor«, unterbrach eine Männerstimme, und als Maggie sich umdrehte, sah sie, daß Eric ins Zimmer getreten war. Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, seine Züge waren zerfurchter. »Wir werden Sie leider nicht mehr einladen können, wenn Sie eine so verstörende Wirkung auf sie ausüben.« »Wie können Sie es wagen, mir zu drohen«, fauchte Maggie; ihr war speiübel von der makabren Situation. »Ich habe sie nicht verstört. Sie vermißt mich einfach! Ich bin die einzige Angehörige, die sie je hatte... sicher können Sie verstehen, daß sie mich vermißt, wie ich sie vermisse.« »Und sicher können Sie verstehen, daß eine solche Aufregung nicht gut ist für die Verfassung des Kindes. Ich habe Ihnen nicht gedroht, Mrs. O'Connor, ich hatte nur Codys Wohl im Auge.« »Und was ist mit ihrem seelischen Wohl? Wie steht es mit dem Verlust, den sie empfindet, weil ihre Welt auf den Kopf gestellt wird?« »Sie wird es überwinden.« Es gab nichts mehr zu sagen und keinen Grund, noch eine Minute länger zu bleiben. Nachdem Maggie gegangen war, saß Cody mit ängstlicher, aber trotziger Miene in dem nüchternen Kinderzimmer auf ihrem Bett. Sie konnte Ghania mit dem Mann, den sie, wie Mami
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sagte, Daddy nennen sollte, in der Tür sprechen sehen, aber das kümmerte sie nicht. Sie wollte zu Mim! Was sie auch sagten oder was sie ihr auch antaten, sie wollte zu Mim. Zwei dicke Tränen stiegen ihr in die Augen und kullerten über ihre runden Wangen. Sie dürfe nicht weinen, sagten sie. Wenn sie noch einmal weinte, würden sie Mim nicht erlauben wiederzukommen. Cody strengte sich mächtig an, nicht zu weinen, aber in ihr war ein dicker, schmerzender Klumpen, und von dort kamen die Tränen. Bei Mim hatte sie sich wieder so geborgen gefühlt, einen ganzen Tag lang! Mims Brust war genauso weich und warm, wie sie sie in Erinnerung hatte. Ihr Haar und ihre Haut rochen nach zu Hause... und alle Liebe der Welt war in Mims Augen. Cody saß auf der Bettkante und versuchte zu überlegen, was sie tun mußte, um Mim zurückzubekommen. Die Worte, die sie sprachen, wehten zu ihr herüber. »Wir müssen die Frau fernhalten«, erklärte Ghania nachdrücklich. »Das Kind wird vergiftet. Es ist eine Herzensbindung zwischen ihnen. Sehr stark. Sehr alt.« »Wir haben keinen Anlaß zur Sorge«, erwiderte Eric zuversichtlich. »Es bleibt so wenig Zeit. Selbst wenn sie es herausbekommt, kann sie nichts machen.« Eric blickte lange zu dem kleinen Mädchen auf dem Bett hinüber, »Zuweilen ist es schwer zu glauben, daß so ein kleines Menschenkind eine solche Begabung in der Welt haben kann.« »Du darfst sie nicht als Kind mißdeuten, Eric. Die Hülle ist eine Illusion.« Der Mann nickte und ging aus dem Zimmer. Cody sah, wie der Daddy-Mann die Kinderzimmertür hinter sich schloß. Ghania lächelte sie boshaft an. »Du bleibst hier, bis ich wiederkomme. Dann werden wir entscheiden, was deine Strafe sein soll.« Sie hörte sich nicht mehr zornig an, nur böse. Ghania ging von Codys Schlafzimmer in ihr eigenes. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Ein paar Haare waren aus ihrem Turban geschlüpft, und sie blieb stehen, um sie wieder zu ordnen, dann, in einem plötzlichen Anfall von Freiheitssehnsucht, schüttelte sie den Turban ab und löste eine Flut von langen tiefschwarzen Haaren, die ihr bis auf die Taille fielen. Ghania be-
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sah sich noch einmal im Spiegel; es war die Selbstbetrachtung einer unendlich eitlen Frau. Sie löste die Verschnürungen ihrer umhangähnlichen Dschellaba und ließ das Kleidungsstück achtlos auf den Fußboden fallen. Nur mit dem kunstvoll gewickelten ibante angetan, dem Lendentuch, das die Quelle der Macht der Ju-Ju-Priester ist, stand Ghania vor dem Spiegel, tiefer und tiefer atmend, bis sie sich in einen tranceähnlichen Zustand versetzt hatte. In diesem veränderten Zustand glitt Ghania zu dem gewaltigen Schrank, der die Wand gegenüber ihrem Bett einnahm. Sie drehte den Schlüssel im Schloß und öffnete die Flügeltür weit. Dahinter kam ein Altar zum Vorschein. Ein abgetrennter Ziegenkopf beherrschte die Mitte, die Hörner blutbefleckt; die roten Augen glänzten in einem unnatürlichen Licht. Schwarze Kerzen steckten in Kerzenhaltern aus Menschenschädeln, kleine Knochen lagen zu Mustern angeordnet neben einem Kelch, der alt war und abgenutzt. Ein Stoffpüppchen ragte zwischen den obszönen Lippen der Ziege hervor; die Ärmchen und Beinchen hingen schlaff neben den gelblichen Zähnen und der schwärzlichen Zunge herab. Die Puppe hatte Codys Gesicht. Maggie saß am Steuer ihres Wagens, nachdem sie das Haus der Vanniers verlassen hatte, und ließ ihren Tränen freien Lauf. Was, in Gottes Namen, machen sie mit Cody in diesem Haus? Die entsetzten Schreie... die Verzweiflung in ihren traurigen Augen... Das laute Hupen eines LKW lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Sie kämpfte mit dem Steuer, um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden. Gott sei Dank hatte der Lastwagenfahrer gehupt! Die 1-95 war nicht der richtige Ort für verminderte Konzentration. Halt deine fünf Sinne beisammen, verdammt noch mal! Codys Schreie klangen ihr noch in den Ohren. Was konnte sie tun, um das Kind aus dieser verhaßten Welt zu retten? Und verflucht, was war mit Jenna los, daß sie die katastrophalen Veränderungen nicht sah, die sich in nur einem Monat ergeben hat-
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ten? Was für einem Geschöpf hatte Maggie das Leben geschenkt, daß es ein Kind so abrupt von Heim, Wärme und Ge borgenheit fortzerren und in eine so kalte, herzlose Umgebung stoßen konnte? Maggie war froh, als sie in ihrer Garage angekommen war. Sie nickte dem Garagenwart kaum zu, mit dem sie sonst immer plauderte; sie mußte nach Hause, um nachzudenken. Ihr Haus war warm und einladend, aber Maggie warf nur Mantel und Schuhe ab und ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Als sie an der Bar vorbeikam, wäre sie fast stehen geblieben, um sich einen Drink einzugießen, was sie sonst nie tat. Sie machte sich nichts aus alkoholischen Getränken und trank selten etwas Stärkeres als Wein, aber heute abend fror sie bis auf die Knochen, es war eine unnatürliche Kälte, als sei alle Wärme der Welt verschwunden. Sie ging an der Bar vorbei zum Telefon und wählte. »Amanda? Maggie. Ich bin bei Cody gewesen.« Dann sprudelte sie die ganze Geschichte hervor. »Ghania hört sich nicht so an, wie ich mir ein Kindermädchen vorstelle«, erwiderte Amanda beunruhigt. »Sie hört sich steinhart an.« Maggie war klug und vernünftig und neigte nicht zu Übertreibungen; die Situation in Greenwich mußte wirklich bizarr sein, daß sie Maggie in einen solchen Zustand versetzt hatte. »Da war mal was mit Madagassen, irgendwas klingelt da bei mir, Darling«, überlegte Amanda. »Ich glaube, Mammy Erline hat mir mal vor Jahren was darüber erzählt... ich muß überlegen.« Sie hielt inne, versuchte sich zu erinnern. »Meinst du nicht, du solltest zur Polizei gehen?« »Ich denke, ich sollte mit jemandem reden, der etwas über diese Leute herausfindet. Ich weiß bloß nicht, mit wem.« »Sei vorsichtig, Darling, ja?« erwiderte Amanda besorgt. »Ich denke daran, was mein Daddy sagen würde. ›Laß nie jemanden wissen, daß du herumschnüffelst, solange du nicht weißt, was für Leute du beschnüffelst.‹ Bei dem Haufen Geld, das dieser Vannier hat, muß Macht mit im Spiel sein.« Maggie ließ sich in ein heißes Bad sinken, versuchte, warm zu
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werden und die Spannung aus ihren Knochen zu spülen, doch jede Vision, die ihr in den Sinn kam, zeigte ein verzweifeltes kleines Mädchen, das um Hilfe flehte.
7 Cody stand vor Ghania und versuchte angestrengt, nicht zu hören, was sie sagte. Mehr als eine Woche war seit Mims Besuch vergangen; die Tage waren lang, und die Nächte waren noch schlimmer. Ghania erzählte ihr wieder böse Geschichten über Mim. »Du glaubst, deine Großmama hat dich lieb?« höhnte die Kinderfrau. »Die kommt dich ja nicht mal besuchen, sie ist so froh, daß du weg bist.« Cody fühlte, wie die Tränen sich in ihren Augen sammelten, und sie blinzelte schnell, um sie drinnen zu halten. »Mim hat mich lieb«, erwiderte sie entschlossen, aber langsam wurde es schwierig zu wissen, was wahr war. Acht Tage waren seit Mims Besuch vergangen, und sie hatte nicht einmal angerufen. Und jeden Tag sagte Ghania böse Sachen... Sachen, die weh taten, Sachen, die Cody verunsicherten... »Ist sie etwa wiedergekommen, um dich zu sehen?« fragte Ghania. »Hat sie dich auch nur einmal angerufen?« Widerspenstig schüttelte das kleine Mädchen den Kopf. Sie wußte nicht, warum Mim nicht wiedergekommen war - sie hatte es versprochen. Cody wußte nichts von Maggies Anrufen, die auf Ghanias Anweisung abgewiesen worden waren. Jeden Abend, wenn sie ins Bett ging, betete und betete sie, aber Mim kam nicht wieder. »Deine Großmama, die ist so froh, daß du weg bist, sie erzählt allen, die sie kennt: ›Das kleine Mädchen hat mir drei Jahre lang mein Leben versaut. Jetzt hab ich endlich meinen Spaß.‹« Ghania lachte, aber ihre Augen veränderten sich nicht. Cody haßte Ghanias Augen. Sie glitzerten wie bei einem Tier und waren ihr unheimlich. »Mim hat mich lieb«, murmelte sie; sie fürchtete sich, es laut zu sagen, und fürchtete sich ebenso, es nicht zu sagen.
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Wenn sie es nicht ständig sagte, hörte sie vielleicht auf, es zu glauben. Ghania warf den Kopf zurück und lachte. »Dummes Kind! Weiß nicht mal, wer seine Freunde sind. Ghania ist die einzige Freundin, die du haben darfst. Ghania kann zaubern. Ghania weiß alles, was du tust, und alles, was du sagst. Ghania weiß sogar, was du denkst. Du kannst keine Geheimnisse vor Ghania haben, darum gib lieber acht bei jedem Gedanken in deinem Kopf, denn ich gucke hinein und sehe sie alle! Ganz so, als ob du aus Glas wärst.« Codys Augen wurden weit. Und wenn es wahr wäre? Dann würde Ghania wissen, wie sehr sie sie haßte und wie sehr sie Mim brauchte. »Gestern abend, als du im Bett warst, hat Ghania in dein Ge hirn geschaut, Kind, als war's eine Kristallkugel. Ghania hat gehört, wie du zu dem dummen Gott gebetet hast, der sich nichts aus dir macht, nicht ein kleines bißchen.« »Gott hat mich lieb!« sagte Cody trotzig. »Das hat Mim gesagt! « »Er hat dich lieb?« Ghania rümpfte die Nase. »Lächerlich! Erhört er deine Gebete? Nein! Macht er, daß deine Großmama dich genug liebhat, um dich holen zu kommen? Nein! Er weiß nicht mal, daß es dich gibt, dein dummer Gott.« Die Kinderfrau bannte Codys entsetzten Blick mit ihrem eigenen, hypnotischen. »Ghania kennt die freundlichen Götter, Kind... die deine Wünsche wahr werden lassen.« »Es gibt nur einen Gott«, widersprach Cody dickköpfig. »Das hat Mim mir gesagt.« »Was weiß sie denn schon?« erwiderte Ghania aufgebracht. »Auf meiner Insel gibt es Götter, von denen deine Großmama nie gehört hat. Götter, die dich töten, wenn du sie erzürnst... Götter, die alle deine Träume wahr werden lassen, wenn du zu bitten verstehst. Ich habe deine Gebete gestern abend gehört... du bittest, daß Mim kommt. Aber ist sie hier? Nein. Der dumme Gott hat sie nicht gebracht! Ich will dir sagen, zu welchem Gott du beten mußt, wenn du meine Freundin bist, Kind. Ich werde dir bewei-
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sen, wie mächtig mein Gott ist. Heute abend wirst du zu dem Gott beten, dessen Namen ich dir ins Ohr flüstere. Und worum du auch bittest, es wird dir gegeben.« Cody blickte unschlüssig drein. Vielleicht war Ghanias Gott unheimlich, so wie Ghania und der Daddy-Mann. »Wenn du ihn bittest, daß er deine Großmama morgen herschickt, wird er es tun«, schmeichelte Ghania, ihren Trumpf ausspielend. Sie hatte Jenna angewiesen, Maggie fernzuhalten; nun würde sie den Befehl aufheben. »Willst du seinen Namen wissen oder nicht?« Cody zögerte. Ghania richtete ihren mächtigen Körper auf, geschmeidig wie ein Puma, und ging auf die Tür zu. »Warte!« rief Cody ihr ängstlich nach. »Ich will zu Mim!« Alles, um Mim wiederzubekommen. Mim würde verstehen, daß sie es tun mußte. Ghania lächelte zufrieden und bückte sich, um dem Kind dreimal einen seltsamen Laut ins Ohr zu flüstern. Es hörte sich nicht an wie ein Name, nur wie ein Zischen. Cody wollte es laut wiederholen, aber Ghanias Hand verschloß ihr den Mund, bevor das Wort entschlüpfte. »Niemals!« fauchte sie. »Das ist ein Gott der Macht! Sprich seinen Namen niemals aus, außer in deinen Gedanken.« Cody fühlte die Angst sie durchzittern wie ein Stromschlag. Wenn dies nun ein böser Gott war? »Morgen wird er dir geben, was du dir wünschst.« Ghania machte ihr den Mund wäßrig, und das Versprechen, daß Mim wiederkommen würde, war zu mächtig, um ihm zu widersprechen. Cody wiederholte den Namen viele Male in ihrem Kopf, nachdem Ghania gegangen war, damit sie ihn nicht vergaß.
8 »Ich war etwas erschrocken über deine dringliche Einladung heute morgen, Jenna«, sagte Maggie, als sie nach dem Anruf ihrer Tochter in Greenwich ankam. »Tagelang habe ich vergeblich versucht, dich zu erreichen, und dann werde ich plötzlich
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hierherzitiert? Ich habe mir seit meinem letzten Besuch wirklich Sorgen um Cody gemacht. Geht es ihr gut?« »Natürlich geht es ihr gut, Mutter«, erwiderte Jenna ungehalten. »Warum sollte es ihr nicht gut gehen?« »Vielleicht, weil sie aus einer vertrauten Umgebung gerissen und in eine hineingestoßen wurde, die kaum normal zu nennen ist. Vielleicht, weil sie mir von einem Kerl wie Jabba Hut aus den Armen gerissen wurde, der beim Erziehen von Kindern mit dem Geschick eines Horrordoktors vorzugehen scheint.« »Wirklich, Mutter, findest du dich nicht ein bißchen melodramatisch?« »Nein, Jenna, durchaus nicht. Ich finde, du gibst diesem Kindermädchen zuviel Macht. Du bist Codys Mutter, nicht Ghania. Du mußt doch sehen, daß mit dem Kind in nur einem Monat eine merkliche Persönlichkeitsveränderung vorgegangen ist.« »Allerdings, Mutter, und ich finde, zum Besseren.« Maggie seufzte, dann versuchte sie es noch einmal. »Geht es dir gut, Jenna?« fragte sie, ihre Enttäuschung unterdrückend. »Du wirkst so unnahbar. Gibt es denn keine Möglichkeit für uns, miteinander zu reden?« »Hör mal, ich will nicht mit dir streiten, Mom«, erwiderte Jenna. »Also leg dich bitte nicht mit mir an. Ich führe hier ein ideales Leben. Und dann kommst du daher und versuchst, die Dinge zu ändern, die Cody betreffen, und das macht mich einfach wütend. Das ist alles.« »Ach Jenna, es ist so traurig, daß du und ich anscheinend nicht miteinander auskommen können«, sagte Maggie, von den fortwährenden Fehlschlägen entmutigt. »Es tut mir leid, wenn ich für dich nicht die richtigen Worte finde - aber um dich mache ich mir genauso Sorgen wie um Cody. Hier ist etwas faul, Jenna! Dieses Haus wirkt so einsam, so fremd. Bist du ganz sicher, daß du hier glücklich bist?« Jenna lächelte frostig. »Ich bin vollkommen glücklich, Mutter. Wie sollte ich nicht glücklich sein - sieh doch, was ich alles besitze.« »Nicht Dinge machen die Menschen glücklich, Jenna, sondern Menschen. Und lohnende Arbeit. Und -«
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»Hör zu, Mom!« fiel Jenna ihr ins Wort. »Ich sehe die Dinge nicht so wie du. Ich habe sie nicht so gesehen. Ich werde sie nie so sehen. Ich habe dich angerufen, damit du hierherkommst, weil ich nicht wollte, daß du dir nach dem Tag neulich Sorgen um Cody machst. Laß uns einfach zu ihr gehen und aufhören, mein Leben zu analysieren, okay?« Wieder eine verschlossene Tür. Maggie nahm die Abfuhr gelassen hin; diesmal war sie wenigstens höflich formuliert. »Ich bin froh, daß du angerufen hast - ich hasse es, wenn etwas schief geht zwischen uns. Ich würde wirklich gerne eine Weile mit Cody allein sein, Jenna, wenn es möglich ist. Du mußt wissen, mein Leben ist sehr einsam, seit sie fort ist.« Maggie konnte die Berechnung in Jennas Gesicht lesen... Wenn ich sie mit dem Kind allein lasse, geht sie vielleicht bald. »Ist gut, Mutter. Wenn sie nicht schläft, kannst du eine Stunde mit ihr verbringen.« »Ohne Ghania?« »Wenn es dir Freude macht.« Jenna war erschrocken gewesen, als Ghania sie anwies, dafür zu sorgen, daß Maggie heute zu Besuch käme. Sie hatte noch immer keine Ahnung, warum die Kinderfrau darauf bestanden hatte. »O Jenna, und ob! Ich verspreche, ich werde keinen Terror machen, von wegen nach Hause gehen. Wenn sie sieht, daß ich bald wiedergekommen bin, wird sie sich nicht noch einmal so anstellen, wenn ich mich verabschiede.« Jenna ging hinaus, und Maggie trat ans Fenster und blickte über die weite Rasenfläche. Jennas Augen waren geweitet und verschleiert - ihre Sprechweise leicht schleppend. Maggie wußte, es hatte keinen Sinn, mit einer Drogenabhängigen zu streiten, aber es betrübte sie bis in die Seele. Sie beabsichtigte, heute nicht eher fortzugehen, als bis sie einen Einblick gewonnen hatte in das, was in diesem seltsamen Haus vorging. Codys Gesicht schien vor Emotionen zu platzen, als sie ihre Großmutter sah. Es zeigte Freude, Bestürzung, Erleichterung und etwas, das Maggie nicht definieren konnte - etwas Entsetztes, Gequältes. Sie nahm das Kind in ihre Arme und drückte es
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lange Zeit wortlos ans Herz. Sie konnte spüren, wie die Spannung wich und Erleichterung Platz machte. »Herzchen, laß uns draußen einen Spaziergang machen, ja?« sagte sie, sobald sie sicher war, daß sie ihre Stimme in der Ge walt hatte. »Das Wetter ist herrlich, und wir können uns schön lange unterhalten.« Cody nickte zustimmend, machte aber so ein ängstliches Gesicht, daß Maggie sie hastig zur Türe hinausschob. Sie fühlte sich besser, sobald sie den Rasen betrat, aber Cody schaute zweimal furchtsam zum Haus zurück. Maggie folgte ihrem Blick und sah Ghania wie einen Wächter oben an einem Fenster stehen. Sie eilte mit Cody weiter und beschützte sie mit ihrem Körper vor den boshaften Augen. Sie wendete sich nach links, verließ den weitläufigen Rasen und ging im Zickzack zum Strand. Es mußte auf diesem unermeßlichen Anwesen doch eine Stelle geben, wo sie Ghanias Gegenwart eine Stunde lang entkommen konnte. Der Strand war märzkalt, das Wasser schiefergrau mit vereinzelten Schaumsprenkeln. Maggie zog den Gürtel fest um den Mantel des Kindes, nahm ihren Schal und band ihn Cody um die Ohren, um sie vor der kühlen Meeresbrise zu schützen. »Ich hab dich lieb, Herzchen«, begann sie, und sie wußte nicht recht, wie sie fortfahren sollte, ohne das Kind noch mehr zu ängstigen. »Du weißt, ich liebe dich von ganzem Herzen...« »Ghania sagt, du hast mich nicht lieb«, murmelte Cody, dabei sah sie Maggie nicht an, sondern hinunter auf den Sand. »Sie sagt, wenn du mich lieb hättest, würdest du mich mit nach Hause nehmen.« Diese Grausamkeit zog Maggie das Herz zusammen. »Ich hätte dich nicht lieb?« explodierte sie. »Wie kann sie es wagen, etwas so Gemeines zu sagen? Hör mir zu, Herzchen, hör mir ganz genau zu, verstehst du?« Cody nickte, aber sie sah Maggie immer noch nicht in die Augen. »Ich habe dich deshalb nicht nach Hause geholt, weil deine Mami und Eric mich nicht lassen. Ich liebe dich so sehr, Cody, daß ich dich jeden Tag und jede Nacht, jede einzelne Minute vermißt habe, seit du fort bist, und ich habe an dich gedacht und mir gewünscht, wir wären zu-
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sammen! Wie konntest du nur eine solche Lüge glauben, Herzchen, wo du weißt, wie sehr ich dich liebe, seit du so klein warst wie ein Mäuschen?« »Ghania kann ganz viele Sachen, Mim«, flüsterte Cody. »Was für Sachen, Cody? Was kann Ghania?« »Sie kann in meinen Kopf gucken und sehen, was ich denke«, antwortete das Kind arglos. »Das kann sie nicht, Cody!« sagte Maggie entsetzt. »Das kann keiner.« »Ghania kennt Gott, Mim«, sagte das kleine Mädchen mit ehrfurchtsvoller Stimme, die Maggie erschreckte. »Wie meinst du das, Herzchen? Wir alle kennen Gott, deswegen beten wir ja zu ihm.« Cody schüttelte heftig den Kopf. »Nicht den Gott, Mim. Ghania kennt einen anderen.« »Cody!« sagte Maggie mit großem Ernst. »Es gibt nur einen Gott, und egal, was Ghania sagt, sie kennt ihn nicht besser als wir!« »Doch«, beharrte das Kind. »Woher weißt du das?« »Weil ich gebetet und gebetet hab, daß du mich retten kommst, und du bist nicht gekommen. Und dann hat Ghania mir von dem Gott erzählt, der machen kann, daß du kommst. Und gestern abend hab ich zu ihm gebetet, und du bist gekommen.« Ghanias abscheuliches Manöver erfüllte Maggie mit Wut. Sie nahm Cody bei den Schultern und drehte sie herum, so daß die Augen des Kindes ihrem Blick nicht ausweichen konnten. »Jetzt hör mir zu, mein Kleines«, sagte sie in einem Ton, der keinen Raum für Widerspruch ließ. »Hör mir ganz, ganz genau zu. Schau, so kannst du ganz sicher wissen, daß ich dich liebhabe: Du faßt einfach in Cody hinein und erinnerst dich an jeden Tag und jede Nacht, die wir zusammengewesen sind. Du erinnerst dich, wie du dich gefühlt hast, geborgen, warm und geliebt. Du erinnerst dich an jeden glücklichen Moment, den wir zusammen hatten, seit du ein ganz kleines Kind warst. Keiner kann dir diese Erinnerungen ausreden, Cody. Sie gehören
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dir. Für immer. Und wenn jemand versucht, dich zu verwirren oder zu belügen oder dir etwas Schlechtes über mich einzureden, dann faßt du einfach in dein Herz, und du wirst die Wahrheit wissen. Verstehst du mich, Cody? Liebhaben fühlt sich gut an. Es fühlt sich geborgen, warm und glücklich an. So fühlst du dich, wenn dich jemand liebhat, verstehst du? Du kannst deinen Gefühlen glauben, Herzchen, auch wenn die Leute versuchen, dich mit Worten zu verwirren. Okay?« Cody nickte zögernd. »Und jetzt laß uns über Ghania reden. Sie kann nicht Gedanken lesen, weil keiner Gedanken lesen kann. Manche Leute tun so, als ob sie es könnten. Und ich bin heute nicht gekommen, weil ihr Gott mich geschickt hat, ich bin gekommen, weil ich dich liebe und vermisse. Und ich wollte mich überzeugen, daß es dir gut geht. Ich habe seit meinem letzten Besuch jeden Tag angerufen, um zu erreichen, daß ich dich sehen kann, aber erst heute hat deine Mami es erlaubt.« Wieder ein Nicken. »So, Cody, was jetzt kommt, ist sehr, sehr wichtig. Als ich neulich hier war, hast du gesagt, sie tun dem Kind weh. Kannst du Mim sagen, was du damit gemeint hast?« Cody wand sich in Maggies Griff, wollte ihr wieder nicht in die Augen sehen. »Ich hab Angst«, sagte sie schließlich in einem leisen furchtsamen Flüsterton. »Wovor, Herzchen? Wovor hast du Angst?« »Da schreien welche«, sagte sie zitternd, erstickt von Tränen. »In der Nacht. Ich kann sie hören. Da hat jemand ganz schlimmes Wehweh, und wenn Ghania es hört, dann lächelt sie, und ich fürchte mich.« Maggie runzelte die Stirn. Konnte Cody den Fernseher hören und mißdeuten? Oder Eric und Jenna? Es ergab keinen Sinn. »Bist du sicher, Liebes? Das ist jetzt sehr wichtig, Cody. Könnte es im Fernseher sein?« Cody schüttelte heftig den Kopf. »Einmal«, sagte sie so leise, daß Maggie sie kaum hören konnte, »hab ich das Blut gesehen.«
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»Das Blut? Welches Blut?« »Von den Schreiern.« Maggies Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie bemühte sich, ruhig zu klingen. »Woher weißt du, daß es von den Schreiern war, Cody? Woher weißt du, daß es Blut war? Vielleicht war es Ketchup.« Cody hatte wieder diesen seltsam gequälten Blick, den Maggie schon zuvor gesehen hatte. »Ghania hat's mir gesagt«, sagte sie mit einer so kleinen Stimme, daß Maggie sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen. »Ich war ungezogen, und da hat sie mir das Blut von den Schreiern gezeigt. Sie hat gesagt, sie kann machen, daß ich auch ein Schreier werde.« Die Stimme des Kindes zitterte zum Schluß so sehr, daß es die Worte kaum aussprechen konnte. Maggie drehte sich der Magen um. Sie zog Cody ganz eng an sich und drückte sie fest, um die Tränen in ihren eigenen Augen zu verbergen. Sie mußte sich auf die Lippe beißen, um die Fassung zu wahren. »Ist sonst noch etwas, Cody? Gibt es noch mehr, was dir weh tut oder dich ängstigt?« »Sie will, daß ich den Cocktail trinke. Aber ich will nicht, und dann schlägt sie mich und verdreht mir den Arm, daß es weh tut.« »Cocktail?« fragte Maggie verwundert. »Was für einen Cocktail, Liebes, mit Alkohol drin?« Cody schüttelte den Kopf. »Was dann? Was ist in dem Cocktail, und warum will sie, daß du ihn trinkst?« »Ghania sagt, dann werde ich eine von ihnen.« »Eine von ihnen? Eine von was?« Cody zuckte die kleinen Schultern, und dieses Zucken hatte etwas Verlorenes, Hilfloses. »Ich weiß nicht, Mim. Aber mir wird richtig schlecht davon. Einmal hat sie mir die Nase zugehalten und mich gezwungen zu trinken, aber ich hab sie vollgekotzt, und da hat sie aufgehört.« »Gut gemacht!« lobte Maggie. Was hatte das zu bedeuten? War es möglich, daß Cody Alpträume hatte? Nichts ergab einen Sinn, außer daß alles grauenhaft und anstößig war.
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»Darf ich jetzt nach Hause, Mim?« fragte Cody leise. »Ich will auch ganz lieb sein, wenn du mich nach Hause läßt.« Lieber Gott, sie glaubt, es ist ihre Schuld, daß sie hier ist... Heiße Tränen kullerten Maggie über die Wangen, während sie überlegte, wie sie dem Kind beibringen sollte, daß es bleiben mußte. »Ach Cody, ich möchte dich ja so gerne mit nach Hause nehmen... ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Ich will, daß du das weißt, in deinem Herzen. Dort werden du und ich alles aufbewahren, was uns verbindet... in unserem Herzen, okay? Und wenn jemand dich fragt, worüber wir gesprochen haben, oder wenn jemand sagt, sie kann deine Gedanken lesen, dann weißt du, daß all deine Geheimnisse sicher verwahrt sind, weil sie nicht in deinen Gedanken sind, sondern in deinem Herzen. Okay?« »Okay.« Cody biß sich nervös auf die Unterlippe. Das tat sie immer, wenn sie verängstigt war. »Und nun kommt der schwierige Teil, Herzchen. Ich kann dich heute nicht mit nach Hause nehmen.« Codys Gesicht zog sich zusammen, und die Tränen strömten ungehemmt. »Nein... nein... hör mir zu! Du mußt zuhören. Ich werde dir helfen, Cody. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich nicht zulassen werde, daß jemand dir weh tut, verstehst du? Ich habe noch nie ein Versprechen gebrochen, das ich dir gegeben habe, oder? Nicht ein einziges Mal, seit du geboren bist. Nicht im kleinen und nicht im großen. O bitte, Cody, sag mir, daß du das verstehst!« Maggie und Cody klammerten sich am Strand aneinander, ihre Tränen wurden zu Eis in dem kalten Wind. »Das Gesetz sagt, daß ich dich heute nicht mitnehmen darf, Herzchen.« Codys Arme umschlangen Maggies Hals fester, eine Geste voller Schrecken. »Aber ich verspreche dir, ich finde einen Weg, damit du wieder in Sicherheit bist. Ich muß nur erst mit ein paar Leuten reden, die wissen, wie man das anstellt, und das könnte ein Weilchen dauern.« Cody weinte jetzt bitterlich, ihr Schluchzen vibrierte durch Maggies Mantel. Aber es war ein stilles, unnatürliches Weinen für ein Kind. Lautlos und verzweifelt.
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Maggie sah Jenna und Ghania am Strand sich ihnen nähern. »Hör zu, Cody, sie kommen, darum muß ich jetzt ganz schnell sprechen. Ich werde dich wieder besuchen. Egal, was man dir erzählt. Ich werde dich holen. Weil ich dich liebhabe. Mehr als alles auf der Welt! Und du hast mich lieb. Nichts auf Erden kann daran etwas ändern. Alles, was wir gesagt haben, und alles, was wir sind, ist jetzt in unseren Herzen, und niemand - und Ghania schon gar nicht - kann es sehen oder etwas davon wissen. Verstehst du das?« Die Dringlichkeit in Maggies Stimme durchbrach die Angst des Kindes. »Jetzt dürfen wir nicht wieder so ein Theater machen wie neulich, sonst...« Sie wollte nicht sagen, daß sie sie sonst nicht mehr zu ihr lassen würden, denn das würde ihnen im Verständnis des Kindes zuviel Macht verleihen. »Sonst sagen sie, ich rege dich auf, wenn ich zu Besuch komme, und wir wollen doch nicht, daß sie das denken.« Cody schniefte und nickte. »Wir müssen jetzt tapfer sein, Cody, alle beide. Denk daran, ich hab dich lieb. Ganz fest. Und ich komme wieder. Ich schwöre es bei Gott.« Maggie hob das Kind hoch und hielt es in einer innigen Umarmung, und so ging sie bedachtsam und wortlos an der Kinderfrau vorbei.
9 Am nächsten Morgen um acht Uhr trommelte Maggie mit ihren kurzen Fingernägeln auf die Schreibtischplatte und versuchte, ihre Unruhe zu beschwichtigen; sie war die halbe Nacht wach gewesen und hatte überlegt, was sie tun sollte. Es mußte doch jemand geben, der ihr helfen konnte, diesem Morast auf den Grund zu gehen. Gab es vielleicht eine alte Freundin von Jenna, die noch Kontakt mit ihr hatte? Vielleicht gab es jemand aus ihrer Vergangenheit, vor dem Jenna mit ihrem neuen Leben gerne angab. Maggie blätterte ungeduldig die Drehkartei durch und suchte nach Namen. Sie wählte sechs Telefonnummern an, ohne Er-
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folg - niemand hatte Jenna in den letzten Jahren gesehen, oder falls doch, dann wollten sie es nicht sagen. Verzagt versuchte sie eine letzte Möglichkeit. Cheri Adams war mit Jenna in der letzten Reha-Klinik gewesen; sie hatten sich dort angefreundet, und Maggie hatte das Mädchen gern gemocht und sie damals bei der Suche nach Jenna um Hilfe gebeten, als diese verschwunden war. Maggie war noch eine Weile mit Cheri in Verbindung geblieben, nachdem die Suche sich als fruchtlos erwies, aber dann hatte sie den Kontakt verloren, bis sie und Cody dem Mädchen eines Tages im Washington Square Park über den Weg liefen. Maggie wählte ihre Nummer und wagte es kaum zu hoffen. Cheri hörte sich nüchtern an, als sie abnahm, reserviert und clean. Ob Cheri Jenna in jüngster Zeit gesehen habe? fragte Maggie. Ja. »Jenna wirkt so verändert«, sagte Maggie, »gar nicht sie selbst. Weißt du, ob da etwas nicht stimmt?« Eine bedeutende Pause entstand am anderen Ende der Leitung, während Cheri abwägte, zu welcher Seite sie halten sollte. »Ich habe sie zweimal gesehen, Mrs. O'Connor, seit sie in Greenwich wohnt«, sagte sie schließlich. »Sie wollte mir das unglaubliche Haus zeigen und den komischen Macker, mit dem sie verheiratet ist.« Wieder diese Unschlüssigkeit. »Ich glaube, sie nimmt Drogen, Mrs. O'Connor. Und nicht zu knapp«, erklärte Cheri. Ihre Stimme klang besorgt, unsicher. »Ich habe versucht, sie zu überreden, daß sie was dagegen unternimmt, aber sie bildet sich tatsächlich ein, sie hat alles im Griff. Schätze, sie muß tun, was sie nicht lassen kann, darum hab ich nicht weiter auf sie eingeredet. Aber sie hat ein paar Sachen gesagt, die mir angst gemacht haben... ich meine, Drogen sind vielleicht nicht das einzige, womit sie's zu tun hat. Ich erzähl Ihnen das nur wegen der Kleinen. Es ist Jennas gutes Recht, ihr eigenes Leben mit dem Dreck zu versauen, aber Kinder sind was anderes. Sie haben auch Rechte.« »Cheri, was hat dir bei Jenna angst gemacht? Ist Cody in Ge fahr?« »Ich hab das Gefühl, ich verrate Jenna, wenn ich mit Ihnen rede, Mrs. O'Connor, aber Sie sind immer nett zu mir gewesen,
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und wie wir uns neulich im Park getroffen haben, da dachte ich, wie lieb Sie zu Jennas Kind waren. Ich konnte sehen, daß Sie die Kleine wirklich gern haben und alles...« Sie machte wieder eine Pause, und Maggie hörte sie am anderen Ende der Leitung atmen, während das Mädchen all seinen Mut zusammennahm. »Hören Sie, Mrs. O'Connor, bitte fragen Sie mich nicht, warum ich das sage, aber ich finde, Sie sollten die Kleine aus diesem Haus rausholen.« »Warum, Cheri? Was stimmt dort nicht?« Maggies Herz schlug schneller. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mrs. O'Connor. Wirklich, ich kann's nicht! Ich denke bloß, ich weiß, womit sie's zu tun hat, ich weiß es von ein paar Freunden von mir. Ich bin nicht ganz sicher, und ich will ihr keinen Ärger machen, falls ich mich irre... aber wenn ich recht habe, ist es wirklich gefährlich für Cody.« »Bitte, Cheri. Bitte, sag mir, was du meinst! Ich kann Cody nicht einfach ohne eine Erklärung dort wegholen. Das verstößt gegen das Gesetz.« »Wenn ich recht habe, Mrs. O'Connor, stecken Jenna und Eric in Sachen drin, die viel mehr gegen das Gesetz verstoßen, als Sie es je könnten. Bitte, schaffen Sie das Kind aus dem Haus...« Cheris Stimme war jetzt angespannt, aufgewühlt, schwer von dem Gewicht dessen, was sie nicht aussprach. »Hören Sie auf mich und holen Sie die Kleine da raus, ja? Selbst Jenna würde es wollen, wenn sie bei Verstand wäre. Aber bei ihr ist was nicht in Ordnung... es ist mehr als die Drogen. Sie ist nicht mehr Jenna, sie ist wie ein anderer Mensch. Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was ich meine, aber es ist unheimlich. Mehr kann ich nicht sagen, Mrs. O'Connor. Wirklich, ich kann nicht!« Es knackte in der Leitung, und Maggie stand mit dem Hörer in der Hand da, das Freizeichen tönte anhaltend. Vielleicht könnte die Privatdetektei, die sie eingeschaltet hatte, um Jennas Spur zu finden, irgendwie weiterhelfen, dachte sie hektisch, und schon wählte sie die Nummer. Der Chef, Bill Schmidt, war ein ehemaliger FBI-Mann; er hörte zu, unterbrach
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gelegentlich ihre überstürzten Ausführungen, dann antwortete er: »Schauen Sie, Mrs. O'Connor, ich mag Sie, und ich möchte nicht, daß Sie eine falsche Vorstellung haben. Es ist nicht so, wie man das aus Filmen kennt. Wir können nicht in die Häuser von Leuten einbrechen wie Magnum im Fernsehen. Wenn Sie möchten, daß wir in einer Untersuchung für Sie tätig werden, dann tun wir das, aber um gegen jemand an einem so abgesicherten Ort Beweise in die Hand zu bekommen, brauchen wir eine elektronische Überwachung, Fahrzeuge, Leute, Aufzeichnungsgeräte ... das kostet Sie mindestens tausend Dollar pro Nacht, und ich will Ihnen ehrlich sagen, die Gerichte lassen nicht gerne Überwachungsaufzeichnungen von einer Privatagentur zu, weil sie sagen, die könnten frisiert sein. Und wir können auch nicht da hineinstürmen wie John Wayne und das kleine Mädchen für Sie rausholen. Es tut mir ehrlich leid, Mrs. O'Connor, daß Sie solche Schwierigkeiten haben, aber mein Rat lautet, daß es eine riesige Geldverschwendung für Sie wäre, uns anzuheuern. Versuchen Sie es doch mal bei der Jugendfürsorge oder bei der Polizei.« Das Büro der Jugendfürsorge war genau so trist wie jede andere Dienststelle in dem riesigen Verwaltungskomplex. Trübes Gelb und Behördengrau, keine Spur von Dis ney-Figuren. Maggie machte sich Vorhaltungen, weil der Ort sie abstieß; es spielte keine Rolle, wie das Büro aussah, nur, was es leisten konnte. Bestimmt würde sich hier jemand um ein kleines Mädchen bemühen, das in Gefahr war. Eine Frau in einem formlosen blauen Kostüm führte sie in ein kleines Zimmer mit einem Metallschreibtisch und setzte sich. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie mit der verdrossenen Erwartung von jemand, der eine Beschwerdeabteilung leitet. »Meine Tochter ist heroinsüchtig«, begann Maggie, innerlich vor den Worten zurückschreckend. »Sie hat vor drei Jahren ein Kind bekommen und es in meiner Obhut gelassen, während sie wieder auf die Straße ging. Ich habe nichts mehr von ihr gehört, bis sie vor einem Monat zurückkam, verheiratet und mit einem Haus in Greenwich -«
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»Wenn sie ein Haus in Greenwich hat«, unterbrach die Frau sie mit einer ersten Spur von Belebung, »dann sind Sie an der falschen Adresse. Connecticut fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.« »Aber ich wohne hier in der Stadt«, entgegnete Maggie. »Die Kleine - Cody heißt sie - hat ihr ganzes Leben in New York City gelebt. Sie ist erst seit einem Monat in Connecticut.« »Das mag wohl sein, Mrs. O'Connor, aber wenn die Eltern in Connecticut wohnen, liegt der Fall außerhalb unseres Zuständigkeitsbereiches.« »Bitte... lassen Sie mich wenigstens meine Geschichte erzählen«, beharrte sie. »Ich fürchte, daß meine Enkeltochter in Gefahr ist. Ich glaube, ihre Mutter nimmt wieder Drogen...« »Können Sie die Behauptung beweisen? Ist sie in jüngster Zeit untersucht worden?« »Nein. Ich meine, ich weiß es nicht. Sie ist einundzwanzig, da kann ich sie nicht zwingen, sich gegen ihren Willen untersuchen zu lassen.« Die Frau wiegte mißbilligend den Kopf. »Selbst wenn sie Drogen nimmt, Mrs. O'Connor, der Staat würde Heroinabhängigkeit allein nicht als Grund ansehen, sich in die Kindererziehung Ihrer Tochter einzumischen.« Sie blickte verärgert, weil Maggie ihre Zeit vergeudete. »Gibt es Anzeichen für körperliche Ge walt? Narben, Verbrennungen, unerklärliche Schwellungen?« Maggie schüttelte den Kopf. »So einfach ist es leider nicht. Der Schaden scheint hauptsächlich seelischer Art zu sein. Cody ist verängstigt... in sich gekehrt. So ist sie vorher nie gewesen. Sie darf nicht mit anderen Kindern spielen, nur mit ihrem Kindermädchen, das aus der Horror-Serie Dark Shadows entsprungen sein könnte. Man hat ihr gedroht und sie gezwungen, ein Gebräu zu trinken -« »Hören Sie, Mrs. O'Connor«, fiel ihr die Frau ungeduldig ins Wort, »ich will uns beiden Zeit sparen. Eine Menge Großmütter kommen in letzter Zeit hierher, alle mit ähnlichen Geschichten. Eine drogensüchtige Tochter liefert ein Kind ab und kommt Jahre später, um es abzuholen, nachdem die Großmutter es liebgewonnen hat. Das Gesetz ist in diesem Punkt ganz eindeutig.
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Sie haben überhaupt keine Rechte. Das Kind gehört Ihrer Tochter, und die Gerichte sind entschieden dafür, Kinder bei ihren leiblichen Müttern zu lassen, außer es gibt stichhaltige Beweise für körperliche Mißhandlung. Leider können Sie nichts tun, als sich von der Bildfläche fernzuhalten. Wenn Sie darauf bestehen, der Sache nachzugehen, würde ich Ihnen raten, Ihre Tochter das Kind eine Weile behalten und mißhandeln zu lassen und dann die Behörden zu verständigen. Dann haben Sie einen Fall.« Maggie setzte sich kerzengerade auf, ehrlich schockiert. »Sie von meiner Tochter mißhandeln lassen... dann habe ich einen Fall? Ich nehme an, wenn ich sie von meiner Tochter töten lasse, habe ich einen besseren Fall!« Die Frau hinter dem Schreibtisch lehnte sich einen Moment zurück und funkelte Maggie wütend an. Als sie sprach, war ihre Stimme sehr beherrscht. »Schauen Sie, Mrs. O'Connor, ich bin überzeugt, Sie stehen unter starkem Druck, deswegen will ich Ihnen Ihre letzte Bemerkung nicht übelnehmen. Aber dies ist die Realität, mit der ich es täglich zu tun habe. Ich habe dreißigtausend Fälle in meinen Akten, Kinder, die wirklich körperliche Anzeichen von Mißhandlung aufweisen... Kinder, die verbrannt oder gefoltert oder in einer Badewanne angekettet wurden. Kinder, die in meinen örtlichen Zuständigkeitsbereich fallen. Ich habe weder die Mittel noch die Ermittlungsbeamten, noch steht mir die Zeit für Gerichtsverhandlungen zur Verfügung, um mich mit einem Drittel dieser Kinder zu befassen, geschweige denn mit Ihrer Enkelin. Bis die Bürokratie zu ihnen vordringt, kommt für die meisten jede Hilfe zu spät.« Sie atmete tief ein und seufzte hörbar; auch sie war frustriert. »Sie haben keinen Fall. Selbst wenn Ihr Verdacht stimmt, Sie haben keinen Fall.« Maggie stand draußen vor dem Behördenbau und starrte eine Weile blicklos die Tauben an, bevor sie beschloß, als erstes am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen. Auf der Wohnzimmercouch, wo Maggie saß, türmten sich Papiere. Sie hatte sich den ganzen Abend nach Kräften bemüht, sich zu konzentrieren, mit minimalem Erfolg. Ihre einst weite
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Welt hatte sich auf einen einzigen Blickpunkt verengt: Cody war fort, Cody war in Gefahr. Diese zwei Gedanken löschten alles andere aus. »O Gott, Kind, wie ich dich vermisse!« Eine plötzliche Aufwallung von Sehnsucht durchflutete Maggie wie eine unerwartete Welle, die einen überrollt, wenn man sich dem Ufer nähert, und ertränkte sie in Einsamkeit... spülte sie in unergründliche Furcht. Sie kämpfte sich zurück durch die eisige Strömung, erschrocken über deren Gewalt. Die Steuererklärung wartet nicht bis morgen, schalt sie sich streng. Dem Finanzamt ist es verdammt egal, ob ich ein gebrochenes Herz habe. Das Leben geht weiter; ich habe nur vergessen, warum. Entschlossen schob sie sich die Brille wieder auf die Nase; dieses abscheuliche Attribut ihres mittleren Alters war ihr verhaßt. Noch so eine Empfindlichkeit. »Jetzt kannst du das Gras noch sehen, Kind«, hatte ihre Großmutter immer gesagt, als sie klein war; sie hatte gedacht, es würde immer so bleiben. Statt dessen war sie zu dieser scheußlichen kleinen Ben-Franklin-Brille verurteilt, die ihr über die Nase rutschte und nie dort war, wo sie sie brauchte. Das Telefon war eine willkommene Ablenkung; Maggie tappte barfuß über den Teppich, um abzunehmen. »Ich weiß, was Ihre Tochter tut, Mrs. O'Connor«, flüsterte eine heisere anonyme weibliche Stimme, Die Sprecherin klang ängstlich. »Ihre Tochter hat mit Maa Kheru zu schaffen, Gott helfe ihr.« Maggies Verstand schaltete blitzschnell auf Aufnahme. »Wer sind Sie?« wollte sie wissen. »Was wissen Sie über meine Tochter?« »Es kommt nicht darauf an, wer ich bin. Worauf es ankommt, ist Maa Kheru!« »Was ist Maa Kheru, um Himmels willen?« »Ein exklusiver Kult, dem lauter einflußreiche Leute anhängen. Sie haben alles unter Kontrolle! Die Polizei... die Zeitungen... Sie wissen ja nicht, wie gefährlich sie sind. O Gott, ich wünschte, ich wüßte es auch nicht!« Die Stimme klang hyste-
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risch. »Sie beten Satan an, Mrs. O'Connor. Sie haben für Erfolg und Geld ihre Seelen verkauft.« »Wer sind Sie?« rief Maggie, jetzt wirklich erschrocken. »Woher wissen Sie das alles?« »Ich habe bei Maa Kheru gelebt... Sie haben keine Ahnung, wozu die fähig sind...« Ein ersticktes Schluchzen, dann: »Sie haben mein Kind getötet! Ich halte mich versteckt... sie sind hinter mir her, und sie werden mich auch kriegen - es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich töten. Ich habe Sie nur angerufen, damit Sie etwas unternehmen können, um das Kind zu retten. Bitte lassen Sie nicht zu, daß sie es opfern wie meine Stacy. Sie haben ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, Mrs. O'Connor, verstehen Sie? Sie haben meinem Kind die Haut abgezogen und sein Blut getrunken!« Bevor Maggie sich genügend erholt hatte, um zu antworten, war die Leitung tot. Maggie riß ihren Mantel aus dem Dielenschrank und rannte zur Polizeiwache.
10 Das Gebäude des sechsten Polizeireviers lag an der West Tenth Street zwischen Bleecker und Hudson Street. Maggie stürmte die Treppe hoch und bemühte sich, wenigstens so weit ruhig zu bleiben, daß sie zusammenhängend sprechen konnte. Der diensthabende Polizist war untersetzt und dunkelhäutig und hatte kurze Bartstoppeln. Er sah aus, als hätte er sich um fünf Uhr früh rasiert, wovon jetzt, um sieben Uhr abends, nichts mehr zu sehen war. Als Maggie mit ihrer Schilderung halb fertig war, unterbrach er sie mit routinierter Geste. »Hat keinen Sinn, daß Sie mir Ihre ganze Geschichte erzählen, Ma'am. Sie brauchen 'nen Kriminalbeamten«, verkündete er. »Mal sehen, wer da ist.« Er deutete auf eine Holzbank an einer Wand, aber Maggie war zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. Der diensthabende Polizist beendete seine Schreibarbeit, bevor er zum Telefon griff. Schließlich winkte ein großer, lethargisch dreinblickender Mann sie von der Türschwelle zu sich her; er war über und über
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grau, Haare und Augen, Hose und Krawatte - sogar seine fahle Haut hatte die gräuliche Färbung eines Menschen, der nie Sonnenlicht sieht. Maggie stöhnte innerlich, als sie ihm durch die kaninchenbauartigen Büros folgte; er hatte das Aussehen eines Mannes, der mit seiner Arbeit nicht glücklich ist. Detective Hollyer bedeutete ihr, Platz zu nehmen, dann ignorierte er sie volle fünf Minuten, während er zwei Anrufe entgegennahm und selbst einen tätigte. »Okay«, sagte er schließlich, während er auf das Formular blickte, das der diensthabende Polizist ausgefüllt hatte. »Sie haben eine drogensüchtige Tochter, die Ihnen Probleme macht, richtig? Genau wie alle übrigen in New York.« Maggie fühlte Zorn in sich aufsteigen und versuchte, ruhig zu bleiben. Sie begann mit der verzwickten Geschichte, sorgsam bedacht, sich nicht wie eine überfürsorgliche Großmutter anzuhören. Sie griff für die Angabe von Daten und Uhrzeiten auf ihr Notizbuch zurück. Hollyer lehnte sich kommentarlos auf seinem Stuhl nach hinten, nahm nacheinander drei weitere Anrufe entgegen, womit er Maggie zwang, in ihrer Geschichte jedesmal ein Stück zurückzugehen, um den Zusammenhang wieder herzustellen. Schließlich hob er die Hand, um den Wortstrom anzuhalten, der zunehmend dringlicher wurde. »Schauen Sie, Mrs.... O'Connor«, er sah in dem Formular nach, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Das ist keine Polizeisache. Sie haben kein Verbrechen, kein Opfer. Was Sie haben, ist eine Familie, die sich nicht einig ist, wie man ein Kind erzieht. Was Sie brauchen, ist vielleicht ein Berater...« »Haben Sie überhaupt ein Wort gehört von dem, was ich gesagt habe, Detective?« fragte Maggie aufgebracht. »Oder waren Sie zu sehr mit Telefonieren beschäftigt? In den letzten Minuten haben Sie mit ganz New York geredet, außer mit Ihrem Buchmacher, während ich versucht habe, Ihnen zu erzählen, daß ein dreijähriges Kind ernsthaft in Gefahr ist, das vielleicht Ihre Hilfe braucht, und Sie können mir nichts weiter sagen, als daß ich zu einem Berater gehen soll?« Ihre Stimme war so laut geworden, daß in der unmittelbaren Umgebung die anderen Beamten aufmerksam wurden.
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»Hören Sie, Mrs. O'Connor, Sie sind hierhergekommen mit einer Geschichte von einem Kind, das in Greenwich ein Luxusleben führt, also nicht mal in diesem Bezirk, und Sie erwarten von mir, daß ich ein Kaninchen aus einem Hut ziehe...« »Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich anhören, was ich zu sagen habe, und mir einen vernünftigen Rat geben, Detective. Ich erwarte, daß Sie sich darum kümmern, wenn ein kleines Kind womöglich in Gefahr ist. Sie sind Polizist, um Himmels willen! Ist es nicht Ihre Aufgabe, Menschen in Not zu helfen?« Inzwischen waren die Augen aller Anwesenden auf Maggie gerichtet. Hollyer machte den Mund auf, um ihr zu antworten, als eine Männerstimme ihm das Wort abschnitt. »Hank«, sprach diese mit stiller Autorität, »überlaß das mir, ja?« Erschrocken blickte sich Maggie um. Ein großer, schlaksiger Mann in Hemdsärmeln stand hinter ihr in der Tür. Er sah müde und irisch aus. Maggies Laune und Enttäuschung waren jetzt gleichermaßen auf dem Tiefpunkt; sie war nicht in der Stimmung, freundlich zu sein. Sie machte einen langen, beherrschten Atemzug und sagte schroff: »Ich denke, ich kann die Geschichte noch genau einmal erzählen, bevor ich explodiere. Aber danach treten die ersten drei Reihen besser zurück, verdammt noch mal!« Hollyer schob seinen Stuhl zur Seite und wechselte mit dem Neuankömmling einen Blick, der besagte: Dies ist ein echt verrückter Fall. Dann übergab er den schmalen Schnellhefter und ging. Der Neuankömmling machte ein leicht amüsiertes Ge sicht, was Maggie noch mehr in Rage brachte. »Schauen Sie, Detective...« »Devlin«, sagte er. »Lieutenant Malachy Devlin.« »Dann eben Lieutenant Devlin«, sagte sie spitz. »Wie ich soeben dem eindeutig uninteressierten Detective Hollyer erzählte, ich habe eine Enkeltochter, die, glaube ich, in Gefahr ist.« Sie bemerkte Devlins offenkundige Überraschung, daß sie eine Großmutter war, achtete aber nicht weiter darauf. »Ich bin hierhergekommen, weil ich hoffte, daß irgendwer irgendwo mir helfen könnte herauszufinden, was ich tun kann, um sie zu retten.«
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Er hörte die Tränen hinter der gespannten Beherrschung, und jeder Anschein von Belustigung verlor sich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll - und Gott weiß, ich habe Todesangst, daß die Behörden es auch nicht wissen, Lieutenant -, aber wenn ich keine Möglichkeit finde, ihr zu helfen... sie ist ein dreijähriges Mädchen, das ich liebe, das vielleicht seinen vierten Geburtstag nicht...« Devlin stieß die Tür zu. Er setzte sich auf die Schreibtischkante neben Maggie und legte den Schnellhefter bedächtig hin. Sie sah, daß er seinen einen Meter achtzig großen Körper mit einer gewissen selbstsicheren Kraft bewegte, trotz seiner offensichtlichen Übermüdung, die ihr nicht entging. »Hören Sie, ich habe genug von Ihrer Geschichte mitgekriegt, um helfen zu wollen«, sagte er, »aber noch nicht genug, um zu wissen, wie. Es ist mir unangenehm, Sie zu bitten, noch mal von vorn anzufangen, aber wenn Sie bereit sind, es noch einmal zu versuchen, kann ich Ihnen zumindest meine ungeteilte Aufmerksamkeit und meinen besten Ratschlag versprechen.« Er machte eine Pause, als wollte er warten, bis sie zu dem Angebot eine Entscheidung getroffen habe, und während er sie beobachtete, nahm Maggie ihn zum ersten Mal deutlich wahr. Seine Augen hatten etwas Vertrauenerweckendes. Sie waren grau, gesprenkelt mit einem Goldton, der nicht ganz zu Menschenaugen paßte, aber sie bildeten eine interessante Überraschung in dem zerfurchten irischen Gesicht, das aussah, als habe er alles durchgemacht, Gutes und Schlimmes. Diese Augen sahen sie direkt an und direkt durch sie hindurch. Maggies Wut ließ ein wenig nach, aber sie stellte entsetzt fest, daß sie den Tränen sehr nahe war. Sie atmete tief ein und erzählte ihre Geschichte noch einmal. Devlin unterbrach sie selten, und seine Fragen waren klug; sie galten nicht der Prüfung ihres Geisteszustandes, sondern den Fakten ihrer Geschichte. »Die Welt ist zuweilen ein trauriger Ort, nicht wahr, Mrs. O'Connor?« sagte er unvermittelt in einem Ton, der vermuten ließ, daß er zuviel erlebt und das meiste als schmerzlich empfunden hatte. »Lassen Sie mich Ihnen einen Begriff davon ge-
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ben, in was Sie da hineingeraten sind.« Er machte einen tiefen, vielsagenden Atemzug und begann. »Was Sie mir erzählt haben, ist nicht im mindesten fraglich. Schlechte Menschen verletzen täglich kleine Kinder in dieser Stadt. Und vermutlich auch in Greenwich. Manchmal sind die schlechten Menschen so reich, daß keiner etwas unternimmt. Ich sage Ihnen das ungern, aber das Gesetz läßt Ihnen hier absolut keinen Spielraum. Sehen Sie, die Rechte Ihrer Tochter werden vor denen Ihrer Enkelin geschützt. Nehmen wir als erstes die Heroinabhängigkeit... selbst wenn Sie es beweisen könnten - was Sie vermutlich nicht können, weil Ihre Tochter erwachsen ist und Sie sie nicht gegen ihren Willen zwingen können, sich einem Drogentest zu unterziehen -, aber selbst wenn Sie es könnten, Heroinabhängigkeit an sich macht sie in den Augen des Gesetzes nicht zu einer unfähigen Mutter.« Maggie wollte protestieren, aber er hielt sie mit einer Geste zurück. »Wir sprechen hier vom Gesetz, Mrs. O'Connor. Niemand hat von Recht oder Unrecht gesprochen, oder von Ge rechtigkeit, was das betrifft. Nur vom Gesetz.« Seine Stimme war mitfühlend; Maggie konnte seinen Zorn über die Unzulänglichkeit des Systems heraushören. »Was den Satanismus angeht... ich wette, es gibt nicht eine einzige Bestimmung in New York City, die besagt, daß ein Satanist ein Kind nicht in seiner eigenen Religion erziehen darf. Vielmehr wird vermutlich die Bürgerrechtsvereinigung über Sie herfallen, wenn Sie versuchen sollten, mit dieser Begründung die Vormundschaft zu erwirken. Religionsfreiheit, selbst wenn es Satanismus ist, ist ein Grundpfeiler unseres Systems. Es ist zum Beispiel eine Tatsache, daß den Geistlichen in West Point eine satanische Bibel zur Verfügung gestellt wurde, damit auch die Satanisten in der Armee geistlichen Beistand bekommen können. So verrückt es klingt, es ist die reine Wahrheit. So, sehen wir uns mal an, was Sie hier haben. Erstens, Sie werden beweisen müssen - nicht behaupten, o nein, beweisen -, daß Cody vernachlässigt oder mißhandelt wurde. Und ich sehe einfach nicht, wie Ihnen das gelingen soll. Dieser Vannier ist reich und obendrein Jurist. Das Kind wird von einem professionellen
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Kindermädchen und von seiner Mutter im eigenen Heim versorgt. Alles ist vorhanden, Ernährung, Kleidung, Spielzeug, Erziehung - auch wenn die Erziehung nicht Ihren Beifall findet -, Vernachlässigung scheidet also aus. Und was Mißhandlung betrifft... wie wollen Sie je Mißhandlung nachweisen? Haben Sie am Körper des Kindes Male oder Narben gesehen? Wenn ja, werden sie noch da sein, wenn die Jugendfürsorge durch ihren Papierkram durch ist und ihren Hintern in Bewegung setzt?« »Aber was ist mit ihrem Verstand?« warf Maggie ein, erschöpft angesichts der erbarmungslosen Ungerechtigkeit. »Sie unterziehen sie irgendeiner Art von Gehirnwäsche. Sie ist wie ein Zombie, wenn diese Kreatur von Kindermädchen in der Nähe ist, und sie ist durch und durch verstört.« »Mrs. O'Connor, ich habe Kinder von Drogensüchtigen gesehen... und ich habe genug Kindesmißhandlungen gesehen, um den heiligen Franz von Assisi an Gott zweifeln zu lassen, darum können Sie mir glauben, daß ich auf Ihrer Seite bin. Aber betrachten wir es einmal vom Standpunkt des Gerichts. Cody ist drei Jahre alt. Welcher Psychiater, der sie nie gesehen hat, als sie bei Ihnen lebte, wird beschwören, daß diese Leute ihren Geist verändern? Das Verhalten von Dreijährigen zu ändern gilt als normale elterliche Erziehungsmaßnahme.« Maggie hob in einer verzweifelten Geste die Hände; sie wußte, daß er recht hatte. »Und wenn ich sie einfach mitnehme, Lieutenant Devlin?« fragte sie mutlos. »Wenn ich einfach die Stadt verlasse und sie irgendwohin bringe, irgendwohin, um sie zu beschützen?« »Dann wird man Sie wegen Kindesentführung verhaften«, antwortete er lakonisch. »Das ist Staatsgesetz, Mrs. O'Connor. FBI. Gefängnis. Denken Sie an die Frau, die sagte, ihr Kind würde von ihrem Mann sexuell belästigt, und sie hat das Kind Gott weiß wohin verfrachtet. Die Frau saß zwei Jahre im Gefängnis, bis der Präsident sie begnadigte. Sie haben womöglich nicht soviel Glück... und wo bleibt Cody, wenn Sie im Gefängnis sitzen? Dann hat sie niemanden, der auf ihrer Seite ist.« Maggie senkte den Kopf, zu sehr den Tränen nahe, um sprechen zu können. Devlin beobachtete sie, wie sie um Fassung
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rang, und er wußte instinktiv, daß sie nicht aufgeben würde, egal, was er ihr erzählte. Das rührte ihn. »Wie weit sind Sie gewillt, sich einzulassen, Mrs. O'Connor?« fragte er ruhig. »Eine Sache wie diese könnte Ihr Leben verschlingen, mit einer ganz geringen Hoffnung, daß es so läuft, wie Sie es wünschen.« Sie sah ihn volle zehn Sekunden an, bevor sie deutlich sagte: »So weit, wie es erforderlich ist, Lieutenant.« Devlin stand auf, die Hände in den Taschen, und sah sie einen Moment eindringlich an. Die Unterredung war offensichtlich beendet, deshalb erhob sich Maggie. »Sie sind auch Irin, Mrs. O'Connor«, sagte er unvermittelt, und sie nickte. »Dann sind Ihnen die Christophers bekannt? Erinnern Sie sich zufällig an ihren Wahlspruch?« Maggie sah ihn verwundert an, dann zitierte sie: »›Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.‹« Devlin lächelte. »Offiziell kann ich nichts für Sie tun, Mrs. O'Connor, aber inoffiziell... von Ire zu Irin...« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich will sehen, ob wir irgendwie Licht in die Sache bringen können. Okay? Vielleicht kann ich wenigstens herausfinden, ob dieser Maa-Kheru-Zinnober tatsächlich existiert. Sie werden von mir hören, so oder so.« Er reichte ihr eine Karte mit der Telefonnummer des Reviers und schrieb seine Durchwahl daneben. Maggie dankte ihm und ging. Devlin sah der Gestalt aus dem Fenster des schäbigen Büros nach und dachte, dies hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte einen Haufen Fälle am Hals und einen Chef, der denken würde, er hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn er jetzt noch mit einem Kind in Greenwich daherkäme. Aber da war etwas... vielleicht würde er sich ein bißchen umhören. Er seufzte. Alle Übergeschnappten der Welt lebten im Sechsten Bezirk. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß sie nicht übergeschnappt war. Devlin bewunderte Würde und Courage in aussichtslosen Situationen, und Maggie O'Connor schien beides zu haben. Er fragte sich, ob sein Wunsch, sie wiederzusehen, in irgendeiner Weise damit zusammenhing.
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Völlig zermürbt ging Maggie nach Hause. Sie konnte nicht an der Steuererklärung arbeiten, deshalb schob sie sie zu dem Stapel Papiere auf der Couch, setzte sich hin und starrte in den Kamin. Sie hatte keine Ahnung, was sie als nächstes tun sollte. Der Anruf kam kurz vor elf. Es war Lieutenant Devlin; sie merkte ihm an, daß er seine Worte sorgfältig wählte. »Hören Sie, Mrs. O'Connor, ich habe mich für Sie über diese Maa-Kheru-Geschichte erkundigt, und ich habe ein paar Informationen. Offiziell heißt es, daß es nur eine verrückte Phantasterei ist, aber ich bin nicht überzeugt, daß das stimmt.« Maggie holte tief Luft. »Wenn Maa Kheru tatsächlich existiert«, fuhr er fort, »dann ist es ein Machtkartell schwersten Kalibers aus allen Berufsund Geschäftszweigen: Banker, Politiker, jede Menge Leute vom Theater, Ärzte, Rechtsanwälte, Kongreßabgeordnete, Senatoren ... Dem Vernehmen nach - das natürlich niemand bestätigen will - praktizieren sie alle schwarze Magie - Satanismus, Wodu, Palo Mayombe... eine Art ökumenisches Who's Who in der Ge meinde der Teufelsanbeter. Sie haben dem Teufel für Ruhm, Vermögen, Macht und wer weiß was ihre Seelen verkauft. Die Worte ›Maa Kheru‹ sind uralte Worte der Macht, die angeblich die Pforte zur Hölle öffnen. Das alles ist in der heutigen Zeit natürlich schwer zu glauben, aber es passiert genug sonderbares Zeug, deshalb können wir das hier vielleicht nicht ganz von der Hand weisen. Jedes Jahr geschehen eine Menge grausame Morde, die nicht untersucht werden, nur weil der örtliche Ge setzesvollzug keine öffentliche Panik auslösen will, indem man etwas als satanisch bezeichnet, ohne danach in der Lage zu sein, etwas dagegen zu unternehmen. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, Satanismus steht unter dem Schutz der Verfassung, genau wie jede andere Religion.« »Ich weiß nicht, was ich mit diesen Informationen anfangen soll, Detective«, erwiderte Maggie entschieden, »aber sie beunruhigen mich sehr.« »Im Moment können Sie nichts tun, Mrs. O'Connor. Aber ich würde vorschlagen, Sie bleiben beunruhigt, bis wir mehr wis sen. Wenn Jenna wirklich mit dem Teufel im Bunde ist, dann ist
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nicht nur Ihre Enkelin in Gefahr, sondern Sie selbst sind es auch.« Nach Beendigung des Gesprächs war Maggie so benommen, daß das nächste Klingeln des Telefons sie aufschreckte. Es war Amanda. »Endlich ist mir eingefallen, was an den Madagassen Besonderes ist, Darling, und ich dachte, ich sag's dir lieber, auch wenn's dich nicht gerade aufheitert. Die Leute von Madagaskar werden von anderen afrikanischen Eingeborenen gefürchtet, weil sie eine sehr machtvolle Art von schwarzer Magie praktizieren, Maggie. Was richtig Unheimliches. Atavistischer als Candomble und all diese grausigen südamerikanischen Stammesrituale. Meine Informantin hat mir gesagt, es ist der Ursprung der übelsten Art von Wodu, die in der Karibik praktiziert wird. Du glaubst doch nicht, Jenna könnte in so was Schauerliches verwickelt sein, oder?« Satanismus. Schwarze Magie. Übel. Die angsteinflößenden Worte zischten in Maggies Kopf wie heiße Flammen. Lieber Himmel, was tu ich jetzt?
11 Maggie schlug hart auf der Matte auf und landete einen kräftigen Seitentritt in die Rippen, gerade rechtzeitig, um einen tödlichen Schlag auf ihre Kehle abzuwehren. Sie schwitzte enorm, teils wegen der Anstrengung, teils wegen der Emotionen, die sie ins Budo-Studio geführt hatten. Sie rappelte sich hoch und baute sich in Kampfpositur vor ihrem Gegner auf. »Ich weiß, Sifu«, keuchte sie, »ich habe geblinzelt.« »Blinzle, während du kämpfst, und du wirst deine Augen für immer schließen«, erwiderte der stämmige chinesische Meister liebenswürdig. Er keuchte nicht einmal. Maggie hatte ihn vor ein paar Monaten bei einer Vorführung zehn junge Träger des schwarzen Gürtels überwinden sehen; Mr. Wong keuchte niemals, es sei denn mit Bedacht. Maggie schüttelte einsichtig den Kopf. »Ich werde mehr an mir arbeiten«, sagte sie wehmütig. »Noch einmal fünfunddreißig Jahre, dann bin ich gut.«
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Mr. Wong lächelte, seine zusammengekniffenen Augen blickten munter und vital, trotz seiner gelassenen Miene. Er war kein junger Mann, aber seine Augen waren lebendig, kraftvoll. »So schnell können Sie das lernen, Maggie? Sehr gut. Die meisten Menschen brauchen länger.« Maggie lächelte den alten Mann an, den sie verehrte. Während Jacks langer Krankheit hatte sie manchmal gedacht, sie würde wahnsinnig - oder einfach vergehen wie ein sterbender Stern - vor Angst und Kummer, vor Erschöpfung und der Unerbittlichkeit, beobachten zu müssen, wie etwas so Heimtückisches den Mann vernichtete, den sie liebte. Damals hatte sie im Sportverein mit Karate begonnen, als Ventil für ihre Frustration - und nachdem sie sich ein Jahr lang in Form gebracht hatte, hatte ihr Lehrer sie Mr. Wong vorgestellt, und bei ihm hatte sie angefangen, die asiatischen Kampfsportarten ernsthaft zu trainieren. Das Training und die Disziplin hatten sie in den schlimmsten Zeiten zu sich selbst finden lassen, sie gestärkt, sie in Gang gehalten. Jetzt wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und mühte sich ab, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. Zum einen, um den Meister nicht zu enttäuschen, zum anderen um ihrer selbst willen, dann bezog sie wieder Kampfstellung und drängte die geringfügige Verfehlung dorthin, wo sie hingehörte, in die Bedeutungslosigkeit. Dies war das einzige, womit sie sich selbst verwöhnte, diese ein, zwei Stunden täglich, die sie im Unterricht oder in ihrem Kellerstudio verbrachte. Morgens zwischen sechs und acht, bevor die anderen wach waren; die einzigen Stunden des Tages, die wirklich ihr gehörten. Boxen, kicken, balancieren, konzentrieren. Die kraftvolle Anmut der Formen, die konzentrierte Disziplin des Zweikampfs, die Weisheit Mr. Wongs. Es war mehr als ein körperliches Bedürfnis, das sie jeden Tag aufs neue zum Training trieb. »Körper, Geist, Seele, alles muß in Harmonie sein«, erinnerte Mr. Wong sie, ein taoistischer Mönch, als Kampfsportlehrer verkleidet. »Die Techniken gab es schon, bevor Sie geboren wurden, und es wird sie noch lange geben, wenn Sie gestorben
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sind. Lassen Sie sie durch Sie hindurch fließen und bewundern Sie ihre Schönheit.« Er verstand das Universum und die Energien, die es antrieben; er kannte Parabeln, die ihr den Weg ebneten, wenn die Straße unerkennbar und dunkel war. Man fragte sie oft, ob sie den Kampfsport zur Selbstverteidigung betrieb, und sie antwortete stets mit ja... aber sie meinte nicht dasselbe wie die Fragenden. Die wahre Selbstverteidigung, die man im Leben braucht, gilt dem Geist. Maggie sah auf die Uhr, es war fast acht; sie war seit halb sechs hier. Sie verbeugte sich vor Mr. Wong und eilte nach Hause, um zu duschen. Sie wußte, daß die Bibliothek um neun Uhr öffnete. Sie hatte sich vorgenommen, heute alles über Satan herauszufinden, was sie konnte.
12 Maggie blickte stirnrunzelnd auf das Lexikon. Es brachte ihr keine Erleuchtung, wenigstens lieferte das im Computer erfaßte Stichwortverzeichnis eine Fülle von Hinweisen. Sie notierte sich das erste Dutzend, holte die Bücher aus den Regalen und setzte sich hin, um zu lesen. »Ursprünglich war Satan ein herrlicher Engel, der Anführer der Seraphim, Oberhaupt der Ordnung der Tugenden und dem Throne Gottes sehr nahe. Er fiel in Ungnade wegen einer Erhebung gegen Gott, da er sich für gottgleich hielt. Für seine Sünde des Stolzes wurde er durch die Macht des Erzengels Michael mit seinem Flammenschwert aus dem Himmel verbannt, und alle seine Heerscharen mit ihm.« Maggie blätterte in einem halben Dutzend Büchern. Sehr interessant. Der Talmud, die Offenbarung und Thomas von Aquin, sie alle sprachen von Satan... Alle großen mystischen Denker glaubten also an seine Existenz... Maggie nahm sich das nächste Buch vor und machte sich an die Lektüre. »Satan wird manchmal auch Luzifer genannt, der Lichtbringer, und Luzifer wird zuweilen als ›Höchster Anwalt der Hölle‹ tituliert.«
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Maggie lächelte. Klar, daß er Jurist war. Verdammt! Sie wünschte, sie könnte sich besser erinnern, was sie im Religionsunterricht über den Antichrist gelernt hatte. Wie es schien, brüstete er sich mit einer Vielzahl von Namen: Ahriman in der persischen Theosophie, Beelzebub im Evangelium, Iblis im Koran und Samuel in der jüdischen Bibel. Es war wirklich faszinierend, daß alle Hauptreligionen die Existenz des Teufels bestätigten. Und er schien nicht allein zu sein; es gab Hinweise auf zahlreiche weitere Dämonen. Hundertdrei gefallene Engel waren namentlich bekannt, und es gab Hunderte weiterer höllischer Namen in jeder Kultur und jedem Zeitalter. Babylonien, Chaldäa, Ägypten, Sumer... Maggie holte sich einen neuen Stapel Bücher aus den Regalen. Zahlreiche Gruppen in ganz Amerika praktizierten anscheinend in aller Offenheit Teufelsanbetung. Es gab satanische Kirchen sowie diverse Teufelskulte wie Juju, Wodu, Palo Mayombe. Sie fand keine Erwähnung von Maa Kheru, aber in einem Nachschlagewerk, Kulte, die töten, hieß es: »Es existieren noch weitere satanische Gruppen, deren Namen wir niemals erfahren werden, weil sie nicht öffentlich bekanntgemacht werden. Diese sind womöglich die gefährlichsten von allen.« Zu Maggies Verwunderung gab es eine beträchtliche Anzahl Informationen über Menschenopfer. Die Zaubertheorie vertrat die Ansicht, daß die Chancen eines schwarzen Magiers, einen erfolgreichen Zauber zu bewirken, sich erhöhten, wenn er ein frisch geschlachtetes Opfer zur Verfügung hatte. Maggie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und versuchte, ihren Abscheu zu unterdrücken. Cody befand sich in den Händen von Leuten, die an solche Dinge glaubten. Sie griff nach dem nächsten Buch; es enthielt Interviews mit Justizbeamten zu dem Thema. »Capt. Dale Griffis vom Polizeirevier Tifflin, Ohio: »Der Ge brauch von Blut bei satanischen Ritualen ist sehr wichtig. Dem Glauben nach enthält Blut die Lebenskraft. Wer es hat, hat die Macht. Deswegen trinken sie es in ihren Ritualen und begießen sich damit.
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Dasselbe gilt für die Opferung von Menschen. Wer geopfert wird, verströmt im Augenblick des Todes seine Lebensenergie. Diese Kraft kann, so glauben die Satanisten, für ihre Zwecke nutzbar gemacht werden. Sie glauben, Kinder sind am besten, weil sie rein sind; sie haben noch nicht gesündigt und sind noch nicht verdorben. Sie besitzen eine größere Macht als Erwachsene. Wenn man ein Kind opfert, erhält man größere Macht, als wenn man einen Erwachsenen opfern würde. Zum kostbarsten Besitz eines Satanisten gehört eine aus dem Körperfett eines ungetauften Kindes gefertigte Kerze.‹« Maggies Blick war fest auf die Buchseite gerichtet. »Det. Sandi Gallant vom Geheimdienst der Polizei von San Francisco: ›Manche Satanisten glauben, daß sie sich die in bestimmten Körperteilen enthaltene Kraft zunutze machen können. Der Kopf enthalte den Geist, und das Herz enthalte die Seele. Diese Dinge würden ihnen die Macht geben. Es heißt, daß sie gerne einen Finger der linken Hand bei sich tragen. Welchen Finger, weiß ich nicht genau. Ich bin über die linken und rechten Wege im Bilde, aber über den Finger? Wer weiß?‹« Maggie legte das Buch beiseite und atmete tief durch. Satanisten existierten wirklich... sie hatten Kirchen... hielten Andachten ab... begingen hohe Feiertage. Es war viel schlimmer, als sie geahnt hatte. Sie gab die Bücher am Schalter zurück und sah im Aufzeichnungsverzeichnis nach, ob dieses Thema in irgendwelchen Fernsehsendungen behandelt worden war. Sie zog diverse Aufzeichnungsprotokolle von Talkshows heraus, die ihr vielversprechend erschienen, und fing an zu lesen. Ihr sank der Mut, als sie die ersten grauenhaften Seiten überflog. In diesen Fernsehsendungen waren Frauen interviewt worden, die sich selbst als Zuchttiere bezeichneten. Sie berichteten, sie hätten Kinder nur zum Zwecke der Verwendung bei rituellen Opferungen geboren. Maggie las Geschichten, eine grausiger als die andere. Da waren makabre Schilderungen von kleinen Kindern, die in satanischen Zeremonien geopfert und gegessen wurden... von bei lebendigem Leibe gehäuteten Kindern... von gefolterten Kindern... von Blut, das in schwarzen
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Messen als unheilige Kommunion diente. Maggie las von Müttern, die einer Gehirnwäsche unterzogen oder gegen ihren Willen gezwungen worden waren, an der Ermordung ihrer eigenen Kinder mitzuwirken; groteske, unmögliche Geschichten von Verderbnis und Perversion. Es gab sogar eine Selbsthilfegruppe namens »Siegreiche Überwinderinnen« für Frauen, denen es gelungen war, dem Hexensabbat zu entkommen, und die die Scherben ihres Lebens wieder zusammenkitten wollten. Jede Fernsehaufzeichnung schien unwahrscheinlicher als die vorige. Konnte es wirklich ganze Städte geben, wo jedermann Satan anbetete? Konnte es wirklich Ärzte, Rechtsanwälte und Richter geben, die ein Netzwerk des Schreckens bildeten, das zu durchdringen selbst die Polizei Mühe hatte? Und wenn irgendwelche von diesen Geschichten wahr waren, wieso stand dann die Welt nicht einfach auf wie ein Mann und hielt diese Leute davon ab, Menschen so schreckliche Dinge anzutun? Fast eine Stunde lang las Maggie Aufzeichnungsprotokolle: Geraldo, Donahue, Oprah, Sally Jessy Raphael, 20/20, 60 Minutes - all diese Talk-Shows hatten sich auf die eine oder andere Weise mit Satanismus befaßt. Inzest... Kinderpornographie... Ritualmord... Kinderzüchterinnen... Menschenopfer. Die Visionen, die diese Worte beschworen, brodelten wie Giftschlamm in Maggies Hirn. Sie klappte das letzte Aufzeichnungsprotokoll zu und stand auf, zu aufgeregt, um still zu sitzen. Es gab wirklich Menschen, die Satan anbeteten... die ihm zuliebe folterten und mordeten und mißhandelten. Und zwar heute, im Jahre 1993!, hier in New York City. Und in Kalifornien, in Texas und überall! Und sie hatten Cody. Sie benutzten kleine Kinder... unschuldige Kinder wurden vergewaltigt und verstümmelt und seelisch irreparabel geschädigt. Kinder wurden zu keinem anderen Zweck gezüchtet als dem, gegessen zu werden... Und sie hatten Cody! Plötzlich konnte Maggie nicht mehr atmen. Nicht mehr denken. Sie mußte sich bewegen. Raus hier. An die Luft... sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Benommen. Dunkel. Fallen...
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»Ist Ihnen nicht gut, Miss?« fragte der Mann, der über ihr stand, besorgt. Maggie versuchte, ihren Blick zu konzentrieren und herauszufinden, warum sie auf dem Fußboden lag. O Gott, ich bin ohnmächtig geworden. Sie rappelte sich hoch. »Es geht schon wieder«, murmelte sie, verlegen und verwirrt. »Ich hab heute wohl vergessen, etwas zu essen.« Ihr war fürchterlich übel, aber sie unterdrückte den Drang, sich zu übergeben, und kam schwankend auf die Füße. Der Mann machte ein zweifelndes Gesicht. Andere Leute starrten herüber. Aufregende Szenen waren in Bibliotheken fehl am Platz. Maggie sammelte den Stapel Bücher auf und bemühte sich trotz der starrenden Blicke um einen würdevollen Abgang. Sollen sie doch glotzen! dachte sie in plötzlicher Wut. Zorn und Übelkeit hielten sich die Waage. Sie tun Kindern weh, und sie haben Cody! Ich muß sie aus dem Haus rausholen. Maggie überquerte im Eiltempo die Bleecker Street; die Bibliothek hatte zu viele grauenhafte Informationen geliefert, und ihr dröhnte der Kopf. Der kalte Wind war eine Wohltat; es blieben noch diverse Bücher zu lesen, aber sie gedachte dies im Washington Square Park an der frischen Luft zu tun. Im Vorbeigehen fiel ihr in einem Schaufenster ein Buch ins Auge: Psychische Selbstverteidigung. Gott, so was kann ich gebrauchen, dachte sie mit einem matten Seufzer und trat spontan in das Geschäft. Es war ein warmer, behaglicher Laden, angefüllt mit glitzernden Kristallen von Amulettgröße bis zu riesengroßen Dekorationsstücken. Das Licht der Spätnachmittagssonne glitzerte auf einem Quarzbrocken von mindestens einem Meter Umfang und brach sich in Dutzenden von Regenbogenblitzen im Fenster. Sie schwankten im Luftzug und erzeugten eine Art Buntglas-Lichttanz, was das Innere des Ladens erheblich heller machte. Auch Bücher waren zu sehen, und ein Windglockenspiel klingelte harmonisch, als Maggie die Tür hinter sich schloß. Poster mit esoterischen Motiven schmückten die Wände, und eine Ecke wurde von einer Garnitur abgenutzter Chintzsessel einge-
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nommen. Auf einem Tisch dazwischen schimmerten eine große Kristallkugel und ein silbernes Teeservice. In einem der Sessel saß eine Frau. Auf den ersten Blick schien sie ein junges Mädchen in einem modernisierten BlumenkindAufzug zu sein; auf den zweiten Blick erkannte Maggie, daß sie Anfang Vierzig sein mußte. Ihr sensationeller Körper bewirkte diese Täuschung. Die Frau sah von dem Buch auf, in dem sie las, und lächelte, ein reizendes, offenes Lächeln, mit dem man in New York nicht rechnete. »Ich bin Ellie«, sagte sie mit einer schwungvollen Stimme, die auf Zufriedenheit mit dem Leben schließen ließ. »Wenn Sie Ihre Bücher ablegen wollen, während Sie sich umsehen, passe ich gerne auf sie auf.« Sie hatte ungewöhnliche Augen, veilchenblau und mit einem glühenden Funkeln. Ihr kluger Blick hatte etwas Unirdisches, als wäre sie nicht ganz menschlich, sondern eine Art Zwittergeschöpf. Galadriel, Königin der Elben, direkt aus Tolkiens Herr der Ringe. Maggie versuchte ihre Herkunft zu ergründen. Slawisch vielleicht, russisch. Eine Fülle dunkler gelockter Haare fiel ihr zigeunerhaft auf die Schultern; Perlen in allen denkbaren Variationen klimperten um ihren Hals, im Verein mit goldenen astrologischen Zeichen, Tierkreiszeichen und einer silbernen Kapsel. Ich bin durch eine Zeitverschiebung in Woodstock gelandet, dachte Maggie, während sie das Lächeln erwiderte. »Eine tolle Sammlung haben Sie da«, sagte Ellie nachdenklich, als sie die Titel von Maggies Büchern begutachtete. »Büffeln Sie für eine Doktorarbeit über Okkultismus?« »So ungefähr«, antwortete Maggie. »Aber das alles geht leider ein bißchen über meinen Horizont. Es ist, als würde ich versuchen, Atomphysik im Selbstunterricht zu erlernen.« Ellie lachte, aufrichtig erheitert. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, erbot sie sich. »Ich befasse mich seit kurz vor meiner Geburt mit Metaphysik. Es widerstrebt mir, zu behaupten, daß ich in irgendwas Expertin bin, aber ich werde vermutlich genügen, bis Sie jemanden finden. Wonach haben Sie genau gesucht?«
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»Ich versuche, alles über schwarze Magie zu erfahren, was ich kann; Satanismus nennt man das wohl.« Ellie machte große Augen, dann runzelte sie die Stirn. »Sie denken doch sicher nicht daran, sich ein bißchen mit der schwarzen Kunst abzugeben. Ich meine, ich habe hier nicht mal Bücher über das Zeug - nur über weiße Magie. Wissen Sie auch bestimmt, was Sie tun? Das ist, als würden Sie zum Spaß mit Kernspaltung herumspielen.« Sie blickte ehrlich besorgt drein. »Ich will Ihnen was sagen... ich wollte gerade schließen, um Tee zu trinken. Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?« Maggie lächelte wehmütig. »Meine Mutter sagte immer, wenn du irisch bist, kann eine Tasse Tee alles heilen, was dich plagt.« »Ich bin überzeugt, daß sie recht hatte. Der therapeutische Wert ist vermutlich inzwischen in die genetische Grundsubstanz eingestanzt.« Maggie entspannte sich ein wenig; die Frau hatte etwas Liebenswertes. Ellie schenkte zwei Tassen dampfenden schwarzen Tee ein, bot mit der Würde einer vornehmen älteren Dame Milch und Zucker an, dann machte sie es sich in ihrem Sessel bequem. »Nun heraus mit der Sprache. Weswegen das Interesse an schwarzer Magie? Sind Sie eine Art Forscherin? Oder nur ganz gewöhnlich auf satanische Schauerkitzel aus?« Maggie mußte unwillkürlich lachen. »Es ist allerdings eine bizarre Geschichte, an der sich alles verrückt anhört. Aber mein Enkelkind befindet sich in einer seltsamen, gefährlichen Situation - und jemand hat die Vermutung geäußert, es könnte Satanismus im Spiel sein. Da dachte ich, ich informiere mich am besten, womit ich es zu tun habe. Bis heute glaubte ich, das wäre nur ein Thema für die Illustrierten, die man sich an der Supermarktkasse anguckt. Jetzt ist mir wirklich angst und bange.« »Ich sehe, was Sie meinen«, sagte Ellie verständnisvoll. »Vielleicht erzählen Sie mir ein paar wesentliche Einzelheiten, damit ich Sie richtig beraten kann. Ich weiß wirklich, wovon ich spreche.« Maggie zögerte, dann begann sie. Sie hatte sich noch nie in
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ihrer Menschenkenntnis geirrt, und es würde hilfreich sein, mit einer Expertin zu sprechen. Ellie hörte aufmerksam zu. »Es ist gut, daß Sie mit mir sprechen, Maggie«, sagte sie mit großem Ernst. »Mit Satanismus ist nicht zu spaßen. Er ist viel verbreiteter und besser organisiert, als Sie sich vorstellen können. Magie, weiße oder schwarze, kann eine mächtige Kraft sein - über die Sie sich unbedingt informieren sollten, wenn Sie versuchen wollen, dagegen anzukämpfen. Glauben Sie mir, ich weiß eine Menge darüber, und nicht nur aus dieser unbedeutenden Lebensspanne. Ein schwarzer Magier von hohen Graden, sagen wir ein Magister Templi oder, Gott bewahre, ein Ipsissimus, könnte Sie auf der Astralebene angreifen, während Sie schlafen, Maggie. Oder er könnte Ihnen die Energien des gesamten schwarzen Hexensabbats entgegensetzen. Selbst wenn er Sie nicht töten würde, was er könnte, würden Sie total verrückt werden. Tausende von Menschen sind nur aus dem einen Grund in Irrenanstalten, weil sie wissentlich oder unwissentlich einen schwarzen Magier geärgert haben.« Maggie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das alles geht über meinen Verstand...« Ellie sah Maggie forschend an. »Im allgemeinen finden Menschen sich nicht von der Magie berührt, wenn sie sie nicht in einem anderen Leben praktiziert haben... Sie werden vielleicht feststellen, daß Sie mehr wissen, als Sie denken. Ihre Seele versucht vermutlich sich zu erinnern, was Sie schon wissen, damit Sie die augenblickliche Gefahr abwehren können. Vielleicht sollten Sie es mit der Rückkehr in diverse frühere Leben versuchen, um zu sehen, worum es bei alledem geht und wo wir uns schon einmal begegnet sind.« »Wo wir uns schon einmal begegnet sind?« »Es gibt keine Zufälle im Universum, Maggie. Sie sind nicht zufällig heute hier hereingekommen... alles spricht dafür, daß Sie hierhergezogen wurden durch Ihr Bedürfnis nach etwas... nach einer Verbündeten vielleicht. Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Gehen Sie nach Hause, lesen Sie diese Bücher, und danach unterhalten wir uns weiter.
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Ich muß natürlich auch ein wenig über die Geschichte, die Sie mir erzählt haben, meditieren. Ich meine, ich gehe nicht hin und setze mich mit meinem Astralhintern für Fremde in die Nesseln ... aber wenn sich nun herausstellt, daß Sie keine Fremde sind? Ich mache Ihnen einen Vorschlag... kommen Sie heute abend zum Essen zu mir nach Hause, und dann sehen wir, wie wir die Sache auf die Reihe bringen.« Ellie gab ihr zusätzlich noch ein paar Bücher zu lesen, und Maggie ging nach Hause, mit schwirrendem Kopf, weil es derart viele Informationen über ein Thema gab, von dem sie bisher nicht gewußt hatte, daß es existierte. Ellie stieg auf die kleine Trittleiter, die sie benutzte, um an die oberen Bücher in den Regalen ihrer Bibliothek zu gelangen, und reichte Maggie zwei herunter. Ihre Wohnung hatte hohe Räume und verströmte den Village-Charme der Vorkriegszeit. »Eine phantastische Wohnung, Ellie«, sagte Maggie bewundernd. »Wie das Haus eines Kapitäns... voll exotischer Schätze.« »Gesegnet sei der Mieterschutz«, erwiderte Ellie. »Wie könnte ich mir eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern und Kaminen leisten, wenn es keinen Mieterschutz gäbe? Was die Schätze betrifft, ich hänge leider viel zu sehr an Gegenständen... das liegt vermutlich daran, daß ich im Monat des Löwen geboren bin. Ich habe an vielen Orten gelebt und Andenken von dort mitgebracht.« Ein Schlafzimmer war in eine Bibliothek umgewandelt worden, die zugleich als Arbeitszimmer diente; alle Wände, sämtliche Flächen waren mit Büchern bedeckt. Wie im Geschäft waren überall reichlich Kristalle verteilt - unter Stühlen, auf Tischen, in Schränken. Im Schlafzimmer lag ein enormer rosaroter Quarz unter dem Bett. »Hervorragend geeignet zum Öffnen des Herz-Chakras«, erklärte Ellie schmunzelnd. Ein riesiger Bronzegong war flankiert von zwei herrlichen Thanka-Gemälden aus Tibet. Maggie registrierte anerkennend den erlesenen Geschmack, mit dem jedes einzelne Stück ausgewählt worden war.
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»Ich komme nicht dahinter, nach welchem System Sie diese Bücher geordnet haben«, sagte sie, während sie sich wieder den Regalen zuwendete. »Wie können Sie etwas finden, wenn es nicht alphabetisch geordnet ist?« Ellie reichte Maggie drei weitere Bände und lachte. »Oh, sie sind durchaus alphabetisch geordnet. Nach den Vornamen der Verfasser. Ein kleiner intellektueller Snobismus von mir. Manchmal macht es mich stinksauer, daß die Leute mich für bescheuert halten, weil ich mich mit Metaphysik beschäftige. Darum wehre ich mich mit Kleinigkeiten und amüsiere mich dabei. Vermutlich habe ich deswegen eine halbfertige Doktorarbeit in meiner oberen Schreibtischschublade liegen.« Alles an Ellie war überraschend, fand Maggie, und sie unterdrückte ein Lächeln. Das übersprudelnde Temperament, das Ellie an den Tag legte, täuschte über eine wache Intelligenz und eine Intuition hinweg, womit sie das Leben offensichtlich durch eine andere Brille sah. »Woher kommt Ihr Meister?« fragte sie, voller Sympathie für die Frau. »Aus Berkeley, woher sonst?« antwortete Ellie, während sie aus einer gekühlten Flasche Wein einschenkte. Sie kochte etwas Russisches und ratterte den Namen des Gerichtes mit erstklassigem russischen Akzent herunter. Der pikante, verlockende Duft erfüllte die Wohnung, und die Stereoanlage lieferte dazu die melancholischen Klänge von Balalaikamusik. »Ich habe seit Ende der sechziger Jahre das ganze Brimborium mitgemacht, Mags.« Maggie bemerkte amüsiert, daß Ellie ihr ohne Umschweife einen neuen Spitznamen gegeben hatte. »Alles, was ein intellektuelles Blumenkind machen konnte, habe ich gemacht. Drei Jahre bei einem Guru in Indien gelebt, um Sanskrit zu studieren... zwei Jahre in einem Cherokee-Reservat, um die Visionssuche zu erfahren... anderthalb Jahre in einem Zen-Kloster, jeden Tag um vier Uhr morgens in Versenkung gesessen und mir den Hintern abgefroren, während ich sang.« Sie zählte alles an den Fingern auf. »O ja, nicht zu vergessen die achtzehn Monate, die ich durch Südamerika gewandert bin, wo ich an Kristallausgrabungen teilgenommen und
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Capoiera studiert habe. Dann kam ich nach Hause und ging zwei Jahre bei einem chinesischen Arzt in die Lehre, um Akupunktur zu lernen.« Ellie hatte ein klares, starkknochiges Gesicht, stellte Maggie fest, während sie sie so ernst reden hörte; hübsch, interessant, und es verriet wenig über ihr Alter. »Ich habe alles gemacht, was Sie sich nur denken können«, sagte Ellie mit einem sympathischen Schmunzeln. »Gegen den Krieg protestiert, in Chicago im Knast gewesen, während der Küchentischperiode bei einem Informationsdienst für Abtreibungen mitgearbeitet...« Sie trank einen Schluck Wein und rührte etwas auf dem Herd um, kostete, fügte ein scharfes Ge würz hinzu, dann setzte sie sich wieder auf eine Zafu-Matte mitten auf den Fußboden. »Und auch ein paar Dinge, die ich mir nicht denken kann?« »Ja. Schätze, das könnte man sagen. Meine Familie ist halb russisch und halb Cherokee, daher war ich von Kind an der Übersinnlichkeit geweiht... Visionen, außerkörperliche Erfahrungen, Erinnerungen an ein früheres Leben, das gab mir mehr, als es ein Kindergarten gekonnt hätte. Ich hatte einfach alles. Zum Glück bin ich hauptsächlich bei meinen Großmüttern aufgewachsen, weil meine Mutter gearbeitet hat und mein Va ter herumgezogen ist. Ich bin zwischen ihren zwei Welten hin und her gesprungen, und keine Seite der Familie fand es eigenartig, daß ich diese Gaben hatte; sie haben es mehr oder weniger erwartet. Statt mich zu entmutigen, haben sie mich unterwiesen - von der einen Seite lernte ich Magie, von der anderen bekam ich geistige Führung. Sie waren beide unglaubliche Frauen - zäh wie Leder, feminin wie Mondjungfern. Ich gehe jeden Mittwochabend zur Mütterfürsorge und halte AIDS-Kinder auf dem Arm, zum Dank an das Universum für alle, die mir etwas gegeben haben.« »Sehr außergewöhnlich«, sagte Maggie, und sie dachte daran, wie konventionell ihre eigene Kindheit gewesen war. »Was wäre wohl aus Ihren Gaben geworden, wenn Sie in eine gewöhnliche Familie geraten wären?« »Oh, ich glaube nicht, daß die Mächte des Universums Miß-
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griffe geschehen lassen, Mags«, sagte Ellie ernst. »Sie stellen einen genau dorthin, wo man sein muß, um sein Karma zu entwickeln. Ich habe die zwei Großmütter nicht zum erstenmal besucht - ich habe mit ihnen einen Zyklus vollendet.« Maggie runzelte leicht die Stirn. »Ich habe immer noch Schwierigkeiten damit, Ellie. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, daß ein intelligenter und gebildeter Mensch wie Sie an Magie glaubt.« Ellie, die sich über den Tisch gebeugt hatte, richtete sich auf. »Beißen Sie sich nicht an Bezeichnungen fest, Maggie. Magie ist nur ein Wort, um Kräfte zu benennen, die man noch nicht versteht. Sie müssen aufhören, mit Ihrer Bildung des 20. Jahrhunderts zu denken, und anfangen, Ihre Intuition zu gebrauchen... die Wahrheit zu erfühlen, anstatt das, was man Ihnen beigebracht hat, für das Evangelium zu halten. Einst glaubte man, die Welt sei flach. Das Atom galt als unteilbar. Wenn jemand zu Isaac Newton gesagt hätte, daß in ein paar hundert Jahren Bilder von Satelliten in Wohnzimmer ausgestrahlt würden, hätte er mit dem Apfel nach ihm geworfen.« Maggie begriff. »Darf ich Ihnen eine unverschämte Frage stellen, Ellie?« »Schießen Sie los.« »Warum gibt sich jemand, der eine halbfertige Doktorarbeit in der Schublade hat, damit zufrieden, Kristalle und Räucherstäbchen zu verkaufen? Hatten Sie nie den Wunsch, einen anderen Weg zu gehen?« »Gute Frage«, antwortete Ellie, während sich beide an den Tisch setzten, der je nach Bedarf als Eßplatz oder Werkbank diente. Hinter ihnen loderte das Feuer, und für Maggie war dies eines der am reizvollsten eingerichteten Eßzimmer, in denen sie je gewesen war. »Ich wußte schon im frühen Kindesalter von meinen Großmüttern, daß ich spirituelle Gaben hatte und daß diese Ga ben Verpflichtungen mit sich brachten. In der Bibel heißt es: ›Denn welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen.‹ Das erscheint mir gerecht. Es heißt aber auch: ›Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen‹, und auch das ist wahr, Mags
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- man muß in seiner gegebenen Lebensspanne wählen. Wäre ich Ärztin oder Anwältin oder Marketingdirektorin geworden, dann müßte ich alle meine Energien dem Erfolg widmen... dagegen ist beileibe nichts einzuwenden. Ich habe es in vielen Leben so gemacht. Aber diesmal mußte ich andere Dinge lernen. Ziemlich knifflig, ein Schnellspurleben zu finden, das mir Zeit für alle meine esoterischen Studien läßt.« Zwischen ihnen bestand aufrichtiges Einvernehmen, trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft, dachte Maggie später, als sie beim Abwasch half. Charakter hat nichts mit Geburt oder Bankkonto zu tun, würde ihr Vater gesagt haben. Ellie war ein ehrlicher Charakter von der Art, wie es sie im Village einst in Hülle und Fülle gegeben hatte, bevor Burger-King-Lokale die Cafes abgelöst hatten und SoHo zuerst schick und dann eine Touristenfalle geworden war. Damals hatten Individualität und intellektuelles Streben mindestens soviel gegolten wie Ruhm oder Vermögen. Es waren bessere Zeiten gewesen. »Und was soll ich jetzt tun, Ellie? Was schlagen Sie vor?« fragte Maggie beim Kaffee. »Lesen Sie die Bücher, die ich Ihnen gegeben habe, und lassen Sie mich meine Berater befragen. Ich habe das Gefühl, daß der Übergang, in dem Sie sich befinden, mit Verbündeten zu tun haben könnte. Das Universum konfrontiert uns arme Sterbliche niemals mit den Mächten des Bösen, ohne uns Verbündete an die Seite zu stellen, hier und auf den inneren Ebenen. Freilich sind die einzigen Verbündeten, über die wir gebieten, diejenigen, die wir sehen können... wie ich vielleicht. Wenn ich recht habe, werden Sie auf weitere stoßen.« Maggie nickte; wer A sagte, mußte auch B sagen. »Warum tun Sie das, Ellie?« fragte sie. »Warum wollen Sie sich für eine Wildfremde in Gefahr begeben?« »Ich glaube nicht, daß wir dieses Gespräch führen würden, wenn wir uns vollkommen fremd wären, Mags. Ich hänge da irgendwie mit drin... wir wissen nur noch nicht, wie.« »Aber was könnte Ihnen dieser furchtbare Schlamassel bringen, daß es sich für Sie lohnt, sich mit hineinziehen zu lassen?«
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»Erleuchtung«, erwiderte Ellie schmunzelnd. »Das ist der einzige Lohn, der es wert ist, daß man um ihn kämpft.«
13 Cody folgte dem Mädchen lustlos von der Küche zum Kindertrakt. Manchmal ließ Ghania sie eine Weile mit dem Hausmädchen allein, und dann gingen sie jedesmal in die Küche. Anfangs hatte Cody versucht, mit dem Mädchen zu sprechen, aber es kannte nicht viele englische Worte. Ghania sagte, das Mädchen sei aus dem alten Land, aber Cody wußte nicht, was das bedeutete. Und außerdem lächelte es nie und suchte auch nie, freundlich zu sein. Das Kind hielt jetzt den Kopf gesenkt und folgte im Gehen mit den Augen dem Muster des Bodenbelags, nur um etwas zu haben, womit sich seine Gedanken beschäftigen konnten. Zuerst die Fliesen in der Küche... dann das Parkett im Flur, dann der Teppich im Salon, dann das schwarzweiße Schachbrettmu ster in der Halle... Und dort sah sie es. Ein goldenes Knöpfchen, halb unter dem Heizungsfuß, an der Ecke der Hallentür. Es war Mims Knopf! Von der Jacke, die sie an dem Tag anhatte, als sie das erste Mal zu Besuch gekommen war. Codys Herz machte einen Sprung, als sie das winzigkleine Unterpfand sah, und plötzlich wußte sie, warum es da war. Es war da, um ihr Geborgenheit zu geben! Codys Hand schnellte vor und schloß sich um den goldenen Schatz. Er ließ sich mit einem ganz kleinen Ruck aus der Ecke ziehen und lag in ihrer Hand, bevor das Mädchen sich umdrehte, um nach ihr zu sehen. Codys Herz klopfte rasend schnell, als sie den Knopf in ihre Pullovertasche schob; und auch dann hielt sie die Finger noch fest darum geschlossen. Sie konnte Mims Liebe regelrecht fühlen, ihr Gesicht sehen, ihre Stimme hören... alles war irgendwie lebendig in dem kleinen goldenen Andenken.
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Cody tappte hinter dem Mädchen her, die Treppe zum Kindertrakt hinauf, in ihr verhaßtes Zimmer, aber das alles spielte nun keine Rolle mehr. Sie hatte ein Stück von Mim in ihrer Tasche. Sie würde einen Platz finden, um es zu verstecken, wo Ghania niemals hinschauen würde. Das Kind ließ seine Augen mit neuer Entschlossenheit durch das Zimmer huschen. Wenn dieser kostbare Knopf hier im Haus war, gab es vielleicht noch mehr Sachen von Mim, die Ghania ihr nicht wegnehmen konnte. Jetzt gab es Hoffnung... Cody wartete, bis das Mädchen fort war, dann trat sie vor das kleine Bord, das ihre Bücher und Spielsachen enthielt. Sie zog den ramponierten Teddybären heraus, der schon im Kinderzimmer gewesen war, als sie ankam. Er war das einzige an diesem schrecklichen Ort, was hübsch war. Er erinnerte sie an den Schmusebär, der zu Hause bei ihr im Bett schlief. Der Teddy hatte ein Loch im Hals, unter dem alten Satinband, das darum gebunden war. Mit klopfendem Herzen ließ sie verstohlen den Knopf in das Loch gleiten und rückte das Band schnell wieder an Ort und Stelle. Cody setzte den Bären vorsichtig auf das Bord zurück. Heute abend, wenn alle schlafen gegangen waren, würde sie mit ihrem Geheimnis allein sein.
14 »Maggie?« sagte die Stimme am Telefon, und Maggie brauchte einen Moment, bis sie erkannte, daß es Malachy Devlin war. »Lieutenant Devlin?« »Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit mir zu Abend essen wollen.« »So?« Die Einladung lag so jenseits von allem, was Maggie im Kopf hatte, daß sie nicht besonders gut parierte. »Hat das was mit Cody zu tun?« »Ich habe allerdings ein paar Informationen für Sie, Maggie«, sagte er unbekümmert, »aber das ist nicht der einzige Grund, weswegen ich Sie frage. Bitten sagen Sie ja. Es würde mir sehr viel bedeuten.«
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Weil ihr keine passende Antwort einfiel, sagte Maggie zu. Und da fiel ihr auf, daß er sie nicht mehr Mrs. O'Connor nannte. Das Restaurant an der Minetta Lane war klein und gemütlich. In einem handtuchgroßen imitierten Garten standen Tische, und das Ganze atmete Innenstadtintimität. Paare lachten oder flüsterten über Weingläsern, und alle schienen froh, daß sie hier waren. Der Besitzer kannte Devlin offensichtlich und begrüßte sie, als sie hereinkamen. »Gib uns einen Tisch irgendwo abseits des Trubels, Dominic«, sagte der Detective, während sie sich die Hände schüttelten. »Wir müssen was Geschäftliches besprechen.« »Keine heiklen Geschäfte, hoffe ich um deinetwillen, Malachy«, sagte Dominic grinsend. »So eine reizende Signora...« Er blinzelte Maggie verschwörerisch zu. Sie bekamen einen Tisch in der hintersten Ecke, eine Kerze flackerte, und Maggies Stuhl stieß an eine Fülle bunter Blumen. »Hier war ich noch nie«, sagte sie, als sie sich gesetzt hatten. »Ein hübsches Lokal. Dominic ist wohl ein Freund von Ihnen?« »Wir sind zusammen in der South Bronx aufgewachsen«, antwortete Devlin. »Man konnte Polizist, Gastwirt, Priester oder Gangster werden, egal. Wenn es einen nur aus der Gegend herausbrachte.« Dominic trug ungefragt eine Flasche Wein auf, und Maggie wurde, während sie sich unterhielten, von Devlin eindringlich beobachtet, als wolle er sie sich in allen Einzelheiten einprägen. Sie fragte sich, ob alle Kriminalbeamten das instinktiv taten. »Warum sind Sie mir auf dem Revier zu Hilfe gekommen, als ich bei dem anderen Beamten war?« fragte sie, nachdem sie bestellt hatten. »Hank ist wirklich ein feiner Kerl«, nahm Devlin ihn in Schutz. »Sie sind an ihn geraten, nachdem er drei Nächte nicht geschlafen hatte.« Er lächelte, bevor er fortfuhr: »Ich habe etwas an Ihnen erkannt, schätze ich... als würde man durch eine Tür treten und unerwartet eine alte Freundin antreffen. Ich weiß es nicht genau. Es war nicht nur, daß ich Sie hübsch fand und auf der Polizeiwache schrecklich fehl am Platz. Da war
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noch etwas.« Er lachte kurz auf. »Meine Mutter hat ihr Geld als Medium verdient, vielleicht habe ich ihre Begabung geerbt. Ein bißchen davon auf alle Fälle.« Maggie staunte. »Was hat Ihr Vater dazu gesagt?« »Das habe ich nie erfahren. Er starb, als ich sieben war, deshalb habe ich nicht allzu viele deutliche Erinnerungen an ihn. Wir wohnten in einer ziemlich armen Gegend, und nach seinem Tod mußte Mom sehen, wie sie was zu essen auf den Tisch brachte. Deuterin und Beraterin nannte sie sich. Sie trug einen großen Turban... sah richtig komisch aus zu ihrem irischen Ge sicht mit den Sommersprossen. Aber was sie machte, machte sie gut. Sie war nicht unfehlbar, beileibe nicht. Wie alle Medien hatte sie Tage, wo ihre Antenne nicht ausgefahren war, aber größtenteils war ihre Begabung echt, und so bin ich mit dem Wissen aufgewachsen, daß es im Leben mehr gibt als das, was man mit bloßem Auge erkennen kann. Der Schleier zwischen den Welten ist für uns Kelten dünner als für andere, nehme ich an.« Er ist wirklich erstaunlich, dachte Maggie, während sie ihn ansah und ihm zuhörte. Rauhe und glatte Züge; interessanter und verletzlicher, als er auf der Wache wirkte. Er hatte nette Augen. Sei nicht unehrlich zu mir, sagten sie. Ich würde es sofort merken. Es gefiel ihr, daß sie nie flatterten, wenn sie einen ansahen. »Wie sind Sie als Kind gewesen?« fragte er sichtlich interessiert. »Waren Sie wie Cody?« Sie sah, daß er versuchte, ihr jegliche Befangenheit zu nehmen. »Ach, das weiß ich nicht mehr, wirklich. Es ist so lange her. Ich glaube, ich war ein eigenartiges Persönchen, eine ziemliche Leseratte und rätselhaft.« Der Wein begann, ihre stets präsente Unruhe zu mildern; es schien surreal, sich vorübergehend sicherer zu fühlen, mitten in einem Alptraum. »Ich hatte immer eine Vorliebe für leere Kirchen, als ich klein war, und wir wohnten in der Nähe von St. Joseph«, sagte sie. »Ich habe jeden Nachmittag auf dem Heimweg von der Schule hineingeschaut, um dem lieben Gott guten Tag zu sagen.« Malachy lächelte aufmunternd; sein Blick sagte, daß er sie seltsam und interessant fand, also fuhr Maggie fort: »Ich kniete dort bei
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flackernden Kerzen, und der Weihrauch gab mir das Gefühl, heilig zu sein, und ich hatte die ausgefallensten Phantasien... oder vielleicht waren es auch so etwas wie Visionen. Ich versetzte mich in die Zelle der heiligen Theresa und führte mit ihr sehr lange, tiefgründige Gespräche über Gott... Ich half sogar dem heiligen Franziskus beim Füttern der Vögel.« Sie lachte ein wenig über sich selbst. »Ich muß schon sehr früh das Talent gehabt haben, in einen anderen Bewußtseinszustand zu gleiten, denn gelegentlich schien die Zeit auf der Stelle zu schweben, und ich konnte am Rande meines Blickfeldes die Anwesenheit von Engeln wahrnehmen...« Maggie lächelte entschuldigend. »Ich nehme an, auf die eine oder andere Art sind wir alle Mystiker... wir reden nur nicht viel darüber.« Devlin sah sie nachdenklich an. Ihr Gesicht bewahrte Ge heimnisse nicht als Ausflucht, sondern aus Verletzlichkeit. »Nein«, sagte er. »Nicht alle. Nur einige, wie Sie und ich. Deswegen schreibe ich wohl Gedichte, nehme ich an - um die andere Sphäre zu berühren, wohin die meisten nicht folgen können. « »Sie sind ein Dichter?« »Ich möchte nicht unbedingt, daß die Jungs im Revier das erfahren... aber, ja, ein paar Sachen von mir wurden veröffentlicht. Überrascht?« »Erstaunt«, sagte sie aufrichtig. »Oder vielleicht jetzt nicht mehr so erstaunt, wie ich noch vor einer Stunde gewesen wäre.« Seine Unterarme lagen vor ihm auf dem Tisch, die Ärmel des verwaschenen Pullovers bis zu den Ellenbogen hochgeschoben, zupackende Arme von verhaltener Kraft. Die Muskeln trainiert, aber nicht mit Vorsatz, dachte Maggie. Infolge der Beanspruchung hervortretende Venen. Gesicht und Körper waren auf rauhe Weise ansehnlich, sprechend, von der Art, die sich ernst nahm, wenn Kompetenz gefragt war, aber ohne in Eitelkeit auszuarten. Devlin zog ein Notizbuch hervor und kam wieder auf Cody zu sprechen. »Ich habe ein paar neue Informationen für Sie über Jennas Ehemann«, erklärte er, wobei er vielsagend den Kopf schüttelte.
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»Ihre Tochter scheint furchtbar reich zu sein. Oder ihr Mann ist es zumindest. Dieser Vannier ist ein interessanter Typ, Maggie. Das Bankgeschäft seiner Familie ist eine Privatgesellschaft, deshalb sind die Geschäftsberichte nicht öffentlich einsehbar. Aber jeder bestätigt, daß die Aktiva enorm sind. Er hat sein juristisches Examen in Harvard gemacht, aber den Beruf nie ausgeübt. Was er Ihnen erzählt hat, stimmt - er verwaltet den Fonds der Vannier-Stiftung, einer internationalen philanthropischen Institution mit einem Riesenvermögen. Das Geld der Vanniers scheint alt und aus dem Mittleren Osten zu sein; wo oder wie genau es angesammelt wurde, weiß ich noch nicht. Er hat Zugang zu den höchsten Gesellschaftsschichten auf mehreren Kontinenten. Der Typ ist ein perfekter Segler, Reiter, Sportler, was Sie wollen - er beherrscht alles, was kostspielig und gefährlich ist, also versuchen Sie nicht, ihn zusammenzuschlagen, denn er ist vermutlich in Hochform. Er kennt nur die ganz Großen und die fast ganz Großen, aber - jetzt kommt Fragwürdigkeit Nummer eins... er war vorher nie verheiratet und, soviel ich weiß, wurde sein Name nie auf romantische Weise mit dem einer Frau in Verbindung gebracht, und das ist sehr sonderbar in seinen Kreisen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie seine Wege und die Ihrer Tochter sich gekreuzt haben, wenn er sie nicht mit seinem Rolls Royce überfahren hat. Und Fragwürdigkeit Nummer zwei könnte sich mit Ihrem Problem decken«, fuhr Devlin mit besorgter Miene fort. »Erics bester Freund, seit sie zusammen in Choate im Internat waren, ist Nicholas Sayles... der Talkmaster.« Maggie blinzelte überrascht. »Eine Kreuzung zwischen Ge raldo und Mike Wallace, nicht? Aber glänzend.« Devlin nickte. »Nicky ist ein toller Hecht... starke Ausstrahlung, sehr kompliziert. Aus einer prominenten alteingesessenen Bostoner Familie mit Unmengen von vielleicht nicht ganz astreinem Geld. Er hat im selben Jahr wie Eric in Harvard sein juristisches Examen gemacht, aber sein Geld hat er im Showbusineß verdient.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich sollte Ihnen vermutlich nichts davon erzählen, Maggie,
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weil es Ihnen eine Mordsangst einjagt, aber trotzdem: Es hat streng gehütete, aber beharrliche Gerüchte gegeben, daß er mit dem Satanismus zu tun hat.« »Aber wie ist das möglich? Verbringt er nicht sein Leben damit, Kulte und anderen Unfug im Fernsehen bloßzustellen?« »Ja, aber einige Leute sagen, das tut er nur, um das schauerliche Zeug ins öffentliche Bewußtsein zu bringen. Sie wissen schon, das Böse fördern unter dem Deckmantel, es bloßzustellen. Der Welt erzählen: ›He, es ist alles greifbar, wenn ihr es wollt, Leute. Fordert einfach schriftlich eine Liste an von Vampiren, Sexverbrechern und Serienmördern, die ihre Opfer essen, und wir schicken sie euch.‹« Devlin warf einen Blick auf seine Notizen und fuhr fort: »Sayles' Vater ist Rüstungsfabrikant, nicht unbedingt makellos sauber, aber reich wie Krösus. Der Betrieb stammt noch aus der Revolutionszeit. Nicholas war ein Überflieger in den besten Knabenschulen im Osten, aber er hatte immer Verhaltensprobleme. Weil er mühelos gute Noten bekam und weil die Stiftungen seines Vaters ganz Afghanistan hätten versorgen können, wurde er von den Lehrern nie übermäßig schikaniert. Als er in Harvard Examen machte, fing er an, sich als Fernsehjournalist hochzurangeln, aber seinen wirklichen Erfolg hatte er hinter der Kamera, nicht davor. Nicky war ein Genie hinter den Kulissen; er produzierte Shows mit einem unheimlichen Instinkt dafür, was beim Publikum ankommt, und mit genug Geld, um die Produktion zu finanzieren. Damit verdiente er sich ein zweites Vermögen neben dem geerbten. Nicky und Eric waren während der ganzen Internatszeit Zimmergenossen und sind seitdem dicke Freunde geblieben. Jeder ist im Hause des anderen ein häufiger Gast... sie haben gemeinsame Interessen, gemeinsame Investitionen und gemeinsame Freunde, trotz ihrer so unterschiedlichen Berufe.« Maggie hörte aufmerksam zu. »Wie kam man dazu, einen solchen Ausbund an Tugend mit schwarzer Magie in Verbindung zu bringen?« fragte sie verwundert. »Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, daß ein so prominenter Medienstar der Entdeckung entgehen könnte, wenn es stimmte, oder?«
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»Ich weiß es nicht, Maggie«, erwiderte Devlin zurückhaltend. »Erfolg ist eine gute Tarnung. Und mit genug Geld läßt sich eine breite Spur verwischen. Es gab zum Beispiel in ihrem letzten Studienjahr im Verbindungshaus einen Zwischenfall, bei dem ein Schüler auf rituelle Weise ums Leben kam. Die Polizei sagte, es sei rätselhaft. Später kam das Gerücht auf, es hätte mit einer Gruppe auf dem Campus zu tun, die sich nebenbei mit schwarzer Magie befaßte. Eine bestimmte Geldsumme wechselte die Besitzer, und alle Gerüchte verstummten. Später, nach Sayles' raketenhaftem Aufstieg im Fernsehen, sickerten Gerüchte durch, daß gewisse Mitwirkende in seinen Shows für Erfolg in den Medien ihre Seelen an Satan verkauft hätten, aber alle dachten, das wäre nur eine neue spektakuläre PR-Masche, die sich der geniale Produzent ausgedacht hatte. Und natürlich schienen diese Behauptungen so absurd, daß die Welt sie einfach ignorierte.« »Und was ist nach Ihrer Meinung die Wahrheit?« fragte Maggie stirnrunzelnd. Er fand, daß die senkrechten Falten, die sich auf ihrer Stirn bildeten, ihr zusätzliche Größe verliehen. »Ich würde sagen, diese Kerle haben vermutlich bei etwas Finsterem, Gemeinem die Hand im Spiel - ich komme bloß nicht dahinter, warum sie Cody haben wollen. Oder Jenna, was das betrifft. Wenn ein Mann alles Geld der Welt hat, herrscht gewöhnlich an Frauen kein Mangel. Und wenn sie bei irgendwelchem satanischen Unfug mitmischen, ist es für diese Wahnsinnigen ein leichtes, sich Kinder für ihre Rituale zu verschaffen - sie kidnappen sie auf der Straße oder kaufen sie bei Leichenbeschaffern.« »Was?« »Die Leichenfirmen sind dazu da, medizinische Fakultäten mit Leichnamen zu beliefern, aber es wird Mißbrauch getrieben.« »Das ist wirklich zuviel!« unterbrach Maggie ihn. Von der Vorstellung, daß Cody für ein satanisches Ritual benutzt werden würde, wurde ihr körperlich übel. »Das alles geht einfach über meine Kraft...« »Schauen Sie, Maggie«, sagte Devlin ruhig, »man kann nicht
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lange in meinem Beruf sein, ohne zu lernen, den Charakter der Menschen zu lesen. Wie ich Sie einschätze, sind Sie, mit oder ohne Hilfe, nicht der Typ, der das Kind aufgibt. Der Grund, weshalb ich versuche, Informationen für Sie zu sammeln, ist der, daß ich nicht sehen möchte, wie Sie unbewaffnet auf die Bande losgehen.« »Meinem Kampfsportlehrer würde Ihre Denkweise gefallen«, erwiderte sie. Jetzt war es an Devil, überrascht zu sein. »Sie treiben Kampfsport? Welche Art?« »Goju Ryu und Wing Chun. Ich habe fünf oder sechs Jahre Karate und Kung Fu trainiert.« »Sie sind zwar kein Bruce Lee, aber wenn es sein müßte, könnten Sie sich vermutlich selbst verteidigen, ja?« »Vorausgesetzt, ich suche mir meine Gegner sorgfältig aus«, antwortete sie, und beide lachten. »Ich habe auf der Polizeischule ein bißchen Goju trainiert. Und beim Jurastudium hatte ich einen Kumpel, der war richtig gut. Pak und ich haben uns draußen im Park ausgetobt, wenn's im Hörsaal heiß und schwierig wurde.« »Sie haben Jura studiert?« fragte sie, erneut überrascht von seinen Gegensätzen. Devlin grinste gutmütig. »Jetzt denken Sie wohl, was ist bloß los mit diesem Typen? Er hat ein juristisches Examen und ist nicht mal helle genug, was damit anzufangen. Wahrscheinlich war er der zweihundertste unter hundertsechsundachtzig Absolventen.« Seine Augen blickten wehmütig, und Maggie stellte fest, daß sie sich sehr wohl fühlte bei diesem fremden Mann, der ihr überhaupt nicht wie ein Fremder vorkam. »Nein«, erwiderte sie unter heftigem Kopfschütteln. »Ich dachte, Sie sind eine große Überraschung.« Devlins Gesicht war wieder ernst. »Wis sen Sie, ich hätte nicht aufgegeben, wenn Sie heute abend nein gesagt hätten«, sagte er. Maggie sah ihn amüsiert an. »Warum nicht?« »Beharrlichkeit ist eine von meinen besseren Eigenschaften. Wenn etwas wichtig ist, muß man mich schon mit der U-Bahn überfahren, um mich davon abzuhalten.«
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»Ach du lieber Gott«, sagte sie, plötzlich betroffen. »Sie versprechen sich doch hoffentlich nichts von mir, weil ich heute abend mit Ihnen beim Essen sitze, Lieutenant Devlin. Ich dachte nicht... ich meine, ich lebe im Moment im Auge des Hurrikans, und ich darf mich durch nichts davon ablenken lassen, Cody zu helfen. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich einen falschen Eindruck erweckt habe...« Sie ließ die Worte verklingen; sie war verlegen und wußte nicht, was sie noch sagen sollte, wollte aber aufrichtig sein. »Schauen Sie, Maggie«, sagte er ruhig, und aller Übermut war verflogen. »Ich war verheiratet mit einem Mädchen von nebenan, wie man in der South Bronx sagt. Ein nettes Mädchen... herzlich, hübsch und zu klug, um lange in der Bronx zu bleiben. Wir sind zusammen groß geworden. Fast neun Jahre verheiratet...« Er brach ab, und Maggie konnte jenseits der Erinnerung einen großen Schmerz erkennen. »Als es mit uns total schiefging, bin ich ein bißchen durchgedreht und habe eine Menge Dummheiten gemacht. Ich ging Risiken ein, die ich nicht hätte eingehen sollen, traf mich mit Frauen ohne Seele... aber damit kann man die Löcher in seinem Herzen nicht stopfen. Als ich schließlich zur Vernunft kam, wurde ich so anspruchsvoll, daß höchstens die Jungfrau Maria vor mir bestanden hätte.« Er schüttelte den Kopf über seine eigenen Verirrungen. »Dann sah ich Sie neulich abends auf der Wache, und da ist etwas passiert. Ich will nicht, daß es sich so anhört, als wäre ich vom Blitz getroffen worden, Maggie, also schrecken Sie nicht vor mir zurück. Aber ich wollte mit Ihnen reden, um Sie kennenzulernen. Nicht nur, um Sie rumzukriegen, obwohl ich nicht behaupten kann, daß mir der Gedanke nicht durch den Kopf gegangen wäre. Aber das hatte für mich nicht erste Priorität, als ich Sie anrief.« Er lächelte wehmütig, und sie sah ihm an, daß er wünschte, sie würde ihn verstehen. »Ich dachte... ich fände es schön, wenn diese Lady meine Freundin wäre.« Maggie lehnte sich zurück und sah den Mann forschend an. Sie entdeckte in seinen Augen nichts als Aufrichtigkeit. »Ich könnte gerade jetzt auch einen Freund gebrauchen«, er-
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widerte sie und fand, das habe einen tröstlichen Klang. »Ich denke, am besten nenne ich Sie von jetzt an Malachy.« »Eigentlich nennen mich fast alle Dev«, entgegnete er ruhig. »Aber Sie, Maggie... Sie können mich nennen, wie Sie wollen.«
15 Malachy Devlin entsicherte die Glock 17, ließ den Schieber einschnappen und schob die Waffe lässig in das abgetragene Lederholster an seinem Gürtel. Er schnallte sich die stumpfnasige 38er Automatik mit nahezu unbewußter Routine um das Fußgelenk; die zwei Waffen erweiterten seine physischen Fähigkeiten. Er hatte vor, seinen freien Tag zum Schnüffeln zu verwenden. Er dachte an Maggie O'Connor. Das störte. Er versuchte, vernünftig zu sein und sie sich aus dem Kopf zu schlagen; die Aussicht auf einen Haufen Kummer und ein wenig Hoffnung auf ein Happy-End, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Trotz alledem ließen die Frau und ihre Geschichte ihn nicht los, sie zwickten ihn unter der Oberfläche, wo er nicht kratzen konnte. Sie war nicht verrückt, das hatte ihm sein Instinkt gesagt, und bei dem Abendessen hatte es sich bestätigt. Aber er war seit fünfzehn Jahren Polizist, und wenn er eine Grundregel gelernt hatte, dann die, daß wenige Dinge das sind, was sie scheinen. Also würde er die Fragen lösen müssen, mit Leuten reden, herumschnüffeln, ein paar verläßliche Quellen anzapfen. Dann würde er einen Entschluß treffen müssen: Ja oder nein. Malachy zog seine Jacke an und steckte Stift und Notizbuch ein. Vielleicht erfuhr er ja heute etwas, das ihn von seinem Wunsch, Maggie O'Connor und ihrer Enkelin zu helfen, abbringen würde. Aber er bezweifelte es.
16 Die St.-Joseph-Kirche Ecke Sixth Avenue und West Fourth Street bekam den größten Teil des Tages keine Gläubigen zu sehen. Die unbeugsamen Katholiken, die meisten über Fünfzig,
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bevölkerten die Sechs- oder Sieben-Uhr-Messe, doch danach blieb, mit der gelegentlichen Ausnahme eines Hilfspfarrers, einer Nonne oder eines Zuflucht suchenden Obdachlosen, das zweihundert Jahre alte Village-Wahrzeichen gewöhnlich menschenleer. Maggie hatte leere Kirchen immer geliebt. Keine sonoren Predigten, kein mahnender Geistlicher, keine strengen Vorschriften oder Sünden, die einen beschlichen... nur Maggie und Gott gemeinsam im heiligen Dunkel. Sie kniete aufrecht am Altar, den Rücken gerade wie ein Ladestock, während sie ihre Gedanken irgendwo in ihrer Kindheit treiben ließ. Es sei heiliger, wenn deine Knie schmerzten und dein Rücken verkrampft war, hatten die Nonnen gesagt. Es sei die Vorbereitung auf das Märtyrertum. Schwester Benedict hatte ihr von den Kindern in China erzählt, denen die Kommu nisten, die wünschten, daß sie ihrem Glauben abschworen, die Fingernägel ausgerissen und Pflöcke in die Ohren getrieben hatten. Schmerz ist wesentlich. Schmerz macht dich heilig. Leiden bringt dich Gott näher. Der heilige Laurentius wurde zu Tode geröstet, dem heiligen Arden wurden die Augäpfel herausgerissen, auf Maria Goretti wurde zwölfmal eingestochen, als sie ihre Jungfräulichkeit verteidigte. Und bevor sie starb, vergab sie ihrem Angreifer, zumindest sagten das die Schwestern. Und sie wurde eine Heilige. Nicht, daß Maggie ihre Geschichte je gefallen hätte. Wer war so idiotisch, jemandem zu vergeben, der zwölfmal auf einen einstach? Der respektlose Gedanke brachte Maggie in die Gegenwart zurück. Sie war hier, um um Eingebung zu beten. Sie fühlte das Altargeländer unter ihren Armen; sie hatte seit ihrer Kindheit unzählige Male dort gekniet und die heilige Jungfrau und den heiligen Joseph angefleht, ihre Gebete zu erhören. Nun brauchte sie sie, um dieses Kind, das sie liebte, zu retten; Familien waren die Spezialität dieser beiden Heiligen. Was soll ich tun? betete sie. Wohin soll ich mich wenden? Wem kann ich vertrauen? Die Bittgebete sprudelten in einem unaufhörlichen Strom hervor, in dieser tröstlichen, von Kerzen erleuchteten Düsternis.
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Pater Peter Messenguer. Der Name flammte so plötzlich und deutlich in ihrem Kopf auf, als wäre ein Neonschild angeknipst worden. Pater Peter Messenguer. Natürlich! Wenn irgendwer Rat wußte, dann er. Danke, danke! murmelte sie innig, als sie die Kirche fast im Laufschritt verließ und zu Amanda ins Ge schäft eilte. »Du hast bestimmt von ihm gehört, Amanda«, erklärte Maggie aufgeregt. »Messenguer?« wiederholte Amanda. »Ist das nicht der berühmte Theologe, der es sich wegen seiner ketzerischen Ideen mit dem Vatikan verdorben hat?« Maggie nickte eifrig. »Er is t hochintelligent und ein regelrechter Bilderstürmer... der erstaunlichste Mensch, dem ich je begegnet bin, Amanda. Einer von der Art, der einem den Atem nimmt. Er spricht siebzehn Sprachen, davon zehn alte. Er hat in Fordham mal ein Seminar gehalten, als ich im Abschlußjahr war, und ich war auserwählt, ihn übers Wochenende zu begleiten, und da habe ich ihn auf dem Campus herumgeführt, zu Vorlesungen und Teestunden. Er war einfach unglaublich - und auch auf überlegene Art verschmitzt, und als er es satt hatte, die Fakultätsmitglieder unverwandt anzulächeln, bat er mich, ihm die Stadt zu zeigen. Ich war so aus dem Häuschen, daß ich fast durchgedreht bin.« Amanda lachte leise. Maggie besaß eine unbefangene Fähigkeit zur Begeisterung, die ansteckend war. Sie konnte wie ein kleines Mädchen aussehen, wenn sie von etwas vollkommen hingerissen war; dann wippten ihre Locken, und ihre Augen blitzten. Maggie war so vielseitig, dachte Amanda, während sie sie beobachtete. Stark und zerbrechlich, mit einem offenen Herzen für eine rührselige Geschichte oder einen Bettler auf der Straße; aber es war stets mehr in ihr, als man mit bloßem Auge erkennen konnte. Wie der Schlüssel der Phi-Beta-Kappa-Studentenverbindung, den sie achtlos mit den Haus- und Autoschlüsseln in ihrer Handtasche verwahrte; nur durch Zufall hatte Amanda das herausgefunden. »Er ist ein Renaissance-Mensch, Amanda«, sagte sie gerade.
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»Eine Koryphäe in vergleichender Theologie und alten Religionen - ich glaube, er hat auch einen Doktor in Anthropologie.« »Und warum, wenn ich fragen darf, sprechen wir ausgerechnet in diesem Augenblick so enthusiastisch über ihn?« »Weil ich gelesen habe, daß er ein Experte für das Obskure ist... begreifst du nicht? Wenn ich ihn finden kann, erinnert er sich vielleicht an mich!« Maggie sah aufgebracht in Amandas verständnisloses Gesicht; sie hatte ihr von der Möglichkeit erzählt, daß Satanismus im Spiel sein könnte. »Er wird sich mit Okkultismus auskennen! Amanda, ich weiß es. Die Schwierigkeit ist nur, ich muß ihn finden, um ihn zu fragen.« »Gibt es nicht irgendwo ein Zentralverzeichnis für Geistliche?« fragte Amanda. »Eins-acht-null-null-null, suche Priester oder so was.« Maggie schüttelte den Kopf. »Vielleicht gibt es ja eine Art Geistlichen-Adreßbuch, wenn man weiß, wo es zu finden ist, und ich weiß es nicht, aber ich glaube, er lebt sozusagen im Untergrund. Was auch die kirchliche Entsprechung ist, wenn man von den jeweiligen Mächten geächtet wird.« »Ich dachte, er wäre ihr Liebling. Das intellektuelle Wunderkind, erwartungsgemäß mit fünfzig Kardinal.« »Das ist alles richtig. Er war Spitzenreiter auf der kirchlichen Schnellspur... hat am päpstlichen biblischen Institut in Rom studiert, in Eoyola unterrichtet... das Lieblingskind der Intellektuellen. Aber er war so renitent, daß die Kirchenhierarchie beschloß, ihn zu knebeln. Sie wollen nicht einmal mehr, daß die Laien seine Bücher lesen.« »Du scheinst ja eine Menge über ihn zu wissen.« »Ich habe seine Karriere verfolgt, Amanda. Ich schätze, ich war intellektuell in den Mann verknallt, oder wie immer man das nennt, wenn das Objekt deiner Faszination unerreichbar ist. Jedenfalls war er die einzige wirklich berühmte Persönlichkeit, die ich damals kannte, deshalb habe ich jeden Artikel verschlungen, der irgendwo über ihn erschien. Bis ich ihn vor ein Paar Jahren aus den Augen verlor. Er ist sowohl ein Mystiker als auch ein Genie, Amanda... und ein inbrünstig Glaubender. Niemand war je so vermessen, an
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seinem Glauben zu zweifeln, soviel ich weiß... aber seine visionären Ansichten über die Evolution des Menschen hin zu Gott sind so atemberaubend und mystisch, daß sie an Ketzerei grenzen. Und ich glaube, er war auch nicht immer gewillt, sich in Laienfragen der Autorität zu fügen. Deswegen haben sie ihn aus dem Verkehr gezogen, aus den Augen der Öffentlichkeit entfernt. Ich denke mir, der Papst weiß vermutlich, daß Messenguers Vision weit jenseits der Kontrollmöglichkeiten der Kirche liegt. Mit Teilhard de Chardin haben sie es genauso gemacht, erinnerst du dich?« Amanda bejahte. »Jedenfalls, sie haben ihn irgendwo versteckt, und ich brauche dich, um ihn zu finden.« »Mich? Aber ich bin ja nicht mal eine richtige Baptistin, geschweige denn eine Aufspürerin verlorengegangener Priester. Was bringt dich auf die Idee, daß ich ihn finden kann? Außerdem hört er sich so heilig an, vielleicht solltest du ihn einfach in deiner Heiligenbiographie nachschlagen...« Sie hatte erwartet, daß Maggie lachen würde, aber das Ge sicht, das sie ansah, war todernst. »Ich brauche ihn«, sagte Maggie flehend. »Er ist zumindest eine Stelle, wo ich in diesem entsetzlichen Labyrinth anfangen kann, und du kennst doch immer jemand, der jemand kennt...« Amanda nickte, während sie bereits ihren geistigen Zettelkasten durchblätterte nach jemand, der einmal in wohltätigen Einrichtungen der Erzdiözese New York gearbeitet hatte. »Gib mir ein paar Stunden und ein Telefon, Liebes«, sagte sie grübelnd. »Ich finde deinen Musterpriester, egal, wo sie ihn versteckt haben.« Drei Stunden später rief sie Maggie an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. »Ich habe deinen Mystiker aufgestöbert, Maggie. Sie haben ihn in die kirchliche Entsprechung von Sibirien geschickt. In ein Büchermagazin in Rhinebeck, wo alle auf den Index gesetzten Bücher aufbewahrt werden, die die Kirche früher den Katholiken zu lesen verboten hat. Sie haben ihn zu einem besseren Bibliothekar unanständiger Bücher gemacht, ist das zu fassen! Sie würden Stephen Hawking vermutlich die Auf-
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sicht über Grundschulrechnen übertragen, wenn sie den auch hätten.« Sie hielt voller Entrüstung inne. »Obwohl, alles, was recht ist, Harriet McCarthy sagt, ›der Job ist so mit intellektuellen Versuchungen befrachtet, daß er nur jemand anvertraut werden kann, der über die Verlockungen dieser Welt erhaben ist‹. Ach du meine Güte! Hört sich wirklich an, als wäre er hinterm Mond gelandet.« Pater Peter sagte, er wolle sich mit ihr treffen.
17 Peter Messenguer war keine priesterliche Erscheinung. Er maß gut einen Meter achtzig in den Ledersandalen, die er Schuhen vorzog, und der magere, muskulöse Körperbau, den er aus dem Gen-Pool seiner Vorfahren ererbt hatte, war von jener Art, die mit dem Älterwerden ansehnlich bleibt. Die bei archäologischen Ausgrabungen in Ländern mit rauhem Klima verbrachten Jahre hatten seinem Gesicht die Struktur von feingeprägtem Leder verliehen. Die Stellen, wo sich Linien und Falten kreuzten, ließen darauf schließen, daß er gerne und oft lachte. Seine Augen aber waren an den Außenwinkeln ein wenig nach unten gezogen, gerade soviel, um ihm einen dauerhaften Ausdruck rätselhafter Traurigkeit zu verleihen, als hätte er die Welt betrachtet und für unzulänglich befunden. Die Adlernase war zu markant, um als hübsch zu gelten, aber das zerfurchte Gesicht war einprägsam und bei weitem männlicher, als man es bei einem Geistlichen erwartet hätte. Es war ein reines, vornehmes Gesicht, vom Leben gezeichnet. Er sah aus wie einer jener Männer, die man in ausgebeultem Tweed und hohen Wasserstiefeln in irischen Forellenbächen antrifft oder auf einem Wikingerschiff. Aber die Augen verrieten die Qual eines Menschen, der jenseits dieser Welt etwas erschaut, das andere nicht sehen können. Ein paar verbliebene blonde Strähnen durchzogen das Weiß und Grau seiner Haare. Er trug sie lang, die Gewohnheit eines Mannes, der einen Lebensabschnitt fern von Frisören verbracht hatte und dem zudem körperliche Eitelkeit fremd war.
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Er lächelte Maggie an, als er sie begrüßte, und eine Wehmut in seinem Blick ließ sie sich fragen, ob er erwartet hatte, daß sie noch immer neunzehn sei, oder ob ihr Älterwerden ihm vielleicht seine eigene Sterblichkeit vor Augen führte. »Ich erinnere mich an Sie«, sagte er freundlich. »Wir haben vor einer Ewigkeit ein Wochenende an der Fordham-Uni verbracht, um den Kasuisten auf den Grund zu gehen und die manichäische Ketzerei auf die Probe zu stellen. Ich hielt Sie für das einzige keusche Wesen, dem ich in New York begegnet bin.« Er kicherte leise, als erinnere er sich an ein großes Geheimnis, und nahm ihren Arm, um sie in ein kleines Wohnzimmer zu führen. Maggie lächelte in sich hinein; ein »keusches Wesen« war nicht der Eindruck, den sie bei ihm hatte hinterlassen wollen. »Sie trinken doch Tee, oder?« fragte er beflissen. »Das ist mein einziges Laster, wirklich - das Vermächtnis meiner irischen Großmutter.« Wie hinreißend war ihr dieser Priester erschienen, als sie neunzehn war... sie, die katholische Studentin, er, so klug, so gütig, so unerwartet menschlich. Maggie spürte eine Welle jugendlicher Nervosität, als sie ihn ansah, und mußte sich über sich selbst wundern. »Und nun, liebe Maggie«, sagte er, als er mit dem Tablett erschien, »müssen Sie mir erzählen, warum Sie mich an meinem Verbannungsort aufgestöbert haben. Die Suche kann nicht leicht gewesen sein.« »Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll, Pater. Oder ob ich nicht Ihre Zeit verschwende. Ich habe Grund zu der Vermu tung, daß mein Enkelkind in Satanismus verwickelt wurde, und alles Okkulte geht über meinen Horizont. Deswegen habe ich um Eingebung gebetet, und plötzlich erinnerte ich mich, gelesen zu haben, daß Sie sich mit Exorzismus befaßten. Ich dachte, vielleicht...« Ihr Satz verlor sich, weil sie nicht wußte, was eigentlich ihr Anliegen war. Pater Peter hatte in seinem Sessel zurückgelehnt gesessen und seine Teetasse lässig zwischen den geöffneten Knien balanciert. Jetzt beugte er sich aufmerksam vor, stellte die Tasse auf den Tisch und sah Maggie durchdringend an.
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»Warum fangen Sie nicht da an, wo die Geschichte es erfordert, Maggie?« sagte er sanft. »Mitte, Ende, Anfang - wer von uns weiß schon, was was ist? Ihre Eingebung hat Sie hierhergeführt, vielleicht findet meine Eingebung heraus, weswegen.« Maggie holte tief Atem und erzählte ihm, was sie wußte, was sie zu wissen glaubte und was sie befürchtete. Während des größten Teils ihrer Ausführungen saß er schweigend, den Sessel leicht nach hinten gekippt, da, während seine Fingerspitzen vor seinem Mund eine kleine Pyramide bildeten. Maggie fragte sich, ob er sie für verrückt hielt. »Eine bemerkenswerte Geschichte, Maggie«, sagte er nachdenklich und ernst, als sie fertig war. »Und es ist wahrlich kein Wunder, daß Sie verzweifelt sind. Die Frage, die sich uns stellt, scheint zu lauten, was ich tun kann, um dieses verhaspelte Knäuel zu entwirren.« Er stand auf. »Im Laufen denkt sich's besser... vielleicht können wir draußen unter den Bäumen Spazierengehen, während ich alles aus meinem Wissensschatz hervorkrame, das Ihnen nützen könnte.« Entweder ganz oder gar nicht, Peter, sagte er sich, während er seinen Mantel anzog. Wenn du sie zu Ende anhörst, steckst du mit drin... wenn du mit drinsteckst, dann auf der ganzen Linie. Es war immer dasselbe. Du trafst die Wahl und ertrugst die Konsequenzen. Und der Dämon wußte, daß du nicht nein sagen würdest. Vom Büchermagazin führte ein Weg zum Hudson; sie gingen zu dem silbergrauen Wasser, das hier und da durch die Bäume schimmerte. »Ich kann Ihnen versichern, Maggie«, sagte er, als sie ein Stückchen gegangen waren, »daß Satansanbetung heutzutage in der Welt eine genauso ernstzunehmende Realität ist, wie sie es seit dem Fall der Engel gewesen ist. Die Kirche erfährt oft von Teufelskulten. In der Beichte zum Beispiel berichten Leute manchmal von so makabren Verbrechen, daß kaum eine Buße vorstellbar ist, durch die ihre Sünden getilgt werden könnten. Und gelegentlich werden Kirchen oder Friedhöfe von Satansjüngern geschändet, aber die Polizei bittet den Bischof, das alles unter seiner Mitra unter Verschluß zu halten, um eine Panik zu
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vermeiden. Genauso wird sogar bei Morden verfahren. Manchmal geschehen sehr grausame, wobei an den armen Opfern vor ihrem Tod rituelle Handlungen vollzogen werden, aber da niemand die Büchse der Pandora öffnen will, wird Presse und Öffentlichkeit der satanische Zusammenhang im allgemeinen vorenthalten. Zum Beispiel glauben einige der besten mir bekannten Leute aus dem Strafvollzug fest daran, daß der Serienmörder, der sich Son of Sam nannte, Satanist war, und daß die Morde von der Hierarchie des Satanskults befohlen waren. Dann haben wir natürlich Charles Manson...« »Und Maa Kheru?« fragte sie. »Haben Sie schon mal davon gehört?« Pater Peter nickte. »Die Kirche sammelt schon seit Jahren Material über diese verruchte Bande. Ich wette, daß sie nicht nur existiert, sondern auch ein sehr mächtiges, sehr geheimes Werkzeug des Bösen in aller Welt ist. Sie scheint für ein höheres Niveau von Intelligenz attraktiv zu sein als viele andere Kulte für Leute mit potentiellem Einfluß in der Gesellschaft. Es geht das Gerücht um, daß sie Regierung, Industrie et cetera unterwandert haben.« »Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, Pater. Mir kommt das alles so irrsinnig vor.« »So würde es wohl den meisten Menschen ergehen«, erwiderte er mit einem kleinen Lächeln. »Aber denken Sie daran, Maggie, Satan ist ein gefallener Erzengel... wir müssen annehmen, daß er nichts von seiner Macht verloren hat, als er stürzte - er hat nur die Gnade und die Gesellschaft Gottes verloren. Wir müssen annehmen, daß seine Macht unendlich ist und seine Anhänger unbarmherzig und zahlreich sind.« »Wenigstens denken Sie nicht, daß ich gegen Windmühlenflügel kämpfe.« »Nicht im mindesten«, antwortete er, »aber wenn Sie gegen Maa Kheru kämpfen, werden Sie womöglich eine ziemlich lange Lanze brauchen. Aber etwas an Ihrer Geschichte ist mir ein Rätsel, Maggie. Mir scheint, es fehlt ein wichtiges Teil in diesem Puzzle. Warum
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wollen sie unbedingt ausgerechnet dieses Kind? Es gibt bestimmt Millionen Kinder, die sie sich schnappen können, ohne eine Entdeckung zu riskieren. Soviel ich weiß, benutzen diese Teufelskulte Frauen sogar als Zuchttiere, um Kinder für ihre teuflischen Rituale zu produzieren. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, scheinen die Vanniers alles Geld der Welt zu haben - warum sollten sie Gefahr laufen, daß Sie sich an die Behörden wenden und das Wasser rings um sie aufwühlen? Vielleicht lautet die eigentliche Frage, die wir uns hier stellen müssen, ob Cody etwas Besonderes ist in einer Weise, von der wir noch keine Ahnung haben?« Er sah Maggie fragend an. »Sie wissen nicht zufällig die präzise Zeit und den genauen Ort der Geburt Ihrer Enkeltochter, oder?« fragte er. »Doch«, antwortete Maggie. »Dann kommen Sie mit mir in die Bibliothek«, sagte er enthusiastisch. »Wir erstellen eine astrologische Karte für Cody und sehen, ob wir entdecken können, was so Besonderes an Ihrer Enkelin ist.« »Eine astrologische Karte?« fragte Maggie ungläubig. »Ich hätte nicht gedacht, daß die Kirche etwas gutheißt, das nach Okkultismus riecht.« Pater Messenguer lächelte milde über ihre Bedenken. »Sie haben natürlich recht. Ich fürchte, ich bringe meine Vorgesetzten schrecklich in Verlegenheit«, sagte er schlicht. »Aber sehen Sie, Maggie, in meinem Bestreben, die Geheimnisse von Gottes atemberaubender Schöpfung zu verstehen, habe ich alle großen Religionen bis ins kleinste Detail erforscht. Tatsächlich bin ich Sprachwissenschaftler geworden, damit ich meine Nachforschungen in der Originalsprache der großen Lehrer betreiben konnte. Auf dem Weg dorthin habe ich eine erkleckliche Anzahl esoterische Fertigkeiten aufgelesen, die in keinem Seminar gelehrt werden. Sehen Sie, ich habe an fremdartigen Orten im Ausland gelebt, wo der Geist nicht durch unsere Vorstellungen eingeengt ist. Einige der Fertigkeiten, die ich erlernt habe - etwa Astrologie -, werden von den Kirchenvätern scharf verurteilt, zumindest in dieser Generation. Sie haben vielleicht vergessen, daß die drei
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Weisen selbst Astrologen waren und daß es ein neuer Stern war, der die Geburt unseres Erlösers verkündete. Ich wurde von einem alten Hindumönch, der für mich ein Heiliger war, in die Wissenschaft von den Sternen eingeführt. Er war sehr weise und ein sehr, sehr guter Mensch, und als ich bei ihm von den Sternen lernte, erkannte ich, daß diese Wissenschaft etwas für sich haben könnte... und seither habe ich anhand meiner empirischen Beobachtungen im Laufe der Jahre bestätigt gefunden, daß das, was er gesagt hat, größtenteils auf Wahrheit beruhte. Offen gestanden, ich finde, daß Astrologie etwas überaus Nützliches ist, deshalb habe ich ihn bei mehr als einer Gelegenheit für das Geschenk gepriesen. Ich bin fest davon überzeugt, daß ihre Berechtigung im kommenden Jahrhundert zur Zufriedenheit der Wissenschaft erwiesen werden wird.« »Was bringt Sie auf diesen Gedanken, Pater?« Maggie war durch die Bemerkung sehr verstört. »Sehen Sie, meine Liebe, die Quantenphysiker erkennen das Universum heute als ein gigantisches Netzwerk aus zueinander in Beziehung stehenden Energiefeldern... persönlich, planetarisch und intergalaktisch. Wenn das der Fall ist, warum sollten dann die elektromagnetischen Felder der Planeten uns Menschen nicht beeinflussen, ganz ähnlich, wie sie die Gezeiten beeinflussen oder auch das Geschlechtsleben der Mollusken? Ich habe es immer für sinnvoll gehalten, sich daran zu erinnern, daß die Magie des einen Jahrhunderts oft die Wissenschaft des folgenden ist.« Der Priester sprach weiter, flocht Abschweifungen ein, behandelte aber dabei das Thema mit einer Klarheit und Gründlichkeit, die Maggie in Erstaunen setzte. Sie betraten die große Bibliothek, die als Lager für die Bücher diente, deren Lektüre die Kirche den Laien bis Ende der sechziger Jahre verboten hatte, und er ließ sich an einem massiven Refektoriumstisch nieder. In der folgenden Stunde zog er Bücher aus den Regalen, gab Daten in einen Computer ein, kritzelte Notizen auf einen Block, während Maggie beeindruckt zusah. Er sprach bei der Arbeit, die er mit nahezu jungenhaftem Elan ausführte, und Maggie
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hörte aufmerksam zu, fasziniert von der Leichtigkeit seines Intellekts und dem weiten Feld seiner Wißbegierde. Sie fragte sich unwillkürlich, wie alt er wohl sein mochte. Ende Fünfzig vielleicht. Sie beobachtete seine sparsamen, kontrollierten Bewegungen; alles an ihm ließ auf Kraft und Vitalität schließen. »Eine astrologische Karte ist nichts weiter als eine Karte des Himmels im exakten Augenblick der Geburt eines Menschen«, erklärte er. »Sie fußt auf der Wechselbeziehung zwischen unseren individuellen Energien und den größeren Energien des Kosmos. Die alten Kelten verglichen diese Beziehung mit einem gigantischen Energienetz, das uns alle umschließt. Wenn einer das Netz zum Zittern bringt, sagten sie, dann vibrieren wir alle. Den Astrologen zufolge zeigt die Karte von den individuellen Geburtsplaneten eines Menschen ganz deutlich seinen Charakter - Stärken, Schwächen, Begabungen, Schwierigkeiten und dergleichen. Ich glaube, sie zeichnet auch den Ballast auf, den wir von dem winzigen Abschnitt des Zeit-Raum-Kontinuums, den wir als Vergangenheit zu bezeichnen belieben, mit in dieses Leben gebracht haben. Und sie zeigt ganz sicher, welche großen Herausforderungen während einer festgesetzten Lebensspanne vor uns liegen.« Er unterbrach seinen Vortrag, klemmte sich seinen Stift zwischen die Zähne, ließ Maggie allein und kehrte nach wenigen Minuten zurück, beladen mit Büchern, die alt und zerlesen aussahen. »Haben Sie noch einen Moment Geduld mit mir, ja?« murmelte er an dem Bleistift vorbei. »Ich könnte hier fündig werden.« »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Maggie. Sie kam sich vor wie Alice bei der Teegesellschaft der Weißen Königin. Schließlich kritzelte der Priester etwas in einer unbekannten Sprache auf einen linierten Block, dann antwortete er: »Sie können frischen Tee machen, wenn Sie wollen. Mrs. O'Leary wird sich dieses kleine Eindringen in ihr Reich ausnahmsweise gefallen lassen. Was ich finden muß, ist in Hieroglyphen geschrieben, es kann also ein bißchen dauern, bis ich es hinlänglich übersetzt habe. Und Tee hilft mir immer.« Er lächelte und sah viel jünger aus, als er es an Jahren sein konnte.
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Als Maggie aus der Küche kam, hatte er ihr einen Stapel Papiere zur Einsicht zurechtgelegt und Passagen in mehreren Büchern markiert. Er blickte zu ihr hoch, und sie versuchte, den seltsamen Ausdruck in seinen Augen zu lesen, doch er ließ sich nicht deuten. Der Priester runzelte die Stirn, als überlegte er, wie er ihr beibringen sollte, was er gefunden hatte. »Was wir hier haben, ist für Sie vielleicht ein bißchen schwierig zu verdauen, Maggie...«, sagte er bedachtsam. »Es ist wirklich nicht möglich, es mit westlichen Begriffen zu erklären. Ich fürchte, Ihre Enkeltochter ist das, was man an bestimmten, weit entfernten Orten einen Wegweiser nennen würde, dort, wo man das Leben in einer Perspektive sieht, die sich gewaltig von unserer unterscheidet.« Er wirkte beunruhigt. »Wissen Sie, meine Liebe, in jenen Gebieten der Welt, wo Reinkarnation ein anerkannter Begriff ist, glaubt man, daß bestimmte, auserwählte Seelen gegenwärtig fleischliche Gestalt annehmen, um der Menschheit zu helfen, sich über die kommenden Umwälzungen hinwegzuretten. Ihre Cody scheint eine dieser auserwählten Seelen zu sein. Und soweit ich es hier sehe, hat dieses Kind in dieser Lebensspanne kein persönliches Karma, Maggie - keinerlei verbliebene Schuld, die es zu sühnen gälte, wenn Sie so wollen. Sie ist nur hier, um der Menschheit zu dienen. Wie es scheint, hat sie auch keinen zeitlichen Rahmen... was bedeutet, es steht ihr frei, ganz nach Belieben im Leib zu leben oder ihn zu verlassen. Ich fürchte, meine Liebe, wenn Ihre Ängste begründet sind und diese Leute versuchen, sie zu weit in die Finsternis zu verschleppen, wird sie einfach sterben und woanders wiedergeboren werden, damit sie ihre menschliche Bestimmung erfüllen kann.« »Warum sollte Gott eine solche Seele ausschicken, Pater vorausgesetzt, das, was Sie beschreiben, existiert wirklich -, nur um sie von bösen Menschen vernichten zu lassen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.« Maggie war erschüttert über die tiefere Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, und ebenso darüber, daß er den Begriff der Reinkarnation so ohne weiteres zu akzeptieren schien.
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»Seelen werden nie vernichtet, Maggie«, erwiderte der Priester geduldig. »Wenn die Theorie der Reinkarnation richtig ist - und ich habe mich stets bemüht, offen für diese Möglichkeit zu sein, zumal viele große geistliche Lehrer eine solche Theorie gutgeheißen haben -, dann wählt ein jeder seine nächste Lebensspanne vor der Geburt. Oder, etwas wissenschaftlicher ausgedrückt, ein jeder wird ›energetisch‹ an einen Ort gezogen, der die richtigen Bedingungen bietet, um seine Bestimmung - sein Karma, wenn Sie so wollen - zu erfüllen.« »Aber Sie sagten, Cody hat kein Karma«, hielt Maggie ihm entgegen, fasziniert, ratlos. »Ich sagte, sie hat keine karmische Schuld«, berichtigte er. »Aber sie hat anscheinend eine Mission zu erfüllen, und ich nehme an, sie hat Bindungen zu Ihnen, die aus großer Liebe geschmiedet sind... Bindungen, die sie aus eigenem freien Willen akzeptiert. Es ist auch möglich, Maggie, daß Cody hier ist, um Ihnen zu helfen, Ihre eigenen seelischen Gaben zu entfalten... ebenso wie um der Menschheit zu helfen.« Maggie gab sich große Mühe, alles zu verarbeiten, was er gesagt hatte, und Pater Peter machte sich wieder daran, die Bücher durchzusehen, die er herausgesucht hatte. »Codys Karte ist sehr schwer zu interpretieren, Maggie... ich fürchte, ich muß mich in ein paar Quellen vertiefen, die mehr ins Esoterische gehen, bevor ich auf die speziellen Informationen stoße, nach denen wir suchen.« Dann fiel ihm noch etwas ein, und er fügte hinzu: »Vielleicht sollten Sie mir ähnliche Informationen über Ihre eigene Geburt geben, Maggie... es könnte uns einen Hinweis auf Ihre Rolle in diesem Drama liefern.« Mit schwirrendem Kopf verließ Maggie den Priester am späten Nachmittag. Kein Wunder, daß die Kirche mit Peter Messenguer Probleme hatte. Früh am nächsten Morgen rief Pater Peter sie an, sein Tonfall war dringlich. Ob es ihr recht sei, wenn er sie zu Hause aufsuche? fragte er. Zwei Stunden später stand er vor ihrer Tür. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was das alles bedeutet«, sagte er ohne Einleitung. Er trug einen Armvoll Bücher und zwei volle
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Einkaufstaschen, die ihm Maria aus den Händen riß, wobei sie auf portugiesisch etwas von einem Priester im Pullover statt in der Soutane vor sich hin murmelte. Mit einem strahlendem Lächeln antwortete Pater Peter in derselben Sprache, und Maria taute widerwillig wenigstens so weit auf, um das endgültige Urteil über den Mann auf später zu verschieben. Maggie führte den Priester in ihre Bibliothek, ihren Lieblingsraum in dem alten Haus, wo die ursprüngliche Satinholzverschalung und die Gipsengel an der Decke noch erhalten waren. »Ich glaube, Ihre Enkeltochter befindet sich in schrecklicher Gefahr, Maggie«, sagte Pater Peter leise. »Vielleicht mehr, als Sie sich vorgestellt haben.« Maggie setzte sich kerzengerade in ihrem Sessel auf. »Haben Sie in Ihrer Karte eine Antwort gefunden?« Peter beugte sich vor, sichtlich beunruhigt über das, was er zu berichten hatte. »Es ist ein bißchen verrückt«, begann er. »Und ich kann mir nicht einmal ansatzweise eine Meinung darüber erlauben, ob das, was ich Ihnen gleich sagen werde, Tatsache ist oder reine Phantasie... aber ich finde, ich muß Ihnen mitteilen, was ich ans Licht gebracht habe.« Er hielt inne, um Atem zu holen. »Es gibt eine uralte Sage, Maggie... ich bin beileibe keine Koryphäe in Ägyptologie - zumindest nicht, was die fragliche Dynastie angeht -, aber ich besitze einige Kenntnisse, und ich kann Hieroglyphen lesen, folglich bin ich auch kein Anfänger.« Sie merkte, daß er um das, was er ihr mitteilen mußte, herumredete. Dann sagte er mit einer Stimme, die so etwas wie Ehrfurcht erkennen ließ: »Cody könnte die Isis -Botin sein.« Bei diesen Worten gab die Erde unter Maggie nach. Wie bei einer Doppelbelichtung auf einem Film schob sich für den Bruchteil einer Sekunde etwas vor ihr Blickfeld. Zu flüchtig, um es zu erkennen. Aber alt. Herrgott, es war uralt! Was immer es war. Und diese Töne. Wie helle Windglocken, kaum vernehmbar... aber sie ließen ihr Nervensystem erschauern. Maggie blinzelte, um die Vision zu vertreiben. »Haben Sie Isis -Botin gesagt?« Sie versuchte, das unheimliche Erlebnis, das
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sie vor einem Augenblick hatte, zu greifen, aber es war verschwunden. »Was, um alles in der Welt, ist die Isis -Botin?« Pater Peter setzte seine Brille auf und wies auf die Notizen in seiner Hand, aber es war klar, daß er keine Spickzettel brauchte. »Es gibt eine uralte Sage, Maggie, erste Hinweise darauf sind in Ägypten vor beinahe fünftausend Jahren erschienen, daß in einer nicht näher bezeichneten Zukunft, wenn sich die Menschheit in großer Gefahr befindet, ein Kind gesandt wird, das die richtige Vibrationsfrequenz hat, um das Isis -Amulett wieder zu erwecken.« Er hob die Hand, um die Flut von Fragen, die er entstehen sah, zurückzuhalten. »Die präzise Gestalt, die dieses Amulett annimmt, ist im Nebel der Geschichte verloren gegangen, aber jede Quelle, die sich je darauf bezog, tat dies voll Ehrfurcht. Sehen Sie, man glaubte, daß es eine nie dagewesene okkulte Macht besaß, die ihm die große Göttinmutter Isis persönlich verliehen hatte. Es vermag, so sagt man, die Welt vor der endgültigen Zerstörung zu retten, indem es die Kraft all dessen, was gut ist, verstärkt und alles, was böse ist, zersetzt.« Maggie wollte ihn unterbrechen, aber wieder hielt er sie mit einer Handbewegung zurück. »Lassen Sie mich zu Ende sprechen, meine Liebe, und dann gelobe ich, mein Bestes zu tun, um alle Ihre Fragen zu beantworten.« Er warf wieder einen Blick auf das Blatt Papier in seiner Hand. »Hermes Trismegistos zufolge - er war die größte Kapazität in der Geschichte für alles Magische - werden die Kräfte des Bösen, sollten sie je des Amu letts habhaft werden, es benutzen, um sein kosmisches Gegenstück, den Sekhmet-Stein, wiederzubeschaffen. Mit dem Sekhmet-Stein können alle Mächte der Vernichtung und des Krieges kontrolliert werden.« Er hielt inne. »Sie mü ssen verstehen, Maggie, genau wie die Christen den Gral und die Alchimisten den Stein der Weisen gesucht haben, so haben die Magier, weiße wie schwarze, durch den Lauf der Zeit das Isis -Amulett und den Sekhmet-Stein gesucht.« Maggie schaute leicht verblüfft drein. Der Priester holte tief Atem und sprach weiter: »Das Labyrinth, das die Kräfte des Universums geschaffen haben, damit
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diese uneingeschränkte Macht nicht in die falschen Hände gerät, ist Hermes Trismegistos und anderen zufolge spiralförmig gewunden und mit Gefahren befrachtet. Um an den Sekhmet-Stein zu gelangen, muß ein Okkultist von höchsten Graden zuerst das Isis -Amulett in seinen Besitz bringen... und allein die Isis -Botin kann das Amulett Gestalt annehmen lassen. Wenn durch einen bösen Zufall die dunklen Kräfte in den Besitz der zwei Talismane gelangen, wird Sekhmet ihnen helfen, das Isis Amulett und sein gutes Potential für immer zu zerstören. Ich brauche Ihnen die Folgen für die Menschheit nicht zu schildern, wenn alles Gute zunichte gemacht würde.« Pater Peter sah Maggie direkt in die verstörten Augen. »Wenn meine Vermutung richtig ist, liebe Maggie, ist Cody die Botin, und Sie sind die Hüterin, die gesandt wurde, sie zu verteidigen.« »Pater, das ist wirklich zuviel!« platzte sie heraus. »Wie kann eine solch wahnsinnige Geschichte wahr sein? Es gibt keine Amulette, die die Welt regieren! Keine Steine, die das Böse kontrollieren. Menschen kontrollieren Gut und Böse, nicht leblose Gegenstände. Das ist einfach lächerlich!« »Aber sehen Sie denn nicht, Maggie«, fuhr Peter eindringlich fort, »daß es keine Rolle spielt, ob das alles Hokuspokus ist? Wenn die Vanniers Mitglieder eines Satanskultes sind und wenn sie an eine solche Möglichkeit glauben, dann könnte Cody in der schlimmsten Gefahr sein, die man sich denken kann... es ist durchaus nicht undenkbar, daß sie die Karte des Kindes erstellt haben, genau wie ich es tat. Und sollten sie es getan haben, dann haben sie dasselbe Zusammenströmen der Planeten gesehen, das ich gesehen habe.« Maggie bemühte sich, so weit ruhig zu bleiben, daß sie antworten konnte, doch ihre Stimme zitterte, als sie sprach. »Was würden sie mit ihr machen, Pater, wenn sie diesen Unsinn glaubten?« »Das weiß ich nicht genau... nach dem, was ich bislang herausgefunden habe, würden sie sie entweder als Teil des Materialisationsrituals opfern, oder sie würden ihre Seele verbannen und ihren Körper Sekhmet schenken.« »Und wer ist Sekhmet?« wollte Maggie wissen.
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»Die weibliche Entsprechung von Set oder Satan, Maggie. Man könnte sie als Göttin des Bösen bezeichnen - obgleich sie etwas vielschichtiger ist. Krieg, Hungersnot, Seuchen, Tod, Unwetter, Erd- und Seebeben, über alle diese Kräfte scheint sie zu gebieten.« »Ah, großartig! Böse Göttinnen... Amulette, die die Welt regieren ... das ist wirklich lachhaft! Ich will dieses Gespräch nicht führen, schon gar nicht mit einem Priester!« Pater Peter nahm Maggies Hände, um ihre Erschütterung zu beschwichtigen. Seine Besorgnis um sie war ihm anzusehen. »Liebe Maggie, hören Sie mich an! Für den Augenblick scheint es mir klar, daß es nicht die geringste Rolle spielt, ob wir diese alte Legende glauben oder nicht. Es kommt nur darauf an, daß wir den Schlüssel zu dem gefunden haben, was Cody für Eric und Jenna bedeutet. Ich habe vollstes Verständnis für Ihr Entsetzen und Ihre Fassungslosigkeit - ich weiß, jedes Wort, das ich zu Ihnen gesagt habe, klingt wie das Gefasel eines Verrückten -, aber Sie wissen, daß ich nicht verrückt bin, Maggie. Und Sie müssen wissen, ich hätte den weiten Weg nicht gemacht, um Ihnen die Neuigkeiten zu bringen, wenn es mir nicht schrecklich wichtig scheinen würde, daß Sie sie erfahren. Diese Informationen könnten eine Möglichkeit sein, das Geheimnis, vor dem wir stehen, zu enträtseln. Um mit diesen Leuten fertig zu werden, müssen wir wis sen, wie sie denken. Das leuchtet Ihnen doch ein, Maggie?« Er wartete, bis sie ruhig genug war, um kopfnickend zu bejahen, bevor er fortfuhr. »Auch andere werden imstande sein, Ihnen zu helfen, meine Liebe, aber wenn an diesem scheinbaren Wahnsinn etwas Wahres ist, dann sind Sie und Cody die zwei Hauptfiguren auf diesem Spielbrett. Sie dürfen nicht zulassen, daß Ihr Unglaube Sie verletzlich macht.« »Wie kann ich jemals begreifen, was hier geschieht, Pater?« fragte sie verzweifelt. »Und wie, in Gottes Namen, soll ich die Behörden davon überzeugen, daß dies Wirklichkeit ist? Wenn ich diese Geschichte der bürokratischen Roboterfrau erzählen würde, mit der ich es im Büro der Jugendfürsorge zu tun hatte,
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würde sie mich in eine Zwangsjacke stecken, und ich kann nicht mal sagen, daß ich es ihr verübeln würde.« »Ich kann Ihnen auf der weltlichen Seite keine Hilfe anbieten, Maggie. Aber auf der geistlichen Seite verfüge ich über einige Kenntnisse, die sich als nützlich erweis en könnten. Deswegen möchte ich, daß Sie sich gut einprägen, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Ich habe an fremdartigen Orten gelebt und seltsamere Dinge zu sehen bekommen, als Sie sich vorstellen können. Ich habe ungebildete Stammes-Schamanen mit einem schmutzigen Steinzeitmesser Krebsgeschwüre herausschneiden und ihre Patienten heilen sehen... ich habe Kopfjäger aus den Schädeln ihrer Opfer die Zukunft exakt voraussagen sehen... ich habe australische Ureinwohner sterben sehen, weil ein Medizinmann mit einem Knochen auf sie deutete. Während Exorzismen habe ich mit Dämonen gesprochen, die alte Sprachen fließend beherrschten, von denen die Person, an der der Exorzismus vollzogen wurde, nie gehört hatte. Ich beschwöre Sie, dies ernst zu nehmen, Maggie! Es sind in diesem Universum viel mehr Kräfte am Werk, als der Wissenschaft gegenwärtig bekannt sind.« Er hielt inne, um Atem zu holen, und es war ihm anzumerken, wie ernst es ihm war mit dem, was er sagte. Es wurde Maggie plötzlich bewußt, welche außerordentliche Mühe er sich ihretwegen machte. »Ich höre auf Sie, Pater«, sagte sie leise. »Ehrlich.« Er atmete lange und erleichtert aus. »Besitzen Sie irgendwelche geweihten Gegenstände, Maggie? Einen Rosenkranz, ein Kruzifix, Weihwasser?« Sie nickte. »Ich bete noch immer meinen Firmungsrosenkranz, und ich habe das Kruzifix vom Begräbnis meines Mannes aufbewahrt. Weihwasser, nein.« Er griff in die Tasche, die er mitgebracht hatte, und nahm zwei Flaschen heraus. »Bei Exorzismen zeigt sich, Maggie, daß Sakramentalien wie Weihwasser und geweihtes Öl dämonischen Erscheinungen großes Unbehagen bereiten. Verwahren Sie diese Gegenstände in Ihrer Nähe. Versuchen Sie, wenn möglich, einen davon in Codys Besitz zu bringen. Ich habe Ihnen diese geweihte Wundermedaille mitgebracht, um sie ihr um-
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zuhängen, wenn es Ihnen gelingt - sie stellt Maria dar, die den Hals der Schlange zerquetscht. Diese Medaille wurde vor Jahren in Rom von Papst Johannes XXIII. geweiht, und er war Gott nahe.« Er hielt inne, um zu überlegen, ob er etwas zu sagen vergessen hatte. »Sie müssen wissen, Maggie, daß ich niemals rituelle Magie ausgeübt habe«, sagte er. »Ich habe sie lediglich erforscht, das ist etwas ganz anderes. Ich respektiere allerdings die Macht des Rituellen und würde mir nicht im Traum einfallen lassen, seine Kräfte zu unterschätzen. Deswegen habe ich Ihnen mehrere Schutzgebete mitgebracht.« Er reichte ihr ein Gebetbuch mit Markierungen, dann zog er ein säuerlich riechendes längliches Etwas aus der Einkaufstasche, das wie Heu aussah. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob das hier etwas nützen wird, aber ich habe es trotzdem mitgebracht. Es ist Asafötidagras aus Südamerika, Maggie, besser bekannt als Teufelsdreck - ein befreundeter Apachenmedizinmann sagte mir, daß es die Fähigkeit hat, das Böse abzuwehren.« Er richtete sich auf, und Maggie sah die Besorgnis in seinen Augen. »Ich glaube, ich habe recht, was den Wert des Kindes für sie betrifft. Wenn Cody die Isis -Botin ist, dann werden die Kräfte der Finsternis vor nichts haltmachen, um sie in ihre Ge walt zu bringen und sie zu benutzen.« Maggie starrte ihn mit großen Augen an. »Glauben Sie ehrlich, Pater, daß so etwas möglich ist? Alles, was ich über das rationale Universum weiß, lehnt sich auf bei der Erwähnung von Amuletten, die Gut und Böse regieren, oder von Kindern, die göttliche Macht besitzen. Offen gestanden, ich bin schwer erschüttert, daß Sie solchen Möglichkeiten Glauben schenken.« Pater Peter stand für einen Augenblick auf, überlegte sich im stillen seine Antwort und sagte dann: »Als ich jung war, Maggie, glaubte ich alles zu wissen, was es über dieses ›rationale Universum‹ zu wissen gab. Heute weiß ich nur dies... daß Gott geheimnisvoll zu Werke geht, nach einem großartigen Plan weit jenseits unseres Begriffsvermögens. Daß diejenigen, die er als seine Werkzeuge auserwählt, niemals die sind, von denen wir es
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erwarten würden. Daß alles, was ich weiß oder denke, ohne Bedeutung ist verglichen mit dem, was es noch zu lernen gilt. Ob Cody die Isis -Botin ist oder ob die Botin magische Kräfte besitzt, das ist nicht der springende Punkt... es kommt allein darauf an, daß einige sehr üble und korrupte Leute möglicherweise glauben, daß sie diese Kräfte besitzt, und deswegen befindet sie sich in größter Gefahr. Und Sie höchstwahrscheinlich genauso.« »Weil ich sie liebe?« »Weil Sie ihre Hüterin sind - und ob Sie das im metaphysischen oder im großmütterlichen Sinne akzeptieren, sie wissen, daß Sie um sie kämpfen werden, auch wenn Sie dafür große persönliche Opfer bringen müssen.« Maggie brachte Peter zur Tür und lehnte sich dagegen, bemüht, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Ihr war, als sei sie vom Rande der Erde gestürzt. Maggie eilte zu Ellies Geschäft und klopfte an die Tür, obwohl das Schild »Geschlossen« im Fenster hing. Das Licht war an, und sie hörte Schritte nahen; sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Ellie trug eine lange Robe und sehr wenig Make-up, aber sie sah heiter und schön aus. Maggie fragte sich, ob sie wohl meditiert hatte. »Ich muß Sie sprechen«, sagte Maggie atemlos und streckte ihr die astrologischen Karten entgegen, die Pater Peter ihr gegeben hatte. »Woher haben Sie die?« fragte Ellie, während sie beiseite trat, um Maggie hereinzulassen. »Die hat Peter Messenguer mir gebracht. Können Sie sie lesen?« Ellie lächelte rätselhaft, als sie die Karten entgegennahm. »Ist der Papst Katholik?« »Er hat mir eine total verrückte Geschichte erzählt, Ellie. Mir ist noch ganz schwindlig! Es hatte etwas mit einer uralten ägyptischen Legende zu tun.« Aber Ellie hörte nicht zu, sie starrte offenen Mundes auf die astrologischen Karten.
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»Lieber Himmel, Maggie!« keuchte sie. »Sie ist die Botin!« Auf Ellies Armen bildete sich eine Gänsehaut, und ihr Blut floß schneller. Ein Leben lang. Tausend Leben lang warten auf diesen einen Augenblick. Der Traum jeder Priesterin vom Anbeginn der Zeit... von der Göttin berufen zu werden! Aber um was zu tun? Zu kämpfen? Zu opfern? Zu bezeugen? Ihr Herz schlug heftig an ihr Brustbein, und sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Man wußte nie, in welch seltsamer Verkleidung der Ruf kommen würde. Genau wie man nie wußte, ob man bereit war. Von den Unsterblichen aufgefordert zu werden, das war die größte vorstellbare Ehre. Und die tödlichste. »O Mags«, flüsterte Ellie und winkte sie von der Türschwelle herein. »Wir müssen das sehr gründlich durchdenken... Sie könnten beide in schrecklicher Gefahr sein.« Maggie starrte Ellie fassungslos an. Wenn auch sie davon wußte... »Ich kann nicht glauben, daß Sie auch von dieser Isis Geschichte wissen!« sagte sie aufgeregt. »Gibt es hier ein Nachrichtenblatt, das alle abonniert haben, nur ich nicht? Wie konnte ich zweiundvierzig Jahre alt werden in dem Glauben, die Welt sei ein rationaler Ort, wenn sie es nicht ist?« Ellie setzte sich und forderte Maggie mit einer Handbewegung auf, ebenfalls Platz zu nehmen. »Schauen Sie, Mags«, sagte sie mitfühlend, »Sie sind da vielleicht in etwas ganz Großes und sehr Bedeutsames hineingeraten. Mein Leben lang habe ich die Legende von der Isis -Botin gekannt. Ich habe schätzungsweise sechzehn verschiedene Versionen aus sechzehn verschiedenen Überlieferungen gehört, aber der Leitgedanke ist immer derselbe. Wer die Botin hat, besitzt die Amulette, und wer die Amulette in die Hände bekommt, der regiert die Welt.« Maggie hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Zähne hatten sich in das Fleisch ihres Zeigefingers gebohrt, so als wollte sie Worte oder einen Schrei zurückhalten. »Und Sie glauben daran?« flüsterte sie. »Wie ich an den Gral oder den Stein der Weisen glaube, Maggie. Hinter allen Legenden, die seit Jahrtausenden bestehen, steckt eine Grundwahrheit, auch wenn sie in eine Metapher gekleidet ist. Welches diese Wahrheit ist... wer kann das sagen?
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Aber wenn Cody die Botin ist, und Sie sind die Hüterin, dann sind Sie beide gefährdet... denn ob wahr oder nicht, es gibt viele, viele Menschen, die sich die Kontrolle über diese Macht wünschen.« »Was soll ich tun, Ellie?« fragte Maggie resigniert. »Und was muß ich wissen?« Ellie lehnte sich zurück und sah ihre neue Freundin an, als suche sie nach einer Eingebung, wie sie ihre Frage beantworten solle. Schließlich sprach sie. »Ich möchte, daß Sie sich für eine Weile von dem lösen, was Sie für rationales Denken halten, und mir einfach mit Ihrer Intuition folgen... mit ihrer inneren Erkenntnis. Nichts, was ich Ihnen jetzt sagen werde, würde von der Kirche Ihres priesterlichen Freundes gebilligt, oder von den meisten Menschen - jedenfalls nicht auf diesem Kontinent. Aber für diejenigen, die rituelle Magie oder irgendeine Variation davon praktizieren, wäre das, was ich Ihnen erzählen werde, eine anerkannte Weis heit. Deswegen bitte ich Sie inständig, hören Sie mich zu Ende an.« Die Ernsthaftigkeit und Güte, die Ellie an den Tag legte, rührten Maggie. »Verzeihen Sie mir meinen Unglauben, Ellie«, sagte sie zerknirscht. »Es ist nur so, daß ich alles schon schrecklich genug fand, als ich dachte, wir hätten es mit Kindesmißhandlung zu tun... aber das hier?« Ellies Miene war ernst, als sie antwortete. »Aus Ihrer Karte, Maggie, wäre für jeden ersichtlich, der an die Weisheit der Sterne glaubt, daß Sie in vielen früheren Leben rituelle Magie auf hohem Niveau praktiziert haben.« Sie hielt ihr das astrologische Schaubild hin und zeigte auf mehrere Symbole am oberen Ende des Kreises. »Sie haben Neptun im Mittelhimmel, Saturn trigonal, was nicht nur bedeutet, daß Sie die Hohe Magie praktiziert haben und bei der Suche nach dem Weg zur Erleuchtung weit vorangekommen sind, sondern es bedeutet, daß Sie in diesem Leben das Potential für eine Adeptin haben.« »Verzeihen Sie mir, Ellie, aber zur Adeptin habe ich so wenig das Zeug wie dazu, Päpstin Margarete die Erste zu werden.« Ellie lächelte, wie man über ein kluges, aber aufsässiges Kind
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lächelt. »Lassen Sie uns dem auf den Grund gehen«, sagte sie geduldig. »Sie sind medial veranlagt, nicht? Vielleicht nennen Sie es anders... Intuition? Vorahnung? Vielleicht wissen Sie Dinge eher als andere Leute? Oder Sie hatten visionäre Erlebnisse? Denken Sie nach, Maggie! Helfen Sie mir weiter, um der Beweisführung willen. Ich treibe hiermit keinen Schabernack. Sie treten hier ganz nahe an die großen Mysterien heran, und die sind nicht leicht zu nehmen.« »Ich weiß anscheinend Dinge, die andere Leute nicht wissen, Ellie«, sagte Maggie zögernd, »es ist, als zöge ich sie irgendwo aus meinem Inneren hervor... als würde ich eine Quelle anzapfen, die andere nicht haben. Ich dachte, das liegt daran, daß ich Irin bin. Sie wissen schon, wie die Visionen, die wir Kelten manchmal haben, wenn wir beten... oder meine Vorliebe für den Antiquitätenhandel, weil ich alte Gegenstände auf eine instinktive, unintellektuelle Weise begreife. Amanda, meine Ge schäftsführerin, zieht mich deswegen immer auf... sie sagt, ich brauche nie nach der Herkunft eines Gegenstandes zu fragen, ich muß ihn nur eine Weile in den Händen halten. Ist es das, was Sie meinen?« Ellie nickte eifrig. »Das ist es genau, was ich meine, Mags. Und was ist mit Cody? Ist das, was Sie für sie empfinden, nur großmütterliche Zuneigung? Oder könnte es mehr sein? Gibt es ein besonderes Merkmal, das nicht ganz gewöhnlich ist? Was sagte Ihre Haushälterin dazu? Nach Ihrer Beschreibung kommt sie aus einer Kultur, die der Natur nahe genug ist, um noch Verbindungen zu den Wahrheiten des Universums zu haben, die unseren modernen Kulturen abhanden gekommen sind.« Maggie zog betroffen die Stirne kraus. »Maria sagt, Cody und ich sind durch ein Band vereint, das über das Normale hinausgeht. Sie meint, daß Cody magische Kräfte hat. Für mich ist das bloß bäuerlicher Aberglaube.« Mit schüchterner Miene fügte sie hinzu: »Aber etwas ist da, Ellie, zwischen Cody und mir. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll... vielleicht erleben das alle Großmütter und Enkelkinder, aber wir scheinen gegenseitig in unseren Gedanken zu lesen, als würde die eine in der Haut der anderen leben. Und Codys Gaben scheinen auf ge-
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wisse Weise ungewöhnlich. Ihre Art, sich auszudrücken, ihre Fähigkeit, Begriffe zu verstehen, für die sie eigentlich noch zu klein ist... Ach, ich weiß nicht, Ellie, vielleicht spricht da nur der Großmutterstolz aus mir.« »Hören Sie, Mags«, sagte Ellie streng. »Sie haben jetzt wirklich keine Zeit für falsche Bescheidenheit oder andere Mätzchen. Wenn Sie in einem karmischen Schlachtplan, den wir noch nicht ganz verstehen, Codys Hüterin sind, dann müssen Sie sich unbedingt an Dinge erinnern, die Sie in diesem Leben nie gewußt haben. Sie dürfen keine Zeit mit Skepsis verschwenden... und Sie haben verdammt keine Zeit für Selbstzweifel. Ich meine, Sie müssen ›handeln, als ob ihr den Glauben hättet‹, wie es im Religionsunterricht heißt. Und Sie werden verflucht zäh sein müssen. Um Gottes willen, Maggie, das hier ist keine Sonntagsschulübung. Sie haben es mit dem Fürsten der Finsternis zu tun, verdammt und zugenäht!« Maggie starrte Ellie an, erschüttert, demütig. »Sagen Sie mir, was ich tun muß«, sagte sie schlicht. »Sagen Sie mir, was ich lernen muß.«
18 »Weißt du sicher, worauf du dich da einläßt, Lieutenant?« fragte Detective Gino Garibaldi, während er Devlin einen dampfenden Becher Kaffee von dem griechischen Schnellimbiß auf der Hudson Street in die Hand drückte. Er war kaum mehr als mittelgroß, aber so stämmig, daß er wie ein Gewichtheber auf einem Jahrmarkt von 1912 aussah. Dunkle, zottige Haare umrahmten ein Gesicht, das Frauen attraktiv und sexy fanden. Devlin sah verärgert hoch, dann besann er sich darauf, wie lange sie schon Freunde waren. »Ganz sicher.« »Du willst mir also erzählen, du hast hier einen richtigen Fall und nicht nur den klassischen Fall von Schwanzjucken, wie?« Devlin mußte unwillkürlich grinsen. Garibaldi wußte wie alle anderen, wie stark man verletzt werden konnte, wenn man seine Urteilskraft von seinen Emotionen - oder seiner Anatomie — überschatten ließ.
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»Ganz sicher.« »Okay, okay. Ich mußte fragen. Und brauchst du meine Hilfe? Bei dem Fall, meine ich.« Devlin lachte gutmütig und trank einen Schluck von dem glühend heißen Kaffee, dann verzog er das Gesicht. »Das Zeug schmeckt wie Batteriesäure.« »Ja, deswegen gibt es so viele Griechen mit Cafes in New York. In Griechenland würde den Mist keiner trinken.« »Du könntest für mich ein paar Hinweisen nachgehen, Gino, wenn du Zeit hast.« Garibaldi besaß gute Instinkte, und er kannte sich in den verrufenen Vierteln im Village bestens aus. »Zeit? Klar doch, Lieutenant. Welcher New Yorker Polizist hätte keine Zeit.« Er griff nach dem Aktenordner, den Devlin ihm reichte. »Ist 'ne inoffizielle Sache, stimmt's, Lieutenant?« fragte er mit gesenkter Stimme. »Fürs erste, ja. Aber vielleicht nicht für immer.« Garibaldi warf hastig einen Blick auf die Notizen. »Wie wär's, wenn wir nach der Arbeit bei Clancy 'n paar kippen, und du klärst mich auf?« »Falls es bei diesem Job so was wie ein ›nach der Arbeit‹ gibt«, antwortete Devlin sarkastisch. Nach der Arbeit, vor der Arbeit, während der Arbeit, dachte er. Wenn du bei der Kripo bist und dich packt was, läßt der Fall dich nie ganz los. Garibaldi hörte zu. Seine Fähigkeit zum Zuhören war von einer Intensität, die Devlin schon immer sehr gefallen hatte. Man konnte seinen Verstand fast arbeiten hören: verzeichnen, nach verschiedenen Gesichtspunkten abklopfen, die geistigen Ordner sichten. Gino war ein großer Witzbold und hatte es faustdick hinter den Ohren. Aber nicht, wenn er zuhörte. »Verdammte Scheiße«, sagte er, als Devlin fertig war. »Es wird dich vielleicht schockieren, aber es gibt wahrhaftig Weiber in New York, die erstklassig im Bett sind und wo man nicht erst die Kräfte des Bösen bekämpfen muß, um sie da reinzukriegen. Ist nicht ganz unkompliziert, Lieutenant.« Devlin schüttelte den Kopf. »Es ist nicht unkompliziert, und
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es könnte schmutzig sein, Gino. Ich würde also verstehen, wenn du lieber nichts damit zu tun haben wolltest.« »Hat jemand was von nicht helfen gesagt? Ich bin hier bloß die Stimme der Vernunft, verdammt. Also, was soll ich tun?« »Ich habe im Moment zwei Möglichkeiten. Jenna und der Anruf. Wenn du einen Beschatter einspannen kannst, der sich von der Telefongesellschaft die Computeraufzeichnungen von dem Abend besorgt, als Maggie den Anruf bekam, können wir die Anruferin vielleicht unter Druck setzen.« Gino grunzte beifällig. Sich unbefugt Aufzeichnungen von der Telefongesellschaft zu verschaffen konnte eine Stange Dollars kosten, oder es könnte jemand seinen Job kosten. Freilich, unmöglich war es nicht... »Was haben wir von der Tochter? Hast du ein Foto?« Devlin reichte ihm einen Schnappschuß von einer mageren blonden Sechzehnjährigen in Jeans. »Wie sieht sie jetzt aus?« »Maggie meint, wie direkt aus Town and Country gestiegen. Lange, gepflegte Haare, Designer-Garderobe aus Paris, sehr schicke, sehr wohlerzogene Greenwich-Manieren.« »Tja, ich hab's immer gesagt, die Satanisten verstehen eine Menge von guter Erziehung.« »Du weißt so gut wie ci h, daß Abhängige Spuren hinterlassen, Gino. Sie sind schlampig, sie klauen, sie werden verhaftet. Maggie sagt, sie ist 'ne Weile auf den Strich gegangen. Vielleicht finden sich irgendwo Fingerabdrücke oder alte Freundinnen. Am besten guckst du im BCCI-Bericht nach und besorgst dir eine Liste von ihren Bekannten zur Überprüfung. Erfasse Diebstähle und gib sie in den Computer ein, dann checkst du alles, was du kriegst, mit dem Programm ab.« »Blablabla. Hältst du mich für blöd oder was? Ich besorg mir die Berichte, dann mach ich mich auf die Socken.« Er trank einen großen Schluck Bier, dann fügte er hinzu: »Und ich brauch wohl nicht zu fragen, ob du diese Maggie unter die Lupe genommen hast, Lieutenant? Nachbarn, Freunde, alles? Es ist nicht möglich, daß sie eine nette Verrückte ist, oder?« »Ich habe sie überprüft. Kein Strafregister, keine Geschwin-
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digkeitsübertretung, keine Einweisung in die Bellevue-Heilanstalt. Sie ist eine sehr nette Lady, die in einer Riesenschweinerei steckt, bei der ihr niemand helfen will; aber ich, ein bißchen verrückt, wie ich bin, möchte ihr helfen, wenn ich kann. Du wirst sie übrigens auch mögen.« »Es muß schon was an ihr dran sein, wenn sie bei dir was zum Klingen bringt, Lieutenant... ich wollte nicht behaupten, daß du hier mit deinem Prügel denkst. Ich hoffe nur, die Sache wird nicht zu brenzlig, um sie offiziell zu packen. Nach dem, was du mir erzählt hast, könnte sie gegen große Fische gehen. Und davon verstehen nette Ladys nichts.« Devlin sah seinem Freund in die Augen. »Und deswegen hat sie uns«, sagte er.
19 Nicholas Sayles hätte beinahe als schön gelten können, sah man von seiner Seele ab. Die arrogante Nase und die aristokratische Stirn, die sinnlichen Lippen und grübelnden Augen waren selbst für einen Medienstar außergewöhnlich. Die kantigen Wangenknochen eines Magyarenführers und die dunklen, maskulinen Augenbrauen verliehen ihm eine gewisse Strenge; wie feste Anker in einer ansonsten allzu zerbrechlichen Umgebung kündeten sie von einer willensstarken, gefährlichen Manneskraft. Er hatte schwarze Haare, die ihm bis über die Schultern fielen, ein rebellisches »Ihr könnt mich mal« gegen die Konvention. Zu einem langen Pferdeschwanz gebunden, steigerten sie die animalische Ausstrahlung des Mannes; trug er sie offen, ließen sie ihn wie eine Kreuzung aus Löwe und Panther erscheinen. Nicky Sayles schien mehr als ein Mensch zu sein... und weniger. Dies war einer der Gründe für seinen Erfolg im Fernsehen. Der andere war sein Intellekt. Das elegante, urbane Äußere beherbergte einen erstklassigen Verstand. Und die Tatsache, daß er überhaupt kein Gewissen besaß, hatte er in Gegenwart derjenigen zu verbergen gelernt, die noch an die Illusion von Moral und Ethik gefesselt waren. Er siegte mittels Geschick, Charme, Skrupellosigkeit und der Ausübung von Magie, wenn-
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gleich nur eine Handvoll Menschen von letzterer Waffe in seinem Arsenal wußte. Nicky ruhte bequem auf einer langen Ledercouch in Vanniers Arbeitszimmer. Eric war der einzige Freund, bei dem er sich offen als der gab, der er war. »Wie kommt die Kleine mit Ghania zurecht?« fragte er feixend. »Das Schicksal, in der Obhut der alten Hexe zu sein, würde ich nicht mal meinem Produzenten wünschen.« Eric runzelte die Stirn; die Unverblümtheit, die Nicky zuweilen an den Tag legte, ärgerte ihn. »Ghania ist eine Meisterin in ›Erweckungen‹, wie du sehr wohl weißt, Nicky. Sie quält die Kleine und entzückt sie, sie lehrt sie Entsetzen, ohne den Geist zu brechen. Vorerst. Sie ist die Wärterin, von deren Wohlwollen das Leben abhängt, und sie ist der Folterknecht aus den Alpträumen der Verdammten.« »Soviel zur Sesamstraße«, sagte Nicky und lachte kurz auf. »Aber was sie an ihr zu vollbringen versucht, geht weit über Ge hirnwäsche hinaus, Eric. Sie darf die Kräfte des Kindes nicht zu früh erwecken, sonst werden wir nie imstande sein, sie zu kontrollieren.« »Sehr richtig. Sie hält eine heikle Balance... feilt das Werkzeug bis kurz vor dem Zerbrechen. Feilen und verwandeln. Doch Ghania ist die Beste... es gibt niemand anderen auf diesem Planeten, den ich mit dieser Aufgabe betreuen würde. Das Kind wird zur gegebenen Zeit bereit sein.« Sayles nickte ohne Überzeugung und schwang seine langen Beine auf den Fußboden. »Ich wollte, mir würde dieser rituelle Scheiß so glatt runtergehen wie dir. Ich finde immer noch, es wäre einfacher, wenn wir das Kind töten würden. Jungfräuliches Leben hat eine mordsmäßige Kraft. Wir könnten den Todeskampf benutzen, um sicherzugehen, daß die Materialisation klappt.« »Oder die Gans töten, die das goldene Ei legt«, gab Eric zurück. »Du meinst, wir müssen sie am Leben erhalten, nachdem wir die Amulette haben? Ich schätze, sie könnte eine verdammte Tretmine sein - die Göttin hatte immer einen irrwitzigen Sinn
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für Humor. Das wäre ein verdrehter Witz, was, Eric? Wir materialisieren die Amulette, töten die Kleine und stellen dann fest, daß wir sie brauchen, um die Karre zu lenken.« Er lachte freudlos über die mögliche Ironie. »Ich glaube nicht, daß die Tötung des Kindes unserem Zweck dient«, sagte Eric, den die Möglichkeit eines Mordes kalt ließ. »Ich denke, Sekhmet will den Körper für ihre Zwecke, was meinst du? Es muß schwer sein, der Inbegriff der Begierde zu sein, ohne über die Mittel zu verfügen, seinen Hunger zu stillen. Selbst die Götter haben Bedürfnisse.« Sayles hob eine Augenbraue. »Dann verbannen wir Codys Ka und überlassen den Leib der dämonischen Geheimpolizei, bis Sekhmet geil genug ist, um sich seiner zu bedienen?« überlegte er laut. »Aber was soll's, das läuft im Jenseits, hab ich recht?« »Cody ist nur ein Pfand im Spiel der Götter, Nicky. Ihr Karma macht sie verwundbar.« »Ja, aber es verleiht ihr auch Macht. Vergiß nicht, sie wird bis dahin ›erweckt‹ sein. Wir haben keine Möglichkeit, genau zu erfahren, welche Art von Macht sie haben wird, sobald die Schleusentore geöffnet sind. Isis ist keine Niete, wenn man sie zum Feind hat.« »Sekhmet auch nicht. Vergiß nicht, Isis war es, die sich diese Prüfung ausgedacht hat. Sie kann nicht für einen Spieler einschreiten, ohne ihr eigenes Spiel zu vermasseln.« Sayles schürzte nachdenklich die Lippen. »Wirklich, Eric, du bist mir einer! Woher kommt es, daß du das alles so locker nimmst? Soweit mir bekannt ist, haben wir nur einen einzigen Versuch für die Materialisation, und der Bann ist ein verfluchtes Rattennest aus Zweideutigkeiten und vertracktem Bockmist, und seit ein paar tausend Jahren hat ihn niemand ausgeführt - jedenfalls nicht richtig...« Eric blickte verärgert drein. »Magie ist eine Wissenschaft, Nicky. Nicht mehr, nicht weniger. Sie ist an Gesetze gebunden, natürliche und übernatürliche... wenn wir sie richtig beschwören, werden diese Gesetze sicherstellen, daß das Universum sich in unsere Absicht fügt. Komm du mir nicht mystisch und tu nicht so, als könnten unsere Bemühungen durch ein Zu-
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fallsereignis fehlschlagen. Wir werden das Schicksal kontrollieren und nach unserem Willen beugen. Denke an Crowleys Ge bot: ›Tu, was du willst, das sei dein ganzes Gesetz.‹« »Crowley kann mich mal kreuzweise, Eric. Er endete als impotenter alter Furzknochen und brabbelte von der Macht, die er früher mal hatte. Zugegeben, es gibt Gesetze - aber verdammt, wir kennen sie nicht alle. Sicher, wir können die Natur nach unserem Willen beugen, aber nur, wenn wir das richtige Rezept zur Verfügung haben. Und es gibt einen Pißpott voll Magie, von der wir noch nicht wissen, wie sie funktioniert. Und wenn ich dich erinnern darf, bei dieser bestimmten Beschwörung haben wir es nicht mit Dämonen zu tun - diese Scheißtypen sind Götter!« Eric erhob sich hinter seinem Schreibtisch, sah dem Freund in die Augen und sagte kalt: »Unserem Rat der Dreizehn gehören die mächtigsten Magier auf diesem Planeten an. Sie repräsentieren jede Hauptdisziplin auf dem Pfad der Linken Hand. Wenn ich dich erinnern darf, Nicky, auch wir sind Götter... Wir können machen, was wir wollen.« Sayles hob die Hände, eine Geste, die besagte: genug. »Ein kleines Mißverständnis, mein Freund«, erwiderte er. »Ich rechne mit keinerlei Schwierigkeiten... ich will nur nicht, daß wir vor lauter Lässigkeit unachtsam werden. Wir sind nur einen Schritt vom Goldtopf entfernt... ich möchte nicht, daß uns irgend jemand in die Suppe spuckt.« Nicky stand auf und streckte seinen schlaksigen Körper; er war kräftiger und geschmeidiger, als es in Ruhelage den Anschein gehabt hatte. »Die eigentliche Frage, über die wir nachdenken sollten, lautet, wem von unserer vertrauenswürdigen Truppe sollen wir am meisten mißtrauen? Wer von unseren geschätzten Kollegen wird sich die Amulette schnappen wollen in dem Augenblick, wo sie materialisiert sind?« »So gut wie jeder von Format, sollte ich meinen. Ghania hat bereits eine Hitliste in Vorbereitung. Das ist natürlich ein heikles Unterfangen - jeder, der tüchtig genug ist, einen Coup zu versuchen, ist auch tüchtig genug, seine Absicht zu verbergen. Trotzdem, sie wird eine Astralüberwachung in Gang halten und töten, wo es nötig ist.«
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»Warum mogeln wir nicht einfach allen bei der Generalprobe eines von diesen langsam wirkenden, chinesischen Giften unter, mit denen Ghania herumexperimentiert? Danach entscheiden wir, wer das Gegengift kriegt...« Eric Vannier lachte laut. »Ich habe dir gesagt, wir sind Götter, Nicky... Leben, Tod, das Schicksal des Planeten, alles liegt jetzt in unserer Hand. Das ist noch besser als Republikaner sein!«
20 Die zwei jungen Priesterinnen standen sich in dem weitläufigen Tempel gegenüber. Ein flüchtiger Sonnenstrahl fiel durch die Scheiben aus Halbkristall und tauchte den aus Kalkstein errichteten Innenraum in farbiges Licht, das Wellen schlug wie ein bewegter Teich. Es war ein Traum, doch ein Teil von Maggies Bewußtsein erkannte, daß sie selbst die dunkelhaarige Priesterin in einer anderen Zeit war, und die blondhaarige, die mit demütig ausgestreckten Armen auf sie zugeschritten kam, war Cody. »Erkennst du mich nicht mehr, Mim?« rief das junge Mädchen wehmütig. »Erkennst du mich nicht mehr?« Die TraumMaggie streckte die Hand nach ihr aus. Plötzlich tat sich ein Spalt auf im Boden vor ihnen, und ein dämonisches Wesen erhob sich zischend aus der schwefeligen Tiefe. Sein groteskes Haupt stieß einen geisterhaften Laut aus, der nicht von dieser Welt war - eine flüssige Lavamasse quoll von seinen sabbernden Lippen. Sein Leib war entfernt menschlich, doch es hatte gespaltene Hufe und die Hinterbacken eines Rindes. Eine Hülle aus verfilzten Haaren und Federn reichte bis an die klauenartigen Finger. Es hatte weibliche Hängebrüste und eine ungeheuerliche Erektion. Der Dämon packte die Cody-Priesterin mit blutigen Klauen und zerrte sie unbarmherzig rückwärts zu der klaffenden Grube, die tief in die Erde hinabfiel. Die Maggie-Priesterin konnte eine Treppe sehen, die schräg hinunterführte, tief, tief hinab in den Abgrund, und Dampf brach rhythmisch hervor, wie von einem riesenhaften Gebläse gespien.
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Maggie wußte, sie blickte in den Höllenschlund. Weit, weit unten am Fuße des endlosen Korridors, stieg Jenna - in Trance - die Treppe hinab. Die Traum-Cody rang mit dem Dämon; sie roch seinen fauligen Atem, fühlte, wie seine schmutzigen Klauen ihr geläutertes Fleisch streichelten. Verzweifelt versuchte die Maggie-Priesterin zu der kämpfenden Priesterin zu laufen, aber ihre Füße blieben bei jedem Schritt in schlammigem Treibsand stecken. Wütende Dämonen schwärmten in Scharen aus der Grube und schlugen Maggie auf den Rücken — stechende, dreschende, rotglühende Zangen peitschten nach ihr, während sie sich vorwärts kämpfte, hin zu... Cody! Maggie war jetzt wach und saß kerzengerade im Bett. Aber der Traum füllte ihre Seele mit einem entsetzlichen Wissen. Cody befand sich in tödlicher, unmittelbarer Gefahr, und Jenna war auf dem Weg in die Verdammnis. Ihr ganzes Leben lang hatte sie wahre Träume gehabt. Manchmal in Allegorien verschleiert, aber immer so exakt, daß sie die visionären Träume von den gewöhnlichen unterscheiden konnte. Eine Gänsehaut bedeckte ihren schweißnassen Körper. Sie mußte die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten. Dieser Traum war unmittelbare Wirklichkeit. Sie mußte Cody aus dem Haus herausholen. Heute. Maggie stürzte eine Tasse Kaffee herunter und fuhr los. Sie erreichte das Anwesen der Vanniers vor acht Uhr früh und verlangte ihre Tochter zu sprechen. Jenna war noch im Morgenrock, als sie ihre Mutter begrüßte; ihre Augenlider waren schwer, und ihre Stimme schien mit einer falschen Umdrehungsgeschwindigkeit zu laufen. Maggie sank der Mut, als sie sie sah; die Drogeneinwirkung war heute morgen unverkennbar. »Was machst du hier, Mutter?« nuschelte Jenna. »Ich habe dich heute nicht erwartet.«
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Noch erregt von ihrem Alptraum, trat Maggie nahe an Jenna heran und faßte sie an den Schultern. Sie hätte sie umarmt, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, daß ihre Tochter es zuließ. »Jenna, mein Herz, du mußt auf mich hören«, drängte sie. »Du weißt von meinen Träumen... den wahren. Heute nacht hatte ich einen, der mir zeigte, daß ich, du und Cody in schrecklicher Gefahr sind. Deswegen bin ich gekommen, um euch zu holen. Du mußt mit mir kommen, Jenna! Jetzt gleich. Ich bringe dich in die beste Drogenklinik - ich besorge dir die beste Hilfe. Wir werden dies zusammen durchstehen, mein Herz. Bitte laß mich dir helfen, bevor es zu spät ist!« Jenna hatte offensichtlich Mühe, sich zu konzentrieren. Sie riß sich von ihrer Mutter los und stieß sie heftig zurück. »Du machst dich lächerlich! Immer glaubst du, alles hat mit Drogen zu tun! Ich nehme keine Drogen. Siehst du denn nicht, was für ein wunderbares Leben ich hier führe? Ich bin reich... Ich bin mit einem fabelhaften Mann verheiratet... meine Tochter ist in bester Obhut.« Jennas Stimme war schrill, ihr Gesicht häßlich von plötzlicher Wut. »Du kannst es bloß nicht ertragen, mich so glücklich zu sehen, das ist alles. Du kannst einfach nicht glauben, daß ich es geschafft habe, stimmt's?« Maggie starrte ihre Tochter an, erschüttert, entsetzt. »Wie kannst du so etwas denken, Jenna?« fragte sie flehend, verletzt von Jennas giftspeiender Wut. »Weißt du denn nicht, wie sehr ich dich liebe?« Wie konnte sie ihr nur die Gefahr bewußt machen, die, wie sie fühlte, alles um sie erstarren ließ? Die nach ihnen leckte, bereit, ihre Welt zu verschlingen... »Ich weiß, daß du Drogen nimmst, Jenna. Ich sehe es in deinem Gesicht - deine Pupillen sind so groß wie Untertassen, du nuschelst. Aber das ist mir egal! Ich verurteile dich nicht - ich versuche, dir zu helfen! Verstehst du nicht, die Drogen hindern dich daran zu sehen, was hier vorgeht. Cody ist in schrecklicher Gefahr, Jenna. In diesem Moment. Ich spüre es mit allen meinen Sinnen. Sie ist in Todesgefahr... und du auch!« Jenna richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf und raffte ihren Morgenrock mit einer energischen Geste enger um sich. »Das ist ausgesprochen lächerlich. Cody geht es prima, Mutter. Ghania
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hat sich um Generationen von Vannier-Kindern gekümmert, und sieh doch, wie gut sie geraten sind.« »Dann laß mich sie sehen«, verlangte Maggie. Da sprachen die Drogen, nicht Jenna, rief sie sich eindringlich in Erinnerung. Wer weiß, die Jenna, die sie liebte, lebte vielleicht gar nicht mehr in diesem Körper. Sie betete zu Gott, daß es nicht zu spät sein möge, das Kind zu retten. Maggie beobachtete, wie Jenna ihren nächsten Schritt bedachte. »Na gut, Mutter«, sagte sie schließlich, »wenn du verspricht, gleich danach zu gehen.« Maggie atmete tief ein und erklärte sich einverstanden. Jenna hatte ihre Wahl getroffen, so schwer das zu akzeptieren war, und Maggie mußte sich damit abfinden. Aber das schloß nicht ein, daß sie Cody mit ihrer Mutter untergehen lassen würde. Wie eine kleine steinerne Statue saß Cody, adrett gekleidet und mit vollendeten Manieren, am Tisch des Kinderzimmers. Das Frühstück stand vor ihr. Sie wirkte beinahe wahnhaft, als habe sie sich nach innen gekehrt, um das abzuwehren, was sie bedrohte. Sie sah auf, als Maggie das Zimmer betrat, und sogleich traten ihr die Tränen in die Augen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Maggie eilte zu ihr hin und nahm sie in die Arme. Das Kind lehnte den Kopf resigniert an Maggies Schulter und flüsterte ganz leise: »Cody hat Mim lieb«, wieder und wieder - eine seltsam leblose Litanei. »Um Gottes willen, was habt ihr mit dem Kind gemacht?« fragte Maggie, zornig, erschrocken. »Sie ist erst sechs Wochen hier, Jenna, und sieh nur, wie sie verfallen ist. Ihr Blick ist glasig, teilnahmslos. Wie eine leblose Stoffpuppe... was habt ihr mit ihr gemacht?« »Cody ist mein Kind, Mutter, und ich bin jetzt für ihr Leben verantwortlich, ob es dir paßt oder nicht.« »Dann übernimm die Verantwortung, um Gottes willen! Geh mit ihr zum Arzt, Jenna. Das Kind ist schwerkrank!« »Sie braucht keinen Arzt. Gh ania kann sie erstklassig behandeln.«
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»Wenn sie sie so gut behandelt, warum ist sie dann in diesem Zustand?« »Ich möchte, daß du jetzt gehst, Mutter«, sagte Jenna, und sie griff entschlossen nach Cody. »Ich möchte, daß du gehst, sofort!« Jenna versuchte, ihrer Mutter das Kind aus den Armen zu reißen, aber diesmal war Maggie auf den Angriff gefaßt. Cody an ihr Herz drückend, schob sie sich an ihrer Tochter vorbei und lief zur Treppe. Jennas Schreie nach Ghania hallten ihr nach, als sie durchs Erdgeschoß rannte und am Schloß der Eingangstür herumfummelte. Verdammter Mist! Die blöde Tür wog tausend Pfund! Sie riß sie auf und rannte zu ihrem Wagen. Cody klammerte sich so fest an Maggie, daß diese fürchtete, sie würde nicht imstande sein, das Kind von sich zu lösen, damit sie hinters Lenkrad paßte. Mit zitternden Fingern rammte Maggie die Türverriegelung zu und schob hastig den Schlüssel ins Zündschloß. Der Wagen schoß aus der Zufahrt, gerade als Ghania, Jenna und zwei Diener von Leibwächterstatur in die Zufahrt kamen, ihnen hilflos nachliefen und Worte riefen, die sie nicht hören konnte. Sie würden sie verfolgen, das war sicher. Maggie zwang sich, klar zu denken, ungeachtet ihres rasend klopfenden Herzens und ihrer zum Zerreißen gespannten Nerven. Sie wollte das Kind zu Amanda bringen - Jenna würde nicht auf die Idee kommen, Cody dort zu suchen. Dann wollte sie sie vom besten Kinderpsychologen untersuchen lassen. Amanda kannte alle Welt Amanda würde irgend jemand kennen, der helfen konnte. Cody lag zusammengerollt auf dem Sitz neben Maggie, den Daumen im Mund. Sie hatte nie Daumen gelutscht!... Die Beine hatte sie schützend hochgezogen, und sie war erschreckend still. »Jetzt wird alles gut, Herzchen!« beschwichtigte Maggie, während sie im Rückspiegel nach Verfolgern Ausschau hielt. »Jetzt wird alles gut.« Noch während sie es sagte, wußte sie, daß es nicht wahr war. Codys Kinderarzt war nicht in der Stadt. Scheiße! Maggie versuchte, seinem Vertreter zu erklären, worum es sich handelte, aber er schien Angst zu haben, in eine womöglich strittige Si-
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tuation hineingezogen zu werden. Amanda rief an, um ihr zu sagen, sie habe am nächsten Morgen einen Termin mit Dr. Engle vereinbart. Die Türglocke läutete heftig. Als Maggie das Läuten hörte, wußte sie, daß es Eric war, Gott sei Dank war Cody außer Haus in Sicherheit. Maria Aparecida öffnete, und Eric wollte sich an ihr vorbeischieben, als ob sie nicht existierte, aber die mächtige Frau verstellte ihm den Weg, und Maggie sah vom oberen Treppenabsatz aus, daß Maria eine große Eisenpfanne in der Hand hielt. Ihre Erscheinung hatte etwas herrlich Heroisches. »Wo ist das Kind?« fragte Eric. »Sie ist nicht hier«, erwiderte Maria, ohne sich zu rühren. »Mir aus dem Weg, Bauerntrampel«, sagte er verächtlich, »sonst gehe ich direkt durch dich hindurch.« »Versuchen Sie's nur, Senhor«, antwortete Maria mit leiser, deutlicher Stimme, »und ich spucke auf Ihr Grab!« »Schon gut, Maria«, rief Maggie und lief die Treppe hinunter. »Ich werde mit ihm sprechen.« »Wie Sie wollen, Dona Maggie«, murmelte Maria, aber sie zog sich nur wenige Schritte zurück, die Bratpfanne in Bereitschaft. »Wo ist sie?« fragte Eric herrisch, ohne jeden Anschein von Höflichkeit. Maggie stand wenige Schritte von ihm entfernt; er sah noch furchteinflößender aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. »Sie ist nicht hier.« Eric rückte bedrohlich näher. Seine dunklen Augen verengten sich. »Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie glauben, Sie könnten das Kind behalten«, sagte er. »Ich habe mächtige Freunde, Maggie, und das Adoptionsverfahren ist schon im Gange. Aufgrund dieser kleinen Unbesonnenheit werde ich dafür Sorge tragen, daß Cody bald für immer außerhalb Ihrer Reichweite ist.« »Drohen Sie mir nicht, Eric«, sagte sie, ihre Stimme unter Kontrolle haltend. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich weiß auch, was Sie sind. Und ich werde niemals zulassen, daß Sie Cody für Ihre Absichten benutzen.« Eric musterte sie nachdenklich. »Sie wissen nichts von meinen
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Absichten, Maggie, und wenn, würde Ihnen niemand glauben. Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie denken, Sie können das Kind von mir fernhalten. Wenn das wahr ist, was Sie sich vorstellen, dann müssen Sie einsehen, daß hier Kräfte am Werk sind, die ein naseweises Insekt wie Sie zermalmen könnten, ohne daß die Welt etwas merkte.« Er lächelte, und aus seinen Augen blitzte das Böse seiner wahren Natur. »Kennen Sie Schmerz, Maggie? Ich könnte bewirken, daß Sie in einem Todeskampf sterben, den kein Arzt lindern kann. Oder können Sie sich Wahnsinn vorstellen? Es gibt Geschöpfe in diesem Universum, die auf einen Wink von mir nur so zum Spaß nach Ihrer geistigen Gesundheit schnappen würden, so daß Sie den Rest Ihres jämmerlichen Lebens sabbernd in einer Anstalt verbrächten. Kämpfen Sie nicht gegen etwas, das Sie unmöglich verstehen können«, warnte er spöttisch, und all seine Weltgewandtheit und sein Charme waren jetzt purer Bosheit gewichen. »Sie können einfach nicht gewinnen. So, wo ist das Kind?« »Sie ist nicht hier.« »Ich werde es selbst herausfinden«, sagte er, während er versuchte, sich an ihr vorbeizuschieben. Maggie stellte sich ihm wortlos in den Weg. Er versuchte, um sie herumzugehen, aber sie blockte seine Bewegungen ab. »Wirklich, Maggie«, sagte er mit einem verächtlichen Feixen, »glauben Sie, Ihr kümmerlicher Kampfsport kann Sie vor mir schützen? Gehen Sie mir aus dem Weg!« Maggie strengte sich an, ihre Wut auf einer kontrollierbaren Ebene zu halten. »Benutzen Sie Ihren Zorn, Maggie«, hörte sie Mr. Wongs Stimme in ihrem Kopf. »Lassen Sie nie zu, daß Ihr Zorn Sie benutzt.« »Sie verdorbener, Kinder belästigender Schweinehund«, sagte sie mit einer Stimme, die er noch nie gehört hatte. »Ich bin vielleicht nicht imstande, Sie kleinzukriegen, aber Sie können mir glauben, daß ich Ihnen weh tun werde, bevor wir miteinander fertig sind. Sie können mir glauben, daß ich Sie bluten lasse!« Der Fuchs kämpft um seine Nahrung, das Kaninchen um sein Leben.
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Eric kniff die Augen zusammen; Ghania hatte ihm geraten, diese Frau nicht zu unterschätzen. Und er mußte auch noch mit dem Bauerntrampel mit der Bratpfanne rechnen. Er starrte Maggie einen langen Augenblick fest an, dann faßte er einen Entschluß und wandte sich zur Tür. »Ich werde Ihnen heute abend eine Botschaft zukommen lassen«, warnte er. Dann war er fort. Als Maggie sich zu Maria Aparecida umdrehte, sah sie, daß die Frau das Kreuzzeichen in die Luft machte, um das Böse abzuwehren.
21 Zum zweitenmal seit dem Dunkelwerden überprüfte Maggie alle Schlösser an Türen und Fenstern. Mit der anbrechenden Nacht spürte sie ein wachsendes Unbehagen, und sie hatte Ellie den ganzen Nachmittag nicht erreichen können. »Ich bin wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet!« schalt sie sich laut und versuchte die Angst zu vertreiben, die in ihre Knochen kroch. Gott sei Dank war Cody jetzt in ihrem Zimmer, wo sie wie in alten Zeiten mit Maria »Candyland« spielte, in Sicherheit, Maggie griff zum Telefon und wählte ein letztes Mal Ellies Nummer. Niemand meldete sich, verdammt! Nach einigem Zögern trat sie entschlossen vor das Regal, das alle Bücher über psychischen Schutz enthielt. »Ich kann's nicht glauben, daß ich das tue«, murmelte sie, während sie im Inhaltsverzeichnis nach dem Gewünschten suchte. Wenn sie Ellie nicht erreichen konnte, mußte sie es eben selbst tun. Das Ganze war vermutlich ohnehin lächerlich... aber es würde ihr zumindest einen psychologischen Halt geben, der ihr half, die Ängste dieser Nacht auszuhalten. »Okay«, murmelte sie, von dem Entschluß ermutigt und auch, weil sie den Klang einer Stimme nötig hatte, und sei es ihrer eigenen. »Hier haben wir's. Wie man einen Drudenfuß anlegt, ein Schutz-Pentagramm...« Sie sah die Liste mit den benötigten Utensilien durch. Saubere Decken, Kissen, warme
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Kleidung... alles frisch gewaschen oder neu. »Warum wohl?« Sie las weiter. »Alles Schmutzige oder Benutzte zieht negative Energie magnetisch an. Die schutzbedürftige Person darf dem astralen Angreifer nichts in die Hand geben, das ihre persönliche Ausstrahlung enthält. Wir alle haben schon von Wodu-Medizinmännern gehört, die für die Anfertigung ihrer Puppen Haare oder Nagelteile verwenden. Dies geschieht, weil die Abfallprodukte unseres Körpers genug von unserer persönlichen Ausstrahlung enthalten, um eine Energie-Verbindung zu schaffen. Diese Verbindung bildet eine Art ätherisches Zielgerät, mit dessen Hilfe der Angreifer die Energiequelle des Opfers anzapfen kann.« Maggie notierte sich die restlichen Zutaten: Kreide, Schnur, Weihwasser, Becher, weiße Kerzen... Sie war froh, daß sie Weihwasser und Asafötidagras von Pater Peter bekommen hatte. Sie hatte sogar zwei der erforderlichen fünf Hufeisen von einem lange zurückliegenden Ausflug ins Amish-Gebiet. Aber an Alraunwurzeln, vier weibliche und eine männliche, war nicht so leicht heranzukommen. Maggie zögerte, dann beschloß sie, ohne die Wurzeln weiterzumachen; vielleicht war ja ein unzulängliches Pentagramm besser als gar keines. Maggie kam sich ungeschickt und töricht vor, als sie Maria erklärte, sie habe beschlossen, für sich und Cody eine Schutzzone zu errichten, wo das Böse nicht eindringen könne, nur für den Fall, daß Eric versuchen sollte, in der Nacht irgendwelchen Ärger zu machen. Maria bekreuzigte sich geschwind. »Sehr klug, Dona Maggie«, erwiderte sie mit großem Ernst. »Sai pra la Satanas! Dem Bösen darf kein Eintritt gestattet werden. Ich behalte das Kind bei mir, bis Sie fertig sind.« Noch im Gehen, berührte Maggie den Arm der Haushälterin. »Maria, fühlen Sie sich gefährdet, wenn Sie unter diesen Umständen bei uns bleiben?« »Dona Maggie«, erwiderte die ältere Frau voller Überzeugung, »ich habe einen Schrein der heiligen Jungfrau in meinem Zimmer... und mein Rosenkranz, den der Heilige Vater in Rom
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geweiht hat, hängt über meinem Bett. Der Teufel selbst könnte solche Schutzmittel nicht überwinden.« Im Hinausgehen begriffen, drehte sie sich noch einmal um. »Für die Kleine, Dona Maggie, würde ich bis auf den Tod kämpfen, gegen jeden in dieser Welt oder in der nächsten.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Maria«, erwiderte Maggie gerührt. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie sich zum Gehen wandte. Entschlossen holte sie einen Eimer und einen Scheuerlappen aus der Abstellkammer und brachte alle Utensilien, die sie zusammengetragen hatte, in die Bibliothek. Dieser Raum war ihr Allerheiligstes; die alten Ledermöbel ließen sich leichter aus dem Weg räumen als das Mobiliar in den anderen Zimmern. Es dauerte eine Weile, um nach den Bestimmungen des Buches sauberzumachen; aber das Schrubben tröstete sie, eine entschieden positive Handlung in einer Welt voll tückischem Treibsand. Dann nahm sie sich das Buch mit den Anweisungen wieder vor. »Messen Sie in der Mitte des Raumes einen inneren Kreis von sieben Fuß und einen äußeren Kreis von neun Fuß ab. Danach konstruieren Sie einen fünfzackigen Stern, dessen Spitzen den äußeren Kreis berühren und dessen Einkerbungen an den Rand des inneren Kreises stoßen. Die Winkel müssen vollkommen sein, denn geometrische Exaktheit ist unabdingbar für die Abwehrkraft, die dieses Pentagramm gewährleisten wird.« »Na großartig!« murmelte Maggie, als sie begann, die entsprechende Länge Schnur abzumessen, um den ersten Kreis zu ziehen. »Als hätte ich in den letzten dreißig Jahren nichts anderes zu tun gehabt, als über die Vervollkommnung der Geometrie nachzudenken.« Der Raum zwischen den zwei Kreisen in dem Schaubild war mit Glyphen und magischen Zeichen beschriftet, die sehr alt aussahen. In dem Buch hieß es, sie seien die Worte der Macht, die das Böse bannen könnten. Maggie studierte sie sorgfältig zur Vorbereitung für die mühsame Beschriftung, dann machte sie sich daran, die Worte auf das Pentagramm zu kopieren. In nomine Pa + tris et Fi + lii + et Spiritus + Sancti! + El Elohum + Sother + Emmanuel + Saboath + Agia + Tetragramma-
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ton + Agyos + Otheos + Ischiros +... Sie versuchte, die elegante Schrift nachzumachen. Sie erkannte ein Horusauge und andere ägyptische Symbole, die sie schon einmal gesehen hatte, aber einige Diagramme waren ihr fremd und sehr kompliziert, und es erforderte große Konzentration, sie zu kopieren. Maggie sah mehrmals vom Buch zum Fußboden, ehe sie merkte, daß die Ringe an ihren Fingern nicht ihre waren. Tatsächlich waren die Hand und der Arm, auf die sie starrte, nicht ihre, obwohl sie an ihr befestigt schienen. Aber die langen schlanken Finger, die die Kreide hielten, waren dunkler, die spitz zulaufenden Nägel blau gefärbt. Ein gewaltiger Saphirring bedeckte den Knöchel des Zeigefingers; ein kleinerer Rubin und ein Amethyst schmückten den Ringfinger, und ein erlesener goldener Schlangenreifen ringelte sich ihren Arm hinauf... Maggie riß die Hand zurück, als sei sie ins Feuer gestoßen worden; die Kreide flog auf die Erde. Sie wich auf den Knien zurück, so erschrocken, daß sie zu keiner weiteren Bewegung mehr fähig war, die eine Hand schützend um die fremde Hand gelegt. Aber es war wieder ihre Hand, das fremde Phantom war verschwunden. Maggie schüttelte heftig den Kopf. Halluzinationen. Das ist es. Ich fürchte mich zu Tode und habe Erscheinungen. O Gott, es ist ernst... Sie zwang sich, die Kreide wieder aufzuheben. Wenn sie heute nacht nicht irgendeine Art von Schutzvorrichtung hatte, auf die sie bauen konnte, dann könnte sie sich gleich in die psychiatrische Klinik einweisen lassen. Am besten machte sie das verflixte Ding schnellstens fertig und ging schlafen. Dumbos weiße Feder! Das würde dieses Pentagramm sein. Eine magische Beruhigungspille, mit deren Hilfe sie die Nacht überstehen würde. Rasch brachte Maggie den Rest des Diagramms zu Ende. Sie verfügte nicht über alle notwendigen Zutaten, deswegen improvisierte sie mit dem, was sie hatte. Becher mit Weihwasser in jede Sterneneinkerbung, eine angezündete konische weiße Kerze an jedem Zacken. Das Buch verlangte fünf Hufeisen, die Enden nach außen, aber sie hatte nur zwei, daher legte sie je eines auf nur zwei Seiten des Pentagramms.
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Das Buch schrieb vor, das Kreuzzeichen zu machen, um jede Richtung zu versiegeln, und Maggie tat es bereitwillig. »›Christus war zweifellos der größte Weltenlehrer für unsere Epoche‹«, las sie laut. »›Seit zweitausend Jahren haben seine Anhänger ein gewaltiges kollektives Unbewußtes geschaffen eine Art Reservoir für Gebete und heilige Zwecke, das ein sehr mächtiges Bollwerk gegen das Böse darstellt. Durch Anrufung des Namens und des Schutzes einer Gottheit stellen sie sich energetisch in den Strahlstrom der Macht dieser Gottheit.‹« Maggie lächelte in sich hinein, als sie sich vorstellte, was Schwester Magdalene zu der Annahme gesagt haben würde, daß Christus einen starken Strahlstrom hatte. »Sie können geweihtes Wasser in den Kreis stellen, aber trinken Sie es nicht, wenn Sie es nicht unbedingt müssen. Denken Sie daran, Sie dürfen den Kreis nicht verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Auch wenn ein Atomkrieg ausbricht, bevor es tagt, dürfen Sie den Kreis nicht verlassen.« Zuletzt machte Maggie Feuer im Kamin; sie würde wohl keine Gelegenheit zum Nachlegen haben, bevor der Morgen kam. Danach trug sie die schlafende Cody in das provisorische Bett, das sie in der Mitte des Kreises bereitet hatte. Sie fragte sich, ob das Kind nicht vollkommen traumatisiert sein würde, wenn es beim Aufwachen ringsum diese vielen bizarren Anordnungen sähe. Sie würde einfach so tun müssen, als sei es ein Spiel, um den Eindruck des Fremden zu mildern. Cody war durch die Flucht aus der Villa ohnehin schon traumatisiert - von allem, was ihr geschehen war, als sie dort lebte, gar nicht zu reden -, da würde eine weitere seltsame Episode gewiß keinen irreparablen Schaden anrichten. Maggie murmelte die zeremoniellen Gebete aus dem Buch, so gut sie konnte, und sie hoffte, daß die Aussprache keine große Rolle spielte; denn die Gebete waren in einer Sprache geschrieben, die ihr unbekannt war. Sie drückte den silbernen Rosenkranz, den ihre Mutter ihr zur Erstkommunion geschenkt hatte, an die Lippen, dann hängte sie ihn sich zur sicheren Verwahrung ans Handgelenk. Die St.-Benedikt-Medaille heftete sie sich an die Bluse. »Er hält das Kreuz
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in einer Hand und die heilige Kegel in der anderen«, hatte Peter ihr gesagt. »Man sagt, daß die Mächte der Finsternis ihn fürchten .« Maggie berührte das schlafende Kind sacht an seiner samtenen Wange, die gerötet war von seinem gleichmäßigen Atem. Cody sah im Schlaf so engelhaft aus, daß Maggie die Tränen in die Augen traten. Lieber Gott, bitte mach, daß ich sie sicher vor allem Übel bewahren kann. Sie warf einen letzten Blick in das Buch. »Was immer Sie heute nacht sehen, hören oder riechen, bleiben Sie innerhalb des Kreises. Ihrer aller Leben und Verstand hängen davon ab! Satan kann diese Schutzvorrichtungen nicht durchbrechen... es sei denn, Sie lassen ihn herein. Wenn Sie die Geometrie des Kreises zerstören, besteht Ihr Schutz nicht mehr.« Maggie grub ihre Zähne entschlossen in ihre Unterlippe. Noch nie hatte sie sich so schrecklich allein gefühlt. Schatten huschten über die Wände, Scheinwerferlichter flitzten dann und wann an den Fenstern vorüber. Der Wind rüttelte unablässig an den Blendläden. Maggie setzte sich neben das Kind, das sie liebte. Sie nahm Codys kleine Hand und betete, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel. Sie wurde von einer ungewöhnlichen Kälte und dem sicheren Gefühl geweckt, daß etwas in die Bibliothek eingedrungen war. Von einem hohen Bord fiel ein Buch zu Boden; Maggie riß den Kopf herum, um zu sehen, was der Grund dafür war. Da war nichts. Sie schnupperte in die Luft, ein übelkeiterregender Fäulnisgestank drang rings um sie in den Raum, es roch wie ein verstopfter Abfluß. Plötzlich explodierte in der Ecke gegenüber eine Lampe. Maggie packte die schlafende Cody und drückte sie fest an sich; das Kind öffnete einen Moment die Augen, erschreckt von den Geräuschen, und schlief wieder ein. Ein schwerer Bilderrahmen krachte von der Wand und zerbarst, aber Maggie achtete kaum darauf, denn die Couch hatte sich vom Boden erhoben und rutschte seitwärts. »Es ist nicht wahr. Es geschieht nicht wirklich«, sagte sie laut; das Entsetzen in ihrer Stimme erschreckte sie. Ein Zischen lenkte ihren Blick
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zum Kamin. Wie von einer unsichtbaren Wasserfontäne übergössen, flackerten die Flammen auf und erstarben zischend bis zum letzten Glutstückchen. Und da sah sie es. Riesenhaft, schwarz, den Geruch des Bösen verströmend, gelbe Augen, die sie im Halbdunkel anfunkelten. Es hatte keine Gestalt; wie ein formloser Sack voll Bosheit pulsierte und bebte es am Rande des Pentagramms. Lieber Gott, es war das Böse. Unmenschlich, nicht von dieser Daseinsebene. Von irgendwo anders, von einem entsetzlichen Ort. Während sie es beobachtete, veränderte es sich. Das glitschige Wesen verwandelte sich in ein männliches Geschöpf von infernalischer Schönheit: Pan, Dionysos, Luzifer. Lieber Gott, es war schön. Seine Augen versenkten sich in ihre, lockten sie, bannten sie. Die boshafte Intelligenz, die seine Miene ausstrahlte, war atemberaubend. Sinnlich. Es verströmte Sexualität auf eine fremdartige, unsägliche Weise, verführerisch wie die Hölle selbst. Maggie spürte einen lasterhaften Sog von rohem, zügellosem Sex an ihren Geschlechtsteilen, er zog, schob und bebte, löste Begehren in ihr aus... nach Sex, nicht nach Liebe. Nach widernatürlichem Tun. Gewaltigen, entsetzlichen Obszönitäten, an die sie nicht mal im Traum gedacht hatte. Gier zerrte an ihr. Diese Augen, sie konnte ihren Blick nicht von diesen bösen Augen losreißen. Sie zogen sie an, befahlen ihr, zogen sie an den Rand des Kreises. Hilf mir. Lieber Himmel, hilf mir! Sie schrie diese Worte voll Verzweiflung heraus... und das Ding verwandelte sich abermals. Verschmolz zu Strömen von aussätziger, schorfiger Verderbtheit. Die dämonische Energie, die ihm innewohnte, schien zu wachsen, zu pulsieren, während aus tausend gräßlichen Schwären Schleim sickerte. In dem pulsierenden, rückgratlosen Ding formte sich ein irre grinsendes Maul mit gelben Reißzähnen, aus dem Speichel heraussabberte. Das Maul öffnete sich, und das Etwas schrie ihr lautlos zu, während es an den Ecken des Pentagramms riß Cody setzte sich kerzengerade auf und wollte nach dem Ungeheuer greifen. Maggie drückte das Kind fest an ihre Brust, aber mit einer Kraft, die weit über das Vermögen einer Dreijährigen
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hinausging, zappelte Cody heftig, um sich aus Maggies Griff zu befreien. Das Etwas übte einen machtvollen Zugriff auf das Kind aus; Maggie konnte das unerbittliche Zerren spüren, mit dem der kleine Körper ihr beinahe entrissen wurde. Cody schlug wie irrsinnig mit den Fäusten auf Maggie ein und griff nach dem Rand des Pentagramms, wurde aber zurückgezogen. Sie riß Maggie an den Haaren und zerkratzte ihr das Gesicht. Das Kind war außer Rand und Band, mit Augen so glasig wie Fensterscheiben; Maggie wußte, sie konnte Cody nicht mehr lange innerhalb des Kreises halten. Das Etwas lachte, ein häßliches, verstörendes Geräusch. Der dämonische Blick hielt Cody fest, und die Kraft des Kindes nahm zu. »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, Hilfe! Hilft mir denn niemand?« Maggie schrie die Worte. Das Geschöpf verschwamm und schauderte. Bildete sie sich ein, daß es zurückwich? Ermutigt rief sie: »Heilige Maria voll der Gnaden, beschütze mich!« Es zog sich mit Gebrüll zurück. Cody sackte apathisch auf den Fußboden. Plötzlich fielen Maggie die Verse des 91. Psalms ein, an den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gedacht hatte: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet dich vom Strick des Jägers.« Das Etwas wirkte jetzt kleiner, weniger dicht. Maggie sagte alle Gebete auf, die sie kannte, dann sang sie die Kirchenlieder, die ihr vom Kirchenchor ihrer Kinderzeit in Erinnerung waren. Als sie das Tantum Ergo beendet hatte, hatte sie plötzlich einen ihr unbekannten Vers des Psalms im Kopf, und sie rief die Worte, während sie sich fragte, woher sie gekommen waren: »Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild.« Sie rezitierte die Worte laut, ohne zu wissen, woher sie sie kannte. »Daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittag verdirbt.«
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So plötzlich, wie es erschienen war, verschwand das Etwas. Steif und schaudernd in der unerträglichen Kälte, berührte Maggie mit zitternden Händen Codys Körper; das Kind war in einen starren Schlummer gesunken und schien kaum zu atmen. Schluchzend hob sie die apathische Cody auf die Arme und preßte sie an sich, während sie in die beängstigende Leere jenseits des Kreises starrte. Sie betete und betete... und bemühte sich, wach zu bleiben. Es war die längste Nacht ihres Lebens. Kurz vor Morgengrauen fielen Maggie unerbittlich die Augen zu. Sie kämpfte dagegen an, biß sich in die Hände, bis sie bluteten ... schüttelte die Faust gegen die schreckliche Kälte. Dies war keine bloße Erschöpfung; sie fühlte sich betäubt, benommen, verwirrt. Sie versuchte, gegen die schleichende Taubheit anzukämpfen, aber das überstieg ihre Kräfte. Das Licht in ihr verblaßte wie eine erlöschende Flamme. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung warf sie sich schützend über Codys Körper. Dann schlief sie ein. Als Maggie aufwachte, war ihre Enkeltochter fort. Sie starrte auf die umgestülpten Weihwasserbecher; der Knoblauchkranz und der Rosenkranz, die das Kind am Leibe getragen hatte, lagen zerfetzt auf der Erde. Irgendwie hatte man Cody aus dem Schutzkreis gelockt. Das Pentagramm war von innen unwirksam gemacht worden. Maggie war übel wegen des Mißerfolgs und vor Angst, und da sie sich nun unauslöschlich der Macht bewußt war, gegen die sie antrat, ließ sie den Kopf hängen und weinte. Dann rief sie Peter und Ellie an.
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2. TEIL
Den Teufel besiegen Herr, höre mich, höre mich heute an; Der Weg zu dir ist schrecklich lang. Theodore Roethke
22 Ellie saß im Schneidersitz auf dem Fußboden, während Pater Peter in der Bibliothek auf und ab schritt. Maggie kauerte mit geröteten Augen in einer Couchecke. Sie hatte ihr Erlebnis soeben berichtet. »Es ist nicht Ihre Schuld, daß die Schutzmaßnahmen unzureichend waren, Mags«, sagte Ellie teilnahmsvoll. »Sie haben getan, was Sie konnten - Sie hatten nur nicht die Kenntnisse oder das richtige Werkzeug. Es ist ein Wunder, daß Sie das Ding überhaupt so gut abgehalten haben! Die müssen eine Saiitii-Manifestation zu Ihnen befördert haben, und denen ist schwer beizukommen, selbst mit Erfahrung.« Ellie sah Peter an. »Ihnen dürfte es als eine ›Sendung‹ bekannt sein. Die sind ganz schön gefährlich, auch wenn man gut trainiert ist. Maggie muß ein unterschwelliges Wissen aktiviert haben, als sie das Pentagramm anfertigte, sonst hätte das Ding sie töten können.« Pater Peter nickte. »Ich habe in Afrika und Südamerika ähnliche Dämonenangriffe gesehen«, sagte er. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, Maggie. Sie hatten es mit einem mächtigen Feind zu tun.«
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»Eric hat einen dämonischen Elementargeist aus der Hölle gerufen, um Sie zu zermürben, Mags«, erklärte Ellie. »Und weil Ihre Schutzmaßnahmen mangelhaft waren, hat er Sie vermutlich hypnotisiert, sobald Sie erschöpft waren, und ist dann irgendwie an Cody geraten. Ich nehme an, Ghania hat Blut, Haare und Nägel von dem Kind, um Verbindungen herzustellen. Vermutlich haben sie das Kind dazu gebracht, das Weihwasser umzukippen und das, was das Pentagramm an schützendem Energiegitter bot, unwirksam zu machen... Ich wette, die Mistkerle haben direkt vor dem Fenster auf Cody gewartet.« »Nach dem, was ich diese Nacht erlebt habe, Ellie, weiß ich, daß sie nicht zögern würden, sie zu töten, wenn es ihren Zwecken dient. Das Ding nährt sich von Gewalt.« »Das tut das Böse immer, Maggie«, warf Pater Peter ein. »Das Mysterium inquitus ist brutal und schwer faßbar, und es nährt sich von dem Schlimmsten in uns.« »Sagen Sie mir, ob Sie glauben, daß ich recht habe, Peter«, sagte Ellie. »Ich darf doch Peter zu Ihnen sagen?« Peter lächelte. »Es würde mich freuen, wenn Sie beide mich Peter nennen.« »Es muß eine Erklärung dafür geben, weshalb das alles jetzt geschieht«, fuhr Ellie fort. »Es muß einen Grund geben, weshalb sie so lange gewartet haben, bis sie Cody von Jenna abholen ließen.« »Sie glauben, sie haben gewartet, bis die Zeit ihres Rituals nahe ist, nicht wahr, Ellie? Und aus irgendeinem Grund konnten sie sie nicht schnappen und am nächsten Morgen ihre Zeremonie durchführen... daher müssen wir annehmen, daß sie sie in irgendeiner Weise vorbereiten mußten.« Der Priester gefällt mir, dachte Ellie, als sie den Faden aufnahm. Er ist sehr aufgeschlossen. »Wenn sie wirklich beabsichtigen, Cody zu benutzen, um sich das Amulett und den Stein zu verschaffen, Mags, so erfordert es eine Form der hochzeremoniellen Magie, die in diesem Jahrhundert so gut wie nie ausgeführt wurde«, erklärte er geduldig. »Man glaubt, daß Alister Crowley im Jahre 1929 die Er-
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weckung versucht hat und beinahe gestorben ist, weil er die Machte, die er beschwor, nicht beherrschen konnte. Bei Maa Kheru muß es einen Schwarzen Adepten geben. Um eine derartige Materialisation auch nur zu versuchen, müssen sie etwas weit Größeres als einen Elementargeist zu Hilfe rufen. Ich vermute, einen gefallenen Engel oder Satan persönlich. Die ägyptische Entsprechung wäre Set oder Sekhmet, daher werden sie mit Sicherheit einen oder beide herbeirufen. Sehen Sie, Maggie, jede zeremonielle Magie hängt von dem Adepten ab, dem sogenannten Magus, der einen Pakt mit bestimmten Dämonen geschlossen hat, die dann unter seinem Kommando stehen. Es ist ein heikles Unterfangen - für den Magus bestehen zahlreiche Gefahren, wenn der Dämon am Ende der Zeremonie nicht kontrolliert und in die Hölle zurückgeschickt werden kann. Wenn ein Fehler unterläuft, wird nicht nur das Böse des Dämons in der Welt losgelassen, sondern der Magus selbst kann in den Wahnsinn getrieben oder getötet werden und seine Seele an Satan verlieren.« »Maggie«, sagte Peter ernst, »ich habe viel über dieses dreidimensionale Schachspiel nachgedacht, das das Universum vor uns hingestellt hat. Hören Sie mich an, ja? Das Isis -Amulett und der Sekhmet-Stein sind Metaphern. Sie versinnbildlichen die ewige Zwietracht zwischen Gut und Böse in all ihren verschiedenen Verkörperungen. Somit stellen sie die ultimative Prüfung für die Menschheit dar: Sind wir imstande, über Kräfte zu herrschen, die bislang allein von Gott beherrscht wurden?« Er lächelte Ellie nachsichtig an. »Oder von den Göttern... wie andere es formulieren mögen.« Sie lächelte zurück. Sie fühlte ein gewisses Einvernehmen mit diesem Mann. »Auf diesem kosmischen Schlachtfeld scheinen Sie, Maggie, aus Gründen, die über unseren Verstand gehen, zu einer Kriegerin auf der Seite des Guten bestimmt zu sein. So wie Eric anscheinend die Fahne des Bösen trägt.« »Und wenn ich nicht die Kraft für so einen Kampf habe?« fragte Maggie. »Ich weiß nicht, was ich bei alledem tun soll.« »Ich vermute, Peter und ich sind zu ein und demselben Schluß gekommen, Mags«, sagte Ellie rasch. »Wir sind Ihre Trainer. Ich
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denke, nach dieser Nacht sehen Sie ein, daß Sie Unterweisung brauchen. Wir sorgen dafür, daß Sie die nötige Kraft entwickeln. « »Und wie?« »Wir unterrichten Sie, Maggie«, antwortete der Priester. »Ich bringe Ihnen bei, was ich von Gott weiß... Theologie... Gut und Böse. Die Ketzereien, die sie hervorgebracht, die Heiligen, die sie geschaffen haben. Ellie gibt Ihnen einen Schnellkurs in Metaphysik und Magie. Wir werden Sie mit vereinten Kräften in Ägyptologie unterweisen. Für den Fall, daß Sie es sind, die in die Arena muß, werden wir dafür sorgen, daß Sie nicht unvorbereitet gegen Goliath antreten.« Ellie und Peter wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Was Peter nicht ausgesprochen hatte: Auch sie beide waren auf das Schlachtfeld gerufen worden. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erwiderte Maggie sorgenvoll, »nur... daß ich mein Bestes tun will. Ich muß annehmen, daß Sie beide sich in große Gefahr begeben, wenn Sie mir behilflich sind, trotzdem schenken Sie mir Ihre Zeit und Ihren klugen Rat, obwohl Sie wissen, daß ich es Ihnen niemals angemessen vergelten kann.« »›Auch in Zeiten der Finsternis ist Zeit zu lieben‹« zitierte Peter leise, »›auf daß ein Akt der Liebe den Ausgleich schaffe‹.« »Aischylos hatte eine Menge auf dem Kasten«, sagte Ellie. Pater Peter schlug seinen Mantelkragen hoch zum Schutz vor der kalten Nachtluft, als sie Ellies Wohnung verließen. Der Weg zu Maggies Haus war nicht weit, und er spürte, daß ihm die Kälte gut tat, um seine zunehmende Konfusion zu entwirren. Er sah die Frau an, die an seiner Seite ging, und versuchte sich vorzustellen, was sie empfand bei alldem, was ihr geordnetes Leben durcheinandergebracht hatte. Sie sah so verletzlich aus im Mondlicht; verstört und jung. Was war an ihr, daß sie ihn an einer so tiefen, unnennbaren Stelle berührt hatte? Er hatte immer gedacht, wenn eine Frau jemals seine Abwehr durchbräche, dann wegen Sex. Dies aber war etwas Subtileres und daher eine weit gefährlichere Versuchung.
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»Möchten Sie noch irgendwohin gehen, Maggie?« fragte er plötzlich. »Auf eine Tasse Kaffee vielleicht? Ich nehme an, noch sind nicht alle Cafes im Village in Fast-food-Schuppen umgewandelt.« Maggie sah erschrocken auf, sie war mit den Gedanken meilenweit fort gewesen. »Kaffee«, murmelte sie, »gern.« Dann sah sie besorgt auf die Uhr. »Ist es nicht schon schrecklich spät, Peter? Wenn Sie heute abend noch nach Rhinebeck fahren wollen... « »Nein. Ich habe mir für ein paar Tage die Wohnung eines Freundes geliehen, Maggie. Ich dachte, ich bleibe in der Stadt, bis wir der Sache ein bißchen auf den Grund gegangen sind.« »Geht das denn? Ich meine, können Sie einfach wegbleiben?« Sie lächelte über ihre eigene Dummheit. »Verzeihen Sie, Peter. Ich muß wohl gedacht haben, Sie wären ein Soldat, der unter einem Kommando steht.« Er lachte kurz. »Ich habe Freunde beim Catholic Worker, die sich über einen zusätzlichen Priester freuen, der den Armen und Obdachlosen in der Bowery Street die Messe liest. Und ich habe einen alten Kumpel, der ein AIDS-Hospiz in der Thirteenth Street leitet. Er kann immer einen zusätzlichen Priester brauchen, wenn es soweit ist. Ich bin zur Zeit ohnehin mehr oder weniger selbständig, Maggie. Meine Pflichten können ein Weilchen auf mich warten.« Sie lächelte, aufrichtig, unerwartet. »›Figaro‹ ist immer noch prima, Peter«, sagte sie und wechselte die eingeschlagene Richtung. »Fast wie in alten Zeiten.« Das Cafe, ein altes Wahrzeichen des Viertels, war gedämpft beleuchtet und roch verlockend. Kaffeebohnen und Kameradschaft, dachte Maggie wehmütig; die freundliche Atmosphäre weckte Erinnerungen an längst vergangene, schöne Zeiten. Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke und bestellten. Die von der Sonne geprägten Linien in Peters Gesicht kräuselten sich, als er den dunklen, dampfenden Espresso trank, der nach wenigen Minuten gebracht wurde. Er hat ein gutes, vom Leben gezeichnetes Gesicht, dachte Maggie, die ihn betrachtete. Ein sprechendes Gesicht.
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»Was hat Sie bewogen, Priester zu werden, Peter?« fragte sie, während sie sich zurücksetzte und um sich blickte. Gott, dieser Ort beherbergt liebe Erinnerungen, dachte sie flüchtig. Jugend und Unbekümmertheit sind so schnell vergangen... Gottlob vergehen Erinnerungen nicht auch. Es tat gut, hier zu sein, und aus einem unerfindlichen Grund tat es gut, mit Peter zusammenzusein. »Ich war von Gott bezaubert, Maggie«, erwiderte er nachdenklich. »Von früher Jugend an war ich hingerissen von Seinem Universum, Seiner Macht, Seiner Majestät. Später, als ich begann, meine Schwingen intellektuell auszubreiten, war ich angelockt von dem endlosen Lernen, das sich auf der Straße zu Ihm vor mir erstreckte. Kennen Sie zufällig das Gedicht ›Der Himmelshund ‹? « Maggie lächelte, schloß die Augen und lehnte sich ein wenig zurück. »Ich floh vor ihm des Nachts und auch des Tags...«, zitierte sie mit der Ehrfurcht des Menschen, der die Dichtkunst aufrichtig liebt. Fast konnte sie die Resonanz des tiefen Baritons ihres Vaters in ihrer eigenen Stimme hören; die Erinnerung an seine Gedichtlesungen lebte so süß in ihr fort. »›Ich floh vor ihm durch meines Geistes Labyrinth, und unter Tränen floh ich dann vor Ihm...« Peter lächelte, erstaunt, daß sie das alte Gedicht so gut kannte, das eine sehr große Bedeutung in seinem Leben hatte... aber es war ein trauriges Lächeln, voll verlorener Möglichkeiten. »›Ein jedes Ding verrät dich, so du Mich verrätst...‹«, zitierte er. »Ach, meine liebe Maggie, das war die fatale Zeile für Peter Messenguer, glaube ich. Wissen Sie, von dem Augenblick an wollte ich Ihn nie verraten, nie enttäuschen. Ich wollte Ihm folgen zu den Geheimnissen des Universums... gemeinsam mit Ihm alle großen Mysterien entschlüsseln...« Er zuckte die Achseln; die Ungeheuerlichkeit dieser Wünsche ließ sich nicht beschreiben. »Dann war Ihre Versuchung eine intellektuelle?« entgegnete sie, gefesselt von diesem Mann, bemüht, ihn zu ergründen. »Wo hätte jemand, der so begabt ist wie Sie, einen angemessenen Sparringspartner finden können, wenn nicht in Gott?«
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Peter, ehrlich erstaunt über diese Äußerung, sah Maggie amü siert und eindringlich an. »Andere, die meine Geschichte hörten, waren von Ehrfurcht ergriffen... Sie sehen die einzige ausschlaggebende Wahrheit. Stolz ist immer meine größte Sünde gewesen, Maggie, intellektuelle Arroganz und das Wissen, daß ich die Dinge begreifen konnte, die geringere Geister verwirrten. Ich war wie ein Kind aus dem Getto, das eine außergewöhnliche Begabung für Basketball hat. Aber meine Begabung betraf das Hirn, nicht den Körper.« Er lachte kurz über seine Metapher. »Es ist hart, nicht stolz zu sein, wenn man ein Naturtalent ist... und doch, wer hat weniger Grund zum Stolz als derjenige, der für seine Leistung nicht schwitzen muß?« »Ich bin überzeugt, Sie haben genug geschwitzt, Peter«, erwiderte sie nachdenklich. »Die Begabung ist nur der Anfang. Danach kommt die Arbeit, sich ihrer würdig zu erweisen.« Er nickte zustimmend, und sie fuhr fort - sie erwärmte sich allmählich dafür, diesen Mann zu erforschen. »Und so haben Sie die höchste aller Klassen gewählt, um Ihre Veranlagung zu testen? Politik, Armee oder Kirche - sie sind die einzigen noch verbliebenen Bastionen wahrer Macht in dieser Welt, stimmt's?« Peter lachte laut. Ihre Respektlosigkeit war köstlich befreiend. Alle anderen behandelten ihn wie einen Abgott oder einen Paria... nur Maggie nicht. Sie wirkte erfrischend auf ihn und ließ ihn sich wieder jung fühlen. »Und haben Sie nie befürchtet, Peter, wie der Mann, der vor dem Himmelshund floh, daß, ›wenn du Ihn hast... hast sonst vielleicht du nichts‹?« Peter sah ihr über seine Kaffeetasse hinweg in die Augen; er war nicht sicher, was er suchte. »Ihn zu haben genügte mir damals, Maggie«, erwiderte er langsam. »Und offen gestanden, es war haargenau das richtige Leben für mich. Die Möglichkeiten intellektuellen Schwelgens, die atemberaubende Ausbildung, die Gesellschaft brillanter Kollegen, die unfehlbare Aristokratie der Kirche in Rom. Ich kam aus einer armen Familie, Maggie, ich hätte mir die Ausbildung, die mir zuteil wurde, nie leisten können. Ich genoß die
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Freiheit, zu reisen, mich mit den vielschichtigen Themen auseinanderzusetzen, all das, wovon ich als kleiner Junge in einer grauen Kleinstadt mitten im Nirgendwo geträumt hatte.« »Und wie steht es mit Frauen? Oder Kindern?« hakte sie nach. »Hat der Verzicht auf Familie... auf Sexualität und alle damit verbundenen Verantwortlichkeiten ein großes Opfer für Sie bedeutet? Es ist für jemand Außenstehenden schwer vorstellbar, sich für das Zölibat zu entscheiden, Peter, es scheint irgendwie selbstverleugnend. Verzeihen Sie mir, wenn die Frage zu persönlich ist...« Maggie staunte über ihre eigene Unverblümtheit. »Ich frage nur, weil ich es wirklich verstehen möchte...« Peter antwortete nicht sofort. »Es genügte, Gott nahezukommen, glaube ich. Das schien eine Oktave höher als die Liebe zwischen Mann und Frau... himmlischer. Und die Messe... o Maggie, als ich jeden Morgen die Hostie erhob, fühlte ich mich seliger als jeder Mann auf Erden! Und erfüllter. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß menschliche Liebe mir jemals eine solche übersinnliche Ekstase verschaffen würde...« Er lächelte ein wenig selbstentschuldigend. »Ich war damals jung. Die Liturgie... die Kirche... alles war so voller Zauber.« »Und als Sie älter wurden?« Er atmete tief ein, bevor er antwortete. »Da verstand ich besser, worauf ich verzichtet hatte«, erwiderte er. »Das Leben läutert einen... es schabt das Fleisch vom Knochen. Wenn man jung ist, glaubt man, das Zölibat ist das große Opfer - wenn man älter wird, begreift man, daß die Liebesgemeinschaft der weit größere Verzicht ist. Es gibt Abstufungen des Alleinseins, liebe Maggie. Zuerst war ich allein mit Gott und mit meinem Streben nach Weisheit - und das war ein schönes, elitäres Alleinsein. Dann geriet ich irgendwo auf meinem Weg in eine Krise wegen der Einschränkungen. Ich fühlte mich isoliert. Doch nach einer Weile war das erträglich, denn es verschaffte mir die Möglichkeit, nachzudenken, Hypothesen aufzustellen, meiner mystischen Neigung nachzugehen...« »Und jetzt? Ihre Läuterung durch die Kirche hat Ihnen den Verzicht doch sicher spürbar gemacht?«
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Ihre Blicke trafen sich, und sie entdeckte einen aufsässigen Kummer in seinen Augen. Und ein Verlangen. Sie fragte sich, wonach es ihn verlangte. »Jetzt, Maggie«, sagte er langsam, behutsam, »fürchte ich, daß ich den schändlichsten Zustand des Alleinseins erreicht habe. Ich fürchte, ich bin nur noch einsam. Und ich werde alt, natürlich, ein Fluch, der viel beängstigender is t, als man es sich in der Jugend vorstellt.« Maggie lachte. Sie hatte ein schönes, herzliches Lachen, fand Peter. »Ich habe einmal bei meinem Vater übers Altwerden gejammert«, erinnerte sie sich. »Ich war fünfunddreißig geworden und hatte entdeckt, daß ich sterblich bin. Ich sagte zu ihm: »Ich kann nichts Gutes an diesem blöden Älterwerden finden, Dad, und auch ohne die Klugheit, die ich erworben habe, könnte ich prima leben.‹ Er hat gekichert und gesagt: ›Warte nur, bis du in mein Alter kommst, Liebes. Die Erinnerung schwindet, und du kannst dich nicht mal mehr an die Klugheit erinnern.« Beide lachten, aber Peter sah, daß Maggies Augen feucht waren. »Erzählen Sie mir von ihm«, bat er. Sie überlegte einen Augenblick, ehe sie mit einem Gedicht von Cummings antwortete. Wie sonst könnte man eine so tiefe, so einflußreiche Liebe jemals annähernd beschreiben? Peter lächelte; so vieles an ihr war verwirrend. »Dann hat E. L. Cummings am besten verstanden, wie Sie ihn geliebt und bewundert haben?« Sie nickte. »So hatten Sie Glück im Leben, was Männer anging?« fragte Peter. Er wollte mehr über sie wissen, als er je über eine Frau hatte wissen wollen. Maggie, das Kinn vorgeschoben, das Gesicht gerötet von der Erinnerung, antwortete lächelnd: »Mein Vater und mein Mann waren wunderbare Menschen, Peter. Sehr human, sehr anständig, und beide besaßen die seltene Fähigkeit zu liebevoller Milde. Seit ich ohne sie lebe, ist die Welt leerer und kälter.« »Und Cody füllt diese Leere?« »Mit Freude, Beständigkeit. Natürlich sehe ich alle meine Lie-
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ben in ihr. Wie sie schnell den Kopf zurückwirft, wie ein Sonnenstrahl, der durch die Bäume flimmert... ein Lächeln, eine Geste können sie mir zurückbringen, einen Herzschlag lang werden sie wieder lebendig. Ich sehe Jenna oft in ihr, obwohl sie so verschieden sind.« Er bemerkte den Schatten des Kummers in ihrem Gesicht. »Was ist schiefgegangen?« fragte er leise, teilnahmsvoll. »Wenn die Frage zu persönlich ist, antworten Sie nicht.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Nicht zu persönlich, Peter, bloß unfaßbar. Wir haben uns sehr nahegestanden, als sie klein war. Ich konnte keine Kinder mehr bekommen, daher habe ich Jenna mit all meiner Liebe und Zuwendung überhäuft. Vielleicht zu sehr, habe ich manchmal gedacht, seit - für jemanden, der so abgöttisch geliebt wurde, ist die Welt vielleicht nie mehr mit jener erinnerten Geborgenheit zu messen.« Sie zuckte die Achseln über ihre verworrenen Worte. »Ich habe festgestellt, daß Mutmaßungen ein gefährlicher, bodenloser Sumpf sein können.« Sie seufzte vielsagend. Es war offensichtlich ein Sumpf, in dem sie sich häufig aufgehalten hatte. »Dann kam die Teenagerzeit - Jenna wurde schrecklich aufsässig und unnahbar. Wir dachten, hofften, es würde vorübergehen. Jack versuchte mich über ihre Zurückweisungen hinwegzutrösten... es tat mir sehr weh, wenn sie mich von sich stieß...« Maggies Blick ließ Peter los und schien sich in der Erinnerung an den Schmerz zu verlieren. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme nicht mehr so fest. »Dann wurde Jack krank, und wir waren in der endlos abwärtsführenden Spirale des Krebses gefangen. Diagnose, Fassungslosigkeit, verzweifeltes Warten auf ein Wunder... Sie wis sen, wie das ist. Dann die vielen fürchterlichen Behandlungen, die das Leben zur Hölle machen. Bestrahlung, Chemotherapie. Schmerzen, Leiden, Schrecken. Wut auf die Ärzte. Wut auf das Schicksal...« Sie sah ihn an, brauchte Trost und, vielleicht, Absolution. Er hatte dieses Bedürfnis oft genug gesehen, um es zu erkennen. »Drei Jahre hat Jack zum Sterben gebraucht. Schreckliche, bittere Jahre. Danach... als Jenna fort war, quälte ich mich mit
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dem Gedanken, daß ich ihre Sucht früher hätte erkennen können, sie irgendwie hätte heilen müssen. Hätte ich mich nicht so verzweifelt bemüht, Jack zu retten...« Sie ließ den Gedanken verwehen. »Hat es in Ihrer Familie Fälle von Sucht gegeben?« fragte er. Er wollte ihren Schmerz lindern, sie abschirmen von der unerträglichen Last der Vorstellung dessen, was hätte sein können. Sie nickte. »Wir waren beide irischer Abstammung, Peter. Welche irische Familie hat keine Alkoholiker zu verbergen?« »Dann liegt eine erbliche Belastung vor, Maggie. Eine genetische Verbindung, die Drogenabhängigkeit, Alkoholismus, Diabetes, Depression und bestimmte Formen von Geisteskrankheit umfaßt. Einige sehr kompetente Wissenschaftler vertreten die Hypothese einer biochemischen Unausgeglichenheit, die manche Menschen für Suchtmittel, vielleicht sogar für Suchtverhalten, prädestiniert.« Maggie nickte; er konnte mühelos den unendlich hohen Preis erkennen, den Jennas Sucht von Maggie gefordert hatte. »Glauben Sie, daß Sie Cody so sehr lieben, weil Sie sich wegen Ihrer Tochter schuldig fühlen, Maggie?« »Ich bin sicher, daß die Leute das von mir denken, Peter«, antwortete sie wehmütig. »Aber, nein, ich glaube nicht.« Plötzlich lächelte sie. »Ich liebe Cody um ihrer selbst willen... würden Sie sie kennen, Sie würden es verstehen. Wegen ihrer Liebe und ihres Lachens, wegen ihrer Güte, wegen ihrer Empfänglichkeit für jedes Fünkchen Liebe, das ich zu verschenken habe. Die Annahme, daß meine Liebe zu ihr auf Schuldgefühlen beruht, würde uns beide herabwürdigen.« Peter Messenguer hatte sich zurückgelehnt, während sie sprach, und aufmerksam zugehört. Die Frauen waren die stärkeren Menschen, das hatte er schon früh in seinem Priesteramt erfahren. Sie duldeten, litten, pflegten, ertrugen Ungerechtigkeit und behaupteten sich irgendwie. Wie die Männer es fertiggebracht hatten, die Lüge zu etablieren, daß sie das starke Ge schlecht seien, war ihm unbegreiflich. Von der Geburt bis zum Tod waren es die Frauen, die den Unrat der Jahre ausmisteten, die versuchten, ein ungleiches Spiel zu gewinnen. Sie zogen die
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Welt hinter sich aus dem Sumpf nach oben. Unablässig kämpften sie, um die Dinge zum Besseren zu wenden, während sie den Stimmen trotzten, die ihnen sagten, sie seien nur die zweitbesten. Würde man einen Priester nach dem Wertesystem der Welt fragen, bekäme man zu hören, wer die Köchin sei und wer die Kartoffel, wie seine irische Mutter gesagt haben würde. »Ich habe die Frauen immer bewundert«, sagte er laut, mehr zu sich selbst als zu Maggie. »Sie bringen es fertig, noch durch ihre Narben zu fühlen, zu lieben. Wir Männer mißdeuten ihre Sanftheit als Schwäche, vermute ich. Oder, wenn wir ihre Stärke erkennen, fürchten wir sie vielleicht so sehr, daß wir uns selbst belügen und das verunglimpfen müssen, womit wir uns nicht messen können. Die Männer sind überwiegend Dummköpfe.« Maggie vernahm das Bedauern in seinen Worten und fragte sich, was der Ursprung davon sein mochte. »Sie sind der Außenseiter, Peter Messenguer«, erwiderte sie leise. »Ich habe es vor Jahren erkannt, als wir jung waren. Sie passen in kein Schema.« Er lachte. »Ich glaube, das sagte der Papst, als er mich gemaßregelt hat.« Es war so einfach, sich vertraulich mit dieser Frau zu unterhalten, stellte er fest. Es war so einfach, sich Verletzlichkeiten mitzuteilen. Sei vorsichtig, Peter, warnte er sich, sei sehr, sehr vorsichtig. Eine Stunde später hatte Peter sie zu ihrem Haus am St. Luke's Place gebracht. »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte sie ihn, besorgt wegen der späten Stunde. »Diese Frage habe ich mir den ganzen Abend gestellt, Maggie«, erwiderte er leise. Dazu schien es weiter nichts zu sagen zu geben, darum wünschte Maggie ihm eine gute Nacht und trat in das dunkle Haus, das ihre zweite Haut war. Sie blieb eine Weile hinter der Tür stehen, bemüht, ihren Mittelpunkt zu finden. Warum brachte er sie dermaßen aus der Fassung, dieser wunderbare, einsame, interessante Mann... Priester, Mann. Wenn er kein Priester wäre, sagte sie zu sich, nicht wissend, wo der Gedanke enden mochte, wenn sie ihn zu Ende denken würde. Sie hatte Angst davor, es zu erfahren.
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Aber er ist Priester. Sie sprach die Worte laut und entschieden aus. Dann ging sie hinauf und zu Bett. Komisch. Was tat Codys Schmusebär auf dem Fußboden in Maggies Schlafzimmer? Als hätte eine kleine Hand ihn erst vor wenigen Augenblicken dort fallen lassen. Verwundert hob Maggie das Stofftier auf, das schmuddelig war vor lauter Liebe, und setzte sich aufs Bett. Ein Schwall von Erinnerungen überströmte sie, und sie betrachtete den Bären durch einen Tränenschleier... Oh, du mein Allerliebstes, wo bist du jetzt? Wer drückt dich an sich in der Nacht und lindert deine Ängste? Wie kannst du die Augen schließen, ohne daß sich Bärchen an dein Herz kuschelt? Maggie drückte das ramponierte Spielzeug an sich und begann sich mit dem Bären zu wiegen, vor und zurück, vor und zurück, in dem ewigen Rhythmus, den Mütter in den Genen haben. Dem Rhythmus, der verbindet, tröstet und heilt. Dem Rhythmus, der die Wiegenden in die Endlosigkeit der Liebe einbindet, die die Kraft der Zeiten ist... Maggie konnte Codys Ge sicht in ihren Armen beinahe fühlen, die vertrauensvolle, an ihr Herz gedrückte Innigkeit. O Gott, sie hat mir vertraut! Sie dachte, ich würde niemals zulassen, daß ihr ein Leid geschieht. Maggie legte sich aufs Bett, ohne sich auszuziehen, eingeschlossen in eine Gemeinschaft mit dem Schmusebär. Sie konnte ihn einfach nicht loslassen... er war die einzige Verbindung. Sie rollte sich zusammen, das Spielzeug an die Brust gedrückt, und umschloß den Bären und die Erinnerungen an das Kind, das ihn liebte, mit ihrem Leib. Nach einer Weile schlief sie ein.
23 Maggie sah aus dem Küchenfenster; der Frühling versuchte sich trotz aller widrigen Umstände durchzusetzen. Gott, sie hatte es so nötig, Anzeichen von Leben zu sehen. Etwas... irgendwas, um die Hoffnung zu festigen.
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Die letzten drei Tage hatte sie jeden Morgen bei Cody angerufen. Und jeden Morgen war ihr Anruf abgewiesen worden. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet durchzukommen, aber der Gedanke an das Kind, verzweifelt und allein, war so bedrückend, daß selbst der vergebliche Akt des Telefonierens schon eine Verbindung war, und sei sie noch so dünn. Ich versuche es weiter, Herzchen, hieß das. Ich werde nicht aufhören, es zu versuchen. Angst, Grauen, Entsetzen... Wie konnten bloße Worte die Furcht beschreiben, die an ihren Eingeweiden zerrte? Angst um Cody. Angst auch um sich selbst. Ich bin zu schwach hierfür, lieber Gott. Verlange das nicht von mir, bitte. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie wandte sich vom Fenster ab; es war Zeit, ins Geschäft zu gehen. Zwei bedeutende Sammler wollten heute morgen kommen. Sie konnte es sich nicht leisten, nicht auf ihre Wünsche einzugehen. Ein großer Auftrag von einem von ihnen konnte den Ausgleich bringen für die viele Zeit, die sie nicht aufs Geschäft verwendet hatte, seit dieser Alptraum begann. Als der erste Kunde gegangen war, setzte Maggie sich an ihren Schreibtisch und versuchte, sich selbst in den Griff zu bekommen. Das Treffen war gut gegangen; sie war ziemlich sicher, daß sie zumindest zwei der Stücke, auf die Mr. Cox es abgesehen hatte, besorgen konnte, auch wenn es etwas Zeit brauchte. Es brachte sie immer in Schwung, wenn sie einen Sammler traf, der die Gegenstände, hinter denen er her war, wirklich liebte, so wie dieser reizende kleine Herr. »Wir, die das Schicksal mit dem Geld gesegnet hat, um uns unsere Wünsche zu erfüllen, sind Geistliche auf unsere Art, Maggie«, hatte er zu ihr gesagt. »Wir sind die Verwalter von Gottes Mildtätigkeit und müssen diese Stellung nutzen, um zu bewahren und zu behüten, was selten und schön ist.« Maggies Blick wanderte durch den Raum zu Amanda, die an ihrem Schreibtisch saß, den Mont-Blanc-Stift majestätisch gezückt, als sei sie bereit, einen Vertrag zu unterzeichnen. Maggie hatte das dringende Bedürfnis, mit einer Freundin zu sprechen.
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»Ich muß mir immer wieder in Erinnerung rufen, daß Jenna eine Krankheit hat, die sie antreibt, diese schrecklichen Dinge zu tun, Amanda«, sagte sie unvermittelt, und ihre Freundin blickte auf, erschrocken, bestürzt. »Aber ich kriege eine solche Wut auf sie, wenn ich daran denke, was sie Cody antut, und dann vergesse ich, daß Sucht ein Leiden ist.« »Ein Leiden schon«, erwiderte Amanda ohne eine Spur ihrer üblichen guten Laune. »Ein Rückgrat-Leiden.« Herrgott, Amandas Exmann war Alkoholiker gewesen, entsann sich Maggie zu spät. Ja, das ist ein Leiden, das ganz bestimmt Narben hinterläßt, dachte sie. Plötzlich durchfuhr sie die deutliche Erinnerung an Jennas Odyssee im Drogenentzug drei Reha-Kliniken in einem Jahr. Am Anfang hatte man ihr Hoffnung gemacht, dann wurde ihr nur noch erklärt, wie wenige Drogensüchtige jemals geheilt wurden. »Niemand kann einen Süchtigen ändern, außer der Süchtige selbst«, hatte man ihr bei der Beratung gesagt, und Maggie hatte erfahren müssen, was für ein Dilemma das war; die Verführung des Heroins war so stark, daß die meisten Konsumenten nicht aufhörten, es zu wollen, mehr als alles, was es ersetzen könnte. »Für dich ist Dope ein Schlangengift, Mutter«, hatte Jenna einmal zu Maggies Entsetzen während einer Therapiesitzung geschrien, »aber für mich ist es der köstlichste Nektar der Welt. Es wird niemals einen Tag in meinem Leben geben, wo ich es nicht will!« Es war dieses schreckliche Wollen, das sie alle zurückzog. Einer von sechsunddreißig Süchtigen wurde dauerhaft geheilt. Nichts anderes auf Erden bot so geringe Chancen. »Heroin verändert den Menschen, Mrs. O'Connor«, hatte ein Berater ihr gesagt. »Es saugt die Lebenskraft auf und ersetzt sie durch etwas anderes. Nach einer Weile ist man einfach nicht mehr die Person, die man vorher war. Äußerlich hat man denselben Körper, aber innerlich ist man jemand anders.« Dies mußte mit ihrer Tochter geschehen sein, dachte Maggie und sah zu Amanda hin, die sie durch ihre Tränen nur verschwommen wahrnahm. Jenna lebte nicht mehr in ihrem Körper.
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»Du hast mir nie erzählt, Amanda, wie es kam, daß du deinen Mann verlassen hast«, sagte Maggie leise in dem Bedürfnis ihren Kummer mit jemand zu teilen, der auch gelitten hatte. »Hast du es getan, weil er trank?« Amanda lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl zurück und legte den Stift aus der Hand. »Er ist viele Ehejahre lang Alkoholiker gewesen, Maggie«, antwortete sie nachdenklich. »Ich habe ihm durch arg bittere Zeiten geholfen - Verlust von Ge schäft, Geld, Gesundheit, Selbstachtung, Freunden, Familie -, der übliche Weg bergab. Und da lernte er ›die Geliebte‹ kennen. Ich erfuhr durch Zufall von ihr und habe ihn natürlich zur Rede gestellt. Frederick behauptete allen Ernstes, daß er uns beide gleich liebte. Ich habe vierundzwanzig Stunden gebraucht, um diese erstaunliche Neuigkeit zu verdauen... und ich habe versucht, meine Würde zu bewahren, während ich verblutete.« Amanda hielt inne; die Erinnerung erschütterte ihre übliche Gelassenheit. Sie blickte einen Moment auf ihre gefalteten Hände hinunter, dann sah sie Maggie wieder an. »Am nächsten Abend hatte die Köchin frei. Aus irgendwelchen absurden Gründen beschloß ich, Lammkoteletts zu braten - eine kleine Phantasie über Häuslichkeit, die die Flamme neu entfacht, vermute ich. Jedenfalls... während die Koteletts brutzelten, hat Freddy wegen allem an mir rumgenörgelt: meine Frisur, die Haushaltskasse, meine Arbeit, nichts hat ihm gepaßt, und schließlich meckerte er über den Qualm in der Küche. Es war wirklich zu absurd - nach allem, was wir durchgemacht hatten, ging es um so ein unbedeutendes Ärgernis, aber es war das letzte Ärgernis. Ich habe den Grill angelassen, bin aus dem Haus gegangen und nie zurückgekehrt.« Amanda zuckte die Schultern und lächelte ein bißchen. »Die Lammkoteletts waren der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, wie?« meinte Maggie, und ihr wurde klar, daß niemand unversehrt durchs Leben geht. Das Leben zerbricht jeden, aber einige werden an den gebrochenen Stellen stärker.
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Amanda nickte. Ein schalkhaftes Blinzeln belebte ihre ausdrucksvollen Augen wieder. »Ein guter Abgang ist die beste Rache«, sagte sie.
24 Ghania ging - anmutig für ihre Größe - mit energischem Schritt die Steintreppe zum Keller der Vannier-Villa hinab. Eine weiße Abessinierkatze tappte lautlos hinter ihr her, und die zwei Rottweiler, fügsam wie Pudel, bildeten die Nachhut der kleinen Prozession. Ghania schloß den verliesartigen Raum am Fuß der langen Treppe auf und trat ein. Hier war es dunkel und feucht, ein scharfer Kontrast zu dem geschmackvollen Glanz oben im Haus. Da die Temperatur hier um etwa fünfzehn Grad kälter war, nahm Ghania ein umhangartiges Kleidungsstück von einem Haken und hängte es sich um. Sie knipste eine kleine Lampe an, die den Raum gerade genug erhellte, so daß zwei Reihen mit großen Käfigen sichtbar wurden. Ghania winkte ihren Lieblingen, ihr zu folgen. Die Verlieszellen waren mit verstümmelten, aber noch lebenden Gefangenen besetzt. Einige Tiere waren darunter, die meisten waren Menschen. Die Erstarrung, in der sie schmachteten, ließ erkennen, daß sie allesamt entsetzliche Torturen erlitten hatten. Offene Wunden eiterten, Beine standen in unnatürlichem Winkel ab. Die Arme der Gefangenen waren in KruzifixHaltung an Holzbretter geschnallt, um jede Bewegung unmöglich zu machen, so daß sich Nadeln und Schläuche widerstandslos einführen ließen. Jeder der gefangenen Männer und Knaben war eine menschliche Blutbank. Sie waren die Schreier. Die meisten Gefangenen waren viel zu schwach, um sich zu bewegen oder gar zu wehren - doch einige jüngere Männer brachten gekrächzte Verwünschungen gegen Ghania hervor, als sie vorüberging; einige rüttelten sogar in bejammernswerter Auflehnung schwach mit den Füßen an ihren Käfiggittern. Die Rottweiler warfen sich schnappend und beißend gegen die Git-
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ter, aber ihre Herrin schenkte der Störung nicht die geringste Beachtung und setzte ihr Werk fort. Ghania prüfte sorgfältig jedes Gefäß; gelegentlich piekste oder puffte sie den unfreiwilligen Blutspender, um seine Verfassung zu prüfen. Sie überhörte jegliches Flehen, Fluchen oder Bitten um Gnade. Die meisten Opfer waren zu apathisch, um auch nur aus Schmerz zu stöhnen, doch gemarterte Augen folgten Ghanias Bewegungen, als sie die Reihe der Käfige abschritt. Man hatte beobachtet, daß sie aufs Geratewohl einen Käfig öffnete und dem Unglücklichen darin die Kehle durchschnitt, wenn er nicht mehr produktiv war. Manche schreckten vor dieser Aussicht zurück, andere beteten um diese rasche Erlösung von ihrer Qual. Mit ihrer Überprüfung zufrieden, ging Ghania schließlich zu einem großen Kühlraum am anderen Ende der Käfige und öffnete die Tür. Flaschen mit Menschenblut lagerten in gleichmäßigen Reihen, wie in der Blutbank eines Krankenhauses. Sie nahm eine Flasche und öffnete sie, roch daran wie ein Kenner an einem Jahrgangswein. Zufrieden mit der Frische des Inhalts, stellte sie die Halbliterflasche wieder an ihren Platz. Die Rottweiler rieben sich mit der Schnauze an ihren Beinen und stießen leise Bettellaute aus, aber sie ignorierte sie. Hausgeister mit Blut zu füttern war eine alte Sitte, aber in modernen Zeiten verwöhnten damit nur wenige Magier ihre vierbeinigen Lieblinge. Mit einem Seufzer schloß Ghania die Blutbank. Sie würde einen Weg finden müssen, um das Kind zu bewegen, den Blutcocktail zu trinken, ohne zu erbrechen. Das rituelle Trankopfer würde Codys Vibrationssequenz senken und ihre Verbindung mit dem Hexensabbat zementieren. Niemand anders hatte es bis heute geschafft, sich Ghania so lange zu widersetzen. Freilich war auch niemand anders die Isis -Botin gewesen. Sie trat an den großen Kühlschrank, der neben der Blutbank stand, und nahm ein Stück Fleisch heraus. Sie griff nach ihrem Schlachterwerkzeug und schnitt den Leichnam geschickt in Stücke, um ihre Lieblinge damit zu füttern. Gehäutete Menschenkinder waren schon immer ihr Leibgericht, dachte sie, als sie den kleinen Schenkel samt Bein in eine
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Schüssel legte, Arme und Schultern in eine andere. Bedauerlich, daß Herz und Nieren so klein waren, sie ergaben kaum einen Happen für die Katze. Zuweilen war es schwierig, ständig frische Kinder auf Vorrat zu halten; die besten wurden stets für das Abendmahl verwendet. Aber in dieser Saison waren die Zuchttiere fruchtbar gewesen, und der Vorrat war reichlich. Dieses eine Mal würde es nicht schaden, ihren Lieblingen nach alter Sitte einen Leckerbissen zu geben, der sie an zu Hause erinnerte. 25 Nachdem Malachy Devlin mit Maggie gesprochen hatte, legte er den Hörer auf, verwundert über seine heitere Laune. Falls er sich überhaupt jemals so gut gefühlt hatte, lag es so lange zurück, daß er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Warum Maggie ihn dermaßen aufwühlte, war ihm ein Rätsel, aber allein das Wissen, daß er sie heute abend sehen würde, versetzte ihn in Hochstimmung. Er war unterdessen fünf-, sechsmal mit ihr zusammengewesen, hatte ihr Fragen gestellt oder beantwortet und zu ergründen versucht, wieso eine Frau wie sie in so einen Schlamassel geraten konnte. Er hatte sich ein Dutzend Gründe aus den Fingern gesogen, um sie aufzusuchen; es waren eigentlich eher geistige Erkundungen als polizeiliche Maßnahmen gewesen - Gelegenheiten, sie hinter der Fassade kennenzulernen, wo die Menschen aufrichtig und verletzlich, couragiert und interessant sind. Sie hatte eine Sanftheit an sich, die ihn rührte, vielleicht, weil er spürte, daß diese Sanftheit echte Stärke überdeckte. Wer konnte schon Anziehungskraft messen? Warum wirkte Maggie erfrischend auf ihn und gab ihm wieder Hoffnung, was die Welt betraf? Als seien einige der Dinge, nach denen zu suchen er aufgegeben hatte, vielleicht wieder möglich geworden. Ihm gefielen ihre Aufrichtigkeit und ihr Wille, allen Widrigkeiten zum Trotz zu kämpfen, und sie hatte einen eigenartigen Sinn für Humor, der ihn jedesmal überraschte. Wenn sie sich unter anderen Umständen kennengelernt hätten, wäre es leichter
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herauszufinden gewesen, wie er vorgehen sollte... wie das ewige alte Spiel zu spielen wäre, wie sie ein bißchen Spaß haben könnten. Andererseits würden sie sich unter anderen Umständen überhaupt nicht kennengelernt haben. Er lächelte über seine Grübeleien; es war lange her, daß er auf den Gedanken gekommen war, er könnte jemand lieben. Was, wollte er von ihr? Trost, Wärme, gemeinsam erlebte Momente? Eine animalische Befreiung, eine Rebellion gegen die Vergangenheit, eine Bekräftigung des Lebens in einer rauhen, unerbittlichen Welt? Vielleicht alles zusammen. Und verdammt, vielleicht noch mehr. Ihm wurde klar, daß er den Wunsch hatte, ihr etwas zu geben. Er wußte nur noch nicht, was dieses Etwas sein sollte.
26 Die ägyptologische Abteilung des Metropolitan Museums hatte sie an verregneten Sonntagen immer besonders gern mit Jenna besucht, erinnerte sich Maggie mit einem bittersüßen Gefühl, als sie auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Dr. Hazred an den alten Kultgegenständen vorüberging. Sie hatte den Museums direktor angerufen und um einen Termin bei einer Kapazität auf dem Gebiet altägyptischer religiöser Magie ersucht, und er hatte ihr einen Dr. Hazred empfohlen. Sie sollte ihn um zehn Uhr treffen. Vielleicht konnte ein Experte, der sich mit dem alten Ägypten auskannte, ein wenig Licht in die Amulett-Legende bringen. Sie verweilte ein paar Minuten im Dendur-Tempel und ließ sich von dem eigenartigen Magnetismus der Stätte durchströmen. Sie war absichtlich zu früh zu ihrer Verabredung gekommen, um die Ruine wieder einmal auf sich wirken zu lassen, die sie stets auf einer instinktiven, weit außerhalb des Bewußtseins liegenden Ebene angezogen hatte... so wie sie als Kind auf einer Reise zu den Britischen Inseln eigenartige visionäre Momente erlebt hatte, in denen sie die Geschichte der Stätte auf eine außersinnliche Weise, die sie nicht begriff, »sehen« konnte. Maggie fühlte sich in dem alten Tempel erneut von diesem ei-
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genartigen Gefühl durchströmt, einer Art psychischem Sog, der an ihrem Bewußtsein zog und ihr Unbehagen bereitete. Als sie, gebannt von der eigentümlichen Empfindung, vor einem Relief der nubischen Götter Arensnuphis und Mandulis stehenblieb, wurde sie gewahr, daß jemand unmittelbar hinter ihr stand. »Sind Sie vielleicht Mrs. O'Connor?« fragte eine Männerstimme. Überrascht drehte sie sich um und war um so verblüffter, als sie das Profil sah. Der Mann, der sie angesprochen hatte, sah aus wie einer der steinernen Pharaos, die sie umgaben, die autokratischen Gesichtszüge auf menschliches Maß verkleinert. Sie faßte sich und gab ihm die Hand. »Sind Sie Dr. Hazred?« »Zu Ihren Diensten.« »Sie hätten für einige dieser Statuen Modell stehen können.« »Vielleicht haben es einige meiner Vorfahren getan«, erwiderte er gelassen, während er sie zu seinem Büro geleitete. »Sie scheinen sehr ergriffen zu sein von dem Tempel, in dem ich Sie antraf, Mrs. O'Connor«, sagte er, als er ihr die Tür aufhielt. »Er wurde 1963 abgetragen und von Dendur, wo er Tausende von Jahren gestanden hatte, hierher verfrachtet. Die ägyptische Regierung hat ihn den Vereinigten Staaten zum Ge schenk gemacht; allerdings sind viele Leute der Ansicht, daß es nur eine weitere Entweihung ägyptischer Altertümer eines politischen Gewinns wegen war. Leider ist die Geschichte des Westens voll von Plünderungen der Schätze meiner Vorfahren.« »Ach ja?« erwiderte sie, ein wenig ungehalten über diese politische Nebenbemerkung. »Immerhin haben die Ägypter selbst die Königsgräber geplündert, lange bevor der Westen Hand an sie legte, Dr. Hazred. Meines Wissens wurde der Tempel wegen der Erweiterung des Assuan-Staudammes abgebaut, der ihn zu zerstören drohte.« Abdul Hazred hob anerkennend eine Augenbraue. »Sind Sie eine heimliche Ägyptologin?« fragte er mit offensichtlichem Interesse. »Ich bin von Beruf Antiquitätenhändlerin, daher besitze ich einige Kenntnisse über ägyptische Antiquitäten, aber leider
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nicht genug, um meine gegenwärtige Neugierde zu befriedigen. Deswegen bin ich gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich werde versuchen, Ihnen zu Diensten zu sein.« »Ich interessiere mich für magische Amulette und Talismane, Dr. Hazred«, begann sie. »Wenn Sie mir einige Hintergrundinformationen darüber geben könnten, wie sie von den alten Ägyptern verwendet wurden, wäre mir sehr geholfen.« »Haben Sie Petrie zu dem Thema gelesen?« Sie nickte. »Seine Werke sind eher katalogisierend als erklärend. Und seine Verbindung zu allem Metaphysischen scheint mir spärlich. Ich hatte gehofft, ein menschlicheres Verständnis der vermuteten Kräfte zu erlangen.« »Ich verstehe«, sagte er, während er überlegte, wie er seine Antwort formulieren sollte. »Wie Sie sicher wissen, ist der Glaube an die Magie, die leblosen Gegenständen innewohnt, keineswegs auf die alten Ägypter beschränkt. Es war immer verbreitet, Amulette und Talismane als Heilmittel oder als Schutz zur Abwehr des Bösen zu verwenden. Sie konnten sogar benutzt werden, um einen unter den Schutz einer bestimmt en Gottheit zu stellen, ganz ähnlich, wie die Katholiken heutzutage Kruzifixe oder wundertätige Medaillen tragen. Man könnte sagen, sie sind das Opium der Massen in einer ästhetisch gefälligen, tragbaren Form.« Maggie bemühte sich, sich nicht von diesem Mann einschüchtern zu lassen; immerhin konnte er ja nützliche Kenntnisse besitzen. »Es gibt natürlich eine Menge plausible Erklärungen für das unbeirrbare Festhalten der Menschheit an Amuletten und Talis manen, Mrs. O'Connor. Post-Freudianer mögen sagen, das Tragen eines Gegenstandes, von dem man glaubt, daß er Glück oder Schutz bringt, verleiht einem Zuversicht. Natürlich tut die Zuversicht die Wirkung, aber zugeschrieben wird sie dem Talisman.« Er lächelte, dann fuhr er fort: »Im Lichte der modernen Psychologie darf man auch annehmen, daß die Wirkung medizinischer Amulette darin besteht, positive Gedankenenergien in den Krankheitsbereich zu lenken und so das Gehirn zu
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veranlassen, Endorphine oder andere Heilkräfte freizusetzen und in den Kreislauf gelangen zu lassen. Zudem ist unter primitiven Völkern die Vorstellung verbreitet, daß ein Gegenstand dem Träger Macht verleihen kann, indem er ihn mit bestimmten erwünschten Eigenschaften versieht... ein Bärenzahn verleiht Kraft, eine Schlangenhaut List, ein Fuchsschwanz Schlauheit et cetera, et cetera...« Er lehnte sich behäbig in seinem Stuhl zurück und genoß das Thema offensichtlich. »Hat man denn angenommen, daß diese Gegenstände von einer bestimmten Gottheit geweiht wurden?« fragte Maggie. »Unbedingt. Horus, Min, Osiris und andere galten als mächtige talismanische Beschützer. Sie haben bestimmt Darstellungen des Horus-Auges gesehen, das getragen wurde, um allen Ankömmlingen ins Herz zu blicken und den Träger vor bösen Absichten zu bewahren.« Maggie runzelte die Stirn. »Dr. Hazred, ich bin besonders daran interessiert, etwas über zwei bestimmte Amulette zu erfahren, von denen ich gelesen habe und die unter der Ägide zweier bestimmter Gottheiten zu stehen scheinen - das Isis Amulett und der Sekhmet-Stein.« »Ihr Amerikaner liebt die Vorstellung von alten Verwünschungen und anderem Unfug, wovon ihr nichts versteht«, erwiderte Hazred, nun nicht mehr freundlich, sondern bissig. »Ich nehme an, Sie haben einen irrsinnig reichen Sammler, der seiner Sammlung jetzt ein Spielzeug einverleiben will, das es ihm ermöglicht, die Welt zu regieren?« Seine unvermittelte Unhöflichkeit verblüffte Maggie. »Mir scheint, ich habe unbeabsichtigt einen Nerv getroffen, Dr. Hazred. Als Antiquitätenhändlerin war ich zwangsläufig von einer so magischen Legende gefesselt. Jemand, den ich liebe, ist auf ziemlich seltsame Weise auf die Geschichte gestoßen, und das bewog mich zu versuchen, mehr darüber zu erfahren.« »Verzeihen Sie mir, Mrs. O'Connor. Ich bin häufig betrübt über Amerikaner, die kein echtes Interesse an unserer Ge schichte haben, sondern nur an den mehr sensationellen Aspekten unserer Mythen. Als ernster Gelehrter bin ich über solche Verirrungen gekränkt... aber offensichtlich liegt der Fall bei
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Ihnen anders.« Er sah Maggie nachdenklich an und fügte dann hinzu: »Ich will Ihnen erzählen, was ich über die Legende weiß, Mrs. O'Connor, obwohl ich bezweifle, daß Ihnen das viel Erleuchtung bringen wird. Der Überlieferung nach ließ während der Regierungszeit des Pharaos Zoser, in der dritten Dynastie, die Göttin Isis ein Amu lett anfertigen, das sie mit der unermeßlichen Macht ihrer eigenen Güte ausstattete. Es birgt die Herrschaft über das Gute in der Menschheit ebenso in sich wie über das Wohltätige in der Natur, so daß jeder Sterbliche, der diesen Schatz besitzt, alles beherrschen würde, was gut ist auf diesem Planeten.« »Erklärt die Legende, warum Isis einen solchen Gegenstand schuf?« »Die große Mutter hat stets eine ungeheure Liebe zur Menschheit bewiesen, trotz unserer Schwächen. Es werde - in ferner Zukunft - eine Zeit kommen, sagte die Göttin, da die Menschheit in einen Wettstreit zwischen Gut und Böse verstrickt sein werde, so gefährlich, daß er unsere Existenz bedrohe. Wir sind ein Exp eriment der Götter, Mrs. O'Connor. Dies ist das Klassenzimmer, in dem wir geprüft werden. Vermutlich ist es uns durchaus gegeben zu versagen. Die Erzählung besagt, wenn jener gefährliche Augenblick im Schicksal der Menschheit kommt, werde eine Botin gesandt... die große Mutter werde sozusagen eine Abgesandte des guten Willens schicken. Die Botin werde die Macht besitzen, das Isis Amulett zu materialisieren. In der Hand der Gerechten könnte das Amulett das Geschick der Menschheit wenden, indem es alles verstärkt, was gut ist in unserem Planetensystem. Kurzum, das Gute würde triumphieren, und der Planet würde gerettet.« »Und der Sekhmet-Stein? Wie fügt der sich in die Allegorie?« »Ah, da liegt der Hase im Pfeffer, Mrs. O'Connor, wie man so schön sagt. Wenn dieses Isis -Amulett den boshaften Männern im Stande von Adepten in die Hände fiele, so wäre es denkbar, daß sie es benutzen könnten, um den Sekhmet-Stein wieder zum Leben zu erwecken.« »Und der ist...?« »Die Verkörperung allen Übels... das kosmische Gegenstück
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des Isis -Amuletts. Yin und Yang, Mrs. O'Connor, Licht und Dunkel, Verzückung und Qual. Es hat den Göttern gefallen, den Menschen mit der Möglichkeit auszustatten, sich falsch zu entscheiden.« »Und warum würde der Mensch das tun, Dr. Hazred, wenn ihm als Resultat die Auslöschung bevorstünde?« »Aus Habgier natürlich! Wer den Sekhmet-Stein hat, beherrscht alles Böse und das Chaos. Bedenken Sie, welche uneingeschränkte Macht ihm das verschaffen würde. Die Kontrolle über geophysikalische Katastrophen bedeutet, man kontrolliert alle Aktienmärkte der Welt... die Kontrolle über Armeen und Waffen gibt einem zugleich die Kontrolle über ganze Völkerschaften. Die Menschen haben für geringere Ziele gemordet, verstümmelt und ganze Völkerschaften in den Staub getrampelt. Wer über eine solche Macht verfügte, für den gäbe es keine Gesetze und keine Einschränkungen.« »Somit hat Isis die absolute Prüfung festgelegt«, meinte Maggie sinnend. »Eine lebenswirkliche Metapher, die den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse spiegelt. Eine allerletzte Chance zu sehen, welchen Weg die Menschheit gehen würde, wenn alle Macht des Universums plötzlich in unseren anstatt in Gottes Händen läge.« Hazred lächelte. »Sie sprechen über diese Geschichte, als hielten Sie sie für möglich und nicht nur für eine Allegorie.« »Dr. Hazred, ich muß Ihnen sagen«, erwiderte Maggie mit großem Ernst, »daß ich mir im Augenblick vorstellen könnte, einfach alles zu glauben.« Sie hielt inne und lächelte; er fand, daß sie eigentlich ganz reizend aussah. »Sagen Sie mir, wenn es wahr wäre... was meinen Sie, welchen Weg die Menschheit gehen würde? Welche Seite würde triumphieren?« »Die Natur des Menschen ist korrupt, Mrs. O'Connor«, antwortete er, ohne zu zögern. »Ich habe viele Beweise schrankenloser, absolut korrumpierter Macht gesehen und nicht einen, der vermuten ließ, daß die Demütigen die Erde erben. Ein einziger skrupelloser Mensch, der Unsummen Geldes zur Verfügung hat, kann mühelos seine milderen Brüder ausstechen, die die andere Wange hinhalten.«
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»Gandhi hätte Ihnen vielleicht widersprochen, Dr. Hazred« sagte Maggie, »und Christus ganz bestimmt. Doch das ist ein philosophischer Disput, der weit mehr Zeit erfordern würde, als wir haben.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Wenn Sie mir ein paar Bücher empfehlen würden, um meine Kenntnisse zu erweitern, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ihre Informationen haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben.« Maggie verließ das Museum, und ihr ging vieles durch den Kopf. Abdul Hazred griff zum Telefon und wählte. Sein Anruf wurde wortlos entgegengenommen, und Hazred sprach als erster. »Das Spiel hat begonnen«, sagte er. »Eine interessante Wahl der Hüterin.« Er wartete keine Antwort ab, sondern sammelte die Papiere ein, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, und die kleine geprägte Bronzeplakette, mit der er seine Identität ausgewiesen hatte; er steckte alles in seinen Aktenkoffer, als wie aufs Stichwort die Tür aufging. Ein kleiner, nervös wirkender Mann kam herein, und als er sah, daß Hazred im Gehen begriffen war, begann er hastig zu sprechen. »Ich nehme an, es war richtig von mir, unsere Regierung über die Erkundigungen der Frau zu informieren, Dr. Hazred«, sagte er. Während er sprach, entnahm er der mittleren Schreibtischschublade die Plakette mit seinem eigenen Namen und legte sie auf den Schreibtisch. Er setzte sich Hazred gegenüber auf den Ledersessel. »Als sie am Telefon von dem Isis Amulett sprach, schien es mir geboten, in Anbetracht der zeitlichen ...« Hazred nickte und schnitt ihm das Wort ab. »Ausgezeichnete Arbeit, Dr. Gerard. Sie haben fraglos richtig gehandelt.« »Dann ist die Frau die bewußte?« Hazred schüttelte den Kopf. »Dr. Gerard, leider bin ich nicht befugt, über diese Angelegenheit zu sprechen, die die nationale Sicherheit berührt. Ich kann Ihnen nur versichern, daß Ihre Anstrengungen zum Wohle Ägyptens nicht unbemerkt oder unentgolten bleiben werden.« Er lächelte das zuversichtliche Lächeln, das ihm zu Gebote stand. »Sie werden selbstverständlich mit
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niemand darüber sprechen. Weder mit Ihrer Frau noch mit Ihren Kindern noch mit Ihrer Geliebten, sollten Sie eine haben. Wir werden mit Ihnen Kontakt aufnehmen, wenn wir Ihre Dienste wieder benötigen.« Dem Museumsdirektor lagen noch viele Fragen auf der Zunge, als Hazred abrupt das Büro verließ. Hätte Abdul Hazred nicht einen so untadeligen Ruf als Ägyptologe besessen, so hätte der Direktor ihn für seine Unverschämtheit gerügt. Doch wie die Dinge lagen, war er froh, daß die Regierung diese Sache nicht irgendeinem Stümper vom Geheimdienst überließ, sondern einen Gelehrten vom Format Hazreds erwählt hatte, um eine so heikle Angelegenheit zu handhaben.
27 Um elf Uhr vormittags steckte Gino Garibaldi den Kopf zu Devlins Büro hinein. »Rate mal, woher dein anonymer Anruf kam, Lieutenant?« fragte er grinsend. »Aus Cheri Adams' Wohnung«, erwiderte Devlin. Die telefonische Warnung war zu bald erfolgt, nachdem Maggie bei Cheri angerufen hatte, um ein zufälliges Zusammentreffen vermuten zu lassen. »Wollen mal sehen, was sie uns dazu zu sagen hat.« Die zwei Männer steckten ihre Notizbücher ein und machten sich auf den Weg zu der Adresse in der West Ninth Street. Nachdem sie ihr vierzig Minuten lang abwechselnd zugesetzt und geschmeichelt hatten, nannte Cheri ihnen einen Namen. »Allie Roberts«, sagte sie, bestrebt, sich von der Last zu befreien, aber ängstlich. »Sie war meine beste Freundin, seit wir Kinder waren. Ich habe ihr von Mrs. O'Connor erzählt, und sie hat sie von hier aus angerufen.« »Warum wollten Sie, daß Allie Mrs. O'Connor anrief, Cheri?« fragte Devlin, entschlossen, das Mädchen am Sprechen zu halten. »Was hat Sie auf den Gedanken gebracht, daß Allie und Jenna in derselben Sache steckten?« »Der Tag damals in Greenwich«, antwortete sie nervös. »Jenna hat mit ihrem ganzen tollen Krempel angegeben. Sie wis -
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sen schon, Geld, Kleider, Schmuck. Sie ist mit mir in ihr Schlafzimmer gegangen, um mir ihren Kleiderschrank zu zeigen, und der war größer als diese ganze Bude hier. Und dann hat sie ihre Klamotten angezogen und mir vorgeführt. Da hab ich die komische Tätowierung auf ihrer Schulter gesehen - haargenau dieselbe, die Allie auf dem Rücken hatte, von Maa Kheru. Aha, dachte ich, Scheiße, vielleicht kommt Jennas ganzes Geld aus derselben Ecke wie das Allies. Allie hat mir erzählt, diese Typen bei Maa Kheru sind alle stinkreich - Rolls Royce, Villen, der ganze Zinnober. Als Mrs. O'Connor mich dann anrief, und sie war sehr verzweifelt, da dachte ich, ich könnte Jennas Kind vielleicht vor diesen Widerlingen retten, wenn ich Allie dazu kriegte, mit ihr zu reden. Ich habe nicht gedacht, daß Sie einen Anruf zurückverfolgen können«, sagte sie aufgebracht. »Wo ist Ihre Freundin jetzt, Cheri?« fragte Garibaldi. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hab's versprochen. Sie sagt, die bringen sie um.« »Hören Sie, Cheri«, sagte Devlin sanft, »wenn Allie in solchen Schwierigkeiten steckt, wie Sie sagen, dann braucht sie uns - wir müssen sie schnellstens finden. Wenn wir sie beschützen, hat sie eine größere Chance, am Leben zu bleiben, als wenn sie auf sich allein gestellt ist.« Cheri kam nach einigem Überlegen zu dem Schluß, daß dies ein kluger Gedanke sei, und sagte zögernd: »Sie ist im Atelier von diesem Künstler in der Great Jones Street. In einem von den alten Lagerhäusern, die sie in tausend billige Ateliers aufgeteilt haben. O Gott! Hoffentlich ist es richtig von mir, daß ich Ihnen das sage.« Devlin und Garibaldi traten zusammen in den schmutzigen Flur. Er wirkte verlassen. Das Treppenhaus roch, als wäre es 1906 zum letzten Mal geputzt worden; die einstmals weißen Marmorstufen waren trübgrau und ausgetreten. Die Männer klopften an die Tür mit der Nummer, die Cheri genannt hatte, aber es kam keine Antwort. »Gib mir Deckung«, flüsterte Devin, in der einen Hand die
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Glock, die andere Hand am Türknauf. Die alte Türe öffnete sich quietschend. Er trat sie weit auf, und beide Männer ließen die Augen mit professioneller Umsicht durch den Raum schweifen. Eine schmutzige Matratze in einer Ecke, ein Schwärm Küchenschaben in einer Pizza-Schachtel, eine billige Preßspankommode, die Schubladen herausgezogen und durchwühlt. Saubere, fadenscheinige Kleidungsstücke quollen aus den Schubladen. Garibaldi bewegte sich nach rechts, Devlin nach links in den Raum. Der einzige Nebenraum der großen freien Fläche war eine winzige Toilette auf Devlins Seite. »Hier drüben, Lieutenant«, rief Garibaldi neben dem Bett. Es war mit Blut durchtränkt. »Cheri hat gesagt, Allie wußte, daß sie sie finden würden«, murmelte Devlin, als er sich die Bescherung ansah. »Das spricht nicht gerade für Cheris Aussichten auf ein langes Leben.« Devlin nickte. »Ruf die Gerichtsmediziner her, Gino«, sagte er, »auch wenn die uns verdammt wenig nützen ohne Leiche.« Garibaldi schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber vielleicht bringt dies Cheri dazu, sich noch auf ein paar Fakten zu besinnen, die uns weiterhelfen.« »Vielleicht. Und dann müssen wir der Tätowierung nachgehen. Cheri soll uns ein Bild davon zeichnen, und vielleicht kannst du den Künstler auftreiben.« »Denkst du, es ist Zeit, das Ganze ein bißchen offizieller anzugehen, Lieutenant?« Devlin legte die Stirn in Falten. »Zuerst wollen wir mal sehen, was wir aus Cheri rauskitzeln können. Es würde nicht schaden zu wissen, womit wir's hier wirklich zu tun haben, ehe wir es an die große Glocke hängen. Vielleicht hat Allie ja einen Dealer reingelegt, oder ihr Zuhälter hat sie umgebracht. Wir wissen ja nicht mal, ob das Blut von ihr ist.« Wieder in Cheris Wohnung, warteten Devlin und Garibaldi geduldig, bis das Mädchen aus der Toilette kam; die Erbrechensgeräusche waren unverkennbar gewesen. Ihr war nicht nur übel geworden von Allies Verschwinden, sondern sie hatte auch eine
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Todesangst um sich selbst, nachdem sie von den Blutflecken auf dem Bett erfahren hatte. »Hören Sie, Cheri«, sagte Devlin, als sie wieder ins Zimmer kam, Augen und Nase rotglänzend vom Weinen, »wenn Allie Ihnen anvertraut hat, was sie Mrs. O'Connor am Telefon verraten hat, dann hat sie Ihnen bestimmt noch viel mehr erzählt.« Cheri schüttelte den Kopf. »Was Allie wußte, hat sie wahrscheinlich umgebracht«, sagte sie fest. »Ich will nicht die nächste auf der Liste sein.« »Wir können Ihnen helfen, am Leben zu bleiben, Cheri«, sagte Devlin eindringlich, »aber nur, wenn Sie offen zu uns sind. Hören Sie, Mädchen, wenn Sie alles, was Sie wissen, für sich behalten, brauchen wir viel länger, um die Kerle zu schnappen, die Ihre Freundin haben. Ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber auch Sie könnten ein großer roter Fleck auf einem Bett werden und es wäre mir lieber, wenn es nicht dazu käme.« Er gab dem grausigen Gedanken Zeit, sich zu setzen. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie schließlich in resigniertem Flüsterton. Devlin und Garibaldi wechselten einen Blick. »Alles, was sie Ihnen über Maa Kheru erzählt hat«, antwortete Garibaldi. »Wie ist sie überhaupt mit diesen Maa-Kheru-Typen in Berührung gekommen?« Cheri holte tief Luft. »Allie war abhängig, wie ich... also wis sen Sie, wenn du high bist, dann passiert allerhand. Sie hat in diesem Club auf der Christopher Street gearbeitet, Loopy Jupiter. Allie war eine echt gute Tänzerin, und es war ihr egal, ob sie oben ohne war oder unten ohne, sie hat einfach nur gerne getanzt, und sie hatte einen göttlichen Körper... sie hat sich 'ne besondere Sorte Shit zusammengemixt, so daß sie die ganze Nacht tanzen konnte.« »Kokain und Heroin?« fragte Garibaldi. »Und noch was. Was, weiß ich nicht genau. Jedenfalls, eines Abends kam ein Typ rein, der sah nicht aus wie 'n Rumtreiber Anzug, Schlips, alles. Also, der hat sie beiseite genommen und gesagt, er ist ein Talentsucher für eine Gruppe von Leuten, die wirklich viel von ihrer Tanzerei halten. Er hat gesagt, wenn sie
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interessiert wäre, würde sie jede Menge Dope kriegen, Essen, Klamotten, was du willst, sie müßte bloß bei seinen Freunden alles mitmachen, egal, was. Und da ist sie nach der Arbeit mit ihm gegangen. Er hat sie in eine Wohnung am Stadtrand gebracht, stinkvornehm, sehr teuer, und da waren lauter Männer und Frauen, die reich aussahen. Allie sagte, es ging sehr merkwürdig zu - wie beim Vorsprechen beim Theater oder so. Sie haben sie mit echt gutem Stoff high gemacht und ihr dann gesagt, sie soll tanzen. Sie sagte, die Musik war super, und sie hat sich schwindelig getanzt. Und dann haben sie ihr noch mehr Koks gegeben und gesagt, sie soll sich nackt ausziehen, und alle haben sich um sie versammelt und ihr zugeguckt. Sie sagte, die schienen sich alle für ihren Körper zu interessieren, wie Ärzte oder so was, und sie haben alle möglichen Kommentare abgegeben, wie schön sie wäre, wie großartig ihre Titten wären und so. Schätze, sie ist sich irgendwie wichtig vorgekommen. Jedenfalls war sie eine Zeitlang mit denen zusammen - sie hat auf Partys getanzt, mit allen geschlafen, die sie bestimmt haben. Sie hat in Saus und Braus gelebt, Designerklamotten und jede Menge Kohle. Sie dachte, sie wäre ganz oben angekommen, sie hat erzählt, mit was für berühmten Männern sie schlief - echt hohe Tiere aus Fernsehen und Politik.« »Haben Sie ihr geglaubt?« fragte Devlin. »Ja, ich hab ihr geglaubt. Schauen Sie, Lieutenant, man braucht sich doch bloß die Nachrichten im Fernsehen anzugucken, dann weiß man, wie die großen Tiere alle rumbumsen. Und sicher nicht mit Gehirnchirurgen.« Devlin und Garbaldi verkniffen sich ein Lächeln. »Also da ging's wirklich komisch zu, und manchmal hat sie's mit der Angst gekriegt. Wie sie zum Beispiel wollten, daß sie sich die ägyptische Tätowierung machen ließ -« »Könnten Sie sie zeichnen?« fragte Garibaldi. »Ich glaub schon. Da war so ein ägyptisches Kreuz dabei mit 'ner Art Henkel oben dran...« »Ein Ankh?« »Ja, genau! Und es hatte eine Inschrift, Sie wissen schon,
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Hieroglyphen, wie auf den Pyramiden - das hat sie gesagt. Jedenfalls, Allie war über ein Jahr bei diesen Leuten. Dann hat sie gemerkt, daß sie schwanger war, und sie dachte, jetzt hätte sie sich das ganze Engagement versaut. Aber dann ist was Komisches passiert. Wie sie den Typen, der den Laden geschmissen hat, um das Geld für 'ne Abtreibung bat, da sagte der, er will nicht, daß sie's abtreiben läßt. Die Leute in seinem Club hätten Kinder gern, hat er gesagt, und wenn sie wollte, könnte sie das Kind kriegen, und sie würden während der Schwangerschaft für sie sorgen. Allie hat mich angerufen und gesagt: »Mensch, Cheri, die haben so 'ne Art Fürsorge für Angestellte, die schwanger werden. Sie haben sogar ein Haus, wo du wohnen kannst. Irgendwo im Norden bei Bear Mountain ...‹« Devlin und Garibaldi wechselten einen Blick. »Sie hat weitergearbeitet, bis es ihr anzusehen war, und auch dann wollte er nicht, daß sie aufhört, er hat ihr einfach Freier besorgt, die scharf auf Sex mit 'ner Schwangeren waren.« »Jesses«, sagte Garibaldi, »so ein Drecksack.« Devlin bedeutete ihr, sie möge fortfahren. »Als es dann fast so weit war, daß das Kind geboren wurde, haben sie sie in dieses Haus geschickt. Sie hat nicht genau gesagt, wo es lag, bloß, daß es in der Nähe von Bear Mountain war. Ja, und jetzt wird alles noch merkwürdiger«, fuhr Cheri fort, nun ganz in ihre Geschichte vertieft und froh, daß sie die Einzelheiten loswerden konnte. »In dieser Art Pension, oder was das für ein Haus war, haben sie ihr jeden Tag ein ekelhaftes Zeug zu trinken gegeben, das sie nicht wollte. Sie sagten, sie müßte es dem Kind zuliebe trinken, denn da wären Bierhefe und Vitamine drin, aber Allie sagte, es hat nach Metall geschmeckt, ähnlich wie Blut, und es stank beschissen. Sie hat sich geweigert, es zu trinken, aber die haben sich deswegen aufgeführt wie die Irren, und am Ende haben zwei Typen sie zum Trinken gezwungen. Wenn sie noch mal so 'nen Zirkus macht, haben sie gesagt, würde sie rausfliegen. Ich glaub, da hat sie angefangen rumzuspinnen... weil ihr die Sache nicht ganz geheuer war, hat sie rumgeschnüffelt. Da waren noch andere Mädchen im Haus, und ein paar kannten hier und da ein Stückchen von dem Ge -
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samtbild... und da hat sie zum erstenmal gehört, daß der Club sich Maa Kheru nannte. Und dann, zwei Nächte, bevor das Kind geboren wurde, ist eines von den anderen Mädchen in die Wehen gekommen, und Allie hat die Schreie gehört. Das hat ihr 'ne Heidenangst eingejagt. Zuerst dachte sie, es wären bloß Wehenschmerzen und so, aber dann hat sie gehört, wie die anderen gesagt haben, die würden das Kind wegbringen, und sie hat die Mutter gehört, wie sie bettelte, daß sie es ihr nicht wegnehmen. Dann hat einer sie alle Zuchttiere genannt. Er sagte: ›Du dumme Fotze, erzähl mir bloß nicht, du hast nicht gewußt, daß die Kinder hier für Satans Tafel gezüchtet werden.‹« Devlins Kinnladen war starr wie Stein; Garibaldi hatte ihn oft genug so gesehen, um zu wissen, daß Devlin an Maggies Enkelkind dachte. »Hat sie vorher schon mal was von Satanismus gehört, Cheri?« fragte er, und seine Stimme hatte einen scharfen Klang. Cheri wandte die Augen ab. »Kommen Sie, Cheri. Es geht auch um Ihr Leben.« Cheri fuhr sich nervös mit den Fingern durch ihre zerzausten Haare. »Sie hatte dies und das von den Freiern und den anderen Mädchen gehört. Daß diese Typen zu einem exklusiven Club gehörten, der den Teufel anbetete. Sie dachte, das wäre alles bloß Spielerei... Sie wissen schon, wie die Typen im Moose Club, die sich mit komischen Hüten verkleiden, und dann halten sie sich für unwiderstehlich? Sie dachte, Maa Kheru wäre dasselbe für Reiche.« Garibaldi sah Devlins Mundwinkel leicht zucken. »Und was hat sie dann gemacht?« fragte er. »Sie wollte weglaufen, aber sie haben sie geschnappt, als sie noch nicht weit gekommen war, und zurückgeschleppt. Sie war fest überzeugt, sie würden sie umbringen, aber dann haben sie ihr gesagt, sie könnten sehen, daß sie eine großartige Mutter abgeben würde. Das andere Mädchen, das sie schreien gehört hatte, war eine richtige Zicke gewesen, die das Kind nie geliebt haben würde. Allie könnte ihr Kind jedenfalls behalten, solange sie tun würde, was sie sagten. Sie hatte so eine Todesangst, daß sie sowieso nichts anderes getan hätte.«
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»Wie lange ging das so?« »Fast ein Jahr. Ich war gerade in Areba auf Entzug gewesen -« »Die Reha-Klinik auf der Fifty-seventh Street?« unterbrach Devlin. »Ja«, sagte Cheri, »ich war also clean, als ich Allie wiedersah. Eines Abends rief sie an, vollkommen hysterisch, und bat mich, mich in SoHo mit ihr zu treffen, Ecke Spring Street und West Broadway. Ich hatte sie so ewig nicht gesehen, daß ich dachte, sie war womöglich tot, darum war ich froh, daß ich Gelegenheit hatte, sie zu treffen. Aber so wie sie aussah, war sie besser tot gewesen... ich konnt's einfach nicht fassen. Abgemagert und wahnsinnig. Dauernd hat sie nach rechts und links geguckt, so als ob sie Mordsschiß hätte. Sie sagte, sie hätten Stacy - so hieß das Kind - für eine Art Opferung benutzt, so was wie eine schwarze Messe. Sie hätten sie gezwungen zuzugucken, als sie dem Kind bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen haben.« Devlins und Garibaldis Blicke trafen sich. »Sie hat mir eine Stelle auf ihrem Bauch gezeigt, wo sie ihr auch ein Stück Haut abgezogen haben, damit sie wußte, wie es sich anfühlte. Es war ein Quadrat von etwa zehn Zentimetern, und es sah richtig grauslich aus.« »Wie ist sie von dort weggekommen?« wollte Devlin wissen, während er sich fragte, wieviel davon möglicherweise wahr sein könnte. Wenn ein Polizist eines wußte, dann das, daß alle Menschen logen. »Ich hab Ihnen ja erzählt, daß Allie Tänzerin war. Sie konnte alle diese akrobatischen Verrenkungen - sich praktisch von innen nach außen stülpen -, sie muß Gummigelenke gehabt haben oder so was. Jedenfalls, sie haben sie in ein Zimmer im obersten Stockwerk gesteckt, das nur ein winziges Fenster hatte, aber sie konnte sich rausquetschen, indem sie ihre Schulter verrenkte. Dann ist sie an Ranken und an einer Regenrinne runtergeklettert und in die Stadt getrampt. Sie hat dann von einem Künstler, den sie kannte, die Bude auf der Great Jones Street gekriegt, wo Sie das Blut gefunden haben. Aber sie hatte Mordsschiß. Sie sagte, sie würden sie am Ende
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finden, weil sie alle Hexenmeister wären, und sie hätten ihr gesagt, das Stück Haut, das sie ihr abgezogen hatten, würde sie in Verbindung mit ihr halten, egal, was passiert.« »Wann hat Jenna sich bei Ihnen gemeldet, Cheri?« Devlins Stimme war todernst. »Nachdem sie nach Greenwich gezogen war... ungefähr vor sechs Wochen. Schätze, sie wollte mit dem Haus und dem Typ angeben.« »Und war es allein die Tätowierung, die Sie auf den Gedanken brachte, daß sie was mit Maa Kheru zu tun hatte?« »Nur zum Teil... Allie hat gesagt, die Tätowierung haben sie alle. Außerdem war die ganze Atmosphäre bei Jenna so verrückt. Ich meine, warum wollte ein Mann wie der sie heiraten? Auch wenn sie aus guter Familie war, sie war trotzdem ein Junkie... und dann ist sie urplötzlich reich und geht nach Europa? Wenn sie clean gewesen wäre, könnte ich ja vielleicht glauben, daß ein Märchen wahr geworden ist, aber sie nimmt noch Dope.« »Sind Sie sicher?« »Ja. allerdings. Sie hat mir was angeboten, als ich dort war. Sie sagte, alle ihre Freunde in den oberen Klassen nehmen Drogen.« »Haben Sie eine Ahnung, wie man Jennas Kind davor bewahren konnte, süchtig auf die Welt zu kommen? Mrs. O'Connor hatte das Kind, seit es zehn Tage alt war, und sie sagt, es mußte nicht entgiftet werden.« Cheri runzelte die Stirn. »Ja, kann sein. Allie hat mir erzählt, sie haben bei den Zuchtfrauen Heroin abgesetzt und ihnen Methadon gegeben, solange sie schwanger waren. Vielleicht hat Jenna auch Meth genommen.« »Methadon?« wunderte sich Devlin. »Warum?« »Ich weiß nicht. Sie töten nicht alle Kinder sofort, hat Allie gesagt. Vielleicht würden sie mehr Probleme machen, wenn sie auf Entzug müßten.« »Eines noch, Cheri«, sagte Dev, bevor er das Notizbuch zuklappte. »Können Sie sich an irgendwelche Namen erinnern, die Allie erwähnt hat? Die Freier, die den Teufel anbeteten?«
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Cheri lächelte schief; ein wenig von dem Druck war nun von ihr genommen, da sie die Geschichte preisgegeben hatte. »Ja, ich erinnere mich an ein paar Namen. Wieviel Schutz kann ich kriegen, wenn ich sie Ihnen nenne?« Nachdem sie das Mädchen zu einer Tante gefahren hatten, wo sie vorläufig in Sicherheit war, saßen Devlin und Garibaldi im Wagen und betrachteten die Liste mit Prominentennamen, die Cheri ihnen genannt hatte. Dann sahen sie sich an. »Das kann nicht wahr sein... hab ich recht, Lieutenant?« meinte Garibaldi schließlich. »Die Kleine ist ein Ex-Junkie mit einer blühenden Phantasie, und sie hat sich gedacht, sie muß uns schon was Heißes liefern, sonst würden wir sie nicht beschützen. Hab ich recht?« »Wenn wir hier sitzen bleiben, kriegen wir das nie raus«, sagte Devlin. Er ließ den Wagen an und fuhr rückwärts aus der Parklücke. »Wenigstens sind sie nicht schwer zu finden. Wir brauchen nur jeden Morgen die Times zu lesen, um zu wissen, wo sie sich aufhalten.« »Weißt du, Lieutenant, ich hab mir schon immer gedacht, daß man jemand bumsen muß, um so reich und berühmt zu werden«, sagte Garibaldi sinnend, »aber ich hätte nicht gedacht, daß man dazu den Teufel persönlich ficken muß!«
28 Devlin grübelte die Nacht über, wieviel er Maggie von dem, was er erfahren hatte, erzählen sollte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er das meiste für sich behalten. Aber dies war keine gewöhnliche Kommissariatsangelegenheit; er konnte Maggie keinerlei Schutz bieten, außer Informationen. Wenn sie wußte, womit sie es zu tun hatte, konnte sie sich zumindest vorsehen. Er sah die Erschütterung in Maggies Gesicht, sah ihre Anstrengung, sich unter Kontrolle zu halten. »Das arme, arme Mädchen«, flüsterte sie. »Dev, glauben Sie, daß sie tot ist?« »Die Jungs im Labor sagen, das Blut auf dem Bett könnte die Folge einer tödlichen Verletzung sein, und es hat die richtige
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Gruppe - davon abgesehen haben wir keinen Beweis, daß es von Allie stammt. Aber dies hat den Vorteil, daß ich vielleicht Unterstützung vom Ministerium bekomme.« »Wenn an Cheris Geschichte etwas Wahres ist, sind diese Leute überhaupt keine Menschen«, sagte Maggie, und sie suchte in Malachys Augen nach Bestätigung. »Und sie haben Cody, Dev. Sie könnte schon tot sein, nach allem, was wir wis sen ... oder man hat sie gefoltert...« Er sah, daß sie sich kaum überwinden konnte, die Worte auszusprechen. »Und Jenna... o Gott! Was ist mit ihr? Ich schwanke hin und her zwischen Todesangst um ihre Sicherheit und dem Wunsch, sie umzubringen, weil sie Cody in solche Gefahr gebracht hat.« Maggie war aufgestanden und lief nun auf und ab. »Es zerreißt mich, Dev!« sagte sie, zu aufgeregt, um stillzusitzen. »Wie kann ich bei meiner Tochter so versagt haben, daß sie so tief sinken konnte? Ich liege nachts wach und gehe alles, was ich im Leben getan habe, wieder und wieder durch. Was habe ich zu sagen vergessen? Was habe ich zu tun vergessen?« Sie hob ihr Gesicht zu ihm auf, die Augen verdunkelt von Kummer. Devlin mußte sich beherrschen, um nicht seinen Arm um sie zu legen. Es war nicht fair, eine solche Verletzlichkeit auszunutzen. Er hatte es schon so oft gesehen, dieses nagende Schuldgefühl, das die Seelen der Eltern von Drogenabhängigen zerfraß. In früheren Zeiten hatte jede Familie irgendwo einen Verwandten, der Alkoholiker war - sie waren so häufig wie Fingerhirse, ein ganz gewöhnlicher Bestandteil des Lebens. Niemand gab ihren Eltern oder Ehepartnern die Schuld; niemand steigerte ihren Kummer, indem er psychiatrisches Gewäsch auf die leidgeprüften Lieben ablud. Aber heute lag die Sache anders. Überall gab es Reha-Kliniken, die keinen rehabilitierten, und Theoretiker, die nicht mit der Selbstsucht der Drogensüchtigen leben mußten und den emotionalen Katastrophen, die sie in ihrem Fahrwasser erzeugten. »Schauen Sie, Maggie«, sagte er bestimmt, »ich habe etwas dazu zu sagen, und ich möchte, daß Sie mir zuhören.« Er zog einen Stuhl heran und ließ sie sich setzen, damit sie seinem Blick nicht ausweichen konnte.
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»Ich habe während meiner Arbeit eine Menge Drogenabhängige zu sehen bekommen - genug, um mir eine Meinung zu diesem Thema erlauben zu dürfen. So wie ich das sehe, Maggie, treffen sie ihre eigene selbstsüchtige Entscheidung - und ihre Familien und die Gesellschaft und das ganze mistige Land haben unter den Folgen dieser Entscheidung zu leiden. Sicher gibt es Drogensüchtige, die von ihren Familien zerstört wurden - geschlagen, mißbraucht, vergewaltigt, ausgenutzt, was auch immer. Aber so war es nicht bei Jenna, und so ist es nicht bei verflucht vielen Fällen, die ich zu sehen bekomme. Manchmal kann man es Schwäche zuschreiben, manchmal ist es Trägheit, manchmal ist es Dummheit. Aber immer ist es eine Entscheidung. Ich weiß, Sie wünschen, Sie hätten alles richtig machen können bei Ihrer Tochter, die ganze Zeit, jede Minute ihres Lebens. Aber das ist ein unmöglicher Traum. Denn um das zu können, müßten Sie imstande sein, Schicksal, Glück und Erbanlagen zu dirigieren und alles andere, was sonst noch beeinflußt hat, um Himmels willen! Sie hätten lenken müssen, was sie an Ehrgeiz und Bestrebungen bei der Geburt mitbekommen hat und wie viele Abkürzungen sie ihre Freundinnen nehmen sah, um ihre Träume zu verwirklichen. Sie müßten es in der Hand haben, ob in den Straßen von New York ein Drogenkrieg stattfindet oder nicht und welche tödlichen Versuchungen Jennas soziales Umfeld zu bieten hat. Sehen Sie, Maggie, Sie können nur Ihr Bestes tun. Ich kenne Sie mittlerweile. Jedesmal, wenn wir uns begegnen, zeigt sich mir ein Zug Ihres Charakters. Sie sind ein guter Mensch, arbeiten tüchtig, sind klug, liebenswert, und Sie haben verdammt Ihr Bestes für Jenna getan! Um Himmels willen, Maggie, Sie sind bereit, für ihre Enkelin durch die Hölle zu gehen, glauben Sie wirklich, Sie hätten Ihre Tochter zu kurz kommen lassen?« Maggie sah so unsicher, so traurig aus, daß es ihn drängte weiterzusprechen. »Sie haben also Ihr Bestes versucht«, sagte er mit harter, unerbittlicher Stimme, »und es hat nicht funktioniert. So ist das Leben manchmal. Gemein und ungerecht. Ende der Geschichte.
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Sie sind nicht Gott, Maggie. Und sie ist nicht die Jungfrau Maria. Wenn Sie es so gut verstehen, Ihre eigenen Fehler aufzuzählen, warum nehmen wir dann nicht mal Jennas Fehler unter die Lupe? Also, das Leben lief nicht so, wie sie wollte - was hat sie beschlossen, um das zu ändern? Vielleicht sich kaputt arbeiten, um die Welt zu verbessern? Hat sie gegen ihre Unzufriedenheit mit der traurigen Welt angekämpft, indem sie einer fünfundneunzigjährigen Oma, die zu alt und verbraucht ist, um sich ihren Haferbrei selbst zu kochen, Essen-auf-Rädern brachte? Nein! Sie hat Drogen genommen. Sie hat sich prostituiert. Sie hat ihr Gewissen mit einer Chemikalie ausgelöscht, die ihr ihre Seele gestohlen hat. Und dann hat sie Satan ihre kleine Tochter verkauft. Nun machen Sie mal halblang, verdammt noch mal, Maggie! Wenn Sie und ich verantwortlich sind für unser Tun, dann ist Jenna weiß Gott für hi res verantwortlich. Und Eric und Sayles und all die anderen Scheißkerle, die bereit sind, jemand das Herz herauszuschneiden, um noch eine Jacht oder noch ein bißchen mehr Macht zu kriegen.« Maggie starrte Malachy ins Gesicht, erschrocken über seinen heftigen Ausbruch. »Schuldig kann man sich fühlen, wenn man nicht sein Bestes getan hat«, sagte er mit vor Bewegung heiserer Stimme. »Wenn man es hätte tun können und es nicht getan hat, verdammte Scheiße.« Sie sah ihn scharf an; hier ging es um mehr als Jenna. »Was ist, Dev?« flüsterte sie. »Was erzählen Sie mir da...« »Wir hatten einen Sohn, Maggie«, sagte er. Seine Stimme klang angespannt. »Er hieß Daniel.« Die Vergangenheitsform rüttelte sie auf; Devlin hatte den Kopf abgewandt, und sie konnte sein Gesicht nicht sehen. »Ich war damals nicht viel zu Hause«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Ich war jung... ich dachte, ich könnte auf eigene Faust die Welt verändern. Alle Bösen der Gerechtigkeit zuführen, die Korruption ausrotten... der Superman der Süd-Bronx sein... ich wollte alles.« Er schüttelte den Kopf, die schmerzlichen Erinnerungen wollten befreit werden. »Ich habe mir auf den Straßen eine Menge Feinde gemacht.«
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»Sie müssen mir das nicht erzählen, Dev«, unterbrach Maggie ihn besorgt. Er schüttelte aber erneut unwirsch den Kopf und fuhr fort. »Meine Frau Jan und ich hatten eines Abends Streit, weil ich soviel Zeit mit der Arbeit verbrachte - wir waren beide aufbrausend, und der Druck war ungeheuer. Sie sagte, ich wäre ein Streber, ich wäre mehr mit Ve rbrechern zusammen als mit ihr und Daniel. Sie hatte nicht unrecht... es hat mich einfach wahnsinnig gemacht, daß sie nicht verstand, wie sehr ich mich bemühte, etwas zu ändern. Jedenfalls, ich hab ihr quasi gesagt, sie könnte mich mal...« Er brach ab, seine Augen waren ins Leere gerichtet, während er zurückblickte. Er holte tief Atem, blähte die Wangen, stieß dann die Luft aus, bevor er fortfuhr. »Wir hatten also diesen blöden Streit, und mein irisches Temperament ging mit mir durch. ›Du willst, daß ich mehr mit dem Jungen spiele?‹ brüllte ich. ›Dann sieh gefälligst zu, daß er auf ist, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme. ‹« Er sah Maggie an wie ein Sünder, der um Absolution bittet. Mit leiser, fast flüsternder Stimme sagte er: »Wissen Sie, das Verrückteste war, ich habe ihn angebetet, Maggie. Danny war der großartigste kleine Junge der Welt. Ich wäre am liebsten die ganze Zeit mit ihm zusammengewesen. Ich träumte davon, wie ich ihm Bälle werfen und radfahren beibringen würde, Sie wissen schon, wie man eben so phantasiert...« Seine Stimme verlor sich. »Jedenfalls, nach diesem Krach mit Jan war ich so sauer, daß ich Danny aus dem Bett geholt habe. Er war im Schlafanzug... Herrgott, ich erinnere mich, dies Ding mit den Füßchen dran war ihm zu groß, und er war schlapp wie ein Clown, als ich ihn hochnahm, er war ganz verschlafen und sehr froh, mich zu sehen.« Devlin biß sich in die Oberlippe, als wolle er die anstößigen Worte zurückhalten. »Ich hab ihm eine Jacke angezogen, eine Mütze auf den Kopf gesetzt und bin aus der Wohnung gestürmt...« Eine furchtbare Spannung packte Maggie. »Wir sind nicht bis zur Straße gekommen«, sagte er mit unbarmherzig monotoner Stimme. »Der Bruder von einem Typen, den ich eingelocht hatte, stand auf der Veranda vorm Haus und
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wartete auf mich, und ich war so in meiner Wut und Selbstgerechtigkeit gefangen, daß ich das Ding in seiner Hand nicht mal gesehen habe. Und er war bis oben zu mit Crack... Er hat nur einmal gefeuert. Die Kugel durchschlug meinen Jungen, bevor sie mich an der Schulter traf. Danny gab so einen kleinen seufzenden Laut von sich wie ein Vogel... ich höre es heute noch manchmal in meinem Kopf, und dann war da lauter Blut...« Devlin ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, starrte auf seine Hände. »Er hat nicht lange zum Sterben gebraucht, und ich konnte einfach nichts machen. Darum habe ich ihn nur gehalten, und ich sah seine Augen, die mich anflehten, ihm zu helfen... Herrgott! Ich sehe seine Augen noch so, als wäre es heute gewesen. Er war überzeugt, daß ich es in Ordnung bringen könnte...« Er drehte den Kopf weg von Maggie, aber sie sah seine Tränen. Sie gab ihm das Taschentuch zurück, das er ihr gegeben hatte, und er wischte die Tränen ab. »Oh, mein lieber Dev«, flüsterte sie, »verzeihen Sie mir, daß ich auf so heiligen Boden vorgedrungen bin.« »Nein!« sagte er rasch. »Sagen Sie das nicht. Ich wollte es Ihnen erzählen. Ich habe nach Jan viele Frauen gekannt, Maggie. Ich habe versucht, mit ihnen die vielen Löcher in meinem Leben zu stopfen, nachdem Jan mich verlassen hatte. Ich habe es ihr nicht übelgenommen, daß sie mich nie mehr sehen wollte, aber ich habe sie beide so vermißt, verdammt noch mal.« Seine Stimme versagte, und er überdeckte seine Verlegenheit mit einem Husten. So, hiermit will er sich erlösen, dachte sie... ein Kind gegen ein Kind. Eines verloren, eines noch zu retten. Betroffen von seinem ungeheuerlichen Kummer und Schuldgefühl, legte Maggie ihre Arme um ihn, und sie saßen vereint in gemeinsamem Leid wie zwei Flüchtlinge vor einem kosmischen Lavastrom, den sie weder aufhalten noch verstehen konnten.
29 Der große Blumenstrauß nahm das ganze Tischchen in der Diele ein. Maggie las verwundert die Karte - Abdul Hazred, der
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Ägyptologe. Merkwürdig. »Ich glaube, ich kann Ihnen behilflich sein«, stand da. In einem Sturm ist mir jeder Hafen recht, dachte sie seufzend, während sie sich telefonisch mit ihm verabredete. Dann lief sie nach draußen, winkte einem Taxi und fuhr ins Museum. Maggie eilte durch die äyptische Ausstellung zu dem Konferenzraum hinter Hazreds Büro. Sie erschrak, als sie ihn umringt von Papyrusrollen, Büchern und einem Computerpult antraf; er sah zerknittert aus, als wäre er die ganze Nacht aufgewesen, um etwas Bestimmtes zu suchen. Sie bemerkte, daß er Antike und Weltraumzeitalter mit gleichem Geschick zu handhaben wußte. »Bitte nehmen Sie Platz, Mrs. O'Connor«, sagte er und wies auf die Stühle, die den Tisch umstanden. Er wirkte irgendwie menschlicher als bei ihrer ersten Begegnung. »Die Blumen sind wunderschön, Dr. Hazred«, sagte sie. »Und kamen völlig unerwartet.« »Schade, daß sie nichts da hatten, was unserer gemeinsamen Suche mehr entspräche«, erwiderte er. »Margeriten vielleicht, oder Lotusblumen. Ägyptische Blumen sind um diese Jahreszeit außergewöhnlich schön.« Maggie lächelte und fragte sich, wo das hinführen würde. »Als Sie gegangen waren, Mrs. O'Connor«, begann er in versöhnlichem Ton, »habe ich zwei und zwei zusammengezählt... Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber ich hatte das Ge fühl, daß die Informationen, die Sie suchten, eine große Bedeutung für Sie hatten.« Er hob fragend eine Augenbraue. »Ich möchte Ihnen ein Abkommen vorschlagen, Mrs. O'Connor. Wenn Sie mir aufrichtig erzählen, weshalb Ihnen an dieser Sache gelegen ist, dann sind wir vielleicht imstande, einander zu helfen, ein großes Teil in ein Puzzlespiel zu fügen, das Forscher seit Jahrtausenden gequält hat.« Maggie versuchte, eine Absicht in Hazreds Gesicht zu lesen, aber seine Miene war undurchdringlich; soviel sie wußte, konnte er auf Erics Seite stehen, oder er konnte seine eigenen Zwecke verfolgen. Doch er schien etwas zu wissen, und mo mentan konnte jede Hilfe wichtig sein; deswegen erzählte Maggie ihm eine etwas gereinigte Version ihrer Geschichte. Hazred
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hörte aufmerksam zu, stellte umsichtig sondierend Fragen. Er winkte sie zu einem Stapel Unterlagen, an denen er gearbeitet hatte. »Sie müssen wissen, Mrs. O'Connor, die Chancen, daß Ihre Enkeltochter tatsächlich die Isis -Botin ist, stehen eins zu fünfzig Millionen...« »Glauben Sie mir, Dr. Hazred«, erwiderte sie und lachte kurz auf, »ich wäre hocherfreut, wenn Sie mir beweisen könnten, dass sie es nicht ist.« »Ich wurde dazu bewogen, Ihre Bitte zu überdenken, Mrs. O'Connor«, fuhr er mit großem Ernst fort, »weil bestimmte, ganz besondere Bedingungen im exakten Augenblick der Materialisation zusammentreffen müssen. Die Große Mutter ist kein Dummkopf, Mrs. O'Connor, sie hat einen nahezu unüberwindlichen Hindernislauf aus Umständen aufgestellt, die notwendig sind, um das Amulett ins Sein zu rufen. Meine Nachforschungen brachten mich zu der Überzeugung, daß im Universum genau in diesem Augenblick Kräfte am Werk sind, die danach streben, das alte Spiel in Gang zu setzen. Es sieht so aus, als seien Sie in diesen kosmischen Wettstreit einbezogen.« Er lehnte sich zurück und sah sie einen Augenblick berechnend an. »Ich glaube, Ihre Enkeltochter ist die Botin, und Sie, Mrs. O'Connor, sind die Hüterin - was mich zu meinem Vorschlag veranlaßt.« Er hielt einen Moment inne. »Wir müssen uns gegenseitig vertrauen, Mrs. O'Connor, wenigstens ein bißchen, denn wenn Sie die Hüterin sind, könnte es mein Karma sein, Ihnen den Schlüssel zur Strategie des Spieles zu liefern. Ich war neulich nicht ganz aufrichtig zu Ihnen... sehen Sie, ich habe einen großen Teil meines Lebens der Legende des Isis -Amuletts gewidmet. Ich habe sowohl wissenschaftliche als auch geheime Quellen studiert, manchmal unter großer Gefahr für mich ...« Er ließ sich ein wenig treiben, versunken in der Erinnerung an seine Anstrengungen. »Ich habe vollstes Verständnis für Ihr Zögern, mir Informationen anzuvertrauen, doch muß ich Sie darauf aufmerksam machen, Mrs. O'Connor, daß Sie ein beträchtliches Risiko eingehen, wenn Sie sich mein Angebot, Ihnen behilflich zu sein, nicht zunutze machen.«
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»Inwiefern?« »Ich fürchte, hier steht viel mehr auf dem Spiel als nur das Leben dieses Kindes. Kennen Sie den Begriff Ka, Mrs. O'Connor? Sie können es Seele oder Geist nennen... in Wirklichkeit ist es weit mehr. Ka ist das Seelenbild, das die Lebenskraft enthält, das wahre Sein, geistig und seelisch, das dem Körper Leben gibt. Es war das Ka, das die Altvorderen nach dem Tode in ihren ausführlichen Bestattungsriten zu nähren und zu kleiden trachteten.« Maggie nickte. »In den alten Schriften steht geschrieben, daß die Schwarzen Mächte versuchen werden, die Isis -Botin gefangenzunehmen, um den Sekhmet-Stein wiederzubeleben, daß sie aber selbst möglicherweise als Unterpfand einer weit erhabeneren Spielerin benutzt werden - die Göttin Sekhmet selbst könnte einen geheimen Plan haben. Wenn ich diese Papyrusrollen richtig interpretiere, dann schläft die Göttin seit Tausenden von Jahren wie der Geist in der Flasche. Aber wenn ein schwarzer Adept tatsächlich imstande ist, den Stein, der ihre Zerstörungsmacht einschließt, zum Leben zu erwecken, könnte sie beschließen, den Körper einer Sterblichen zu bewohnen, um die Vergnügungen des Fleisches zu kosten, nach denen es sie so lange gelüstet hat. Ich fürchte, Mrs. O'Connor, daß der Ehemann Ihrer Tochter danach trachtet, das Ka Ihrer Enkelin einzusperren und es durch das Ka der Sekhmet zu ersetzen. Sollte das geschehen, wird Codys Seele bis in alle Ewigkeit durch die Unterwelt wandern, und Sekhmet wird die Dämonen aus der Hölle befreien. Das Leben, wie wir es kennen, wird einfach aufhören zu existieren.« Maggie schüttelte den Kopf. »Göttinnen, Verwünschungen, Dämonen, Dr. Hazred«, sagte sie, um Ruhe bemüht. »Ich komme mir vor wie ein unfreiwilliger Gast auf der Teegesellschaft des verrückten Hutmachers. Was vermuten Sie genau?« »Ich vermute, daß Ihre Enkelin nicht nur durch diejenigen, die den Linken Pfad beschreiten, in Gefahr ist, Mrs. O'Connor. Wenn alles andere fehlschlägt, nehme ich an, daß die andere
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Seite gezwungen sein wird, sie zu töten, um die Reinkarnation Sekhmets zu verhindern.« »Wollen Sie mir damit sagen, sie ist in Gefahr, egal, welcher Seite sie in die Hände fällt?« Maggie stand aufgeregt auf. Hazred sah, daß sie den Köder geschluckt hatte. »Ich glaube, Sie brauchen den Rat eines Menschen, der die Verschlingungen dieser Situation genau versteht«, sagte er. »Das Universum ist ein unendliches elektrisches Energiesystem, Mrs. O'Connor. Alles darin - wir einge-schlossen - vibriert in ganz bestimmten Frequenzen. Die gesamte Magie hängt von der Steuerung dieser Energieabläufe ab. Auch die Wasserstoffbombe ist nur eine Abänderung dieses Ablaufs. Wenn Cody tatsächlich die Isis -Botin ist, dann ist sie die Stimmgabel, Mrs. O'Connor. Die einzige Stimmgabel. Ihre Frequenz, im Verein mit bestimmten magischen Komponenten aus Tönen und Riten, wird das Netz des Universums so zum Schwingen bringen, daß es den großen Schatz freigibt.« Maggie, beunruhigt von seiner Beharrlichkeit, ihr helfen zu wollen, fragte sich auf dem Nachhauseweg, was genau Dr. Hazred für sich selbst gewinnen wollte.
30 Peter würde heute wieder kommen, um mit ihr zu arbeiten, dachte Maggie dankbar, als sie auf die Uhr sah. Ellie hatte ihr so viele Dinge erzählt, die sie mit jemand durchsprechen mußte. Ganz zu schweigen von Hazreds Hypothese... Sie warf einen halb reumütigen Blick auf die vielen unbeantworteten Telefonnotizen vom Geschäft. Scheiß drauf! Cody ging vor, und damit Schluß. Sie hörte die Türglocke und dann Stimmen, die auf portugiesisch plauderten. Maria Aparecida hatte Pater Peter in den kleinen elitären Zirkel derer aufgenommen, die sie schätzte. »Nach reiflichem Überlegen, Dona Maggie«, hatte sie eines Abends bedächtig verkündet, »können wir dem Priester unser Vertrauen schenken.« »Auch wenn er nicht immer seine Soutane trägt?« zog Mag-
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gie sie auf. »Gott sieht ins Herz, nicht auf die Garderobe«, hatte die Brasilianerin mit Entschiedenheit entgegnet. »Ich frage mich andauernd«, sagte Peter, als er in die Bibliothek trat und seine Aktenmappe auf Maggies Schreibtisch legte, »ob etwas von dem, was ich Ihnen beibringe, irgendeinen praktischen Nutzen hat, Maggie. Es gibt keinen Lehrplan für diesen Studiengang, nicht?« »Was Sie mir beigebracht haben, hält mich geistig gesund«, erwiderte sie, und sie meinte es ernst. »Zählt das nicht?« Maggie schien ihm etwas erschöpft infolge der zunehmenden Besorgnis, doch er spürte, daß sie im Innersten stärker war als zuvor. »Weder Ihr Geisteszustand noch Ihre Seelenstärke stehen zur Debatte, liebe Maggie«, antwortete er wohlwollend. »Die Anspannung, unter der Sie stehen, würde die meisten Menschen vernichten, Sie aber wirken jedesmal, wenn ich Sie sehe, stärker und entschlossener. Ich staune über Sie, offen gestanden.« »Lassen Sie sich nicht von meiner heiteren Oberfläche täuschen, Peter. Ich stehe Todesängste aus. Aber was Sie mir beibringen, bewirkt, daß ich mir nicht ganz so hilflos vorkomme... so als würde ich etwas tun und nicht bloß die Zeit verplempern, während Rom brennt.« »Dann wollen wir beginnen«, sagte er und zog ein altes ledernes Notizbuch aus der abgeschabten Aktenmappe. »Heute, Maggie, möchte ich Ihnen von meinen Begegnungen mit der ›Präsenz‹ erzählen, wie es die Exorzisten nennen... dem großen Gegner von Mensch und Gott.« Er sprach die Worte mit ungeheurem Ernst. »Ich habe keine Ahnung, über welche wahren übernatürlichen Kräfte Eric und seine Truppen gebieten, aber die Saiitii-Erscheinung, die sie geschickt haben, um Cody zu entführen, läßt darauf schließen, daß sie dämonische Wesen nach Belieben rufen können. Somit könnte ein Teil meiner Erfahrungen Ihnen vielleicht helfen, sich zu wappnen.« Maggie setzte sich in Strümpfen auf die Couch und zog die Füße unter sich, eine unbewußte Geste des Selbstschutzes. »Ich habe mich immer gefragt, was Besessenheit wirklich bedeutet«, sagte sie neugierig, »und wie ein Exorzist sie bekämpft.« Peter beugte sich auf seinem Sessel vor, die Ellbogen auf den
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Knien, die Hände gefaltet; Maggie konnte die Anspannung spüren, die dieses Thema in ihm erzeugte. Exorzismus war offensichtlich nicht ein Gebiet, über das Pater Messenguer leichtfertig plauderte. »Es gibt offenbar verschiedene Abstufungen im Austausch zwischen Dämonen und Menschen«, begann er. »Die weniger schwerwiegenden Erscheinungen, bei denen ein Mann oder eine Frau von einem oder mehreren dämonischen Wesen heimgesucht werden, denen sie offenbar nicht entfliehen können, werden Belästigung oder Bedrängnis genannt. Die meisten Fälle, die der Kirche vorgetragen werden - vorausgesetzt, es handelt sich um mehr als rein psychotische Episoden, neurotische Wahnvorstellungen oder drogenbedingte Halluzinationen -, fallen unter diese Kategorie, Maggie. Echte Besessenheit ist so selten, wie sie tödlich ist.« Maggie runzelte die Stirn; es war alles so verstörend. »Wie stellen Sie den Unterschied fest?« »Der einfachste Test besteht in dem Versuch, den Körper der befallenen Person mit einem geweihten Gegenstand in Berührung zu bringen, Maggie. Bei echter Besessenheit wird die dämonische Präsenz das nicht zulassen. Ich habe Leute zucken, sich erbrechen, schweben, unverrückbare Möbelstücke wie Spielzeug herumwerfen sehen...« Er schüttelte den Kopf, um das Unvorstellbare dieser Vorkommnisse zu unterstreichen. »Wie ist sie beschaffen, Peter?« fragte sie fasziniert, »diese Präsenz? Woher wissen Sie überhaupt, daß sie da ist?« Der Priester lehnte sich zurück und streckte die langen Beine von sich, ein bewußtes Bemühen, Unbehagen zu zerstreuen. Er atmete tief durch, bevor er sprach. »Die Präsenz wünscht, daß man ihr Vorhandensein bemerkt, Maggie. Ein furchtbarer, verzehrender Stolz scheint stets ihr Handeln zu bestimmen.« »Könnte es nicht sein, daß es nur die verzerrte Psyche der betroffenen Person ist, die zu einem spricht?« »Die Kirche bemüht sich selbstverständlich, Schwachsinn, Neurose und alle bekannten Arten von Psychose auszuschließen. Es müssen strenge psychologische und medizinische Kriterien erfüllt sein, bevor die Kirche gestattet, daß ein Exor-
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zist hinzugezogen wird.« Er hielt inne. »Aber wenn alle Psychiater und Ärzte ihre Untersuchungen abgeschlossen haben, präsentiert ein Fall sich gelegentlich selbst dadurch, daß es einfach keine andere Erklärung für das abartige Verhalten gibt, als daß etwas Nicht-Menschliches es verursacht hat.« »Etwa?« »Etwa ein Dämon, Maggie. Etwa eine feindliche böse Intelligenz von irgendwo anders. Einem Irgendwo, das wir nicht verstehen.« Maggie runzelte die Stirn. »Wie konnten Sie jemals von einer so bizarren Möglichkeit überzeugt sein, Peter?« »Die Kriterien sind sehr präzise, Maggie. Die befallene Person muß zu Dingen imstande sein, die normale Menschen nicht tun können. Etwa unbekannte Sprachen sprechen oder schweben oder übermenschliche Kraft beweisen oder Telekinese oder die Gedanken der Umstehenden lesen. Manchmal sogar die Kenntnis der intimsten Sünden der Anwesenden, in denen der Dämon den Feind sieht.« »Und das haben Sie alles tatsächlich gesehen?« »Einmal hat ein Wanderarbeiter sich in einer vorzeitlichen sumerischen Mundart mit mir unterhalten, die seit viertausend Jahren nicht mehr gesprochen wurde. Kryptomnesie - verschüttete Erinnerungen aus Kindheit oder Säuglingszeit - konnten wir ausschließen, weil er so gut wie keine Schulbildung hatte. Bei anderer Gelegenheit habe ich Dämonen gesehen, die sich als eine chaldäische Gottheit des Bösen erwiesen, die sogar bei den Gelehrten in Vergessenheit geraten war.« Maggie hatte unbewußt die Unterlippe fest zwischen die Zähne gezogen. Peter lächelte beinahe über die kindhafte Reaktion auf die Schrecknisse, die er beschrieb. »Wie, um Himmels willen, wird ein Mensch besessen, Peter? Es fordert doch bestimmt niemand den Teufel auf: ›Hallo, ich mochte gern einen Pakt mit dir schließen‹« »Ach Maggie, seien Sie sich da nicht so sicher. Es ist schon vorgekommen, daß ein Mensch in seiner Habgier fand, die Reichtümer dieser Welt seien den Tausch wert. Und bedenken Sie, man kann das Böse auf weit subtilere Weise herausfordern, jenseits der Abwehrlinien... durch Lügen, Betrügen, Stehlen und
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dergleichen, man kann sich sehr wirksam an den Befestigungslinien abstoßen. Kleine Übel öffnen das Tor zu größeren. Drogen und Alkohol scheinen ebenfalls die Fähigkeit zu besitzen, den Weg an einen Ort zu erschließen, wo böse Wesenheiten die Zeit abwarten, bis sie Zugang zur Menschheit erhalten. Und jedes Trauma - physischer oder psychischer Art -, das einem Menschen die Kontrolle über seinen Willen raubt, kann den Zugang verschaffen.« Peter hielt inne, um zu überlegen, ob er irgendwelche Möglichkeiten vergessen hatte, und fügte dann hinzu: »Gelegentlich werden Kinder von ihren Eltern bei der Geburt Satan geweiht, und somit ist ihr freier Wille ausgeschaltet.« »Soll das heißen«, fragte Maggie entsetzt, »daß die Seele eines Menschen ohne sein Zutun verkauft werden kann?« »Bei der Taufe, Maggie, weihen wir Christen die Seelen unserer Kinder Christus, um Satan ›und allen seinen Werken‹ zu widerstehen. Der freie Wille des Kindes steht nicht zur Debatte. Die andere Seite macht umgekehrt dasselbe.« Peter lächelte matt, wobei sich sein Gesicht so in Falten legte, daß er aussah, als würde er in die Sonne blinzeln. Maggie schüttelte den Kopf, daß ihre dunklen Haare wippten. »Nachdem ich Erics Sendung erlebt habe, Peter, zweifle ich nicht im mindesten an dem, was Sie mir erzählen, aber, Herrgott, ich muß mich doch fragen, wie kann ein einfacher Mensch nur hoffen, so eine böse Intelligenz zu besiegen?« »Mit Vorsicht, Maggie«, erwiderte er eifrig, »ganz, ganz vorsichtig. Wissen Sie, der Dämon versucht einen einzuwickeln... zu Debatten und Kontroversen anzustiften, sogar zu dem Stolz, der sagt: ›Ich kann gewinnen.‹ Natürlich ist das eine Form des Wahnsinns. Aber es ist die absolute Herausforderung, verstehen Sie?« Was gab es dazu zu sagen? fragte sich Maggie. »Und wie kommt man nun dagegen an?« Der Priester kicherte. »Gar nicht, natürlich. Man kann es nicht. Christus kann es.›Im Namen Jesu Christi übe ich Gewalt über dich aus‹, so drückt man es aus.« Peter stieß die
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Worte donnernd hervor, so daß sie erschrak. »›Im Namen Jesu Christi, ich feßle, ich verweise, ich exorziere...‹ Nur die Anrufung des heiligen Namens ermöglicht es, den großen Feind anzugreifen. Allein ist man absolut machtlos.« »Wie kann jemand auch nur wagen, es zu versuchen?« flüsterte sie, und er lächelte traurig. »Nur mit der einmaligen Kombination aus Demut und Hochmut, die die besondere Eigenart der Exorzisten ist, Maggie. Wir stampfen dort auf, wo andere nicht hinzutreten wagen, weil wir vollkommen auf die Macht und Güte Gottes vertrauen.« Maggie nickte; allmählich begriff sie. »Diese feindliche Intelligenz, Peter«, sagte sie nachdenklich, »wie zeigt sie sich?« Er machte eine Geste, die besagte, daß es dafür keine Worte gebe. »Die Präsenz ist unmißverständlich... machtvoll, äußerst boshaft. Sie verwendet die geheimsten Verletzlichkeiten eines Menschen gegen ihn... Manchmal spielt sie Verstecken mit einem, krallt sich die Psyche wie eine Katze die Maus... Aber man merkt immer, wenn sie da ist. Und man muß im Umgang mit ihr ungeheuer vorsichtig sein, Maggie, denn der eigene Glaube, die eigene geistige und physische Gesundheit stehen genauso auf dem Spiel wie die der Patienten, und man kann in große Gefahr geraten.« »Wie kann ich dann mich und Cody schützen, Peter? Sagen wir mal, Eric ruft eine schreckliche dämonische Macht aus dem Höllenschlund. Ich kann nicht immer in einem Pentagramm leben, selbst wenn ich ein gutes zustande brächte!« »Mit Gebet, Maggie! Sie müssen sich mit dem zweitausend Jahre alten Christentum verbinden und mit dem kollektiven Unbewußten, das es geschaffen hat. Und Sie dürfen sich nie auf eine Debatte mit dem Wesen einlassen... ein weiser, alter Exorzist, den ich kenne, hat mich immer gewarnt: ›Laß dich nie mit der Wesenheit ein, mein Junge... wenn du das tust, wird sie dich jedesmal schlagen.‹ Sie dürfen sie niemals an sich heranlassen, niemals ihre Macht anerkennen, niemals an ihrer Existenz zweifeln. Und keine Angst haben...« »Wie, um Himmels willen, kann ich die Angst kontrollieren,
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Peter?« fragte sie verzweifelt. »Wenn ich in das gräßliche Haus gehe, um zu versuchen, Cody zu retten, bringt mich die Angst schier um den Verstand.« »Sie müssen Ihre Furcht überwinden, so wie es ein Krieger in dem Moment tut, wo er das Schlachtfeld betritt. Wenn Sie das nicht können, dann versuchen Sie besser gar nicht erst, Cody zu retten. Das Böse treibt kein faires Spiel - und es ist ebenfalls von einer tausend Jahre alten, kollektiven Lebenskraft ermächtigt. Angst schwächt Sie und stärkt das Böse. Sie müssen Ihr Vertrauen in die Macht des Guten setzen, und Sie müssen Ihr Schicksal Gott überlassen. Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, Maggie. Andernfalls können Sie sich unmöglich behaupten.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus; man erkennt die Wahrheit sofort, auch wenn man sich nicht sicher ist, daß man ihren Forderungen gerecht werden kann. Mr. Wong hatte genau dasselbe gesagt: »Wenn Sie Ihre Angst vor dem Tod überwunden haben, sind Sie unverwundbar, Maggie. Was kann Sie dann noch bedrohen?« Die Unterweisung hatte bis zum Nachmittag gedauert. Maggie schwirrte der Kopf von Dämonengeschichten, die sich gegenseitig den Platz streitig machten. »Ich brauche eine Pause, Peter«, sagte sie gegen vier Uhr nachmittags erschöpft. »Ich brauche frische Luft und ein Ge spräch über ein anderes Thema, egal was, bloß nicht dieses.« Sie begaben sich in das handtuchgroße Gärtchen, das im Sommer Maggies ganze Freude war. Sie zog zwei altmodische Klappstühle in die schwindende Nachmittagssonne, und sie setzten sich. Auch Peter war froh über die Abwechslung; das heutige Gespräch hatte viele beunruhigende Erinnerungen geweckt. Er lehnte den Kopf an das steife Segeltuch des Stuhles und zog seinen Kragen hoch. Es war noch zu kalt, um sich im Freien behaglich zu fühlen, aber die Luft tat gut. Der geliehene Pullover, den er trug, hatte Jack gehört und war ihm zu klein. »Sagen Sie, wie ist das für Sie gewesen, Peter?« bat Maggie.
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Sie zwang sich, das vorangegangene Gespräch zu verdrängen, und suchte nach einem neutralen Thema, das eine vorübergehende Atempause gewährte. »Wie war das, als Sie jung waren und merkten, daß es Sie zur Kirche hinzog?« »Ach Maggie«, antwortete er mit einem müden Lächeln, »das ist schon so lange her... aber es gehört zu den wunderbarsten Abschnitten meines Lebens.« »Wie hat alles für Sie angefangen?« »Wenn damals ein Schüler überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten aufwies, fiel er den Lehrern auf, und sie teilten es dem Bischof mit. Philosophie war das einzige Hauptfach, das einem jungen Mann, der Priester werden wollte, erlaubt war, und Rom war das einzige Ziel, wenn man nach Höherem strebte. Man schickte mich zum Studium aufs North American College... ich glaubte, der Himmel selbst könnte nicht ungewöhnlicher sein als die Ewige Stadt. Sie müssen sich vorstellen, Maggie, wie es dort war für mich... ich war ein armer Junge aus der Arbeiterklasse der Provinz, und dies war das Rom der Caesaren und der Heiligen! Ich war vollkommen geblendet - verzaubert von der Erhabenheit, dem Zeremoniell, der Geschichte. Und davon, daß ich es an der Greg schaffen konnte, wo es so viele andere nicht schafften.« Er wandte ihr das Gesicht zu, erpicht darauf, daß sie ihn verstehe, und die Haare fielen ihm in die Stirn. Er hatte romantisches Haar, fand Maggie, lang und kräftig. »Was ist die Greg?« »Die Gregorianische Universität - der Nährboden für die intellektuelle Creme de la creme der Kirche. Wenn man es dort nicht schaffen konnte, wurde man auf die Angelica geschickt, aber die Greg war das A und O.« »Wie war es auf der Greg?« fragte Maggie. Sie versuchte sich eine Welt vorzustellen, die ausschließlich aus Kirchenmännern bestand. »Berauschend, intellektuell, streng. Alle Vorlesungen wurden natürlich auf lateinisch gehalten - sämtliche Seminare, mündlichen Prüfungen, alles auf lateinisch. Die meisten amerikani-
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schen Studenten waren so schlecht in Latein, daß die besten Lateinschüler für die übrigen mitschrieben. Sieben amerikanische Priester, die Repetitoren genannt wurden, wohnten ständig dort; sie waren aus den Staaten geschickt worden, um die Bummelanten zu unterrichten, damit die Amerikaner durchs Examen kamen, ohne sich und darüber hinaus die Förderer, die Bischöfe, zu blamieren. Ich hatte Glück - Latein wurde mir zur zweiten Natur.« »Und der Druck war enorm?« hakte Maggie nach. »Herrgott, ja. Alle dort waren begabt, alle konkurrierten fieberhaft, und es stand viel auf dem Spiel. Und man mußte natürlich die wichtige Entscheidung treffen, ob man sich auf kanonisches Recht oder Theologie verlegen sollte.« »Wie bitte?« Peter grinste. »Der Hauptweg zu einem Bistum oder zu Besserem war unzweifelhaft das kanonische Recht. Aber wenn man kein Bürokrat, sondern ein Denker sein wollte, wählte man Theologie. Ich rechnete mir aus, wenn ich mich in der akademischen Welt auszeichnete, würde die Lösung vielleicht darin liegen, daß ich einen Platz in einer großen Diözese fände, deren Bischof auf kanonisches Recht spezialisiert war und deshalb gerne einen Theologen als Hilfskraft hätte. Ich wußte, daß mir das Zutritt zu hohen Stellen verschaffen konnte.« Maggie runzelte die Stirn über diese Art von Berechnung, und der Anflug von Enttäuschung entging Peter nicht. »Sie müssen bedenken, Maggie, ich war immer noch der junge unschuldige Bursche aus der Umgebung von Pittsburgh, und ich fing eben erst an zu begreifen, wie es in der großen Welt zuging. Ich war gefesselt von dem Glanz Roms und von dem aristokratischen Intellekt und der Erfahrung der dortigen Geistlichkeit. Dies waren keine provinziellen Prälaten, es waren Grafen und Fürsten im Dienst des allergrößten Monarchen. Und die Priesterschaft in dieser erstaunlichen Stadt hatte etwas berauschend Romantisches - die Geschichte, der Prunk und das Ge pränge des Katholizismus -, niemand versteht sich besser darauf als die Römer. Das Spiel hatte den Namen Romanità - das hieß, man mußte
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in Geist und Auftreten römischer sein als die Römer selbst. Romanità hat mich verführt... und mich verleitet, das Spiel mitzuspielen.« »Dann gab es in dieser strengen durchgeistigten Umgebung auch große Leidenschaften?« »Allerdings, Maggie. Es sind stets Leidenschaften im Herzen des Menschen. Besonders in sehr klugen, sehr dynamischen Menschen, und die gab es an der Greg im Überfluß.« »Was Sie mir da beschreiben, Peter, ist eine klösterliche, elitäre Männergesellschaft. Die letzte Bastion. Also, mal sehen...«, überlegte sie schelmisch, »wenn alle Leistungskriterien männlich waren, dann muß Macht der Ersatz für Sex gewesen sein!« Sie sagte es aufgeregt, als sei sie soeben einem großen Ge heimnis auf die Spur gekommen. »Sie neigen dazu, jeder Sache auf den Grund zu gehen, nicht wahr, Maggie«, erwiderte Peter. Er stellte seine Tasse ab und grinste Maggie an. »Macht war Sex für uns... der Ausdruck unserer sämtlichen Leidenschaften.« Sie lächelte; diese interessante Feststellung leuchtete ihr ein. »Und die Schwierigkeit des priesterlichen Dilemmas muß demnach gewesen sein, welche unbequeme Wahl Sie zu treffen bereit waren, um aufzusteigen.« Peter nickte. »Ich erkannte allmählich, daß das Leben gemeiner und rauher war, als ich gedacht hatte, und daß die Rücksichtsloseren und Eigennützigeren am besten überlebten. Ich begann mich zu fragen, wie ich diesen Drahtseilakt bewältigen und meiner intellektuellen Begabung und meinem Erfolgsstreben gerecht werden konnte, ohne die Integrität meiner priesterlichen Berufung zu opfern. Es war eine gewaltige Feuerprobe, Maggie. Eine Zeit der Läuterung, der Wandlung, des Navigierens zwischen Skylla und Charybdis.« »Die Männer sind oft gezwungen, das Gute und Sanfte in ihrer Natur als Preis für den Erfolg abzutöten, nicht wahr, Peter, sogar innerhalb der Kirche?« fragte Maggie. »Man lernte etwas über das menschliche Versagen der Machtstruktur«, erwiderte er und nickte bestätigend, »während man gleichzeitig erfuhr, daß die unausweichliche Größe
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des Guten das Grundmotiv für die Struktur war - die Bewahrung von Christi Lehre und Geist. Man sah, daß die Kirche, um in dieser alles andere als vollkommenen Welt zu überleben, mit bestimmten, alles andere als vollkommenen Gegebenheiten leben mußte, und doch... o Maggie, es war die heilige Quelle der Lehren Christi, des Werkes Gottes! Ein berauschendes Rätsel für einen Jungen vom Lande, so klug er auch sein mochte. Später, als ich in der Krise steckte, trug eben dieses Problem ganz entschieden zu meinem Dilemma bei. Sehen Sie, ich wußte, daß auch die anderen unvollkommen waren... aber vielleicht nicht so unvollkommen wie ich.« Eine Weile sprach keiner von beiden, bis Maggie das Schweigen brach. »Ich möchte gerne wissen, was passiert ist... wie Sie bei der Kirche in Ungnade gefallen sind. Aber ich möchte keine alten Wunden aufreißen.« Seine grauen Augen schienen sich zu verlieren, als blickten sie an ihr vorbei in eine ferne Landschaft. »Ich folgte Gott um eine Ecke«, sagte er leis e, geheimnisvoll, »und habe den Rückweg nicht gefunden.« Maggie wartete, daß er es näher erläuterte, aber er sagte nichts mehr. »Habe ich mit meiner Frage die Grenzen der Freundschaft überschritten, Peter?« fragte sie zerknirscht. »Bitte verzeihen Sie mir, wenn es so ist. Ich hatte kein Recht, neugierig zu sein... nur, weil Sie mit allen Geheimnissen meines Lebens vertraut sind, hatte ich wohl das Bedürfnis, Sie genauso gut zu kennen.« Es machte sie nervös, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Peter sah sie einen bedeutsamen Augenblick unverwandt an. »Ich denke, es gibt vielleicht keine Grenzen für unsere Freundschaft, Maggie«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum es sie geben sollte... manchmal bin ich mir bei Ihnen vorgekommen wie ein Schwimmer, der sich zu weit übers Riff hinausgewagt hat und nicht mehr weiß, ob er noch den Willen hat umzukehren.« Maggie spürte verstört die Verletzlichkeit und Traurigkeit dieses Mannes, der ihr einst so vollkommen erschienen war. Er war Priester, Freund und Lehrer... was würde er sonst noch werden? Die Verstrickung von Herzfasern, die jedesmal, wenn
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sie sich trafen, enger wurde, ließ sich nicht leugnen. Es war beunruhigend zu wissen, daß er es auch fühlte. »Einmal, als ich auf dem College war«, sagte sie zaghaft, »haben wir mit einer Jungenschule aus der Nachbarschaft zusammen eine Party veranstaltet. Ein junger Mann forderte mich zum Tanzen auf, und in dem Augenblick, als er seine Arme um mich legte, wußte ich, daß wir dazu geboren waren, zusammen zu tanzen. Fred und Ginger, Pawlowa und Nijinsky... was soll ich sagen, Peter? Einen kurzen, strahlenden Augenblick lang waren wir in einem verkleinerten Maßstab so wie sie. Er kannte meine Schritte, ich kannte seine. Alle anderen verließen die Tanzfläche, um uns zuzuschauen, und ich war bei diesem Tanz zu Figuren imstande, die ich nie vorher getanzt hatte und später nie wieder konnte. Er ist nach diesem Abend verschwunden, aber für die Zeit dieses Tanzes, Peter, waren wir eins... und ich werde diesen Zauber niemals vergessen.« Sie holte tief Luft und sprudelte weiter. »Bei Ihnen und mir scheint es mir ähnlich zu sein, aber unsere Bindung ist eine geistige. Sie haben mich verändert, mich erhöht - meine Betrachtungsweise der Welt und des Lebens verändert, Peter. Es ist, als hätte ich Sie immer gekannt, Ihnen immer vertraut, Sie immer -« »Meine liebe, liebste Maggie«, unterbrach Peter sie und hielt so den Strudel ins Unbekannte auf. »Ich fürchte, wir sind vielleicht Figuren in Gottes Spiel, und keiner von uns weiß bis jetzt, wie dieses Spiel gespielt wird.« »Aber wir kennen die Spielregeln, Peter«, sagte sie erbarmungslos. »Wir können der Tatsache nicht entkommen, daß wir beide die Regeln kennen.« Sie verschränkte die Arme, um ein plötzliches inneres Frösteln abzuwehren, und stand auf; sie brauchte Bewegung. »Ich finde, es wird zu kalt, um hier zu sitzen. Vielleicht sollten wir lieber wieder reingehen.« Er war ebenso froh wie sie über das Ablenkungsmanöver. Sie kamen im selben Moment an der Glastüre an, und Maggie streifte Peter, als er sich vorbeugte, um ihr die Tür aufzuhalten; sie wußte, daß er sie berühren wollte, so wie sie wünschte,
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berührt zu werden. Sie ließen den Moment vorübergehen, und sie schritt ihm voran durch die Tür. Drinnen im Haus waren sie wieder Lehrer und Schülerin. Peter hatte die Hände tief in seine Manteltaschen geschoben. Der Stadtteil Bowery war wüst und traurig wie immer. Menschliche Wracks bevölkerten die Straßen mehr denn je. Obdachlos. Wieviel umschloß dieses eine Wort: Verlust von Wärme und Behaglichkeit, Verlust der Familie, Verlust der Würde, Verlust der Hoffnung. Es war ein bodenloser Abgrund von einem Wort, das um Wiedergutmachung zum Himmel schrie. Er las die Frühmesse, eine Aufgabe, die seit den alten Zeiten des strengen Fastens dem ältesten ansässigen Priester zufiel. Er hatte amüsiert bemerkt, daß die jüngeren Priester die Arbeit automatisch ihm zugeteilt hatten. Die freiwilligen Helfer von Catholic Worker waren natürlich in der Messe gewesen, brave, beherzte Seelen, die versuchten, Gotteswerk um Gotteslohn zu verrichten. Aber die Obdachlosen waren es, die die Stuhlreihen füllten; in ihrer Hoffnungslosigkeit schlurften sie herein, um eine Stunde bei Gott zu verbringen. Es betrübte und erheiterte ihn jedesmal zugleich, an dieser Stätte der guten Samariter Dienst zu tun. Ein stummer Schmerz begleitete ihn neuerdings; das wurde ihm beim Gehen klar. Ein seltsames Sehnen, das zuvor nicht begehrt hatte, gestillt zu werden. Maggie war in seinem Herzen, schlagend, pochend, in ihm kreisend, zusammen mit seinem eigenen Blut. Maggies Gesicht war in seinem Kopf - er brauchte nur die Augen zu schließen, um sie zu sehen, sich nach ihrer Ge sellschaft zu sehnen, sie zu begehren. Er verdrängte den unerwünschten, undenkbaren Gedanken. Was hatte sie an sich, das seine Abwehr unterschwellig durchbrach? In ihr war ein Frohsinn, den nicht einmal die Schrecken, mit denen sie augenblicklich konfrontiert war, auszulöschen vermochten. Schon bei der geringsten Herausforderung sprudelte er an die Oberfläche. Vielleicht war es diese unwahrscheinlich positive Lebenseinstellung in ihr, in die er einzutauchen begehrte.
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O Herr, wir bitten dich, erhebe deine Macht und komme, auf daß wir durch deinen Schutz verdienen, aus den drohenden Gefahren unserer Sünden errettet zu werden. Seine Mutter war wie Maggie gewesen: fröhlich, trotz Not und Elend, gütig im Angesicht von Armut und Leid. Sie hatte immer an ihn geglaubt, an seine Begabung, an seine Liebe zu Gott. Sein Vater hatte seine Entscheidung, Priester zu werden, als kränkend und bedrohlich empfunden. »Das ist nichts für einen Mann, mein Sohn. Lauter Eunuchen, die ganze verdammte Bande! Woher, zum Teufel, nehmen sie sich heraus, richtigen Männern Vorschriften über irgendwas zu machen, und dann noch ausgerechnet über Sex, Ehe und Kinder.« Jacques Messenguer war es peinlich gewesen, seinen MachoFreunden zu erzählen, daß sein Sohn, ein Mannsbild von fast einem Meter neunzig, ein Leben als Eunuch plante. Aber sie hatte es verstanden. Nicht nur, daß es sein Weg heraus aus einer begrenzten Welt war, die seinem Intellekt nichts zu bieten hatte, sondern auch, daß er die Liebe nicht zurückwies, sondern sie in einer höheren Form suchte. Im stillen segnete er das Andenken seiner Mutter, wie er es seit ihrem Tod schon tausendmal getan hatte. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht klar geworden, wie sehr er durch all die Jahre ihren Frohsinn vermißt hatte. O Maggie, Maggie. Was fange ich mit dir an? Selbst wenn ich frei wäre, würde ich es nicht wissen. Und ich weiß nicht einmal, ob ich frei sein will... Peter bog an der West Fourth Street um die Ecke und ging in Richtung Fluß. Er mußte seinen Kopf befreien von Maggie, der Frau, bevor er Maggie, der Schülerin, helfen konnte, das zu lernen, was sie wissen mu ßte. Er unterrichtete sie jetzt täglich, und er war ein guter Lehrer, das wußte er von seiner Zeit in der akademischen Welt. Vielleicht sogar ein großer Lehrer, wenn es um ein gewisses schwieriges Gebiet ging... Und Maggie war eine großartige Schülerin. Sie lernte ausgesprochen gern, war begierig nach Wissen - begeistert von den intellektuellen Sprüngen, die zum Verständnis der Themen, die er vorbrachte, notwendig waren. Und sie hatte ein erstaun-
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liches Gedächtnis. Sie war nicht das Problem bei diesem Austausch. Das Problem war, was er ihr beibringen sollte. Er hatte sie anhand seiner eigenen Erfahrungen mit Exorzismus gelehrt, sich dem Feind in jeder Verkleidung zu stellen, so daß sie nicht ganz unvorbereitet sein würde. Aber sogar dabei hatte er eine schreckliche Verzweiflung über die Unzulänglichkeit seines Unterrichts gespürt, denn man kann einen anderen Menschen nicht auf einen so unirdischen Ansturm vorbereiten. Ebensowenig kann man die Ungeheuerlichkeit der negativen Energie erklären, die er darstellt... einer Energie mit ihren eigenen Wurzeln, ihrem eigenen Intellekt, ihrer eigenen Daseinsform. Als nächstes wollte er sie lehren, was die großen Geister über Gott und das Böse gesagt hatten, aber sie wußten beide nur zu gut, daß das Böse kein theoretischer Begriff ist. Es ist heimtückisch und weiß sich geschickt zu verkleiden. Der Augenblick der Konfrontation erfolgt auf der Straße, im Büro oder im Ehebett, wo Entscheidungen aus sachlichen menschlichen, nicht dogmatischen Gründen getroffen werden müssen. Er hatte sie gelehrt, was er über Mensch und Gott zu wissen glaubte. Aber er hatte deutlich erkannt, daß ihre Odyssee in der realen Welt aus Eeben, Liebe, Arbeit, Ehe und Familie umgekehrt auch sie befähigte, ihm etwas beizubringen. Neige unserem Gebet dein Ohr, wir bitten dich, o Herr, und erleuchte die Finsternis unserer Seelen durch die Gnade deines Beistandes. Er wollte morgen wieder nach Rhinebeck, um die Bibliothek zu benutzen. Es gab ein paar Hinweise, die vielleicht Klarheit bringen würden, und James war dort. Die Aufmerksamkeit eines Freundes ist in unruhigen Zeiten der beste Trost. Der Fluß sah schwarz und schmutzig aus. Armer Hudson, dachte er. Die Menschen in ihrer Geldgier haben sogar dir Böses angetan. Böses gab es im Überfluß. Es war überall, in Nutzen, Ehrgeiz, Gier und Not gleichermaßen. Und fast immer hüllte es sich in eine schlecht erkennbare Verkleidung. Sogar in schlichte Unterlassung. »Das einzig Notwendige für den Triumph des Bösen ist, daß
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genügend Menschen nichts tun«, hatte Burke gesagt. Peter seufzte und betete um Eingebung. »Et clamor meus ad te veniat«, murmelte er. Laß mein Rufen zu dir kommen... Er wollte sie lehren, was er wußte, und alles Übrige Gott überlassen. Cody war atemlos, bis Ghanias Schritte verklangen... dann wartete sie noch ein wenig länger. Manchmal erschien Ghania, wenn man sie gar nicht kommen hörte, deswegen mußte man sehr vorsichtig sein. Die Augen ängstlich auf die Tür gerichtet, zog das kleine Mädchen den Teddy hervor und tastete in seinem Hals nach ihren Schätzen. Sie waren noch da. Sie atmete befreit auf. Ein goldener Knopf, ein Wollfaden, der von Mims Pullover stammen könnte, zumindest sah die Farbe genauso aus, also wäre es möglich... eine winzige Muschel von der Stelle im Sand, wo Mim gestanden und ihr von dem geheimen Platz in ihren Herzen erzählt hatte. Und es war noch Platz für mehr Sachen, wenn sie sie nur finden könnte. Cody nahm ihre Schätze einen nach dem anderen heraus und rieb sie liebevoll an ihrer Wange. Wenn sie das tat, kamen ihr jedesmal Bilder in den Kopf. Bilder von Mim. Manchmal waren es Szenen von früher, an die sie sich erinnerte, aber nicht immer. In letzter Zeit kamen auch neue Bilder. Sie hatte Mim zweimal weinen sehen. Und einmal hatte sie sie mit einem großen Mann auf der Straße gehen sehen. Einmal hatte sie sogar ihre Stimme gehört... Ein Geräusch im Flur erschreckte das Kind, und es stopfte seine Schätze hastig in den Teddy zurück. Cody schob ihn unter die Bettdecke, lauschte auf ihren Herzschlag, bum-bum, bumbum, in ihrer Brust. So schlug es, wenn sie sich richtig fürchtete. Die Tür ging auf, und Ghanias Augen sahen sich prüfend um, und zufrieden, daß alles still war, ging sie wieder hinaus. Cody lächelte unter der Decke. Sie hatte jetzt ihre Zauberschätze, die sie Mim sehen ließen, und sie hatte den Platz in ihrem Inneren, wo sie ihre Geheimnisse verwahrte. Und Ghania wußte nichts davon.
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31 Abdul Hazred läutete an Maggies Tür; er hatte ein Buch in der einen Hand und eine Flasche Wein in der anderen. Maria Aparecida führte ihn mit bedeutungsvoll gerunzelten Augenbrauen ins Haus und stapfte davon, um Maggie zu holen. »Der Ägypter, hab ihn in den Salon gebracht, Dona Maggie«, sagte sie mit geringschätziger Miene. »Er ist wohl nicht nach Ihrem Geschmack, wie?« entgegnete Maggie amüsiert. »Moses konnte die auch nicht leiden«, deklamierte Maria bühnenreif und trat ab, und Maggie mußte ein Lachen unterdrücken, als sie ging, ihren Gast zu begrüßen. »Guten Abend, Dr. Hazred«, sagte sie. »Ihr Anruf war eine Überraschung.« »Bitte seien Sie so gut, mich Abdul zu nennen«, entgegnete er. »Dann weiß ich, daß Sie mir gewogen und gewillt sind, meine Hilfe in der Sache mit den Amuletten anzunehmen.« »Gerne, Abdul«, stimmte sie zu, »aber ich weiß noch nicht recht, welche Art von Hilfe Sie glauben, mir bieten zu können.« Er übergab ihr den Wein. »Ich bedaure, daß meine Heimat sich in der Erzeugung von Wein nicht hervortut, weshalb ich zumindest in dieser Hinsicht widerwillig mit den Franzosen Frieden schließen muß. Diesen Jahrgang liebe ich besonders... ich dachte, wir könnten vielleicht ein Gläschen davon genießen, während wir darüber sprechen, auf welche Weise ich Ihnen zu Diensten sein könnte.« Er war ausgesprochen charmant, fand Maggie. Vielleicht sollte sie ihre Antipathie einfach auf die Chemie zurückführen und ihn anhören. »Wenn Sie Platz nehmen, Abdul, und mir erzählen, was Sie im Sinn haben, verstehe ich vielleicht besser, worauf es Ihnen ankommt.« Sie deutete auf einen Sessel, und er folgte ihrer Aufforderung, während sie zur Bar ging und die Weinflasche entkorkte. »Wie ich Ihnen bereits sagte, Maggie, verfolge ich die Ge schichte des Isis -Amuletts und des Sekhmet-Steins seit vielen
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Jahren. Tatsächlich ist es unterdessen für mich eine Art Besessenheit geworden - wenngleich eine wissenschaftliche. Ich habe immer gewußt, daß die Materialisation zu meinen Lebzeiten eintreten würde, und wegen dieser Möglichkeit habe ich alle denkbaren Wege der Nachforschung beschritten. Als Sie Verbindung mit dem Museum aufnahmen, sagte mir mein Instinkt, daß die Botin sich unter uns begeben hatte. Es erübrigt sich wohl zu sagen, daß ich ihr unbedingt begegnen möchte.« »Ich verstehe. Sie möchten einfach Cody vorgestellt werden ... Sie haben keine Informationen, von denen Sie annehmen, daß sie hilfreich sein könnten?« Hazred machte eine gekränkte Miene. »Oh, ganz im Gegenteil, Maggie. Wenn Ihre Enkeltochter die Eine ist, muß sie auf ihre Mission vorbereitet werden. Im geheimen sprechen wir von Erweckung. Sie müssen wissen, im Gegensatz zur volkstümlichen Legende kommen die von Gott Erwählten nicht mit der vollen Beherrschung ihrer Kräfte in diese Daseinsebene. Wie Buddha, Krischna und Christus müssen sie allmählich zu ihrer großen Vision erwachen und auf dem Weg dorthin unterwiesen werden, sowohl vom Leben selbst als auch von Lehrmeistern, die ihnen zu diesem Zweck an die Seite gegeben werden. Ihrer Enkelin jedoch bleibt wenig Zeit, in ihre Begabungen hineinzuwachsen, weil der günstigste Augenblick für die Materialisation kommen wird, wenn sie noch ein Kind ist.« Er hielt in seiner weitschweifigen Ausführung inne. »Daher muß ich meine bescheidenen Dienste als geistiger Lehrer des Kindes anbieten. Ich bin sowohl königlicher als priesterlicher Abstammung. Sie werden sehen, daß ich Cody sehr viel zu bieten habe.« Maggie runzelte die Stirn. »Sie wissen offenbar nicht, Abdul, daß Cody nicht mehr bei mir ist.« »Nicht mehr bei Ihnen? Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß ihre Mutter sie entführt hat - in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks -, und mich hat man leider im Hause der Vanniers zur unerwünschten Person erklärt.« Hazred machte ein übertrieben niedergeschlagenes Gesicht.
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Der verdammte Vannier bat sein feierliches Wort gebrochen; er hatte mir die Gelegenheit versprochen, vor dem Ritual an der Erweckung der Botin zu arbeiten. Wie kann er es wagen, das Kind zu rauben, ohne es seinen Verbündeten zu sagen? Das war höchstwahrscheinlich das Werk der Hexe. Sie wollte die Erweckung, nach ihrer eigenen Methode durchführen, möge die Göttin dem armen Kind helfen. »Ich bin über diese Neuigkeit bitter enttäuscht, Maggie«, sagte er und zwang sich, seine Gedanken wieder dem Gespräch zuzuwenden. »Ehrlich gesagt fürchte ich nun ernsthaft um die Sicherheit Ihrer Enkelin. Dies ist eine äußerst heikle Angelegenheit ...« »Niemand fürchtet mehr um sie als ich, Dr. Hazred, darauf können Sie sich verlassen. Wenn ich einen Weg wüßte, wie ich sie zurückbekommen könnte, glauben Sie mir, ich würde ihn gehen.« Darauf blieb offensichtlich wenig zu sagen. Hazred verließ das Haus, und Maggie fragte sich, was er Cody wohl gelehrt haben würde, wenn sie verfügbar gewesen wäre. »Du hast mir dein Wort gegeben!« fauchte Hazred Eric an. »Du weißt so gut wie ich, wie entscheidend die Erweckung ist.« Vannier blieb trotz des Wortschwalls des Ägypters ruhig. »Die Umstände haben sich geändert, Abdul. Diese Mrs. O'Connor hat einfach zu viele Schwierigkeiten gemacht, deshalb habe ich beschlossen, das Kind ihrem Einfluß ganz zu entziehen.« »Wie kannst du es wagen, diesen Beschluß zu fassen, ohne den Rat der Dreizehn zu konsultieren?« »Ich habe es genauso gewagt, wie ich es wagen würde zu entscheiden, wer bei der Materialisation welche Rolle spielen wird, Abdul«, antwortete Eric mit einem kleinen Anflug von Unwillen. »Demokratie ist nicht annähernd so wirksam wie Autokratie, das kann ich dir versichern. Zum Beispiel habe ich dich erwählt, mir während der Zeremonie am Altar zu assistieren, obwohl die anderen zwölf sich für genauso geeignet halten.« »Ach, du wirfst mir einen Knochen hin?« erwiderte Hazred
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verächtlich. »Meine Abstammung und mein Talent sind es, die mich in der betreffenden Nacht an den Altar stellen werden nicht dein noblesse oblige.« »Wie du willst, Abdul, aber da der Würfel bereits gefallen ist, was das Kind betrifft, wirst du sicherlich einsehen, daß es klug ist, diese kleinliche Streiterei beizulegen, bevor wir beide ernsthaft aneinander geraten.« Hazred war wütend, aber da er die Vergeblichkeit seiner Haltung einsah, verließ er das Anwesen der Vanniers mit aller Würde, die ihm zu Gebote stand. Eric hatte in dieser Angelegenheit offensichtlich eigene Pläne. Aber er selbst natürlich auch.
32 Peter hatte seit dem frühen Morgen im Büchermagazin gearbeitet. Er hatte ni diversen Sprachen kopiert, geschrieben, Vergleiche angestellt. Papiere bedeckten den großen Tisch, und auf dem Fußboden lag stapelweise Quellenmaterial verstreut, wie zur Erde zurückgekehrte Satelliten. Je mehr er las, desto miserabler fühlte er sich. Es war unmöglich zu erkennen, was er noch glauben sollte. Wahrheit, Mythos, urbildliche Phantasien - alles lief auf Gut und Böse hinaus, der ewige Krieg, die Senkgrube für Ketzerei. Das Kind war natürlich die grundlegende Metapher. Und Maggie... Peter stützte den Kopf in die Hände, um auszuruhen; seine Schultern sackten herab, als sei ihnen eine große Last aufgebürdet worden. Schließlich stand er mühsam auf und streckte sich. Er fühlte eine größere Schwäche im Geist als im Körper; er brauchte Beistand von subtiler, tiefgründiger Beschaffenheit, wie er nur von Gott kommen konnte. Also begab er sich über den langen Flur zur Kapelle, die wohltuend klein und behaglich war. Komisch, daß er sich Gott in kleinen Kapellen oder armen Missionskirchen immer am nächsten gefühlt hatte. Gott schien sich in Kathedralen nicht wohl zu fühlen. Sie kündeten zu laut von Macht und Mammon. Christus liebte das gewöhnliche Volk mehr als die Könige. Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr
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gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. Das war natürlich ein Übersetzungsfehler... Kamel hätte Seil heißen müssen, aber was machte das schon? Die Wahrheit blieb dieselbe. Seltsam, wohin die Gedanken schweiften, wenn man sie nicht unter Kontrolle behielt. Er seufzte und kniete sich ans Altargeländer, um zu beten. Jedem, der ihn dort gesehen hätte, wäre klar gewesen, daß er äußerst beunruhigt war... wie er so mit hängenden Schultern, mit über den gefalteten Händen gesenktem Kopf um Ein- oder Vergebung betete. Nach einer langen Weile erhob sich Peter und begab sich durch das Labyrinth von Gängen in den Teil des Gebäudes, der als Wohnung diente. Er blieb vor einer Tür stehen und klopfte ein wenig zaghaft an. »James«, rief er, als niemand auf das Klopfen antwortete. »Würdest du mir die Beichte abnehmen?« Ein großer, ausgesprochen gut aussehender, schwarzer Priester öffnete die Tür und blickte fragend heraus. Es war Pater James Kebede, aus Äthiopien stammend, der vertrauteste Freund, den Peter jemals hatte. Einsamkeit ist von jeher der Preis für glänzenden Verstand und Unangepaßtheit - nur wenige hielten solchen Menschen die Freundschaft; noch weniger waren unpolitisch genug, einem Beinahe-Ketzer die Treue zu halten. James und Peters Freundschaft hatte sich behutsam beim Schachspiel entwickelt. Damals hatten sie sich eifrig in Ge spräche vertieft, die Glauben, Moral und den Zustand der Menschheit betrafen, um die Mysterien von Gottes erstaunlicher Schöpfung zu erforschen. Peter hatte in dem Jüngeren einen wahren Gläubigen entdeckt - heutzutage war es eine Seltenheit, innerhalb der Kirche jemand mit einem unabdingbaren Glauben zu finden. Es hatte ihn belebt wie ein Zeichen Gottes. James glaubte an den Unterschied zwischen Gut und Böse, an die Existenz von Dämonen und an die höchste, den Geist betäubende Macht Gottes, aber nicht, weil er dumm oder einfältig war, sondern ganz im Gegenteil. Pater Peter mochte und bewunderte ihn sehr und hatte ihn bei vier verschiedenen Gele-
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genheiten gebeten, ihm bei der Ausübung von Exorzismus zur Hand zu gehen. »Hast du eine Beichte nötig, mein Freund?« fragte James mit mildem Lächeln. »Oder brauchst du jemand, um mit ihm dieses große, rätselhafte Universum in Frage zu stellen, das Gott uns zuteil werden ließ?« Er war größer als Peter und so kraftvoll gebaut wie ein Massai-Krieger. Doch er bewegte sich mit einer sanften Zaghaftigkeit, als ob er die Welt nicht stören wollte, wenn er sie durchschritt. »Vielleicht beides«, erwiderte Peter, und James fiel auf, daß der Ältere erschöpft und besorgt aussah. »Ich könnte deinen Rat gebrauchen, James.« »Wie gut mein Rat ist, steht dahin«, antwortete James mit gutmütigem Lachen. »Daß ich ihn dir gerne gebe, ist gewiß.« Die zwei Männer gingen in die große Pfarrhausküche, und Peter setzte sich an den Tisch, während Pater James mit umständlichem Zeremoniell Tee zubereitete. Zuerst wärmte er die Steingutkanne auf englische Art mit heißem Wasser, dann beobachtete er bedachtsam die aufgebrühten Blätter, bis sie den richtigen Zustand zum Einschenken erreichten. Er hatte Peter einmal erzählt, er verwende viel Mühe auf die Zubereitung von Lebensmitteln, weil sie in seiner Heimat so knapp seien; er finde, daß sie stets mit Ehrfurcht und Dankbarkeit behandelt werden müßten. Er hatte ihm auch von den Schakalen erzählt, die nachts von den Bergen herunterkamen, um die hungernden Kinder zu verschlingen, die in den Straßen von Addis Abeba schliefen... »Du hast deine Freude an den kleinen Dingen der Schöpfung, mein Freund«, sagte Peter, während er ihm zusah. »Ja, aber du siehst, wie gleichmäßig Gott die Arbeit im Universum verteilt hat, Peter. Ich soll mich der kleinen Dinge annehmen, und du sollst dich der großen annehmen... vielleicht gar Gottes Plan enträtseln. Ist es das, was dich heute abend bedrückt, mein Freund?« Peter lachte, wie James es beabsichtigt hatte, und schüttelte den Kopf. Dem Lachen zum Trotz sprach eine durchdringende Traurigkeit aus jeder seiner Gesten.
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»Nichts so Erhabenes, James«, sagte er ruhig. »Aber trotzdem schwierig. Es geht um ein Kind... und eine Frau... beide brauchen Hilfe, die ich ihnen vielleicht geben kann. Und ich will helfen ... mehr, als ich seit sehr langer Zeit etwas gewollt habe. Ich habe fast das Gefühl, daß ich irgendwie dazu bestimmt bin. Aber...« James sah fragend auf, und Peter hob den Blick, um seinem Freund in die Augen zu sehen. »Ich finde sie anziehend, James, auf eine Weise, die ich seit langem überwunden glaubte. Ich dachte, in diesem fortgeschrittenen Alter wäre ich frei von den Versuchungen des Fleisches, aber etwas an dieser Frau hat mich aufgewühlt.« James hob vielsagend die Augenbrauen. Dies war kein leichtes Geplänkel; es war eine Herausforderung, der jeder Mann sich allein stellen mußte. Ein einsamer Kampf. »Du bist sowohl Mann als auch Priester, Peter«, sagte James verständnisvoll. »Solange wir im Leibe sind, sind wir des Leibes. Du hast einen harten Weg gewählt, um deinem Gewissen zu folgen.« Er dachte einen Moment nach - es gab so viel zu sagen, und nur so wenig, das wirklich helfen konnte. »Erinnerst du dich an den Teufel im sechsten Kreis, mein Freund?« fragte er schließlich. Peter nickte. »Bei den chinesischen Weisen heißt es«, erwiderte er mit wehmütigem Lächeln, »daß für jeden Menschen, der sich der Erleuchtung nähert, die letzte Prüfung, die er durchlaufen muß, bevor er das Wissen von Gott erlangt, die Prüfung des Teufels im sechsten Kreis ist. Er ist der listigste aller Teufel, denn er verwendet unsere Stärken ebenso gegen uns wie unsere Schwächen. Für ihn gelten die Regeln der Fairneß nicht... er lügt, er betrügt, er verlockt uns zu Zugeständnissen, und er kennt uns besser, als wir selbst uns kennen.« »Aber du mußt bedenken, Peter«, erwiderte der Jüngere sanft, »er ist sowohl Freund als Feind, denn er ist der Ansporn, der uns zu unseren größten geistigen Leistungen antreibt. Um ihn zu überwinden, müssen wir mehr sein als die Summe unserer Teile... wir müssen Diener, Krieger, Lehrer, Priester und Weiser sein. Das alles können wir sein, Peter. Denn er ist der letzte Widersacher.«
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»Was rätst du mir, James?« fragte Peter, so ernst, als sei dies der Tag des Jüngsten Gerichts. »Diese Frau, mein Freund«, erwiderte James. »Mir scheint, sie könnte für dich der Teufel im sechsten Kreis sein. Und du könntest dem Ende deiner Reise sehr nahe sein.« Peter starrte den jungen Priester an, während er über die Bedeutung seiner Mutmaßungen nachsann. »Steh mir bei, James«, sagte er fest, die Stimme angespannt vor Konfusion. »Ich habe das Gefühl, daß der Herr Anforderungen an mich stellen wird, die ich nur unter großen Mühen erfüllen kann. Ich könnte einen Freund brauchen.« »Den hast du ganz sicher«, erwiderte James mit leiser Bestimmtheit. Die zwei Männer sprachen bis in die Nacht, und Peter enthüllte die merkwürdige Geschichte, die ihn plagte. Als er später in sein Zimmer zurückkehrte, zog er ein Buch aus dem Regal neben dem Bett und blätterte darin; er suchte eine Passage, die er in Erinnerung hatte, und als er sie fand, setzte er sich aufs Bett und las: »Der Teufel im sechsten Kreis ist der mächtigste aller Teufel. Er nimmt jemandes Monarch, Eltern, Ehefrau oder Kinder, Glaubensbrüder oder übelgesinnte Menschen in Besitz, und durch sie wird er auf freundliche Weise versuchen, dich abzubringen von deinem Weg zur Erleuchtung. Oder er wird ganz offen gegen dich kämpfen. Er ist der letzte Widersacher, und der tödlichste.«
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3. TEIL
Der Konflikt Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch - ein Seil über einem Abgrund. Friedrich Nietzsche
33 »Ich dachte, ich schau mal kurz vorbei, wie's Ihnen geht, Maggie.« Dies waren Devlins Worte, als er in Maggies Diele stand. Sie lächelte matt und führte ihn in den Salon. »Ich will Ihnen sagen, wie's mir geht, Dev«, erwiderte sie wehmütig. »Ich habe allmählich das Gefühl, mein Leben ist wie eine dieser Schlagzeilen, die man im Supermarkt liest - ›Zweiköpfiges Kind tötet achtzehn Personen, dann sich selbst.‹ Eine Folge von unmöglichen Absurditäten.« Er lachte kurz auf. »Wenn man lange genug Polizist ist, Maggie, stellt man fest, daß das Leben von allen Menschen so ist. Jemand hat einmal gesagt, das Leben ist eine von einem Idioten erzählte Geschichte. Tragödie oder Triumph, je nachdem... aber nie das, was man sich erwartet hat. Sehen Sie sich mein Leben an - es sieht nicht gerade so aus wie in Vater ist der Beste.« Maggie lächelte ihn nachsichtig an; in der kurzen Zeit, seit sie ihn kannte, war ihr dieser Mann sehr sympathisch geworden. »Wie war das Leben für Sie, als Sie ein Junge waren, Dev?« fragte sie. Sie ließ sich im Schneidersitz auf der großen Couch nieder und bedeutete ihm, sich zu setzen. »Sie stellen ein be-
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achtliches Sammelsurium an Ingredienzien dar... ich habe mir alle möglichen interessanten Anfänge für Sie ausgedacht.« Er lächelte, und wenn er lächelte, kam es ihr wie Sonnenschein nach dem Regen vor; plötzlich und unerwartet, und sie fragte sich, ob es in seinem Leben viel zu lächeln gab. »Da ich in der South Bronx aufgewachsen bin«, antwortete er, »könnte man sagen, meine Erziehung bestand zu gleichen Teilen aus Sex, Religion und der edlen Kunst der Selbstverteidigung. Die Religion war ein Geschenk der Nonnen, Sex war ein Geschenk der sechziger Jahre, und die Faustkämpfe lernte ich, weil ich auf dem Weg zur Schule acht Häuserblocks entlang durch ein Viertel gehen mußte, wo irischer Charme nicht gefragt war.« Maggie stellte fest, daß Devlin sie immer wieder zum Lachen brachte. »Meine Familie war natürlich demokratisch eingestellt, weil die Demokratische Partei uns in schweren Zeiten zu futtern gab und allen Jungs in der Familie Arbeit verschaffte. Demokrat zu sein, das ist in einer armen Gegend keine politische Einstellung, Maggie, sondern schlicht eine Lebensauffassung. Kein Mensch hat je davon gehört, daß ein Republikaner einer Witwe einen Lebensmittelkorb gebracht oder ihren Sohn aus dem Knast geholt hätte.« Er lachte gutmütig. »Wenn man's recht bedenkt, hat kein Mensch je von einem Republikaner gehört.« Sie hörte ihn gerne reden. Seine Sprache war eine faszinierende Mischung aus Straßenjargon und unerwarteter Poesie... der ungekünstelte Rhythmus eines Straßensängers. »Ich wuchs auf... und ging nach Vietnam, weil ich dachte, daß es von mir erwartet wurde, und weil die anderen Jungs auch gingen. Da habe ich die weitere Welt kennengelernt.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, nicht einmal die Bronx hatte einen auf diese Brutalität vorbereiten können. »Ich war jung... und ganz schön idealistisch damals«, fuhr er fort. »Es war ungeheuer schockierend zu sehen, wie unmenschlich Menschen von Menschen behandelt wurden. Wenn man einen Alptraum wie Vietnam durchgemacht hat, fragt man sich später immer wieder, warum man überlebt hat. Warum ich, lie-
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ber Gott, und nicht Jimmy oder Fredo oder Petrie? Warum bin ich davongekommen? Was willst du dafür von mir? Diese Fragen haben mich zur Poesie geführt, so verrückt das klingt. In dem gottverlassenen Sumpf war sie das einzige, um das Leben und die Möglichkeit zu bestätigen, daß irgendwo noch Schönheit existierte.« Wieder schüttelte er den Kopf; in seinen Augen stand der Schmerz der Erinnerung. »Ich habe immer gerne gelesen - und mir in meiner Phantasie Dinge vorgestellt, die anders waren als bei uns. Das habe ich wohl von meiner Mutter... das Gefühl, daß Armut nicht alles im Leben und daß alles möglich ist.« Er schwieg eine Weile. »Als ich zurückkam, habe ich studiert und ganz gut abgeschnitten. Ich hatte das Gefühl, daß die Zeit drängte, weil ich soviel Tod und Sterben gesehen hatte. Ich hatte schon ein Jahr Jurastudium hinter mir, als ich Jan heiratete. Und dann bin ich zur Polizei gegangen, Maggie. Der militärische Drill kam mir gelegen; er bot eine gewisse Sicherheit... und die Chance, in einer verkorksten Welt etwas Gutes zu tun.« Er seufzte. »Ich besuchte die Abendschule, sooft ich konnte. Es hat lange gedauert. Irgendwie hielt mich diese Disziplin in Gang, als alles schiefging... sie hielt meinen Verstand im Lot, als das Chaos sich ausbreitete.« »Hatten Sie mal die Absicht, einen juristischen Beruf zu ergreifen?« fragte sie, gerührt und neugierig. Er sah sie an, bevor er antwortete; in seinen Augen stand ein starkes Verlangen, verstanden zu werden, ohne erklären zu müssen. Du wirst mich kennenlernen, wenn du die Richtige bist, sagte sein Blick. Du wirst verstehen, was sich nicht erklären läßt. »Ich weiß die Antwort auf diese Frage nicht, Maggie. Ich habe die Rechtswissenschaft geliebt... ihre Ordnung, ihre Logik, ihre zwingende Kraft. Aber ihre praktische Anwendung ließ mich eigentlich kalt. Die Arbeit bei der Polizei macht mir Spaß, und ich bin mit Leib und Seele Kriminalpolizist. Manchmal sehe ich sogar, daß die Gerechtigkeit zum Zuge kommt. Dieses Gefühl habe ich bei der Juristerei nie gehabt. Da zieht die Gerechtigkeit scheinbar immer den kürzeren.«
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»Dann konnten Sie als Kriminalpolizist das System zum Funktionieren bringen, und als Jurist hatten Sie das Gefühl, daß es nicht funktionieren würde?« »So ungefähr.« »Ist das ein gutes Leben für Sie, Dev? Von außen sieht es hart und unerbittlich aus.« Die Hände tief in die Taschen geschoben, lehnte er sich an die Couchkissen. Seine Augen waren voll Erinnerungen. »Manchmal ...« begann er und atmete tief und bedeutungsschwer ein. »Da gab es einmal einen Fall...«, fuhr er zögernd fort. »Jeder Polizist hat einen, den er nie vergißt, Maggie. Für mich war es dieser. Wir wurden zu einem Mietshaus gerufen, weil die Nachbarn Schreie hörten. Im Wohnzimmer fanden wir das, was von einer jungen Frau übrig war... tot, vergewaltigt, verstümmelt. Ich war der erste Polizist, der ins Schlafzimmer kam.« Er machte eine Pause. »Ein großer Teddybär - so einer, wie man sie auf Jahrmärkten gewinnt - saß auf einem blutdurchtränkten Bett. Er bewegte sich. Hinter ihm war ein kleines Kind. Ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre alt. Sie hatte sich da versteckt, wimmerte, zu schwach zum Weinen, versuchte aber immer noch, sich vor dem ›bösen Mann‹ zu verstecken. Er hatte ein dutzendmal auf sie eingestochen und ihr den Bauch aufgeschlitzt.« Es war ihm anzusehen, wie nahe ihm die Erinnerung ging. »Herrgott, ich hätte sie gerne in die Arme genommen und ihr gesagt, daß alles gut würde... aber ich hatte Angst, sie zu berühren, so grausam waren die Verletzungen. Da nahm ich ihre Hand, und sie wollte sie nicht mehr loslassen. Sie glauben nicht, welche Kraft in den kleinen Fingern war...« Er hatte Tränen in den Augen und wischte sie mit dem Handrücken fort. »Ich habe sie jeden Tag nach der Arbeit im Krankenhaus besucht. Sie war klein in dem Krankenbett, an tausend Schläuche und Monitore angeschlossen. Sie lag im Koma, aber ich habe zu ihr gesprochen, Maggie, ich habe ihr vorgesungen. Ich bildete mir ein, die anderen Jungs dachten, ich wäre übergeschnappt, aber das dachten sie nicht. Es hat eine Woche gedauert, bis sie
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starb.« Er seufzte. »Als sie tot war, war ich Gott dankbar, denn mit dem, was ihr angetan worden war, hätte kein Mensch weiterleben können. Kein Mensch sollte mit so etwas leben müssen.« Er lehnte den Kopf an die Couch und starrte zur Decke. »Es hat sehr lange gedauert, bis wir den Kerl erwischt haben«, sagte er. »Gott, Sie leben in einer gräßlichen Welt, Dev«, flüsterte Maggie, bewegt und traurig. »Und doch scheinen Sie an ein glückliches Ende zu glauben...« Er lächelte plötzlich und sah ihr ins Gesicht. »Wichtiger noch, ich glaube an eine glückliche Mitte.« »Was heißt das?« »Daß man nicht immer für die Zukunft leben kann. In meinem Job, Maggie, gibt es nur ein Heute. Man muß lernen, ihm soviel Freude abzugewinnen, wie man kann.« Maggie sah Devlin an und fragte sich, was sie für ihn emp fand. Er machte sie nervös, auf verstörende, unerwartete Weise, und er gab ihr das Gefühl, beschützt zu sein, als sei wieder jemand da, dem es nicht gleichgültig war, was aus ihr wurde. Es ging etwas aus von diesem Mann, der geprägt war von der Klugheit, die ein hartes Leben mit sich bringt, von einer großen Kraft und Ausdauer. Sie beobachtete ihn jedesmal genau, wenn sie zusammen waren, und falls ihr Wunsch, ihn näher kennenzulernen, mit der Furcht einherging, verletzt zu werden, so war diese Furcht sehr gering. Er hatte einen braunen Haarschopf, der liebenswert war, weil er sein rauhes Äußeres jungenhaft erscheinen ließ. Und er hatte einen messerscharfen Intellekt und für inhaltsloses Ge plauder nichts übrig. Ohne mit ihm geschlafen zu haben, wußte sie, wie er im Bett sein würde. Eine beharrliche Natur, kraftvoll, drängend hinter der nachdenklichen Fröhlichkeit. Ihre Gespräche hatten jetzt einen Rhythmus bekommen. Sie begannen jedesmal wieder dort, wo sie zuletzt aufgehört hatten. Im Bett würde es genauso sein. Maggie war ein wenig erschrocken, wohin ihre Gedanken
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trieben. Wie ließen sich gedankliche Streifzüge solcher Art in Einklang bringen mit dem, was sie für Peter empfand? »Was meinen Sie, was ich jetzt tun soll, Dev?« fragte sie, alles andere beiseite schiebend. »Wie kann ich aus diesem Labyrinth herausfinden?« Er hörte die Not in ihrer Stimme, den Schmerz, und noch etwas Undefinierbares. »Ich meine, Sie sollten mich das tun lassen, wovon ich was verstehe, Maggie«, erwiderte er ruhig. »Das Gesetz ist hierbei nicht auf unserer Seite, solange ich nichts von dem Schmutz beweisen kann, den ich über Vannier zutage fördere. Wenn es mir gelingt, können Sie mit staatlicher Hilfe rechnen, um Cody zurückzubekommen. Ohne Beweis haben Sie nicht die geringste Chance.« »Haben Sie denn schon etwas herausgefunden, das uns weiterhelfen kann?« Er wandte die Augen ab. »Ich habe genug gefunden, um zu wissen, was ich vor mir habe... aber es genügt nicht als Beweis. Polizeiarbeit braucht Zeit. Vor allem, wenn es sich nicht um eine offizielle Ermittlung handelt. Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, Maggie, aber Sie müssen Geduld haben. Es mag Ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen, aber Cody ist erst acht Wochen fort.« Maggie war so still, daß er ihren Herzschlag zu hören glaubte, dann sagte sie leise, bedächtig: »Jeden Tag, Dev, wache ich auf und denke, ist sie verletzt? Ist sie tot? Ist sie jetzt auch ein Schreier? Wie lang muß jeder Tag dem Kind vorkommen? Wie entsetzlich ist jede Nacht?« Er sah ihr einen Moment stumm in die Augen. »Ich verstehe Sie, Maggie«, sagte er heiser. »Ich verstehe Sie genau.«
34 Jenna saß nackt an ihrem eleganten Schminktisch. Was sie in dem antiken Spiegel sah, war durchaus bewundernswert. Eine Spur zu dünn vielleicht, aber die vollen, stolzen Brüste schienen ihr ein hinreichender Ausgleich für den Makel. Ihr Bauch war durch Codys Geburt nicht erschlafft, und die Einstiche waren
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längst nicht mehr so stark zu sehen, seit sie angefangen hatte, zwischen den Zehen und an anderen Stellen zu spritzen. Sie hatte den größten Teil des Vormittags damit verbracht, Frisuren und Make-up auszuprobieren. Sie schürzte die Lippen und bewunderte ihren schimmernden Schmollmund, dann runzelte sie die Stirn, weil sie ein verirrtes Haar in der Augenbraue entdeckte. Jenna zupfte es aus und überprüfte ihre Brauen noch einmal mir der Sorgfalt eines Chirurgen. Sie konnte alle Zeit der Welt darauf verwenden, schön zu sein. Ghania kam ohne anzuklopfen ins Zimmer und trat an Jennas Schminktisch. Scheinbar übersah sie die Nacktheit der Dame des Hauses, doch in Wahrheit warf sie einen geübten Blick auf die beinahe vollkommene Figur. Sie hatte immer die Körper für Erics Bett ausgesucht, seit er ihrem eigenen Lebewohl gesagt hatte, und dieser war eines der schönsten Exemplare, die sie auf diesem Kontinent gefunden hatte. Ghania stellte Cody neben Jennas Sitzbank auf den Boden, und das Kind lief freudig zu seiner Mutter, kletterte Trost suchend auf ihren Schoß. »Hallo, mein süßer kleiner Schatz!« gurrte Jenna mit theatralischem Überschwang. Sie umarmte das Kind, küßte es geräuschvoll und stellte eine übertriebene Freude über Codys Erscheinen zur Schau. Ghania stand geduldig daneben und beobachtete das Spiel; sie wußte, es war immer nur flüchtig. »Soll ich Ihnen Ihre Tochter den Vormittag über hier lassen, Madame Vannier?« fragte die Kinderfrau mit spöttischer Unterwürfigkeit, aber Jenna entging diese Nuance. »Oh, ich würde mich liebend gerne um sie kümmern, Ghania, wirklich«, erwiderte Jenna mit einem matten Lächeln, »aber ich habe gerade furchtbar viel zu tun. Sie wissen ja, Eric möchte, daß ich jederzeit perfekt aussehe, und meine Nägel sind in einem schrecklichen Zustand. Könnten Sie sie nicht im Auge behalten?« Cody, die verstand, daß Mami sie wieder fortschicken wollte, legte ihre Arme um Jenna und klammerte sich fest. Sie sah ihre Mutter kaum noch, aber wenn, dann war es lustig. Für ein paar Minuten. Und mit Mami zusammenzusein war entschieden
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schöner als mit Ghania. Mami tat ihr nie weh... auch wenn sie sie manchmal traurig machte. »Ich will mit dir spielen, Mami«, flehte Cody. »Bitte, Mami, bitte laß mich bei dir bleiben!« Jenna hob das kleine Mädchen in die Höhe und bedeckte sie mit schnellen Küßchen, wobei sie darauf achtete, daß ihr Makeup keinen Schaden nahm. »Ich hab dich ja so lieb, Cody«, erklärte sie theatralisch. »Aber Mami hat gerade schrecklich viel zu tun. Daddy kommt jede Minute nach Hause, und wir haben heute abend viele Gä ste, da muß Mami sehr schön sein.« Während sie sprach, befreite sich Jenna geschickt aus Codys Umarmung und schob das Kind zur Kinderfrau. Ghania streckte die Hand nach Cody aus und streifte Jennas Brustwarze. Es hätte Zufall sein können. Da Cody die Vergeblichkeit weiteren Protestes einsah, ließ sie sich von Ghania in die Arme nehmen; der Schmerz über die Zurückweisung stand in ihrem Gesichtchen geschrieben. Jenna warf ihr Kußhände zu, als sie gingen, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie ihre Schritte verhallen hörte. Sie streckte sich träge und berührte verlangend ihre Brustwarze; Ghanias Hand hatte Begierde in ihr geweckt. Später wollte sie um eine Massage bitten; niemand konnte so sinnliche Massagen verabreichen wie Ghania. Der bloße Gedanke daran erregte sie, und sie fühlte, daß sie feucht wurde. Doch fürs erste hatte sie andere, dringendere Bedürfnisse. Jenna öffnete ihre Nachttischschublade, und vor sich sah sie alle Utensilien zur Befriedigung ihrer Sucht in erfreulicher Unordnung: Löffel, weißes Pulver, Evian-Wasser und einen kleinen Petroleumbrenner. Sie betrachtete kritisch ihre Arme und Hände und suchte eine geeignete Vene; und als ihr einfiel, daß der Einstich nicht zu sehen sein durfte, weil Eric sonst fuchsteufelswild würde, entschied sie sich schließlich für eine Beinvene, die dem Blick am besten verborgen war, und machte sich daran, genug Heroin in ihren Körper zu injizieren, um alles auszulöschen, was in ihrem neuen Leben nicht vollkommen war. Sie hatte Cody in Ghanias Obhut schreien gehört... sie hatte den Keller besichtigt... sie hatte an Ritualen teilgenommen, an
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die sie sich lieber nicht erinnerte. Aber sie konnte heute wirklich nichts daran ändern, dachte sie, als sie in ein angenehmes Vergessen glitt. Und was das Leben mit Eric sonst zu bieten hatte, war ein lohnender Ausgleich. Minuten vergingen. Sie fühlte sich jetzt stärker... und freier, und sehr, sehr schlau. Schlau genug, um allem auf den Grund zu gehen. Ein bißchen später vielleicht.
35 »Du wirst tun, was ich sage!« verlangte Ghania barsch. Ihre Augen blitzten zornig; sie konnte es nicht leiden, wenn man ihr trotzte. »Nein.« Cody schüttelte heftig den Kopf. Sie biß sich auf die Lippe und wich zurück, wobei sie verzweifelt versuchte, im Geiste Verbindung mit Mim aufzunehmen. Hätte sie doch nur den Knopf bei sich... »Du wirst tun, was ich sage, oder ich lasse dich heute nacht wieder bei Malikali schlafen. Im Dunkeln, ganz allein.« Cody hatte den Mund grimmig zusammengepreßt, aber ihr Widerstand bröckelte bei der Erwähnung der großen Schlange. Kalt und furchterregend, aber nicht schleimig, wie sie gedacht hatte, sondern viel schlimmer... kalt wie der Tod und so stark, daß sie einem den Atem nehmen konnte, wenn sie zudrückte. Obwohl Ghania die Schlange im Käfig neben ihrem Bett gelassen hatte, war diese Nacht die schlimmste der vielen Bestrafungen gewesen. Cody hatte dagelegen, zu ängstlich, sich zu bewegen, und gehört, wie die Schlange umherglitt und sich gegen die Gitterstäbe drückte... Nicht mehr ganz so entschlossen, schüttelte sie wieder den Kopf und wich noch ein Stück zurück, aber dann war hinter ihr die Wand, und sie konnte nicht weiter. Das kleine Mädchen drückte sich in die Ecke, als die riesengroße Frau ihr abermals das eklige Getränk hinhielt. »Mir wird schlecht davon«, sagte Cody leise, und sie strengte sich an, um nicht zu weinen. »Ich muß brechen.« Geruch nach Blut stieg von der schaumigen Flüssigkeit in dem Becher auf,
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nach Blut und etwas noch viel Schlimmerem. Cody hatte beim ersten Schluck gewußt, daß sie dieses Gebräu niemals trinken durfte. Ghania fluchte hörbar, ein böser, zischender Laut. Mit einem unwilligen Schnauben stellte sie den Becher auf den Tisch und packte den Arm des kleinen Mädchens mit stählernem Griff. Cody schrie auf, und ohne ein weiteres Wort zog Ghania sie aus dem Zimmer, die Treppe hinunter; es holperte und polterte schmerzhaft, als Cody sich schlingernd und zappelnd mühte, im Gleichgewicht zu bleiben. Die kleinen Beinchen strampelten, doch Ghania stürmte durch den Wohntrakt unterhalb des Kinderzimmers, ohne auf Cody zu achten. Die rückwärtige Kellertreppe hinab wurde das Kind gezerrt, in pechschwarze Finsternis. Irgendwo im Dunkeln waren Leidenslaute zu hören. Ghania brachte das schluchzende, verschreckte Kind mit einem Ruck zum Stehen und knipste die Raumbeleuchtung an. Cody versuchte, durch ihre Tränen etwas zu erkennen. Vor ihren Augen waren große Käfige wie im Zoo. Sie blinzelte und hielt entsetzt den Atem an. Die Käfige waren voll mit gemarterten Tieren. Augen quollen aus blutenden Höhlen, Beine waren abgeschnitten, Hunde, Katzen und Kaninchen auf Folterinstrumente geschnallt; es war zu schrecklich, als daß Codys Verstand es erfassen konnte. Das Kind kniff vor dem Furchtbaren die Augen zu. »Sieh nur, meine eigensinnige Kleine«, sagte Ghania triumphierend, während sie sie an den Tieren vorbeischob, bis sie vor den Käfigen mit den nackten, gequälten Männern und Knaben stehenblieb. »Die Schreier!« Der Schreck öffnete Cody die Augen. Sie sah sie, kauernd und blutend in ihren Gefängniszellen, und je mehr sie sah, desto mehr fühlte sie. Die Qual der Menschen umfing sie wie ein Feuerstrom. Nie hatte sie solch nackten Schmerz empfunden. Überall, in ihren Armen, in ihrem Bauch, in ihrem Herzen. Und noch mehr als Schmerz. Qualvolle Empfindungen durchrasten sie, verheerende Empfindungen, zu stark, um von einem Kind ertragen zu werden...
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»Nein!« schrie sie und fuchtelte mit den Händen. »Nein! Nein! Nein!« hallte es als peinigendes Stakkato von den Mauern ... ein gemarterter Schrei nach dem anderen. Nur Ghanias Gelächter vermengte sich mit Codys gequälten Schluchzern. Ghania zerrte das Kind zurück ins Kinderzimmer. Wie eine schlaffe Stoffpuppe ließ sich Codys Körper ohne Widerspruch ziehen. Der Schmerz, der jetzt in ihr verweilte, war zu groß, um sich durch Laute auszudrücken. Er tobte und knisterte in ihr, durchdrang ihre spärliche Abwehr. Sie war eins mit ihm, und das war alles, was zählte. Wortlos warf Ghania das Kind aufs Bett, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich ab. Cody blieb liegen, wo sie hingeworfen worden war. Tränen strömten über ihre Wangen; sie vermochte sich nicht zu rühren, konnte nicht denken oder atmen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich daran erinnerte, daß der Schatz-Teddy unter ihr im Bett lag. Matt tastete sie nach dem vertrauten Gegenstand, und als sie ihn warm unter ihren Fingern fühlte, zog sie ihn ans Herz und weinte sich in den Schlaf. Sie glitt in einen Traum... Sie war an einem heißen Ort mit treibendem Sand und seltsam geformten Gebäuden. Und sie war kein kleines Mädchen mehr. Sie war eine junge Frau in einem knöchellangen weißen Kleid mit purpurroter Borte, und sie eilte zu einem großen Gebäude, wo eine andere Frau ihr von der Treppe aus zuwinkte. Sie wußte, die andere Frau war Mim. »Mach schnell!« sagte Mim. »Er ruft nach dir.« Die zwei Frauen wurden, vorbei an vielen Soldaten, in ein großes Gemach geführt. In der Mitte lag ein Mann auf einem prächtigen Bett mit Vorhängen drumherum. Alle im Raum murmelten, aber Cody achtete nicht darauf, was sie sagten, denn sie konnte das Leiden des Mannes deutlich fühlen, und sie mußte ihm helfen. Sie legte ihm kundig ihre Hände auf Kopf und Herz, und sie sah, daß Mim zu seinen Füßen stand und in jeder Hand einen Fuß hielt. Der Strom der Lebenskraft begann durch sie zu pulsieren... er spürte den Schmerz auf, der den Körper des Mannes peinigte, und verwandelte ihn in etwas Erträgliches. Sie konnte
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fühlen, wie die Energie aufwallte, alles auf ihrem Wege heilte, verwandelte... sie fühlte die elektrische Wärme... fühlte den erquickenden Lebensstrom. Es war ihre Gabe... und Mim lehrte sie, sie anzuwenden. Mim... Mim... Jetzt. Mim stand im Nachthemd im Schlafzimmer ihres Hauses. Sie sah sehr, sehr ängstlich aus. Maggie stand verwirrt neben dem Bett. Etwas hatte sie gezwungen, aus einem tiefem Schlaf hochzuschrecken, ohne daß sie wußte, warum. Sie war wie elektrisiert vor Angst, die durch ihre Adern raste, als hätte ihr Blut sich verflüchtigt. Sie konnte Cody in jeder Zelle fühlen. Sie war krank. Sie war zu Tode erschrocken. Sie war allein.
36 Der Morgen nach Codys Martyrium dämmerte hell und klar herauf, ganz so, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Eric und Ghania hatten sie nach dem Frühstück aus ihrem Zimmer geholt; jetzt spazierten sie gemächlich auf dem Steinpfad des Irrgartens, der auf dem Grundstück angelegt war. Cody war ihnen vorausgelaufen und wanderte vorsichtig zwischen den Hecken umher. Sie hatte richtig Angst vor Ghania, und sie war total durcheinander. An manchen Tagen war die Kinderfrau beinahe nett zu ihr, und manchmal - wie gestern abend - war sie schlimmer als Schneewittchens böse Stiefmutter. Und man konnte unmöglich ahnen, wie sie sein würde, es war unmöglich, sich sicher zu fühlen. Codys Augen brannten vom vielen Weinen, und ein Rest des Schmerzes, den sie in dem Keller gefühlt hatte, verweilte noch in ihrem Körper und ließ ihn empfindlich reagieren, wenn er berührt wurde. Sie wünschte, sie hätte jemand, mit dem sie sprechen konnte und der nicht böse war.
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Der Irrgarten war sehr schön, aber die hohe dichte Hecke wirkte bedrohlich; Cody wußte, wenn sie sie hier zurückließen, würde sie nie wieder herausfinden. In diesem schrecklichen Haus konnte alles Schlimme geschehen, und niemand würde sie retten. »Macht die Frau dir Freude, Eric?« fragte Ghania obenhin auf eine Art, die viel zu vertraulich war für eine Untergebene. »Möchtest du, daß ich sie für deine besonderen Bedürfnisse unterweise?« »Sie ist langweilig, meine Gute«, erwiderte er mit einem hinterhältigen Lächeln, »aber ihr Körper ist vorzüglich, und sie ist weiß Gott willig, was die Freuden des Fleisches angeht... wenn auch ungeübt nach unseren Maßstäben. Es wäre vielleicht amü sant zu sehen, ob sie verborgene Talente hat. Der Lehm ist ausgezeichnet, wer weiß, was du daraus formen könntest.« Er ging ein paar Schritte schweigend weiter, dann sah er Ghania belustigt an. »Fragst du das zu einem bestimmten Zweck, meine Kluge, oder möchtest du dich nur selbst meines Glückes annehmen, so wie einst?« Ghania lachte lüstern. »Ich bin schwer zu vergessen, nicht wahr, mein junger Schützling?« »Niemand hatte jemals eine bessere Lehrerin in Sinnenfreuden, wie du sehr wohl weißt.« Ghania kicherte. »Das Vergnügen war auch auf meiner Seite, Eric. Du hast einen herrlichen Körper und eine Phantasie, so kreativ wie nur einer, den ich unterwiesen habe. Doch es ist eine scharfsinnige Annahme von dir, daß ich dir die Frage zu einem bestimmten Zweck stelle. Jenna wird ein reizloses Opfer abgeben, wenn sie zu viele Drogen genommen hat, um wahre Schreckensangst zu fühlen, und sie hat bereits dem Zweck gedient, für den wir sie so sorgsam ausgewählt haben. Das Kind ist vollkommen, genau wie ich voraussagte.« Eric nickte zum Zeichen des vollen Einverständnisses. »Du hast wirklich tüchtig an Jennas Schwächen gearbeitet, Ghania. Obwohl ich gestehen muß, als du mir sagtest, daß ich sie heiraten muß, um mir den Besitz des Kindes zu sichern, da hatte ich ein ungutes Gefühl.«
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»Aber als du den Körper sahst, war dein Leid gewiß etwas gelindert«, entgegnete Ghania sarkastisch. Sie kannte Eric durch und durch. »Dennoch«, erwiderte er, ohne auf den Tadel einzugehen, »muß man sich unwillkürlich fragen, was die Alten im Sinn hatten, als sie ein so unzulängliches Werkzeug erkoren.« »Die Alten haben bekanntlich Sinn für Humor, Eric«, erwiderte die Frau. »Du weißt, daß die Mutter der Erwählten ebenfalls erwählt werden muß, und zwar mit großer Sorgfalt. Der Fürst mußte auf seiner Suche den ganzen Planeten durchkämmen, und unsere Gegner des Lichts versuchten, ihr Potential vor ihm zu verbergen. Es ist gut, daß er sportlich ist und Freude an dem Spiel hat. Wie spaßig, sie zur Drogenabhängigen und Prostituierten zu machen. Sie muß auf die heilige Flamme im Tempel der Großen Mutter gepißt haben, um ein solches Karma zu verdienen.« Eric lächelte anerkennend; es war offensichtlich, daß er Ghania achtete, und ebenso offensichtlich, daß er der Meister war und sie die getreue Jüngerin. »Ich werde sie für dich in den Künsten Eros' unterweisen, Eric, wenn du es wünschst... dafür, daß du es meinem Gutdünken überläßt, sie loszuwerden. Laß uns ihren Tod benutzen, um die Nachforschungen ihrer Mutter zu unterbinden, sollten sie dem Werk zu nahe kommen. Jenna ist das einzige Bindeglied zwischen dem Kind und der Großmutter, und wenn die Adoptionsformalitäten abgeschlossen sind, schlage ich vor, daß wir deine Ehefrau beseitigen, zu der Zeit und auf die Art, die uns am meisten nützen.« »Und was wäre das nach deiner Meinung, Mutter der List?« »Wenn die Großmutter in irgendeiner Weise auf unsere Pläne stößt, laß uns für das Mädchen einen Tod ersinnen, der bis in alle Ewigkeit in den Alpträumen der Mutter lebendig bleibt. Und laß uns darauf achten, daß nur sie genau weiß, wie es vor sich ging. Laß sie versuchen, die Welt zu überzeugen, und die Welt wird sie für verrückt erklären. Wir müssen sie furchtsam machen, Eric, und dann ihre Furcht kontrollieren... wie du weißt, wird Furcht sie auf den Inneren Ebenen verwundbar ma-
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chen. Sie hat einen starken Geist und Willen, diese Maggie O'Connor, und eine Macht, die sie zu nutzen verlernt hat. Ich denke, es wird ein unterhaltsames Spiel.« »Sie scheint mir im Augenblick allerdings machtlos«, sagte er wegwerfend. »Das kann sich jeden Moment ändern. So manches Spiel wird wegen zu großen Optimismusses verloren, Eric. Sie ist die Hüterin, vergiß das nicht. Sie wurde nicht wegen ihrer Unbeholfenheit erwählt.« »Das Kind kommt mir heute mürrisch vor, Ghania«, sagte er, des Themas müde; es hatte ihm nie behagt, auf Fehler in seiner Logik hingewiesen zu werden. »Gibt es einen Grund dafür?« »Ich lehre sie Schmerz, Gebieter, wie ich einst dich gelehrt habe. Und sie rebelliert gegen den Blutcocktail. Sie hat einen gewaltigen Willen für ein so kleines Kind; sie trotzt mir nicht aus Angst, sondern aus innerer Kraft. Ich finde, sie ist eine äußerst widerspenstige Schülerin, wie es die Botin natürlich sein muß. Ich darf die äußere Schicht nicht beschädigen, versteht sich... aber wir müssen sichergehen, daß sie zur Zeit der Opferung zu höchster Furcht imstande ist. Die Energien, die die Todesangst eines jungfräulichen Kindes erzeugt, sind für unsere Zwecke unvergleichlich. Unser Vorhaben darf diesmal nicht scheitern, Eric. Der Meister würde uns schwer bestrafen für unser Versagen, nachdem wir schon so weit gekommen sind. Zu warten, bis die Sterne günstig für ein neues Kind sind, könnte ein Jahrhundert dauern, und ich bin das Warten leid. Crowley hat versagt, weil er die Verwandlung mit einem Kind versucht hat, dessen Planeten nicht exakt die Konstellation für das Ritual hatten. Wegen seines Fehlers lebte er seine letzten Jahre als machtloser Dummkopf. « Eric schüttelte den Kopf. »Wir werden nicht scheitern, Ghania. Und du hast meine Erlaubnis, nach Belieben mit dem Mädchen zu verfahren, das sich für meine Frau hält. Doch bevor du ein so hinreißendes Exemplar beseitigst, meine Gute, laß mich sehen, was deine Unterweisung hervorbringen kann.« Er griff lässig hinüber und schob seine Hand unter Ghanias Kleid,
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um ihre Brust zu streicheln; Ghania lächelte weise. Seine zügellose Sexualität war seine Stärke und seine Schwäche, und sie hatte im Laufe der Jahre beides benutzt. Sie schob ihre Dschellaba zur Seite, um ihm den Zugriff leichter zu machen. Cody drehte sich um und starrte ängstlich auf die zwei Erwachsenen. Warum faßte der Daddy-Mann Ghania da an? Und warum war er nett zu ihr, wo sie ein so böser Mensch war? Der Daddy-Mann winkte ihr, sie solle zu ihnen kommen, aber sie zögerte, abgestoßen von dem Bild, das sie boten. Er war kein richtiger Daddy... ein richtiger Daddy würde niemals zulassen, daß jemand seinem kleinen Mädchen böse, schmerzhafte Dinge antat. Cody machte plötzlich kehrt und rannte, so schnell sie konnte, den Pfad entlang... aber es gab keinen Ort, wo sie hinlaufen konnte.
37 Jenna lag auf der Massagebank und genoß schaudernd die Wonnen, die von Ghanias kundigen Händen ausgingen. Langes, knetendes Streichen löste die Verspannungen in ihrem Rücken und ihren Schultern; Gewebemassage lockerte die Krämpfe von den endlosen täglichen Übungen, auf denen Eric bestand, damit sie in Form blieb. Er selbst war ein Fitneßfan und legte sich jeden Morgen mit erbitterter Ausdauer ins Zeug wie ein Olympiateilnehmer. Ohne Koks wäre sie nie und nimmer imstande mitzuhalten. Laufen, Treppensteigen, Radfahren, Rudern muskelzerrende Übungen, die sogar für einen Berufssportler strapaziös gewesen wären. Ghania war seine Trainerin. Ghania ist sein alles... dachte Jenna mit plötzlicher Bitterkeit. Was für eine sonderbare Beziehung die zwei verband, konnte sie nicht einmal ansatzweise ergründen. Dienerin und Herr, Vertraute und Kumpel. Sie hatten gemeinsame Geheimnisse... und auch etwas Düsteres, Sexuelles. Ghania massierte Eric jeden Tag nach seinen Leibesübungen, und niemand durfte sehen, was vorging, aber die Geräusche ließen mehr als Massage vermuten. Der Gedanke erregte Jenna, und sie wand sich ein wenig unter Ghanias Berührung. »Das Becken ist leicht verspannt«, sagte Ghania mit kennt-
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nisreichem Lächeln. »Das müssen wir uns vornehmen.« Während sie sprach, zog sie das kleine Handtuch fort, das Jennas Gesäß bedeckt hatte, und legte ihre große Hand auf Jennas Steißbein. Mit der anderen Hand begann sie, ihre Beine in immer größer werdendem Bogen auseinanderzudrücken. Jenna fühlte die kühle Luft auf ihrem Geschlecht und war gespannt, was als nächstes kommen würde. Ghania war stets erfindungsreich. Ghania begann, das Gesäß mit sicheren kreisenden Bewegungen zu bearbeiten. Jenna fühlte, wie ihre Beine immer weiter auseinandergezogen wurden, während feste Finger an der Innenseite ihrer Schenkel zum Beckenknochen strichen und rhythmisch an seinem Rand entlang zu pressen begannen, und sie barst schier vor Erwartung. Sie drehte sich auf Ghanias Ge heiß auf den Rücken und wartete in nebelhafter sexueller Erregung, als eine Hand in unnachgiebigem, sich steigerndem Rhythmus das Beckenfleisch massierte und die andere sich ihre Brustwarze vornahm. Ghania lächelte auf den geschmeidigen Körper auf der Massagebank herab. Es war so leicht, die Willenlosen zu beherrschen. Mit Drogen und Sex konnte man Geschöpfen wie diesem Stück Strandgut, dessen Geist abgestumpft war von Chemikalien, sogar ein Sternkind abkaufen. Aber der Körper... sie glitt mit der Hand an eine Stelle, die köstliche Wonnen verschaffte es gab wenige derartige Stellen, die sie nicht kannte. Jennas Körper war wirklich makellos. Hätte sie sie früh genug in die Hände bekommen, hätte sie sie zu einer Sexmaschine von außerordentlicher Qualität schleifen können. Ghania seufzte über die verpaßte Gelegenheit... Körper wie diesen fand man nicht alle Tage. Man konnte Männer dazu bringen, für den richtigen Körper in erlesenem Zustand alles zu bezahlen. Doch auch so gab es immer noch Möglichkeiten... Eric war hereingekommen und beobachtete Jenna, die sich sinnlich auf der Bank unter Ghanias kundigen Händen wand. Ghania winkte ihn heran, und er trat leise an ihre Seite. Seine Hände glitten über Jennas Körper, während Ghania ihre Dschellaba zu ihren Füßen auf den Boden fallen ließ. Sie
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griff mit geübter Geste nach seinem Gürtel und befreite sein aufgerichtetes Geschlechtsorgan, das sie mit unendlicher Sorgsamkeit streichelte, bis er ihr bedeutete, sie möge aufhören. Eric hob Jenna hoch und trug sie zum Bett. Vielleicht würde Ghania sie beide heute etwas Neues lehren... Er hatte das Trainingsprogramm immer geliebt.
38 So sehr Maggie sich bemühte, es schien keine Möglichkeit zu geben, das schreckliche Gefühl, das sie beschlichen hatte, zu überwinden. Codys Tagesablauf war der Kitt ihres Lebens gewesen. Gemeinsames Frühstück am Küchentisch, dann Maggies Arbeit im Geschäft bis drei Uhr nachmittags, wieder nach Hause, um mit Cody in den Park zu gehen oder zum CVJM oder zu anderen kleinen Vergnügungen für Kinder, die Greenwich Village zu bieten hatte... dann gemeinsames Abendessen im Speisezimmer oder am Kamin in der Bibliothek. Die Abende verbrachten sie mit Spielen oder Lesen oder einfach mit Familienleben, bis es Zeit für Cody war, ins Bett zu gehen. Der große Lebenskreis in handlichem Maßstab, Behaglichkeit und Geborgenheit. Nichts war mehr für Maggie so, wie es einst war; sie ließ sich jetzt kaum noch im Geschäft sehen. Peter kam nun jeden Nachmittag vorbei, um sie zu unterweisen. Manchmal brachte er Bücher mit, manchmal eine Idee, von der er dachte, daß sie von Wert sei, und manchmal hatte er etwas Neues über die Isis -Legende ausgegraben. Maggie wußte, er arbeitete daran, den schwer faßbaren Zeitpunkt zu bestimmen, wann das Materialisationsritual stattfinden würde. Das tat auch Ellie, auf andere Weise. Maggie seufzte. Sie vermißte Cody so sehr; ein Wunder, daß die Wunde nicht blutete. Ein organischer Schmerz war in ihrem Inneren, als seien alle Liebe und alles Lachen aus ihrem Herzen gerissen worden. Ich liebe dich, Herzchen! Diese Gedankenbotschaft schickte sie dem Kind hundertmal am Tag. Könnte sie sie nur erreichen, sie berühren, sie trösten, sie wissen lassen, daß sie geliebt wurde und nicht vergessen worden war.
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Die Uhr tickte, und in Maggie baute sich ein Druck auf wie eine Zeitbombe. Wann konnte sie etwas tun? Wann würde sie etwas erfahren, das hilfreich war? Maggie betrachtete den Stapel Bücher und Papiere auf ihrem Schreibtisch... Peter hatte sie ihr gestern dagelassen. Ein Teil von ihr fragte, was diese absurde Studiererei nütze, während der andere Teil darauf beharrte, daß der Schlüssel irgendwo in diesen Büchern stecke. Die Lektüre gab ihr wenigstens etwas, um ihren Geist zu beschäftigen. Ohne Ellie und Peter - und ohne die Hoffnung, daß Devlin die Polizei zur Hilfe bewegen könnte hätte sie sich nicht aufraffen können, morgens überhaupt aufzustehen. Aber die Uhr tickte unerbittlich, und nichts, absolut nichts hatte sie einen Schritt näher zu Cody gebracht. Rachedurstig packte Maggie die Bücher und warf sie auf die Couch im Salon. Wenn Peter und Ellie nicht bald das Datum für die Materialisation herausfänden, müßte sie sich selbst einen Termin setzen. Sie wollte dieser verdammten Studiererei noch eine Woche geben, allerhöchstens zwei. Danach wollte sie einen Plan vorlegen... eine Möglichkeit, Cody aus dem gottverlassenen Irrenhaus herauszuholen. Wie lange konnte es ein Kind dort aushalten? Sie war so klein und verletzlich... Ein Schauder durchlief Maggie, als sie an die schrecklichen Dinge dachte, die dort möglich waren. »Sieh, Herr!« sagte sie plötzlich laut. »Bittet, so wird euch gegeben, hast du gesagt. Suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, so wird euch auf getan... Und ich bitte, und ich suche, und ich klopfe, und du tätest verdammt gut daran, dein Versprechen zu halten, denn sonst bin ich am Ende!« Wütend wischte sie die Tränen fort, die ihr in die Augen gestiegen waren. Dann schlug sie das erstbeste Buch auf und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was auf der Seite geschrieben stand. Eine Stunde später schwirrte ihr der Kopf von scheinbar unbedeutenden Informationen, und sie ging erschöpft zu Bett. Der Traum beschlich sie, als hätte er auf sie gewartet: Die schöne junge Priesterin bemühte sich, ihre im Tempel erlernte
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Würde zu bewahren, doch beim Anblick von Heim und Familie wäre sie vor Freude am liebsten gerannt und gehüpft. Sie schlang die Arme um ihr altes Kindermädchen und drückte sie lachend und weinend an ihr Herz. »Wir haben heute hohen Besuch, Kleines«, sagte Kipa, ihre Kinderfrau, in verschwörerischem Ton. »Deine Eltern sind von der Göttin begünstigt.« Diese Nachricht machte Mim neugierig, doch sie war nicht überrascht. Ihr Vater Senuset war ein Künstler von solch hohem Ansehen, daß sogar die Ptah-Priester ihn bei der Gestaltung von Amuletten, Talismanen und allen magischen Gerätschaften zu Rate zogen. Auf Magie verstand er sich so gut, daß die Anstellung als Lehrling in seiner Werkstatt eine Ehre war, um die all jene im Königreich wetteiferten, die eine große Begabung oder großen Ehrgeiz besaßen. Ihre Mutter Niyohma war eine Seherin, die im ganzen Land Khemu -Amenti, der Heimat des verborgenen Gottes, verehrt wurde. Beide Eltern gehörten einer Elite-Abteilung der Priesterschaft an, und wegen ihrer großen künstlerischen Begabung und ihres lebendigen Geistes erfreute sich ihre Familie eines hohen Lebensstandards. Das Haus, in das sie soeben zurückgekehrt war, hatte viele Annehmlichkeiten aufzuweisen, und häufig beherbergte es Gäste von hohem Rang. »Hat Pharaos Wesir wieder ein Zierstück für den Finger Seiner Majestät in Auftrag gegeben?« neckte sie die alte Kinderfrau, die sie seit ihrer Kindheit liebte. »Nein, Kind«, erwiderte die Frau in ehrfurchtsvollem Flüsterton, »die Hohepriesterin persönlich gibt unserem Hause die Ehre.« Verblüfft stieß Mim hervor: »Aber man weiß, daß die Ehrwürdige Mutter das Heiligtum noch nie verlassen hat!« Die alte Frau schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, während sie mit ihrer Hand auf die Tür von Senusets Werkstatt wies. »Sieh selbst, Kind.« Lächelnd ging sie ihrer Beschäftigung nach und ließ Mim, die unschlüssig war, was sie nun tun sollte, mitten im Hof stehen.
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Mim klopfte zaghaft an die Tür zur Werkstatt ihres Vaters, und ein Sklave führte sie in das geräumige Innere. Das Gesicht ihres Vaters war von Licht durchdrungen, als er sie erblickte. »Tochter!« rief er aus, ohne an seinen hohen Gast zu denken. »Welch glückliche Fügung, daß du ausgerechnet an diesem Tage kommst.« Senuset war ein großer, kräftiger Mann, dessen überschwengliche Liebe zu seiner Familie nahezu Legende war. Er umfing seine Tochter mit seinen starken Armen, bevor er sie zu der Ehrwürdigen Mutter führte. Mim knickste anmutig und machte das Geheimzeichen, das ihren Ausbildungsstand kennzeichnete. »Heilige Mutter«, murmelte sie, überwältigt von Ehrfurcht vor der erlauchten Person. »Vergebt mir die Störung, ich bitte Euch. Ich bin zu den Festlichkeiten nach Mennofer heimgekehrt, und es war mir nicht bekannt, daß mein Besuch sich mit Eurem überschneiden würde.« Die alterslose Frau nickte zum Zeichen, daß sie die Entschuldigung annahm, und Senuset mischte sich ein. »Es ist gut, daß du in genau diesem Augenblick gekommen bist, meine Tochter«, sagte er sanft; bei all seiner großen Begabung war er ein gütiger Mensch. »Die Ehrwürdige Mutter ist gekommen, um dem Amulett, das zu vervollkommnen ich viele Jahre hindurch bestrebt war, ihren Segen zu erteilen.« Mim wußte natürlich von dem Isis -Amulett... ihr Vater hatte so lange an seiner Vervollkommnung gearbeitet, daß sie schon fast geglaubt hatte, es würde niemals fertig, obwohl es der krönende Abschluß seines glanzvollen Lebens werden sollte. Senuset nahm einen Gegenstand von seiner Werkbank und hielt ihn ehrfürchtig in der Hand. Die Sonne fing sich in der goldenen Oberfläche, und es gingen Strahlen davon aus, als sei der Ge genstand lebendig, eine Kraftquelle unbestimmter Art. »In Atlantis war es, wo das Geheimnis dieses Amuletts der Hohenpriesterin der Isis erstmals enthüllt wurde«, erklärte die Ehrwürdige Mutter unvermittelt. Sie war so streng, wie es ihre Stellung verlangte, und hatte nie zuvor unmittelbar zu Mim oder jemand ihres Ranges gesprochen. Das Timbre ihrer Stimme erfüllte Mim mit Schrecken; die Frau war mager wie ein
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Gerippe, aber ihre Stimme hätte einen Felsen erschüttern können. »Die Hohepriesterin, welche die Mysterien der Göttin in dieses Land Khemu brachte«, fuhr sie fort, »wurde mit dem Ge heimnis des Isis -Amuletts betraut, doch sie ward angewiesen, es nicht in Auftrag zu geben, bis einer, der zugleich ein hervorragender Handwerker und Melchisedech-Priester war, das Licht der Welt erblickte. So lautete die Anweisung, und das Geheimnis ging von einer Ehrwürdigen Mutter zur nächsten über, bis es an mich kam. Dein Vater Senuset wurde von der Göttin für diese erhabene Aufgabe auserkoren.« Senuset lächelte nachsichtig angesichts Mims offensichtlicher Verwirrung und legte seine große Hand auf ihren Arm. »Zittere nicht, meine kleine Priesterin«, sagte er. »Dieses Amulett ist das größte Geschenk, mit dem die Menschheit jemals bedacht wurde.« Bestürzt suchte das junge Mädchen Bestätigung in den Augen der Hohenpriesterin. Die alte Frau nickte zustimmend. »Dem Isis -Amulett wurde die Macht über alles eingegeben, was gut ist auf diesem Planeten, Mim-Atet-Ra«, erklärte die Frau. »Die Kräfte des Bösen sind machtlos dagegen.« Mims Augen weiteten sich vor Staunen. Von einer Ehrwürdigen Mutter ins Vertrauen gezogen zu werden war allein schon ehrfurchtgebietend, aber zu erfahren, daß ihrem Vater das Schicksal der Welt anvertraut worden war, das war wahrlich überwältigend. »Die höchsten Priester aller Tempel haben über die Anfertigung des Isis -Amuletts gewacht und ihm ihre jeweilige Magie eingeprägt«, fuhr die Ehrwürdige Mutter fort. »In jeden Edelstein wurde im geeigneten astrologischen Moment unter dem günstigen Stand des Monds ein magisches Zeichen eingeritzt. Wenn wir unser Werk in der erforderlichen Vollkommenheit vollendet haben, wird derjenige, der dieses Amulett besitzt, die Macht haben, die Welt zu regieren. Aber nur im guten.« »Aber wem könnte etwas so Kostbares anvertraut werden, Ehrwürdige Mutter?« fragte Mim erstaunt. »Werden nicht alle Könige und Fürsten dieser Welt - und alle Gierigen und Macht-
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besessenen - darum wetteifern, es in ihren Besitz zu bringen? Wer wäre stark genug, den Schatz der Großen Mutter zu beschützen?« Ihr Vater und die Hohepriesterin wechselten einen Blick. »Eine einzige Priesterin wird zur Hüterin erwählt werden, Mim. Sie wird zeit ihres Lebens darüber wachen, und das wird ihre einzige Aufgabe sein. Weil dies die größte vorstellbare Ehre und die erhabenste Verantwortung ist, wird die Große Mutter persönlich die Hüterin des Isis -Amuletts auserwählen, sobald ihm die letzte Magie eingegeben wurde.« Allein die Vorstellung von dieser unerbittlichen Verantwortung ließ die junge Priesterin erschauern; im stillen dankte sie ihren Sternen, daß sie jung und unerfahren war und daher für eine solch schreckliche Bestimmung nicht zur Wahl stehen konnte. »Was hält böse Menschen davon ab, die Hüterin einfach zu töten und das Amulett an sich zu bringen?« fragte sie leise. »Die Hüterin wird das Amulett nicht auf dieser Daseinsebene besitzen, Mim. Es wird auf den Inneren Ebenen an einem sicheren Ort verwahrt werden, bis es wachgerufen wird. Eine zweite Priesterin wird zur Botin der Mutter erkoren werden - sie allein wird um das Geheimnis der Materialisation wis sen. Niemand wird ihre Identität bekannt sein. Wenn es im Laufe des Kampfes der Menschheit der Göttin angezeigt erscheint, daß das Amulett gesandt werden muß, wird die Botin Fleisch werden. Die Verantwortung der Hüterin wird es sein, die Botin und ihre heilige Bürde zu schützen.« Mim sah der Ehrwürdigen Mutter in die unnachgiebig blikkenden Augen und fragte sich, was sie sagen sollte zu alledem, was das Begriffsvermögen der Sterblichen weit überstieg. »Darf ich es anschauen, Ehrwürdige Mutter?« fragte sie schließlich beinahe flüsternd, und die Hohepriesterin nickte majestätisch. Senuset legte das Isis -Amulett in Mims Hand. Es war der schönste Gegenstand, den sie je erblickt hatte. Zwölf große Edelsteine zierten ihn: Rubin, Smaragd, Diamant, Saphir, Karneol, Chalzedon, Topas, Achat, Onyx, Beryll, Amethyst, Jaspis, und in jeden waren magische Zeichen eingeritzt.
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Einige erkannte sie, einige waren Glyphen, die sie nie erträumt hatte. Jeder Edelstein pulsierte von der Kraft seines eigenen Strahls, er aktivierte die Chakren des Körperfeldes und jene, die den Körper durchdrangen. Sie waren auf den Herzschlag der Erde eingestellt und auf etwas weit Unermeßlicheres. Der Ge genstand atmete in Mims Hand wie ein lebendiger Organismus - aber kein Organismus von dieser Sphäre. Sie sah ihrem Vater in die Augen und las darin die Qual des Erschaffens. Der unendliche Kampf des Vervollkommnens, nicht eines Menschenwerkzeugs, sondern eines, das das Wesen einer Göttin enthielt. »Die Große Mutter hat das Amulett noch nicht geweiht«, flüsterte Mim mehr zu sich selbst als zu den übrigen Anwesenden, und ihr Vater und die Göttin machten beide erschrockene Ge sichter. »Woher weißt du das?« fragte die Ehrwürdige Mutter in scharfem Ton. Mim sah auf, verblüfft über die Frage, da doch die Wahrheit so offensichtlich war. »Niemand kann ihre Energie verkennen, wer von ihr berührt wurde, Ehrwürdige Mutter«, erwiderte sie erfindungsreich. »Ihre Energie aktiviert die Beckenhöhle und verbindet uns mit allem Weiblichen in Zeit und Raum. Diesem erstaunlichen Amulett ist bereits eine ungeheure Macht eingegeben, aber die Macht der Isis ist nicht in ihm.« Die Ehrwürdige Mutter sah das junge Mädchen nachdenklich an. »Dann pflegst du Umgang mit der Göttin?« fragte sie. In der Annahme, daß das alle taten, die in den Mysterien der Großen Mutter geschult wurden, sagte Mim ja. »Wir sprechen uns noch«, erwiderte die Ehrwürdige Mutter in jenem düsteren Ton, dessen man sich bei Zeremonien bediente. Sie schloß die Augen, um mit den Inneren Ebenen zu kommunizieren, und Mim begriff, daß die Audienz beendet war. Sie wandte sich an ihren Vater, um die Erlaubnis zum Ge hen zu erbitten, aber die Hohepriesterin ließ sich noch einmal vernehmen. »Du bist Karadens Freundin, nicht wahr?« fragte sie unvermittelt. Mim bejahte. »Hüte dich!« warnte die Priesterin, und das war alles.
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Maggie wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Sie schlief nicht mehr richtig, und der Traum lastete schwer am Rande ihres Bewußtseins. Senuset... Karaden... Warum waren diese Namen so gefühlsbeladen, so vertraut und so mit Schmerz erfüllt? Sie versuchte, sich an die Einzelheiten des Traumes zu erinnern, aber er verblaßte bereits wie Nebel in der Sonne. Trost suchend warf sie sich unter der Bettdecke hin und her, und schließlich glitt sie wieder in einen unruhigen Schlaf.
39 Ellie verabschiedete lächelnd ihre letzte Kundin und forderte Maggie mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Sobald die Dame gegangen war, schloß Ellie hinter ihr ab und ließ die Jalousie herunter. »Na, wie geht's, Schätzchen?« fragte sie und setzte sich neben Maggie. »Ich bin vollkommen erledigt«, erwiderte Maggie aufrichtig. »Ich habe unheimliche Träume, an die ich mich nicht deutlich erinnern kann. Sie spielen in Ägypten oder in einem anderen alten Land, ich bin mir nicht sicher. Aber es sind gewaltige Träume, Ellie. Der, den ich vergangene Nacht hatte, schwebt zum Greifen nahe knapp außerhalb meiner Reichweite. Als ob ich mich an ihn erinnern müßte, es aber nicht kann.« Sie schüttelte bestürzt den Kopf. »Und ich komme nicht zu Cody durch... ich rufe immer noch jeden Tag an, aber das ist Zeitverschwendung, und ich denke immerzu, ihr könnte etwas Furchtbares zustoßen, bevor ich hinkomme ...« Sie zog die Schultern hoch, um auszudrücken, daß es viel zu erdrückend sei, um es in Worte zu fassen. »Und diese Träume gehen mir wirklich an die Nieren.« »Die Erleuchtung ist nicht schmerzhaft«, antwortete Ellie, »aber der Prozeß, der dorthin führt, der ist eine Strapaze, ja?« Sie sah Maggie einen Moment nachdenklich an, dann sagte sie: »Ich glaube, in ein, zwei Tagen werden wir das Datum der Materialisation wissen, Mags. Peter und ich scheinen zu demselben Schluß zu kommen. Ich nehme an, er will mit dem Ägypter im
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Museum abklären, ob er der gleichen Meinung ist wie wir. Haben Sie sich schon überlegt, was Sie tun werden, sobald Sie es wissen?« »Ich habe mir nur überlegt, egal, mit was für einem Datum Sie ankommen, daß ich nicht mehr viel länger warten kann, bevor ich versuche, Cody aus dem Höllenhaus zu holen.« Ellie runzelte die Stirn. »Es wäre mir wirklich lieb, Sie würden zuerst eine Rückkehr in die Vergangenheit versuchen, Mags«, sagte sie ernst. »Hier geschieht eine Menge, was wir noch nicht ganz verstehen. Jedesmal, wenn ich darüber meditiere, wird mir gesagt, daß Sie die Schriftrolle entziffern müssen, bevor ich sie interpretieren kann.« »Schauen Sie, Ellie, ich bin einfach nicht bereit dazu. Es ist so schon schwierig genug, mit beiden Füßen fest auf der Erde zu bleiben, ohne daß ich mich in das alte Land begebe.« »Wissen ist Macht, Mags«, entgegnete Ellie ruhig. »Und ich bin überzeugt, um Cody zu retten, müssen Sie eine Macht finden, die für Sie bis jetzt unvorstellbar ist. Diese Träume sind vermutlich die Bemühungen Ihres Unterbewußtseins, Ihnen die Information zu geben, die Sie brauchen. Versprechen Sie mir, daß Sie über meinen Vorschlag nachdenken.« Maggie nickte unverbindlich. »Und noch etwas...« »Ja?« »Versprechen Sie mir, daß Sie versuchen werden, sich zu amü sieren, so bescheuert das klingt, oder zumindest ein bißchen zu lachen. Das ist eine Frage des Ausgleichs, Mags... jede negative Emotion schwächt Sie, macht Sie krank. Noch in der schlimmsten Not müssen Sie versuchen, ein bißchen Freude zu finden. Und sei sie auch nur flüchtig.« »Um Himmels willen, wie soll ich das machen, wo ich weiß, in welcher Gefahr sich Cody befindet?« »Manchmal braucht man eine Einteilung, wenn man vom Schicksal bedrängt ist... man muß sich kleine Teile Lachen oder Vergnügen gönnen, trotz der Tragödie, die wütet. Denn diese kleinen Teile halten die Waagschale in der Balance, Mags. Ohne ein wenig Freude welkt das Menschenherz... und ohne Balance
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geht der gesamte Organismus zugrunde. ›Der Geist lebt vom Herzen, genau wie ein Parasit‹, hat mal jemand gesagt. Ein kluger Mensch.« Ellie sah Maggie vielsagend an. »Lassen Sie sich von Dev zum Essen ausführen - oder von Peter, egal - und sprechen Sie von etwas anderem als von Cody oder Theologie«, fügte sie mit mildem Lächeln hinzu. »Mr. Wong würde Ihnen dasselbe raten, wenn Sie ihn fragen würden. Die Chinesen verstehen mehr von der Verbindung Körper-Geist-Seele als alle anderen. Denken Sie an die Balance, Mags, und machen Sie sich deswegen nur ja kein schlechtes Gewissen. Vierundzwanzig Stunden täglich ein miesepetriges Gesicht, das hilft Cody kein bißchen. Denken Sie daran, daß, wenn Sie zu Boden gehen, sie niemand mehr hat.« Maggie wiederholte Ellies Rat mehrere Häuserblocks entlang, dann ging sie, anstatt nach Hause, zu Mr. Wong. Der alte Mann begrüßte sie herzlich. Er war es gewöhnt, daß seine Schüler jederzeit vorbeischauten, um mit ihrem Meister zu sprechen; und seit dem Tod seiner Frau lebte er allein. »Ihre Freundin ist eine kluge Frau«, sagte er, als Maggie ihm Ellies Worte wiederholt hatte. »Eine gute Freundin schützt Sie vor dem Sturm. Sie wissen ja bereits von Ihrem Kampfsporttraining, was geschieht, wenn die Harmonie Ihres Qi gestört ist: Ihr Geist wird schwach, und Ihre Kraft schwindet.« »Ich sehe ein, daß Balance wichtig ist, Sifu«, sagte sie ernst, »aber wie soll ich meine Gefühle kontrollieren? Wie soll ich mich nicht um Cody und um mich ängstigen? Wie soll ich nicht erzürnt sein über alles, was mit uns geschehen ist? Wie soll ich bei alledem nicht verzweifelt sein?« Er lächelte ein wenig; die pergamentartigen Runzeln um Augen und Mund ließen ihn seltsam koboldhaft aussehen. »Sie können das Geschehen des Lebens nicht aufhalten, Maggie. Bäumen mag Ruhe lieber sein, aber der Wind läßt nicht nach! Und Sie können Ihre Natur nicht ändern. Was Sie tun können, ist, Ihren Weg deutlich zu sehen und mit Ihren Lebensenergien seinen Herausforderungen zu begegnen. Sehen Sie Ihren Zorn... finden Sie heraus, was daran nützlich ist, und
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werfen Sie den Rest fort. Sehen Sie Ihre Angst. Sie hat keinen Wert für Sie, also lassen Sie sie los. Nehmen Sie Ihren Kummer an; das ist zulässig. Und dann lassen Sie ihn hinter sich, denn auch er ist ohne Wert für Ihren Plan. Was Sie in sich selbst nicht ausbalancieren können, müssen Sie zu denen bringen, die Ihnen helfen können... Ich werde Sie heute behandeln, um Ihre Energie in Einklang zu bringen. Aber dann müssen Sie für morgen planen. Mein Meister sagte immer zu mir: ›Warte nicht, bis du durstig bist, bevor du einen Brunnen gräbst. ‹« Maggie legte sich auf die schmale Liege, auf der Mr. Wong seine Akupunkturbehandlungen durchführte. Maggie wußte, die Chinesen glaubten, der Körper sei ein unendliches elektrisches System mit einer komplizierten Schaltung, die so eingestellt werden konnte, daß sie Körper, Geist und Seele Balance und Gesundheit gab. Er hatte ihr im Laufe der Jahre eine Menge über traditionelle chinesische Medizin beigebracht, über ihre fünftausend Jahre alten Wurzeln und ihre vernünftige Philosophie. Maggie wußte, daß die auf einer Akupunkturtabelle aufgezeigten Meridianlinien und -punkte Aufzeichnungen des Energiegitters waren, das Lebenskraft in den Organismus trug, und daß Mr. Wong die alten Geheimnisse kannte, wie die Schaltung zu handhaben war, um zu heilen und zu kräftigen. Mr. Wong nahm Maggies linkes Handgelenk in seine starke Hand und »horchte« mit seinen sensiblen Fingern auf die neun Pulse, die ihm den Zustand von Herz, Leber und Nieren anzeigten. Sie fühlte, wie seine kundigen Finger ihre Energie auf verschiedenen Ebenen untersuchten, bis er zufrieden war, dann fühlte sie, wie er zu ihrem rechten Handgelenk überging, das die Botschaften von Lunge, Magen, Milz und Dreifachbrenner trug, einem großen Energiegitter, das in der westlichen Medizin keine Entsprechung hatte. Maggie wußte, daß Mr. Wong, basierend auf dem, was er fand, haardünne Nadeln auswählen und an etwa einem halben Dutzend Stellen auf ihrem Körper einführen würde, zum Drainieren oder Tonisieren, je nach den Bedürfnissen, die er bei sei-
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ner Untersuchung erkundet hatte. Sie wußte auch, daß die Akupunktur schmerzlos sein würde, und so ließ sie sich in jene Entspannung gleiten, die die Behandlung jedesmal hervorrief, während Endorphine den Körper durchfluteten und Erleichterung von Schmerzen und Ängsten brachten und komplizierte Kurzschlüsse wieder ausbalanciert wurden. Als Maggie ins Tagträumen glitt, sah sie das Bild eines schmalen, dunkelhaarigen Kindes plötzlich scharf werden. Das Mädchen wandelte in einer feierlichen Prozession durch einen langen Tempelgang und hielt sich an den Händen seiner Eltern fest. Die Eltern, das wußte Maggie irgendwie, waren ebenso Priester und Priesterin wie Vater und Mutter. Sie fühlte, wie sie mit dem Kind in ihrem Tagtraum verschmolz, sie fühlte seine zitternden Gefühlserregungen und seine Heiterkeit. Es war schwer, sich nicht zu ängstigen, aber es war eine große Ehre, auserwählt zu sein. Sie nahm an der Tempelausbildung teil, seit sie drei Jahre alt war, und jetzt war sie fast sieben, daher waren Mim-Atet-Ra die Vorschriften der Zeremonie wohlbekannt. Aber bis jetzt hatte sie sich auf Heim und Familie verlassen können, und nach dem heutigen Tag würde sie ganz allein hier in Saqqara zurückbleiben, dem großen Pyramidenkomplex der Götter. Jahre würden vergehen, bevor ihr erlaubt sein würde, den Tempel zu verlassen, und selbst dann würde sie nicht mehr das Kind von Senuset, dem Kunsthandwerker, und Niyohma, der Seherin von Mennofer, sein. Sie würde die auserwählte Priesterin der Heiligen Mutter Isis sein, alle ihre Gedanken und Taten würden beobachtet und beurteilt werden. Nicht, daß Mim mit ihrem Schicksal haderte; sie war mit der Glückshaube über ihrem Gesicht geboren worden und daher vom ersten Atemzug an für die Göttin bestimmt. Und sie war ein folgsames Kind, das seinen Eltern, die es liebte, und den Göttern, die es liebte und fürchtete, Freude bereiten wollte. Aber die Ausbildung würde von morgen an zunehmend strenger werden. Man konnte nicht als Anwärterin für den Orden des Melchisedech angenommen werden, wenn man sich das Recht dazu
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nicht verdient hatte. Nicht einmal der Pharao konnte sich den Zugang zu den Größeren Mysterien erkaufen. Viele Schüler wurden zur Unterweisung in den Kleineren Mysterien angenommen, denn jeder Tempel brauchte Priester, aber die Größeren Mysterien waren die Domäne einer geheimen Hierarchie, die nur den Göttern Rechenschaft ablegte. Es sei statthaft, sich zu fürchten, hatte ihr Vater ihr gesagt, das werde in der Ausbildung mit den Jahren vergehen. Aber alles erstreckte sich in diesem Augenblick vor ihr, endlos wie die Wüste vor den Toren der großen Stufenpyramide, endlos und beängstigend und unsagbar einsam. Wer sind diese Menschen? fragte sich Maggie, als sie in der Entspannung des Halbschlafs lag, die die Nadeln bewirkten. Wer sind diese Menschen, und warum verfolgen sie mich in meinen Träumen? Sie schlief ein wenig und wachte erholt auf. Sie fühlte sich von Mr. Wongs Akupunkturbehandlung belebt. Er war ein tüchtiger Arzt, von seinem Meister in der alten Tradition unterrichtet, denn Medizin und Kampfsport gingen in China Hand in Hand. Es erstaunte sie jedesmal, daß das Ausbalancieren ihrer Körperenergie ihr zugleich Geistesklarheit verschaffte. Mr. Wong und Ellie hatten beide recht, sie war durch alles, was geschehen war, vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten.
40 Maggie legte das Neue Testament, in dem sie geblättert hatte, unwillig hin. »Die Geschichte von Martha und Maria bringt mich jedesmal zur Weißglut«, sagte sie. Sie rieb sich die Schläfen, um die Kopfschmerzen zu vertreiben; sie und Peter hatten seit Stunden gearbeitet. Er sah sie an, und trotz seiner Erschöpfung mußte er schmunzeln. »Da sind Sie in guter Gesellschaft. Kipling hat sich über die Geschichte auch geärgert.« Er saß in seinem Lieblingssessel am Kamin, als ob er dorthin gehörte. Es machte Maggie nervös, daß sie zu einer so zwanglosen Vertrautheit gefunden hatten.
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»Da haben wir Jesus, der zum Tee vorbeikommt, wenn er gerade in der Nähe ist«, fuhr sie fort, »und da ist Martha, die kocht, putzt, näht, kehrt und Gott weiß was noch macht, während Maria nichts tut, als dem Meister zu Füßen zu sitzen und seinen Erzählungen zu lauschen. Und wenn Martha sie bittet, ihr beim Spülen zu helfen, tadelt der Herr sie, weil sie nicht ›das gute Teil erwählt‹ hat.« »Und das macht Sie wütend?« »Ja, das macht mich wütend! Ich stamme zweifellos von Marthas Seite der Familie ab. Und ich dachte, der Herr würde denen helfen, die sich selbst helfen. Wenn wir bloß dasitzen und warten, daß der Herr Cody rettet, wird er es tun?« »Die Araber haben eine äußerst praktische Theologie«, antwortete Peter belustigt. »›Vertraue auf Allah... doch binde dein Kamel an einen Baum.‹« Beide lachten, und mit einem Anflug von Reue wurde Peter bewußt, daß das Zusammensein mit dieser Frau jetzt die große Freude seines Lebens war. Neuerdings kennzeichnete er die Stunden des Tages nach Maggies An- oder Abwesenheit... war er nicht mit ihr zusammen, vermißte er ihre eigentümlich achtungsvolle Respektlosigkeit und die undogmatische Kameradschaftlichkeit, die sie mit Gott zu verbinden schien. »Wenn Sie mit Gott sprechen, Maggie«, fragte er unvermittelt, »worüber reden Sie?« »Ach, ich weiß nicht recht. Was so gerade ansteht, nehme ich an. ›Hallo Gott, hier spricht Maggie. Das ist aber ein schöner Baum, den du da gemacht hast‹ oder ›ein Meisterwerk, dieser Sonnenuntergang, danke, daß du mich ihn sehen läßt...‹ Ich wende mich gerne an ihn, wenn ich ihn nicht um etwas bitte, damit er nicht denkt, ich will ihm bloß schöntun. Manchmal beschwere ich mich natürlich«, fuhr sie fort. »Ich hatte ihm einiges zu sagen über das gräßliche Händeschütteln und Abküssen von Fremden bei der Messe in englischer Sprache. Ich habe die Messe auf lateinisch geliebt, Peter. Sie hatte Größe - Mysterium, Dramatik, Gepränge. Auf englisch klingt die Messe für mich einfältig, unbeholfen. Die Sprache ist so er-
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hebend wie Zement. Es ist, als würde man Notre-Dame gegen ein Fertighaus eintauschen.« Peter lachte laut heraus, wie Maggie es gehofft hatte; es tat so gut, mit jemand zu lachen. »Ich kann mir Ihr Gespräch mit Gott über dieses Thema genau vorstellen, Maggie«, sagte er und ahmte ihre Redeweise nach. »›Hör mal, lieber Gott, ich rate dir, guck dir genau an, was sie mit deiner Kirche machen. Ich will mich ja nicht in deine Angelegenheiten mischen, aber wer könnte deine Kirche dann noch ernst nehmen?‹« »Peter«, sagte Maggie leise und hatte plötzlich das Bedürfnis, mehr zu erfahren, um diesen ursprünglichen Mann zu verstehen, der auf so merkwürdige Weise mit ihrem Leben verknüpft worden war. »Vor einiger Zeit haben Sie mir einmal erzählt, wenn Sie um eine Ecke gebogen sind, können Sie den Rückweg nicht finden...« Er nickte. Es war vollkommen verständlich, daß sie es wissen wollte... die Ecke... der Wendepunkt... aber wußte er denn selbst genau, wohin er ging? »Das ist eine komplizierte Geschichte, Maggie, meine Liebe«, sagte er, plötzlich traurig. »Ich will versuchen, einen Anfang zu finden...« Peter verstummte, begann dann von vorn. »Ich war Anthropologe und Linguist, wie Sie wissen. Beide Berufe gaben mir Gelegenheit, nicht nur in exotische Länder zu reisen, sondern lange Zeit in anderen Kulturen zu leben, den Menschen und ihren Glaubensformen nahezukommen. Auf meinen Wanderungen erhielt ich immer wieder Kenntnis davon, daß Avataras existieren - herabgestiegene Wesen -, die zu diesem Zeitpunkt auf der Welt leben, und ich beschloß, sie aufzuspüren. Das erschien mir nicht abwegig - lediglich eine Erweiterung meiner vergleichenden Theologiestudien. Würdest du Jesus nicht aufspüren wollen, wenn du wüßtest, wo er zu finden wäre? fragte ich mich. So begann ich mit meiner Suche.« »Und haben Sie solche beachtlichen Wesen gefunden?« »Ja, zwei, aber mir war gesagt worden, daß sich derzeit fünf auf dem Planeten befänden. Dann schuf ich eine Prämisse, die erforderte, daß ich mich in ihrer Gesellschaft aufhielt. Ich kleidete sie natürlich in eine theologische Sprache, die für die neue
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Neigung der Kirche zur Ökumene akzeptabel war, so daß meine Vorgesetzten, mögen sie auch mißtrauisch gewesen sein, nicht den Versuch machten, mich aufzuhalten.« Er hielt inne, weil er nicht recht wußte, wie er das Ausmaß dessen, was sein rebellisches Handeln entfesselt hatte, in Worte kleiden sollte. »Wie ich Ihnen zu Beginn unserer Bekanntschaft erzählte, habe ich in Gegenden gelebt, wo unsere Realitätsmuster wenig gelten. Zum Beispiel lebt im Amazonasgebiet ein Indianerstamm, bei dem nur das Geträumte Bestand hat - das Leben im Wachzustand finden sie zu absurd, um es für wahr zu halten. Durch meine Erfahrungen begannen meine Wahrnehmungen, sich radikal zu verändern. Der erste dieser Avataras, den ich traf, wurde für mich zur Besessenheit. Ich studierte ihn wie einen anthropologischen Typus. Ich war entschlossen, ihn auf die Probe zu stellen, seine Makel aufzudecken, mich davon zu überzeugen, daß er nicht das sein konnte, was er schien.« Peter lächelte rätselhaft. »Er aber betrog mich um mein Ziel. Er forderte mich heraus, demütigte mich, veränderte mich. ›Du bist im Gespinst Gottes‹, sagte er mir. ›Das wird in Ekstase enden.‹ Er war der erste, der mich zu einer allmählichen Verschiebung der Argumentation brachte, die meine Kirche für ketzerisch und ich für den Beginn der Weisheit hielt. Ich glaubte, den Gral gefunden zu haben. Ich hatte gesehen, was das Ego vergißt, die Seele aber in Erinnerung behält: das Meer des Lichts aller Mystiker aller Zeiten. Als ich in die Vereinigten Staaten zurückkam, verändert von dem Licht, das sich mir gezeigt hatte, gab ich das Buch heraus, das mich zugleich berühmt und berüchtigt machte. Ich wurde von der intellektuellen weltlichen Presse gelobt und von den konservativen Kräften innerhalb der Kirche geschmäht. Doch wegen der allgemeinen Beliebtheit, der ich mich damals erfreute, gab man mir noch eine Chance, meine Seele zu retten. Meine Vorgesetzten nahmen mich an eine sehr kurze Leine und schickten mich in ein geistliches Sibirien, eine verarmte Provinzpfarrei im Norden. Es war eine klug gewählte Läuterung, aber das wußte ich damals natürlich nicht. Für intellektuellen Dünkel blieb mir vor lauter Arbeit dort keine Zeit. Und sie
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dachten wohl, daß dort niemand den Intelligenzquotienten oder die Bildung besaß, um mir Gelegenheit zur Sünde zu geben.« Er kicherte. »Sie haben sich geirrt. Sechs Jahre habe ich bei den Armen, Ungebildeten und Verzweifelten gearbeitet... und sie lehrten mich, was es heißt, Priester zu sein. Anfangs war ich wütend, gedemütigt, begierig nach Erlösung aus meinem Fegefeuer. Nach einer Weile begriff ich, daß Gott meinem Leben Weisheit schenkte, trotz und sogar wegen der Engstirnigkeit meiner Vorgesetzten. Mit einer Frau, die einen kranken Mann und zwei behinderte Kinder hatte, fing es an. Sie erzählte mir scheu, daß das kirchliche Verbot der Empfängnisverhütung ihr Probleme machte. Sie liebe ihren Mann, und sie hätten so wenige Freuden... aber sie würden es nicht überleben, wenn ihnen noch ein behindertes Kind geboren würde, und da sie nicht einmal im Traum an Abtreibung dächten, bliebe ihnen nur, auf Ge schlechtsverkehr zu verzichten. Sie wollte, daß ich ihr die Beichte abnehme, aber sie wußte wie ich, wenn sie mir beichtete, daß sie empfängnisverhütende Mittel anwendete, durfte ich ihr die Absolution nicht erteilen. Deswegen wollte sie diese Frage vorher mit mir erörtern, um zu sehen, wie ich dazu stand. Mache mich nicht zum Werkzeug, das die Bürde dieser Frau vergrößert, flehte ich zu Gott. Sag mir, was ich ihnen sagen soll. Hilf mir, deinen leidenden Kindern zu helfen... Ich fastete und betete, und dann bekam alles einen Zusammenhang. Die Offenbarungen in Afrika und Indien, die Not der Menschen, meine Überzeugung von der Liebe und Gerechtigkeit Gottes, mein inständiges Verlangen nach einem kosmischen Verstehen - aus alledem entwickelte ich eine Hypothese über unsere Entwicklung hin zu Gott. Ich befand mich in den Fängen einer visionären Erfahrung, die über alles hinausging, was ich je für möglich gehalten hatte. Tagsüber arbeitete ich für meine Pfarrkinder, und nachts schrieb ich. Es gab natürlich noch andere Zweifler innerhalb der Kirche. ›Die brennende Fackel‹ taufte mich die Presse, und ich war tatsächlich entflammt, Maggie, denn ich glaubte wahrhaftig, inspiriert zu sein von einer Vision, die dem Sehnen der Menschheit nach Go tt einen anderen
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Kurs geben würde. Und ich war so jung! Damals besaß ich noch die Leidenschaft, meine Visionen voranzutreiben, und ich schrieb über diese Leidenschaft. Diesmal kam von der Diözese kein warnendes Grollen, kein: ›Ich höre, Sie verbreiten umstrittene Lehren, Pater, finden Sie nicht, daß Sie Ihre Pfarrkinder mit derlei Konfusionen verschonen sollten?‹ Diesmal wurde meine Arbeit nicht nur nicht zur Veröffentlichung freigegeben, sie wurde direkt verboten. ›Nicht veröffentlichen. Nicht verbreiten. Kein Sterbenswörtchen von dieser Ketzerei, bei Strafe der Exkommunizierung.‹ Ich wurde vor die Heilige Inquisition gerufen, die sich heutzutage Heilige Kongregation für die Glaubenslehre nennt. Ich wurde wegen meines schändlichen Mißbrauchs intellektuellen Stolzes gewarnt. ›Die Theologie ist die Dienerin der Kirche, Pater, kein öffentliches Forum für Ihre Arroganz.‹ Ich konnte natürlich keinen Kompromiß eingehen. Ich wollte meiner Kirche nicht schaden, nur hatte ich einfach keine andere Wahl mehr, als meinem Gewissen zu folgen. Ich hing an einem paradoxen Kreuz: Bin ich eins mit Gott, weil ich meinem Ge wissen folge, fragte ich mich gequält, oder verlangt er von mir Opfer, mich und meine Theorien der Disziplin der Kirche zu unterwerfen? Wie diene ich dir? lautete mein Martyrium. Was ist dein Wille? Ich veröffentlichte Der weite Weg vom Kalvarienberg in der weltlichen Presse, nicht aus Trotz, sondern in verzweifeltem Glauben. Ich mußte Gott finden oder sterben, und ich rechnete mit Exkommunizierung.« »Mein Gott, Peter«, sagte Maggie leise. »Das alles muß Sie ja in Stücke gerissen haben.« »Von unserem Moment in der Zeit hängt unser Geschick ab, Maggie«, erwiderte er. »Der Papst rief mich nach Rom. Er war gütiger und gerechter, als ich erwartet hatte. Wir waren uns früher bereits begegnet, als ich noch Student und er Kardinal war. Als mein erstes Buch berühmt wurde, hatte er es gelesen, und er erinnerte sich an mich. Ich erfuhr, daß er auch mein neuestes Buch gelesen hatte. Der Papst fragte mich nach jeder Nuance meiner Theorie... er stellte
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nicht meine Theologie auf die Probe, wie ich erwartet hatte, sondern meine Ernsthaftigkeit und meine Liebe zu Gott. Er äußerte nicht seine Meinung, aber später gab mir ein ehemaliger Lehrer, Giuseppe Pontinelli, wortwörtlich wieder, was der Heilige Vater zu ihm über mich gesagt hatte. ›Der Mann ist kein Ketzer. Er ist nur ein Mystiker, der Gott um eine Ecke gefolgt ist und dem der Heimweg noch nicht gezeigt wurde. Dieser Weg wird ihm offenbart werden, wenn seine Zeit gekommen ist. Wir müssen ihn beschirmen, Giuseppe, bis Gott es für geboten hält, uns von dieser Verantwortung zu befreien.‹« Peter lächelte traurig, und Maggie sah die Tränen in seinen Augen. »Ich wurde nicht exkommuniziert, sondern an den Ort geschickt, wo Sie mich gefunden haben, verbannt zwischen dem Staub anderer verbotener Denker. Ein grausamer Scherz seitens der Heiligen Kongregation, vermute ich. Wenn sie mich nicht exkommunizieren konnten, wollten sie mir wohl wenigstens zeigen, in welch muffige Düsternis Gedanken wie meine unweigerlich führen. Was natürlich besser ist, als aufs Rad geflochten zu werden - ich habe Glück, in einem so aufgeklärten Zeitalter ein Ketzer zu sein.« Maggie hatte dem letzten Teil des Berichts mit angehaltenem Atem gelauscht. »Und war die Verbannung besser, als die Kirche ganz zu verlassen, Peter? Sie hätten doch sicher auch außerhalb weiter suchen und schreiben können? Sie besaßen international einen guten Ruf.« »Ich habe daran gedacht, Maggie«, erwiderte er aufrichtig. »Und dann fiel mir ein, wie ich bei meiner ersten Verbannung mit der Pfarrarbeit gehadert hatte und wie irrig mein Urteil gewesen war. Meine Vorgesetzten hatten mir genau die richtige Arznei für meine gequälte Seele verschrieben, so sehr ich mich in meiner Unwissenheit gegen ihren bitteren Geschmack aufgelehnt hatte. Ich begann meine neue Verbannung - und mein Schweigen als angemessene Strafe für meine Sünden zu sehen... für diejenigen, die die Heilige Kongregation kannte, und für die, von denen sie nichts wußte. Ich richtete mich in diesem neuen Fegefeuer ein, Maggie, um
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auf die Erleuchtung zu warten, weshalb Gott mir ausgerechnet diese Prüfung auferlegt hatte. Meine Zeit als Bibliothekar diente mir dazu, meine eigene Spreu von meinem Weizen zu trennen. Natürlich habe ich weiter geschrieben und meine Hypothese erforscht. Schlimmstenfalls müssen sie sich mit meinen Theorien auseinandersetzen, wenn ich tot bin.« Beide schwiegen eine Weile. »Ich habe einen Freund«, sagte Peter unvermittelt. »Sein Name ist Pater James Kebede, er besitzt einen scharfen Verstand und eine große Liebe zu Gott... ich würde gerne seine Meinung zu Ihrem Dilemma hören. Wären Sie bereit, ihn kennenzulernen? Es würde mir sehr viel bedeuten.« »Ich habe auch ein paar Freunde, die Sie kennenlernen möchten, Peter«, erwiderte sie langsam. »Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn wir alle die Köpfe zusammenstecken.« Peter ging an den Schreibtisch und nahm ein dickes Bündel Notizen zur Hand, womit er auszudrücken schien, daß sie wieder an die Arbeit gehen sollten. Er reichte ihr die Mappe, und Maggie stöhnte innerlich; die Notizen waren lateinisch abgefaßt. Sie hatte in der Schule fünf Jahre Latein gehabt, aber das war lange her. »Das mag ja vielleicht Ihre zweite Natur sein«, sagte sie und verzog das Gesicht, während sie die Papiere entgegennahm. Peter lächelte. »Keine Bange, ich übersetze es Ihnen. Hier ist etwas, das ich Ihnen zeigen möchte.« Als Peter gegangen war, stand Maggie am Wohnzimmerfenster und beobachtete die verlassene Straße. Peter war eine unglaubliche Kombination aus hohem Intellekt und altmodischer Frömmigkeit. Sie fragte sich, was sie für ihn empfand. Konnte man es Liebe nennen? Sie fühlte sich immer seltsam komplett bei ihm. Es fühlte sich nicht neu an, wie wenn man sich verliebt. Es fühlte sich alt an, wie eine lange vergessene Melodie, die einem in den Sinn kommt und sich nicht mehr vertreiben läßt. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es sich gut anfühlte, das war das Verrückteste daran. Ihre Beziehung fühlte sich notwendig und unvermeidlich an. Unausweichlich.
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Es machte sie nervös, daß sie ihn begehrte, und sie schlug sich den Gedanken aus dem Kopf und ging zu Bett. Cody stand in dem weißgekachelten Badezimmer und schluchzte herzzerreißend. Der Boden zu ihren Füßen war ringsum mit Erbrochenem bedeckt. Ghania hatte ihr die Nase zugehalten, bis sie nicht mehr atmen konnte, und dann war ihr Mund von ganz allein aufgegangen, und Ghania hatte ihr den gräßlichen Trank in den Schlund geschüttet, bis sie würgen mußte und sich alles über ihr ganzes Gesicht ergoß, in Nase und Augen, und über ihr Kleid. Sogar ihre Socken waren voll. Und dann hatte sie sich übergeben, und Ghania hatte sie so fest geschlagen, daß ihr Kopf an die Badewanne schlug, und alles war dunkel geworden, und Ghania rannte fluchend durch den Flur und rief nach einem Dienstmädchen, das die Schweinerei aufputzte, und ließ das verängstigte Kind zurück. Codys Schluchzer kamen jetzt stoßweise, sie schnappte nach Luft und versuchte zu atmen. Sie stand mitten in der ekligen Pfütze, wußte nicht, was sie tun oder wohin sie sich wenden sollte. Ghania hatte vorerst von ihr abgelassen, aber gewiß nicht für immer. Cody schlich ans Fenster und sah durch ihren Tränenschleier auf das Meer. Es gab auf der ganzen Welt keinen Ort mehr, wo sie in Sicherheit war, nur bei Mim. Und sie war fort. Cody konnte die Stelle sehen, wo Mim gestanden war, als sie sagte, sie würde sie retten. Der Schmerz schnürte ihr das Herz zusammen, denn Mim war nicht wiedergekommen. Vielleicht kam sie nie mehr. Vielleicht war sie bei einem Autounfall verletzt worden, oder vielleicht war sie krank, oder vielleicht war sie tot. Oder vielleicht liebte sie ein anderes kleines Mädchen... Vielleicht würde Cody für immer allein sein in diesem schrecklichen Haus. »Ich hab dich lieb, Mim«, flüsterte sie dem Phantom im Sand zu. Manchmal war Sand in ihren Träumen. Nicht so wie am Strand, eine andere Sorte Sand. So heiß, daß er einem an den
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Füßen und in den Augen weh tat. So heiß, daß er einen verbrannte, wenn man atmete. Und Mim war an jenem anderen sandigen Ort und hielt Codys Hand. Und sie rannten. Und sie hatten große, große Angst. Der Traum brach über Maggie herein, sobald der Schlaf kam. Sie verharrte am Rand einer weiten Wüstenlandschaft. Ein Meer aus endlos wogendem Sand erstreckte sich gefährlich vor ihr und dem kleinen Mädchen, das ängstlich ihre Hand umklammerte. Sie wurden verfolgt. In kurzer Entfernung waren ihnen die Mörder auf der Spur. Die weite Wüste war ihre einzige Hoffnung zu entkommen. Die zwei ängstlichen Gestalten eilten in die sengende Unendlichkeit ... und verschwammen aus dem Blickfeld wie eine Luftspiegelung. Maggie schlug im Bett um sich, bis sie wach war, und setzte sich unsicher auf. Sie trug die Sehnsüchte und die Ängste der Frau und des Kindes noch in sich... oder vielleicht war das Kind Cody, und dies war nur eine weitere Äußerung der entsetzlichen Situation, in der sie sich befand. Sie drehte sich im Bett herum und zwang ihre Augen, sich auf das Zimmer zu konzentrieren. Und da begriff sie die unvorstellbare Wahrheit. Sie und Cody waren es, die da rannten, und sie waren in einer anderen Zeit.
41 Maggie blickte in die kleine Runde der versammelten Freunde und hoffte, es sei eine gute Idee von Amanda gewesen, als sie vorschlug, daß alle Verbündeten sich treffen sollten. Welch lächerlich kleine Armee für eine so große Schlacht, dachte sie. ich komme mir vor wie Frodo. Peter stand am Kamin, Amanda saß, vornehm wie stets, in einem Sessel, Devlin lümmelte neben Maggie auf der Couch; er hatte sein Jackett über einen Stuhl
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gehängt und seine Krawatte gelockert. Er sah aus, als sei er die ganze Nacht aufgewesen. »Eine illustre Gesellschaft«, sagte Ellie, die auf einem Tablett Getränke herumreichte. »In die ich wohl am wenigsten hineinpasse«, meinte Amanda. Sie stand auf und nahm Ellie das Tablett ab. »Und weil ich am wenigsten zu sagen habe, will ich mich lieber auf profane Weise nützlich machen.« Sie lächelte Ellie zu, die ihr die Arbeit überließ und sich auf den Fußboden setzte. »Trotzdem werde ich hier und da eine Frage stellen, wenn es nicht stört«, schloß Amanda, und alle murmelten ihr Einverständnis. »Ellie und ich sind der Meinung«, begann Peter, »daß Maa Kheru die Nacht des dreißigsten April für die Materialisation der Amulette wählen wird.« Maggies Herz klopfte heftig. Dreieinhalb Wochen, hämmerte es... dreieinhalb Wochen. »Worauf gründen Sie diese Annahme?« warf Devlin ein. Maggie und Ellie wechselten einen Blick; es war nicht zu übersehen, daß der gegenseitige Argwohn der Männer an Abneigung grenzte. Verdammt, dachte Maggie, die die Spannung spürte, ich hätte sie anders zusammenbringen sollen. Es war dumm gewesen anzunehmen, daß sie gut miteinander auskommen würden. Peter wandte sich an Devlin. »Ich habe es den alten Schriften entnommen, soweit ich aus ihnen klug wurde - und lassen Sie mich Ihnen versichern, ich sage dies mit sehr geringer Ge wißheit, denn alles in den Papyri ist in Rätsel gefaßt. Es scheint aber, daß zwei Dinge notwendig sind, um die Amulette zu materialisieren: Die Botin, unter den korrekten Planetenaspekten geboren, muß natürlich anwesend sein. Und es muß eine Konjunktion von Saturn und Neptun mit dem Trigonalaspekt Pluto und Uranus stattfinden, um die elektromagnetischen Frequenzen zu erzeugen, die für die Materialisation günstig sind. Das wird am dreißigsten April dieses Jahres der Fall sein.« Ellie schaltete sich ein. »Wenn man hinzufügt, daß am dreißigsten April Walpurgisnacht ist, wo die böswilligen Energien am stärksten sind, kann man darauf wetten, daß das ihr anvisiertes Datum ist.«
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Devlin runzelte die Stirn über die mystische Ausdrucksweise, und Ellie zog ihn mit seinem Widerwillen auf. »Als guter Gast, Dev...«, sagte sie spitz, und er kicherte gutmütig über die Schelte. »Okay, okay. Manchmal muß man sich mit Indizienbeweisen begnügen. Es ist nur so, daß Polizisten Vermutungen hassen.« Ellie lächelte spitzbübisch; er entsprach genau Maggies Beschreibung. »Sie hassen Vermutungen, weil Sie ein Dichter sind, Dev, nicht weil Sie Polizist sind.« Devlin mußte lachen; in Ellie steckte mehr, als man auf den ersten Blick annahm. »Okay«, lenkte er ein, »konzentrieren wir uns also vorerst auf den dreißigsten April. Damit haben wir weniger als einen Monat, um das Kaninchen aus dem Hut zu ziehen.« Ellie sah, daß Devlin Peter kaum aus den Augen ließ. »Um das mal festzuhalten, Pater, worin genau wird die Materialisation bestehen?« fragte er. »Hier sagen alle Peter zu mir«, entgegnete der Priester ruhig. »Es wäre mir lieb, wenn Sie mich auch so nennen würden.« Devlin schüttelte den Kopf und lachte kurz auf. »Kommt nicht in die Tüte, Pater, ich bin ein BIC.« »Ein BIC?« »Bronx-Irish Catholic. Ein irischstämmiger Katholik aus der Bronx. Wir haben unsere eigene Art, was Priester angeht.« Geschickt ausgewichen, dachte Maggie und warf Ellie einen Blick zu, um zu sehen, ob sie die Nuance registriert hatte. Du bist Maggies Freund, nicht meiner, sollte das heißen, über dich wird noch beraten. »Wie Sie wünschen«, entgegnete Peter. »Ich will Ihnen sagen, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte. Aber ich muß Sie daran erinnern, daß dies Spekulationen sind, die auf verschlüsselten Geheiminformationen beruhen, die im Laufe von fast fünftausend Jahren eine Menge Fehlübersetzungen erfahren haben. Sogar die Bibel hat merkliche Abweichungen, je nachdem, ob sie im hebräischen Original gelesen wird, in Griechisch, in dem Aramäisch zur Zeit Christi oder in der King-James-Version...«
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Devlin winkte abwehrend mit der Hand. »Ich bin an verdrehte Beweisführungen gewöhnt, Pater. Sagen Sie mir nur, was Sie vermuten.« Peter atmete tief durch und überlegte, wie er zusammenfassen sollte, was er wußte. »Betrachten wir diesen Vorgang, wie ein Physiker es tun würde«, sagte er. »Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß das, was wir als unser physikalisches Selbst sehen - und darüber hinaus unsere gesamte Welt -, keineswegs feste Materie ist, sondern eine Ansammlung von Billionen von Molekülen, die ständig in Bewegung sind. Wenn Cody die Isis -Botin ist, dann ist sie eine Art kosmische Stimmgabel. Wir müssen annehmen, daß ihre einmalige Vibrationssequenz unter bestimmten, günstigen Voraussetzungen mit einer festgelegten universalen Energiestruktur übereinstimmend schwingt, um Geschehnisse zu bewirken. In diesem Fall, um eine andere Molekularstruktur, das Isis -Amulett, ins materielle Sein zu bringen. Genau wie unsere Galaxie aus dem Nichtsein oder zumindest aus einem urzeitlichen Schmelztiegel von Molekülen ins Sein gerufen wurde, so wird auch das Amulett ins Sein gerufen. Sobald diese Materialisation vollzogen ist, wird von dem jüngst materialisierten Amulett eine weitere elektromagnetische Resonanz in Gang gebracht. Diese zweite Resonanz wird sich zu Materie verdichten, dem Sekhmet-Stein. Im Augenblick könnte man sagen, daß diese zwei Amulette lediglich in einer potentiellen Seinsform existieren. Nach dem dreißigsten April müssen wir annehmen, daß das Isis -Amulett und der Sekhmet-Stein tatsächlich auf unserer materiellen Ebene existieren.« Er blickte sich um, um festzustellen, ob alle ihm bis hierhin gefolgt waren. »Es wäre vielleicht hilfreich für uns zu bedenken, daß, vom Standpunkt eines Physikers gesehen, Licht eine Energieform ohne elektrische Ladung oder Masse ist, jedoch Protonen und Elektronen erzeugen kann, welche die Komponenten des Atoms und damit die Bausteine der Materie sind. Laut Plancks Quantentheorie wird Licht in ›Taschen‹ oder Quanten übermittelt,
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die auch Photonen genannt werden. Und Photonen agieren gewissermaßen wie intelligente Menschen... zum Beispiel wählen sich jene Photonen, die einen Lichtstrahl bilden, stets einen Weg durch die Atmosphäre, der sie schnellstens zu ihrem Ziel führt.« »Wie bitte?« fragte Devlin. »Ich meine nur, so weit hergeholt die Erzeugung von Materie aus Nicht-Materie auch scheint... vom Standpunkt eines Physikers gesehen, mag dies nicht völlig abwegig sein.« »Peter will damit nur sagen, daß wir möglicherweise nicht alles wissen, was die Alten wußten«, beschwichtigte Ellie. »Und wie können sie Cody benutzen? Was geschieht mit ihr?« Devlin blieb beharrlich. Peter schüttelte den Kopf und machte ein finsteres Gesicht. »Die Texte besagen lediglich, daß ihr Ka ihren Körper verlassen und an den Ort in Zeit und Raum reisen muß, wo die Amulette verwahrt werden. Dann muß sie mit ihnen heil zurückkommen ...« Er deutete auf Ellie. »Ellie, unsere Metaphysikerin vor Ort, sagt, daß der mündlichen Überlieferung zufolge die Botin während dieser Reise außerhalb des Körpers schweren Gefahren ausgesetzt sein wird. Vielleicht möchte Ellie erklären...« Ellie nahm den Faden auf. »Wenn der Geist eines Menschen - nennen wir ihn einstweilen Ka - den physischen Leib verläßt, um auf der astralen oder irgendeiner anderen Existenzebene zu wandern, bleibt er durch die sogenannte Silberschnur mit dem physischen Leib verbunden, einer ätherischen Nabelschnur, die eine unendliche Dehnfähigkeit zu besitzen scheint.« »Davon habe ich gehört!« erklärte Amanda. »Shirley MacLaine flitzt nachts in der Weltgeschichte herum und findet mit Hilfe dieser Silberschnur den Weg zurück, nicht?« Ellie kicherte. »Stimmt genau, Amanda. Dann wissen Sie vermutlich auch, daß der Astralreisende sorgsam darauf bedacht sein muß, die Schnur nicht zu durchtrennen und dem zurückgebliebenen Körper nichts Aufregendes zustoßen zu lassen, denn der physische Leib ist ungeheuer empfindlich, während sozusagen der Geist aus der Flasche ist.« Amanda nickte, offensichtlich gefesselt. »Also angenommen,
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daß diese erstaunliche Geschichte stimmt, müssen wir nicht nur in dieser Welt, sondern noch in mehreren anderen um Cody fürchten? Allmächtiger Gott, mir scheint, da haben wir ein schönes Stück Arbeit vor uns.« »Die Gefahren sind vielfältig«, fuhr Ellie fort. »Die schwarzen Magier können Codys physischen Leib zerstören, so daß sie nicht wieder in ihn hinein kann... ihr Ka kann während der Astralreise von Dämonen angegriffen oder gefangengenommen werden... oder vielleicht könnte gar noch Schlimmeres geschehen ...« Ellie sah Peter besorgt an, der die Erklärung fortsetzte. »Es gibt eine sehr obskure Schrift, so abstrus, daß niemand ihr große Bedeutung beigemessen hat. Liest man sie aber im Zusammenhang mit dieser Isis -Sekhmet-Legende, so ließe sie sich dahingehend deuten, daß Sekhmet beschließen könnte, mittels Übernahme von Codys Körper ihrem Stein in die materielle Welt zu folgen. Dazu müßte das Ka des Kindes in der Astralebene gekidnappt und von dämonischen Wächtern gefangengehalten werden.« Auf Devlins verächtliches Schnauben hob er abwehrend die Hände. »Ich berichte lediglich, was in der Schrift steht, Lieutenant«, sagte er und bemühte sich, nicht wütend zu werden, »ich kann keine wissenschaftliche Bestätigung für eine solche Annahme liefern.« Der Priester hielt kurz inne und sprach dann weiter, »Ich hatte jedoch Erlebnisse mit dämonischen Intelligenzen... genau wie Maggie sie in der Nacht der Sendung hatte. Daher kann ich diese Möglichkeit auch nicht kurzerhand ausschließen.« Schreib dir das hinter die Ohren, dachte Ellie und unterdrückte ein Grinsen. Es war offensichtlich, daß Devlin Maggies Beziehung zu Peter intuitiv spürte und verübelte. Sie nahm sich vor, die Wogen zu glätten - Uneinigkeit unter Verbündeten lag nicht in ihrem Interesse. »Könnten Sie uns ein bißchen über Isis und Sekhmet erzählen, Peter oder Ellie?« warf Amanda rasch ein, um die Spannung im Raum zu lösen. »Ich denke, Dev und ich sind mit unseren Göttinnen nicht sehr vertraut.« Dabei lächelte sie Devlin entwaffnend zu, und sie sah ihm an, daß er beschloß, sich gesittet zu benehmen.
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»Amanda hat recht«, stimmte er zu. »In der Bronx waren wir von allen Göttinnen verlassen.« Peter sah Ellie an, aber sie überließ ihm mit einer Handbewegung das Feld, also räusperte er sich und begann: »Am Anfang war Isis«, sagte er. »›Älteste der Alten, war sie die Gö ttin, welcher alles Werden entstieg. Sie war die Hohe Frau, Herrin des Hauses des Lebens, Herrin des Wortes Gottes. Sie war einzigartig. In all ihren großen, wunderbaren Werken war sie eine weise Magierin und überragender als jede andere Gottheit.‹« Er lächelte und setzte hinzu: »Das stammt aus einer alten thebanischen Handschrift, die im vierzehnten Jahrhundert vor Christus verfaßt wurde. Mit allen alten Göttern verbindet sich eine allegorische Legende aus jener Zeit, als sie auf Erden wandelten und mit den Menschen Umgang pflegten. Die beste Darstellung der Isis -Legende dürfte die von Plutarch sein, wie er sie in seiner Abhandlung De Iside et Osiride formulierte. Sie wurde um die Mitte des ersten Jahrhunderts unserer Zeit in Griechisch abgefaßt und später durch bestimmte ägyptische Hieroglyphentexte untermauert. Gleichgültig, ob Sie sie als Historie oder als Allegorie begreifen, sie ist außergewöhnlich in ihrem komplexen Verständnis der Natur des Menschen. Ich will Sie nicht mit der vollständigen Geschichte belasten, sondern nur die wesentlichen Punkte herausgreifen. Osiris war ein ägyptischer König von atemberaubender Weis heit, der sich die Aufgabe stellte, das Volk zu kultivieren und aus seinem Zustand der Barbarei zu befreien. Er und Isis, seine ungewöhnliche Königin, lehrten das Volk die Kultivierung des Bodens, schenkten ihm eine Gesetzessammlung und unterwiesen es in der Verehrung der Götter. Nachdem er sein eigenes Land zum Blühen gebracht hatte, machte Osiris sich auf, die anderen Völker der Erde zu unterweisen, und ließ Isis zurück, um an seiner Stelle zu regieren. Und sie regierte so vortrefflich, daß die boshaften Pläne, die Osiris' garstiger Bruder Set für das Königreich faßte, vereitelt wurden. Das erzürnte Set derart, daß er, als sein Bruder zurückkehrte, siebenundzwanzig Unzufriedene zu einer Verschwörung über-
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redete, mit dem Ziel, Osiris zu töten. Nachdem sie ihn hinterlistig ermordet hatten, zerstückelten sie seinen Leichnam in vierzehn Teile und zerstreuten sie in ganz Ägypten beziehungsweise Khemu -Amenti, wie es damals genannt wurde.« Khemu-Amenti! Der Name ließ Maggie hochfahren. Es war der Name aus ihrem Traum; der Name, der ihr entfallen war. Und da war auch der Klang wieder... wie das flüchtige Klingeln einer Glocke, das vom Wind davongetragen wurde. Tempelglocken... sie hatten etwas mit der Anwesenheit in einem Tempel zu tun... Sie zwang sich, wieder auf das zu achten, was Peter sagte. »Osiris wurde der König der Unterwelt, während Isis ihren rechtmäßigen Platz als Königin des Himmels einnahm. Sie war das Urbild aller weiblichen Eigenschaften: Liebe, Pflichtbewußtsein, Seelenstärke, Mut und Gerechtigkeit.« »Ich möchte etwas hinzufügen, Peter«, warf Ellie ein. »In der Mysterienlehre wird Isis mit einmaligen Eigenschaften ausgestattet, die wir vielleicht im Kopf behalten sollten, wenn wir die Bedeutung ihres Amuletts erörtern. Isis ist die Hohepriesterin, die das innere und oftmals ›verborgene‹ Allerheiligste vertritt. Sie ist mondbestimmt, empfängt jedoch ihre Kraft von der Sonne. Sie verkörpert alle intellektuellen, psychischen und spirituellen Gaben und ist die Bewahrerin aller kosmischen Geheimnisse... Nur die, die reinen Herzens sind, dürfen sie erfahren, denn sie verbirgt sie vor den Profanen. Ihre ganze Geschichte ist ein verschlüsseltes Mysterium, welches die Beurteilung der Seele durch die Gebieter über das Karma verkörpert. In den ägyptischen Mysterien wurde einer Seele, die für absolut rein befunden wurde, gestattet, in die Unsterblichkeit einzugehen...« »Ich brauche noch was zu trinken, bevor wir zu Sekhmet kommen«, sagte Amanda gequält. »Die Alten machen einem ganz schön zu schaffen.« Sie füllte alle Gläser nach, ihr eigenes ebenfalls, und nahm wieder Platz. »Ellie«, sagte Peter, »erzählen Sie uns doch, was Sie von Sekhmet wissen.« Ellie nickte und erhob sich, während Peter sich setzte. Sie ver-
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harrte einen Augenblick, um sich zu sammeln, und deklamierte dann mit feierlicher Stimme: »›Ich bin die Machtvolle, welche die Ödnis regiert... Groß und Schrecklich ist mein Name.‹ So nennt Sekhmet sich selbst. ›Größer denn Isis bin ich und mächtiger als alle Götter. Verboten ist mein Name.‹ Und das ist nur ein winziger Teil ihres Lebenslaufs«, sagte Ellie schmunzelnd und fuhr mit ihrer normalen Stimme fort: »Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Ihr Name stammt von der Wurzel ›Sekhem‹ und bedeutet ›stark‹, ›mächtig‹, ›gewaltig‹. Ihren Anhängern erscheint sie gerne in Gestalt einer prächtigen, leopardengroßen schwarzen Katze, die ein goldenes, mit Rubinen besetztes Halsband trägt und ein mit einem Ankh verziertes Zepter. Eine enorme Uräusschlange krönt ihr Haupt, und sie ist ungemein majestätisch. Aus gutem Grund natürlich, denn Ra, der Sonnengott, war ihr Vater, und sie war sein unbändiges Kind.« Ellie fing Peters unterdrücktes Lächeln auf und erwiderte es. »Man muß unbedingt vermerken, daß sie nicht durch und durch schlecht ist... Sekhmet ist eine Zerstörerin, aber Zerstörung ist oft notwendig, um Platz zu schaffen für eine neue Ordnung. Sie verkörpert das ursprüngliche Chaos und ist entschieden blutrünstig, aber es gibt genug Leute, die sagen, daß es ohne Zerstörungsenergie auf der Welt nur Stagnation gäbe und sich nie etwas verbessern könnte.« »Eine feine Unterscheidung«, bemerkte Amanda, »aber die kann man nur treffen, wenn Sekhmet nicht gerade damit beschäftigt ist, einen selbst zu zerstören.« Ellie lachte. »Da liegt der Hase im Pfeffer. Ihrer allegorischen Legende zufolge hat Ra sie, ›die Kraft, gegen die keine andere
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Kraft etwas vermag‹ einmal gebeten, einige Erdbewohner zu bestrafen, die seinen Zorn verdienten. Sie eilte schnurstracks hierher, vernichtete die Delinquenten, zerriß und schlachtete sie und trank mir nichts, dir nichts ihr Blut. Sie war so berauscht von ihrem Tun, daß sie drohte, die ganze Menschheit zu vernichten. In seiner Verzweiflung riß Ra ein paar Pflanzen aus der Familie der Nachtschattengewächse aus und schickte sie mit etwas Opium dem Gott Sekri in Heliopolis, der alles geschwind aufbrühte und in siebentausend Krügen vermischte mit einem Trank aus Menschenblut und Bier. Sekhmet erspähte das Ge bräu, fand, daß es lecker aussah, schlürfte die siebentausend Krüge leer und, ich zitiere, ›ihr Herz ward von Jubel erfüllt.‹ Dann fiel sie in eine tiefe Erstarrung, und als sie aufwachte, vergaß sie, den Rest der Menschheit zu töten.« »Ein wahrer Lobgesang auf den Rausch!« sagte Amanda lachend. »Eine großartige Geschichte.« »Und gut erzählt«, fügte Peter bewundernd hinzu. »Ich finde, die meisten der ägyptis chen Gelehrten, die ich kenne, täten gut daran, mit Ihnen über ihre Gottheiten zu diskutieren, Ellie.« »Das war sehr unterhaltsam«, sagte Devlin, als er Maggie kurz darauf eine gute Nacht wünschte, »aber kaum geeignet, Cody zu befreien.« »Wer seinen Geist verschließt, verschließt das Tor zur Zukunft«, schalt Ellie, die seine Worte gehört hatte. »Ich nehme an, das ist von einem alten ägyptischen Weisen?« fragte Devlin. »Nein«, gab sie zurück, »das ist von mir.«
42 Abdul Hazred verneigte sich vor dem Altar und machte sich daran, die heiligen Energien zu verteilen. Es war unabdingbar, vor Beendigung einer Zeremonie alle angerufenen oder beschworenen Kräfte in ihre normalen Sphären zu entlassen. Mehr als ein Zelebrant war infolge unzureichender Vertreibung im Wahnsinn gestorben.
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Hazred sagte allen Intelligenzen Dank, die so gütig gewesen waren, ihm bei den magischen Verrichtungen des Tages beizustehen. Der berauschende Duft von Sandelholz-Weihrauch, einer der wenigen, der allen Göttern zusagte, erfüllte den Raum, und Hazred fühlte, wie die ermüdeten Energien sich zerstreuten und im duftenden Rauch verwehten. Er ging rückwärts die Stufen hinab, das Gesicht immer noch dem Altar zugewandt - es war nicht ratsam, einem Unsterblichen den Rücken zuzukehren -, und begab sich in das Arbeitszimmer, das ihm als Ankleideraum diente. Hazred nahm erleichtert die schwere Löwenmaske ab, band den Sekhmet-Schurz auf und zog die weißen Gewänder aus. Einen Augenblick stand er da mit zurückgeworfenem Kopf, die Arme ausgestreckt, und atmete tief durch. Er war eine lange, gewundene Straße im Dienste der Göttin gegangen. Am Ende würde sie ihm seinen Eifer lohnen, indem sie ihm die höchste aller Auszeichnungen in die Hände legte. Hazred kehrte in die reale Welt zurück. Er duschte ausgiebig, schrubbte sich so gründlich wie die alten Priester, die stets vor und nach dem Zeremoniell ihren Körper gereinigt hatten. Nach dem Duschen besprenkelte er Gesicht und Körper mit Duftölen. Patschuli für Sexualität, Jasmin für Glück, Mondwinde für Intuition und etliche weitere, die sein persönliches Geheimnis waren. Er dachte an die Frau: Maggie O'Connor. Durchaus nicht unattraktiv. Die Begegnung mit ihr war eine angenehme Überraschung gewesen. Er hatte gründlich darüber nachgedacht, wie er ihr Vertrauen gewinnen könnte. Eric meinte, sie sei unwichtig, doch im Hinblick auf die letzten Vorkehrungen in der Angelegenheit wußte Hazred, daß Eric sich irrte. Keine Figur durfte als unwichtig erachtet werden auf einem Schachbrett, das die Götter aufgestellt hatten. Ob sich erweisen würde, daß sie etwas wußte oder etwas tat oder einfach eine Energie freisetzte, das entzog sich seiner Kenntnis. Daß man sie im Auge behalten mußte, war einleuchtend. Hazred kleidete sich rasch an, und erfrischt fuhr er an den Ort, wo er von dem Beauftragten der ägyptischen Regierung
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erwartet wurde. Er befaßte sich nicht mit Politik, aber er respektierte die Macht, insbesondere, da sie nützlich sein konnte. Die alte Buchhandlung an der West Fourth Street sah schäbig aus, als sei sie schon vor fünfzig Jahren von der Zeit vergessen worden. Ein paar Collegeschüler in Jeans oder Baumwollhosen streiften zwischen den verstaubten Regalen umher; Gelehrtentypen, die Gesichter teigig von zu wenig Sonne, sprachen im Flüsterton mit den älteren Verkäufern, die fast so leblos wirkten wie die Bücher. Hazred befingerte ein, zwei Bände, als sei er interessiert, und stellte dem Mann hinter dem schwerbeladenen Eichenschreibtisch eine Frage. Wortlos wurde er in die hintere Ecke des höhlenartigen Ladens gewunken. Hazred blickte nach rechts und nach links, und zufrieden, daß er unbeobachtet war, außer von denen, die dazu angehalten waren, umrundete er das letzte Regal, schlüpfte durch die Tür mit dem Schild NUR FÜR PERSO NAL und erklomm die finstere Treppe. ANUBIS-IMPORT -AG stand in schnörkeligen Buchstaben an der Tür. Hazred klopfte an und wartete auf das Ertönen des Summers. An einen kleinen Empfangsraum schloß sich ein modernes Büro an, ein krasser Gegensatz zu allem Vorhergehenden. Schicke Metallmöbel, Computertische und eine Telefonanlage verrieten, daß Anubis -Import nicht das war, was es zu sein vorgab. Tatsächlich war es die New Yorker Zentrale von Mohabarat, dem ägyptischen Geheimdienst. Hazred wurde in das Büro geführt; er grüßte den Mann am Schreibtisch mit verhaltener Herzlichkeit, die im gleichen Ton erwidert wurde. Hazred hatte Verständnis für die militärische Art des Geheimdienstobersten - nur gefiel sie ihm nicht. Man gebe einem Beamten Macht, fand er, und man züchtet einen potentiellen Tyrannen. »Sie haben mit der Frau Kontakt aufgenommen«, sagte der Mann zur Einleitung. «Was haben Sie erfahren?« »Sie ist intelligent und gebildet, aber sehr verunsichert. Ihr ist es einzig um das Wohl des Kindes zu tun, und sie hat, soweit ich es sagen kann, kein Interesse an den Amuletten, da sie der Legende keinen Glauben schenkt.«
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Der Mann hob skeptisch eine dunkle, schwere Augenbraue. »Ich habe nur wenige Menschen kennengelernt, die an Macht wirklich nicht interessiert waren«, sagte er. Der herablassende Ton des Mannes ließ Hazred kalt. »Und haben Sie viele Großmütter kennengelernt, die das Leben eines Kindes für diese Macht hingeben würden?« fragte er gelassen. »Sie müssen in interessanten Kreisen verkehren.« Das Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch färbte sich dunkel. Man hatte ihm diesen arroganten Akademiker in der Amulett-Angelegenheit zugeteilt, aber er mochte ihn weder, noch traute er ihm. Er selbst schenkte der lächerlichen Legende keinen Glauben - er war viel zu lange beim Militär gewesen, um sich darüber Illusionen zu machen, worin wirkliche Macht bestand und wer sie ausübte. Aber er erkannte, welchen Werbewert dieser Unsinn für die unwissenden Massen besaß, und er hatte Befehle auszuführen. Deshalb wollte er diesen geschniegelten Alleswisser tolerieren, zumindest so lange, bis er eine unerträgliche Last würde. Sobald seine Vorgesetzten beschlossen hätten, wie mit dem Kind und der Frau zu verfahren sei, würde Abdul Hazred so entbehrlich sein, wie er es verdiente. Dieser Gedanke heiterte Oberst Hamid dermaßen auf, daß er wieder herzlich wurde. »Ich habe noch keine Anweisungen erhalten, wie mit dem Kind und der Hüterin zu verfahren ist, Hazred. Sie werden Ihre Gespräche einfach fortsetzen und uns informieren, wenn sich etwas Ungewöhnliches ergibt. Und Sie werden es uns natürlich wissen lassen, wenn Sie das genaue Datum des besagten Zeremoniells errechnet haben.« Hazred lächelte zuversichtlich. »Diese Belange sind kompliziert, Oberst. Sie müssen wissen, daß die Alten sich unendlich viel Mühe machten mit der Geheimhaltung bezüglich der Großen Mysterien. Seien Sie versichert, daß Sie in dem Augenblick von mir hören werden, wenn ich der Daten sicher bin.« Sie verabschiedeten sich, und jeder wußte, daß der andere gelogen hatte. Das war natürlich zu erwarten, denn nur Dummköpfe ließen sich in die Karten sehen. Hazred trat auf die Straße, froh, diese Bürokraten mit ihren
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kleinlichen Ambitionen hinter sich zu lassen. Er hatte weit Wichtigeres zu tun. Lebenszeiten, dachte er, als er um die Ecke bog und ein Taxi herbeiwinkte. Ich habe mehrere Lebenszeiten mit der Vorbereitung auf diesen Augenblick zugebracht, und dieser Schwachsinnige denkt, ich arbeite für ihn. Er hätte der Bitte der Regierung, sie in dieser Angelegenheit zu beraten, nie entsprochen, wenn nicht feststünde, daß diese Militärtrottel nützlich sein konnten. Nach dem Zusammenstoß mit Eric konnten sich weltliche Streitkräfte als notwendig erweisen, und in diesem Fall würden Oberst Hamid und seine Sturmtruppen zum Zuge kommen. Hazred hatte sich Vannier und Sayles mit seiner Kenntnis der Magie gewogen gemacht; er war über jeden Verdacht erhaben, da nur wenige Sterbliche den Abgrund überquert hatten und niemand dies von sich behaupten konnte, wenn es nicht wahr war. Und von den dreizehn Adepten, die der Materialisation dienen würden, hatten nur er und Eric die richtige Abstammung. Hazred bezahlte das Taxi und blieb einen Moment an der Ecke Park Avenue und Seventy-third Street stehen; seinen Plänen wäre besser gedient gewesen, wenn es ihm gelungen wäre, über Maggie O'Connor an das Kind heranzukommen, aber am Ende würde er gewinnen, so oder so. Und der Dummkopf von einem Oberst würde ihm dabei helfen.
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4. TEIL Das Karma ... daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht. Rainer Maria Rilke
43 Ha Mossad, das Institut für nachrichtendienstliche Informationen und Sonderaufgaben, tritt offiziell weder in Israel noch sonst irgendwo in Erscheinung. Dennoch weiß so gut wie jeder, daß der Mossad der bestorganisierte Geheimdienst der Welt ist. Spionage, antiterroristische Aktionen, Untergrundoperationen, geheimdienstliche Zusammenkünfte und vieles mehr gehören zu seinem Tätigkeitsbereich, der eine alles andere als vollkommene Welt umfaßt. Gelegentlich geschieht so etwas wie ein »Entebbe«, wobei eine äußerst geschickte Antiterroristen-Einheit eine schier unmögliche Rettung zu bewerkstelligen hat. Zuweilen wird ein irakisches Atomkraftwerk auf mystis che Weise sabotiert, oder die Pläne eines Mirage-Bombers werden einer Regierung vor der Nase gestohlen. Bei solchen Gelegenheiten taucht stets das Wort Mossad auf. »Mit List Krieg führen« gilt als dessen Motto. Nur jene töten, an deren Händen Blut klebt, gilt als dessen Kredo. Das einzige, was als sicher bekannt ist, ist das elitäre Können. Raphael Abraham war einer von lediglich dreißig weltweit
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operierenden Agenten. Er war sprachbegabt und verfügte über ein fotografisches Gedächtnis für Details. Ob Land- oder Straßenkarten, Tabellen, Zahlenreihen oder die Nuancen eines Gesprächs - er war imstande, jede Information zu speichern wie ein Computer. Doch nützlicher als diese Begabung war seine Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Seinen neuesten Auftrag fand er rätselhaft. Uzi Eisenberg, der Leiter seiner Abteilung, hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er hinter dieser Amulett-Geschichte mehr vermutete, als sich mit bloßem Auge erkennen ließ. Abraham wiederholte im Kopf das Gespräch mit ihm Wort für Wort. »Dieses Isis -Amulett, Rafi«, hatte Eisenberg nachdenklich gesagt, »eine faszinierende Vorstellung, daß ein Gegenstand die Macht von Gut oder Böse verkörpern können soll. Und welche Ironie, daß die Legende ein solches Wunder in die Hände eines Kindes legt, noch dazu eines sanften kleinen Mädchens. Gott muß wirklich Sinn für Humor haben.« Er war freilich viel zu nüchtern, um an Magie zu glauben, dennoch fesselte die Ge schichte ihn offensichtlich. »Wir müssen herausfinden, welche Rolle die Frau bei alledem spielt«, hatte er gesagt. »Arbeitet sie für eine der anderen interessierten Parteien, oder ist sie harmlos? Es wäre möglich, daß sie nur ein Pfand in jemandes Spiel ist... oder daß sie ihr eigenes Spiel spielt. Weißt du, Rafi, als der Premierminister mich mit dieser Mission beauftragte, habe ich ihn ausgelacht. Magische Amulette, magische Kinder...« Er zuckte vielsagend die Achseln. »Dann habe ich die Legende im Dossier gelesen und erkannt, welchen PR-Wert es für die Ägypter haben würde, wenn sie behaupten könnten, daß sie über ein solches Geschöpf mitsamt seinem Amulett verfügten. Darüber hinaus müssen wir wissen, ob das Ganze nicht nur eine Tarnung für etwas anderes ist. Deswegen mußt du die Wahrheit herausfinden und das Kind und sein Amulett, sofern es eines gibt. Der Premierminister meint, daß es in Tel Aviv besser aufgehoben wäre als in Kairo.« »Was wissen wir bis jetzt?« hatte Abraham gefragt und dabei auf das Dossier geklopft, das man ihm ausgehändigt hatte.
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»Eine Menge Hörensagen, Unfug, Legende, Andeutungen«, hatte Eisenberg erwidert. »Eine Frau, nicht schlecht aussehend... eine Dreijährige, zur Zeit in Greenwich... jede Menge Geld und Macht. Und vielleicht ein bißchen Waffenschmuggel und Drogen.« »Und dieser Vannier?« hatte er gefragt und dabei die Papiere auf seinem Schoß durchgeblättert. »Und Sayles?« »Stecken beide bis oben drin im Rüstungs- und Heroingeschäft. Aber noch wissen wir nicht, wie das alles zusammenhängt. « Sie hatten fast eine Stunde über die beabsichtigten Nachforschungen gesprochen, bevor Abraham sich zum Gehen erhob. »Ehrlich, Uzi«, hatte er gefragt, »glaubst du an dieses Isis -Amu lett und seine magischen Kräfte? Steine, die Wunder wirken? Amulette, die die Welt regieren?« »Du fragst mich, ob ich an Wunder glaube, Rafi?« hatte Eisenberg erwidert. »Ich glaube, daß man keinen Stein unumgedreht lassen darf.« Beide Männer hatten ein bißchen gekichert, bevor Eisenberg hinzufügte: »Ist nicht der ganze Judaismus auf Wunder aufgebaut? Moses und das Rote Meer... die Gesetzestafeln auf dem Berge Sinai - der brennende Dornbusch.« Sie waren zur Tür gegangen. »Egal, wie unsere persönliche Meinung zu diesem Thema ist«, hatte Eisenberg gesagt, als er den Türknauf herumdrehte, »unsere ägyptischen Freunde dürfen dieses Amulett nicht in die Hände bekommen. Wir können keine arabische Regierung gebrauchen, die über einen Talisman verfügt, von dem das Volk glaubt, er hat die Macht, die Welt zu regieren. Auch Psychologie ist Macht.« »Die Welt regieren?« hatte Rafi mit einem spöttischen Schnauben entgegnet. »Sie konnten ja nicht mal den Sinai halten.« Das war vor einer Woche gewesen. Unterdessen hatte Abraham ein paar Leute zum Beobachten und Abwarten angesetzt. Die Fähigkeit, diese zwei Aufgaben gut und geduldig zu erfüllen, war für seine Arbeit der Schlüssel zum Erfolg. Inzwischen kannte er das Dossier, das man ihm überreicht hatte, genauer. Er wußte jetzt eine Menge über Eric Vannier und
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Nicholas Sayles. Der Mossad wie auch MJ5 und CIA hatten die Vannier-Stiftung und ihr Bankennetz über Jahre für diverse Ge heimoperationen benutzt. Daß die zwei Männer sich mit schwarzer Magie befaßten, war in ihren Akten vermerkt, aber bislang hatte sich der Mossad nicht übermäßig dafür interessiert. Jeder Mensch hatte ein Ge heimnis, das sich zu Mossads Gunsten verwenden ließ. Diese zwei Männer verkleideten sich also gerne als Kinder und riefen längst verblichene Gottheiten um Beistand an, den sie niemals erhalten würden. Eine interessante Information für ein Dossier, die bis jetzt jedoch für den Mossad kaum von Nutzen gewesen war. Nun aber wollte Abraham die darin liegenden Möglichkeiten überdenken. Dann war da dieser Ägypter Hazred. Auch ein Mann mit einem Geheimnis. Abraham zog das Hazred-Dossier aus dem Stapel und betrachtete das arrogante Pharaonen-Gesicht. Ein interessanter Fall, dieser Abdul Hazred: reich, hochintelligent, Doktortitel mit neunzehn Jahren. Führte bis jetzt das Leben eines ehrenhaften Gelehrten. Den darfst du nicht unterschätzen, Rafi, ermahnte er sich. Hinter dem Gesicht stecken Intellekt und List; der Mann verfolgt einen Plan. Er schlug den letzten Ordner auf, der Bilder von Maggie, Jenna und Cody enthielt. Die kleine hatte lebhafte graue Augen... außergewöhnliche Augen, ruhig, unkindlich. Doch davon abgesehen, sah sie aus wie jede beliebige Dreijährige: pausbäckig, mit langen, glänzenden blonden Haaren, die seitlich hochgebunden waren. Abraham runzelte die Stirn über Jennas Bild. Gesicht und Körper vollkommen; flachsblonde Haare, blaue Augen, übermütig. Doch was dahintersteckte, war eine andere Geschichte. Eine Frau, die ihr Kind in Gefahr brachte... was spielte es da für eine Rolle, wie sie aussah? Sie war unter aller Kritik. Er nahm Maggies Bild in die Hand und betrachtete es eingehend. Dieses Gesicht besaß Kraft und Weiblichkeit. Es kündete von einem Charakter, der nicht so leicht aufgab. Was würde die Besitzerin eines solchen Gesichtes tun, um ein geliebtes Kind zu retten? fragte er sich. Etwas Unerwartetes vielleicht. Es lohnte, die Besitzerin dieses Gesichtes zu beobachten.
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44 Cody blickte verstohlen nach rechts und links; niemand beobachtete sie. Sie nahm rasch die drei Haferflockenplätzchen und den Apfel von dem Abendbrottablett und steckte alles heimlich in ihren Rucksack unter dem Tisch. Sie sah grübelnd die Milch an, aber sie wußte nicht, wie die sich transportieren ließe ohne Glas - und das würde von der Köchin oder von Ghania vermißt werden. Darum seufzte sie und trank die Milch aus. Heute abend wollte sie versuchen, den Schreiern zu helfen. Der Gedanke machte ihr angst, aber etwas in ihrem Inneren beharrte darauf, daß sie es versuchte. Der Plan war allmählich in ihr gereift. Die Schreier waren ihr ständig durch den Kopf gegangen, seit Ghania sie in den Keller gezerrt hatte. Sie sah ihre Gesichter, hörte ihre Schluchzer, fühlte ihre Verletzungen... Sie hatte nach jener schrecklichen Nacht weinend im Bett gelegen, voll Entsetzen, und versucht, es zu vergessen. Dann war das Ge sicht eines von ihnen wieder zu ihr gekommen, seine Augen fieberglänzend, sein Leid so deutlich in dem verkniffenen Mund und den eingesunkenen Wangen... und plötzlich hatte sie sich auf ihre Gabe besonnen. Verletzte Wesen, kranke Wesen - sie konnte sie wieder gesund machen! Wenn es den Schreiern besser ging, konnten sie vielleicht weglaufen. Und Ghania würde sie nie mehr zum Schreien bringen können. Was würde Ghania mit ihr machen, wenn sie sie erwischte? Cody glaubte nicht, daß sie sie töten würde. Sie hatte Ghania und den Daddy-Mann von etwas sprechen hören, das sie die Zeremonie nannten. »Vor der Zeremonie darf ihr nichts geschehen«, hatte er gesagt. Und Ghania hatte erwidert: »Bis dahin sind es nur noch drei Wochen.« Cody dachte, das bedeutete, daß sie noch keine Schreierin aus ihr machen würden. Sie wußte nicht genau, wie lange drei Wochen dauerten, aber wenn sie den Schreiern half fortzukommen, würden sie ihr vielleicht auch helfen. Vielleicht würden sie sie sogar wieder zu Mim bringen. Das Hausmädchen nahm das Tablett wortlos fort, und Cody wartete mit angehaltenem Atem, bis das Mädchen draußen war.
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Dann steckte sie ihre Neuerwerbungen zu dem kleinen Vorrat unter den Anziehsachen in ihrer Kommodenschublade. Alles schlief; Cody konnte die Stille ringsum hören. Sie wurde nachts nicht streng bewacht. Ghanias Zimmer lag hinten im Flur, und noch weiter weg hatten die anderen Dienstboten ihr Quartier, aber da niemand damit rechnete, daß ein kleines Kind nach Einbruch der Dunkelheit herumschlich, paßte man nicht besonders gut auf sie auf. Das Haus war so still und dunkel, daß Cody es sich um ein Haar anders überlegt hätte, aber das Obst, das sie seit drei Tagen sammelte, fing an, komisch zu riechen, daher wußte sie, daß sie es heute nacht tun mußte. Vorsichtig öffnete sie die Kinderzimmertür und spähte in den Flur. Sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit und hatte keine große Mühe, in dem spärlichen Licht etwas zu sehen. Sie stopfte ihren kleinen Lebensmittelvorrat in ihren Rucksack und zog leise den Reißverschluß zu, dann zog sie das Notlämpchen aus der Steckdose neben der Tür, das weiterleuchtete, auch wenn es herausgezogen war... sie wollte sich schließlich nicht irgendwo anstoßen und Lärm machen. Lautlos schlich das Kind zur Treppe und gelangte, sich am Geländer festhaltend, ein Stockwerk tiefer. Dort war kein Mensch. Sie huschte in die Küche und stellte fest, daß der Riegel an der Kellertür unerreichbar hoch war. Cody zog einen Hocker zur Tür und schob den Riegel zurück, langsam, ängstlich bemüht, kein Geräusch zu machen, und dann stieg sie beklommen die Treppe hinunter. In dem dunklen Keller fand sie sich zunächst nicht zurecht; nur eine trübe gelbe Lampe brannte weiter vorne. Cody stand ganz still am Fuß der Treppe, um sicherzugehen, daß niemand sie beobachtete. Das Stöhnen der Schreier sagte ihr, welchen Weg sie nehmen mußte. Ihre Hände hatten so komisch zu kribbeln angefangen wie immer, wenn sie in die Nähe von verletzten oder kranken Wesen kam. Sie konnte fühlen, wie die heiße Energie in ihre Finger und Arme strömte, so daß es beinahe weh tat.
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Wo die Käfige standen, hielt sie inne, um Mut zu fassen, dann schlich sie auf Zehenspitzen weiter. »Hallo, Mister«, sagte sie leise zu dem Insassen des ersten Käfigs, aber er antwortete nicht. Er war sehr, sehr krank, das merkte sie an dem stärker werdenden Kribbeln in ihren Händen. Sie griff in den Käfig und berührte den verstümmelten rechten Arm des Mannes; der Arm lag nutzlos und gekrümmt, stark geschwollen und gräßlich verfärbt neben ihm auf dem Boden. Der andere Arm war an den Schlauch der Blutflasche geschnallt. Cody fühlte den Beginn der Energieübertragung in dem Augenblick, als sie ihn berührte; das Fließen war wie Wasser, das durch ein Abflußrohr strömte, und es begann immer dann, wenn sie Kranke oder Verletzte anfaßte. Sie wartete geduldig, bis das Gefühl nachließ. Der Mann schlug die Augen auf und sah ungläubig in das Ge sicht des kleinen Kindes, dann auf die winzige Hand, von der »etwas« in seinen Arm pulsierte. »Wie bist du hierhergekommen?« flüsterte er mit einer kaum menschlichen Stimme. »Die Hexe tötet dich, wenn sie dich findet.« Die Hexe! Das also war sie, natürlich. Cody war nicht darauf gekommen, weil Ghania nicht wie eine Hexe angezogen war. Aber Hexen waren es, die so schreckliche Sachen machten und Menschen in Käfige steckten... ganz so wie Hänsel und Gretel. »Sie heißt Ghania«, flüsterte sie. »Ich hab dir ein Plätzchen mitgebracht.« Das Unwahrscheinliche an der Szene ließ den Mann irre lachen; er fing an zu husten und zu würgen. »Psst!« ermahnte Cody ihn furchtsam; sie nahm das Plätzchen aus ihrem Rucksack und schob es ihm hin. »Ich will nicht, daß Ghania kommt, sonst tut sie mir weh. Ich hab einen Apfel und eine Apfelsine und eine Banane. Die können wir deinen Freunden geben.« Einige der anderen Menschen waren aufgewacht und murmelten. »Still!« tadelte der erste Mann in scharfem Ton. »Die Kleine ist allein hier. Die Hexe bringt sie um, wenn wir Lärm machen.«
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Cody begann, die Lebensmittel zu verteilen, die sie gesammelt hatte, aber sie sah, daß es bei weitem nicht genug war. Manche Schreier konnten ihre Arme nicht bewegen, um das Essen zu nehmen, und sie mußte Stückchen von einem Plätzchen abbrechen und versuchen, es ihnen durch die Gitterstäbe in den Mund zu stecken, aber das war nicht ganz einfach. »He, Kleine«, flüsterte der erste Mann. »Was hast du vorhin mit deiner Hand gemacht? Meinem Arm geht es besser, ich habe meine Finger nicht bewegen können, seit sie ihn mir gebrochen haben. Was hast du gemacht?« »Ich kann kranke Sachen heil machen«, flüsterte Cody, die nicht wußte, wie sie ihre Gabe erklären sollte. Rings um sie murmelte es: »Hilf mir, hilf mir«, so daß ihr ganz schwindlig wurde. Das kleine Kind ging von Käfig zu Käfig und ließ die Energie durch sie hindurch und zu den Verzweifelten strömen. Sie konnte fühlen, wie sie durch ihren Kopf und ihre Fußsohlen in ihren Körper hinein- und dann durch ihre Hände hinausfloß. Sie machte das so lange, bis sie sich benommen und leer fühlte. »Kannst du uns hier rausholen? Kannst du den Schlüssel besorgen?« fragten sie ein ums andere Mal. »Ich habe keinen Schlüssel«, sagte sie traurig. Sie wußte nicht, ob sie es überhaupt noch schaffen würde, die Treppe hinaufzukommen. »Ich muß jetzt leider gehen. Vielleicht kann ich ja wiederkommen.« Sie trat ermattet von den Käfigen zurück und wandte sich zur Treppe. »Gott segne dich, Kind«, rief der erste Mann ihr leise nach. »Gott segne dich«, sagten alle, wieder und wieder. Sie wünschte, sie wären still, damit Ghania nichts merkte. Sie stahl sich die Treppe hinauf, froh, wieder ins Bett zu kommen. Oben an der Kellertreppe wartete Ghania. »So, du fürchtest dich nicht vor der Nacht, meine Kleine?« fragte sie mit unheilvoll-süßlicher Stimme. »Das wollen wir mal sehen.« Codys Magen tat einen heftigen Ruck, als sie Ghanias eiser-
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nen Griff um ihren Arm fühlte, und sie übergab sich fast vor Angst und Schrecken. Sie spürte kaum, wie ihr Körper über die Steinstufen schabte, als sie zurück in den Keller gezerrt wurde, vorbei an den Schreiern. Sie hörte sie Ghania verfluchen, aber die lachte nur. »Du rührst dich nicht von der Stelle!« befahl Ghania, als sie am anderen Ende des Raumes angekommen waren, und ihre Stimme hatte jetzt nichts Süßliches mehr. »Ich werde dir zeigen, was mit kleinen Mädchen geschieht, die mir trotzen.« Ghania griff in einen kleinen Tierkäfig und zog mit einem Ruck ein großes weißes Kaninchen heraus. Seine rosa Nase und seine Ohren zitterten, und Cody hätte das weiche Tier gerne angefaßt, wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte. Sie sah Ghania das hübsche Kaninchen auf einen Metalltisch schnallen. Das Tier schlug in vergeblicher Abwehr mit den Beinen und versuchte verzweifelt, sich aufzurichten. Das Messer, das in Ghanias Hand blinkte, war in ihrem Kleid verborgen gewesen und erschien wie durch Zauberei. Es sah sehr alt aus und hatte Edelsteine am Griff. »Wegen deines Ungehorsams wird das Kaninchen unter Qualen sterben«, sagte sie, und ihre Augen blitzten wie die Messerklinge. »Du hast das arme kleine Ding getötet, du böses, böses Kind; du bist schuld, daß es Schmerzen leiden muß.« Sie schlitzte dem Tier den Bauch auf, und Blut spritzte in alle Richtungen. Das Kaninchen schrie einen fürchterlichen Schmerzensschrei und riß sich fast die Beine aus, die sich gegen die Ledergurte stemmten, die es festhielten. Auch Cody schrie; sie hielt sich die Hände vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, aber er brach trotzdem aus ihr heraus. »Du bist schuld, daß das Tier leidet, du böses, böses Kind!« erklärte Ghania. »Deswegen mußt du sein Blut kosten!« Sie tauchte ihre Hand in die dampfende rote Flüssigkeit, die sich aus dem Bauch des sterbenden Kaninchens ergoß, und schmierte sie über Codys Mund und Gesicht. Das Kind wehrte sich wie ein gefangenes Tier und drehte den Kopf weg, aber Ghania hielt sie fest.
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»Jetzt mußt du zur Strafe die Würmer aus seinem Bauch ziehen«, verlangte die Hexe und stieß Codys Gesicht so nahe an die noch zuckenden Gedärme, daß sie deren Bewegung sehen konnte. Ghania zwang die Hand des Kindes tief in den dampfenden Schlitz. Blutige graue Dinger hingen an Codys Fingern, als sie versuchte, ihre Hand aus Ghanias brutalem Griff zu befreien. Sie schrie, erbrach, wehrte sich, fiel nach hinten, tief, tief in eisige Finsternis. Ich sterbe, dachte sie. Ich bin schuld, daß das Kaninchen sterben mußte. Jetzt muß ich auch sterben. Mim! Hilf mir! Und da sah sie das seltsame weiße Licht zum allerersten Mal. Ghania saß an Codys Bett und streichelte ihre fiebernde Stirn, während sie sich wiegte und leise gurrte. »Die Kleine war böse«, murmelte sie wieder und wieder, »und deshalb mußte das Kaninchen sterben. Aber Ghania versteht sie... Ghania ist ihre Freundin.« Cody lag totenstill da, sehr krank und sehr, sehr ängstlich. Ghania war nicht ihre Freundin, Ghania war eine Hexe. Ghania tötete und fügte Schmerzen zu und machte bluten. Aber vielleicht war auch sonst niemand ihre Freundin. Niemand kam ihr zu Hilfe, so fest sie auch betete... so sehr sie auch weinte und bettelte. Vielleicht machte sich niemand mehr etwas aus ihr, und es gab nur noch Ghania. Nein. Das war nicht wahr! Mim würde traurig sein, wenn sie eine Schreierin aus Cody machten. Mim würde etwas tun. Aber warum kam sie denn nie... warum rief sie nicht an? Einmal hatte Cody versucht, Mim anzurufen, aber die Dame bei der Vermittlung sagte, sie kenne niemand namens Mim. Das Kind lag ganz still da mit widerstreitenden Gedanken und entsetzlichen Ängsten, die in ihr wüteten. Sie wollte versuchen, sich für eine Weile zu verstecken, hier im Dunkel in ihrem Kopf. Dann müßte sie wenigstens Ghanias Gesicht nicht sehen. Sie lag mit zugekniffenen Augen bewegungslos da und dachte an das Licht. Trost war in dem Licht gewesen, und Mut. Und es
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erlaubte ihr, fortzugehen von diesem verhaßten Ort. Cody ging nach innen, und Ghania, die wußte, wohin sie gegangen war, lächelte.
45 Devlin klopfte geistesabwesend mit einem Stift auf das Notizbuch in seiner Hand. Langsam kristallisierten sich Strukturen heraus... aber die Zusammenhänge dieser Strukturen waren zu weitläufig, um plausibel zu sein. Die Namen, die Cheri ihnen genannt hatte, waren eine Offenbarung - ein Senator, der Leadsänger einer berühmten RockGruppe, der Vizepräsident eines Fernsehsenders, ein Richter und einer der ganz großen Modedesigner -, und bei allen zeigten sich Verbindungen, die die Grenzen schlichter Wahrscheinlichkeit überschritten. Je tiefer er grub, desto mehr verschlangen sich ihre Ranken miteinander. Sehr interessant. Es waren viel zu viele und zu weitreichende Verbindungen, um noch von Zufall sprechen zu können. Devlin und Garibaldi hatten sich Cheris Namensliste geteilt. Wenn Ginos Gruppe bekannter Namen auch nur einen Bruchteil der Zufälligkeiten aufwies, wie sie in dem Notizbuch in Devlins Hand verzeichnet waren, dann waren sie einer Riesensache auf der Spur. Und die war für die Kriminalpolizisten des sechsten Reviers eine Nummer zu groß und zu sehr gespickt mit bedeutenden Namen, als daß der Captain in derartige mögliche Probleme hineingezogen werden wollte. Große Namen hatten große Rechtsanwälte, die ihr Geld damit verdienten, daß sie ihre Klienten von jener Art von Makel reinhielten, die Devlin mutmaßte. Mutmaßungen. Verdammter Mist! Das war das Problem. Noch war alles Mutmaßung, und der dreißigste April rückte immer näher. Devlin klappte das Notizbuch zu und zwang sich, sich auf die andere Arbeit auf seinem Schreibtisch zu konzentrieren. Dieser Maggie-Fall war noch inoffiziell, und er hatte seine normale Arbeit zu tun. Er mußte dies alles im Auge behalten... »Scheiße!« sagte er laut. »Wem willst du eigentlich was vormachen, Devlin?«
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Er schob die anderen Papiere auf seinem Schreibtisch entschlossen von sich, nahm das Notizbuch mit den Maggie-Aufzeichnungen und verließ das Büro, um sich auf die Suche nach Garibaldi zu machen. »Immerhin, Lieutenant, hab ich 'nen Spitzel, der zu wissen behauptet, wo sie sich die Tätowierungen machen lassen«, sagte Garibaldi grinsend. »Ein Studio auf der Christopher Street. Der Typ ist ein richtiger ›Artiste‹, sagt mein Spitzel. Der hat sich auf verrückte und ausgefallene Sachen spezialisiert. Wenn du einen Pfau auf deinen Pimmel tätowiert haben willst, bist du bei diesem Typ goldrichtig.« Devlin zuckte zusammen. »Sag so was bloß nicht laut.« »Tja, mag ja nicht gerade dein Geschmack sein, aber das Handwerk von diesem Typ ist, so scheint's, in der Motorradund Sadomasoszene allgemein bekannt. Der Spitzel sagt, das war derjenige, wo Maa Kheru hingehen würde. Willste hören, was er selbst zu sagen hat?« Devlin nickte. »Was haben wir, um ihn unter Druck zu setzen?« »'n paar Drogendelikte und mehrere Diebstähle. Alles kleine Fische, nichts Großes in letzter Zeit. Bis auf eine Sache vielleicht. Er ist, scheint's, ein heimlicher Kräuterdoktor. Er sammelt alles mögliche Zeug, wie zum Beispiel Molchaugen, und verschreibt es seinen Kunden - vermischt mit ein paar psychedelischen Pilzen und anderen Halluzinogenen. Und Spezialkunden kriegen gelegentlich auch mal einen geblasen.« Der Tätowierungssalon war schmuddelig und schäbig. Der winzige Wartebereich war übersät mit Illustrierten, die Namen hatten wie Wet Teenagers und Pussy Galore. »Der Kerl könnte ein paar Geo-Nummern gebrauchen«, bemerkte Garibaldi, während er den Stapel durchblätterte. »Hier, das ist 'ne prima Zeitschrift, Love with Little Boys.« Er legte sie weg, als stänke sie nach eine Woche altem Fisch. Devlin teilte den Vorhang, der den Wartebereich vom Behandlungszimmer trennte. Ein fast nackter Mann ruhte in
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einem Friseursessel. Zwei Drittel seines massigen Körpers waren mit unvorstellbaren Tätowierungen bedeckt. »Für heute müssen wir eine Pause machen, Rudi«, sagte der bleistiftdürre Mann, der die Tätowiernadel hielt, ohne zu den Besuchern hinzusehen. Mit größter Sorgfalt vollendete er die Klaue eines gorgonenhaften Geschöpfs, das den linken Oberschenkel des Mannes zierte. Dann legte er die Nadel beiseite und stand auf. Rudi verzog sich schleunigst. »Polizei, hab ich recht?« fragte der Mann, bevor sie sich ausgewiesen hatten. »Ich bin Jake und will keinen Ärger. Was wollen Sie?« »Ist dies ein Entwurf von Ihnen?« fragte Devlin und gab ihm Cheris Zeichnung. Der Tätowierungskünstler warf kaum einen Blick darauf. »Wenn ich die Tätowierung sehen könnte, könnte ich mich vielleicht erinnern - ich erkenne schließlich meine eigene Arbeit. Aber so? Wissen Sie, wie viele Tätowierungen ich im Jahr mache, Lieutenant?« Er zuckte abweisend die Achseln. »Weißt du, wie viele Trottel ich jedes Jahr in den Knast bringe, weil sie 'nen Haufen Scheiße verzapfen?« sagte Garibaldi und trat näher. »Mal sehen, was wir hier in deinem kleinen Laden haben. Wir haben Medikamente verabreichen ohne Genehmigung, wir haben Kinderporno, wir haben Verletzung der Hygienevorschriften, wir haben Verdacht auf Drogenbesitz...« »Jetzt machen Sie mal halblang, verdammt!« zischte Jake. »Ich hab keine Drogen hier. Was wollen Sie überhaupt von mir?« »Wir wollen wissen, was Sie über diese Tätowierung wissen«, sagte Devlin ruhig. Seine Ruhe klang viel gefährlicher als Garibaldis Drohungen. »Das ist ein Teil von einem alten Symbol«, sagte Jake rasch. »Hat was mit dem ewigen Leben zu tun und mit der Fähigkeit, Materie umzumodeln. Sie verstehen, wie Zauberei. Da gehören noch eingeritzte Worte dazu. Die sind auf enochisch, das ist eine magische Sprache aus dem Mittelalter. Was sie bedeuten, weiß ich nicht.« »Und wer läßt sich diese Tätowierungen machen?«
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»Verschiedene Leute. Nicht meine Stammkunden...« Er schien noch mehr sagen zu wollen, ließ es aber. »Wenn sie keine Stammkunden sind, wer sind sie dann?« bedrängte ihn Devlin. »Kommen sie einfach von der Straße hereinspaziert? Wie sehen sie aus? Bezahlen sie mit Kreditkarte?« »Hören Sie«, sagte Jake erregt, »ich will hier keinen Ärger, kapiert? Ich weiß nur, die schicken mir einen Wagen, und der bringt mich irgendwohin. Wohin, weiß ich nicht.« »Wieso nicht?« »Weil sie mir diese Augenbinde - so eine Art schwarze Kapuze - über den Kopf ziehen, bis wir ankommen. Ich weiß nur es ist ein großes Haus, bißchen unheimlich, auf dem Land, nahe am Wasser. Sie bringen mich in ein Zimmer. Ich bediene, wen sie wollen, manchmal einen, manchmal ein halbes Dutzend. Sie zahlen bar, das Doppelte, was ich sonst nehme, dann setzen sie mich wieder ab.« »Und Sie haben nie gefragt, wer sie sind oder warum sie es auf diese Art machen?« fragte Devlin skeptisch. »Wieso sollte ich wissen wollen, was sie anstellen? Es geht 'ne Menge vor auf der Welt, was man besser nicht weiß. Da ist zum Beispiel diese Dominanutte aus der Vorstadt, die schickt alle ihre Macker zu mir. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was die wo tätowiert haben will an diesen Typen. Und dann die Kults und Clubs und Motorradfahrer und was weiß ich, wer... also bei diesem Job bedient man gewöhnlich nicht den Bürgermeister und den Stadtrat, verstehen Sie?« Devlin und Garibaldi wechselten einen Blick. »Warum kommen sie zu Ihnen?« »Was Michelangelo für Decken war, ist Jake für den menschlichen Körper. Wollen Sie meine Mustermappe sehen?« »Sind da welche von diesen Symbolen drin?« Jake schüttelte den Kopf. »Die haben nicht erlaubt, daß ich meinen Fotoapparat mitnehme. Ich hab gefragt. Es ist eine komplizierte Arbeit, all die alten Buchstaben.« »Okay«, sagte Garibaldi und gab ihm eine Visitenkarte. »Wenn du wieder einen Auftrag von den Typen mit dem Wagen kriegst, ruf mich unter dieser Nummer an, kapiert? «
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»Warum? Ich hab nichts verbrochen! Ich will das Geschäft mit denen nicht verlieren... das sind gute Kunden.« Devlin hob neugierig die Augenbrauen. »Wie gut? Wie viele von diesen Dingern machen Sie im Jahr?« »Vielleicht hundert oder mehr normale und noch mal fünfundzwanzig spezielle.« »Was meinen Sie mit speziellen?« »Die mit dem Lebensbaum auf dem Ankh.« »Was bedeutet das, wissen Sie das?« Jake zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber die es gemacht kriegen, sind richtig stolz auf sich. Und sie sehen immer reich und lässig aus. Sie verstehen, als ob sie die erste Geige spielen.« »Und die anderen hundert - wie sehen die aus?« Jakes Nagetiergesicht zog sich vor Anstrengung zusammen. »Gewöhnlich, würde ich sagen, wie Sie und ich.« Devlin grinste innerlich über Garibaldis angewiderte Miene wegen dieser Andeutung, daß er eine Ähnlichkeit mit Jake aufweise. »Hören Sie«, sagte Devlin mit Nachdruck. »Rufen Sie mich an, wenn die Sie anrufen, und ich sorge dafür, daß es sich für Sie lohnt.« »Wie?« »Ich bleibe nachts auf und zerbreche mir den Kopf, wie ich Sie aus dem Gefängnis heraushalte«, sagte Devlin. »Haben Sie Vertrauen zu mir.« Er lächelte. »Sag mir, daß wir nicht aussehen wie dieser kleine rattengesichtige Scheißkerl«, sagte Garibaldi, als sie auf die Straße traten. »Der kleine rattengesichtige Scheißkerl könnte jedes Mitglied von Maa Kheru identifizieren, wenn er nur fest genug unter Druck gesetzt würde.« »Dazu müßte er erst mal lange genug leben, Lieutenant. Die stecken ihm seine Tätowiernadel da rein, wo die Sonne nicht hinscheint, wenn sie rauskriegen, daß wir an ihm dran sind.«
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46 James und Peter spazierten unter dem Baldachin aus knospenden Bäumen, die den Fluß säumten. Peter hatte die Hände tief in seine Manteltaschen geschoben, die Schultern hochgezogen gegen den Vorfrühlingswind und gegen das Unbehagen, das ihn belastete. Der Spaziergang verschaffte ihm Ruhe, und die brauchte er. Er brauchte dringend James' Rat, dessen klaren Verstand und Gutmütigkeit. Er fühlte sich allmählich zerrissen von den »Was, wenn« seiner Beziehung zu Maggie und den »Was, wenn« seines Priestertums. Es gab sonst nichts, wohin er sich wenden konnte. »Du kennst mich und mein Dilemma, James«, sagte er. »Ich sehe Christus überall, außerhalb und innerhalb der Kirche. Für mich gibt es einen Christus in einem Christus in einem Christus - er ist eine verdammte Zwiebel von einem Christus! Und welchem Teil der Zwiebel gehöre ich?« Peter schüttelte den Kopf. »Aber jetzt finde ich mich in einer vollkommen neuen Glaubenskrise.« »Und diese Maggie... ist sie deine Krise?« erriet James. Peter nickte und wich den Blicken des anderen Priesters aus. »Ich bewundere ihre Courage. Das Leben hat sie hart hergenommen, und sie hat alles glänzend gemeistert. Ich könnte dir jede Menge Gründe aufzählen, die mich für sie einnehmen, aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was ich fühle. Auf unerklärliche Weise glaube ich, daß sie und ich Gefährten auf unserer geistigen Reise sind.« »Auch ich kann diese Geistesverbindung zwischen euch spüren, Peter; sie spricht aus allem, was du mir über sie erzählst.« James' Verständnis überraschte Peter. »In meiner Heimat ist die Zivilisation nur ein dünnes Furnier - der innere Kern ist primitiv, instinktiv. Manchmal gibt es magnetische Anziehungskräfte ... schwer zu begreifen, noch schwerer zu vermeiden.« Seine Worte enthielten kein Urteil, lediglich eine Feststellung. »Sie bewirkt, daß ich mich nach Dingen sehne, die ich vorher nie vermißt habe, James«, fuhr Peter hastig fort. »Berührung,
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Liebe, Familie, all die weltlichen Freuden, auf die ich freiwillig verzichtet habe, ohne ihre Größe zu kennen. Nach allem, worauf ich freiwillig verzichtet habe, sehne ich mich jetzt. Und ich muß wissen, warum das so ist, ebenso wie ich wissen muß, wie ich mit dieser Sehnsucht umgehen soll.« »Vielleicht macht diese Frau dich menschlich, Peter. Vielleicht bringt sie den Körper ins Gleichgewicht, nachdem ein Leben lang nur der Geist vorgeherrscht hat. Man kann Gott nicht etwas anbieten, das ihm unwichtig ist, und es als würdiges Opfer betrachten. Vielleicht will Gott dir den Wert deines Opfers vor Augen führen, bevor er dich ein letztes Mal fragt, ob du es wirklich bringen willst.« Peter dachte über James' Worte nach, bevor er wieder sprach. »Ich bin irgendwie in die Irre geraten. Da stehe ich voller Verlangen und Bedauern, stelle alles in Frage... unfähig oder nicht gewillt, mich abzuwenden von dem, was mich bedroht.« Er zuckte ratlos die Achseln. »Ich fürchte, ich werde ebenso von meiner Menschlichkeit verführt wie von meinen Gefühlen für Maggie. Ich bin kein Knabe, der sich von Hormonen auf Abwege bringen läßt, James. Ich bin zu alt, um mich von der Aussicht auf Verzückung verführen zu lassen. Mir scheint, indem ich sie liebe, indem ich mich bemühe, Cody zu retten, wende ich mich nicht von Gott ab, sondern zu ihm hin. Ich sehe meine Gefühle für sie nicht als Abstieg in den fleischlichen, körperlichen Sumpf, sondern als unbekümmerten Ausdruck für das Beste in Gottes Schöpfung. O James, ich stehe hier auf gefährlichem Boden! Wenn ein Mann anfängt, eine potentielle Sünde als eine Huldigung Gottes anzusehen, befindet er sich in sehr trügerischem Wasser.« »Aber du hast recht, in der Liebe den besten Ausdruck Gottes auf Erden zu sehen, Peter. Du mußt nur bedenken, daß die Prüfung darin besteht, wie du dieses Wasser durchfährst, und nicht in deiner Fehleinschätzung der Fluthöhe. Und dann, wer von uns ist so gefestigt, daß er nicht verführbar wäre?« »Ist mir denn nicht eine einzige Fleischessünde erlaubt? Das frage ich mich im Dunkeln«, bekannte Peter verzweifelt. »Darf ich nicht sündigen wie jeder andere Mensch und dann auf Ver-
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gebung hoffen? Darf ich die Liebe nie erfahren - und sei es nur für einen winzigen Augenblick? Und wenn ich sie nicht kennenlerne, kann ich dann Gott wahrhaft lieben? Gibt es Dinge, die man nur lernen kann, indem man die Sünde riskiert?« »Diese Frage kannst nur du beanworten, Peter«, erwiderte James langsam. Er kannte die Wahrheit nur zu gut. »Manche Männer essen Äpfel straflos... von Adam wurde ein hoher Preis gefordert. Und vielleicht, mein Freund, mußt du dich vor Augustinus' Gebet hüten: ›O Herr, schenke mir Keuschheit und Mäßigkeit, aber nicht gerade jetzt.‹« Peter sah James lange an, dann wandte er sich ab und ließ seinen Blick über den stahlgrauen Fluß hinweg in die Unendlichkeit schweifen. »Möchtest du sie kennenlernen, James?« fragte er, ohne sich umzudrehen. »Das möchte ich sehr gerne, Peter, wirklich, sehr gerne.«
47 »Mal angenommen, Gino«, sagte Devlin und legte erschöpft und nachdenklich die Füße auf den Schreibtisch. Er war müde, aber wachsam. Garibaldi hatte diesen Blick oft genug gesehen und wußte, daß ihm etwas durch den Kopf ging, das einen Resonanzboden brauchte. »Angenommen, dieser Maa-Kheru-Verein ist nicht bloß eine Bande hiesiger Trottel, die mit Halloween-Kostümen Verkleiden spielen? Angenommen, wir haben es mit einer Art internationalem Kartell zu tun, das Vanniers Bankennetz und Sayles' Medienmacht und Rüstungsverbindungen und die Macht vieler anderer, richtig Prominenter benutzt, um ein Ding zu drehen, so groß, daß es keiner glauben will?« »Wie der Finanzskandal der BCCI-Bank?« »Ganz genau. Was sind die zwei heißesten Posten in der Schmugglerwelt?« »Rüstung und Drogen.« »Und wir wissen, daß Sayles' Familie die ganze Welt mit Waffen beliefert... und langsam sieht es so aus, daß Vanniers Stif-
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tung knietief in Drogengeldwäsche steckt. Gucken wir uns mal an, wie das alles funktionieren könnte.« Er schob seinen Stuhl zurück und nahm die Füße vom Schreibtisch. »Diktatoren und Drogenbarone brauchen eine Stelle, um den Zaster zu verstecken, und eine Stelle, um ihn zu waschen«, erklärte Garibaldi. Devlin nickte und verschränkte die Arme. »Und Regierungen brauchen eine Stelle, um unter dem Siegel der Verschwiegenheit Gelder für Schwarzoperationen zu verwahren... du kannst einen Iran-Contra-Deal nicht öffentlich vornehmen oder eine Bananenrepublik mit öffentlichen Steuergeldern stürzen, also gehst du vielleicht zu jemand wie Vannier und läßt ihn den Papierkram erledigen.« Garibaldi nickte und fügte ein paar Teile in das Puzzle ein. »Und dieselben Regierungen, die dich für ihre Schwarzoperationen brauchen, decken dich, und wenn einer seine Nase zu tief da reinsteckt, rufst du einfach deine Kumpel vom CIA oder MJ5 an und läßt sie die Sache bereinigen.« Devlin nahm den Faden auf. »Und dabei bewegst du dich in den allerfeinsten Kreisen, den Kreisen von Firmenchefs und Rockstars, von Wall-Street-Titanen und Megamillionären. Dicke Brieftaschen, dickes Ego, dicke Träume von der Weltherrschaft... Und nehmen wir mal an, in den Reihen dieser hochprivilegierten Enklave gibt es eine geheime, sehr elitäre Clique, die sich dieser quasireligiösen Verrücktheit verschrieben und ihre Seelen an Satan verkauft hat, um ihre Ziele zu erreichen.« Garibaldi zuckte die Achseln. »Nicht unvorstellbar, Lieutenant. Seien wir ehrlich, jeder, der Noriegas und Husseins Geld wäscht, hat dem Teufel seine Seele verkauft, ob er es nun so nennt oder nicht. Was ist da schon eine kleine Zeremonie und eine nette Halloween-Verkleidung, wenn du damit in das Allerheiligste der wirklich Einflußreichen auf der Welt aufgenommen wirst?« »Und angenommen, es gibt die zusätzliche Attraktion von Sex und Gewalt, von Blut und Eingeweiden und beeindruckender Theatralik - und angenommen, das Ganze funktioniert auch noch.« Devlin kam auf den Punkt. »Geld und Macht neh-
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men zu, Frauen und Drogen stehen dir jederzeit zur Verfügung, und was du verraten hast, um diesen Traum zu verwirklichen, ist etwas, auf das du sowieso keinen großen Wert gelegt hast... deine Seele zum Beispiel.« »Heiliger Strohsack, Malachy«, sagte Garibaldi grimmig. »Bei dir hört sich das tatsächlich plausibel an.« »Genau«, sagte Devlin mit einem wehmütigen Grunzen. »Jetzt müssen wir es nur noch beweisen.« Devlin griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er für besondere Fälle reserviert hatte. Harry Fisk war ein prima Kerl, obwohl er beim FBI saß. Devlin kannte Harry schon lange aus besseren und schlechteren Zeiten, aber er war kein Freund, den Devlin ohne guten Grund anrief. »Harry«, sagte er, als er durch die diversen Abschirmungen durchgestellt worden war, »ich brauche Informationen über ein paar großmächtige Mieslinge, die vielleicht von deinen Jungs beschützt werden.« Das Anliegen wurde mit kurzem Schweigen erwidert, dann: »Ich hab gegen halb eins Mittagspause. Dort, wo du mich früher hingeschleppt hast, machen die da immer noch die besten Cheeseburger von Manhattan?« »Drei Sterne im Michelin«, erwiderte Devlin und lächelte vor sich hin. FBI-Leute tendierten am Telefon zur Vorsicht, eine lobenswerte Angewohnheit. Wer lange Kriminalbeamter war, hatte oft genug mit dem FBI zu tun gehabt, um beim Austausch von Informationen vorsichtig zu sein. Das FBI hatte Computer, die Polizisten nicht hatten; das allein ersparte manchmal eine Menge unnötige Lauferei. Und manchmal wußten FBI-Leute Dinge, die die örtliche Polizei nicht wissen durfte, auch das konnte viel Zeit sparen. Aber Harry Fisk gehörte nicht in diese Kategorie. Er war ein Freund. Devlin sah auf die Uhr: Zeit, um zu McGovern's Bar und Grill Restaurant zu gehen. Harry Fisk war ein großgewachsener, muskulöser Mann mit dichten, gewellten weißen Haaren und viel gefährlicher, als er aussah, wie Devlin wohl wußte. Nach dem Ausbruch des Viet-
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namkriegs zum Militär einberufen, brachte Harry eine Menge besonderer Fähigkeiten für seinen Job beim FBI mit. Und er war erheblich schlauer und gerissener als so mancher direkt vom College eingestellte Weichling. »Na, was hast du auf dem Herzen, Malachy?« fragte Fisk, nachdem sie ein paar einleitende Worte gewechselt hatten. »Was glaubst du, wer die beschützt, hinter denen du her bist, und wovor?« Er besaß die amüsierte Abgestumpftheit eines Mannes, der die meisten menschlichen Schwächen aus der Nähe gesehen h at. »Eric Vannier und Nicholas Sayles. Klingelt's da bei dir?« Devlin sprach leise, obwohl niemand in Hörweite war. »Ein ganzes Glockenspiel. Warum sollen wir gerade auf dieses Kling-Klang hören?« Devlin gab ihm bedachtsam ausgesuchte Informationen. Profis gründeten Urteile darauf, wer die Fragen stellte, nicht auf die Einzelheiten des Warum. Und Harry Fisk war der Profi schlechthin. Er hörte kopfschüttelnd zu. »Eine Waschmaschine für schmutzige Wäsche«, sagte er schließlich. »Wenn Schwarzoperationen dahinterstecken, kommst du da nicht ran, Malachy. Weltweit passieren eine Menge schäbiger Dinge, die von irgendwoher finanziert werden müssen. Das funktioniert gewöhnlich so: Irgendein reicher, fieser Mensch hat eine Bank, deren Aktiva von jemand noch Reicherem garantiert werden. Meistens wird die Bank in Luxemburg eingetragen und eröffnet dann irgendwo, wo niemand auf die Durchsetzung von Gesetzen besonders achtet, eine Hauptstelle. Sagen wir, in Abu Dhabi oder Karachi oder Nigeria. Dann werden Diktatoren wie Noriega und Marcos verständigt und Drogenkartelle wie die Medellins sowie diverse Gruppen wie die PLO, ferner Brutstätten wie Libyen und der Irak, damit nicht allzu viele Fragen gestellt werden, wie sie an ihr Geld gekommen sind oder wo sie es ausgeben wollen. Als nächster Schritt werden CIA, MJ5, Mossad - und die Ge heimdienste aller anderen Regierungen, bei denen Schwarzoperationen in Frage kommen - informiert, daß höchste Geheimhaltung gewährleistet wird, damit weltweite Verbindungen
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hergestellt werden können und keinerlei Durchführungsbestimmungen zur Anwendung kommen müssen.« »Es ist unschwer zu erkennen, wo das Geld herkommt, Harry«, sagte Malachy, »aber wie wird es verteilt, und wieso merkt im legalen Bankwesen niemand, was da vorgeht?« Harry lächelte ein wenig. »Typisch Harvard-Wirtschaftsfakultät, Malachy - du diversifizierst. Man kauft hier eine dicke fette Schiffahrtsgesellschaft und da eine Flugzeugflotte und anderswo eine Hotelkette. Man eröffnet eine Zweigstelle auf den Cayman-Inseln, wo alles möglich ist, und spendet Wohlfahrtsverbänden einen Pißpott voll Geld - vornehmlich denen, deren Anwälte großen Einfluß in Regierungs- und Bankkreisen haben. Man erwirbt Tochtergesellschaften, sogar legitime Banken in mehreren Ländern, und hat, falls jemand nachfragt, Clark Clifford im Vorstand. Zu guter Letzt baut man seinen eigenen Verband für Schwarzoperationen auf, um mit jedem fertig zu werden, der gründlich nachdenkt. Man heuert Vasallen an - man nennt sie Banker, aber man bildet sie aus für Waffenhandel, Bestechung, Spionage, Erpressung, Drogenhandel und Verhöre. Ich will nicht sagen, daß deine zwei so operieren, Malachy, aber alles in allem... ich würde sagen, es ist gut möglich, daß ich nahe dran bin. Ich will sehen, was ich für dich herausfinden kann, mein Freund, aber wenn das, was du tust, ausgesprochen inoffiziell ist, kannst du dir den Arsch verbrennen, wenn du den falschen Übeltätern Ärger machst. Und ich will dir ehrlich sagen, die kriegst du nie dran. Nicht in sieben Millionen Jahren, verdammt noch mal. Du wirst wie der Floh auf dem Hintern eines Elefanten sein - ein unbedeutender Toter.« »Gut zu wissen, daß du optimistisch bist«, entgegnete Devlin mit einem schiefen Grinsen. »Wenn du willst, daß ich nachsehe, sehe ich nach.« Devlin nickte. »Ich muß das Reich des Bösen hier nicht stürzen, Harry. Ich muß nur genügend Schmutz ausgraben, damit das Ministerium sich einschaltet, so daß ich den Mistkerlen genug einheizen kann, um sie zu bewegen, ein kleines Kind laufen zu lassen.«
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Harry Fisk zuckte die Achseln. »Wie in Vietnam, Malachy, du bist immer weich geworden, wenn's um Kinder ging.« »Bist du je 'nem Polizisten begegnet, dem es nicht so ging, Harry?« fragte Devlin. »Männer wie du und ich kriegen 'ne Menge Scheiße zu sehen... und einen Ort muß es doch geben, wo wir die Engel siegen sehen.« Der langjährige FBI-Agent lächelte sarkastisch. »Es tut immer gut, es mit einem Gleichgesinnten zu tun zu haben, Malachy. Ich melde mich vor Ende der Woche bei dir.« In Devlins Wohnung klingelte das Telefon; es war dreiundzwanzig Uhr dreißig. Er war beim Lesen auf der Couch eingeschlafen. »Malachy? Hier Harry. Mach dich auf was gefaßt, Junge. Das Ding ist vielleicht dicker, als ich dachte.« »Hast du was rausgekriegt, Harry?« Devlin war jetzt hellwach. »Ich weiß es noch nicht genau, aber es sieht so aus, als steckten die Israeli mit drin und vielleicht die Ägypter. Man hat dis krete Erkundigungen innerhalb und außerhalb des Dienstweges eingezogen. Was geht hier vor, Malachy? Ist das Kind der uneheliche Erbe des Kalifen von Bagdad oder so was?« »Oder so was«, erwiderte Malachy geheimnisvoll, und Fisk drängte nicht auf eine Antwort. »Du hörst von mir, wenn ich mehr weiß.« Er legte auf. Der Mossad und Ägypten. Das paßte natürlich zusammen. Die Ägypter dürften von der Prophezeiung wissen, und die Israeli wußten alles, was die Ägypter wußten. Scheiße! dachte Devlin folgerichtig. Die anderen Mitspieler würden ihm nur das Leben erschweren. Er ging mit der Überlegung zu Bett, ob es an der Zeit sei, an jemands Ketten zu rütteln. Und wenn, an wessen?
48 Das beharrliche Klingeln der Türglocke holte Maggie aus dem Keller. Sie war erschöpft, ihr Jogginganzug war schweißnaß,
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aber nach einer Stunde Budo-Training war sie klar im Kopf und voller Tatendrang. Der dreißigste April rückte näher, und Hilfe von den Behörden war nicht in Sicht, da schienen Mr. Wongs Lehren nützlicher als die aller anderen zusammen. Devlin wartete draußen auf der obersten Treppenstufe. Aus unerfindlichen Gründen wirkte er auf Maggie stets jünger, als sie ihn in Erinnerung hatte. »Ach, du lieber Gott«, sagte sie, außer Atem vom Training und dem Spurt die Treppe hinauf. »Ich seh aus wie aus dem Wasser gezogen. Habe ich Sie erwartet?« Sie wischte sich mit geübter Ge ste den Schweiß vom Gesicht und hielt ihm die Tür auf. Devlin fand sie begehrtenswerter als je zuvor. »Nein«, sagte er liebenswürdig. »Aber ich habe beschlossen, ein paar Informationen, die ich ausgegraben habe, als Ausrede zu benutzen, um Sie zu sehen. Ich habe ständig an Sie gedacht.« »Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie ich im Augenblick aussehe«, sagte sie naserümpfend. »Es sei denn natürlich, Schweiß macht Sie an wie diese Kerle in der Turnschuhwerbung.« »Das kommt ganz darauf an, wer schwitzt und unter welchen Bedingungen«, erwiderte er grinsend. »Was haben Sie herausgefunden?« »Es geht um Maa Kheru. Es gibt da vielleicht einen Experten... mehrere Leute erinnern sich an einen Reporter, der die Wege des vermuteten Kartells jahrelang verfolgt hat. Nach deren Aussage soll er versucht haben, führende Zeitungen und Illustrierte für die Informationen zu interessieren, die er über die Kerle zusammengetragen hat, aber niemand wollte es riskieren, seine Stories zu bringen, weil darin so viele prominente Männer und Frauen verunglimpft wurden. Er ist seit einer Weile verschwunden; seit ein paar Jahren hat ihn keiner mehr gesehen.« »Eric hat ihn vermutlich an die Rottweiler verfüttert«, sagte Maggie mit einem gequälten Lächeln. »Meinen Sie, Sie können herausfinden, was der Mann weiß?« »Zuerst muß ich herausfinden, wer und wo er ist... dann kann ich es versuchen«, erwiderte Devlin. »Ich kann auch mit Ihnen essen gehen, wenn Sie sich nicht zu arg wehren.« Er deu-
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tete auf ihre Jogginghose und ihren Karate-Dreß. Ihr Gesicht war gerötet von den anstrengenden Übungen. »Ich habe eine bessere Idee«, entgegnete sie. »Ich kann ein passables Omelett und einen Salat machen, und da Maria heute abend frei hat, müssen wir uns nicht um die Küche streiten. Wenn Sie nichts dagegen haben, eine Flasche Wein aufzustöbern, während ich dusche und mir was anziehe, können Sie mir ohne zu viele Ablenkungen erzählen, was Sie über diesen Reporter wissen. Okay?« »Klingt nicht schlecht«, erwiderte er. Sie hörte eine gewisse Gefühlsregung aus seinen Worten heraus und war sogleich besorgt, er könnte sie für allzu entgegenkommend halten. »Maggie«, sagte er unvermittelt, »zeigen Sie mir Ihr Studio, bevor Sie sich umziehen... ich möchte gerne sehen, wo Sie trainieren.« Verwundert über die Bitte, führte sie ihn die Kellertreppe hinunter, und Devlin staunte über die Größe und die erstklassige Ausstattung des Raumes, den sie sich dort eingerichtet hatte. Von der Decke hing ein schwerer Sack, daneben ein wie ein Mensch geformter Punchingball. Eine Ecke wurde von einem Wing-Chun-Dummy beherrscht, und an den Wänden hingen zwei Makiwara-Säcke, denen man ansah, daß sie ordentlich herangenommen wurden. Eine Wand war verspiegelt, und davor befand sich eine fast zwei Meter lange Ballettstange. Auf dem Boden lagen diverse Hanteln in verschiedenen Gewichten, daneben stand eine Hantelbank. »Ich kenne Berufsboxer, die nicht so gut ausgestattete Trainingsräume haben«, sagte Devlin lächelnd, und Maggie nickte dazu. »Es ist sozusagen mein Allerheiligstes, wie meine Bibliothek. Aber hier unten klingelt kein Telefon, und ich komme mir geheimnisvoll vor. Sie sagten, Sie hatten als Student Spaß am Kampfsport... da müssen Sie wissen, wie er einen verführt.« »Am liebsten würde ich Sie jetzt küssen, Maggie«, sagte er unvermittelt und trat so dicht an sie heran, daß sie seinen Atem auf ihrer Wange und die männliche Wärme seines Körpers
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fühlen konnte. »Aber ich glaube, Sie würden sich auflösen wie Nebel.« Verdammt! Er hätte mich küssen sollen, ohne zu fragen, dachte sie; jetzt muß ich eine Entscheidung treffen. »Ich weiß nicht, ob ich das vertragen könnte...«, murmelte sie, erschrocken über ihre Reaktion. »Ich habe für nichts Kraft, außer um Cody zu retten, und Gott weiß, vielleicht habe ich auch dazu nicht die Kraft. Aber ich darf mich todsicher nicht verl...« Sie brach ab, entsetzlich verlegen. Wo war der Versprecher hergekommen? »Nett, daß Sie denken, Sie könnten es eventuell tun«, sagte er mit unbefangenem Grinsen. »O Gott! So hatte ich das nicht gemeint!« »Ist in Ordnung. Ich könnte es auch.« »Jetzt nehmen Sie mich aber auf den Arm!« »Ein bißchen vielleicht. Ich seh Sie gerne lachen. Ehrlich gesagt, ich seh Sie überhaupt gerne.« Er lächelte. »Und mir fallen noch verdammt viele Dinge ein, die ich Sie noch nie tun sah, aber sehr gerne tun sehen würde.« Maggie machte ein betrübtes Gesicht. »Aber nicht jetzt«, endete sie rasch, dann berührte er mit seinen Fingern ihre Wange so sacht, daß sie es kaum spürte. »Nein?« Devlin brachte Maggie ein bißchen durcheinander, er überrumpelte sie immer wieder. »Nicht heute abend. Heute abend möchte ich bloß ein Omelett.« Sie lachte. Er war sehr liebenswert, wenn er ausgelassen war; es war schwer, sich nicht mitreißen zu lassen. »Ich benehme mich wie eine idiotis che Sechzehnjährige. Bitte verzeihen Sie mir, Dev. Ich habe das Flirten vor einer Ewigkeit verlernt, und vermutlich war ich davor auch nicht gerade gut darin. Ich glaube, ich bin ganz schön aus dem Gleichgewicht.« »Sie benehmen sich genau wie eine, die im Moment eine Menge auf dem Teiler hat und vorerst keinen weiteren Gang vertragen kann.« Sie nickte dankbar und machte kehrt, um nach oben zu gehen. Aber er nahm ihren Arm und drehte sie zu sich herum. »Ich
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möchte Ihr Freund sein, Maggie«, sagte er ruhig und bestimmt. »Sie haben im Moment genug Scherereien, noch mehr Druck können Sie so gut gebrauchen wie eine Migräne. Und deswegen bin ich nicht hier.« Sie entdeckte echte Besorgnis in seinem Ge sicht. »Aber ich bin hier. Und ich gedenke, hier zu bleiben, in Ihrem Leben. Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben.« Sie aßen zu Abend und räumten anschließend ab, und er berichtete ihr alles, was er in Erfahrung gebracht hatte. Er ist so irisch in seiner Vielschichtigkeit, dachte sie beim Essen; grübelnd und melancholisch, dann wieder ausgelassen. Aber er war auch vertrauenswürdig, im schönsten Sinne dieses altmodischen, oft mißachteten Wortes. Und er war noch mehr. Womöglich eine ganze Menge... Sie nahmen ihren Kaffee mit in die Bibliothek und tranken ihn am Kamin. Kurz vor elf ging Devlin nach Hause, und Maggie blieb verwirrt über ihre körperliche und emotionale Reaktion auf den Mann zurück. Sie wünschte, ihn besser zu kennen... wünschte, daß er es wollte.
49 Pater James saß in Maggies Bibliothek in einem chintzbezogenen Ohrensessel, der seinen schlaksigen Körper lächerlich klein wirken ließ. Maggie war nervös gewesen, als Peter sagte, daß der jüngere Priester ihn heute begleiten würde. »Er ist ein seltener Vogel, Maggie«, hatte er zu ihr gesagt, »und ein guter Freund. Er könnte vielleicht etwas sehen, das uns entgangen ist.« Sie hatte damit gerechnet, daß Pater James Kebede sie argwöhnisch betrachten würde; er war schließlich Peters Freund, und sie war Peters Problem. Aber nein, der Priester mit der starken Ausstrahlung begrüßte sie mit aufrichtiger Herzlichkeit; seine altmodischen Manieren standen in charmantem Gegensatz zu seiner Footballer-Statur. Er trug Ruhe in sich, eine einmalige Heiterkeit, die sanft tröstend wirkte auf alle, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden. »Das Gute und das Böse, Maggie«, sagte Peter, der am Kamin
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stand. »Wir werden Ihnen mitteilen, was wir wissen oder zu wissen glauben - in der Hoffnung, daß dieses Wissen sich für Sie als ein Bollwerk erweisen wird.« Sie nickte erwartungsvoll. »Ich denke, wir sollten mit dem Versuch beginnen, das Böse zu definieren«, sagte er. »Sind die Naturgewalten böse? Hungersnot, Seuchen, Hurrikane, Vulkanausbrüche... diese Katastrophen fügen unschuldigen Menschen Schaden zu - dürfen wir Gott für ihr Leid verantwortlich machen? In Exorzismen hat der Dämon bekanntlich versucht, seine Feinde zu verwirren mit Geschichten von Gottes Boshaftigkeit oder zumindest Seinem Unwillen, den Menschen vor dem Wüten der Natur zu beschützen. Moralische Niedertracht läßt sich leichter identifizieren. Es bedarf keiner theologischen Definition, um zu wissen, daß mittelamerikanische Todesschwadronen, Nazi-Konzentrationslager, der Völkermord der Roten Khmer oder Terrorismus Greueltaten sind, ungeachtet der vermeintlichen Ideologie. Ebenso jede Form der Entartung - wir wissen, daß Massenmörder, Folterer und Kinderschänder entsetzliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Die subtileren Übel sind es, die sich zuweilen unserer Entdeckung entziehen: der Eigennutz, die kleinen Lügen, die guten Taten, die ungetan bleiben...« James beugte sich vor und flocht einen Gedanken ein: »Das Böse schadet den Menschen und widersetzt sich dem Leben selbst. Es steht im Gegensatz zur Zivilisation und zur Ordnung. Es lügt, um seine Ziele zu erreichen. Auf seinem Weg wächst nichts mehr, denn es versengt die Erde hinter sich.« »Und wo bleibt Gott bei alledem?« fragte Maggie unwillig. »Es ist mir ein unlösbares Rätsel. Gott ist das Gute in Person, Gott ist allmächtig, und doch existiert das Böse.« »Ein Psychiater und Exorzist hat einmal eine plausible Antwort auf dieses Rätsel formuliert, Maggie«, antwortete James. »Er sagte, Gott erschafft nur, er zerstört nicht. Und da ihm die destruktive Gewalt versagt ist, ist Gott vielleicht außerstande, die Greueltaten zu verhindern, die wir uns gegenseitig zufügen, weil er sich selbst beschränkte, als er uns die Freiheit gab. Er kann nur fortgesetzt mit uns trauern. Er wird sich uns darbieten
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und danach trachten, uns für das Gute zu gewinnen, aber er kann nicht auf unsere Entscheidung einwirken, bei ihm zu bleiben, wenn wir es nicht wollen.« »Aber Sie beide haben Exorzismen durchgeführt«, widersprach Maggie, »in denen Gott über die Anwesenheit Satans obsiegte. Würde nicht das allein schon vermuten lassen, daß das Gute stärker ist als das Böse, daß Gott stärker ist als Satan?« Peter nickte. »Das stimmt schon, Maggie. Aber Sie müssen bedenken, daß Gott uns arme Sterbliche benutzt, um Sein Werk zu verrichten, und daß wir erbärmlich unvollkommene Werkzeuge sind.« »Doch trotz aller Unvollkommenheit, Peter«, erwiderte sie unwirsch, »gibt es mehr Ordnung als Chaos, mehr Beweise für Liebe als für Haß. Wir armen unvollkommenen Menschen spucken noch immer Tyrannen ins Gesicht, retten sterbende Kinder von Misthaufen in Kalkutta, rennen in brennende Häuser, um wildfremde Menschen zu retten, und zünden eine Kerze an, statt die Dunkelheit zu verfluchen. Wissen Sie, Peter, je mehr wir hierüber reden, desto mehr wird mir klar, daß ich nichts über Ketzerei wissen muß. Wenn Gott und das Gute nicht stärker und besser wären, würden wir heute nicht hier stehen. Denn die Bösen erbauen keine Zivilisationen, sie reißen sie nieder. Sie ernähren keine Kinder, sie mißhandeln sie - sie sind nicht zu mu tigen Taten imstande wie wir, weil sie einfach nicht genug lieben, wir aber schon.« Sie hielt inne, um Atem zu holen. »Ich brauche das Böse nicht zu definieren, Peter. Ich kann es in meilenweiter Ferne ausmachen.« James sah Peter in die Augen, und sein Blick besagte: jetzt verstehe ich. James hatte sich erboten, Maggie zu begleiten, um Lebensmittel zum Abendessen einzukaufen. Peter hatte die Fähigkeiten seines Freundes als Koch gerühmt und seine Hilfe bei der Zubereitung des Essens zugesagt, und Maggie wollte die notwendigen Zutaten besorgen. Zu ihrer Überraschung hatte Maria Aparecida den äthiopischen Priester sogleich in ihr Herz geschlossen und ihm stolz ihre Küche gezeigt, als sie hörte, daß er gerne kochte.
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»Nach reiflicher Überlegung, Dona Maggie«, hatte sie gesagt, während sie Maggie und Peter aus der Küche scheuchte und James unterhakte, »werden der Padre und ich zusammenarbeiten.« »Sie wollten mich allein sprechen, James, nicht wahr?« fragte Maggie, nachdem sie ihre Einkäufe getätigt hatten, auf dem Heimweg. »Sie haben's erfaßt«, erwiderte er liebenswürdig. »Ich muß gestehen, daß ich Sie einfach kennenlernen wollte, Maggie, wenigstens ein bißchen, und unter vier Augen geht das immer am besten, finden Sie nicht?« »Mißbilligen Sie es, daß Peter mir so selbstlos zu helfen versucht?« fragte sie. »Keineswegs. Ich glaube, er handelt, wie er handeln muß. Peter Messenguer ist ein einzigartiges Exemplar in Gottes Schöpfung, Maggie. Er muß der Führung seines ungewöhnlichen Intellekts folgen. Und in diesem Fall auch der seines Herzens.« Maggie sah James ein ganz klein wenig lächeln. »Ich glaube, Sie und Cody wurden zu einem bestimmten Zweck auf seine Bahn geschickt, Maggie. Im Augenblick weiß nur Gott allein genau, worin dieser Zweck besteht. Peter muß es herausfinden.« Sie gingen fast einen Häuserblock weit schweigend weiter. »Was wollen Sie mich fragen, James?« drängte sie schließlich. »Ich habe Ihre Fragezeichen den ganzen Nachmittag gespürt.« Er nickte. »Wenn Sie das Kind nicht retten können, Maggie, was werden Sie dann von Gott denken?« »Ich schätze, diese Möglichkeit habe ich nicht in Erwägung gezogen, James«, erwiderte sie langsam, ein wenig verblüfft über die Frage. Sie spürte, daß ihre Antwort aus irgendeinem Grund wichtig für ihn war. »Als mein Mann starb«, fuhr sie fort, »habe ich mit Gott gehadert. Während der drei Jahre seiner Krankheit hatte ich den Himmel mit meinen Gebeten und Bitten bestürmt, und ich konnte einfach nicht glauben, daß Gott einen so guten Menschen sterben ließ - ohne Grund, unter so entsetzlichen Umständen. Die Vergeblichkeit meiner Bitten erfüllte mich mit
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Zorn. Und der Verlust, den ich erlitt... die schreckliche Einsamkeit der Witwenschaft... es fraß an mir wie ätzende Säure. Dann war ich mit Jennas Sucht und ihrem Verschwinden geschlagen ... ich kam mir vor wie ein moderner Hiob. Ich habe mich so bemüht, lieber Gott! tobte ich. Warum hilfst du mir nicht? Was willst du von mir?« Ihre Stimme war schwer vor Bewegung. »Und eines Tages, nachdem ich lange Zeit um Verstehen gebeten hatte, begriff ich, daß Er vielleicht nichts anderes von mir wollte, als mich Seinem Willen zu fügen. Endlich begriff ich, daß man das Schicksal nicht ändern, vielleicht aber genug von ihm lernen kann, um sich selbst zu ändern... und vielleicht ist das auch etwas, das Er von uns verlangt. Ich bin gewissermaßen zu dem Schluß gekommen, daß ich den Tod meines Mannes nicht zum entscheidenden Thema zwischen mir und Gott werden lassen durfte.« Sie lächelte traurig. »Es ist kein leichter Kampf, der uns hier auferlegt wurde, James. Aber ich glaube, Gott erwartet von uns, daß wir uns jede Mühe geben, trotz aller Hindernisse. Kurzum, ich glaube, Gott will, daß ich kämpfe wie der Teufel, um Cody zu retten. Wenn es mir mißlingt - oder wenn er sie aus einem Grund, der mein Begriffsvermögen übersteigt, zu sich nimmt -, werde ich mir alle Mühe geben, mich auch darein zu fügen.« Sie sah ihn an, und aus ihrem Gesicht sprach eine große Verletzlichkeit. »Sie war sein Kind, bevor sie meines war, James«, sagte sie leise. James Kebede war tiefbewegt von Maggies Worten, denn er begriff die Größe ihres Bekenntnisses zum Glauben, und was es sie vermutlich kosten würde, danach zu leben. Der Traum setzte langsam ein, und er trug Maggie außerhalb der Nebel der Zeit. Sie wälzte sich in seinem Rhythmus, angetrieben von einer unsichtbaren Kraft, die sich nicht leugnen ließ. Die Zeitnebel zerteilten sich; sie war an einem Königshof. Der Pharao saß auf einem goldenen Thron, der die Gestalt großer geflügelter Löwen hatte; seine Würdenträger umringten ihn, und seine Krieger, Bogenschützen, Speerwerfer standen vollbewaffnet stramm, Reihe um Reihe entlang den Kalksteinsäulen der großen Halle. Ihre eingeölten Leiber Schimmer-
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ten, und scharlachrote Federn schmückten ihre Schilde und Helme, denn sie waren die auserwählten Leibwächter des Pharao. Neben dem goldenen Thron stand ein junger Mann. Er war so groß wie das Nilschiff, das den heiligen Ibissen Schatten spendete, und er war offensichtlich ein Abkömmling Pharaos, Die edel geformte Nase und das Kinn, die überdurchschnittliche Größe und die Haltung eines Königssohnes kennzeichneten ihn als den Erben des Wappens des Doppelreiches. Er war der Traum-Maggie fremd und vertraut zugleich. Sie beobachtete und lauschte, bestrebt, zu erkennen, warum er sie mit einer so verzweifelten Sehnsucht erfüllte. Der junge Mann sprach, und der Pharao hörte zu. Die Höflinge ließen sich untereinander murmelnd über seine Klugheit aus, und die Ptah-Priester nickten sich weise zu. Die Träumende hörte sie sagen, er werde alsbald bereit sein für die große Prüfung auf Leben und Tod. Maggie bewegte sich unruhig im Schlaf. Furcht packte sie, irgendwo in der Traumwelt... und sie überließ sich ihr, ohne zu wissen, warum. Karaden. Sein königlicher Name lautete Snefru, Sohn des Zoser-Horus-Neteri-Khet, aber er wurde Karaden genannt. Er sprach, vielmehr dozierte, als sei er viel älter, als er an Jahren war. Und sein Auftreten, formvollendet und majestätisch, war so vertraut... Peter. Was tat Peter in ihrem Traum? Nein, das konnte nicht Peter sein am Hofe des Pharao. Das war so lange her... So lange... So traurig. So traurig. So lange... Maggie schlug die Augen auf und versuchte blinzelnd, den Traum festzuhalten. Warum verflüchtigten sich diese seltsamen Träume so schnell, daß nur Bruchstücke im Bewußtsein blieben? Sie würde alles darum geben, sich zu erinnern. Obwohl sie sie jedesmal so traurig stimmten.
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50 Jennas Körper unter dem fast durchsichtigen schwarzen Neglige war vollendet. Hochsitzende, volle Brüste mit aufwärts gerichteten Warzen, schmale Taille, sanft schwellende Hüften, gehalten von einem erlesenen goldfarbenen Hüfthalter mit filigranen Blättern und Blumen. Ihren Kopf krönte ein vergoldetes Diadem, das mit einer sich aufbäumenden Kobra verziert war; ihre hellblonden Haare schimmerten fast silbern im Kerzenlicht. Zuversichtlich nahm sie ihren Platz am Altar ein und hob zum Gruß an Sekhmet beide Arme. Die Statue der boshaften katzenförmigen Göttin war aus schwarzem Granit gemeißelt; die riesigen kostbaren Edelsteine um Hals und Arme reflektierten flirrend das Licht der Fackeln. Jenna nahm ihren Platz am Fuße des Altars ein. Sie hatte sich auf diese neue Ebene der Einführung in die Rituale von Maa Kheru gefreut. »Sogar du, Ghania, mußt zugeben, daß sie das in früheren Leben getan hat«, sagte Eric, der die Darbietung der Novizin kritisch aus dem Hintergrund der Kapelle betrachtete. »Diese Kunstfertigkeit erwirbt man nicht in einer einzigen Inkarnation.« »Wäre sie nie Priesterin gewesen, wäre sie nicht als das Gefäß erkoren worden, Eric, wie du weißt. Andererseits, hätte sie ihre Göttin nicht enttäuscht, würde sie nicht ganz so entbehrlich sein.« »Eins zu null für dich, Ghania, du hast recht, wie gewöhnlich. Du und ich haben unseren Meister vor langer Zeit gewählt... Jenna gelangte durch eine Nachlässigkeit auf seinen Linken Pfad. Dessenungeachtet spielt sie ihre Rolle heute abend süperb. Es ist ein Vergnügen, ihr zuzusehen, nicht wahr? Die Götter haben ihren Lehm vollendet geformt, wenn auch nicht den Geist darin.« Er sah die finsterblickende Ghania von der Seite an, dann fügte er mit boshafter Belustigung hinzu: »Du bist eifersüchtig auf ihren Körper, Ghania, gestehe es. Die vollkommenen Brüste, die Lenden, so reif für die Lust... du kannst mir nicht erzählen, daß du sie nicht um mein Bett beneidest.«
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»Das Alter ist ein unbarmherziger Meister, Eric«, erwiderte Ghania verstimmt. »Eines Tages wirst auch du die Jugend beneiden.« »Aber ich war dein Liebling, nicht wahr, Ghania?« drängte er wie ein quengelndes Kind. »Und du beneidest sie. Ich bestehe darauf, daß du mir die Wahrheit sagst.« Ghania lächelte verschlagen. »In diesem Jahrhundert warst du vielleicht der Beste, du arroganter Knabe. Doch es gab andere, bessere Jahrhunderte.« Sie machte kehrt und ließ ihn verärgert stehen, dem durchtriebenen Feixen von Nicholas Sayles ausgeliefert. »Du magst die alte Hexe besitzen, Eric«, sagte Nicky, »aber du wirst ihr nie die Stirn bieten können.« »Ich könnte ihr das Herz herausschneiden und zum Abendessen braten lassen«, entgegnete Eric schroff. »Wohl wahr. Aber du wirst ihr nie die Stirn bieten können.« Nickys Gelächter war irritierend und brachte Eric auf den Ge danken, daß er den Mann vielleicht schon viel zu lange am Leben gelassen hatte.
51 Devlin und Maggie hatten schon in ihrem Wohnzimmer Platz genommen, als Gino eintraf. Er trug eine Baumwollhose und einen Marinepullover, was seine mediterrane Sinnlichkeit unterstrich. Er sah überhaupt nicht so aus, wie Maggie sich ihn vorgestellt hatte. Sie gab ihm die Hand und lächelte. »Ich habe schon so viel von Ihnen gehört, Gino, daß ich glaubte, ich würde Sie auf Anhieb erkennen, aber Dev vergaß mir zu sagen, daß Sie wie ein Filmstar aussehen.« »Sie würden überrascht sein, vor wie wenigen Leuten er das erwähnt«, sagte Garibaldi lachend, betört von ihrer Offenheit. »Wenn ich es recht bedenke«, warf Devlin ein, »war der Wunsch, daß ihr zwei euch kennenlernt, vielleicht doch keine so gute Idee.« »Ach was«, gab Gino zurück, »wir haben viel zuviel zu be-
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sprechen, um uns von einem hübschen Gesicht ablenken zu lassen. Übrigens, du hast selbst nie besser ausgesehen, Lieutenant.« »Was hast du für uns auf Lager, Gino?« fragte Devlin. »Jede Menge Unzureichendes, Lieutenant. Ich hab einen angerufen, der einen angerufen hat, im Drogendezernat, und dort beobachten sie unsere Pappenheimer schon länger. Es geht hier um einen Haufen Kohle. Die Hauptpipeline führt vom Goldenen Dreieck über Indien und Ostafrika et cetera, et cetera. Du kennst das ja. Eine Menge schmutziges Geld scheint durch die Waschmaschine der Familie Vannier zu laufen, aber von oben kommt der Befehl, daß niemand ihnen den Stecker rausziehen darf, wegen dem Tun und Treiben von Soundso, weswegen es wichtiger ist, diese Mistkerle im Geschäft zu halten, statt sie auszuschalten. Capisce?« Maggie machte ein bestürztes Gesicht. »Wollen Sie damit sagen, daß das Drogendezernat von Vanniers und Sayles' Heroinhandel weiß und nichts dagegen unternimmt?« Die Männer wechselten einen Blick, und Gino antwortete: »Ich will sagen, daß für die Leute im Drogendezernat der Teufel, den man kennt, manchmal besser ist als der Teufel, den man nicht kennt. Und manchmal beobachten sie eine Operation lange, lange Zeit, bevor sie den Stecker ziehen. Allerdings, manchmal ziehen sie den Stecker nie, weil ihnen das von weiter oben so befohlen wird.« »Wer ist ›weiter oben‹?« »Das Justizministerium, der Präsident, FBI oder CIA vielleicht. Manchmal sogar ein Staatsanwalt, wenn er Einfluß hat. Finden Sie sich damit ab, Maggie. Eine Menge Drecksäcke werden nie geschnappt, weil jemand sie braucht, um an einen noch größeren Drecksack heranzukommen, oder einfach, weil das System bei bestimmten Sachen anderen in den Hintern kriecht. Deswegen haben wir Polizisten oft das Gefühl, wir würden unsere ganze Zeit damit verbringen, die Deckstühle auf der Titanic umzustellen.« Gino lehnte sich zurück und sah Maggie an. »Ich war ge-
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spannt darauf, Sie kennenzulernen«, sagte er mit einem aufrichtigen Lächeln. »Ob Sie's glauben oder nicht, der Lieutenant ist normalerweise bei klarem Verstand. Ich wollte sehen, was für eine Frau ihn dazu bringt, es ganz allein mit den Finsterlingen vom Todesstern aufzunehmen.« »Es tut mir leid, daß ich Sie beide in so eine gefährliche Sache hineingezogen habe«, sagte Maggie besorgt. »Ich hatte absolut keine Ahnung, was da auf mich zukam, und ich hätte vollstes Verständnis, wenn Sie aussteigen würden.« Gino forschte kurz in ihrem Gesicht, um zu prüfen, wie ernst es ihr damit war, dann sagte er: »Du hast recht, Lieutenant, sie ist wirklich prima.« Dann entspannte er sich zum ersten Mal. »Hören Sie.« Er beugte sich vor, seine Stimme war freundlich. »Erzählen Sie mir doch ein bißchen von dem kleinen Kind, das uns allen im Kopf herumgeht... Sie muß wirklich etwas Besonderes sein...«
52 Ghania nahm die kleine Maus aus der Tasche ihrer Dschellaba und ließ sie am Schwanz vor Cody baumeln, ehe sie sie ihren Arm hinaufkriechen und auf ihrer Schulter hocken ließ. Sie war heute morgen selten guter Laune. Cody sah, daß Ghania beinahe schelmisch war, und das erfüllte das Kind mit ängstlicher Vorahnung; denn es war falsch. Sie befand sich jetzt in einer Art Betäubung von der unbarmherzigen Folge von Bosheiten und Nettigkeiten, die Ghania, scheinbar willkürlich, verteilte. Anfangs hatte Cody versucht, die Auslösung der beängstigenden Angriffe, die Schmerzen brachten, zu vermeiden - aber die Schmerzen kamen trotzdem, so oder so. Der einzige Ausweg war ein Untertauchen, ein Verstecken, tief in ihrem Inneren, wo Geborgenheit in dem Licht war. Es wurde stärker... und manchmal kam es ihr so vor, als ob dort jemand wohnte. Jemand Gutes. »Du darfst mit der Maus spielen«, sagte die Hexe mit nachsichtigem Lächeln. »Sie ist ganz lieb und sehr klug.« Cody streckte zögernd die Hand aus und hob das winzige
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rosa-graue Tierchen von Ghanias Schulter. Es entwand sich ihrem Griff, fiel in ihren Schoß und huschte so geschwind über die Bank, daß das Kind unwillkürlich kicherte. »Du kannst mit den kleinen Geschöpfen dieser Erde sprechen, zum Beispiel mit dieser Maus. Du hast die Gabe«, sagte Ghania, und Cody sah überrascht auf. »Du mußt gut zuhören, wenn sie in deiner Nähe sind, Kind, und du mußt dabei ganz still sein, denn sie reden leise. Du wirst ihre Gedanken hören, wenn du tust, was ich sage.« Cody schüttelte zweifelnd den Kopf. »Nein?« fragte Ghania. »Das glaubst du nicht? Schön, ich weiß es aber!« Sie schürzte nachdenklich die Lippen. »Du erinnerst dich nicht an deine Zauberkraft«, sagte sie schließlich, als würde sie das bekümmern. Cody blinzelte. »Welche Zauberkraft?« »Die Zauberkraft, die in deiner Seele ist, Kleine. Sie ist sehr groß, sehr mächtig, aber du hast vergessen, wie du sie benutzen kannst.« Sie schnalzte bedauernd mit der Zunge. Cody machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich kann nicht zaubern.« Ghania lächelte überschwenglich. »O doch, du kannst es, Kind! Wirklich. Deswegen unterrichtet Ghania dich... deswegen gibt Ghania sich solche Mühe mit dir! Du bist eine große Zauberin ... mit gewöhnlichen Kindern gebe ich mich nicht ab.« »Nein?« Cody dachte, es wäre sehr gut, wenn Ghania sich auch nicht mehr mit ihr abgeben würde. »Nein, Kind«, versicherte ihr Ghania äußerst liebenswürdig. »Ghanias Können ist nur für die besonderen.« Cody machte ein finsteres Gesicht und sagte nichts; sie hatte Ghanias Können erlebt. Selbst wenn Ghania sich heute nett stellte, hieß das noch lange nicht, daß sie ein netter Mensch war. »Möchtest du mehr über deine Zauberkraft wissen?« schmeichelte Ghania, und Cody nickte unsicher. »Dann sag ich dir, was du tun mußt, Kleine. Du mußt deine Gedanken ganz still halten ... dann mußt du tief in dich hinein langen an die geheimen Stellen. Wenn du ganz gründlich schaust, wirst du Dinge sehen, die du nie vergißt.«
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»Was für Dinge?« Ghania lachte, und Cody schauderte. Ghanias Lachen hatte gewöhnlich böse Folgen. »Jeder sieht in der Tiefe andere Dinge, Kind. Manche sehen Dämonen, manche sehen Engel. Du hast die seltene Macht, beides zu sehen! Am leichtesten sind sie zu sehen, wenn du verletzt bist oder dich fürchtest. Deswegen macht Ghania manchmal solche Sachen mit dir. Ghania tut dir weh, um dir zu helfen, deine Zauberkraft zu finden.« Cody wich instinktiv zurück. »Nicht heute, Kind, hab keine Angst«, sagte Ghania mit durchtriebenem Lächeln. »Heute kommen keine Schmerzen. Aber ganz früher, zu Zeiten der alten Götter, mußten viele Schmerzen erlitten werden, bevor die Zauberkraft kam. Ich wurde drei Tage in einem Ameisenhaufen begraben, bevor meine Zauberkraft sich einstellte...« Bei der Erinnerung schüttelte sie angewidert den großen Kopf. »Haben die Ameisen dich nicht gebissen?« fragte Cody, fasziniert und entsetzt. »Gebissen haben sie mich, und sie sind in meine Augen und meine Ohren gekrabbelt... ich konnte nicht atmen und nicht sehen. Ich konnte nicht schreien, weil ich dachte, sie würden in meinen Mund schwärmen und mich töten...« Das Entsetzen der Erinnerung stand Ghania im Gesicht geschrieben. »Aber die Zauberkraft ist gekommen«, sagte sie schließlich mit merkwürdig gedämpfter Stimme. »Die Zauberkraft ist gekommen.« »Ich will nicht, daß sie so zu mir kommt!« rief Cody. »Keine Zauberei!« sagte sie entschieden, als wollte sie sie abwehren. »Sie wird zu dir kommen, Kleine«, beharrte Ghania mit einer Stimme, die Mitgefühl so nahe kam, wie Cody es bei ihr noch nie gehört hatte. »Du bist gefangen von der Zauberkraft in dir, wie ich von meiner gefangen war. Von den Göttern auserwählt zu sein ist das schrecklichste aller Schicksale.«
53 Malachy Devlin beobachtete neben sich auf der Parkbank die Frau, in die er sich allmählich verliebte, beim Verzehren eines
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Hot dog. Er hatte gemerkt, daß es sie scheu und unsicher machte, wenn er sie zum Essen einlud; wenn er aber unverhofft hereinschneite oder anrief und um einen kurzen Spaziergang bat, damit sie reden könnten, war sie gelöster. Er wollte ihren Widerstand nach und nach bezwingen. Er hatte die typische Beharrlichkeit eines Polizisten und wußte, daß Maggie ihn brauchte, auch wenn ihr das noch nicht klar geworden war. Der Priester war das Problem, das stand fest. Da war etwas im Gange - und sei es auch nur eine Art geistige Affäre. Devlin hatte außerdem die typische pragmatische Einstellung eines Polizisten zur Realität. »Woher haben Sie Ihr Wissen über Sex, Maggie?« fragte er unvermittelt, zu ihrer Verblüffung. Es gefiel ihm, sie so zu überraschen; die spontane Aufrichtigkeit ihrer Antworten hatte etwas, das ihm seinen Glauben an die Welt zurückgab. »Aus den Robaejat von Omar Chaijam«, erwiderte sie und lächelte zwischen Hot-dog-Happen. »Ich könnte Ihnen die genaue Seite zeigen, die meine Kenntnis des Fleischlichen für immer geprägt hat.« Sie grinste und machte ein Gesicht wie ein übermütiges Kind. »Wieso das?« Er lachte. »Also, ich wollte etwas über den Körper wissen, obwohl man in meiner Familie keinen zu haben schien. Väter und Mütter bekam man nur angezogen zu sehen und durch Kleider zu fühlen - es war wie bei diesen Porzellanpuppen, deren Köpfe und Hände aus anderem Material sind als das, was in der Mitte ist. Aber in den Robaejat haben sinnliche Männer mit Weinflaschen in den Händen Frauenbrüste gestreichelt! Nackte Männer und Frauen haben sich berührt, Dev. Auf diesen Buchseiten war das Leben. Und ich erkannte, daß der Körper der Schlüssel war.« Gott, wie gerne hätte er sie in die Arme genommen, um ihre warmen, weichen Stellen zu berühren und sich in ihrer Süße zu verlieren. Maggie hatte etwas so Unschuldiges an sich, trotz ihres Verstandes, ihres Alters, ihrer Erfahrung, ihrer gegenwärtigen Mis ere. »Wissen Sie was, Maggie?« sagte er mit einer Zärtlichkeit in der Stimme, die sie bis dahin noch nicht vernommen hatte. »Ich möchte Ihnen etwas geben.«
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Sie schluckte den letzten Bissen Hot dog hinunter und fragte: »Und was?« »Ich weiß es nicht genau. Verrückte Sachen. Meerträume. Wildblumen in Tontöpfen. Seelenfrieden. Mich.« Sie bog den Kopf zurück und sah Devlin an. Er hatte so etwas Liebenswertes... nein, das wollte sie nicht denken. Oder doch? Sie setzte zu einer Antwort an, aber Devlin hob die Hände, um sie zurückzuhalten. »Ich weiß, ich weiß, keine Komplikationen. Nicht jetzt. Aber vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe.« Er grinste plötzlich wie ein Junge. »Ich gedenke Ihr bester Freund zu sein, auch gegen Ihren Willen.« Sie mußte unwillkürlich lachen. Wenn die Dinge anders lägen.. . nein! Das war lächerlich. Sie liebte Peter - zumindest war es Liebe sehr ähnlich. Man kann nicht zwei Männer gleichzeitig lieben. Vielleicht liebte sie keinen von beiden. Und außerdem nahm allein die Tatsache, daß sie Devlin nicht lieben mußte, den Druck von ihrer Beziehung. Keine Ängste, keine Ausflüchte, keine unerfüllten Sehnsüchte, nur aufrichtige Freundschaft. Und die brauchte sie. Sie konnte so unbefangen mit ihm reden, und er brachte sie immer zum Lächeln. Gott, wie sehr sie etwas Freude in ihrem Leben brauchte, nur um sich zu erinnern, daß es so etwas geben konnte... »Schauen Sie, Maggie«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen, »ich kann Ellie gut leiden, und vielleicht hat auch der Priester ein paar Pluspunkte, obwohl ich verdammt sein will, wenn mir welche einfallen. Aber mit Religion und Metaphysik kann man den Schweinehunden, die Cody haben, nicht beikommen. Mit den guten alten Polizeimethoden ist es vielleicht möglich. Deswegen habe ich vor, eine Weile dranzubleiben. Und jetzt kommt das, worauf ich hinaus will, Maggie, mein flüchtiger Schmetterling. Als erstes kriege ich diese Dreckschweine dran, die Kinder zugrunde richten, um ihre abartigen Gelüste zu befriedigen. Dann hole ich Ihnen Cody zurück. Und wenn das alles geschafft ist...« Er grinste plötzlich, und die dunklen Augen in seinem wettergegerbten Gesicht blickten verschmitzt. »Wenn Sie so ein verdammter Dummkopf sind, sich nicht in mich zu verlieben, dann kann ich nichts dafür.«
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Maggies Augen waren feucht geworden, und sie wandte den Kopf ab, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte; er besaß etwas, das ihr immer wieder Hoffnung machte. Etwa eine Stunde, nachdem er sie nach Hause begleitet hatte, fand sie ein Blatt Papier, das unter ihrer Haustür hindurchgeschoben worden war. Als sie es auseinanderfaltete, las sie in Devlins kühner Handschrift: »Tun Sie mir einen Gefallen und sagen Sie dies bis auf weiteres zehnmal am Tag auf: Nichts ist zu schön, um wahr zu sein. Nichts ist zu schön, um mir zu passieren. Nichts ist zu schön, um ewig zu sein.«
54 Sonnenschein bringt Erneuerung, dachte Maggie, als sie im frühmorgendlichen Sonnenlicht zügig auf der Sixth Avenue Richtung Bleecker Street ging. Sie hatte die Sieben-Uhr-Messe in der St.-Joseph-Kirche besucht und um Hilfe gebeten, um diesen Wirrwarr zu durchschauen. Jetzt brauchte sie einen Resonanzboden, und Ellie war eine gute Zuhörerin. Sie hatte in der Bäckerei süße Brötchen gekauft, um sie ihr mitzubringen, und die anheimelnden Bäckereidüfte hatten ihre Lebensgeister beflügelt. Sie erinnerte sich, wie sie und ihr Vater die Frühmesse besucht und dann in einer Papiertüte Brötchen aus der Bäckerei mit nach Hause genommen hatten... innige Erinnerungen an Freude und Vertrautheit und Liebe. O Gott! Was für Erinnerungen wird Cody hiernach haben? Sofern es ein Danach gibt? Sie beeilte sich, zu Ellie zu kommen, denn sie mußte unbedingt mit einer klugen Freundin reden. Kräftiger Kaffeeduft erfüllte die Wohnung, als sie eintrat. Sie gab Ellie die süßen Brötchen und stellte erfreut fest, daß im Kamin ein Feuer brannte. »Wir beide sind die einzigen Menschen, die so verrückt sind, im April Holz zu verbrennen«, sagte sie lächelnd, als Ellie ihr eine dampfende Tasse Kaffee reichte.
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Sie setzten sich ans Feuer. »Und was führt Sie zu dieser Stunde hierher, wo nicht mal die Hühner richtig wach sind?« fragte Ellie. »Ich muß mit jemand reden, Ellie«, antwortete Maggie. »Mir geht so vieles durch den Kopf, das geklärt werden muß... Ich denke, ich muß versuchen, Cody zu sehen, egal, wie. Und wenn ich mich bei den Vanniers auf den Rasen stellen und Steine ans Kinderzimmerfenster werfen muß - ich fühle instinktiv, ich muß sie wissen lassen, daß ich sie nicht vergessen habe. Ich habe es satt, mich machtlos zu fühlen und zu warten, daß jemand anders die Initiative ergreift.« »Meine Gedanken gingen in dieselbe Richtung, Mags. Aber ich habe es im Gespür, daß die günstigste Gelegenheit, sie dort wegzuholen, die Walpurgisnacht sein könnte, während der Festlichkeiten.« »Warum ausgerechnet in der Nacht? Ich könnte mir vorstellen, daß sie dann besser bewacht wird denn je.« Ellie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Mags. Es wird ein großer Sabbat sein, und der wird gewöhnlich mit einem großen Fest begangen. Vielleicht sogar mit einer Orgie, um die Vibrationen aufzuputschen. Ich denke, sie werden eine Riesenparty veranstalten, und auf einer Party herrscht ein ständiges Kommen und Gehen... Leute vom Party-Service vielleicht... Personal. Sie benötigen dreizehn Adepten für das Ritual... wenn jeder einen Ehepartner mitbringt, macht das schon sechsundzwanzig. Dazu alle weiteren hochrangigen Mitglieder des Hexensabbats. Es steht zu erwarten, daß sie ihre Beute und die Macht, die sie ihnen verleiht, möglichst vielen Anhängern vorführen wollen. Außerdem könnten wir in dieser Nacht die Überraschung auf unserer Seite haben. Wenn sie bis hierhin gekommen sind, ohne daß ihnen ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde, werden sie vielleicht übermütig und halten sich für unverwundbar.« Maggie überlegte eine Minute, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann einfach nicht bis zum Dreißigsten warten, Ellie. Vielleicht haben Sie recht, daß wir sie vorher nicht herausholen können, aber ich muß zumindest versuchen, sie jetzt zu sehen. Es
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bringt mich auf die Palme, daß ich am Telefon nicht durchkomme, und meine Alpträume werden immer irrsinniger. Und Sie haben selbst gesagt, daß meine Träume zutreffend sind.« »Zeit und Raum engen die Seele im Schlaf nicht ein, Mags. So ist das mit voraussehenden Träumen, vor allem bei jemand wie Ihnen, der die Möglichkeit gegeben ist, außerhalb des Körpers in diese Lebensspanne zu reisen.« Sie sah Maggie in die Augen. »Sie müssen alledem wirklich vor dem Dreißigsten auf den Grund gehen, Maggie«, sagte sie sehr ernst. »Sie müssen eine Rückreise in frühere Leben unternehmen, um die ganze Ge schichte zu entschlüsseln.« Maggie runzelte die Stirn; ihr Unwille war offenkundig. »Schauen Sie, Mags, ich halte es für absolut notwendig, daß wir mehr Informationen bekommen, bevor wir tätig werden. Eric, Jenna, Cody, Sie, ich... niemand von uns ist zufällig hier. Es wäre hilfreich, wenn wir wüßten, was wirklich im Gange ist. Und wir werden jeden Vorteil nötig haben, den wir kriegen können. Ein bißchen Klarheit wäre nicht das Schlechteste. Ich kenne ein paar Spezialisten für Reisen in die Vergangenheit.« »Verzeihen Sie, Ellie, Sie wissen, ich würde Ihnen mein oder Codys Leben anvertrauen, aber vor Hypnose habe ich eine Heidenangst, und jemand, der einen in vergangene Leben zurückführt, klingt mir zu sehr nach Supermarkt-Käseblättchen.« Ellie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Dann gehen Sie zu jemand anderem. Gehen Sie zu einem soliden Psycho-Hypnotherapeuten. Ich wette, Amanda kann auf ihrer endlosen Liste von Bekannten einen für Sie ausfindig machen.« »Ich werde es mir überlegen«, erwiderte 'Maggie unsicher. »Das verspreche ich Ihnen.« »Zum Überlegen bleibt keine Zeit, Maggie«, beharrte Ellie unnachgiebig. »Es ist Zeit zu handeln.« Klarheit klingt verlockend, dachte Maggie, als sie Ellies Wohnung verließ. Wenn sie mehr wüßte, würde sich vielleicht eine Lösung zeigen. Sie grübelte stundenlang über die Möglichkeiten nach, ehe sie Amanda anrief und um eine Empfehlung bat. Sie hoffte beinahe, dies werde das einzige Mal in der Geschichte sein, wo Amanda niemand kannte, der jemand kannte...
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Ellie verschloß ihre Wohnungstür hinter Maggie, schaltete die Gegensprechanlage ab und zog die Kleidungsstücke aus, die sie getragen hatte. Währenddessen betete sie und beruhigte Geist und Herz mit der Bitte um Weisung und Läuterung. Es war an der Zeit, selbst auf Lösungen zu kommen. Bevor sie ein Bad nahm, überlegte sie, welchen Zusatz sie ins Badewasser geben sollte. Salz und Soda würden alles Negative fortspülen, das möglicherweise an ihrer Aura haftete; Essig bewirkte dasselbe. Ingwer würde alle böswilligen Energien abwehren, die sich eventuell in der Wohnung aufhielten. Sie entschied sich schließlich für Zedernöl... ein altes indianisches Mittel, um die bösen Absichten anderer zu verscheuchen. Die Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte, war zu knifflig, um eine Invasion unfreundlicher Mächte zu riskieren. Bei der Wahl ihrer Kleidung ging sie mit dem gleichen Ernst vor. Gewänder in vielen Farben hingen in dem Kleiderschrank, den sie immer verschlossen hielt; ein jedes paßte zu einer anderen magischen Operation. Schließlich entschloß sie sich für Lila. denn es schuf einen Ausgleich zwischen dem Blau der Gerechtigkeit und dem Rot der Gnade, und es war offensichtlich, daß beiden gedient werden mußte bei dem, was sie heute zu erfahren trachtete. Sie wählte ein langes lilafarbenes Gewand aus weichem Leinen, zog es über ihren nackten Körper, gürtete es mit der schwarzen Zeremonienschärpe, die sie sich vor langer, langer Zeit nach vielen Jahren inbrünstigen Übens verdient hatte, und ordnete die Falten des Gewandes. Ehrfürchtig entnahm sie dem Schrank eine große Abalonenmuschel, füllte sie mit Salbeiblättern und Zedernspänen, fügte dann ein Stückchen geflochtenes Süßheu hinzu. Sie zündete die Mischung mit einer dünnen Wachskerze an und fächelte sie sacht mit den Adlerfedern, die ihre Cherokee-Großmutter ihr eigens für diese Zeremonie geschenkt hatte, bis das Feuer alle drei Substanzen erfaßte. Als sie die Flammen ausblies, entstieg der Muschel dichter, würziger Rauch. »Ich grüße dich, o Großer Geist, durch die Macht der Elemente!« sang sie, während sie die rauchende Muschel in die Höhe hob. »Ich grüße die Wächter der vier Himmelsrichtungen
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und bitte sie um ihre gütige Hilfe. Ich gebe zu wissen, daß ich durch die vier Himmelsrichtungen den Weg des Lichtes suche! Friede sei zwischen mir und dem Osten. Friede sei zwischen mir und dem Süden. Friede sei zwischen mir und dem Westen. Friede sei zwischen mir und dem Norden.« Singend wedelte sie den beißenden, läuternden Rauch in alle Richtungen. Sie war im Laufe der Jahre in viele magische Systeme in vielen Gegenden der Welt eingeweiht worden, aber die Methode ihrer Großmutter, Die den Regenbogen fängt, hatte für sie eine besondere Bedeutung. »O Großer Geist«, rief sie, »bei der Macht des Heiligen Rauches flehe ich zu dir, läutere diese Stätte der Andacht. Gottvater/Mutter, ich bitte um euren Segen für die zu vollführenden Riten. « Ellie rief die vier Erzengel Raphael, Michael, Gabriel und Uriel an und erbat die Erlaubnis, ihren Erdenleib zu verlassen und geborgen in dem Höheren Reich auf Reisen zu gehen. Während sie sich in jede Richtung verbeugte, zündete Ellie an allen vier Ecken eine konische Kerze an. Ihre geweihten Gegenstände lagen vor ihr auf dem Altar: ein jahrhundertealter silberner Kelch, vor der Revolution aus Rußland herübergeschafft; ein Messer mit Horngriff in einem geflochtenen Hirschlederfutteral, das ihr Großvater und vor ihm sein Vater im Kampf bei sich getragen hatte; ein Stab, den sie eigenhändig aus einem vom Blitz getroffenen Haselnußstrauch geschnitzt hatte; ein Pentagramm mit eingravierten, verschlungenen magischen Zeichen, die nur wenige Menschen auf Erden entziffern konnten; ein Beutel mit Gegenständen, gesammelt in der qualvollen Zeit der Selbstprüfung vor der Visionssuche; eine Kristallkugel, die ihr bei ihrer Geburt in die Wiege gelegt worden war. Als Medizinfrau des Cherokee-Volkes und als Magierin von hohen Graden war Ellie die Regenbogenfrau, war Ellie Illiana Petrowitsch - in diesem Erdenleben. Sie war in der Lebensspanne ihrer uralten Seele viele andere gewesen. Heute abend wollte sie danach trachten, ihren Platz in diesem Rätsel der Amulette zu finden. Dies würde ein Kampf der Göttinnen werden: der Rat der Götter würde hier von geringem
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Wert sein. Sie wollte versuchen, Verbindung mit der weiblichen Wesenheit des Universums aufzunehmen, mit Mitteln, die seit dem Anbeginn der Zeiten geheim waren. Als sie in die Stille eintrat, konnte sie nicht wissen, ob sie die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben würde. Nachdem Maggie Ellie verlassen hatte, schritt sie in ihrer Bibliothek auf und ab. Sie fühlte sich eingesperrt und gefangen in Ohnmacht, außerstande, Cody zu helfen, außerstande, ihre Ge danken zu kontrollieren. Die ägyptischen Träume stellten sich jetzt auch tagsüber ein. Viermal schon hatte sie gespürt, daß die Erde unter ihr nachgab und sie durch den Zeitvorhang in eine bizarre Bilokation katapultiert wurde, so daß sie sich an zwei verschiedenen Orten zugleich befand. Zuerst hatte sie gesehen, daß ihre Hand die von jemand anderem wurde... dann gaben diese verflixten Glocken unentwegt ihre unheimlichen Töne von sich. Gestern abend stand sie mit einem Marmeladenglas in der Hand in ihrer Küche, und es hatte sich in einen goldenen, mit einem magischen Elixier gefüllten Becher verwandelt. Das war schon schlimm genug, aber das heutige Erlebnis war wirklich die Höhe gewesen. Als sie von Ellie nach Hause ging, hatte sie auf halbem Wege die Realitätsverschiebung kommen gefühlt. Eben war sie noch an der Ashley-Boutique in der Cornelia Street vorbeigekommen, und eine Minute später war sie in einer unterirdischen Höhle, die von Fackeln erhellt war. Sogar die Temperatur rings um sie war eisig geworden, und sie hatte das Gewicht eines goldenen Gürtels um ihre fast nackten Hüften gespürt. Sie befand sich in einem Labyrinth an einer uralten Stätte, und sie wurde geprüft... von wem, zu welchem Zweck? Und warum heute? Furcht war in ihr und eine starke Konzentration, aber auch Zuversicht. Dann war die Zeitverschiebung gewichen, die Kälte war vergangen, und sie war wieder auf der Cornelia Street, kurz vor der Ecke Sixth Avenue. Aber sie hatte etwas mitgebracht... eine andere Art von Zuversicht; es gab kein besseres Wort dafür. Sie war ängstlich, aber gestärkt, als wüßte sie, daß die Prüfung hart,
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sie aber gut vorbereitet sei. Eine Olympiateilnehmerin, die nach Gold strebte und wußte, es war nicht unmöglich... Vielleicht verlor sie allmählich den Verstand. All die Strapazen und Sorgen... die Angst um Cody. Vielleicht war sie darüber ausgerastet. Vielleicht war Verrückten nicht bewußt, daß sie verrückt waren. Ich muß mich in den Griff bekommen. Maggie setzte sich im Lotussitz auf den Fußboden ihrer Bibliothek und schloß die Augen. Sie mußte meditieren, und zwar jetzt. Sie schob den beunruhigenden, entmutigenden Mißklang aus alten Gedanken von sich, wie Mr. Wong es sie gelehrt hatte, und bekämpfte die Flut von neuen, die herbeihuschten, um die Leere zu füllen. Okay. Eine relativ leere Leinwand. Sie zwang ihren Atem in einen meditativen Rhythmus und konzentrierte sich auf die Luft, die ihren Körper durchströmte. Die Alten wußten, was sie taten... den Geist klären, um das Nicht-Denken zu finden. Die Universalenergien durch sich strömen lassen, um zu heilen und zu stärken. Sie fing schon an, sich besser zu fühlen, harmonischer, weniger erschöpft. Dann sah sie sie. Ein lebendiges Hologramm vor ihrem geistigen Auge. Cody. Auf einer Bank in einem Garten. Nie hatte sie eine klarere Vision gehabt. Sie sah das Kind den Blick langsam in ihre Richtung wenden... reserviert und unvorstellbar traurig. »Hier bin ich, Herzchen!« rief Maggie ihr im Geiste aufgeregt zu. Sie sah in den Augen des Kindes einen Moment ein Erkennen aufflackern und dann ersterben, während Cody bedachtsam den Kopf von Mim abwandte und in ihre Welt der Qualen zurückkehrte. Lieber Himmel! flüsterte Maggie laut, als eine neue, erschreckende Erkenntnis sie traf. Sie hat aufgegeben! Sie haben ihr sogar die Hoffnung genommen! Zorn, der stärker war als Angst oder Kummer, ließ Maggie aufspringen. Sie rief Devlin an, und etwas in ihrer Stimme veranlaßte ihn, alles stehen und liegen zu lassen, in dem sicheren Wissen, daß er zu ihr mußte.
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»Ich muß versuchen, Cody zu sehen, Dev«, sagte sie in dem Moment, als er durch die Tür stürmte. »Wohin ich mich auch wende, sehe ich sie. Jedes Kind auf der Straße reißt mir das Herz aus dem Leibe. Ich halte es nicht mehr aus! Es ist mehr als zwei Monate her, seit sie mir weggenommen wurde, und wir wissen nicht mal, ob sie noch lebt! Wir vermuten lediglich, daß die Walpurgisnacht der geplante Zeitpunkt für diese Materialisation ist - wir wissen überhaupt nichts Bestimmtes.« Devlin sah, welchen Tribut die letzten Wochen von Maggie gefordert hatten. Wie viele Stunden Schlaf mag sie gehabt haben, seit man ihr das Kind genommen hat? fragte er sich. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Falten in ihrem Gesicht, die er bei ihrer ersten Begegnung so anziehend gefunden hatte, waren jetzt ausgeprägter. »Einiges wissen wir, Maggie«, sagte er, bemüht, sie zu beruhigen. »Sämtliche Experten legen sich auf dieselbe Zeit fest Astrologen, Ägyptologen, sogar Ellie. Und wir wissen, daß Okkultisten in dieser Nacht ihre besonders böse Magie erproben. Das alles steht fest. Und was die Frage angeht, ob Cody am Leben ist... wir wissen, daß sie ihnen tot nichts nützt.« »Bis nach dem dreißigsten April«, warf sie ein. »Das ist in zwei Wochen! Zwei Wochen.« »Bis nach dem dreißigsten April«, pflichtete er zögernd bei. Er überlegte sich, was er sagen könnte, um ihre vollkommen begründeten Befürchtungen zu beschwichtigen, daß das Kind schon tot sein könnte. »Ich gehe hin, Dev. Jetzt. Heute. Ich werde an die verdammte Tür klopfen und verlangen, meine Enkelin zu sehen. Es ist mir egal, wenn ich auf dem Rasen stehen und mir die Seele aus dem Leib brüllen muß, um sie wissen zu lassen, daß ich sie liebe.« Sie holte tief Atem. »Ich hatte gehofft, Sie würden mitkommen.« Devlin hatte genug Elend miterlebt, um zu wissen, wann Emotionen über Argumente siegten. »Ich komme mit«, antwortete er ruhig. »Wenn ich bei Ihnen bin, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, daß man Sie wegen unbefugten Betretens verhaften läßt.« Die Fahrt nach Greenwich legten sie in gequältem Schweigen
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zurück; Maggie hatte in Devlins Auto den Kopf an den Sitz gelehnt, ihre Augen waren offen, aber nicht auf die Straße gerichtet. Devlin nahm ihre Hand; Maggie protestierte nicht und reagierte auch nicht darauf, aber er hielt sie den ganzen Weg bis Greenwich fest, als wollte er Maggies aufgezehrte Kräfte mit seinen eigenen auffüllen. »Wissen Sie, Dev«, sagte sie wehmütig, »ich frage mich andauernd, was ist, wenn sie stirbt, ohne zu erfahren, daß ich versucht habe, sie zu retten?« »Ich glaube nicht, daß es so weit kommen wird«, antwortete er mit einer Überzeugung, die er nicht empfand. Immerzu starben Kinder in den Händen von Wahnsinnigen. »Ich glaube, wir werden sie dort herausholen. Nur wird es nicht heute sein.« Maggie hämmerte bei den Vanniers dreimal an die Tür, ehe sie von einem Hausmädchen geöffnet wurde, das ihr sagte, daß niemand zu Hause sei. Aufgebracht schob sich Maggie an ihr vorbei ins Haus, und Devlin folgte ihr, ungeachtet der Proteste des Hausmädchens. »Erzählen Sie mir bloß nicht, daß sie nicht da sind«, sagte Maggie erbost. »Ich wünsche meine Enkelin zu sehen, und ich weiß, daß sie im Haus ist.« Während sie sprach, strebte sie dem Kindertrakt zu; Devlin fragte sich, wie weit sie wohl zu gehen bereit sein würde. Vannier erschien, ehe Maggie an der Bibliothek vorbei war. »Ich muß Sie leider bitten, mein Haus zu verlassen«, sagte er bestimmt und vertrat ihr mit seiner mächtigen Gestalt den Weg. »Ich will Cody sehen, Eric«, brauste Maggie auf. »Ich hab's satt, abgewiesen zu werden, wenn ich anrufe. Ich will sie sehen. Heute!« »Das ist leider nicht möglich. Das Kind ist krank und emp fängt keinen Besuch.« »Darauf geh ich jede Wette ein, daß sie krank ist, Sie Ungeheuer«, fauchte Maggie und versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben, aber er packte ihren Arm, daß es weh tat, und brachte sie ruckartig zum Stehen. »Lassen Sie das!« befahl Devlin; sein ruhiger Ton war so drohend, daß Maggie zusammenfuhr und Eric sie losließ.
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Eric sah Devlin gelassen an. »Sie sind beide unbefugt in mein Haus eingedrungen«, sagte er. »Ich nehme an, Sie wissen, was passiert, wenn ich die Polizei verständige.« Devlin setzte zu einer Antwort an, aber Maggie rannte impulsiv los. »Cody!« schrie sie, so laut sie konnte. »Cody, ich bin hier! Wo bist du?« Irgendwo oben im Haus hallte ein Schrei. »Mim!« rief ein kleines Stimmchen in höchster Verzweiflung. »Hilf mir! Hilf...« Der letzte Schrei wurde abrupt zum Verstummen gebracht. Irgendwo in der zweiten Etage schlug eine Tür zu. Maggie war schon auf der Treppe zum Kindertrakt, ehe Eric über sie herfiel und sie auf der fünften Stufe bezwang. Devlin landete Sekunden später auf dem Haufen aus Armen und Beinen und zerrte an Eric, um dessen Hände von Maggies Kehle wegzubringen. Während die zwei Männer miteinander rangen, gelang es Maggie, sich loszureißen und die Treppe hinaufzustolpern. Ghania stellte sich ihr auf dem Treppenabsatz wie eine menschliche Mauer in den Weg. »Sie wurde aus dem Haus gebracht!« zischte sie, als Maggie versuchte, um sie herumzugehen. »Sehen Sie selbst, aus dem Fenster!« Maggie drehte sich zu dem großen Fenster neben dem Treppenabsatz um und sah zwei Männer das zwischen ihnen zappelnde Kind zu einem wartenden Auto tragen. Cody schrie und schlug nutzlos auf ihre Bewacher ein; Maggie konnte die Schreie des Kindes durch das Glas hören. Außer sich vor Wut und Enttäuschung nahm Maggie die Vase von dem Tisch vor dem Fenster, riß die Blumen heraus und warf mit ihnen nach Ghania. Ehe die gewaltige Frau sich erholt hatte, warf Maggie die schwere Vase durch die große Glasscheibe, und Scherben prasselten unten in den Innenhof. »Cody!« rief sie dem Kind zu, gerade als die Männer sie in das Auto stießen. »Ich hab dich lieb! Ich komme wieder!« Sie sah Codys betroffenes Gesicht sich ihr verstört zuwenden, als die Tür der Limousine zuschlug, und wußte, daß sie das Versprechen gehört hatte. »Sie wird sterben«, krächzte Ghania, während sie die Blumen
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von ihrem ruinierten Gewand strich, »und Sie werden zusehen!« Maggie wandte sich der boshaften Riesin zu, und in ihrer Brust war eine Wut, die sie kaum halten konnte. »Du wirst sterben!« Sie spie die Worte förmlich hervor. »Und ich werde zusehen!« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging die Treppe hinunter dorthin, wo Eric und Devlin jetzt standen wie zwei kleine Jungen, die man beim Raufen auf dem Spielplatz ertappt hat. Sie waren offensichtlich von Erics Leibwächtern getrennt worden. »Schafft sie aus meinem Haus!« befahl Eric heiser, und die Wächter griffen nach ihnen. Aber plötzlich hatte Devlin seine Pistole in der Hand, und die beiden Männer traten unsicher zurück. »Wir gehen jetzt«, sagte er, standhaft wie der Felsen von Gibraltar. »Wenn alle ganz ruhig bleiben und sich uns nicht in den Weg stellen, gibt es keinen Ärger.« Devlin und Maggie entfernten sich vorsichtig und rannten zu ihrem Auto, aber die Limousine mit Cody war schon außer Sicht. Maggie schaffte es nur bis zur Raststätte, bevor sie zu weinen begann, zuerst leise, dann, als sie alles, was geschehen war, voll erfaßte, von stoßweisen Schluchzern geschüttelt. Devlin fuhr den Wagen an den Straßenrand und nahm sie in die Arme, sprach tröstende Worte, tätschelte sie wie ein Kind, bis sie schließlich in erschöpftes Schweigen verfiel. Er fuhr ohne Diskussion direkt zu Ellie. Er wollte Maggie in diesem Zustand nicht allein lassen, und er mußte zurück aufs Revier, denn nur von dort aus waren Beweise gegen den arroganten, Kinder belästigenden Schweinehund zu bekommen. Und genau das gedachte er zu tun. »Ich habe einen Hypnotherapeuten für Sie, Mags«, sagte Ellie, nachdem sie ihre Freundin bequem in einer Ecke der Couch untergebracht hatte. »Ich habe Amanda angerufen.« Maggie wollte antworten, aber Ellie hob die Hand, um sie
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zurückzuhalten. »Ich weiß jetzt bestimmte Dinge, Maggie«, sagte sie fest. »Sie haben keine Wahl, Sie müssen sie auch wis sen!« »Dann sagen Sie's mir, verdammt und zugenäht!« »Wenn ich es Ihnen sage, werden Sie mir nicht glauben - nicht in tiefster Seele, das müssen Sie aber. Zu Ihrem eigenen Schutz müssen Sie diese Nummer anrufen, Maggie. Sie sind in einen kosmischen Schlachtplan verstrickt - ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sie und Cody können nicht überleben, wenn Sie nicht jede mögliche Waffe zu Ihrer Verfügung haben. Rufen Sie diesen Doktor an, Maggie, Amanda hat ihm schon gesagt, daß Sie sich bei ihm melden werden.« Besiegt von Ellies Entschlossenheit und der quälenden Vision von Codys verzweifeltem Gesicht, erklärte Maggie sich bereit, die Nummer anzurufen.
55 Dr. Heinrich Strater war Wiener, worüber Maggie recht froh war, als sie in seinem Ordinationszimmer saß und sich nervös fragte, was rückführende Hypnose für ein Gefühl sein würde. Wenigstens sah er genau so aus, wie man sich einen Psychiater vorstellte: bärtig, im mittleren Alter, runde Brille auf einer schmalen Nase. Sie empfand das als tröstlichen Halt in einem Meer der Ungewißheit. »Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, Maggie«, erklärte er bedachtsam, »ist Hypnose kein Gesellschaftsspiel. Sie ist ein anerkanntes medizinisches Instrument, mit dem man die Psyche mit einer im normalen Bewußtsein nahezu unerreichbaren Klarheit ausloten kann.« »Warum ist das so, Herr Doktor?« »Weil Hypnose Zugriff auf den Teil des Unterbewußtseins hat, der das ›Aufzeichnungsgerät‹ darstellt. Alles, was Sie jemals gesehen, gedacht, gesagt, gehört haben, ist dort unauslöschlich festgehalten. Manchmal ist das Material klar und erkennbar, manchmal ist es in Symbole eingebettet - der Geist spricht sozusagen seine eigene Sprache. Aber wie auch immer er sich uns
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darzustellen beliebt, in der rückführenden Hypnose gestattet uns der Geist, zu den Erlebnissen anderer Sendezeiten ›zurückzuspulen‹ und ihre Geschichte abzuspielen, angefüllt mit Ansichten, Geräuschen, Emotionen - sogar so flüchtigen Erinnerungen wie Geruch oder Geschmack.« »Haben Sie jemals versucht, jemand in ein früheres Leben zurückzuführen, Herr Doktor?« fragte Maggie ernst. »Amanda hat mir erzählt, daß sie Sie darum gebeten hat.« Er kicherte. »Ich habe es nicht versucht, weil ich keine Kenntnis darüber habe, daß solche Leben existieren! Ich habe freilich Menschen bis in den Mutterleib zurückgeführt, und gelegentlich sind ihre Erlebnisse während der Schwangerschaft von außerordentlicher Klarheit. Aber darüber hinaus...« Er zuckte beredt die Achseln. »Als Amanda mir von Ihrem Wunsch berichtete, in ein früheres Leben zurückzugehen, Maggie, erklärte ich, daß ich das für aussichtslos halte. Sie kann jedoch sehr beharrlich sein, wie Sie vermutlich wissen, und sie versicherte mir, Sie seien bereit, einfach so weit zurückzugehen, wie wir können.« Er hielt inne. »Es wäre hilfreich, wenn Sie mir sagen würden, weshalb Sie diese Reise für so dringend erforderlich halten.« »Dr. Strater«, erwiderte Maggie, seine Offenheit gefiel ihr, aber sie wollte ihm nicht zu viele Informationen liefern, »ich habe eine Reihe zunehmend lebhafter werdende Träume, die sich alle im alten Ägypten abzuspielen scheinen. Sie versuchen offenbar, mir eine Geschichte zu erzählen, die für mein Leben von höchster Konsequenz ist, aber sie können die Schranken in mir nicht ganz durchbrechen. Zumindest empfinde ich es so. Hunderte von Bruchstücken dieser Träume schwirren in mir herum, aber sie sind flüchtig und lassen sich nicht greifen. Ich wache voller Ängste auf... furchtsam und traurig... versuche, etwas zu fassen...« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Wenn diese Bruchstücke wirklich sind und auf ein Erlebnis in alter Zeit hindeuten, muß ich es wissen. Können Sie das verstehen, Herr Doktor?« »Durchaus«, erwiderte er. »Wenn Sie wünschen, werden wir Ihre Sitzungen auf Band aufzeichnen, damit wir das, was bei un-
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seren Bemühungen herauskommt, später im einzelnen diskutieren können. Sind Sie einverstanden?« Maggie nickte. »Am besten legen Sie sich auf meine Couch, Maggie«, sagte er, während er an die Fenster trat, um die Jalousien herabzulassen. »Hypnose erfordert einen Zustand tiefer Entspannung, die den Zugriff erlaubt, von dem wir vorhin sprachen.« Maggie legte sich auf die Couch, die erstaunlich bequem war; trotzdem fühlte sie sich noch unbeholfen und unsicher. Dr. Strater setzte sich neben sie und schaltete den Kassettenrekorder ein. »Es gibt viele Methoden, um den Trancezustand herbeizuführen, den wir als hypnotisch bezeichnen, Maggie. Ich ziehe es vor, Sie mit meiner Stimme dorthin zu geleiten. Ich werde Sie bitten, sich zu entspannen, indem Sie mehrmals tief durchatmen und mir dann einfach zuhören, ohne Ihrerseits noch irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen.« Straters Stimme war tief und volltönend - und Maggie löste sich zögernd von ihrem Mißtrauen, als er sie eine Reihe von Atemübungen machen ließ und sie schrittweise in Entspannungstechniken einführte, die denen nicht unähnlich waren, die sie bei Yoga und Kampfsport anwendete. Plötzlich merkte sie, daß sie sich auf einer doppelten Bewußtseinsebene befand. Noch wußte sie genau, wo sie war, sie konnte den Raum um sich spüren, konnte die Anwesenheit des Doktors deutlich fühlen, doch als die Stimme sie nach innen führte, nahm sie eine zweite Bewußtseinsebene wahr - als wäre sie in eine stille Landschaft in ihrem Inneren eingetaucht. »Wir bewegen uns jetzt rückwärts in der Zeit, Maggie«, sagte die Stimme. »Wir strömen mit dem Fluß Ihrer Erinnerungen und treiben sacht zurück. Auf dem Fluß ist ein schönes Segelboot - Sie segeln friedlich zurück in das lange Vergangene. Sie sind fünf Jahre alt, Maggie, sagen Sie mir, was sehen Sie?« »Ich bin auf meiner Geburtstagsfeier«, antwortete sie mit einer hellen Stimme. »Meine Mami hat einen Kuchen gebacken mit einem Clown drauf. Wenn alle nach Hause gehen, darf ich das Stück mit dem Clown haben.« »Das ist sehr schön, Maggie«, gratulierte die Stimme. »Alles Gute zum Geburtstag! Wie geht es dir heute?«
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»Es geht mir gut. Von Mami habe ich eine Puppe mit roten Haaren bekommen und von Daddy ein Kätzchen.« »So schöne Geschenke, Maggie«, sagte die Stimme aufmunternd. »Du mußt ein sehr braves kleines Mädchen sein. Jetzt möchte ich, daß du mit mir an den Fluß zurückgehst und wieder in das schöne Boot steigst. Du treibst in der Zeit zurück und fühlst dich sehr, sehr geborgen. Du bist jetzt zwei Jahre alt, Maggie. Kannst du mir sagen, wo du bist?« »Ich bin in der Küche«, antwortete sie mit kindlichem Piepsstimmchen. »Der Spülstein ist so hoch. Ich will Wasser, aber ich kann nicht raufklettern.« »Warum nicht?« »Darf nicht. Mami sagt, ich könnte mir weh tun.« »Da hat sie recht, Maggie. Deine Mami paßt gut auf dich auf. Jetzt treiben wir weiter, wollen wir? Laß uns zurückgehen zu dem Tag, als du geboren wurdest, und sehen, was das für ein Gefühl ist, ja?« Dr. Strater sah die erwachsene Gestalt auf der Couch sich in Embryohaltung zusammenrollen, sich krümmen und winden wie in Schmerzen. Maggies Gesicht verzog sich plötzlich, und sie fing an zu schreien wie ein Neugeborenes, kleine schrille Laute. Der Doktor zögerte einen Moment, dann machte er einen Vorstoß. »So ist es gut, Maggie«, sagte er leise. »Wir gehen jetzt an den Fluß zurück - wir treiben weiter, das wird Ihr Unbehagen auflösen. Diesmal halten wir nach etwas ganz Besonderem Ausschau, darum müssen Sie mir helfen. Ich möchte, daß Sie dem Fluß so weit folgen, wie Sie müssen, bis Sie die Zeit finden können, die für Ihre gegenwärtigen Probleme ausschlaggebend is t, Maggie, die Zeit, die in Ihren Träumen vorkommt.« Maggie hatte zu weinen aufgehört und lag jetzt völlig bewegungslos da. »Wo sind Sie, Maggie? Können Sie mir sagen, wo Sie sind?« »Ich bin im Tempel.« Ihre Stimme war klar und von jugendlicher Kraft. »In welchem Tempel, Maggie?« »Dem Tempel der Großen Mutter natürlich. Ich werde zu ihrer Priesterin ausgebildet. «
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Strater runzelte die Stirn und notierte sich etwas auf seinem Block. »Was haben Sie in Ihrer Ausbildung gelernt, Maggie?« »Warum nennt Ihr mich mit diesem Namen?« »Wie bitte?« »Mein Name ist Mim. Warum nennt Ihr mich anders?« Dr. Strater schürzte die Lippen und schrieb hastig etwas auf. »Verzeihen Sie mir meinen Irrtum, Mim. Ich werde Sie mit Ihrem richtigen Namen nennen. Ich würde gerne etwas über Ihre Ausbildung erfahren.« »Vieles ist einem Mann verboten. Von den Mysterien der Mutter darf ich nicht sprechen.« »Nein, natürlich nicht. Gibt es irgend etwas, das Sie mir erzählen dürfen?« »Ich war ein Sehmädchen. Es ist nicht verboten, das preis zugeben.« »Ein Sehmädchen? Was ist ein Sehmädchen?« »Wir sind die Wahrsagerinnen. Wir lesen Ereignisse im Spiegelteich oder im Kristall. Ich wurde auch zum Sandwenden ausgebildet.« »Zum Sandwenden? Was ist das?« Maggie verengte die Augen, obwohl sie geschlossen waren. »Seid Ihr ein Fremder? Ihr scheint wenig von unserer Art zu wis sen.« Strater lächelte. »Ich bin ein Reisender, Mim. Aber ich würde Ihre Gebräuche gerne kennenlernen. Können Sie mir etwas über das Sandwenden sagen?« »Es ist mir nicht erlaubt, Euch den Vorgang zu schildern, nur, daß ich die Vergangenheit und die Zukunft lesen kann, wenn ich meine Insektengestalt annehme.« »Ich verstehe. Haben Sie noch mehr besondere Gaben?« »Ich bin als Heilerin ausgebildet... ich weiß, wie das Ka während einer Operation aus dem Körper geleitet wird, damit man keine Schmerzen hat. Viele Menschen sagen, das ist eine gute Gabe.« »Das würde ich auch sagen«, erklärte Strater aufrichtig. »Können Sie mir sagen, wie Sie das machen?«
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»Ich darf nicht von dem Vorgang sprechen.« »Schön. Vielleicht sprechen wir dann lieber von etwas anderem, Mim.« Sie nickte zustimmend, dann strahlte sie, als wäre ihr etwas eingefallen, worüber sie reden konnte. »Ich bin ausgebildet, um in der astralen Ebene und in der Unterwelt zu wandeln, um die frisch Verstorbenen durch ihre Transformation zu geleiten. Man sagt, ich habe ein besonderes Talent. Aber ich muß mich vor dem Stolz hüten. Es würde Mutter Isis kränken, wenn ich mich vor Euch brüste.« »Mim, ich bin so weit gereist, um Sie hier im Tempel anzutreffen. Ich glaube, ich bin zu einem bestimmten Zweck hierhergebracht worden. Können Sie mir sagen, welches dieser Zweck ist?« Konfusion verwandelte Maggies Gesichtsausdruck. »Ich kenne den Zweck nicht«, antwortete sie zögernd. »Ist es möglich, daß Sie in den Spiegelteich sehen und es ergründen?« »Ich will es versuchen«, erwiderte sie, und eine große Stille durchdrang die Gestalt auf der Couch. Maggie atmete tief und gleichmäßig, sie lag wie verzückt, der Uhr nach ungefähr vier Minuten lang. Plötzlich schlug sie mit einem Ausdruck äußersten Entsetzens die Augen auf. Sie öffnete den Mund und schrie; Verzweiflung und Qual lagen in dem Laut. Sie zitterte so heftig am ganzen Leib, daß sie fast von der Couch fiel. Dr. Strater faßte Maggies Handgelenk und fühlte ihren Puls. Er runzelte die Augenbrauen über ihre Verzweiflung, beugte sich dicht zu ihr und sagte: »Mim, meine Liebe, haben Sie keine Angst. Ich will Ihnen helfen. Sie sind in Sicherheit.« Ihre Schreie erstarben zu Schluchzern. »Sie werden jetzt zu mir zurückkehren, Maggie. Ich warte im Jahr 1993 auf Sie. Sie sind wieder auf dem Fluß, Sie nähern sich mir, Sie sind im Klang meiner Stimme absolut sicher!« Maggies verzerrtes Gesicht entspannte sich. »Ich zähle jetzt von fünf bis eins, Maggie, um Sie in Ihr normales Bewußtsein zurückzuholen. Wenn ich bei eins angekommen bin, werden Sie vollkommen wach sein und wissen, was so-
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eben geschehen ist. Sie werden sich gut und stark fühlen. Nicken Sie, wenn Sie mich verstanden haben, Maggie.« Sie bewegte den Kopf langsam auf und ab. »Fünf... vier... drei... Sie sind jetzt wieder im Jahr 1993, in meinem Ordinationszimmer, Maggie. Alles ist gut. Ich werde jetzt rückwärts zählen von drei bis eins - und bei eins werden Sie die Augen öffnen. Drei... zwei... eins«, sagte er leise, aufmunternd, seine Besorgnis bezwingend. Maggie öffnete die Augen, die geweitet waren und verzweifelt, und sah Strater an. »Ich bin dort gewesen«, flüsterte sie zittrig. »O Gott! Wir sind alle dort gewesen!« Tränen liefen ihr über die Wangen und glänzten in ihren Augen, als sie sich aufrappelte. Sie barg den Kopf in den Händen und weinte. Dr. Strater legte Block und Bleistift hin und schaltete den Kassettenrekorder ab. Kein Laut war im Raum zu hören, bis auf Maggies Schluchzen. Er sah sie eine Weile an, ehe er sprach. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte er, während er ihr eine Schachtel Papiertücher reichte. »Ich weiß einfach nicht, was wir hier haben... ich kann nur Vermutungen anstellen. Dem Anschein nach sind Sie in eine parallele Identität hineingezogen worden. Ob sie auf Fakten basiert oder nur in Ihrer Psyche existiert, kann ich nicht sagen.« »Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie wirklich das alles für mich war«, sagte sie mit vor Verzweiflung schwankender Stimme. »Ich war die andere Frau - diese Priesterin. Ich habe die Jugend und Kraft ihres Körpers gefühlt, ich konnte ihre Unsicherheit spüren... wie soll ich Ihnen beschreiben können, wie lebhaft das alles für mich war, Dr. Strater? Ich hatte die Riten in mir, die sie bei der Ausbildung über sich ergehen ließ. Priesterinnen waren nicht einfach Dienerinnen der Götter oder Göttinnen... sie waren Leitungssysteme der Götter selbst! Deswegen mußten sie rein sein; deswegen mußten sie keusch sein. Sie wurden von den Göttern und Göttinnen als Blitzableiter benutzt, um die Energie der Gottheit herunterzubringen! Sie waren die Empfangsstation für die Übermittlung. Deswegen sprechen wir von Hingabe an Gott... sie haben ihr ganzes Sein der Benutzung durch ihren Gott oder ihre Göttin
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hingegeben. In meinem Fall war es Isis.« Maggie ließ sich auf die Couch zurückfallen, ihr Geist stand unter Hochspannung. »Ich muß dorthin zurück«, sagte sie leise. »Die Antworten sind dort, ich weiß es. Ich muß um Codys willen wieder hin.« Dr. Strater schürzte die Lippen, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Der einzige Ort, wohin Sie heute gehen müssen, Maggie, ist Ihr Zuhause. Wenn Sie eine weitere Rückführung versuchen möchten, nachdem Sie sich ausgeruht und über das Geschehene nachgedacht haben, bin ich gerne bereit, mit Ihnen zu arbeiten. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Arzt bin und meine erste Sorge Ihrem physischen Wohl in dieser Inkarnation zu gelten hat.« Maggie nickte und erhob sich von der Couch. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Dr. Strater. Ich glaube, Sie haben mir den Schlüssel zu einem Geheimnis gegeben, das größer ist, als Sie ahnen... wenn ich nur den Mut finde, das Schloß aufzuschließen.« Strater legte Maggie ihren Mantel um die Schultern und hielt ihr die Tür auf. Als sie in den Flur getreten war, rief er ihr nach: »Nur eines noch, Maggie, bevor Sie gehen, bitte. Wissen Sie, was am Ende der Rückführung mit Ihnen geschah? Wissen Sie, was Ihnen solche Angst gemacht hat?« Sie drehte sich zu ihm um, einen unergründlichen Ausdruck in den Augen. »Ich habe den Zorn der Göttin verdient«, sagte sie schlicht. »Und die Zeit ist gekommen, dafür zu büßen.«
56 Die Straßen im Village kamen Maggie fremd vor, als sie von Dr. Straters Praxis nach Hause ging. Sie schienen von einem ungewohnten Grau zu sein, als sei die sengende Wüstensonne ihrer hypnotischen Erinnerungen aus der Welt gepflückt worden und habe alles trist und unheimlich zurückgelassen. Hör auf damit, Maggie! Es ist dunkel in New York, weiter nichts, schalt sie sich. Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel im Schloß ihrer Haustür herumdrehte. Sie dachte daran, Dev anzurufen oder Peter oder Ellie, aber selbst die Anstrengung des Telefonierens schien über ihre Kräfte zu gehen.
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Matt. Sie fühlte sich so matt, daß sie es beschwerlich fand, die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufzusteigen. Maggie entfernte automatisch ihr Augen-Make-up und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ohne sich auszuziehen, legte sie sich aufs Bett. In ihrem Kopf pochte es, als suchte etwas darin Eingeschlossenes herauszukommen, und die Benommenheit wurde schlimmer. Sie fühlte sich äußerst unwohl, aber sie war viel zu müde, um sich deshalb zu sorgen. Maggie schloß die Augen... Und erwachte in Saqqara. Der Tempelgarten war eine säulenbestandene Oase aus Schatten und Sonnenlicht, mit Bewässerungssystemen, die sogar eine Wüste in ein Paradies verwandeln konnten. Mim liebte den Garten mit dem stillen Teich und den durchbrochenen, schwingenden Schatten der Obstbäume, die ihn umstanden. Aber heute war sie unruhig und aufsässig. Es machte ihr keinen Spaß, Meri-Neyt, ihre Lehrmeisterin, zu hintergehen, wie sie es heute getan hatte. Die schöne junge Priesterin war ihre Freundin und Lehrerin zugleich, und mit ihrer fröhlichen Veranlagung machte sie sogar die nicht enden wollende Lernerei erträglich. Mathematik, Astronomie, Architektur, Philosophie, Geschichte, Heilkunde, Religion. Es war so viel zu lernen, und der Druck, sich auszuzeichnen, war groß... Deswegen hatte sie Meri-Neyt beschwindelt und gesagt, sie müsse sich heute in ihrer Zelle ausruhen, statt unterrichtet zu werden. Die Lüge belastete Mims Gewissen, aber dem Ruf der Freiheit war schwer zu widerstehen. Das Wasserbecken, für die Besuche hochrangiger Würdenträger angelegt, wurde zu dieser Jahreszeit selten benutzt. Mim ging vorsichtig in den Garten, aufgeregt über ihren Streich und die Aussicht, ganz allein zu schwimmen. Aber sie war nicht allein. Ein junger Knabe tauchte in das Becken, gerade als sie aus der Korridortür trat. Sein anmutiger junger Körper durchpflügte das Wasser wie ein Delphin, und er schwamm mühelos durch die ganze Länge des Beckens und zurück, ehe er sie sah.
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»Warte!« rief er, als sie sich zum Gehen wandte. »Geh nicht fort.« Später war reichlich Zeit, darüber nachzugrübeln, was ihr Schicksal gewesen wäre, hätte sie an jenem folgenschweren Nachmittag nicht auf ihn gehört. Er kam aus dem Wasser und schüttelte sich wie ein junger Hund; seine langen, dunklen Haare glänzten in der Sonne. Mim war neun Jahre alt, und er schien nur ein, zwei Jahre älter zu sein, aber er war nicht so schüchtern wie sie. »Du darfst hier nicht sein«, sagte er, sehr gebieterisch für einen, der so jung war, und sie kicherte, was ihn ebenso verwunderte wie sie selbst. »Ich lebe hier«, erwiderte sie und bemühte sich, ihre Heiterkeit zu unterdrücken. »Ich werde für die Initiation ausgebildet.« Der Knabe betrachtete sie abschätzend. »Ich auch«, sagte er mit großem Ernst. Aber dann lächelte er und fügte verschwörerisch hinzu: »Ich sollte eigentlich lernen, aber ich habe keine Lust mehr. Wie ist dein Name?« »Mim-Atet-Ra. Aber ich werde Mim gerufen. Und deiner?« »Du darfst Karaden zu mir sagen. Es ist ein großes Vorrecht, mich bei meinem Geheimnamen nennen zu dürfen.« Mim kicherte wieder. Sie war noch nie einem Knaben begegnet, außer als sie ganz klein war, zu Hause in Mennofer. Hier im Tempel war sie sich stets bewußt, daß ihre Jungfräulichkeit Isis versprochen war. Vielleicht waren alle Knaben angeberisch, aber sie war nicht sicher. Dieser war zumindest interessant. »Hast du keine Angst, daß sie uns zusammen finden?« fragte sie. Er tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Ich bin Karaden«, sagte er. »Die Diener müssen gehorchen, wenn ich spreche. Alle müssen gehorchen.« Karaden. Der Name klang schön und vornehm, und sie wiederholte ihn leise. »Weißt du wirklich nicht, wer ich bin?« fragte er, sichtlich verstimmt, weil sie nicht angemessen reagiert hatte. Mim schüttelte den Kopf. »Ich bin Snefru, der älteste Sohn des Pharao, Erbe der Doppelkrone.«
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Darüber erschrak Mim, aber ihre Unterhaltung hatte ihr Mut gemacht. »Wenn du wirklich Pharaos Erbe bist, warum bist du dann allein hier?« fragte sie, unschlüssig, ob sie seiner Prahlerei glauben konnte. Seine Miene verfinsterte sich, und als er sprach, hörte er sich nicht mehr an wie ein Knabe, der König sein, sondern eher wie einer, der verstanden sein wollte. »Im Palast ist es schwierig, einmal allein zu sein«, sagte er. »Ich muß jeden Tag viele Pflichten erfüllen, und mein Vater erwartet, daß ich ihm zur Seite sitze, wenn er Gericht hält, damit ich lerne, gerecht zu sein. Alle beobachten mich: der Wesir und die Diener, sogar der Vorkoster spioniert mir nach, damit nicht ein Fehltritt von mir Gift in seinen Schlund befördert.« Der Knabe schüttelte den Kopf, er wirkte traurig und verletzlich. »Das hört sich nicht gerade beneidenswert an«, stellte Mim fest. »Hast du Freunde?« Karaden schüttelte den dunklen Kopf. »Es ist schwierig, einen Freund zu haben, wenn alle sich einschmeicheln wollen. Es gibt viel zu gewinnen, wenn man Pharaos Sohn nahesteht, deswegen ist es schwer zu glauben, daß einer meine Gesellschaft allein um meinetwillen sucht.« Mim legte den Kopf schief und betrachtete ihn neugierig. »Ich könnte deine Freundin sein«, sagte sie. »Für mich gibt es nichts von dir oder deinem Vater zu gewinnen. Ich wurde bei meiner Geburt der Göttin versprochen, und mein Leben wird sein, wie die Göttin es will. Nicht mehr, nicht weniger.« Sie sah den bekümmerten Knaben an. »Ich bin auch einsam«, sagte sie. »Meine Lehrmeisterin Meri-Neyt ist wirklich lieb... sehr klug und manchmal sehr lustig. Aber sie ist viele Jahre älter als ich.« Sie hielt inne und überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Bei meiner Ehre, ich werde dein Vertrauen nicht enttäuschen, Karaden, wenn du möchtest, daß ich deine Freundin bin.« Er dachte über das Angebot nach. Sie war nur ein Mädchen und anscheinend um einiges jünger als er. Aber sie hatte ein nettes Gesicht, offen und frei von Hintergedanken. Und sie hatte recht, es stand nicht zu befürchten, daß sie es jemals nötig ha-
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ben würde, den Pharao um etwas zu ersuchen. Priesterinnen von Göttinnen waren über weltliche Bedürfnisse erhaben. »Ich will dein Freund sein«, verkündete er, als verschenke er die Kronjuwelen, dann zog er einen Ring vom Finger und hielt ihn ihr hin. »Du kannst ihn als Unterpfand nehmen.« Mim kicherte wieder und ging zum Wasserbecken. »Ich brauche nichts von dir, Karaden«, rief sie, als sie in das erfrischende Wasser watete. »Aber ich will mit dir um die Wette auf die andere Seite schwimmen, und ich gewinne!« Und wie ein Aal schwamm sie unter der silbrigen Oberfläche davon, während Karaden gerade nur so lange zauderte, um sich zu fragen, warum jemand ein Geschenk von Pharaos Sohn zurückwies. Meri-Neyt saß auf der Steinbank, ihren Umhang hatte sie über die Bücher neben sich geworfen. Sie hatte ihre junge Schutzbefohlene sehr gern, und sie kannte die zwanzig Jahre währende, mühsame Reise, die das Mädchen in ihrer Gesellschaft zurücklegen mußte, ehe sie auf die Initiation hoffen durfte. Mim lag nun zu ihren Füßen und lauschte eifrig, als Meri ihr die Strapazen des vor ihr liegenden geistigen Pfades umriß. »Ist es dir jemals in den Sinn gekommen, Mim«, fragte sie abschließend das Mädchen ernsthaft, »daß du fehlen könntest auf dem Pfad der Rechtschaffenheit, der zum Fuß des Ewigen Thrones der Göttlichen Mutter führt?« Mim war regelrecht erschüttert bei dem Gedanken. »Ich bin erbärmlich unvollkommen, Meri-Neyt, wie du wohl weißt. Und ich bin zuweilen besorgt, daß ich Mutter Isis durch meine Unwissenheit enttäuschen könnte. Aber sie scheint mir trotz meiner Unzulänglichkeiten ihre Gunst nicht entzogen zu haben.« »Der Weg zu ihr ist lang und mühsam, liebe Mim«, sagte Meri, und in ihrem Tonfall lag Mitgefühl, das ein Mensch emp fand, der schon Leid erfahren hatte. »Die Liebe zur Großen Mutter allein wird nicht genügen, dich auf der Pilgerreise zu beschützen.« Mim runzelte die Stirn. »Was immer die Mutter von mir verlangt, ich will es ihr schenken« , sagte sie.
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Mim sollte zur gegebenen Zeit Anlaß haben, sich dieser Worte zu erinnern. Die Lehrjahre waren Mim-Atet-Ra gut bekommen, trotz der Strapazen. Sie besaß eine besondere Gabe zum Heilen und verbrachte mehr Stunden als erforderlich in den Heiltempeln. Da sie es vermochte, während Operationen das Ka aus dem Körper zu lösen, wurde sie oft von den Trepanen und Chirurgen in Anspruch genommen. Sie war zudem sportlich begabt, geschmeidig und schwungvoll wie ein junger Athlet. Man hörte Meri-Neyt kichernd zu einer anderen Lehrmeisterin sagen, wenn ihre junge Schutzbefohlene bei der Priesterinnenprüfung durchfiele, könne sie sich immer noch bei Pharaos Leibwache als Kriegerin bewerben. Mim lernte bereitwillig alles, was von ihr verlangt wurde, und kam ihren Pflichten klaglos nach. Aber als sie heranwuchs, war es nicht die mit Lernen verbrachte Zeit, die sie mit Freude erfüllte, sondern vielmehr der eine süße Monat im Jahr, wenn sie die Herzensfreundin von Pharaos ältestem Sohn war. Karaden war dem Gott Ra verpflichtet, und er absolvierte den größten Teil seiner Ausbildung in On, dem Sonnentempel in Heliopolis. Da aber sein Vater ebenso sehr Mystiker wie König war, wurde Karaden außerdem in den Mysterien der Großen Mutter unterwiesen, auf daß er ein ausgeglichener Herrscher werde. Dazu lebte und studierte Karaden jedes Jahr einen Monat in Saqqara. Alljährlich reiste er mit einem Gefolge von Priestern, Dienern, Höflingen und zahllosen weiteren Begleitern an. Er entledigte sich der Pflichten, die von ihm verlangt wurden, und dann schickte er nach Mim. Am Wasserbecken erneuerten sie ihre Bekanntschaft, stellten fest, wie sie gewachsen waren und sich verändert hatten, tauschten ihr neu gewonnenes Wissen aus, erzählten sich die Geheimnisse, die sie für diesen kostbaren Augenblick aufbewahrt hatten. Sie erzählten sich ihre Bestrebungen und ihre Träume; ihr allein konnte er seine geheimen Träume anvertrauen, denn nur sie verlangte nichts von ihm als seine Freundschaft.
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Mim lebte für diese beseligenden Gespräche. Sie, die sonst keinen vertrauten Menschen hatte, sie, deren Familie, wenngleich gütig und liebevoll, in Mennofer lebte, während sie weit fort im Isis -Tempel wohnte, sie, die im Leben niemals frei sein würde zu tun, was ihr beliebte, sondern nur das, wozu sie bestimmt war, sehnte sich nach diesen Augenblicken der Vertrautheit. Später, als ihrer beider Stundenglas abgelaufen war, fragte sie sich, ob die Ältesten des Tempels ihnen solche Freiheit gestattet hatten, weil sie wußten, daß sie sich der Keuschheit geweiht hatte und niemals Karadens Verführerin sein konnte, oder weil sie die Versuchung, der sie ausgesetzt waren, genau kannten und sie als ihr Karma betrachteten. Im Sommer ihres fünfzehnten Jahres eilte Mim am Tag von Karadens Ankunft wie gewöhnlich zum Wasserbecken. Sie war aufgeregt wie ein Kind vor Freude und mußte sich zu einer schicklichen Haltung zwingen, damit die anderen Priesterinnen nicht über ihren Mangel an Würde murmelten. Doch statt des Knaben, der vergangenen Sommer abgereist war, erwartete sie ein Mann. Da stand Karaden in der prächtigen weißleinenen Toga des Königtums. Er trug den goldenen Gürtel, der ihn als Pharaos Erben auswies, und die Uräusschlange krönte sein Haupt. Mim starrte ihn gebannt von der Schwelle des Säulenganges an, plötzlich scheu wie ein Reh. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als ihre Augen sich trafen und er sie heranwinkte, und sie ging zu ihm, ohne zu merken, wohin sie ihre Füße setzte. In dem Augenblick, als sie sich berührten, wußte sie, daß alles zwischen ihnen anders geworden war, unwiderruflich und ohne ihre Zustimmung, denn sie sah in Karadens Augen dieselbe erstaunliche Liebe, die sie in ihrer Brust fühlte. Den Rest des Nachmittags saßen die zwei jungen Menschen da, einer vom anderen entzückt, bis die goldene Sonne hinter der großen Stufenpyramide untergegangen war. Die Diener kamen und gingen verwundert, denn Karaden wollte ihren Rufen zu seinen Obliegenheiten nicht folgen, und als Meri-Neyt kam,
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um Mim an ihre Verpflichtungen zu erinnern, verlangte der Prinz, daß Mim bei ihm bliebe. Sie sprachen stundenlang; worüber, vermochte sie später nicht mit Bestimmtheit zu sagen, doch die Musik seiner Stimme klang in ihr nach. Sie ertranken einer in des anderen Augen; ihre Seelen berührten sich, wie sie es in der Kindheit stets getan hatten, doch jetzt war alles anders als zuvor. »Du hast dich so verändert«, flüsterte sie; sie hätte ihn so gerne berührt, scheute aber davor zurück. »Nein, ich bin derselbe«, sagte er. »Du bist die einzige, die weiß, wer ich bin.« »Aber du bist ein Mann, mein Karaden. Zum erstenmal dünkst du mich mehr Pharaos Sohn denn der Knabe, mit dem ich im Wasserbecken um die Wette schwamm.« Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. »Erwähne das nie, Mim. Für alle anderen muß ich der Pharao sein!... Nur für dich bin ich Karaden. Ich habe Tag und Nacht während dieses Jahres der dämmernden Erkenntnis an dich gedacht, Mim. Ich saß in der Ratsversammlung und träumte davon, dich um Rat zu fragen... ich hielt Gericht und wußte, die Güte und Weisheit deines Herzens würden gerechter urteilen als ich... ich lag des Nachts in meinem Bett und sehnte mich danach, dich in meinen Armen zu halten. Wir sind Seelengefährten, Mim-Atet-Ra«, sagte er. »Gewiß ist es nicht der Wille der Götter, daß wir getrennt werden...« Die folgenden Tage waren ein Wirrwarr unerwarteter Gefühls erregungen. Jeden Morgen ließ er sie zu sich rufen; trotz des Ge murmels seines Gefolges und der mißbilligenden Blicke der Ältesten wagte es niemand, Karadens Autorität in Frage zu stellen. Oder vielleicht begriffen sie einfach besser, was sich anbahnte, als die zwei jungen Menschen, die sich im Auge eines aufkommenden Sturmes befanden. Es war eine Einsamkeit um Karaden, die Mim zutiefst bewegte. »Liebst du deinen Vater?« fragte sie eines Tages, als sie unter den Akazien wandelten.
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»Er ist weise und gütig«, erwiderte Karaden zaudernd. »Er beherrscht so vieles, das ich anstrebe, Mim, daß ich manchmal an die Grenze zum Neid gerate. Ich bewundere ihn, ich möchte von ihm lernen, jedoch...« Er ging ein Stück, bevor er fortfuhr. »Als ich klein war, wünschte ich mir, von den Zwängen des Herrschertums befreit zu sein. Ich sah den Sohn des Schusters mit einem Ball in der Hand lachend zu seinem Vater laufen... ich hörte den Fischerssohn mit seinem Vater über belanglose Dinge sprechen... und ich beneidete sie. Einmal wurde ich bei einem Spiel verletzt, und ich lief Trost suchend zum Pharao. Er empfing mich streng und sagte, Könige dürften niemals zulassen, daß ihre Untertanen sie schwach oder verwundbar sehen... wir müßten unseren Untertanen größeren Mut beweisen als andere Sterbliche, weil wir die Saat der Götter sind.« Er lächelte ein wenig, aber sie sah, daß seine Augen feucht waren. »Ich fühlte mich an jenem Tag nicht wie ein Gott, meine liebe Mim. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge mit einem verletzten Bein, der getröstet werden wollte. Nun, da ich zum Manne herangewachsen bin, verstehe ich die Lektion, die er mich gelehrt hat... dennoch wünsche ich mir manchmal, er könnte mein Freund sein.« Mim nahm behutsam seine Hand. »Pharaos Sohn hat so viel Macht und irdische Schätze und so wenig Freude, mein Lieber. Ich wünschte, ich könnte das für dich wettmachen.« Da hatte er sie zu sich ins Gras gezogen, und sie ließ es geschehen, ließ sich auf die warme Erde ziehen und an die junge, männliche Kraft seines Körpers. Und seine Lippen suchten hungrig nach ihren, erforschten ihre Tiefen auf eine Weise, die sie nie erträumt hatte. Sie wurde fortgetragen auf Wellen, deren Strömung so stark war, daß sie erst Minuten später erkannte, wie weit vom sicheren Gestade sie mit der Flut getrieben war. Mim entzog sich seinen Armen, als die Erkenntnis sie durchfuhr, daß sie Wollust empfand. Der Herrin Isis versprochen, hatte Mim sich die Frage, ob sie imstande sei, einen Mann zu lieben, nie gestellt. Sie wußte sehr wohl, daß sie keusch bleiben mußte, um ein reines Gefäß für die Wesenheit der Mutter zu sein. Sie wußte auch, daß es irgendwann in der Zukunft erfor-
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derlich sein könnte, daß sie sich paarte und ein Kind gebar, aber dann würde der Mann von der Ehrwürdigen Mutter ausgesucht werden; für Mim würde er nichts weiter sein als der Spender des Samens, mit dem das erkorene Ei zum Leben erweckt wurde. »Karaden, Geliebter«, flüsterte sie, und sie schwelgte in den Worten, die sie zugleich mit Schrecken erfüllten. »Wie kann dies sein? Ich bin der Göttin versprochen.« »Es sind schon andere von ihren Gelübden entbunden worden«, sagte er und zog sie wieder an sich. Die Berührung seines Fleisches durchströmte sie mit Begehren, pulsierend, drängend, unleugbar. Und das war nur der Anfang... In diesem Sommer war Karaden zu den letzten Vorbereitungen für die Prüfungen von Tod und Wiedergeburt gekommen, die im Jahr darauf stattfinden würden. Wenn er sie bestand, würde er Pharao sein. Jeden Vormittag lernte er mit den Priestern und Priesterinnen, um sich vorzubereiten; aber täglich am späten Nachmittag kam er an das Wasserbecken und befahl Mim zu sich. Meri-Neyt warnte ihre Schülerin vor den schrecklichen Ge fahren der Versuchung, aber es stand nicht in ihrer Macht, ihr zu verbieten, dem Ruf an Pharaos Thron Folge zu leisten. Und überdies war Meri-Neyt viel zu klug, um anzunehmen, sie könnte das Mädchen vor ihrem Schicksal bewahren. So vergingen die Tage, und Mim und Karaden schwelgten in der Herrlichkeit ihrer wachsenden Liebe. Sie versicherten einander, nichts könne sie trennen. Andere Priesterinnen-Anwärterinnen waren von ihrem Keuschheitsgelübde entbunden worden... andere Pharaonen hatten sich, anstatt der vom Hof geplanten Verbindung, ihre Königin selbst gewählt. In ihrer Unschuld hielt Mim ihre Liebe für so unvermeidlich wie den Aufgang der Sonne oder die Phasen des Mondes. Sie waren Herzensfreunde, und in dem großen Spiraltanz des Lebens kannte einer des anderen Schritte. Karaden sagte ihr, sie werde seine Königin sein, und er war so sicher, daß sie sich vermählen könnten, daß sie es beinahe
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glaubte. Er sei die irdische Inkarnation Gottes, erinnerte er sie; er könne ohne schlimme Folgen mit einer Göttin verhandeln. »Ich werde ein Gesuch an meinen Vater richten«, sagte er, »und er wird mit der Hohenpriesterin sprechen. Es hat früher schon Priester und Priesterinnen auf dem Thron von Khemu gegeben. Du hast dein endgültiges Keuschheitsgelübde noch nicht abgelegt... die Priesterin wird verstehen, daß du deiner Göttin und dem Volk als meine Königin am besten dienen kannst.« Und so hoffte sie von ganzem Herzen, daß die Göttin ein Einsehen hatte. Aber Karadens Gesuch wurde abgewiesen. Karaden schickte nach Mim, und sie fand ihn, auf und ab schreitend wie ein Tier im Käfig. Von ihm ging ein Zorn aus, der förmlich in seinen geballten Fäusten knisterte, als hielte er einen Blitzstrahl umklammert. Sie hatte ihn noch nie in Wut gesehen. »Pharao hat gesprochen!« sagte Karaden spöttisch. Sie hatte ihn niemals anders als ehrerbietig von seinem Vater sprechen hören, und die Gewalt seines Zornes verstörte sie. »Wir sind ermahnt, uns nie wiederzusehen! Ich werde mich augenblicklich den schweren Prüfungen unterziehen, wurde mir befohlen, und wenn ich sie bestehe, ist meine Ausbildung beendet, und ich werde nie mehr hierher zurückkehren, außer in Staatsangelegenheiten.« Mim stand zu Stein erstarrt, alle Hoffnung war mit einem Atemzug ausgelöscht. Das Leben erstreckte sich vor ihr wie der Wüstensand, öde und unendlich; wenn Herzen brechen konnten, tat ihres es in diesem Augenblick. Der Schmerz würde in ihr bestehen bleiben, und wenn fünftausend Jahre durch das Stundenglas rannen. Karaden schritt zu Mim, ergriff ihre Arme und zwang ihre tränenvollen Augen, in seine zu blicken. »Ich habe die ganze Nacht an nichts anderes gedacht, Geliebte«, sagte er dringlich. »Noch können wir obsiegen, aber die Straße vor uns ist mit Ge fahren gepflastert. Du mußt dir meinen Plan anhören.« Mim nickte, zu betäubt, um sich über seinen Grimm zu wundern. Nur einem König konnte es einfallen, einen Pharao und eine Göttin zugleich herauszufordern.
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»Wenn du keine Jungfrau bist, können sie dich nicht weihen wie geplant.« Sie sah auf, bis in die Seele getroffen - schlug er etwa vor, daß sie die Göttin beraubten? »Aber ich bin versprochen!« »Nicht aus freien Stücken, Geliebte!« sagte er hastig. »Siehst du nicht? Deine Eltern widmeten dich der Göttin ohne deine Einwilligung. Du hast das Recht zu widersprechen.« Er richtete sich gerade auf, hielt aber ihren Blick gefesselt. »So wie ich das Recht habe, die von meinem Vater gewählte Braut zu verschmähen.« Karaden zog Mim an sich und umfing sie in einer wilden Umarmung. Er küßte sie mit all der aufgestauten Leidenschaft ihrer langen Entbehrung, und sie war entflammt von einer Lust, die alle ihre Vorstellungen übertraf. Sie wollte ihn. Begierde tobte in ihr, angestachelt durch die verzweifelte Angst, ihn zu verlieren. Seine Hände liebkosten ihre Brüste, ihr Gesicht, ja, ihre Seele. Sie war wahnsinnig vor Liebe, und in diesem Moment hätte sie sich ihm hingegeben... er aber ließ von ihr ab, erhitzt, um Beherrschung ringend. »Nicht hier«, sagte er. »Heute nacht, hinter dem Tempel, durch das Labyrinth. Ich werde dir einen Diener schicken. Er wird dich zu mir führen. Dann werden wir unseren beiden Gottheiten unsere Liebe darbieten und sie um ihren Segen bitten.« »Aber die Göttin wird zürnen...« Karaden trat zurück und sah sie an, die Macht seiner göttlichen Abstammung drückte sich in seiner Miene aus. »Ich bin von Pharaos Saat«, sagte er. »Auch ich bin ein Sproß der Götter, und Ra ist größer als die Göttin. Er wird obsiegen.« »Aber ich bin sterblich, Karaden!« Mim wurde plötzlich von einer visionären Erkenntnis getroffen: Wenn Götter um Sterbliche kämpfen, siegen die Götter allein. Aber die Liebe machte sie blind, und halb wahnsinnig verließ sie ihn. Unter der Tempelstadt war ein Labyrinth von Katakomben. Sie hatten das Mädchen immer angezogen, und sie spürte eine Macht in dieser Höhlenwelt, die mehr Zuflucht bot als irgendein anderer Ort. Mim eilte zu dieser Stätte des Trostes; dort konnte sie sich mit
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ihrem Kummer, ihrer Angst und Verwirrung auseinandersetzen. Sie ging auf uralten Pfaden, ohne auf ihren Weg zu achten, und führte dabei im Geiste seltsame, verzweifelte Gespräche. Vielleicht wurde sie von einer unsichtbaren Hand geführt, denn nach einiger Zeit, die für sie keine Bedeutung hatte, befand sie sich an einem Ort, wo sie noch nie gewesen war. Ein weiträumiges rundes Gemach war aus dem urzeitlichen Basalt und Sandstein herausgehauen worden; zwölf große Bogen, von Menschenhand oder von der Natur geschaffen, bildeten ein Heiligtum. Verwundert näherte Mim sich dem ersten Bogen; ein strahlender Glanz kam aus dem Inneren, unirdisch, so verschieden von dem Licht droben, wie himmlische Sphärenmusik sich von den Klängen einer irdischen Harfe unterschied. Der Glanz zog sie unerbittlich an. Auf einem Altar, der aus dem größten Kristall geschnitzt war, den sie je zu Gesicht bekommen hatte, befand sich das Isis Amulett. Aber nicht so, wie sie es in ihrem Vaterhaus gesehen hatte, jetzt pulsierte die Energie der Göttin darin. Strahlend, atemberaubend, machtvoll überstieg es das Vorstellungsvermö gen bloßer Sterblicher... die Große Mutter persönlich hatte es geweiht. Die junge Priesterin war von Ehrfurcht ergriffen, denn in diesem Moment wußte sie, daß sie auf das Allerheiligste gestoßen war. Dieses Gemach war ihr Schoß. Es war ein Zeichen. Gewiß hatte die Göttin selbst sie zu diesem Schatz geführt, auf daß Karaden und sie ihr furchtbares Dilemma lösten. Jetzt schien ihr alles ganz klar... später fragte sie sich, ob die Liebe sie wahnsinnig gemacht hatte. Sie berührte das magische Amulett. Und da beging sie eine verzweifelte Tat, eine jener Handlungen, die im nachhinein unbegreiflich scheinen. Sie nahm das Amulett vom Altar. Niemand war in der Nähe, niemand würde es die nächsten paar Stunden vermis sen. Sie wollte es Karaden bringen. Dann wollte sie mit ihm zusammen zur Großen Mutter um Errettung beten, und sie würde die Reinheit ihrer Liebe sehen und ihr Gebet erhören. Mim ging in ihre Kammer, um vor ihrem Rendezvous mit Ka-
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raden ein paar Stunden zu ruhen. Das Isis -Amulett hatte sie in ihre Tunika gesteckt, nahe an ihrem Herzen. Sie schlief ein. Und sie sah dies: In einer Traumvision kam die Göttin Isis. Sie war gewandet in unvorstellbare Herrlichkeit. Sie ritt auf dem Halbmond, und die größten Sterne des Firmaments erhellten ihre Krone. Sie war wundersam und grimmig, wie es die Unsterblichen sind, und ihre Stimme war mächtiger als alle Trompeten auf Erden. »Priesterin, Tochter, erhebe dich und höre mich!« befahl sie, und Mim fühlte, wie ihr Astral-Ich die Grenzen des physischen Leibes auf dem Bett verließen, mit dem es nur durch die silberne ätherische Nabelschnur verbunden blieb, welche das Ka ernährt. Sie stand in der Haltung der Priesterinnen, mit erhobenen Händen, dann bezeugte sie furchtsam ihre Ehrerbietung. Ihre Seele zitterte vor der Mutter, denn die Schuppen waren ihr von den Augen gefallen, und sie wußte nun, wie schwer sie gesündigt hatte. »Die Sünde ist im Wunsch und Gedanken ebenso wie in der Handlung«, donnerte die Göttin. »Du warst bereit, Karaden zu geben, was du mir versprochen hattest. Ich lasse mich nicht zum Narren halten! Du hast mein Amulett zur persönlichen Bereicherung gestohlen...« Bei meinem Leben, o Göttin, so hatte ich das nicht gemeint! wollte sie ausrufen und, sich vor dem furchtbaren Zorn der Göttin krümmend, um Vergebung flehen, aber sie war Priesterin, und mit einem solchen Benehmen würde sie der Göttlichen Mutter Schande bereitet haben. »Aber ich will dir eine letzte Chance geben, es wiedergutzumachen«, sagte die Göttin nun, »denn die größere Schuld liegt bei dem, der dich zu der Torheit verleitet hat. Trotz deiner Sünde, Mim-Atet-Ra, sind Reinheit und Güte in deinem Herzen, und ich messe die Sünden der Warmherzigen und jene der Kaltblütigen mit verschiedenen Maßen. Es ist ein Makel in der Veranlagung der Sterblichen, der hier einbezogen werden muß. Der freie Wille, den wir ihnen bei der Schöpfung gaben, das war unser einziger Fehler.«
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Sie hob die Hand, und der Himmel teilte sich, als sei ein Schleier beiseite gezogen worden und habe Sterne und Planeten, Galaxien und alles, was jenseits davon war, mitgenommen... »Zweierlei Zukunft...« Die Worte hallten durch die Korridore der Zeit, als die Göttin aus Mims Sicht schwand. Und dann entfaltete sich eine Welt vor der schwergeprüften Priesterin: Sie sah Karaden als großen Pharao, geliebt von seinem Volk, denn er hatte ihm nur Gutes gebracht. Sie sah sein Leben sich von der Jugend zum Mannesalter und zum Greisentum entfalten. Seine Regierungszeit war lange und fruchtbar, er war mit fünf Söhnen und Töchtern gesegnet, die er liebte. Ihm zur Seite war seine Königin - eine gute, liebevolle Frau, die Freude seines Herzens. Mim glaubte, es würde ihr vor Qual das Herz zerreißen, als sie eine andere an der Stelle sah, die sie für sich zu erträumen wagte. Die Vision verblaßte und machte einer zweiten Platz. Entsetzt und gebannt sah Mim sich in Karadens Umarmung. Sie sah sie sich lieben, wie es nur diejenigen vermögen, die füreinander geboren sind, sie fühlte seine Hände und seinen Mund auf ihrem Geschlecht, fühlte das feuchte Schwellen der Begierde. In allen wollüstigen, köstlichen Einzelheiten erlebte sie ihre Liebe zu Karaden. Bevor der Morgen heraufdämmerte, verließ er sie, indes sein Same in ihr bereits zum Leben erweckt war, und machte sich auf zu den schweren Prüfungen auf Leben und Tod. Und dann sah Mim ihn sterben. In unbeschreiblicher Verzweiflung sah sie den neuen Pharao Karadens Platz auf dem Lotusthron einnehmen. Er war ein korrupter Mensch von zweifelhafter Moral. Sie sah ihn Khemu in Zerstörung, Hungersnot und Krieg führen. Eine große Pestilenz stürmte im Gefolge des Gemetzels über das Land. Mim sah sodann, daß sie eine Tochter von Karaden empfangen hatte. Sie beobachtete die Entfaltung des klugen Kindes in einer Welt voller Gefahren für die Begabten, und sie wußte, daß sie einen Menschen geboren hatte, der für ein besonderes Schicksal ausersehen war. Sie floh mit dem Kind in die Wüste vor den Verheerungen, die
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das Land überkamen. Sie lebten als flüchtige Asketen, und sie erzog ihre Tochter im Sinne der Großen Mutter. Das Volk flehte in seiner Verzweiflung zu den Göttern; denn böse Priester hatten sich der Tempel bemächtigt, und die Mächte der Finsternis überwanden das Licht. Ehe die Vision verblaßte, sah Mim ihre Tochter zum Sekhmet-Tempel gehen, die Priester dort um der Großen Mutter willen zu bekämpfen... sie sah nicht, ob sie unterlag oder triumphierte. Die Vision verblaßte, und Mim starrte in den Abgrund der Ewigkeit, bis die Göttin vor ihren tränenblinden Augen erneut; das Firmament ausfüllte. »Wähle!« befahl sie, unbarmherzig wie Tod oder Geburt. Und Mim wählte. O Karaden, auf ewig Geliebter! Hast du an dem verabredeten Ort auf mich gewartet? Hast du in Verzweiflung aufgeschrien und hieltest mich für grausam und wankelmütig, da ich dich enttäuschte? Die Götter lassen sich von Sterblichen nicht zum Narren halten, liebster Herzensfreund. Wir wurden berufen, um zu dienen oder zu leiden. Und sie trafen die Wahl. Manchmal dachte ich in meinem Kummer - möge Isis mir vergeben, wenn ich mich geirrt habe -, daß die Götter viel ungerechter sind als die Menschen. Maggie fühlte sich unerbittlich in das gegenwärtige Bewußtsein zurückgezogen, während ihr Mims Worte noch im Kopf klangen. Sie erinnerte sich an jedes Wort. Sie setzte sich im Bett auf, benommen und verwirrt, dann zwang sie sich dazu aufzustehen. Sie wankte ans Fenster und starrte blicklos in die New Yorker Nacht, die ihr sehr fremd vorkam. Bilder von Ägypten lebten in ihren Zellen, so gewiß wie diejenigen vom gestrigen Tag. Herzensgefährten, eingestimmt auf eine Liebe, die fünftausend Jahre unerfüllt blieb... Ich weiß, wer wir füreinander sind. Diese Geschichte hatte ein Ende, das wußte sie ganz sicher. Aber war es damals und dort, oder hier... ... und jetzt?
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Mit flatternden Händen wählte Maggie Peters Nummer und bat ihn zu kommen, denn es gebe etwas, das er wissen müsse.
57 Maggie lag in Straters Ordinationszimmer auf der Couch und hoffte, daß sie die Kraft haben würde, um durchzustehen, was immer geschähe. Sie hatte keine andere Wahl, sie mußte den Schluß finden. Peter stand mit sorgenzerfurchtem Gesicht bei den Bücherregalen, die die Wand hinter Straters Schreibtisch säumten. Es ging auch um seine Geschichte. Dr. Strater ließ die Jalousien herunter, schaltete den Kassettenrekorder auf Aufnahme und setzte sich mit dem leisen Seufzer, wie ihn ein Mensch ausstößt, dem eine anstrengende Aufgabe bevorsteht, neben Maggie. Sie hatte ihm die Vision der vergangenen Nacht geschildert, und er war erschrocken über den Seelenzustand, den diese in ihr ausgelöst hatte. Heute wollte er nach einer Erklärung für die anhaltenden Phantasiebilder suchen, damit diese Frau Frieden finden konnte. Er hielt Maggies Hand, während er sie in die Hypnose geleitete. »Meine liebe Maggie«, sagte er leise, als er sicher war, daß sie in Trance verfallen war. »Wir treten nun die Rückreise in der Zeit an, um die Antwort zu finden, die Sie dort suchen. Ich werde Sie bitten, in die Zeit der Priesterin Mim nach ihrer Konfrontation mit der Göttin Isis zurückzugehen. Wenn Sie bei jenem Augenblick angekommen sind, werden Sie die rechte Hand heben, um es mir mitzuteilen. Haben Sie das verstanden?« Maggies Kopf bewegte sich auf und ab. Sie wirkte ganz friedlich, und nach ein, zwei Minuten hob sie die Hand. »Sehr gut, Maggie, danke. Jetzt möchte ich, daß Sie uns dieses Erlebnis aus alter Zeit preisgeben, soweit es für Sie zumutbar ist. Haben Sie das verstanden?« »Ich habe einen teuren Preis für diese Erinnerungen bezahlt«, sagte Maggie-Mim entschieden. »Es ist an mir, sie preiszugeben. Das kann mir nicht einmal die Göttin verwehren.« Peter und Strater wechselten einen Blick, und der Psychiater
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legte den Finger auf die Lippen, um Peter zu ermahnen, sich still zu verhalten. Mim war jetzt bei ihnen... Sie begann zu sprechen. »Ich wurde vor Tagesanbruch von Meri-Neyt geweckt. Sie wirkte ernst, und ich war sicher, daß sie genau wußte, was geschehen war, aber ich war zu bekümmert, um mir darüber allzu viele Gedanken zu machen. Was bedeutete mir schon ein irdischer Tadel, da ich von einer Göttin gestraft worden war? Wortlos kleidete sie mich in ein Zeremoniengewand, legte mir einen goldenen Gürtel um die Hüften und führte mich ins Heiligtum der Hohenpriesterin. ›Du wirst heute geprüft, Mim-Atet-Ra‹, sagte die Ehrwürdige Mutter ohne jede Bewegung. Aber in Meri-Neyts Gesicht las ich deutlich Mitgefühl, als sie vor dem Thron der Hohenpriesterin stand. Da wußte ich, daß meine geliebte Lehrmeisterin glaubte, ich würde während der Prüfung sterben. Auch ich glaubte, daß es mir bestimmt war, aus dieser Welt zu scheiden, aber es machte mir nichts aus. Dann trat Meri-Neyt vor, um mich vorzubereiten. Sie teilte mir die Prüfungsregeln mit, und ich wußte, daß ich alle Unschuld hinter mir gelassen hatte und mich allem stellen mußte, komme, was da wolle. Ich war kein Kind mehr und keine Schülerin, sondern eine Kriegerin auf dem Schlachtfeld der Götter. ›Betrachte alle Versuchungen mit Argwohn‹, ermahnte mich Meri-Neyt. ›Vertraue niemandem, nur deinem Herzen.‹ Sie lächelte mich an, und ich sah darin ihre Liebe zu mir und ihr Wohlwollen. Dann wurden mir die Augen verbunden, und man führte mich in ein unterirdisches Gemach, wo meine Prüfung ihren Lauf nahm. Über die Einzelheiten der schweren Prüfung darf ich bei Todesstrafe nichts sagen, nur soviel, daß sie mich all meine Kräfte kostete und ich am Ende wußte, wenn noch mehr von mir verlangt würde, wäre ich mit Sicherheit verloren. Dann erschienen plötzlich im Äther zwei Pforten vor mir, und eine Stimme brüllte: ›Hinter der einen, Sieg... hinter der anderen, Vernichtung!‹ Ich fühlte mit meiner Intuition hinter die Pforten - hinter einer ertastete ich Sicherheit und hinter der andern nur Trostlosigkeit.
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Dann hatte ich eine äußerst merkwürdige Vision... ganz deutlich sah ich Meri-Neyt mir verzweifelt Zeichen geben, meine Wahl zu ändern! Sie war mein Leben lang meine Fürsorgerin gewesen, und so hielt ich augenblicklich inne und tastete mich noch einmal mit meinem inneren Wissen vor. Doch abermals erspürte ich Leben hinter der linken Pforte und Tod hinter der rechten. Ich war vor Bestürzung wie gelähmt. Meri würde mich niemals schlecht beraten... dennoch fühlte ich mit jeder Faser, daß die Wahl, die sie empfahl, falsch war. Verzweifelt suchte ich mich auf ihre Ermahnung zu besinnen - und sie fiel mir ein... Vertraue... « Nicht Maggie beendete den Satz, sondern Peter. »Vertraue niemand, nur deinem Herzen!« rief er aus, während er an Maggies Seite eilte. »Was machen Sie da?« rief Strater erschrocken. Aber Peter hatte Maggies schlaffen Körper in seine Arme genommen und achtete nicht auf den Psychiater. »Nackt und allein, Geliebte, trafst du deine Wahl!« flüsterte Peter ihr eindringlich zu. »Alles andere ist nichts als Illusion. Dies war die Prüfung, die ich nicht bestand, Mim. Du darfst nicht versagen!« Maggie fuhr fort, mit Mims Stimme zu sprechen; es war offensichtlich, daß sie Peters Worte nicht hören konnte oder wollte. »Ich öffnete die linke Pforte«, fuhr sie fort. »Ein Engelschor hieß mich hinter diesem Portal willkommen... und da wußte ich mit Sicherheit, daß dies die letzte Prüfung ist im Augenblick der Wahrheit: Nackt und allein triffst du deine Wahl. Alles andere ist nichts als Illusion.« Peter legte den Kopf auf Maggies Brust, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Strater hatte den Eindruck, daß er in einem ebensolchen Trancezustand war wie Maggie; er sah, daß Maggie-Mim beschützend einen Arm um die Schultern des Mannes gelegt hatte, als sie mit ihrer Geschichte fortfuhr. »Plötzlich stand ich wieder vor der Hohenpriesterin, und während ich sie gebannt betrachtete, verschwamm sie ins
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Nichts, und wo sie gestanden hatte, erhob sich die Göttin, und ihre Herrlichkeit war größer als die Welt. ›Du standest am Abgrund, Mim-Atet-Ra, Tochter der Isis. Du hast gesündigt und bereut. Du wurdest schwer geprüft und hast gesiegt. So sollst du gestraft und belohnt sein, denn alles, was in menschlicher Inkarnation geschieht, ist von den Sterblichen selbst geschaffen. Hüterin des Isis-Amuletts, erhebe dich! Das Kind, das du Karaden geboren hast, wird dir irgendwann in der Zeit wiedergegeben werden. Sie wird meine Botin sein und die Bewahrerin des Amuletts in alle Ewigkeit. Du wirst ihre Hüterin sein. Wenn die Menschheit auf ihrem Pfad so schwer strauchelt, daß ihr Bestehen gefährdet ist, werde ich euch beide aussenden. Bis zum Tode und darüber hinaus mußt du deine heiligen Schutzbefohlenen behüten, meine Botin und mein Amulett. Die Menschheit ist mit Makeln behaftet, dennoch erfreut sie mich oft, denn sie besitzt die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, auf eine Weise, die wir bei der ersten Schöpfung nicht vorausgesehen haben. Daher will ich ihr eine letzte Gelegenheit geben, sich über ihre Makel zu erheben, auch wenn alle anderen Gottheiten sich abwenden mögen. Doch wisse, Hüterin: Es wurde noch ein anderes Amulett geschaffen. Sekhmet hat die Mächte des Bösen aufgerufen, um meinem Geschenk an die Menschheit den Kampf anzusagen. Sie hat einem großen Onyx die Gesamtheit aller zerstörerischen Kräfte eingegeben, die in diesem Universum existieren. Somit mag sich der freie Wille nach wie vor behaupten, denn der Mensch wird zwischen unseren Gaben wählen müssen. Nur dies kann ich tun, um deine Hand zu stärken: Der Sekhmet-Stein kann erst materialisiert werden, wenn die Isis-Botin auf der Welt ist. Wenn die Botin Mensch wird und das Amulett materialisiert, setzt sie das Spiel in Gang. Das Gute oder das Böse wird triumphieren, und der Mensch wird über sein Schicksal bestimmen.‹ Ich lebte viele Jahre nach jenem Tag, und länger noch schienen sie mir. Ich war Hohepriesterin der Göttin Isis in Saqqara,
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und mit der Zeit durchschritt ich die Pforten der irdischen Existenz. Ich hatte viele Menschen geheilt und viele beraten in meiner Zeit, und ich hatte der Großen Mutter treu gedient. So wie ich es auf die eine oder andere Weise seither in all meinen Lebzeiten tat. Wir stehen jetzt am großen Scheideweg. Die Botin und die Hüterin wurden ausgesandt zur letzten Abrechnung, und die Spieler sind auf dem Feld versammelt. O Isis, Ra, verteidigt uns und stärkt unsere Schwächen. Wir sind zu menschlich für dieses Unterfangen.« Dr. Strater sah, daß Peter Messenguer Maggie betroffen anstarrte. Sie schlug die Augen auf und sah tief in die seinen, und sie sprach mit Mims Stimme: »Karaden, geliebte Zwillingsseele, wären wir nur einfache Fischersleute gewesen, hätten wir unsere Liebe leben und unsere Saat hinterlassen können. So aber sind wir unfreiwillige Mitwirkende im tödlichsten aller Spiele, und das Schicksal des Universums hängt am faden unserer Wünsche. Hilf mir, o Göttin, dem unwürdigsten deiner Kinder! Laß mich nicht wanken, bis der Preis entrichtet ist.« Überwältigt von den Ereignissen der letzten fünf Minuten, nahm Strater vorsichtig Maggies Hand. »Liebe Mim«, sagte er zärtlich, und er erkannte bedrückt, daß Mim auch für ihn unsagbar wirklich geworden war. »Wir danken Ihnen, daß Sie uns Ihre bemerkenswerte Geschichte mitgeteilt haben... und wir wünschen Ihnen alles Gute auf Ihrer Reise. Wir werden für Sie beten.« Er sah Peter an, der um Fassung rang. Er schien in einer Stunde um zehn Jahre gealtert. »Bitte schicken Sie Maggie jetzt wieder zu uns... es ist Zeit für sie, zu uns heimzukehren. Wollen Sie die rechte Hand heben, wenn Maggie zurück ist?« Die Hand bewegte sich zitternd aufwärts. »Danke«, sagte er, dann hielt er einen Moment inne. »Es ist geboten, wieder in das Segelboot auf dem Fluß der Zeit zu steigen. Bitte weisen Sie den Navigator an, daß unter keinen Umständen angehalten werden darf, bis Sie sicher im Jahre 1993 hier in meinem Ordinationszimmer angekommen sind.«
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Minuten später saßen Maggie, Peter und Dr. Strater da und starrten sich an. Schließlich ergriff der Psychiater das Wort. »Offen gestanden, ich verstehe wirklich nicht, was wir soeben erlebt haben. Aber es scheint, hier ist noch eine Menge zu tun...« Maggie sagte entschlossen: »Dr. Strater, ich bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie für mich getan haben. Aber ich glaube, das, was ich hier erfahren wollte, weiß ich jetzt. Ich fürchte, die Lösung dieser Geschichte liegt nicht im Bereich der Psychiatrie.« Peter beobachtete Maggie genau, als sie an dem kleinen Tisch Platz nahm; sie wirkte mitgenommen durch die Erinnerungen, die sich freigekämpft hatten, ausgebrannt von einem inneren Feuer. Er hatte darauf bestanden, daß sie auf dem Rückweg von Dr. Straters Praxis in dem Lokal einkehrten, denn er wußte, in dem Moment, da sie ihr Haus betrat, würde Codys Abwesenheit sie einhüllen wie ein Eismantel, und infolge der jüngsten Strapazen war sie dafür zu schwach. Er bestellte zweimal warmen Apfelmost, und sie saß da und starrte in den Becher, schob geistesabwesend die Zimtstange hin und her, während der Dampf aus dem Steingutbecher aufstieg. Sie wirkte verletzlich und erschöpft. »Sie waren dort mit mir, Peter«, sagte sie schließlich. »Ja«, erwiderte er. »Ich sah die Gefahr deutlich in dem Labyrinth. Es war die Prüfung, bei der ich versagte - ich mußte Sie vor demselben Schicksal bewahren.« Sie nickte verständnisvoll. »Es ist wirklich, nicht wahr, Maggie?« fragte er mit vor Bewegung heiserer Stimme. »Heute habe ich zum erstenmal begriffen, daß es Realität ist.« »Ja, es ist wirklich, Peter! Das ist das Problem«, brauste sie auf und hätte dabei beinahe den Becher umgestoßen. »Herrgott! Ich kann ihre Jugend fühlen, ihre Vitalität, ihr Verlangen. Sie sind Karaden, und Ellie ist Meri-Neyt. Aber was hat das zu bedeuten, Peter?« Sie blickte ihn gequält an. »Und wo führt das
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hin, in Gottes Namen? Diese Geschichte hat ein schreckliches Ende... ich fühle es auf mich zukommen, und es ängstigt mich zu Tode.« »Ich weiß, liebe Maggie«, beruhigte er sie. »Ich weiß. Mir macht es auch angst.« Sie tranken ihren Apfelmost, und Peter brachte sie nach Hause, aber das intensive Gefühl eines drohenden Unheils vereitelte jede Unterhaltung. Sie bat ihn nicht herein. Maggie stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf; sie war unendlich müde, und sie glaubte, sie könnte tausend Jahre schlafen. Als sie an Codys Zimmer vorbeikam, spürte sie ein tiefes Bedürfnis, dort Trost zu suchen. Maggie setzte sich auf das mit Rüschen verzierte Bett, vorsichtig, aus Furcht, die erinnerten Bilder zu verscheuchen, die dieses Heiligtum barg. Bilder von einem kleinen Mädchen, das schön war und hellseherisch wie die Prinzessinnen in alten Bardensagen, mit Haaren von der Farbe sonnengebleichten Flachses und geheimnisvollen grauen Augen. In der Stille des leeren Zimmers hörte sie wieder das Quecksilberlachen, das voller Weisheit war, und sie sah den Schatten dieses sphinxhaft scheuen Kindes. Wie eine goldene Wolke am unvollkommenen Firmament oder eine Möwe, die über eine gefährliche Welle segelt, war Cody nicht ganz von dieser Welt. Warum habe ich nicht gesehen, daß du nicht von hier warst? flüsterte Maggie in die schreckliche Stille hinein. Etwas so Schönes wie du konnte nicht von hier sein. Da ließ Maggie sich von den unerträglichen Schmerzen durchströmen, sie erhaschte die Welle, ritt auf ihr, ertrank in ihr. Sie legte sich auf das gerüschte Kissen, das noch nach Kinderpuder roch, und weinte sich in den Schlaf.
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5. TEIL Die Verbündeten Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe. Prediger Salomo
58 Zwei Tage später saßen Peter und Maggie in der Broome Street Bar; die Hamburger auf ihren Tellern hatten sie nicht angerührt. »Ich denke, wir müssen wirklich darüber reden, Peter«, sagte sie. »Seit der Rückführung ist mir bange in Ihrer Nähe... und Sie empfinden offensichtlich genauso.« Sie zögerte. »Ich weiß nicht, was ich mit alledem anfangen soll.« Peter schob die Kaffeetasse zur Seite, mit der er herumgespielt hatte, und sah Maggie ins Gesicht; das seine war von Schlaflosigkeit gezeichnet. »Verzeihen Sie, Maggie. Ich bin Ihnen in den letzten Tagen keine große Hilfe gewesen. Ich habe versucht, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Wer sind wir füreinander? frage ich mich immerzu. Wer bin ich gewesen?« Er sah so aufgewühlt aus, wie sie sich fühlte. »Wissen Sie, ich bin zu Strater gegangen«, sagte Maggie mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme, »weil ich glaubte, wenn ich Mims Geschichte kennen würde, sähe ich klarer. Aber es ist nur noch verworrener geworden. Wie können wir jemals wissen, was wirklich ist, Peter? Ich ringe mit Gefühlen für Sie,
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die wie Liebe scheinen. Aber was, wenn das in Wirklichkeit Mim ist, die Karaden liebt, und es sind gar nicht Sie und ich? Oder wenn Mim und Karaden nur Phantome in meiner Einbildung sind, und in Wirklichkeit verliere ich einfach den Verstand? Ich wollte das nie empfinden, was immer ich für Sie fühle, Peter. Sehen Sie mich an! Ich kann das Wort Liebe nicht einmal aussprechen, wenn es um Sie geht. Aber, verdammt, etwas Außergewöhnliches fühle ich für Sie, und Sie fühlen es auch.« Ihre Stimme war äußerst beherrscht. »Ich will schmerzlich aufrichtig zu Ihnen sein, Peter, weil ich nicht anders kann. Wenn wir zusammen sind, habe ich den Wunsch, Sie zu berühren... Sie zu halten, gehalten zu werden... und Dinge zu sagen, die zu sagen ich kein Recht habe... und das alles empfinde ich als irgendwie unausweichlich. Jetzt weiß ich, daß es mit diesen anderen Leben zusammenhängt.« Sie hob verzweifelt die Hände bei dem Versuch, es zu erklären. Peters Augen suchten ihren Blick; Zärtlichkeit milderte seine zerfurchten Gesichtszüge. »Maggie, Maggie, sehen Sie nicht...«, sagte er, während er über den Tisch nach ihren Händen griff, »ich liebe Sie! Jetzt, und vielleicht auch damals... wer weiß, wann es begann? Und ich glaube, daß Sie mich lieben. Diese Liebe ist rein, ohne Makel. Gewiß nichts, dessen man sich schämen müßte. Was wir mit unserer Liebe zu tun beschließen... das, fürchte ich, mag eine vollkommen andere Sache sein. Aber zunächst - in diesem winzigen Augenblick der Ewigkeit - meine ich, daß wir uns vorsehen müssen, um uns von dieser Liebe in keiner Weise schwächen zu lassen. Wenn wir aus dem, was wir füreinander empfinden, Kraft schöpfen können, dann ist es gut. Wenn nicht... Im Augenblick können Sie an nichts anderes denken als an Cody. Uns bleiben noch zwei Wochen, um sie zu retten, deswegen zählt jede Minute. Sie dürfen sich nicht ablenken lassen durch Zweifel an Ihrem Verstand oder durch Grübeln, ob wir uns aufrichtig lieben oder nicht. Es ist einfach so, vielleicht müssen Sie es hinnehmen. Bis zum dreißigsten April hat Codys Rettung Vorrang vor allem anderen. Danach...«
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Er sagte nicht, daß er nicht damit rechnete, nach dem dreißigsten April noch am Leben zu sein. Das brauchte sie noch nicht zu wissen; er war sich nicht einmal sicher, wie er darauf kam, aber er hatte das unerschütterliche Gefühl, daß am dreißigsten April für Peter Messenguer die Zeit stehenbleiben würde. Peter brachte Maggie nach Hause und überließ sie Maria Aparecida mit der Anweisung, gut auf sie aufzupassen. Er war froh, daß die Haushälterin die Tür geöffnet hatte. Und er war auch froh, daß er nicht noch länger mit Maggie allein gewesen war. Er trat den weiten Rückweg zu seiner Wohnung an, dann machte er kehrt und begab sich zur Thirteenth Street. Er wollte die Nacht im AIDS-Hospiz verbringen und seine Empfindungen durch gute Werke läutern. Auf diese Weise würde, wenn er heute nacht keinen Schlaf fände, seine Schlaflosigkeit einer bedürftigen Seele zugute kommen.
59 »Weißt du, Amanda«, sagte Maggie am nächsten Morgen im Geschäft, während sie die Papiere entschlossen in die Schreibtischschublade schob - sie war zu aufgeregt, um sich damit zu befassen -, »seit dieser Sache mit der hypnotischen Rückführung suche ich unter jeder Ritze meines Lebens nach vorzeitlichen Verbindungen. Ich komme mir vor, als lebte ich in zwei Zeitabschnitten gleichzeitig.« Amanda blickte auf und runzelte die Stirn. »Das klingt wie das, was mit uns allen passiert ist, als alle Welt in die Therapie ging. Weißt du noch? Wie wir alle anfingen, unsere Motivationen zu überprüfen, genauso oft, wie wir auf die Uhr sahen? ›Warum mache ich das mit mir?‹ war angeblich der Schlüssel zu jeder Aktion in unserem Leben. Wenn einem auf der Straße eine Kiste auf den Kopf fiel, mußte es einen Grund gehabt haben, daß man sich ausgerechnet dorthin gestellt hatte. Wurde man krank, war man vor etwas geflohen. Wenn man starb, hatte man vermutlich ein altes ungelöstes Problem, mit dem man nicht fertig wurde.« Sie lachte über den Blödsinn.
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»Ja, ich erinnere mich«, antwortete Maggie kopfschüttelnd. Amanda könnte sie noch am Fuß des Galgens zum Kichern bringen, dachte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »Damals fand ich, daß das den Sensenmann völlig konfus machen mußte. Vor Sigmund Freud konnte er einen nach einem einfachen Zeitplan holen: Alle deine Großeltern waren mit sechsundachtzig gestorben, also konnte er dich mit sechsundachtzig auf seine Schippe nehmen. Erklärte das Land den Krieg, konnte er seine Sammelleistung erhöhen. Hungersnot? Seuchen? Er besorgte sich einen größeren Karren. Und dann auf einmal mußte er die ganze Zeit bei jedermann auf die Motivationen achten, um zu sehen, was sie für alten Mist mit sich herumtrugen, der sie umbringen könnte.« Amanda lachte laut heraus. »Was ich sagen wollte, mein Herz, Rückführung oder nicht, du mußt trotzdem morgens aufstehen und einen Fuß vor den anderen setzen. Wen kümmert's also, was vor fünftausend Jahren war oder ob deine Motivationen anständig sind - es kommt allein darauf an, was Maggie heute tut. Das ist es doch, was dich wirklich wahnsinnig macht. Du weißt nicht, wie du Cody heute helfen kannst.« Maggie stand auf und knipste die Schreibtischlampe aus. »Du hast vollkommen recht, Amanda. Diese Untätigkeit bringt mich um. Cody ist dort, ich bin hier, und trotz all meiner Anstrengungen und Sorgen und Rückführungshypnose hat sich absolut nichts geändert. Und obendrein frage ich mich jetzt noch, ob ich Peter liebe, und ich sehe nicht, wie es in diesem Jahrhundert ein Jota besser enden könnte als dreitausend Jahre vor Christus.« Amanda schaute Maggie besorgt nach, bevor sie die Ladentüre abschloß. Vor einem Monat würde sie jeden, der von früheren Leben redete, für verrückt erklärt haben, aber jetzt war es ihr egal, aus welchem Jahrtausend Hilfe für Maggie kam, solange sie nur kam. Maggie ging aufgewühlt die Madison Avenue entlang und überlegte, ob sie Devlin erzählen sollte, was sie bei der Hypnose erfahren hatte. Während der Sitzungen war alles so wirklich gewesen, aber jetzt kam ihr das Ganze allmählich absurd vor. Die
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aufgeputschte Phantasie eines verwirrten Gehirns. Aber irgendwie war es nicht fair, es ihm nicht mitzuteilen... und außerdem war sie ihm einen Anruf schuldig. Sie wollte den Gedanken nicht zulassen, daß sie ihn als Bollwerk gegen Peter benutzte, aber es bestand eine entfernte Möglichkeit, daß es so war. Scheiße! Wer wußte eigentlich, was die Wahrheit war? »Dev«, sagte Maggie unsicher, als er auf ihren Anruf hin zu ihr kam, »ich muß Ihnen unbedingt erzählen, was mir in den letzten Tagen passiert ist, aber das hört sich alles so verrückt an, daß ich fürchte, Sie werden mich in eine Zwangsjacke stecken.« Er war nur wenig überrascht gewesen über den Anruf, der diesem spätabendlichen Besuch vorausgegangen war. Maggie hatte sich seit der Fahrt nach Greenwich nie gemeldet, wenn er angerufen hatte. Er hatte sowieso vorgehabt, heute nach ihr zu sehen, aber sie war ihm zuvorgekommen. Er saß in ihrem Wohnzimmer, während sie ihm die Geschichte von Mim in Ägypten erzählte. Er stellte keine Fragen, hörte aber aufmerksam zu; er hielt vor lauter Konzentration den Blick gesenkt, und sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Bis sie ihren Bericht beendete, hatte Devlin Jackett und Schlips abgelegt und sich einen Scotch eingeschenkt. »Ich habe versucht herauszufinden, ob Sie auch irgendwo in der Geschichte waren, Dev«, sagte sie ernst, »und wenn, wer.« »Es kommt darauf an, wer ich jetzt bin, Maggie«, erwiderte er bestimmt. »Ich kann mir denken, wie sehr Sie das Erlebnis aufgewühlt hat, aber offen gestanden glaube ich nicht, daß irgendwas davon auch nur im geringsten etwas zur Sache tut. Erstens, man kann nicht wissen, ob es wahr ist. Zweitens, selbst wenn es wahr ist, bringt es Cody nicht zurück. Und drittens, und das ist das Wichtigste, wenn Malachy Devlin in der Ge schichte keine Hauptrolle gespielt hat, wird es diesmal anders sein, verflixt und zugenäht!« »Dev, seien Sie ernst!« sagte sie enttäuscht. Sie wußte nicht genau, was für eine Reaktion sie von ihm erwartet hatte, aber diese bestimmt nicht. »Ich bin ernst, Maggie O'Connor. Wir haben es mit dem rich-
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tigen Leben zu tun, mit Verbrechern aus Fleisch und Blut, hier und jetzt, wen schert es also, was vor fünftausend Jahren war? Was ich brauche, um Ihnen Cody zurückzuholen, sind handfeste Beweise, daß Vannier 1993 mit Drogen und Mord zu tun hat. Der Reporter, der über Maa Kheru Bescheid wußte... das ist Wirklichkeit. Die FBI-Verbindungen zwischen Vannier, Sayles und Drogen... die sind Wirklichkeit. Der Tätowierungskünstler... der ist Wirklichkeit. Dies sind Dinge, mit denen wir Ihnen Cody zurückbringen können, Maggie. Nicht mit Deutungen vergangener Leben oder Teeblätterlesen oder Mondanheulen.« »Aber Sie wissen, daß die Wirklichkeit mehr ist, als wir sehen können, Dev«, widersprach sie, erschrocken über seinen Zorn. »Sie wissen, daß dies alles wahr sein kann!« »Es ist verdammt egal, ob es wahr ist, Maggie. Es spielt keine Rolle, ob es wahr ist oder falsch oder irgendwas dazwischen. Worauf es mir ankommt, ist, etwas zu finden, das schwerwiegend genug ist, um Eric Vannier und seine dreckige kleine Bande dingfest zu machen. Ich darf mich nicht von Belanglosigkeiten ablenken lassen. Ich muß mit beiden Füßen in der Realität stehen, denn es gibt in dieser Zeit mehr als genug Mist, der mich in Bewegung hält, ohne daß ich mich auch noch um irgendwelchen Mist aus einem anderen Jahrhundert kümmere.« »Malachy Devlin!« sagte sie, als es ihr plötzlich dämmerte. »Sie sind bloß wütend, weil Sie in der Geschichte nicht vorgekommen sind. Mein Gott, Sie sind eifersüchtig!« »Jawohl, verdammt noch mal!« explodierte er. »Ich will nicht, daß Sie mit irgend jemand irgendwo in irgendeinem Jahrhundert rummachen, Maggie, außer mit mir.« Er holte tief Luft und atmete schwer aus. »Hören Sie, ich muß gehen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich führe mich auf wie ein Arschloch und verschwinde lieber, bevor ich mich vollkommen lächerlich mache...« Devlins Stimmung konnte von einer Sekunde zur anderen umschlagen. »Ich hab Ihnen was mitgebracht«, sagte er schroff und zog ein kleines ledergebundenes Buch mit einem Lesebändchen aus seiner Tasche.
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»Ich dachte, wer sein Wissen über Sex aus den Robaejat hat, hat vielleicht von einem anderen Dichter etwas über Courage gelernt.« Verwundert nahm Maggie das Geschenk aus seiner Hand. Und da zog Devlin sie plötzlich in seine Arme, so daß das Buch zwischen ihre beiden Körper geklemmt wurde. Seine eine Hand griff in ihre Haare, die andere um ihre Taille... und er küßte sie mit der ganzen hervorbrechenden Liebe und Sehnsucht, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatten. Sie spürte die Wildheit, die Verzweiflung in seinem Kuß. Und sie erwiderte den Kuß, weil es ihr das einzig Wahre schien und weil sie es wirklich wollte. Sie fühlte seine Liebe und Kraft wie einen Stromstoß, erregend, elektrisierend. O Himmel, es tat so gut, zu fühlen und nicht mehr zu denken. Könnte sie doch nur geben und nehmen, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen... Devlin ließ sie los, und sie standen da und sahen sich in die Augen, und keiner wußte, was als nächstes zu sagen oder zu tun sei. Wortlos nahm er seinen Mantel, warf ihn sich über und steuerte auf die Tür zu. Dort angekommen, sprach er, ohne sich umzusehen. »Ich kann dich jetzt lieben, Maggie «, sagte er grimmig. »Zum Teufel mit allem anderen.« Maggies Herz ratterte wie ein Preßlufthammer, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Sie hob das kleine Buch auf, das ihr, an der mit dem Lesebändchen markierten Stelle aufgeschlagen, vor die Füße gefallen war. Erinnerungen überfluteten sie, freigesetzt durch das Gedicht. Sie war in ihrer Kindheit keinen Abend ins Bett gegangen, ohne ein Gedicht auswendig zu lernen. Dieses Geschenk hatte ihr Vater ihr gemacht. Das gehört dir für immer, Margaret, hatte er gesagt. Was du auswendig lernst, gehört dir für immer. Wie viele andere Schätze sind in diesem Leben von Dauer? Wie vieles gibt es sonst noch, was dir nicht genommen werden kann? Sie trieb in einem Meer von Erinnerungen... ihr Vater hatte Gedichte so geachtet, daß er sie nur vor denen rezitierte, die er liebte. Niemals benutzte er sein großes Repertoire, wie andere
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es taten, um nichtsahnende Zuhörer mit seiner klassischen Bildung zu drangsalieren. Maggie lachte ein wenig, trotz der Tränen auf ihren Wangen; sie liebte Devlin für den Trost, liebte ihn dafür, daß er erkannt hatte, was sie brauchte. Er hatte es wieder einmal geschafft, daß sie sich lebendig fühlte und ein bißchen Hoffnung schöpfte. Sie beschloß, ausnahmsweise nicht zu versuchen zu ergründen, wo Malachy Devlin in das komplizierte Puzzle ihres Lebens paßte. Als sie zu Bett ging, stellte Maggie den kleinen Gedichtband neben Jacks Bild auf den Nachttisch. Es war natürlich absurd, aber sie dachte, wenn Jack jetzt leben würde, würde er ihr helfen, die Unwägbarkeiten dieser zwei eigenartigen Männer, die in ihr Dasein getreten waren, auszuloten. Er war ebenso ihr Freund wie ihr Ehemann gewesen... sie fragte sich, ob Peter oder Dev geeignet wäre, in der Liebe diese wichtigste aller Rollen zu übernehmen.
60 Rabbi Itzhak Levi war dreiundachtzig Jahre alt. Sein Haar war vor einem Vierteljahrhundert dünn und weiß geworden, und auch sein Bart sah zart aus wie Rauhreif, aber seine buschigen weißen Brauen glichen den ansonsten schütteren Haarwuchs aus. Seine Augen waren es, die Raphael Abraham faszinierten. Konnten Augen zugleich gütig und gefährlich sein? Abraham mußte unwillkürlich wegsehen, als hätte er ohne Schutzbrille in den Plutoniumkern eines Atomkraftwerks geschaut... als könnte er geblendet werden, wenn er den Blick nicht abwendete. Der Rabbi lächelte ein wenig, und nun schob sich der Vorhang der Güte davor, doch Abraham hatte es gesehen und würde es nicht vergessen. »Ich überbringe Grüße, Rabbi«, sagte er und reichte ihm einen Umschlag, der ein Schreiben des Premierministers enthielt. Der alte Mann nahm es höflich entgegen und bedeutete
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Abraham, sich zu setzen. Er öffnete den Brief nicht, schien auch in keiner Weise neugierig auf seinen Inhalt. »Sei so gut und sage mir, was dich im Auftrag eines so bedeutenden Mannes zu mir führt«, bat der alte Mann. Still, in abwartender Haltung, hörte er sich Abrahams Geschichte von den Amuletten an. »So«, sagte Rabbi Levi, als Abraham geendet hatte. »Eine solche Geschichte läuft mir nicht alle Tage über den Weg.« Er schloß die Augen - eine Geste, für die Abraham unendlich dankbar war - und schien mit sich zu Rate zu gehen. Dann lächelte er. »Und was genau wünscht nun der Premierminister von mir?« fragte er höflich. »Er möchte wissen, ob so etwas möglich ist, Rabbi«, sagte Abraham, den die Ruhe des alten Mannes nervös machte. »Kann ein Gegenstand, oder vielmehr, können zwei Gegenstände solche Macht verkörpern?« »Eine komplizierte Frage«, erwiderte der Rabbi. »Die einfache Antwort lautet ja. Die genauere Antwort lautet ›höchst unwahrscheinlich‹. Nicht unmöglich, beileibe nicht... nur nicht sehr wahrscheinlich.« »Und wenn diese zwei Amulette solche Macht verkörperten, könnten Sie sie dann kontrollieren?« Der Rabbi schürzte nachdenklich die Lippen und runzelte die Stirn, »Vielleicht«, sagte er, »vielleicht nicht. Da wären Mysterien im Spiel, über die man nicht offen sprechen kann. Ich müßte das Kind sehen. Es wäre hilfreich, wenn ich auch die Frau sähe. Es wäre nützlich zu erfahren, was in den alten Schriften zu dem Thema geschrieben steht. Wo hält sich die Kleine jetzt auf, wenn ich fragen darf?« »Sie ist bei ihrer drogensüchtigen Mutter und dem Stiefvater in Greenwich. Wir glauben, er ist das Oberhaupt eines Kults namens Maa Kheru.« Die ungewöhnlichen Augen sahen Abraham bohrend an. »Es wäre ratsam, davon abzusehen, einen solchen Namen laut auszusprechen. Es sind dies Worte der Macht... die Pforten, die sie öffnen, würden besser geschlossen bleiben.« Er schwieg einen
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Moment, einem Lehrer gleich, der einen an sich intelligenten Schüler getadelt hat und ihn zum Nachdenken über seinen Fehler bewegt. »Dieser Stiefvater«, sprach er dann weiter, »er ist ein Adept einer Geheimschule des Linken Pfades, wenn ich es recht verstehe?« Abraham nickte zustimmend. »Es ist anzunehmen, daß er sie nicht freiwillig gehen lassen wird.« »Wenn mein Befehl lautet, das Kind in meine Gewalt zu bringen, Rabbi, wird mich nichts davon abhalten. Ich habe eine ausgezeichnete Mannschaft - wir haben schon viele Kämpfe erlebt.« »Und von der anderen Welt, mein Junge... was hast du da erlebt, hm?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Darf ich erfahren, was der Staat Israel mit diesem Kind und seinen Amuletten zu tun beabsichtigt, nachdem du und deine tapfere Mannschaft sich ihrer bemächtigt habt?« »Sie sollen nach Tel Aviv gebracht werden.« »Ah, ich verstehe. Du wirst mir verzeihen, wenn ich sage, daß Tel Aviv vielleicht nicht der Ort ist, wo die kühlsten Köpfe herrschen. Du wirst mir vielleicht verzeihen, wenn ich frage, wer in Tel Aviv so heilig ist, daß er etwas mit diesem Kind und seinen magischen Amuletten anzufangen weiß.« Er kicherte ein wenig und erhob sich; nur eine leichte Unsicherheit verriet sein Alter. Abraham begriff, daß die Unterredung zu Ende war. »Rabbi«, sagte er. »Als ich hierherkam, war ich mir ganz sicher, daß diese Geschichte lächerlich ist. Jetzt frage ich Sie... was geschieht mit der Welt, wenn die Geschichte wahr ist?« »Ah, du suchst etwas Neues, dessen du sicher sein kannst? So. Was geschehen wird? Nur das, was Gott wünscht, mein Junge«, sagte Rabbi Itzhak Levi augenzwinkernd. »Dessen darfst du sicher sein.«
61 »Ich habe unseren vermißten Reporter aufgespürt, Maggie«, sagte Devlin, als sie im Washington Square Park spazierengin-
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gen. »Das heißt, ich weiß, was aus ihm geworden ist. Sein Name war Fellowes, und wie es aussieht, ist er vor ein paar Jahren bei einem Autounfall auf dem Jersey Turnpike ums Leben gekommen. « »Bedeutet das, es läßt sich nicht mehr feststellen, ob er wirklich Beweise gegen Maa Kheru besaß?« Er schüttelte den Kopf. »Das weiß ich noch nicht. Ich will mich morgen mit seiner Frau treffen. Reporter können verschwiegen sein, was ihre Quellen angeht, aber wenn er wirklich von dieser Sache besessen war... manche Ehefrauen wissen über alles Bescheid, was ihre Männer beruflich machen, andere haben keinen Schimmer. Kommt ganz darauf an, was für eine Ehe sie geführt haben.« Sie gingen ein paar Minuten schweigend weiter, dann fragte Maggie ruhig: »Warum hast du eigentlich nicht wieder geheiratet, Dev?« Der Tag war milder als der vorige, und die Verheißung von Frühling hatte ihrer beider Stimmung ein wenig gehoben. »Weil ich dich noch nicht kannte«, antwortete er grinsend. Sie lachte. »Das ist sehr schmeichelhaft, aber mal im Ernst. Du hattest bestimmt Gelegenheiten genug.« »Ich weiß nicht, Maggie. Wir sind so verschieden, Männer und Frauen. Verschiedene Vorlieben, verschiedene Bedürfnisse. Wenn ich über Freuds Frage nach den Wünschen der Frauen nachdachte, habe ich mich gewundert, warum eigentlich noch nie jemand eine Liste aufgestellt hat, so eine Art Spickzettel, ›Dinge, die Männer über Frauen wissen sollten.‹« Maggie lächelte verschmitzt. »Soll ich dir eine aufstellen?« Er sah sie an, ob sie es ernst meinte. »Sie müßte grundehrlich sein, Maggie«, antwortete er. »Die reine, ungeschminkte Wahrheit.« »Ich will sehen, was ich tun kann«, erwiderte sie amüsiert. Wenn sie diesen netten Mann lieben würde, hätte sie sich nie auf ein solch aufschlußreiches Unterfangen eingelassen, aber so... Nachdem sie sich getrennt hatten, machte Maggie sich eine Tasse Tee, dann setzte sie sich mit einem Notizbuch an den Küchentisch, neben das sonnigste Fenster im Haus. Es war
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wirklich eine interessante Frage: Was möchtest du, daß Männer von Frauen wissen? Kurz überlegte sie, ob sie vielleicht Ellie und Amanda bitten sollte, sich an der Aufstellung zu beteiligen. Nein. Das ist meine Liste. Fast ohne es zu wollen, begann Maggie, die Jahre zu durchforsten und alle Männer, die sie gekannt hatte - Verwandte, Geliebte, Freunde. Was hatte sie sich von ihnen gewünscht, erträumt, erhofft? Was wäre anders gewesen, wenn sie es gewußt hätten? Sie überlegte lange, dann schrieb sie ihre Liste, und sie bemühte sich sehr, unzweideutig zu sein. Sie strich einen Ge danken durch, der sie verlegen machte, dann schrieb sie ihn wieder hin. Grundehrlich oder gar nicht. Sie war gespannt, ob er es verstehen würde. Maggie las das Geschriebene zweimal durch, bevor sie das Blatt in einen Umschlag steckte und ihn mit Devlins Anschrift versah. Dann beschloß sie impulsiv, ihn persönlich hinzubringen. Und zwar rasch, bevor ich den Mut verliere. Sie fragte sich flüchtig, wie seine Wohnung sein mochte... was würde sie darüber aussagen, wie er wirklich war? Und was würde er von ihr denken, wenn er diese seltsame Aufstellung von Wünschen las, die Aufschluß darüber gab, wer sie war?
62 Devlin lehnte sich zurück und starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand - Mrs. Fellowes' Adresse in New Jersey. Peapack, na so was. Jagdgebiet. Kaum die Gegend, wo man die Witwe eines Reporters vermuten würde. Er sah auf die Uhr. Mit etwas Glück konnte er um halb sieben dort sein. Er schob den endlosen Stapel Papiere in eine freie Ecke des Schreibtisches und ging zur Garage. Das Haus war groß und weitläufig, ein Neubau, der Alter und Gediegenheit vortäuschen sollte. Zwei Autos standen protzig in der Einfahrt; Devlin notierte sich die Nummernschilder, bevor er läutete.
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»Mrs. Fellowes?« fragte er die große, mollige Brünette, die ihm in einem seidenen Morgenrock öffnete. »Ja?« Er wies sich mit seiner Plakette aus. »Lieutenant Devlin, Polizei New York«, sagte er. »Ich möchte Ihnen gerne ein paar Fragen über Ihren verstorbenen Mann stellen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Sie runzelte die Stirn. »Es macht mir allerdings etwas aus, Lieutenant. Wie Sie sehen, ziehe ich mich gerade für eine Abendeinladung um.« »Nur zehn Minuten, Mrs. Fellowes«, schmeichelte er mit seinem nettesten irischen Lächeln. »Keine Minute länger, ich gebe Ihnen mein Wort. Es wäre mir wirklich eine große Hilfe. Und die Zeit drängt.« Mit ein bißchen Charme konnte man Berge versetzen. »Nicht eine Minute mehr«, sagte sie argwöhnisch und hielt die Tür gerade weit genug auf, um ihn einzulassen. Das Innere des Hauses war ebenso beeindruckend wie die Fassade: teure Kunst, teure Möbel, teure Teppiche, und nichts davon alt. Dies waren nicht die liebevoll abgenutzten Familienerbstücke der Immerreichen. »Nehmen Sie Platz, Lieutenant«, sagte sie mit einer Stimme wie Eiswasser. »Was kann ich für Sie tun?« »Der Unfall Ihres Mannes, Mrs. Fellowes. Es ist mir unangenehm, alte Wunden aufzureißen, aber wenn Sie mir ein bißchen darüber erzählen könnten?« »Da gibt es eigentlich nichts zu erzählen. Ein Unfall auf dem Jersey Turnpike - die Polizei meinte, er hatte möglicherweise einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Er kam mit Tempo hundertvierzig von der Straße ab und krachte gegen eine Fels wand. Das Auto explodierte, und er wurde getötet. Ende der Geschichte.« Versuche, deinen Schmerz zu unterdrücken, dachte er sarkastisch. Keine Tränen, nicht einmal vorgetäuschte. »Ich verstehe. Und wurde damals der Verdacht geäußert, daß ein Verbrechen im Spiel war? Hatte Ihr Mann Feinde, die ihn aus dem Weg haben wollten?«
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»Verbrechen?« erwiderte sie ungläubig. »Wie kommen Sie auf die Idee? Jim hatte keine Feinde. Es war ein Unfall. Schlicht und einfach.« »Keine Feinde, Mrs. Fellowes? Bei seiner Art von Arbeit, wäre das nicht ein bißchen ungewöhnlich?« Jetzt war es an Devlin, ungläubig zu sein. »Bei gut recherchierten Reportagen kommt es schon mal vor, daß jemand Federn lassen muß... er war einer Art okkulten Gruppe auf der Spur, nicht wahr? Maa Kheru hieß sie, glaube ich.« Mrs. Fellowes lachte; es klang unecht. »Dieser Bockmist? Verzeihen Sie, Lieutenant, aber bei meinem Mann saß eine Schraube locker, was diesen Quatsch betraf. Er hat kostbare Zeit für ein absolutes Hirngespinst verschwendet.« Sie erhob sich und zog ihren Morgenrock enger um sich. »Bedaure, Lieutenant. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr.« Mit einem einschmeichelnden Lächeln stand Devlin augenblicklich auf. »Sie haben mir sehr geholfen, Mrs. Fellowes. Und bitte entschuldigen Sie, daß ich so ungelegen kam. Ich habe wirklich nur noch eine einzige Frage, dann überlasse ich Sie Ihrer Abendgesellschaft. Es ist vielleicht etwas unverschämt, aber meine Arbeit läßt mir keine Zeit für die feineren Umgangsformen ...« »Worum geht es, Lieutenant?« fragte sie. Die wachsamen blauen Augen blickten leicht amüsiert. »Dieses Haus... die Möbel... ich bin kein Experte, aber sie sehen teuer aus. Hatte Ihr Mann eine hohe Versicherung abgeschlossen oder so was? Das tun Reporter gewöhnlich.« Mrs. Fellowes lächelte; sie schien mehr Zähne zu haben als unbedingt nötig. »Er war versichert, Lieutenant, und ich bin ein As an der Börse. Ein absolutes As.« Devlin nickte. Sie war keine gute Lügnerin, nur großspurig. »Übrigens, nur um mir unnötige Zeit für Nachforschungen zu ersparen... hatte Ihr Mann noch andere Verwandte?« fragte er, als sie ihn hinausließ. »Nein«, antwortete sie freundlich. »Keinen einzigen.« »Hat er zufällig Papiere hinterlassen, die mit seinen Recherchen über Maa Kheru zu tun haben?«
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»Wieder Pech gehabt, Lieutenant«, sagte sie liebenswürdig. »Die sind alle mit ihm verbrannt, leider.« Devlin ließ den Wagen an und rief die Zulassungsnummern der Autos in der Einfahrt ab. Dann fragte er nach Garibaldi. »Du mußt einen Verwandten für mich ausfindig machen, Gino«, sagte er, als der Detective sich meldete. »Ich kann dir einen von mir abgeben«, erwiderte Garibaldi mit einem kurzen Lachen. Devlin kicherte; dies bewirkte Garibaldi fast immer bei ihm. Er war ein zu guter Mensch, um ihn an einem schlechten Tag um sich zu haben. »Reporter namens James Fellowes, gestorben am 9. Januar 1987, Jersey Turnpike, Verkehrsunfall. Arbeitete für Times, Newsweek, gute Presse... ich muß einen lebenden Verwandten finden - nicht die trauernde Witwe. Okay?« »Alles klar. Kommst du her?« »Ja. In zwei Stunden vielleicht. Und, Gino... das bleibt unter uns, hm?« »Aye, aye, Lieutenant. Ich halt den Mund. Bis nachher.« Mrs. Fellowes ist eine interessante Bereicherung der wachsenden Menagerie, dachte Devlin, als er losfuhr. Was hatte sie zu verbergen? Sie war nicht gramgebeugt und wirkte nicht ängstlich. Vielleicht hatte sie selbst Dreck am Stecken. Das Telefon piepte. Er hob ab. »Devlin.« »Würdest du einer Nonne glauben?« Garibaldis Stimme war schwungvoll wie immer. »Ich würde sogar dem Papst glauben, wenn's drauf ankäme.« »Fellowes hatte eine Schwester, Janice. Jetzt Schwester Cecilia Concepta von der Blauen Kapelle in Parsippany. Eine Art kontemplativer Karmeliterorden... du weißt schon, die Schweigegelübde ablegen, was ich bei Weibern schon immer für 'ne prima Sache hielt.« Devlin grinste. »Hast du die Adresse? Ich bin gerade in Jersey. « »Klar doch. Troy Hills Avenue achtzehnnull-drei, Parsippany, 201-555-6023. Die Schwester Oberin heißt Immaculata Stevens.«
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»Wie hast du das so schnell rausgekriegt?« »Hervorragende Polizeiarbeit, und der Mann meiner Schwester hat eine Nichte in der Nachbarpfarrei.« Devlin grinste. »Hätt ich mir denken können, daß es reiner Dusel war.« »Immaculata Stevens würde es vermutlich vorziehen, es einen Akt Gottes zu nennen«, erwiderte Garibaldi verschmitzt. »Hey, Lieutenant, was sagst du dazu? Janice, die übrigens zweiunddreißig ist, ist erst zwei Wochen nach dem Feuertod ihres Bruders ins Kloster eingetreten.« »Danke, Gino. Das ist eine große Hilfe.« Devlin lächelte, als er den Hörer auflegte. Ein Akt Gottes wäre eine willkommene Bereicherung. Die Blaue Kapelle stand auf einem stillen Hügel in der kleinen Gemeinde in New Jersey, weitab von der Hektik Manhattans. Richtig klösterlich sah es hier aus, fand Devlin, als er vorfuhr. Eisengitter versperrten die Pforte, und die strenge Architektur war nicht für Gartenfeste gedacht. Er forschte in seiner Ge dächtniskartei nach Schnipseln über den Karmeliterorden. Er wußte, daß sie Armuts-, Keuschheits-, Gehorsams - und Schweigegelübde ablegten, und er hatte sich schon immer gefragt, was ein junges Mädchen dazu bewegen konnte, in eine solch abweisende Welt einzutreten. Aber er hatte nie daran gedacht zu fragen, um was sie so hingebungsvoll beteten. Vielleicht würde er Immaculata Stevens fragen. Devlin läutete und wartete. Ein kleines Guckloch wurde geöffnet, und zwei Augen spähten neugierig hinaus. Er wies kurz seine Plakette vor und fragte nach Schwester Cecilia Concepta. Die Augen blickten erschrocken, dann schloß sich das Guckloch mit einem abweisenden Klicken wie eine Zellentür in Einzelhaft. Neue Augen erschienen am Guckloch - ältere, klügere Augen. »Ich bin die Oberin dieses Klosters«, sagte eine typische Nonnenstimme, die ihm aus seiner Kindheit vertraut war, jene Stimme, die einen Altardiener die Furcht Gottes lehren konnte, wenn er das Meßkännchen für die Opferung zu spät hochhob.
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»Wir sind ein abgeschiedener Orden, und es ist schon spät. Würden Sie bitte sagen, was Sie hierherführt, und machen Sie es kurz.« Manche Dinge ändern sich nie, dachte er, und er war wieder neun Jahre alt. »Ich untersuche einen Fall, bei dem es sich möglicherweise um Mord handelt, Schwester, und einen Fall von Kindesmißhandlung, wobei Satanismus im Spiel sein könnte. Sie haben hier eine Schwester namens Janice Fellowes, die uns vielleicht helfen kann. Bitte entschuldigen Sie die Störung, und das zu dieser späten Stunde, aber es ist dringend. Ich gebe Ihnen mein Wort, Schwester, daß ich in diesem Fall auf Gottes Seite bin.« »Das war Luzifer auch eine Weile«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, aber er hörte, daß der Riegel zurückgeschoben wurde, und die Tür öffnete sich einen Spalt. »Schwester Immaculata«, sagte er, während er die aristokratische Erscheinung abschätzte: groß, selbstsicher, unergründlich. Du mußt sie für dich einnehmen; wenn du in die Offensive gehst, erreichst du gar nichts. »Ich bin Detective Lieutenant Malachy Devlin. Ich wäre nicht hier, wenn es nicht dringend wäre.« Sie nickte wortlos und führte ihn durch einen dunklen Flur in die Stille des Klosters. »Sie können mir darlegen, was Sie mit Schwester Cecilia zu besprechen haben, Lieutenant«, sagte sie, als er in ihrem Studierzimmer Platz genommen hatte. »Dann werde ich entscheiden, ob es dringend genug ist, um den Seelenfrieden der Schwester zu stören oder sie von ihrem Schweigegelübde zu entbinden.« Er berichtete, und sie hörte zu. »Eine höchst betrübliche Geschichte«, sagte sie verständig, als er fertig war. »Ich werde für die Großmutter und für das Kind beten. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Schwester Cecilias Wohl liegt in meinen Händen, und leider sehe ich aufgrund dessen, was Sie mir soeben vorgetragen haben, keine Möglichkeit auf dieser Erde, wie Sie mich überzeugen könnten, daß es zu ihrem Besten ist, in diese Widerwärtigkeit verstrickt zu werden.«
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Devlin sah ihr direkt in die undurchdringlichen stählernen Augen. »Dann tun Sie es nicht für irgend etwas auf dieser Erde, Schwester«, sagte er. »Tun Sie es, weil es rechtens ist.« Sie starrte ihn einen Moment verblüfft an, dann lachte sie lauthals. »Darf ich auf eine Jesuiten-Erziehung schließen, Lieutenant? Ignatius wäre stolz auf Sie.« Sie erhob sich; er hatte das Gefühl, eine Kaiserin stehe vor ihm, und erhob sich ebenfalls. »Ich werde Schwester Cecilia von ihrem Schweigegelübde entbinden, um mit Ihnen zu sprechen... doch nur, wenn es ihr Wunsch ist. Ich meine, sie wäre eine Närrin, wenn sie es tun würde.« Sie wandte sich zum Gehen. »Um mit Franz von Assisi zu sprechen«, sagte er zu dem sich entfernenden Rücken, »muß jeder von uns zuweilen Gottes Narr sein, Schwester.« Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, spürte aber ihr Lächeln. Devlin starrte aus dem Fenster des Studierzimmers der Äbtis sin hinunter auf die friedliche, dunkle Straße. Schwer vorstellbar, daß das Böse eine stille, verschlafene Stadt wie diese berühren konnte. Er seufzte. Er war zu lange Polizist gewesen, um sich einzubilden, daß es irgendwo einen unantastbaren Ort gäbe. Kurz darauf kehrte Schwester Immaculata zurück, lautlos gefolgt von einer kleinen, zierlichen jungen Frau im Nonnenschleier. Sie sah sanft und verschreckt aus wie ein Reh, und sie hatte offensichtlich geweint. Ihre Stimme schwankte, als sie sprach. Devlin fragte sich, ob dies vom Nichtgebrauch kam oder von den Gefühlen, gegen die sie ankämpfte. »Ich habe meinen Bruder sehr geliebt, Lieutenant«, begann sie, und ihr Kummer untermalte die schlichten Worte. »Er war ein wunderbarer Mensch, ein wunderbarer Reporter. Ihm lag soviel an...« Ihre Stimme kippte, und sie blickte in ihren Schoß, wo sie ihre Hände faltete und öffnete; dann sah sie Mut heischend zu der Schwester Oberin auf. »Wir waren eine sehr fromme Familie. Jimmy hat stets die heiligen Sakramente empfangen. Er war ein sehr guter Mensch... sehr moralisch, aufrichtig, ehrenhaft, durch und
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durch gut...« Ihre Stimme brach, und sie holte Luft. »Wenngleich seine Arbeit ihn oft in merkwürdige, gefährliche Gesellschaft führte. Ich habe mir deswegen Sorgen um ihn gemacht. Vor zehn Jahren schrieb Jimmy für Newsweek einen Bericht über einen satanischen Mord... er war wie besessen davon, es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Zuerst wollte er nicht mit mir darüber sprechen, doch nach und nach entschlüpfte ihm dies und jenes. Er erzählte mir, er habe Beweise über eine Gruppe sehr mächtiger Männer und Frauen zusammengetragen, die Satan für uneingeschränkte Macht, Reichtum und Ruhm ihre Seelen verkauft hatten. Er konnte die Namen nicht glauben, die er aufdeckte... sie waren so prominent, daß er sprachlos war. Ich kann mich nur an ein paar Namen erinnern, aber es waren lauter schrecklich wichtige Leute, Lieutenant. Es schien einfach nicht möglich, aber Jimmy sagte, er hätte Beweise, daß da Leute beteiligt waren wie Senator James Trant, der Rockstar Iscariot, General John Pinkham, dieser Gastgeber bei Fernseh-Talkshows, Nicholas Sayles...« Sie sah Devlin verzweifelt an. »Die Liste war ein regelrechtes Who's Who von prominenten Männern und Frauen - wenn das stimmte, hätte das für die Gesellschaft unermeßliche, zerstörerische Folgen gehabt. Ich glaube, mein Bruder hatte allmählich das Gefühl, eine Art heiligen Kreuzzug zu führen, um diese entsetzliche Gefahr aufzudecken, aber die Medienleute hatten für seine Darstellungen nur taube Ohren.« Die junge Nonne hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln, und die Äbtissin reichte ihr ein Glas Wasser, das sie dankbar trank. Devlin hatte beschlossen, sie nicht zu unterbrechen, sondern sie die Geschichte auf ihre Art erzählen zu lassen; die Lücken konnte er später schließen. Janice Fellowes schien einen systematisch arbeitenden Verstand zu haben. »Vor vier Jahren«, sprach sie weiter, »hat Jimmy mich eines Abends besucht. Er war schrecklich aufgeregt, beunruhigter, als ich ihn je gesehen hatte. Mein Bruder war in Vietnam gewesen, Lieutenant... er hatte über Tumulte und Morde berichtet... mein Bruder ließ sich nicht so leicht Angst einjagen. Aber an jenem Abend war Jimmy ein Nervenbündel. Er erzählte mir, er
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glaube, daß Terry, seine Frau, seine Recherchen gelesen und ihn an die Satanisten verraten habe. Wenn das stimme und sie wirklich hinter ihm her seien, könnten sie ihn nicht am Leben lassen, weil er inzwischen viel zu viele Beweise gegen sie hätte.« Sie biß sich auf die Lippe und rang um Beherrschung, ehe sie fortfuhr. »Er gab mir einen Schlüssel und eine Kennkarte für ein Schließfach in der Chase Manhattan Bank auf der Forty-third Street und sagte mir, ich dürfe ihn niemals, unter keinen Umständen, aus der Hand geben oder irgend jemand wissen lassen, daß ich ihn habe. ›Sie sind rings um uns, Jan‹, sagte er in verzweifeltem Ton. ›Sie sind überall, mein Herz. Man weiß nicht, wem man trauen, wohin man sich wenden kann. Du mußt diesen Schlüssel für mich verwahren, bis ich weiß, was ich tun soll. Du bist jetzt die einzige, auf die ich mich verlassen kann!‹ Er sagte, er hätte am nächsten Morgen eine Verabredung mit einem wichtigen Beamten in Quantico. Der Mann war ein alter Vietnam-Kamerad von Jimmy, und er hatte versprochen, ihm zu helfen.« Die junge Nonne sah Devlin an. Tränen schimmerten in ihren Augen und auf ihren blassen Wangen. »Mein Bruder ist nie bis Quantico gekommen, Lieutenant. Er verlor auf dem Turnpike die Kontrolle über seinen Wagen, und er konnte nicht heraus und verbrannte.« Sie hielt abermals inne, um sich zu beruhigen. »Ich nahm den Schlüssel an mich, und am Tag nach der Beerdigung meines Bruders verbrachte ich acht Stunden im Tresorraum der Chase Manhattan Bank mit der Lektüre seiner Recherchen. Ich kann Ihnen unmöglich sagen, wie erschüttert ich war. O Gott, ich wünschte, ich hätte nie etwas davon gesehen! Ich wünschte, mein lieber Jimmy hätte nie von Maa Kheru gehört! Ich habe die Papiere wieder eingeschlossen. Sie sind noch dort. Am nächsten Tag ersuchte ich Schwester Oberin um Aufnahme in den Karmeliterorden. Ich wurde als Novizin angenommen und bin seitdem nicht von hier fortgegangen. Es gibt keine weltliche Möglichkeit, sie zu besiegen. Nur hier, bei Gott, kann ich meinen kleinen Beitrag leisten, sie zu bekämpfen. Ich
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gebe Ihnen den Schlüssel, weil Schwester Oberin sagt, daß ich es tun soll. Möge Gott Ihnen gnädig sein, Lieutenant... und möge Gott mir gnädig sein, da ich Sie in eine solch schreckliche Gefahr gebracht habe.« »Wenn der Schwester irgend etwas zustößt, werde ich Sie persönlich dafür zur Rechenschaft ziehen.« Die alte Stimme Gottes, wenn man das Lineal auf die Knöchel bekam, dachte Devlin und lächelte im stillen. »Mit Ihnen zur Seite, Schwester, ist sie mindestens so sicher aufgehoben wie im Tresorraum der Chase Manhattan Bank«, sagte er, und er meinte es ernst. Schwester Cecilia wurde entlassen, und Schwester Immaculata erhob sich, um Devlin hinauszubegleiten. Als sie den Riegel an der schweren Eingangspforte zurückschob und zur Seite trat, um ihn vorbeizulassen, fragte sie: »Wissen Sie, was wir hier tun, Lieutenant?« »Ich weiß nur, daß Sie stumm vor dem Altarsakrament beten, Schwester.« »Von dem Augenblick an, wenn sich das schmiedeeiserne Tor hinter uns schließt, Lieutenant«, sagte sie mit großem Ernst, »das uns trennt von Heim, Familie, Freunden und der Welt, weihen wir, die wir in den kontemplativen Karmeliterorden eintreten, uns einer einzigen Sache: Wir kämpfen auf der Seite Gottes für die Seelen, die von Satan und seinen Legionen gequält werden. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr halten wir Wache vor dem Altarsakrament. Im Acht-Stunden-Wechsel beten wir für diejenigen, die von dem Bösen gemartert werden. Sie werden feststellen, Lieutenant, daß es wenige Priester gibt, die einen Exorzismus vornehmen dürfen, ohne uns oder unseresgleichen zuvor um Hilfe zu ersuchen.« Sie lächelte das glatte, aber aufrichtige Lächeln einer Herrscherin, die sich auf einer menschlichen Ebene mit einem aufsässigen Untertan zu unterhalten wünscht. »Ich erzähle Ihnen das nicht aus Stolz, Lieutenant Devlin, sondern weil ich Sie wis sen lassen möchte, daß Sie nicht ohne Unterstützung gegen diesen Widersacher in den Kampf ziehen.«
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Die Geste der Frau rührte ihn. Er sah ihr in das unerschütterlich strenge Gesicht. »Und wenn die Hölle den Weg versperrt, Schwester...«, sagte er mit einem schiefen Lächeln, »ich würde jederzeit an Ihrer Seite kämpfen.« Sie nahm das Kompliment mit einem leichten Zucken des Mundes entgegen, das Heiterkeit hätte sein können. Dann stand er allein auf der Treppe und blickte in die Dunkelheit. Devlin kam erschöpft und beunruhigt nach Hause. Er konnte nicht vor morgen früh zur Chase Manhattan Bank gehen, aber er fühlte, daß schlechte Nachrichten auf ihn zukamen, und je schlimmer die Nachrichten wurden, desto mehr Angst hatte er um Maggie. Automatisch sah er in den Briefkasten, bevor er den Schlüssel in das Schloß des Vestibüls steckte. Rechnungen, Plunder, gesammelter Mist. Welch ein Verbrechen, Bäume für die Produktion von solchem Schund zu verschwenden. Ein Umschlag ohne Briefmarke, in einer Frauenhandschrift beschrieben, lag zuunterst in dem Haufen. Devlin betrachtete die Schrift und lächelte. Auf der Verschlußkappe stand: Mrs. Margaret Cavan O'Connor. Maggie. Noch im Flur stehend, öffnete er den Umschlag. Er enthielt zwei handbeschriebene Blätter. Hastig stopfte er die übrige Post in die Einkaufstüte, die er im Laden an der Ecke mitgenommen hatte, und eilte in seine Wohnung. Er warf die Tüte auf den Tisch, machte das Licht an und konzentrierte sich auf den Brief in seiner Hand. Sie hatte ihn nicht einfach mit der Post geschickt, sie hatte ihn persönlich vorbeigebracht. Aber es war gar kein Brief. Nur gelb liniertes Papier, auf dem stand: »Dinge, die Männer über Frauen wissen sollten: Frauen wollen, daß man ihnen zuhört. Sie ermutigen keine Vergewaltiger. Sie sehnen sich nach Romantik und Zärtlichkeit. Sie wollen, daß man an Geburts- und Gedenktage mit derselben Begeisterung denkt wie an Kriegsdaten, Hockey- und Baseball-Entscheidungsspiele. Ihre Klitoris will zärtlich behandelt werden, nicht roh. Sie haben keinen Heidenspaß am Putzen von Herden
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und Badezimmern. Sie weinen nicht, weil sie schwach sind, sondern weil sie zu ihren Gefühlen stehen. Selbst wenn sie stark sind, fühlen sie sich gerne beschützt. Sie würden manchmal gerne im Bett liegen, wann es ihnen paßt, nicht dem Mann. Sie wollen mit fünfundvierzig nicht ›Mädels‹ genannt werden. Sie wollen geliebt, begehrt und geachtet werden, nicht nur in der Zeit der jungen Liebe, sondern immer. Bestimmte Dinge darf man ihnen gegenüber nicht ungesagt lassen.« Er setzte sich an den Tisch und las die Liste noch zweimal, und er fragte sich, weshalb sie ihn so traurig stimmte. Devlin und Schwester Cecilia Concepta trafen sich am nächsten Morgen vor der Chase Manhattan Bank, die um acht Uhr öffnete. Nachdem die Schwester ihn in den Tresorraum eingelassen hatte und mit dem von ihm zur Verfügung gestellten Streifenwagen abgefahren war, setzte er sich mit einem Pappbecher Kaffee und Jim Fellowes' auführlichen Aufzeichnungen hin. Nach fünfzehn Jahren bei der Polizei von New York City glaubte Devlin, alles gesehen zu haben. Er hatte sich geirrt. »Verflucht!« flüsterte er, als er drei Stunden später das letzte zerknitterte Blatt hinlegte. »Verfluchte Scheiße!« Er stopfte die Papiere in den Kasten zurück, als ob sie vergiftet wären, und saß lange Zeit, den Blick starr auf die behörden-beigefarbene Wand vor ihm gerichtet. Dann zog er ein Taschentuch heraus, wischte sich die Augen und putzte sich die Nase in dem Bemühen, sich zu fassen, bevor er den Kasten wieder dem Safe im Tresorraum übergab. Das war eine Riesensache, weitreichend und sehr schlimm.
63 Cody lag im Bett, sie war traurig, und ihr war schlecht vor Hunger. Zuerst hatte Ghania gesagt, sie bekäme kein Frühstück und kein Mittagessen, und dann wollte sie ihr auch kein Abendessen geben. Jetzt hatte sie richtig Bauchweh. Es war ein brennender Schmerz, der sich nicht unterdrücken ließ. Sie versuchte, nicht
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daran zu denken, aber das war wirklich schwierig. Vielleicht würde sie morgen auch kein Frühstück bekommen, weil sie das gräßliche Zeug nicht trinken wollte. Nicht trinken konnte. Selbst wenn sie es wollte, es passierte jedesmal etwas Unheimliches mit ihr, wenn der Becher ihre Lippen berührte. Cody ging ins Badezimmer und holte sich ein Glas voll Wasser, aber das half nicht, und so zog sie ihren Teddy wieder hervor und zählte ihre Schätze. Es waren jetzt sechs, aber den Knopf hatte sie immer noch am liebsten. Sie legte sich neben den Teddy aufs Bett und nahm den Knopf in den Mund. Er war kühl und angenehm. Sie mußte dabei an Eis denken. Das wünschte sie sich mehr als alles andere. Die Sorte Vanilla Crunch, die Mim ihr immer bei Häagen-Dazs auf der Eight Street kaufte. Das würde das Feuer in ihrem Bauch löschen. Cody lutschte lange Zeit an dem Knopf, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel. Maggie drehte sich im Bett herum und sah auf die Uhr auf dem Tisch. Sie blinzelte, drei Uhr achtundvierzig. Hunger hatte sie geweckt, aber wieso um alles in der Welt war sie mitten in der Nacht hungrig? Was immer der Grund war, das beharrliche hohle Gefühl im Magen zwang sie aus dem Bett. Sie warf sich einen Morgenrock um die Schultern, schlüpfte in Pantoffeln und ging in die Küche. Verschlafen öffnete sie den Gefrierschrank und nahm eine zu zwei Dritteln geleerte Packung Häagen-Dazs heraus. Erst als sie die Hälfte des restlichen Vanilla Almond Crunch verzehrt hatte, merkte sie, daß sie mit Codys Löffel aß.
64 Ellie öffnete Devlin die Tür und lächelte, als sie seine besorgte Miene sah. Offensichtlich dachte er, sie habe ihn angerufen, weil mit Maggie etwas nicht stimmte. »Gut, daß Sie kommen, Dev«, sagte sie und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Peter schon auf der Couch Platz genommen
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hatte. Der Priester erhob sich und reichte dem Neuankömmling die Hand, aber es war unübersehbar, daß ihre gegenseitige Antipathie der Herzlichkeit etwas Gezwungenes gab. »Ich habe Sie beide aus einem besonderen Grund hergebeten«, begann Ellie. »Ich muß mich Ihrer Hilfe für Maggie versichern, doch zuerst muß ich klare Verhältnisse schaffen.« Sie atmete tief und setzte sich. »Ich will gleich zur Sache kommen... es bleibt keine Zeit für Albernheiten, und ich habe in Zweideutigkeiten noch nie einen Sinn gesehen.« Sie sah zuerst Peter, dann Devlin an. »Ich weiß, daß Sie beide Maggie lieben«, sagte sie. »In welchem Ausmaß, das geht mich nichts an. Ich weiß auch, daß Sie ihr beide helfen wollen. Ich habe gewisse Kenntnisse davon, was sich zwischen heute und dem Dreißigsten ereignen wird, und das ist etwas, das die Feindseligkeit, die Sie einander entgegenbringen, gefährlich macht.« Beide Männer fingen an, Fragen zu stellen, und sie hob die Hand, um den Wortschwall abzuwehren. »Nein. Nein! Ich kenne den Ausgang nicht. Nur einige Szenen des Dramas wurden mir offenbart, aber soviel weiß ich: Sie haben jeder eine Rolle zu spielen, die entscheidend ist für einen guten Ausgang. Deswegen können Sie es sich nicht leisten, Ihr Urteilsvermögen oder Ihre emotionale Stabilität von Ihrer Feindschaft trüben zu lassen. Wegen Eifersüchteleien wurden schon Kriege verloren. Sie sind beide starke, mutige Männer - und jeder von Ihnen kämpft auf seine einzigartige Weise für Maggie. Wären Sie sich unter anderen Umständen begegnet, hätten Sie Ihren gegenseitigen Wert wohl erkannt und wären vielleicht sogar Freunde geworden ...« Sie lächelte aufrichtig. »Mir ist durchaus bewußt, daß Sie, Dev, mich für leicht verrückt halten.« Sie wandte ihr Lächeln dem Priester zu. »Und Sie, Peter, halten mich für leicht suspekt, weil ich die Götter aus einer anderen Perspektive sehe als Sie. Trotzdem glaube ich, daß Sie beide mich instinktiv mögen, und als gute Menschenkenner wissen Sie vermutlich, daß ich Maggie in aufrichtiger Freundschaft verbunden bin.
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Ich möchte Sie beide bitten, daß Sie einander dieselbe Toleranz entgegenbringen wie mir - und aus genau demselben Grund.« Zu ihrer Belustigung blickten die beiden Männer wie begossene Pudel drein. In jedem Mann schläft ein kleiner Junge, würde ihre russische Großmutter verständnisvoll gesagt haben. Ellie entschuldigte sich unter dem Vorwand, in die Küche zu müssen. Was sie zu klären hatten, mußte unter vier Augen geschehen. Devlin stand auf; er strahlte Spannung aus wie ein Kraftfeld. »Hören Sie, Peter«, sagte er. Er vermied mit Bedacht die respektvolle Anrede Pater, um ja keine Zugeständnisse zu machen. »Ich liebe Maggie. Ich weiß nicht, ob sie mich will, jetzt oder irgendwann. Aber ich liebe sie, und ich werde alles tun, um ihr zu helfen, Cody zu retten.« Er hielt inne, dann fuhr er rasch fort: »Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen beiden ist... und ich will es auch gar nicht wissen, weil ich nicht glaube, daß etwas dabei herauskommen kann. So wie ich es sehe, ist das einzige, was Sie ihr bieten können, eine Art endlose hirnverwirrende Seelensuche, die ihr die Eingeweide rausreißt, während sie Ihnen das Gewissen erleichtert. Sie hat was Besseres verdient. Ich weiß, Sie sind klug, und ich respektiere das. Ich bin sogar bereit, zu glauben, daß Sie es gut meinen mit Maggie und Cody. Aber der springende Punkt ist, Sie sind ein Priester, kein Mann.« Peter quittierte die Kränkung mit finsterer Miene, sagte aber nichts. »Und selbst, wenn Sie sie erobern würden«, sprach Devlin hastig weiter, »wüßten Sie nichts mit ihr anzufangen. Aber ich, weil ich mich mit Frauen auskenne. Und weil ich alt genug bin, um zu wissen, worauf es im Leben ankommt und wie man es anpackt - denn ich habe gesehen, wie unachtsam Männer mit den Frauen umgehen, die sie angeblich lieben. Herrgott, ich bin selbst so unachtsam gewesen. Und ich weiß, wie leicht man sie als selbstverständlich nimmt und sich denkt, es kommt immer wieder eine andere um die Ecke. Aber es gibt keine anderen Maggies. Und wenn sie mich will, werde ich verdammt gut auf
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sie aufpassen.« Er sah Peter direkt in die Augen. »Können Sie dasselbe sagen?« fragte er, und seine Stimme war heiser von all den Emotionen, mit denen er zu kämpfen hatte. »Denn wenn Sie es können, dann sieht die Sache ganz anders aus.« Ellie war mit einer Teekanne in der Hand wie angewurzelt in der Tür stehengeblieben. Peter stand auf, zu aufgeregt, um sitzen zu bleiben, oder vielleicht war es eine unbewußte Geste der Überlegenheit. Er überragte den Polizisten, obwohl Devlin auch nicht gerade klein war. Ellie fing seinen Blick auf, und sie sah den Widerstreit der Ge fühle, die in ihm tobten. »Kommen Sie herein, Ellie«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Es gibt keinen Grund, weshalb Sie nicht hören sollten, was ich zu sagen habe.« Sie nickte, trat ins Zimmer und setzte sich still hin. »Als Mann, Devlin, würde ich nichts lieber tun als Ihnen die Zähne ausschlagen«, sagte Peter in einem Ton, der keinen Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit ließ. »Da Sie sich für einen hemmungslosen Wettstreit entschieden haben, lassen Sie uns einen ehrlichen Blick auf Ihre Eignung als Bewerber werfen. Nach dem, was Maggie mir erzählt hat, sind Ihre Leistungen in punkto Ehe und Familie nicht gerade beispielhaft, und Ihr Beruf scheint mindestens ebensoviel mögliches Leid für Maggie zu bedeuten wie meiner.« Er blieb stehen, um Devlin ins Gesicht zu sehen. »Meinen Sie, sie hat nicht genug Verlust und Gewalt erlebt, daß es ihr, wenn sie nachts aufbleibt und auf Sie wartet, nicht die Eingeweide herausreißt, wie Sie so elegant zu formulieren beliebten? Haben Sie mal überlegt, daß sie vielleicht nicht so viel Glück mit ihren möglichen Bewerbern hat, wie Sie und ich in unserer Arroganz gerne glauben möchten? Als Antwort auf Ihre unausgesprochene Frage: Ja, ich liebe sie, und zwar mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Sie haben ganz recht mit Ihrer Vermutung, daß ich mit Frauen nicht so erfahren bin wie Sie - aber ich bin durchaus nicht sicher, daß das so ein großer Nachteil ist. Vielleicht wäre die Liebe, die ich
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ihr geben könnte, nicht so besudelt wie Ihre. Und nicht so selbstsüchtig. Aber Sie haben recht, zumindest zum Teil, Devlin, insofern, als ich ihr über meine Liebe hinaus absolut nichts zu bieten habe. Arm wie eine Kirchenmaus, wie meine irische Großmutter gesagt haben würde. Kein Haus, kein Geld und keine glänzenden Aussichten. Mit meinen akademischen Referenzen würde ich vermutlich eine Anstellung an einem obskuren College oder einer Universität finden, wo man bereit wäre, über meinen merkwürdigen Lebensweg hinwegzusehen - und ich könnte mich vermutlich mit Schreiben durchschlagen -, aber das ist auch schon alles. Ich hatte mein Viertelstündchen Berühmtheit, und mehr erwarte ich nicht. Ob ich für Maggie kämpfen würde? Das scheint mir die eigentliche Frage zu sein, die Sie mir stellen. Sie haben mir den Fehdehandschuh hingeworfen und haben ein Recht auf eine Antwort, und hier ist die beste, die ich Ihnen geben kann.« Er hatte die Stimme gesenkt und sprach beinahe ehrfürchtig. »Für Maggie würde ich gegen Sie, gegen diese Welt oder die nächste kämpfen... wenn ich wirklich glaubte, daß ihr am Ende der Schlacht durch meinen Sieg gedient wäre. Aber sehen Sie, das glaube ich nicht. Wenn es hier allein um meine Bedürfnisse, um meine egoistischen Vergnügungen, um meine flüchtigen Hoffnungen und Träume ginge, würde ich Ihnen einen Kampf liefern, wie Sie noch keinen gesehen haben. Doch das ist nicht alles, worum es hier geht. Es geht um Maggie und um Cody. Um Maggies Zukunft, Maggies Herz, vielleicht sogar um Maggies Seele. Gibt meine Liebe mir das Recht, irgendeinen Teil von ihr zu gefährden, um meine Bedürfnisse zu befriedigen? Ich denke, nein. Sie haben mir Zweifelhaftigkeit vorgeworfen. Schön, damit haben Sie recht, und die bereitet mir Qualen. Aber eines kann ich Ihnen mit absoluter Sicherheit sagen: Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Maggie zu helfen, das Kind zu retten.« Er machte eine vielsagende Pause. »Selbst wenn das bedeutet, daß ich mich mit Ihnen vertragen muß.« Devlin war verblüfft über die Größe, die Aufrichtigkeit und
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die Liebe, die aus Peters Rede sprachen. »Also, ich will verdammt sein«, sagte er und stand auf. Seine Miene war wie versteinert. Er fuhr sich erregt mit den Fingern durchs Haar, und endlich sah er Peter in die Augen. »Ich denke, ich nehme meine Stichelei über Ihre Männlichkeit zurück, Peter«, sagte er, sich widerwillig entschuldigend. »Was sagen Sie zu einem Waffenstillstand, bis alles vorbei ist? Und wenn es nur deswegen ist, damit ich mir nicht noch beschissener vorkommen muß, als ich es ohnehin schon tue. Ich nehme an, die Wahrheit bei der Sache ist, daß die Entscheidung bei Maggie liegt, nicht bei uns... und nur, wenn wir sie über den dreißigsten April hinaus am Leben halten. « Peter nickte. »Einverstanden«, sagte er und ergriff die Hand, die Devlin ihm reichte. »Cras amet qui nunquam amavit«, murmelte er dabei. Devlin warf anerkennend den Kopf zurück und lächelte schief. »Quique amavit, cras amet«, erwiderte er. Peter wirkte ehrlich überrascht. »Mir scheint, wir verehren dieselben Bücher«, sagte er amüsiert. »Mein Latein kommt mit Ihrem nicht mit«, sagte Ellie, als sie die beiden zur Tür begleitete. »Was haben Sie vorhin gesagt?« »Es ist ein Vers aus Pervigilium Veneris«, erwiderte Peter. »Ich zitierte: ›Es möge morgen lieben, wer noch nie geliebt‹, und Devlin hat mir geantwortet: ›Und möge, wer geliebt, auch morgen noch so lieben. ‹« Ellie schloß die Tür und lehnte sich mit einem leisen zufriedenen Kichern dagegen. Es war schwierig zu entscheiden, welchen von den zwei Männern sie lieber mochte.
65 Pater James Kebede beobachtete den Gedankenaustausch zwischen Maggie und Peter. Es hatte etwas Fließendes, eine Art wechselseitiger Energie, die beide belebte. Pater James würde heute nach Rhinebeck zurückkehren und war gekommen, um sich von Maggie zu verabschieden. Es erstaunte ihn, wie schwer
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ihm der Abschied fiel; es war, als scheide er von einem alten Freund, den er vielleicht nie wiedersähe. Er hatte sie während seines Aufenthalts in New York liebgewonnen, und das hatte er nicht beabsichtigt. Es war keine Falschheit in Maggie, und ihre große Güte rührte ihn. Als ältestes von vierzehn Kindern in einem der ärmsten Länder der Erde schätzte er Charakterstärke, insbesondere bei Frauen. Er erinnerte sich lebhaft an die Courage und Güte seiner Mutter angesichts bitterer Armut und alljährlicher Schwangerschaft. Trotz widrigster Umstände hatte sie ihre Kinder geboren, geliebt, ernährt, sie hatte sie gepflegt, wenn sie krank waren, und die vier begraben, die sie nicht hatte retten können; sie hatte sie alle in der Liebe Gottes unterwiesen und sie ein strenges Wertesystem gelehrt, welches James nach wie vor dasjenige zu sein schien, das der Allmächtige für die Menschheit im Sinn gehabt hatte. Er hörte dem angeregten Gespräch aufmerksam zu und dachte, daß er Peter noch nie so menschlich gesehen hatte. Maggie erschuf eine Dimension in ihm, die zuvor nicht existiert hatte und die ihn über sich selbst hinauswachsen ließ. Er hatte während der zehn Tage, die er hier in New York war, über die Verwandlung nachgedacht; er hatte Maggie auf die Probe gestellt, sie unterwiesen, bedrängt, befragt, um zu erfassen, was bei Peter eine solch mächtige Alchimie bewirkt hatte. Jetzt glaubte er, die Chemie endlich zu verstehen - aber was sollte er mit diesem Wissen anfangen? Und was forderte diese neugewonnene Erkenntnis von seinem Gewissen? Er beobachtete die unbefangene Kameradschaft des Mannes und der Frau und grübelte wie so oft über die seltsame und furchtbare Art Gottes nach, seine Mysterien auszuüben. Er mußte nach Hause, um zu beten. Hier herrschte eine fragile Balance, und er fühlte sich außerstande, das Gleichgewicht zu halten. Wäre er heiliger und weiser und begnadeter, könnte er vielleicht geschickter erfüllen, was Gott von ihm verlangte... Eine Frage von Maggie holte ihn aus seinen Überlegungen zurück in das Gespräch. »Entschuldigen Sie, Maggie«, sagte er mit einem scheuen
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Lächeln. »Ich fürchte, ich war nicht bei der Sache. Was haben Sie mich gefragt?« Lächelnd wiederholte sie die Frage. Es sei unmöglich, James nicht zu lieben, hatte sie zu Peter gesagt; er sei ein Kind Gottes. »Ich fragte, wie es Ihnen möglich ist zu glauben, daß die Seele eines Besessenen es wert ist, Ihre eigene aufs Spiel zu setzen?« »Ah, Maggie«, erwiderte er, wieder voll bei der Sache. »Ich will versuchen, diesen wichtigen Aspekt zu erklären.« Er überlegte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: »Ich glaube, es gibt zahllose - vielleicht sogar Millionen - Seelen auf dieser Erde, die bereits von dem Bösen besessen sind, aber sie sind zufrieden mit dem Handel, den sie abgeschlossen haben! Ob sie ihre Seelen wissentlich verkauft haben oder sie nur aus geistiger Trägheit entschlüpfen ließen, diese Menschen kosten das Böse und die Verderbnis voll aus. Sie sind es zufrieden, Söldner in der Armee des Teufels zu sein - sie würden nicht im Traum daran denken, um Exorzismus zu bitten. Aber die anderen, Maggie, diejenigen, die hilfesuchend zu uns kommen, sie leiden, weil sie so verzweifelt mit dem großen Widersacher ringen! Weil sie mit ihrer ganzen gebrechlichen, menschlichen Kraft gegen den unsterblichen Feind der Menschheit kämpfen, sind sie von Dämonen besessen. Sie flehen Gott an, sie nicht zu verlassen in ihrer Not, und uns als Priestern ist das große Privileg gegeben, ihnen beizustehen. Wenn wir sie nicht retten würden, wären es nicht sie, sondern wir, die auf der Straße der Verdammnis dahingingen.« »Sie sind ein wunderbarer Mensch, James«, sagte Maggie, gerührt von der Vehemenz seiner Antwort. »Ich werde immer froh sein, Sie kennengelernt zu haben.« Sie nahm seine Hand. »Sollte ich je einen Exorzismus nötig haben, hoffe ich, daß Sie in der Nähe sind.« »Dazu wird es nie kommen, Maggie«, sagte er leise. »Der Widersacher weiß immer, wer auf Seiten der Engel kämpft. Er mag versuchen, Sie zu vernichten, aber er wird wissen, daß er Sie nicht verführen kann. ›Wer in der Liebe bleibt‹, sagt uns Johannes, ›der bleibt in Gott und Gott in ihm.‹« Maggie hörte etwas in seiner Stimme - eine Art zärtliche Ver-
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ehrung -, was sie verwunderte. »Danke, James«, sagte sie, gerührt über seine Zuversicht. »Ich würde Sie trotzdem gerne an meiner Seite wissen.« Seine Augen blickten so traurig, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihm einen Abschiedskuß zu geben, daß sie sich fragte, ob sie ihn unabsichtlich gekränkt hatte. Pater James hängte das purpurfarbene Meßgewand auf den Bügel und räumte es sorgfältig in den Schrank, in dem die Meßgewänder aufbewahrt wurden. Seine Bewegungen waren bedachtsam und ehrfürchtig, die Gnade der heiligen Opferung, die er soeben vorgenommen hatte, erfüllte noch sein Herz. Ein leises Geräusch hinter ihm veranlaßte ihn, sich umzudrehen, und zu seiner Überraschung sah er Peter an der Tür stehen. »Ich wollte dich nicht stören, James«, sagte der ältere Priester, »aber man hat mir ausgerichtet, du möchtest mich sprechen.« James nickte; er schien nicht geneigt, etwas zu sagen. »Ich kann später wiederkommen...«, begann Peter. »Nein, nein, mein Freund«, erwiderte James mit aufmunterndem Lächeln. »Ich habe dir etwas zu sagen, Peter, es läßt mir keine Ruhe.« Die zwei Männer verließen die Sakristei und machten sich auf den Weg über den langen Marmorflur zur Küche. »Als wir das erste Mal über dein Dilemma sprachen«, begann James, »batest du mich, dir in diesem Tumult der Seele beizustehen. Und ich war einverstanden.« Peter nickte zustimmend. »Diese Übereinkunft hat meinem Gewissen eine große Verpflichtung auferlegt, Peter, denn sie verlangt von mir eine Aufrichtigkeit, die über die Erfordernisse der Freundschaft hinausgeht. Ja, sie verlangt eine Aufrichtigkeit, die unsere Freundschaft auf immer zugrunde richten könnte, was für mich ein furchtbarer Verlust wäre.« Der große Äthiopier hielt einen Moment inne; sein Gesicht zeigte die finstere Miene eines Menschen, der eine unerwünschte Wahrheit aussprechen muß. Peter legte seinem Freund beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Wir wollen hoffen, daß unsere Freundschaft nicht so
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schwach ist, daß die Wahrheit sie zerstören kann«, sagte er bange. »Ich habe um die Gnade gebetet, in diesem Konflikt dein Spiegel zu sein, mein Freund«, sagte James traurig. »Alles, was ich dir sagen kann, weißt du natürlich schon... und doch, die Verpflichtung, die du mir auferlegt hast, verlangt es, daß ich derjenige bin, der die Worte offen ausspricht. Als ich dich und Maggie beim letzten Mal zusammen sah, wußte ich, daß es keinen anderen Weg für mich gibt, als zu sagen, was ich auf dem Herzen habe.« »Habe ich mich geirrt in der Annahme, daß du sie gern hast, James? Ich habe in diesen paar Tagen deutlich eine Sympathie zwischen euch gespürt.« »Ich habe sie nicht nur gern, Peter, ich bin auch besorgt um sie. Daß ich ihre Tugend so klar erkenne, das ist es, was mich zu sprechen zwingt.« »Und was, alter Freund, meinst du sagen zu müssen?« James sah Peter voll tiefem Mitgefühl an, aber seine Worte waren streng. »Eine priesterliche Berufung ist so großartig, wie ich mir irgendein Werk Gottes nur vorstellen kann... und du, Peter, bist ein äußerst komplizierter Mensch. Ich glaube nicht, daß Maggie dein Problem ist, sondern daß sie vielmehr das Symptom eines viel größeren Leidens ist. Ich glaube, du hast dich in die Arme der Frau fallen lassen, Peter, weil du Christus' Arme suchst, aber nicht gefunden hast.« Er hielt inne, um diese schwerwiegende Behauptung wirken zu lassen. »Du bist von deiner Kirche enttäuscht, mein Freund, wegen ihrer Doppelzüngigkeit und ihrer strafenden Reaktion auf deine Arbeit - und du denkst, du hast versagt, weil du keine akzeptable Antwort auf die quälenden Fragen findest, die du dem Thron Gottes vorgetragen hast. Die Schwere dieses Versagens hat deine Priesterschaft in eine Krise geführt, und die einzige Stelle, wo du Trost fandest, war bei dieser Frau, die für dich die transzendentale, ursächliche Wahrheit geworden ist. Ich glaube, Peter, du hast dich in den Trost von Maggies absolutem, unbelastetem Glauben fallen lassen. Es ist nicht die
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Frau, Peter, sondern ihr Einvernehmen mit Gott, das größer ist als dein eigenes, das ist es, was dich verführt!« Peter stand starr wie ein Stein; was James gesagt hatte, hallte durch sein Inneres wie ein in seiner Seele geschlagener Gong. James' Stimme wurde sanft. »Als Mann, Peter, verstehe ich deine Einsamkeit. Als Priester verstehe ich deine Enttäuschung von deiner Kirche und dein Gefühl der Verlassenheit. Als dein Kamerad verstehe ich deine Liebe zu einer Frau, die es wert ist. Aber als dein Beichtvater und der Freund, der der Spiegel deines Gewissens ist, hat alles Verstehen letztlich keine Bedeutung.« James' Stimme war fest geworden. »Als du Priester wurdest, Peter, warst du bereits ein Mann, und als solcher hast du dich ernsthaft ewiger Keuschheit verpflichtet. Du bist einen heiligen Bund mit Gott eingegangen, mein Freund. Heute magst du sagen, ja, aber in meiner Jugend habe ich nicht gewußt, welche Härten mein Gelübde mit sich bringen würde! Und ich mö chte dich fragen, begreift der Mann, der eine Ehe mit einer Frau eingeht, wirklich, welche Härten dieses Gelübde ihm abverlangen wird? Sicher nicht. Aufgrund deiner großen, wunderbaren Gottesgaben und deiner außergewöhnlichen Liebe zum Herrn hast du dich stets als besonders von Gott auserwählt betrachtet, Peter. Das tat auch Luzifer. Jetzt möchtest du deinen Kontrakt neu aushandeln, aber du darfst nicht annehmen, daß du das ungestraft tun kannst. Du darfst dich nicht der tödlichen Täuschung hingeben, daß du beides haben kannst, Peter. Du nicht. Ein anderer Mann vielleicht... aber du nicht. Du trittst gegen Gott an und bist ihm nicht gewachsen! Der Teufel im sechsten Kreis, Peter! Das kosmische Paradox: Maggie zu lieben heißt sie und dich vernichten.« Peter stand wie erstarrt da, den Kopf auf die Brust gesenkt. »Gott verfolgt dich, Peter«, sagte James abschließend. »Er muß ein großes Verlangen nach dir haben. Flieh nicht am Scheideweg vor ihm.« Peter ging am Ufer entlang, und der Fluß bot trüben Trost. Peter war verloren in einem Sumpf explosiver Gefühle. Erst vor we-
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nigen Tagen hatte er über seine Konfrontation mit Devlin gegrübelt und sein Gewissen erforscht. Er hatte das Gespräch ein ums andere Mal in Gedanken wiederholt, um es nach Zusammenhängen zu untersuchen. Doch am Ende war er erleichtert gewesen, daß ihre Feindschaft offen ausgesprochen und geklärt war und daß Ellie den guten Einfall gehabt hatte, sie direkt miteinander zu konfrontieren, vor allem aber, daß es unentschieden ausgegangen war. Keiner hatte den anderen besiegt, die Würde eines jeden war unangetastet geblieben. Aber die Konfrontation mit James war etwas anderes. Hier gab es weder einen Sieger, noch hatte es ein Unentschieden gegeben. Vielleicht war Konfrontation nicht mal das richtige Wort für das, was zwischen ihnen vorgefallen war, aber irgendein Trompetenschall, ein Schlachtruf, war ertönt. Konnte es sein, daß James nur der Kurier war, der ausgesandt wurde, um die bevorstehende Schlacht anzukünden, und daß Peter die Konfrontation mit seiner eigenen Seele führen mußte? Deus meus, Deus meus, quid reliquisti me? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Peter hob eine Handvoll Kieselsteine auf und schnippte den ersten über das schmutzige, graugrüne Wasser. Er fühlte sich rebellisch. Nur weil James das gesagt hatte, mußte es noch lange nicht wahr sein, oder zumindest nicht die einzige Wahrheit. Was, wenn es einfach Zeit war zu gehen? Was, wenn Peter Messenguers lange währender Kampf um das Verbleiben in der Kirche zu Ende gegangen war? Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern. Was, wenn ihm ein Weg an Maggies Seite bestimmt war? Oder wenn er, wie der Mann in Kafkas Parabel, blockiert war durch eine Tür, die sich nicht öffnen ließ? War die Kirche die Sperre? Oder war es Maggie? Et clamor meus ad te veniat! Und laß mein Rufen zu dir kommen ... Peter schnippte den letzten Stein übers Wasser und stützte die Ellbogen auf den Eisenzaun. Domine, non sum dignus... Herr, ich bin nicht würdig, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.
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Er war ein besserer Mensch, seit er Maggie begegnet war... er wußte es aus tiefster Seele. Vielleicht war das an sich schon ein Zeichen. Er war weniger arrogant, weniger jesuitisch-kühl, weniger überzeugt von allem... oder überhaupt von etwas. Er war teilnahmsvoller, aufrichtiger, menschlicher geworden. Was, wenn sie für ihn Christus in Gestalt des Fremden war? Wenn sie die Liebe und wenn die Liebe alles war, worauf es ankam? Oder was, wenn sie nur die Todsünde im Engelsgewand war? Was, wenn der Dämon ihn ein letztes Mal abgepaßt hatte, als er nicht auf der Hut war? Vater der Lügen. Kosmischer Herr des Todes. Lauernd. Wartend. Peter schüttelte den Kopf, um wieder klar zu sehen. Maggie war kein Werkzeug des Bösen. Sie war gut. Das wußte er, auch wenn er sonst nichts wußte. Aber was wußte er von sich selbst? Laß mein Rufen zu dir kommen, o Herr, betete er. Er kehrte dem Fluß den Rücken und ging entschlossen zum Büchermagazin, aber als er an der Tür war, trat er nicht ein. Er wollte nach New York zurückkehren und Maggie bei den Vorbereitungen helfen. Alles andere konnte bis nach dem Dreißigsten zurückgestellt werden.
66 Devlin beendete seine Aufzählung der Fakten und wunderte sich über den Ausdruck im Gesicht des Captains. Es war das Ge sicht eines alten irischen Polizisten, von denen es einst bei der New Yorker Polizei nur so gewimmelt hatte, die mittlerweile aber rar geworden waren. Captain Francis X. O'Shaunessy war lange genug dabei gewesen, daß sich sagen ließ, er wisse über die Lage jeder Leiche im Rathauskeller Bescheid, seit La Guardia nicht mehr im Amt war. Im Augenblick war sein Gesicht eine Maske unverbindlicher Ausdruckslosigkeit. »Und was genau interessiert Sie an diesem Fall, Lieutenant?«
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lautete die erste Frage, die er stellte. Das allein schon überraschte Devlin. Normalerweise hätte es während der Aufzählung der Fakten scharfsinnige Sondierungen gegeben, verständige Erkundigungen, basierend auf irischer Intuition und vierzig Jahren Polizeierfahrung. Aber heute nicht. Devlin erwog, sein persönliches Interesse für sich zu behalten, überlegte es sich jedoch anders. »Ich mag Mrs. O'Connor«, sagte er. »Ich glaube, sie ist da auf eine sehr große, schmutzige Sache gestoßen, und ich bin überzeugt, daß das Kind ernsthaft in Gefahr ist.« O'Shaunessy lehnte sich zurück; seine massige Brust und die breiten Schultern ließen die Bewegung zu einer autoritären Ge ste werden. »Aus dem, was Sie mir erzählt haben, ersehe ich keinerlei Notwendigkeit, unsererseits tätig zu werden«, sagte er, und Devlin runzelte die Stirn. Kein beiderseitiges Entgegenkommen? Kein Abwägen der Möglichkeiten? »Aber Captain«, beharrte er, »allein das Material von Fellowes gibt uns eine Menge in die Hand, das in diesen Zuständigkeitsbereich fällt. Der Club auf der Bleecker Street, die Drogenwäsche -« Der Captain schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Alles unbelegt, Lieutenant. Alles von einem toten Zeugen. Wenn Sie glauben, etwas von aktuellem Wert gefunden zu haben, übergeben Sie es dem Drogendezernat. Der Rest ist reiner Bockmist. Verstanden?« Devlin erhob sich zum Gehen, denn die Geste des Captains war ebenso eindeutig wie rätselhaft. »Captain«, sagte Devlin, als er an der Tür war. »Wissen Sie irgendwas hierüber, was ich nicht weiß?« Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß er unwissentlich auf eine laufende Untersuchung eines anderen Zuständigkeitsbereiches gestoßen war. O'Shaunessys Blick war ruhig und unlesbar. »Ich weiß nur, Lieutenant, wann es klug ist, die Finger von einer aussichtslosen Sache zu lassen.« Devlin nickte und öffnete die Tür, als der Captain wieder sprach. »Die Papiere von diesem Reporter... wie hieß er doch
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gleich... Fellowes. Sie können sie mir hier lassen zum Durchsehen. « Devlin drehte sich um und suchte instinktiv im Gesicht des Mannes nach einer Erklärung für diese Bitte. »Sie sind noch im Tresorraum, Captain«, antwortete er gelassen. »Dann schaffen Sie sie da raus und auf meinen Schreibtisch«, sagte der Captain und entließ ihn endgültig mit einer Handbewegung. Devlin nahm sich vor, die Papiere heute abend aus der Bank zu holen. Diese Sache war unheimlich, sehr unheimlich. »Was sagt der Captain?« fragte Gino, aber er wußte die Antwort bereits, als er das vorgeschobene Kinn des Lieutenants sah. »Ein ganz entschiedenes Nein«, erwiderte Devlin, dem das Echo der Unterhaltung noch in den Ohren klang. »Ja, ja, ich kann's mir denken. Nicht unser Zuständigkeitsbereich. Keine Beweise, nur Indizien. Wir haben schon genug Probleme am Hals. Blablabla... hab ich recht?« »Stimmt genau«, erwiderte Devlin nachdenklich. Was der Captain gesagt hatte, war an sich nicht merkwürdig, aber wie er das alles gesagt hatte, das gab zu denken. »Wieso machst du dann so ein Gesicht? Das kam doch nicht unerwartet.« »Ich weiß nicht, Gino. Er hat sich komisch benommen, und er bat mich um Fellowes' Papiere, gleich nachdem er gesagt hatte, das wäre alles Bockmist und wir sollten uns da raushalten.« Gino sah ihn scharf an. »He, Lieutenant, wovon reden wir hier eigentlich?« Devlin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ich bringe die Papiere woanders hin, für den Fall, daß ich nicht schizophren bin.« Garibaldi nickte. Er war lange genug dabei, um zu wissen, daß nichts unmöglich war, wo große Scheine den Besitzer wechseln konnten. »Also, was soll ich tun?« »An ein paar Ketten rasseln, denke ich; mal sehen, was wir lockerrütteln können. Ich nehme mir Sayles vor, du gehst zu
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Vannier, weil Eric schon weiß, daß er mich nicht ausstehen kann. Sollen sie denken, wir haben mehr über sie in der Hand, als wir tatsächlich haben.« Garibaldi nickte, die Lippen vielsagend zusammengekniffen. »Tatsächlich wissen wir schon eine ganze Menge, Lieutenant, wir haben bloß keine Beweise. Wieviel soll ich diesem Kerl von unseren Karten zeigen?« »So eine Frage stellt mir der beste Pokerspieler des Reviers?« entgegnete Devlin und lachte nur kurz auf. »Zeig ihm nichts und sack den Topf ein, genau wie immer.« Der legendäre Kartenspieler grinste und ging. »Gino«, rief Devlin ihm nach, bevor die Tür sich hinter ihm schloß, »paß auf dich auf. Die Sache ist oberfaul.« Devlin nahm seine Jacke vom Haken und ging zur Chase Manhattan Bank.
67 Abdul Hazred wartete in der Bibliothek im Hause Vannier auf die Ankunft der anderen. Es waren weniger als zwei Wochen bis zur Materialisation, und da war es unumgänglich, daß jeder Teilnehmer über seine Rolle im Bilde war; daher würden sich heute abend die dreizehn mächtigsten Magier auf dem Planeten in diesem Raum versammeln, Repräsentanten aller großen magischen Systeme, die über wirkliche Macht verfügten. Er selbst, Sayles und Vannier würden die ägyptischen Mysterien vertreten, und Ghania... ah, Ghania, dachte er versonnen. Ihre madagassische Magie war die boshafteste von allen. Alle, die an der heutigen Versammlung teilnahmen, hatten ihr Leben der okkulten Macht über die materielle Welt geweiht. Sie verband die Bereitschaft, einem bösten Meister zu dienen, als Gegenleistung für die Erfüllung ihrer innigsten Wünsche. Einigen war ihr Wissen seit Generationen vermittelt worden, andere hatten es durch persönliches Streben erworben, wieder andere durch intellektuellen Stolz. Fest stand, daß keiner in einer einzigen Lebensspanne zu seiner Bedeutung gelangt war. Die Geschichte aller anderen Teilnehmenden unterschied sich von seiner eigenen, überlegte Hazred berechnend, als er die
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Autos der Ankommenden die kreisförmige Zufahrt unter dem Fenster der Bibliothek füllen sah. Er war nicht aus Hingabe an das Böse hier, sondern aus Liebe zu einer Göttin und ihrer Legende und aus dem verzweifelten, dringenden Bedürfnis, die Amulette zu besitzen, das seine Träume durchdrang seit jenem Augenblick in seiner Kindheit, als er von deren Existenz erfuhr. Das Böse war für ihn ein notwendiger Bestandteil des Ausgleichs - nicht aber der gesamte Ausgleich -; denn welcher Magier konnte sich Meister nennen, der nicht sowohl die linke wie auch die rechte Magie beherrschte? Er war dreizehn Jahre alt gewesen an dem Tag, als er aufs Ge ratewohl ins Museum von Kairo gegangen und ziellos durch die kühlen, dämmrigen Korridore gewandert war, bis die Statue von Sekhmet ihn angerufen hatte. Diene mir, Priester... hatte die Stimme verlangt, und eine lang verschüttete Energie war in ihm aufgebrochen. Er stand gebannt vor der riesenhaften Statue aus schwarzem Granit und hatte die Herrlichkeit des Rufes mit allen Fasern seines Seins erkannt. Einmal Priester der Göttin, immer Priester der Göttin. Sie hatte ihn gerufen, und er war ihrem Ruf gefolgt. Als er vor ihrer Statue stand, hatte Hazred ihre Augen sich öffnen sehen, und eine Aura aus Flammen hatte sie beide umschlossen. Erkenntnisse waren ihm eingeflößt worden, oder vielleicht wurden sie nur in ihm wiederbelebt aus verschüttetem Wissen, das er einst besaß und das ihm vor langer Zeit abhanden gekommen war. Und nun war er wieder der Hohepriester Sekhmets, geboren aus einer längst untergegangenen Dynastie. Ich werde dich unterweisen! hatte ihm die Stimme der Göttin zugerufen. Die Botin wird zu deinen Lebzeiten gesandt werden. Mein Schicksalsstein wird der Menschheit zugänglich sein. Das Werk wird verrichtet werden. Der Weg wird gezeigt werden... Abrupt wurde Hazred durch die Ankunft der anderen Besucher aus seiner Träumerei gerissen. »Nummer Drei«, rief ihm eine joviale Stimme zu, »endlich ist es soweit!« Ein großer, distinguierter Herr mit englischem Akzent beschrieb lächelnd in der Luft das Geheimzeichen des respektvollen Grußes.
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»Willkommen, Nummer Elf«, erwiderte Hazred mit der gleichen falschen Freundlichkeit. »Es hat lange gedauert bis zu dieser Generalprobe.« Eine kleine Asiatin, die trotz ihrer geringen Größe eine bösartige Kraft verströmte, hatte die Worte mit angehört. »Äonen, darf ich vielleicht ergänzen«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, das Hazred ungeachtet ihrer aufsehenerregenden Schönheit an das Grinsen eines Hais erinnerte. »Nummer Fünf«, begrüßte er sie, »du bist schön wie immer. Sieh dich vor, daß die Göttin nicht neidisch wird.« Während die Frau sich mit einem Lächeln für das Kompliment bedankte, stürmte ein riesiger Mann mit negroiden Zügen in Cape und Turban in den Raum. »Nummer Sechs ist unauffällig wie immer«, bemerkte die Frau mit einem heiseren Lachen; und als sie sich umdrehte, um den Neuankömmling zu begrüßen, trafen mehrere Gäste auf einmal ein: ein gedrungener Kaukasier mit einem pechschwarzen Spitzbart, eine Bohnenstange von einer Frau, von Kopf bis Fuß in Schwarz, ein kleiner gelehrtenhafter Mann in zerknittertem Tweed. Eric und Nicky betraten den Raum, offensichtlich in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Angesichts der Versammlung begab sich jeder in eine andere Richtung, woraufhin die Gruppe der sich begrüßenden Gäste sich säuberlich in zwei Hälften teilte. Ghania trat hinter den zwei Männern ein. Sie war zeremonieller gekleidet als sonst, mit einer Dschellaba und einem Turban aus erlesener silberner Seide, die beinahe glühend schimmerte, als besäße der Stoff ein Eigenleben. »Apropos unauffälliges Auftreten«, kicherte Nummer Fünf und nickte in widerwilliger Anerkennung zu der Hexe hinüber. »Nicht übel für ihr Alter.« Ghanias Blick wandte sich der Frau genau in dem Moment zu, als sie die Worte aussprach, obwohl ein normales Menschenohr die Bemerkung niemals hätte hören können. Nummer Fünf neigte in Anerkennung der Leistung den Kopf, und Ghania lächelte ihr tödliches Lächeln. »Laßt uns alle Platz nehmen, meine lieben Kollegen«, begann Eric, und er nahm an einem reichverzierten Schreibtisch aus der
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Zeit Jakobs I. Aufstellung, der das Ende des Raumes gegenüber den zahlreichen Sesseln und Sofas beherrschte. »Wir haben uns am heutigen Abend zum letzten Mal vor dem großen Fest versammelt. Sollten noch irgendwelche Fragen offen sein, wollen wir sie hier klären, damit keine Uneinigkeiten die Energien während der Materialisation trüben.« Ein Stimmengemurmel antwortete auf diese Einleitung. »Bitte, bitte, meine Adepten.« Eric beruhigte sie mit einer gebieterischen Geste. »Ihr seid alle bestrebt zu erfahren, wer bei der Zeremonie welchen Platz einnehmen wird. Es ist natürlich verständlich, daß ihr gespannt seid. Nummer Zwei und Nummer Drei?« Sein Blick wanderte zu Sayles und Hazred. »Vielleicht umreißt ihr die Rolle jedes Teilnehmers.« Die zwei Männer traten vor. »Schön, sehen wir mal«, begann Nicky mit anzüglichem Ton. »Jeder hier im Raum könnte sämtliche notwendigen Rituale ausführen, und jeder wünscht sich die beste Rolle. Deshalb war die Verteilung ein echter Scheißjob. Kein leichtes Unterfangen, jedem gerecht zu werden, und jemand muß einfach entscheiden, wer was macht. Ich habe also die Talente von jedem einzelnen berücksichtigt, wo ich konnte, und was den Rest angeht, müßt ihr einfach mit dem Strom schwimmen. Eric Vannier wird als Hoherpriester walten, das versteht sich von selbst. Dr. Abdul Hazred, der den Rang des Ipsissimus bekleidet, und meine Wenigkeit, ein Magister Templi, werden am Altar assistieren.« Hierauf nannte er die einzelnen Teilnehmenden sowie die ihnen zugedachten Rollen: die Anrufung der Elemente, die Proklamation des Ritus, die Beschwörung der Gottheiten, die Verwaltung der Verwünschungen und die Bewachung der vier Tore. Vannier trat vor. »Ghania wird natürlich eine Doppelrolle bekleiden; und da sie die Botin erweckt hat, wird sie sie auf die Astralreise führen.« Eine große, leichenblasse Frau, die zur Verwalterin der Ve rwünschungen ernannt worden war, begann plötzlich zu zittern wie ein Blatt im Wind. Schnell traten zwei Männer vor, um ihren zusammensackenden Körper aufrecht zu halten. Alle hatten sie
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früher schon in den Qualen dieser Energie gesehen; es war der Preis, den man dafür entrichten mußte, daß man ein Orakel war. »Hütet das Opfer!« schrie sie in einem hohen Wimmerton, der durch Mark und Bein ging. »Hütet das Tuch, wo Ost und West gepaart. Wo Vergangenheit und Gegenwart sich begegnen, schreibt die Zukunft ihre eigene Geschichte.« Sie erschlaffte plötzlich und wäre zusammengebrochen, wenn die zwei Männer sie nicht gehalten hätten. »Was hat das zu bedeuten?« fragte jemand. »Daß die Torhüter der vier Stationen vielleicht mehr zu tun bekommen werden, als wir dachten«, warf Sayles rasch ein. »Ost und West müssen bestens bewacht werden. Vergangenheit und Gegenwart begegnen sich in dem Amulett und dem Stein... wer sie besitzt, gebietet über die Zukunft. Das Orakel sieht einen guten Ausgang unserer Anstrengungen voraus.« Ghania lächelte. Es bedeutete nichts von alledem, aber Nicholas hatte hervorragend pariert. Ein etwas unbehagliches Schweigen trat ein, als alle Teilnehmenden sich zu einer letzten Probe ihrer jeweiligen Rollen in die Kapelle begaben. Ghania schloß mit einem kalten Lächeln die Tür hinter dem letzten Adepten. Sie wartete, bis das letzte Auto aus der Einfahrt gerollt war, bevor sie in die Bibliothek zurückkehrte. Hazred war mit Nicholas und Eric dort geblieben; als dritter Priester in dem Triumvirat, das die Materialisation vornahm, genoß er besondere Privilegien. Seufzend dachte sie, daß sie den Ägypter weder leiden konnte noch ihm traute. Freilich besaß auch keiner der Adepten ihre Zuneigung oder ihr Vertrauen, wenngleich sie einige gut genug zu kennen glaubte, um ihre innersten Beweggründe zu verstehen. Bei Hazred war es anders. Sie hatte unzählige Male versucht, seinen geistigen Panzer zu durchdringen, aber entweder war er der geschickteste aller Magier, oder er wurde tatsächlich, wie er behauptete, von seiner Göttin beschirmt. Allerdings traute sie seiner Göttin ebensowenig, wenn sie es recht bedachte.
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Sekhmet war eine böse Manifestation der Göttinnen-Energie, keine wahrhaftige Göttin des Bösen, und damit war sie im Hinblick auf das Böse ebenso unzuverlässig wie im Hinblick auf das Gute. Verdammt, sie war einfach zu unberechenbar. Es wurde sogar behauptet, sie sei die boshafte Seite der Isis -Münze. Als Ghania eintrat, stand Hazred auf; die anderen beiden Männer erwiesen ihr nie diese Höflichkeit. »Ghania«, wandte er sich an sie, »wie läuft es mit dem Kind?« Sie sah Eric fragend an, ob er ihr zu sprechen erlaubte, und er nickte unmerklich. »Ich bin nach den alten Methoden vorgegangen. Sie befindet sich am Rande der Erweckung, und diese Woche werde ich sie an den Rand des Wahnsinns stoßen... ihre Hüterinnen werden ihre Vernichtung nicht zulassen, daher werden sie gezwungen sein, sich zu offenbaren. Der Schlüssel zu unserem Erfolg ist die zeitliche Abstimmung meiner Mühen. Nicht mehr als achtundvierzig Stunden dürfen zwischen ihrer Erweckung und der Materialisation verstreichen. Wenn ich sie zu früh erwecke, wird sie Zeit haben, in der Ausübung ihrer Macht unterwiesen zu werden, und wir können sie nicht mehr kontrollieren. Erwecke ich sie zu spät, wird sie nicht fähig sein, die Astralreise und die Rückkehr durchzustehen. Wie die Dinge liegen, muß sie möglicherweise bis zum Augenblick der Materialisation betäubt oder gebannt werden.« Hazred kannte die Risiken nur zu gut. »Sehr lobenswert, Ghania. Nur jemand mit deinem einzigartigen Können kann eine solch heikle Aufgabe mit Hoffnung auf Gelingen übernehmen«, sagte er, und es klang wie das großmütige Lob eines Königs für eine tüchtige Dienerin. Diese Nuance war der mächtigen Frau nicht entgangen. Sie neigte nur ganz leicht den Kopf. »Ich diene meinem Meister«, erwiderte sie eisig. Sie fragte sich, ob er von sich dasselbe sagen konnte. »Maa Kheru beabsichtigt, die Materialisation in der Nacht des dreißigsten April vorzunehmen«, sagte Hazred in seinem Büro zu Colonel Hamid. »Ich werde an zwei Standorten militärische
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Unterstützung anfordern.« Er reichte dem Mann einen Zettel mit den Adressen. »Der Mossad hat sich eingeschaltet«, erwiderte der Colonel. »Das gibt Ärger.« »Der geht mich nichts an«, erwiderte Hazred. »Sobald die Amulette in materieller Form existieren, müssen Sie in der Lage sein, sie zu sichern, wenn Ägypten seinen rechtmäßigen Platz als größte Weltmacht einnehmen soll. Deswegen wurden Sie eingeschaltet.« »Ich brauche Ihre Hilfe nicht, Doktor, um den Umfang meiner Befehle zu verstehen, vielen Dank«, entgegnete Hamid kurzangebunden. »Wir hatten schon früher mit dem Mossad zu tun.« Er sah auf den Zettel. »Warum müssen wir an zwei Standorten Leute stationieren?« »Es handelt sich um eine äußerst heikle Operation«, erwiderte Hazred. »Ich brauche ein sicheres, voll ausgestattetes Ge bäude, wohin das Mädchen gebracht werden kann, nachdem wir die Amulette in unseren Besitz gebracht haben.« Hazred bemerkte in dem kaum verhüllten Hohn, was Colonel Hamid über magische Amulette dachte. Na, wenn schon. Wenn sein Plan so funktionierte, wie er es beabsichtigte, würde es bald keine Rolle spielen, was Geheimdienste, Regierungen oder auch Maa Kheru dachten.
68 »Lieutenant Devlin, nicht wahr?« Nicholas Sayles' Gesicht zeigte genau den richtigen Ausdruck des überraschten Gastgebers, als er seinen unerwarteten Besucher begrüßte. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« Er lehnte sich an seinen extra für ihn angefertigten Schreibtisch; seine Miene war liebenswürdig, aber nicht geduldig. Wie alle, die im öffentlichen Leben standen, beherrschte er es vollkommen, unerwünschten Störungen auf kurzangebundene, dennoch höfliche Weise zu begegnen. Devlin stand ihm gegenüber, sein Gesichtsausdruck war unergründlich. »Tatsächlich können Sie eine Menge für mich tun, Mr. Sayles, aber ich vermute, daß Sie nicht wollen.«
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Sayles hob fragend eine Augenbraue. »Der Polizei ist zu Ohren gekommen, daß Sie Mitglied einer Organisation namens Maa Kheru sind. Ist das wahr?« Sayles verzog das Gesicht zu einem überheblichen Grinsen. »Ich gehöre dem Universitätsclub, dem Metropolitan Club und dem New Yorker Sportverein an, Lieutenant, aber nicht einer Organisation, von der ich nie gehört habe.« »Und haben Sie schon mal von Heroin gehört, Mr. Sayles?« hakte Devlin nach. »Wie es scheint, finanziert die Organisation, von der Sie nie gehört haben, ihre zahlreichen Unternehmen mit einem lukrativen Heroinhandel.« Sayles runzelte die dunklen Augenbrauen. »Sie sind an den Falschen geraten, Lieutenant. Wenn Sie mit solchen Behauptungen um sich werfen, könnten Sie schneller Probleme bekommen, als Ihnen lieb ist. Verleumdung ist eine schwere Beschuldigung... ebenso unbegründete Verhaftungen. Wenn Sie mir noch etwas zu sagen haben, sagen Sie es meinem Anwalt. Er ist derjenige, über den ich mit Ihresgleichen verkehre.« Devlin trat näher an ihn heran, seine Stimme war gefährlich ruhig. »Meinesgleichen kann Ihresgleichen ins Attica-Gefängnis bringen. Ich wüßte gern, wie es bei Ihren treuen Fernsehzuschauern und bei den Banken, die Ihr Fernsehbrimborium finanzieren, ankäme, wenn sie wüßten, daß Sie Ihre Nächte in Bettlaken gehüllt verbringen und Kinderleichen essen, Mr. Sayles. Oder vielleicht würden sie gerne etwas über Ihre Waffenverkäufe an Libyen oder Ihre Heroinverbindungen im Goldenen Dreieck erfahren, oder über das hübsche kleine Nebengeschäft mit Pornofilmen, das Sie und Eric Vannier aufgezogen haben. Selbst wenn wir nicht alles beweisen könnten, würde einiges von dem Schmutz an Ihren Schuhen kleben bleiben, bevor Ihr Anwalt einen Finger rühren könnte.« »Verlassen Sie mein Büro«, sagte Sayles mit leiser, beherrschter Stimme. »Sie haben nicht mal genügend Beweise, um mich wegen Falschparkens zu belangen.« »Wir wissen, wie Ihr Netzwerk funktioniert. Wir haben genügend Beweise, um Sie für lange Zeit dahin zu bringen, wo Sie sich keine Parkplatzsorgen machen müssen. Vielleicht sind Sie
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und Eric Vannier diejenigen, die Probleme bekommen werden.« Devlin wartete gerade so lange, um zu sehen, daß der Stachel saß, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Er war gekommen, um herauszufinden, wie weit dieser Medienmogul zu erschüttern war, wenn man ihn in den Clinch nahm, und nun wußte er es. Nicholas Sayles war an Macht gewöhnt und an den Schutz, den sie gewährte; bedrohen konnte man ihn nicht, aber man konnte ihn nervös machen, und das mußte fürs erste genügen. Als Devlin gegangen war, ballte und öffnete Sayles mehrmals die Fäuste, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war höchste Zeit, daß sie diesem Polizisten etwas über Macht und der lästigen Maggie O'Connor etwas über Furcht beibrachten. Sayles wartete nicht, bis er angemeldet war. Er stürmte an dem Diener vorbei, der die Tür von Vanniers Villa öffnete, und nahm sich nicht die Zeit, seinen Mantel abzulegen. Er traf Eric am Mittagstisch an, wo er gerade eine Kaffeetasse zum Munde führte. »Ich muß dich sprechen«, sagte er entschieden. »Sofort!« Eric machte sich kaum die Mühe, seinen Ärger über die Störung zu verbergen. »Setz dich, Nicky, und zieh deinen Mantel aus.« Sayles ließ seinen Mantel in die vorgestreckten Hände gleiten, ohne den Diener auch nur eines Blickes zu würdigen. »Ich hatte heute morgen einen Polizisten in meinem Büro«, sagte er schroff. »Ein zähes Arschloch, tat ziemlich großspurig mit seinem Wissen.« Eric aß unbeirrt weiter. »Und was wußte er?« »Maa Kheru... unsere Beziehung. Der Drogen- und der Waffenhandel der Bank. Er sagte, er hätte Beweise und einen Zeugen. Das Arschloch hat sich gehütet, offiziell die Grenze zu überschreiten. Keine Anschuldigungen, nur reichlich Säbelrasseln... aber es gefällt mir nicht, wenn im selben Atemzug mit meinem Namen von Waffen und Drogen die Rede ist.« »Also hatte er in Wirklichkeit nichts in der Hand«, sagte Eric und tupfte sich den Mund mit einer feinen Leinenserviette von der Größe eines Tischtuchs ab. »Ich bin es gewöhnt, mit Regie-
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rungen zu verhandeln, Nicky. Polizisten sind ganz kleine Fische.« »Er hat mich gefragt, ob ich Mitglied von Maa Kheru bin, Eric. Niemand außer Fellowes hat mich je mit der Gruppe in Verbindung gebracht, nicht mal die widerliche Boulevardpresse. Ich kann das nicht gebrauchen, Eric. Jetzt nicht und nie.« Eric bemerkte die angespannten Muskeln in Sayles' Gesicht; er verachtete Jammerlappen, und es wäre unangenehm, wenn Nicky sich als ein solcher erweisen würde. »Und was möchtest du, daß ich wegen dieses geringfügigen Ärgernisses unternehme, Nicky? In einer Woche werden die Amulette in unserem Besitz sein, und wir werden uns kaum Gedanken machen müssen über einen unbedeutenden New Yorker Polizisten und seine unbegründeten Andeutungen.« »Die Materialisation ist genau der Grund, weswegen ich nicht will, daß irgendwelche Arschlöcher hier herumpfuschen, Eric«, erklärte Sayles. »Ich wette jede Summe, daß die O'Connor-Zicke dahintersteckt. Ich hab dir ja gesagt, daß die Sendung dieses Miststück nicht ausschalten würde - sie hat eine verdammte Mission! Ich will, daß sie von der Bildfläche verschwindet, und ich will, daß es auf meine Art passiert.« Eric verengte ganz leicht die Augen. Diese Forderung hatte mehr zu bedeuten, als sich oberflächlich erkennen ließ. Er hatte dieses Glitzern in Nickys Augen zu oft gesehen, um diese Andeutung mißzuverstehen. »Was willst du nun genau, Nicky? Willst du deinen Gürtel mit den Ohren des Polizisten schmücken? Das dürfte nicht schwierig sein. Wir haben Freunde in der Stadt. Und mit Maggies Ohren obendrein, um die Sammlung komplett zu machen?« »Nichts so Profanes, Eric. Ich will ein rituelles Opfer. Daß Maggie O'Connor vor Angst in die Hose scheißt.« »Und das wäre?« »Jenna.« Sayles sah Eric über den Tisch hinweg in die Augen. »Sie ist jetzt überflüssiger Ballast, Eric. Und ganz schön nervig für eine, die so entbehrlich ist. Ich will sie benutzen, um die
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Mächte zu besänftigen... und zu meinem Spaß. Dann will ich, daß die Mutter genau erfährt, was mit ihrem Miststück von einer Tochter passiert ist und was mit ihr selbst passieren wird, wenn sie ihre Nase in Sachen steckt, die sie nichts angehen.« Eric fühlte, wie ihm das Blut in die Schläfen stieg; seine Wut über Nickys Anmaßung war nur ein Aufblitzen, verglichen mit seiner Wut auf sich selbst, wenn er unterlegen war. Sayles war immer scharf auf Jenna gewesen, seit er sie zum ersten Mal nackt gesehen hatte. Und Ghania! Offensichtlich hatte die Hexe geholfen, diese Falle aufzustellen. »Laß mich sie auf eine Art loswerden, daß es ihre Mutter ewig in ihren Alpträumen verfolgt«, hatte sie im Garten gesagt. Die schäumende Wut unter Erics ruhiger Oberfläche war für niemanden sichtbar, der ihn nicht sehr gut kannte. Nicky sah sie deutlich und lächelte in sich hinein. »Wann möchtest du das Ritual ausführen?« fragte Eric kurz und bündig, da ihm kein Grund einfiel, die Forderung abzulehnen. Frauen standen allen Adepten zur Verfügung - es waren allein die Anerkennung seiner Führerschaft und die einmalige Energie des Kindes gewesen, die Jenna bislang unantastbar gemacht hatten. »Morgen abend wäre mir recht«, erwiderte Nicky leichthin. »Das läßt dir Zeit für den Abschied von deiner Gattin.« Er sprach das Wort voller Verachtung aus. Eric sah seinem Kumpan mit dem gleichgültigsten Ausdruck, den er aufbringen konnte, in die Augen. »Ich brauche keinen Abschied. Das Mädchen bedeutet mir nichts.« »Dann sei mein Gast«, sagte Nicky lässig. »Opfere sie selbst.« »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, Nicky«, erwiderte Eric ruhig. »Ich bin bereits dabei, mich seelisch auf das große Fest vorzubereiten - aber ich werde mir deinen Vorschlag überlegen.« Eric blieb wutschnaubend am Tisch sitzen, nachdem Sayles seinen Mantel geholt hatte und gegangen war. Er empfand für Jenna wenig mehr als Begierde, aber sein Besitzerinstinkt sträubte sich, sie mit jemand zu teilen. Es verlieh Nicky vor den
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dreizehn Adepten eine zu große Aura von Macht - er mußte es unbedingt so darstellen, als hätte er selbst beschlossen, sie dem Gemeinwohl zu opfern.
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6. TEIL Die Feuerprobe Ich nenne Heiligkeit nicht einen Zustand, sondern das moralische Verhalten, das zu ihr führt. Jean Genet
69 Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, und keiner der Anwesenden in Maggies Bibliothek hatte sich in der letzten halben Stunde darum gekümmert. Maggie saß an ihrem Schreibtisch, ihre hängenden Schultern verrieten Erschöpfung, und ihre Haare waren aus der Spange gerutscht. Sie und Peter waren seit endlosen Stunden bei der Arbeit. Oder seit Tagen, so schien es; sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange das schon so ging. Peter schritt auf und ab und bombardierte sie mit Fragen. Sie spuckte Antworten aus, und manchmal brachte sie die esoterischen Details, die sie von Ellie gelernt hatte, mit Peters Theologie durcheinander. Manchmal sann sie der Frage nach, ob diese kolossale Anstrengung überhaupt einen Sinn hatte. Und Peter war so seltsam, seit er aus Rhinebeck zurück war, angespannt und distanziert. Peter feuerte wieder eine Frage auf sie ab, und unvermittelt war ihr Kopf vollkommen leer oder vielmehr so voller Antworten, daß keine an die Oberfläche fand. Kurzschluß, chronische Erschöpfung, zuviel Streß... zu viele Informationen... zu wenig Schlaf... zu schrecklich die Folgen des Versagens.
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»Ich weiß es nicht!« fuhr sie ihn an. Sie schob die Papiere, in denen sie geblättert hatte, von sich weg und stand erregt auf. »Sie wissen es!« Sie hörte ihn mit den Zähnen knirschen. Auch er stand unter einem furchtbaren Streß... die Kirche, Entscheidungen, Maggie. Er wiederholte seine Frage. »Ich sagte Ihnen doch, Peter, ich weiß es nicht.« Ihre Stimme war in eine bedenklich hohe Tonlage geklettert. »Ich kann mich an nichts erinnern, verdammt noch mal! Verstehen Sie nicht, ich kann das nicht! Es ist einfach zuviel - und so unglaublich hoffnungslos. Es bleibt nur noch so wenig Zeit, und ich weiß immer noch nicht, wie ich Cody retten kann - und Sie können nichts weiter tun, als mich mit sinnlosen Fragen anzubrüllen, auf die ich keine Antwort weiß!« Sie sah die Betroffenheit in seinen Augen und war nur noch frustriert und ängstlich. »O Peter«, flüsterte sie, erschüttert darüber, wie nahe sie daran war, die Nerven zu verlieren, »ich werde versagen... und ich darf nicht versagen... Sie ist ganz allein mit diesen Ungeheuern, und ich weiß nicht, wie ich sie retten kann, und bald ist es zu spät.« Maggies Zorn wich der Verzweiflung, sie ließ den Kopf auf die Brust sinken, die Wut war verflogen, und Peter sah sie lautlos schluchzen. Es war das verzweifeltste Weinen, das er je gesehen hatte: als wäre so wenig Hilfe auf der Welt geblieben, daß sogar Geräusche überflüssig wurden. Sie sah zu ihm auf, flehte ihn stumm an, ihren furchtbaren Schmerz zu verstehen, und jede Zelle in ihm wollte etwas tun, um ihr zu helfen... Peter stand wie gebannt da, er fühlte deutlich ihre Angst, erfaßte die Ungeheuerlichkeit ihres Leids. Sie ertrank in einem Meer des Unbekannten, und er war der einzige Rettungsring. Wenn er sie nur noch ein wenig länger über Wasser halten könnte... Fast automatisch trat Peter zu Maggie und nahm sie in seine Arme. War es denn nicht menschlich zu trösten, wenn jemand so sehr litt? War es denn nicht... »Nein, Peter!« sagte sie, erschrocken über seine unerwartete Reaktion, und schuldbewußt, weil sie sie provoziert hatte. Aber sie spürte seine unbändige Kraft, spürte, wie sein Drän-
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gen die Schranken niederriß. Sie wußte, sie durfte ihm nicht nachgeben, und ein Teil von ihr wollte es doch... ein Teil, der nicht Maggie zu sein schien. »Bitte, Peter, nicht!« keuchte sie und versuchte, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Aber wie konnte sie diese angebotene Hilfe verschmähen? dachte sie verstört. Sie liebte ihn zu sehr, um ihn zurückzuweisen... Und Peter war jetzt jenseits der Grenze, dort, wovor er sich gefürchtet und wonach er sich gesehnt hatte. Dort, wo nichts zählte als das Verlangen. Die so sorgfältig errichteten Barrieren... die Tabus der Kirche... die Planung eines Lebens... der Kampf um die Reinheit seiner Seele. Was bedeutete das alles angesichts solch menschlichen Verlangens? Ich wollte ein Teil Gottes sein, dachte er, ich suchte ihn in seinem Allerheiligsten, machte mich eins mit seiner Göttlichkeit... doch ich bin nicht Gott! Ich bin nur ein Mensch. Ein Mann. Er fühlte deutlich Maggies Zwiespalt, aber er fühlte auch ihr Vertrauen und die Liebe, die zwischen ihnen strömte mit einer Unvermeidlichkeit, die nach Erfüllung verlangte. Wie konnte diese Schönheit profan sein? Wie konnte solch leidenschaftliche Vereinigung etwas anderes sein als heilig? Maggie fühlte sich gegen ihren Willen mitgerissen. Ich liebe dich nicht, Peter, wollte sie hinausschreien, doch wenn es so war, wie konnte er dann die Dinge wissen, die er von ihr wußte? Die Berührung, die Küsse? Woher wußte er von dem gegenseitigen Sehnen, das älter war als alles, außer Gott? Sie war verwirrt und hatte keine Kontrolle mehr über sich. Er zog sie an sich, und sie wußte, sie durfte sich ihm nicht hingeben ... durfte ihn nicht etwas in ihr erwecken lassen, das ihm nicht gehörte. Oder doch? Hatte es ihm immer... Etwas trieb auch sie, rieß ihre Schranken nieder... Peter hielt sie in seinen Armen, verloren in dem Neuen, das sie für ihn bedeutete. Sie war weich und stark, zerbrechlich und geheimnisvoll. Ihre Haut war ein seidiges Wunder, das er noch nie gefühlt hatte. Wie hatte er ihre nackten Brüste so schnell gefunden? Wo waren ihre Kleider geblieben... und seine? O Maggie, meine Maggie...wie konnte ich es nicht gewußt
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haben? Du warst das Phantom in den schlaflosen Nächten... die silberne Mähne des Einhorns, einen Herzschlag lang durch den Wald zu erspähen... du warst der Traum. Konfusion marterte ihn und zugleich die Gewißheit: Ich bin ein Mann. Gott verzeihe mir. »Peter, bitte! Das dürfen wir nicht.« Sie flüsterte die Worte und fürchtete doch in tiefster Seele, ihm weh zu tun, und wußte nicht mehr, was ihn mehr schmerzen würde - wenn sie sich seiner Liebe ergab, oder wenn sie sie zurückwies. Denn sie war nicht mehr getrennt von ihm, war es vielleicht nie gewesen. Vielleicht war sie ohne ihn nie ein Ganzes gewesen, und ihr früheres Ganzsein war nur Illusion. Es gab jetzt keine Gewißheit für Maggie - die Sehnsüchte der Vergangenheit wurden stärker in ihr, der drängende Schrei des Körpers, der den Körper begehrte. Oder waren es Seele und Seele, die sich begehrten? War dieser Augenblick der Ekstase einem Schicksal zu verdanken, das sie sich nicht ausgesucht hatten? Fanden Karaden und Mim endlich Erfüllung, nach Äonen des Wartens? War es das Geschenk einer Göttin an jene, die sie leiden ließ? Tränen füllten Maggies Augen, denn jetzt gab es kein Zurück mehr; sie war in einer kosmischen Strömung gefangen, viel zu weit entfernt vom Ufer. Sie wehrte sich nicht mehr, denn er war nicht mehr Peter, und sie war nicht mehr Maggie, und alles Begehren einer ewigen Liebe war plötzlich in ihr. Und so streckte sie ihm ihre Arme entgegen... Auch Peter fühlte, wie ihm seine Sinne entglitten und in einem Leuchten aufgingen wie ein neuer Stern... ungewohnte Arme und Beine wanden sich um seine... harte Fleischlichkeit wußte von ihrer kosmischen Bestimmung, und eine unaussprechliche Wärme verlangte danach, sich dem Eindringen hinzugeben. Gleich würde sie ganz ihm gehören, verloren in verbotener Liebe... verboten... verboten... Warum, o süßer milder Jesus, muß diese Schönheit mir verboten sein? Weil es sein muß. Weil diese Heftigkeit Vorrang vor allem erlangen würde. Weil die Frucht der Erkenntnis, einmal gekostet, nicht Erfüllung bringt, sondern Verdammnis.
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Mit einem Stöhnen der Qual, die so groß war, als wäre ihm bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen worden, entwand Peter sich Maggie. Er zwang seinen Körper fort von ihrem, und seine Augen, und sein Herz... keuchend, halb wahnsinnig vor Verlangen und unerfüllten Träumen, riß er seinen Körper los von ihrem, der ihn umfangen hielt, und kauerte sich wie ein großer verwundeter Löwe neben sie auf den Boden. Maggie, die sich vor Schreck nicht rühren konnte, lag vollkommen still da, fast fürchtete sie sich zu atmen. Sie stand Todesängste aus. Sie sah Peters Kampf, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen... und den Augenblick... und das Leben, das sich auftat. Wer bin ich? Was habe ich getan? Kein Laut war zu hören, außer dem leisen Knistern des letzten Holzscheites. »Ich liebe dich, Maggie«, flüsterte Peter... seine Stimme war gequält, fremd. »Bitte, bitte glaube mir, daß ich dich liebe...« Sie hörte die Niederlage in seinen Worten. Ein ganzes Leben in einem Augenblick bezwungen. »Vergib mir, daß ich dich verleitet habe, Maggie«, flüsterte er. »Es ist mein Verlangen, nicht deines, das hierzu geführt hat.« Sie wollte widersprechen, doch sein Gesichtsausdruck hielt sie zurück. »Wenn wir es tun«, sprach er hastig weiter, in dem dringenden Bedürfnis, es zu erklären, »wenn ich meinen Gelübden abschwöre... ist es die einzige Sünde, die mich ihnen ausliefert, und ich werde dich nicht beschützen können.« Er sah sie an, nackt und verletzlich m i letzten Flackern des Feuerscheins... in seinem Bild lag ein solcher Kummer, daß sie den Wunsch hatte, ihn zu berühren, ihn zu trösten; aber sie wagte es nicht. »In diesem Augenblick, Maggie«, sagte Peter in einem Ton, der keinen Raum für Zweifel ließ, »für diesen einen Akt... ich würde, glaube ich, mein Seelenheil dafür hingeben.« Er hielt inne, kaum einen Herzschlag lang. »Aber ich darf deines nicht auch hingeben.« Sie schloß die Augen, als sie das Furchtbare begriff. Tränen brachen sich Bahn und liefen unbemerkt über ihr Gesicht auf den Teppich. Was habe ich getan?
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Maggie hörte ihn seine Sachen aufsammeln und zur Haustür hinausgehen. »Ich liebe dich auch, Peter«, flüsterte sie leise in die betäubende Stille. Aber sobald sie es gesagt hatte, wußte sie, daß es eine alte, uralte Liebe war... und nicht für das Heute bestimmt. Peter stand auf der obersten Treppenstufe vor Maggies Haustür und kämpfte gegen die gewaltige Verzweiflung seines Herzens. Welch ein Wahnsinn war es gewesen zu denken, daß er das Leben kannte. Bis zu dieser Stunde war er nicht einmal lebendig gewesen. Welch ein Hochmut zu denken, er habe Gott gekannt und könne andere in dieser Kenntnis unterweisen. Wie konnte jemand Gott kennen, ohne die Liebe eines anderen Menschen gekannt zu haben? Du bist so hintergründig und verschlagen wie Satan, Gott! dachte er blasphemisch. Führst deine Priester, läßt sie an ihre Überlegenheit über dürftige Menschlichkeit glauben, wo doch das Gegenteil wahr ist. Kein Wunder, daß du uns davon abhältst, die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen... wer von uns würde die Kraft haben, das zu überstehen? Welch anmaßender Stolz zu denken, wir in unserer Unwissenheit seien die Auserwählten. Er sog die kalte Luft kräftig in seine Lungen und ging die Stufen hinunter. Ist Luzifer auf diese Weise gefallen? fragte er sich verzagt. Zuerst der Versuch, gottgleich zu sein, dann das ungeheure Versagen. Hatte auch er Demut gelernt? »Ich werde dich nie beklagen, Maggie«, sagte er trotzig vor sich hin, als er an der Ecke der verlassenen Straße angekommen war. Doch ehe die Worte verklungen waren, wußte er schon die andere Wahrheit. Ich werde beklagen - in jedem Augenblick meines Lebens -, was hätte sein können. Maggie lag zusammengerollt in ihrem Bett, kaum imstande zu atmen; und wie sie dorthin gelangt war, wußte sie nicht genau, sie fühlte sich durcheinander und unendlich allein. Die Liebe stirbt nie, rief eine furchtbare innere Stimme. Die Liebe stirbt nie, und du, die Trauernde, bleibst mit der ewigen
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Qual allein. Allein. Allein. Allein... auch fünftausend Jahre sind nicht genug, diesen Schmerz zu tilgen. Maggie glitt ins Vergessen des Schlafes... und erwachte in einem Traum: Der Mann war groß und blond; seine schlaksige Gestalt bewegte sich lässig wie jemand, der mit der Welt im Einklang war. Die Frau an seiner Seite war dunkelhaarig und schlank; sie lachte beim Gehen und sah dem Mann mit liebevollem Blick ins Gesicht. Sie hielten sich an den Händen mit der lässigen Anmut jener, die wissen, daß sie ihre Liebe nicht zu verstecken brauchen. Sie trugen goldene Eheringe, und ihre ausgelassene Kameradschaft war unübersehbar. Sie legten sich auf den weichen Sommerteppich aus Gras und Wildblumen und lächelten im behaglichen Strahlen der Sonne; die Luft war von Düften erfüllt, und der liebliche Gesang vorbeifliegender Vögel segnete den Frieden. Das Lachen der beiden verstummte, und der Mann zeichnete mit seinen Fingern ein Muster auf die Lippen der Frau. Sie lächelte über die Berührung. Sie rückte näher und schloß die Augen, um die liebende Berührung intensiver zu spüren. Seine Hand liebkoste ihren Hals und ihre Schultern, glitt dann unter den weichen, glatten Stoff ihres Kleides. Sie stöhnte ein wenig, zog sich das Kleid über den Kopf und warf es achtlos hinter sich, die Wärme der Sonne auf ihrem nackten Körper genießend. Der Mann entkleidete sich mit der beherrschten Dringlichkeit dessen, der den Rhythmus seiner Geliebten besser kennt als seinen eigenen; die Frau lag versunken in der angenehmen Benommenheit sinnlicher Erwartung. Maggie, die Träumende, fühlte sich eins mit der Traum-Frau, jede Zelle lebendig, alle Nervenenden in Gemeinschaft mit ihr in einer kosmischen Symbiose. Sie fühlte den Schatten des Mannes auf das Gesicht der Frau fallen und es kühlen. »Du bist so schön«, flüsterte er, und die Worte erschienen um so bedeutsamer, da er alles war, was sie je geliebt hatte. Sie lag wortlos im warmen Gras, matt vor Verlangen, und
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hatte ihren Kopf so gedreht, daß sie ihn sehen konnte, wie er die Arme nach ihr ausstreckte und mit der Hand zärtlich ihren Körper streichelte, mit ihren langen Haaren spielte, und wie die langen, kräftigen Finger sacht wie Glühwürmchen über Schultern, Rücken, Schenkel, Geschlecht strichen. Er spreizte ihre Beine mit allergrößter Zärtlichkeit und nahm sie überraschend, ganz plötzlich, ohne jede weitere Geste. Sie stöhnte über das rasche Eindringen, aber die willkommene Kraft erfüllte sie ganz, und sie fühlte sich von der Plötzlichkeit belebt. Er bewegte sich ganz und gar nicht so, wie sie erwartet hatte, und als er ihre Überraschung spürte, brachte er seinen Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte: »Lieg ganz still...« Maggie fühlte ihren eigenen Körper von Wonne durchströmt, sie teilte die Verzückung der Frau im Gras. Geliebt werden. Sich loslassen, sich hingeben. Sie fühlte sich von ihrem Geist wie von ihrem Körper in einen einschläfernden Wirrwarr gesogen. Woher wußte er so genau, wie sie ihn wollte? Brauchte, begehrte. Der Mann begann, sich mit unendlicher Behutsamkeit zu bewegen. Er liebkoste ihr Haar, ihre Ohren, ihren Hals und rührte sich vorsichtig, kenntnisreich in ihr. Er hatte sich wohltuend in der Gewalt, und das Wissen, daß dies so war, war genau das, was sie beide brauchten. Er bewegte seine Arme um sie und unter ihr, seine Hände bewegten sich im Rhythmus seiner Manneskraft. Es war anders als vorher; sie war irrsinnig unbeherrscht, fühlte sich wie besessen, verstanden und erkundet. Sie wünschte, daß dieses unglaubliche Gefühl nie aufhörte, diese Bewegung nie endete, diese Erfülltheit nie nachließ. Sie bog den Rücken durch, um sich seinen Stößen entgegenzuheben, und er flüsterte ihr leise »Nicht« ins Ohr. »Laß es mich allein machen.« Und sie sank wieder hinein in den Kosmos, jenseits des Regenbogens, war tief drinnen in ihrer Weiblichkeit. »Noch nicht«, stöhnte sie und versuchte, in der Vollkommenheit dieser Seligkeit zu verweilen, aber die unaufhaltsame Bewegung steigerte sich, und sie konnte die pulsierenden Ströme, Vibrationen, die wonnevoll kreisende Erfüllung nicht anhalten, bis es vorbei war.
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Aber es war nicht vorbei... und sie fühlte ihn kraftvoller denn je, stoßend, berührend, erforschend. »Diesmal machen wir es zusammen«, flüsterte er, und sie wußte, es war nichts anderes zu tun als das, was er sagte. Wo waren sie in der Zeit? Selbst im Traum wußte Maggie, daß die Liebenden sie und Peter waren, zusammen, wie es ihnen bestimmt war. Irgendwo. Irgendwo in der Zeit. Transzendente Paarung von Herz und Seele. Alle Worte gesagt, alle Sehnsüchte gestillt, alle Fragen beantwortet, die ganze Leere von tausend Leben bis zum Überlaufen gefüllt... Maggie wachte auf. Sie hatte sich vor dem Morgen gefürchtet, aber nun war sie wach, erfrischt und befreit. Sie blieb im Bett liegen und durchlebte den Traum im Geiste wieder und wieder. Und da erfüllte das sichere Wissen von seiner Bedeutung ihre Seele. Dies war alles, was ihnen je beschieden sein würde... dies war ihr bittersüßes Lebewohl. Peter Messenguer lag in seinem geliehenen Bett, erfüllt und erstaunt, denn er hatte genau denselben Traum geträumt.
70 »Ich glaube nicht, daß es ein Traum war, Mags«, sagte Ellie mit Bestimmtheit. »Sie beide waren entweder auf der astralen Ebene, wo Ihre Körper von der Beschränkung befreit waren, die ihnen in dieser Inkarnation auferlegt ist, oder Sie waren auf einer Zeitreise in eine andere Realität, wo Sie beide frei waren, sich zu lieben. Ich glaube, es war ein Geschenk, das Ihnen gemacht wurde, weil Sie sich richtig entschieden haben.« Maggie schüttelte den Kopf. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Traum entweiht hatte, indem sie ihn ihrer Freundin erzählte. »So richtig kam mir die Entscheidung nicht vor, Ellie. Als Peter mich gestern abend verließ, war ich unerträglich traurig.« Ellie lächelte ihre Freundin an; Maggie machte ein Gesicht, als wäre sie geschlagen worden, was in gewisser Weise stimmte.
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»Priester ist man auf ewig, nach den Worten der Ordination, Mags. Von da gibt es kein Zurück - das wissen auch die Abtrünnigen. Deswegen sind die schwarzen Magier immer auf der Jagd nach Priestern, die ihren Gelübden abschwören - sie betrachten das als ihren größten Sieg. Ohne einen solchen Priester können sie keine schwarze Messe lesen. Und bei der größten aller Beschwörungen muß der Magier ein aus dem geistlichen Amt verstoßener Priester sein, weil er dem unsichtbaren Universum bereits geweiht wurde. Maa Kheru muß einen parat haben für das geplante Fest, sonst klappt es nicht. Maggie, liebe Freundin, Sie müssen wissen, daß Peter gestern abend die einzig mögliche Wahl getroffen hat - und bei Gott, das muß man dem Mann hoch anrechnen. Sich nach einem Leben im Zölibat im entscheidenden Moment abzuwenden, das hat eine schöne Stange Kraft gekostet, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen, und das muß etwas zählen bei den maßgeblichen höheren Stellen.« »Ich weiß nicht, Ellie. Ich bin so schrecklich durcheinander, nach allem, was passiert ist. Mir ist jetzt klar, daß Peter und ich uns nicht lieben, jedenfalls nicht in diesem Leben. Dennoch liebe ich ihn... und trotz des Vorfalls gestern abend glaube ich, daß es seine Bestimmung ist, Priester zu sein. Er war damals Priester und ist es heute. Und ich fürchte, unsere Beziehung hat ihm geschadet, und ich weiß nicht, wie ich es wiedergutmachen soll.« Maggie machte ein so bekümmertes Gesicht, daß Ellie etwas anderes probierte. »Sehen Sie, Mags, Sie werden von einem außerordentlichen Menschen geliebt - von einem, der alles aufs Spiel setzt, was ihm auf dieser Welt heilig ist, um Sie zu retten. Das ist bedeutend mehr, als die meisten Menschen zeit ihres Lebens bekommen. Ich denke, es ist gut, daß Sie beide sich auf so intime Weise nahegekommen sind... es ist gut, daß Sie ihn so gesehen haben. Der gestrige Abend hat die Sache für Sie geklärt und zu einem guten Abschluß gebracht. Sind Sie nie auf den Ge danken gekommen, daß Peter die Vergangenheit ist, Mags? Und Sie müssen die Vergangenheit ablegen, um die Zukunft geschehen lassen zu können.«
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Maggie starrte Ellie in plötzlichem Begreifen an. Ellie warf ihr einen kritischen Blick zu und seufzte. »Ich sage nicht, daß Ihre Aufgabe leicht sein wird, meine geplagte Freundin. Ich sage nur, daß Ihnen dabei geholfen werden wird. Und wer behauptet denn, daß einem das Leben leichtgemacht werden soll? Ich schlage vor, Sie lassen es für heute gut sein. Sie haben erst mal genug von Büchern, finde ich, Sie müssen sich körperlich austoben, nicht noch mehr geistig erschöpfen. Am besten, Sie gehen zu Mr. Wong und kicken so lange auf irgendwas ein, bis Sie Ihren Mittelpunkt wiedergefunden haben, denn Sie sehen aus wie aus der Gosse gezogen.« Maggie seufzte vernehmlich und erhob sich zum Gehen, doch Ellie hielt sie zurück. »Ich habe beschlossen, mit Ihnen in den Kampf zu ziehen, Mags«, sagte sie, zur Abwechslung vollkommen ernst. »Es scheint, dies ist auch mein Kampf, Sie können also mit mir rechnen. Ich mag ja auf der Erd-Ebene ein bißchen dusselig sein, aber auf der astralen Ebene bin ich ausgesprochen gut drauf. Sie sollten wirklich ein bißchen kicken und boxen, oder was immer Sie bei dem netten kleinen Chinesen machen, und danach werden Sie und ich unsere Strategie festlegen. Die Arschlöcher haben nicht alle Asse in der Hand, sonst wäre es kein fairer Kampf. Und das Universum liebt einen fairen Kampf, vor allem, wenn es absolut hoffnungslos aussieht. Vergessen Sie nicht, es war David, der zum Essen nach Hause zog, nicht Go liath.« Getröstet durch die Liebe ihrer Freundin, tat Maggie wie geheißen und ging zu Mr. Wong, um ihren Mittelpunkt zu finden. Cody kauerte am Kopfende ihres Bettes; Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihre Unterlippe war blutig gebissen. Sie war dünner geworden; jedesmal, wenn sie sich weigerte, den Cocktail zu trinken, schickte Ghania sie ohne Essen ins Bett. Aber das war nicht mehr das Schlimmste. Ghania sagte, wenn sie diesmal nicht tränke, würde sie sie mit der Schlange allein lassen. O Mim! Warum bist du nicht wiedergekommen? rief das kleine Mädchen zornig. Warum hast du mich nicht gerettet? Sie
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hielt den ramponierten Teddy in den Armen. Manchmal war sie sehr wütend auf Mim, weil sie sich nichts mehr aus ihr machte. Manchmal haßte sie sie beinahe. Aber dann... Sie hatte nichts, außer den Mim-Schätzen, woran sie sich halten konnte. Einen nach dem anderen nahm sie sie jetzt in die Hand: den goldenen Knopf, den Faden, die Muschel, das Bild aus dem Märchenbuch, wo die Dame aussah wie Mim, die getrocknete Blume, die roch wie Mims Parfüm... Vielleicht würde die Schlange sie heute nacht fressen. Sie würde ganz allein in ihr drin sein und schreien... sie konnte fast die enge, feuchte Dunkelheit fühlen, die sie in ihren Träumen quälte. Cody unterdrückte schniefend ihre Angst; sie wollte alle ihre Schätze mitnehmen. Sie hielt den goldenen Knopf an ihre Wange und griff nach der Muschel. Etwas ließ sie aufblicken - Ghania stand auf der Türschwelle. Und sie lächelte. »Hast du Geheimnisse vor mir versteckt?« fragte die Hexe, als sie auf das Bett zuging. Instinktiv drückte sich Cody in die Ecke. Sie versuchte, die Schätze unter sich zu verbergen, aber schon war Ghania bei ihr, behende wie eine Kobra, und riß ihr die kostbaren Andenken aus den kleinen Händen. Codys Finger schlossen sich verzweifelt um den Knopf, doch Ghania bog die Fingerchen eines nach dem anderen nach hinten, bis das Kind vor Schmerzen schrie und der Knopf in Ghanias Hand fiel. »Nein!« schrie Cody und griff nach dem Knopf. »Nein. Nein! Gib ihn her. Der gehört mir!« Ohne die Folgen zu bedenken, warf sie sich auf Ghania und trat, kratzte, boxte. Alle Schrekken, alle Ängste und der ganze Haß auf ihre Peinigerin brachen aus ihr heraus. Ghania hielt sie wie ein zappelndes Wildkatzenjunges auf Armeslänge von sich. »Er gehört nicht dir«, zischte sie dem hilflosen Kind zu. »Jetzt gehört er mir! So wie du mir gehörst.« Die Kinderfrau warf sie aufs Bett wie einen Sack zerknitterte Wäsche. Dann zertrat sie die zarte Muschel mit dem Absatz und zerriß das Bild in Schnipsel. Sie riß dem Teddybär mit einem heftigen Ruck den Kopf ab. Den kostbaren Knopf steckte sie in den
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Beutel, den sie um den Hals trug, und Cody wußte, sie würde ihn nie, nie wiedersehen. Als Ghania das Zimmer verlassen hatte, saß Cody auf ihrem Bett, ihr Gesicht eine marmorne Maske. Sie weinte nicht. Jetzt hatte sie nichts mehr. Nichts zum Liebhaben. Nichts zum Hoffen. Keinen Geheimplatz, an dem sie etwas vor Ghania verstecken konnte. Und Mim würde nie wiederkommen.
71 »Du wolltest mich sprechen, Nicky?« fragte Jenna in dem verführerisch gurrenden Ton, in dem sie gewöhnlich mit ihm sprach. Sie hatte immer gewußt, daß er sie begehrte, und sie gefiel sich in der Vorstellung, daß es diesen arroganten Fiesling nach etwas gelüstete, das er nicht kriegen konnte. Sie genoß es, als Erics Frau das einzige weibliche Wesen des Hexensabbats zu sein, das für die anderen tabu war. Nicky stieß entschlossen die Tür zu, dann stand er da und betrachtete Jenna. Sie trug einen apfelgrünen Satinmorgenrock, der der Phantasie wenig Spielraum ließ. Unter Nickys starrem Blick fühlte sie sich plötzlich nackt und verwundbar. »Du machst dich gerne über mich lustig, stimmt's, Jenna?« Seine heisere Stimme veranlaßte sie, vom Bürsten ihrer Haare abzulassen und Nicky mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie drehte sich vom Spiegel ihres Schminktisches um und sah ihn neugierig an. »Ich verstehe nicht, wie du das meinst, Nicky«, entgegnete sie unsicher. »Ich habe dir nie schaden wollen. Schau, heute abend kommen eine Menge Leute zu einem neuen Ritual, das Eric sich ausgedacht hat, und ich muß mich noch fertigmachen, deshalb wäre es besser, du würdest gehen, bis er nach Hause kommt.« Nicky trat einen Schritt näher an die Sitzende heran, gleichzeitig zog er seine Anzugjacke aus und ließ sie lautlos hinter sich auf einen Sessel fallen. Jenna beobachtete seine Bewegungen so
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fasziniert wie ein Mungo eine Kobra. Er lockerte Krawatte und Gürtel; die Geste hatte etwas einzigartig Bedrohliches, und ihr Selbsterhaltungstrieb erwachte. Sie hatte auf der Straße gelebt und erkannte mit einem Blick, wenn es Ärger gab. Sie lächelte so entwaffnend, wie sie es in ihrer aufkommenden Furcht vermochte, und wandte sich - nonchalant, wie sie hoffte - von ihm ab. Wenn sie es bis zum Ankleidezimmer hinter ihr schaffen könnte, denn die Tür dort hatte einen Riegel. »Ich war gerade dabei, high zu werden, Nicky«, sagte sie lässig, als sie aufstand und sich auf die Tür zubewegte. »Willst du mir Gesellschaft leisten? Ich habe den Stoff in meinem Ankleidezimmer ...« Mit seinen langen Beinen durchquerte Sayles das Zimmer mit zwei Schritten; seine Finger um ihr Handgelenk hatten eine verblüffende Kraft. Jenna hörte ihre Knochen knirschen. »Ja, ich will dir Gesellschaft leisten, Jenna«, sagte er leise boshaft. »Ich denke, du hast es schon lange gewußt - und du hast dir bei der Vorstellung auf meine Kosten einen Spaß gemacht, stimmt's?« Jennas spitzer Schrei ließ ihn ihren Arm nur noch fester drücken. »Bitte!« stöhnte sie, als er ihn ihr auf den Rücken drehte, so daß der Schmerz sie auf die Knie zwang. »Du tust mir weh. Bist du verrückt, Nicky? Eric wird dich umbringen!« »Eric macht sich überhaupt nichts aus dir, du Schlampe«, sagte er, während er die hilflos Zappelnde mit einer Hand hielt und ihr mit der anderen den Morgenrock vom Leibe riß. »Ghania sagt, du bist gerne nackt«, keuchte er, als er ihren Körper berührte. Sein Gesicht lief rot an vor Begierde, und Jenna fing an zu schreien - durchdringende, ohrenbetäubende Schreie, die das Personal hätten herbeiholen müssen. Nickys Gelächter war die einzige Reaktion auf ihr dringliches Rufen. Sie würde sich allein retten müssen. Der Gedanke durchzuckte sie und ließ sie alles ganz klar sehen. Nicky lockerte seinen Griff, um sich auszuziehen, und Jenna taumelte fort von ihm, rappelte sich auf die Füße, sah sich rechts und links nach einem Fluchtweg um wie ein Fuchs in der Falle. Warum kam denn niemand? Das Personal mußte sie gehört haben! Sie warf
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sich gegen die Tür des Ankleidezimmers, aber Nicky zog sie zurück, und ihr Rücken scheuerte schmerzhaft über den Fußboden. Sie fühlte, wie ein Splitter sich in ihre Haut bohrte. Mit der Kraft, die echte Angst verlieh, entwand Jenna ihren Arm noch einmal seinem Griff und kratzte mit ihren langen Fingernägeln an seinen Augen. Sie trat nach seiner Jockey-Unterhose, aber Nicky parierte mühelos und warf Jenna mit einem Hieb auf den Kopf, der sie benommen machte, zu Boden. Dann war er auf ihr, und sie wehrte sich gegen den Körper, der sie niederdrückte, und die überwältigende männliche Kraft seines gemeinen Vorhabens. Und wieder schrie sie, laut genug, um Tote aufzuwecken. Jenna fühlte Nicky gewaltsam in sich eindringen, schmerzhaft, erbarmungslos, gerade als die Schlafzimmertür aufsprang. Gott sei Dank! Jemand war ihr zu Hilfe gekommen! »Ghania!« kreischte sie außer sich. »Hilf mir! Hol Eric. Hilf mir!« Jennas Worte wurden von der stoßenden männlichen Ge walt zerrissen... Jetzt erschienen hinter Ghania noch mehr Menschen in der Tür. Gäste in Abendkleidern und Smokings traten an der Hexe vorbei ins Zimmer; lachend und plaudernd deuteten sie auf das Paar, das sich auf dem Fußboden wälzte. Eric bietet auf seinen Abendgesellschaften stets die beste Unterhaltung, stand in ihren anzüglich grinsenden Gesichtern zu lesen. Jenna drehte den Kopf weg und begann leise zu schluchzen, während Nicky sie brünstig befummelte und sich ergoß; die ganze Brutalität seiner Natur fand Befreiung in diesem Akt. Einige Zeit später gingen die Gäste wieder hinaus, und Nicky ließ von seinem Opfer ab und stolperte ins Badezimmer. Jenna blieb verwundet und blutend auf dem Teppich liegen, zu elend und gedemütigt, um sich zu rühren. Ghania nahm den Schaden mit kundigem Blick in Augenschein; es war nicht viel Blut, aber aus dem guten Teppich war es schwer herauszubekommen. Sie schnalzte verärgert mit der Zunge und trat auf die Schluchzende zu, ohne ihr Leid zu beachten. »Warum, Ghania, warum?« krächzte Jenna, als sie sich von den starken Händen aufgehoben fühlte.
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»Weil er dich wollte«, erwiderte die Frau schlicht. »Weil du unwichtig bist und uns tot jetzt mehr nützt.« Jennas Kopf schnellte in die Höhe. »Tot! Wie meinst du das, tot?« Die unerwartete Drohung ließ sie von ihrer neuen Wärterin zurückfahren, aber sie war Ghanias kolossaler Kraft ebensowenig gewachsen wie der von Nicky. »Du wirst bei der Messe heute abend das Opfer sein«, verkündete Ghania in einem Ton, als spräche sie über die Unvermeidlichkeit des Regens. »Ich werde dich vorbereiten.« Die Wucht des Verrats erschütterte Jenna. »Aber ich bin Erics Frau...«, stieß sie hervor. »Das ist Wahnsinn. Er würde so etwas nie zulassen.« »Idiotin!« zischte Ghania verächtlich. »Du warst nichts weiter als eine Beigabe für Eric. Wir wollten das Kind. Nur das Kind... das du uns so bereitwillig überlassen hast. Sogar eine Hyänin wäre eine bessere Mutter als du.« Jenna fühlte, wie ihr die Galle hochkam; die Realität verursachte dieselbe Übelkeit wie auch das Nachlassen der Wirkung der Drogen. »Er wollte Cody? Deswegen hat er mich geheiratet?« »Er hat dich nur geheiratet, um das Kind adoptieren zu können«, höhnte Ghania. »Hättest du nicht so einen herrlichen Körper, wärst du schon längst beseitigt worden, verlaß dich darauf. Und erzähl mir nur nicht, du hättest nicht gewußt, daß das Kind geopfert wird.« Ghanias Augen glitzerten boshaft. »Geopfert? Wovon redest du?« Jennas Stimme war schrill vor Angst. »Nein! Ich schwöre, das habe ich nicht gewußt. Eric sagte, sie sei etwas Besonderes, aber von einem Opfer hat er nie etwas gesagt...« »Scheinheilige! Spiel hier nicht das Unschuldslamm. Du hast dich und deine Tochter verkauft - eine größere Sünde gibt es nicht! Dir lag ja nicht mal so viel an ihr, um zu fragen, was mit ihr geschehen würde. Aber ich will es dir in aller Deutlichkeit sagen, damit du das ganze Ausmaß deiner Schuld mit in deine ewige Marter nehmen kannst. Weißt du, wie sorgsam wir dir nachgestellt haben, sobald der Fürst wußte, daß du das Stern-Kind geboren hattest? Wir haben
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deine Drogensucht gefördert und dich mit deiner eigenen Schwäche in unsere Falle gelockt. Weißt du, wie leicht es ist, eine Drogenabhängige zu kontrollieren? Wie jeder Schuß deine Seele ein bißchen weiter für die niedere Astral-Ebene öffnet, wo unsere Lakaien ungeduldig warten? Wie jede neue Droge, die du probierst, den Dämonen Zugang verschafft, die seit Äonen die Menschheit umschwärmt und auf diesen Zugang gewartet haben? Du und deine Generation der Verdammten habt den Fürsten der Finsternis in die Festung eingeladen... ihr habt seinen Legionen Tür und Tor geöffnet!« Ghania hatte triumphierend die Stimme gehoben. »Und du bist zu blöde und zu egoistisch, um zu merken, was du getan hast.« Sie schüttelte angewidert den großen Kopf. »Ich muß sagen, du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, als du das Kind bei deiner Mutter ließest. Aber auch das war natürlich kein Zufall - auch die andere Seite hat ihre Mächte, um Ereignisse zu lenken... Oh, wir haben darüber diskutiert, was wir wegen deines kleinen Abstechers in die Selbständigkeit unternehmen sollten. Doch am Ende wußten wir, es war nicht notwendig, das Kind früher als ein paar Wochen vor dem Datum des Zeremoniells in unseren Besitz zu bringen. Zeitig genug, um ihre Kräfte zu erwecken, ohne uns zu lange mit den Folgen abzugeben.« »Kräfte. Was für Kräfte! Wovon redest du?« fragte Jenna im Dunst der Erkenntnisse, die Ghanias Erklärung heraufbeschwor... Eric hatte sie nie geliebt. Er hatte sie nur benutzt. Sie alle hatten sie benutzt. Sogar die Drogen waren ein Mittel gewesen, um sie in der Hand zu haben. »Du kleiner Dummkopf«, sagte Ghania verächtlich. »Du hast die einzige Hoffnung der Menschheit geboren und hast nicht mal ihren Wert erkannt. Oh, du wirst leiden für deine Sünden, verlaß dich drauf. Wenngleich der Fürst beschließen mag, deine Qualen ein wenig zu mildern, weil du uns die Arbeit so leicht gemacht hast. Deine Tochter ist die Isis -Botin! Das Kind, das den Schlüssel zur Materialisation der großen Amulette von Gut und Böse in der Hand hält, die fünftausend Jahre auf den Inneren Ebenen verwahrt waren! Wir haben sie in den Fluren der Zeitalter gesucht, und in einer Woche wird Cody Maa
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Kheru das Mittel verschaffen, alle Schrecknisse auf diesem Planeten zu beherrschen. Und das alles, weil du zu selbstverliebt warst, um dich zu fragen, weswegen ein Mann wie Eric Vannier mit einer Null wie dir Zusammensein wollte.« »Was wird aus Cody?« flüsterte Jenna benommen. Isis-Botin? Amulette von Gut und Böse? Was war das für ein Irrsinn, von dem die alte Hexe redete? »Ihre Seele wird von Dämonen in alle Ewigkeit eingesperrt sein... ihr Leib wird der unsterbliche Tempel für die Flamme der Göttin Sekhmet sein.« Jenna wehrte sich nur schwach gegen die Männer, die Ghanias Befehle erwarteten; sie wurde von einer widerwärtigen Übelkeit überwältigt, so daß sie kaum atmen konnte. Codys Seele würde ihretwegen verdammt sein... ihr eigenes Leben würde geopfert werden! Reue durchflutete sie wie eine plötzliche Überschwemmung, die alles mit sich riß. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Warum hatte sie das Kind nicht bei ihrer Mutter gelassen? Sie war beinahe versucht, zu Gott um Hilfe zu beten, aber sie war für eine andere Gottheit wiedergetauft worden, und im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß alles ein für allemal verloren war. Ghania sah zu, wie die junge Frau in die Verdammnis geführt wurde. Sie hatte kein Mitleid mit ihr, aber die Verschwendung des Körpers ärgerte sie. Jenna war es übel, sie brauchte dringend einen Schuß. Ihr Kopf hämmerte, sie erbrach sich, ihr Fleisch fühlte sich an, als wären Insekten hineingekrochen. Die Angst schnürte ihren Atem ein wie ein eisernes Band - aber das war eine Reaktion auf die entsetzliche Realität und hatte nichts mit Drogen zu tun. Zuerst war sie von Nickys Überfall und Erics verheerendem Verrat zu benommen gewesen, um sich zu wehren. Ihr ganzer Körper tat weh von der Vergewaltigung; sie war übel zugerichtet, und es war nicht nur ihr schmerzendes Geschlecht, das geschändet war. Eric hatte sie nie geliebt, er hatte sie nie begehrt, hatte nie vorgehabt, seine Welt mit ihr zu teilen. Er hatte sie benutzt, ihren
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Körper, ihren Geist, sogar ihr Kind. O Gott! Der Schweinehund hatte sie dazu gebracht, ihr Kind zu verraten! Jenna wußte nicht, ob Drogenentzug oder diese entsetzliche Erkenntnis die Hauptursache ihrer Übelkeit war. Alles war so ein Spaß gewesen, als es anfing... ein aufregender, reicher und mächtiger Mann hatte sie begehrt. Vor allen anderen hatte er sie als seine Gattin erwählt. Als er ihr schließlich das Geheimnis seines Erfolges offenbarte - die Maa-Kheru-Welt der Magie -, hatte ein Teil von ihr sich begeistert für das Zeremoniell, die Hemmungslosigkeit und die rohe, ungezügelte Macht, die sich so weit jenseits von Recht und Gesetz bewegte. Sie hatte es geliebt, sich zu verkleiden und Priesterin zu spielen... natürlich hatte sie niemand töten wollen, doch selbst diese Überzeugung war durch Drogen abgestumpft worden. Eric verstand besser als jedes Pharmazeutikum, auf alles so einzuwirken, daß es sich nach seinen Wünschen fügte. Und Eric verstand es, sie mit Sex rasend zu machen, daß nichts anderes mehr zählte - und so war sie bereit, für die Brunft oder die Befriedigung ihres begehrlichen Fleisches zu töten. Und dann hatte sie kein Gewissen mehr und auch nicht den Wunsch, eines zu haben... in der Welt von Maa Kheru lautete die einzige Regel: »Tun, was du willst, sei dein ganzes Gesetz.« Der Gedanke an Cody nahm schärfere Konturen an. Sie hatte Cody einst geliebt... aufrichtig geliebt. Auch als sie sie bei Maggie ließ, hatte sie es aus Liebe getan. Genau wie die Umstellung: auf Methadon, als sie schwanger war. Lieber Gott! Sie hatte wirklich während der ganzen Schwangerschaft clean bleiben wollen. Sie hatte nie wieder eine Nadel in ihren Arm stechen wollen. Wie oft wäre sie beinahe heimgekehrt? Aber dann wurde das Kind geboren, und es brauchte dies und das. Und schrie, wenn es das nicht bekam. Und es war wirklich anstrengend, es zu hüten. Und sie brauchte Geld, um es zu versorgen, und Geduld, um es zu pflegen, und schon sah alles wieder hoffnungslos aus. Darum hatte sie Cody bei ihrer Mum abgeliefert. Ihre Mutter war auch sehr anstrengend, aber sie war so zuverlässig... das zumindest hatte Jenna gut gemacht. Dann war sie wieder auf die Straße gegangen... und hatte den Job in dem
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Club bekommen... und dann war Eric aufgetaucht, und es sah aus, als würde am Ende doch noch alles gut werden... Wie konnte ich ahnen, daß alles eine verdammte Lüge war? Wie konnte ich ahnen, daß nicht ich diejenige war, die er wollte? Jenna kämpfte wie wild gegen die Seile an, mit denen sie an Händen und Füßen gefesselt war; Wut und Angst verliehen ihr neue Kraft. Verdammt, was hatten sie heute abend mit ihr vor? Sie hatte gesehen, wie Menschen geopfert wurden. Sie hatte die zuckende Qual ihres Sterbens miterlebt, und sie hatte nie gedacht, daß sie so etwas Grausames mit ihr machen könnten! In der Tür stand Ghania, angekleidet für das Ritual: Eine pechschwarze Dschellaba, mit silbernen und goldenen magischen Zeichen bestickt, umhüllte ihren Körper; ein Turban aus Goldlame schmückte ihren Kopf. Obskure Symbole waren mit roter und gelber Farbe auf ihr Gesicht und ihre Arme gemalt. Sie winkte vier großen Männern, ihr in den Raum zu folgen; auch sie waren für die Zeremonie gekleidet. Jenna sah, daß es keine Diener waren, sondern Angehörige von Maa Kheru. »John!« flüsterte sie dem jungen Börsenmakler eindringlich zu, der ihr so oft lustvolle Anträge gemacht hatte. »Hilf mir! Laß nicht zu, daß sie mir weh tun, John, bitte!« Sie sah einen Anflug von Zweifel seine Augen trüben, bevor er den Blick abwandte. »Vernachlässige deine Aufgabe nicht, John Menton!« wetterte Ghania. »Auch du bist durch einen Eid gebunden. Schwankst du in deinem Entschluß, verwirkst du alles, was du errungen hast.« Menton packte Jennas Arm mit frischer Kraft. Hier stand eine Menge auf dem Spiel - mehr, als er für die junge Frau zu riskieren bereit war, mit der ihn nichts verbunden hatte. Der Eric Vannier, der die Satanskapelle betrat, war eine ganz andere Erscheinung als der elegante internationale Finanzfachmann, den er tagsüber darstellte. In erlesene ägyptische Gewänder gekleidet, die mit Ornamenten und komplizierten Hieroglyphen bestickt waren, nahm er eine majestätische Haltung an, als ob das Wissen um seine Mission jeder einzelnen Zelle seines Körpers Macht verliehe.
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Ghania folgte ihm in ein paar Schritten Abstand, ausgestattet mit den prächtigen Insignien einer Kult-Priesterin. Sie hielt eine große Kristallkugel aus Rauchquarz in der Hand. Diese war von Hohepriesterin zu Hohepriesterin weitergegeben worden, und jede Besitzerin hatte in ihr ihre bösen Kräfte zurückgelassen. Eric gab den Wächtern, die die zappelnde Jenna bändigten, ein Zeichen, mit der Zeremonie zu beginnen. Unsanft zerrten sie sie in die Mitte des Raumes und die Altarstufen hinauf. Eric runzelte die Stirn über ihren verwüsteten Zustand; sie sah abgehärmt aus vom Drogenentzug und vor Angst, die so urzeitlich und fühlbar war, daß der Raum förmlich davon summte. Selbst ihr sonst so vollkommener Körper war entstellt von den Kratzern und Prellungen, die sie erlitten hatte. Jenna flehte Eric herzzerreißend an, als sie an ihm vorbeikam, sie bat ihn, sich zu erinnern, was sie einander gewesen, bettelte um Gnade. Er fand ihre Feigheit äußerst widerwärtig. Rings um sie wurde Gesang angestimmt, und Jenna wurde von rasender Furcht ergriffen. Sie wehrte sich mit schwindender Kraft gegen die Wärter, die sie unerbittlich zu ihrer endgültigen Bestimmung schleppten. Andere, feierlich gekleidete Gestalten beobachteten ihren Kampf mit einer gewissen routinierten Erregung; die Energie eines unwilligen Opfers besaß eine intensive Frequenz. Alle Teilnehmer an dem Ritual waren sich der veränderten Vibrationsgeschwindigkeit in dem durch Jennas Entsetzen aufgeladenen Raum zutiefst bewußt. »Sie wird einen vorzüglichen Altar abgeben, Nummer Vier«, sagte eine kultivierte Stimme, die nur leicht gedämpft war durch die Kapuze, die das Gesicht vor Blicken schützte. »Ich war ehrlich erstaunt über diese Ladung, Nummer Sieben«, erwiderte ein Pariser. »So sehr es mich entzückt, vor dem Großen Sabbat ein unerwartetes Opfermahl zu genießen, hoffe ich doch, daß diese Versammlung nicht wegen des Eintretens widriger Umstände so überstürzt einberufen wurde.« Die größere, in einen Umhang gehüllte Gestalt zuckte die Schultern. »Ich denke, es war unvermeidlich, daß Eric sich seiner Gattin entledigte, findest du nicht? Man kann Müttern nie
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vollständig trauen, wenn es um Kinder geht. Sie hätte in einem ungünstigen Moment die Nerven verlieren können.« Eine weitere, mit einer Kapuze bekleidete Gestalt gesellte sich zu ihnen. Am Schnitt des Gewandes war zu erkennen, daß eine Frau darunter steckte. »Sie war nie eine geeignete Gemahlin für einen Hohepriester«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Aber ich wette, sie war ein geeigneter Hase fürs Bett«, witzelte Nummer Sieben zu jedermanns Belustigung. Die Frau wollte etwas erwidern, aber das Geräusch von tibetischen Tempelglocken rief das leise Stimmengemurmel zur Ordnung. Die Glocken dienten der Veränderung der Vibrationen im Raum und der Verkündigung des Beginns der Zeremonie. Jenna lag jetzt ausgestreckt angekettet; ihr Kopf hing nach Süden hin über die Altarkante hinab, so daß ihr das Atmen schwerfiel. Ihre Füße waren nach Norden ausgerichtet. Sie schluchzte in erschöpften, krächzenden Stößen, ihr nackter Leib bäumte sich zuckend auf gegen das Unvermeidliche. Das ganze Ausmaß der Gefahr hatte ihr Flehen um Gnade schließlich verstummen lassen - für Mitgefühl befand sie sich in der falschen Gesellschaft. Der Gesang ebbte in Wellen auf und ab, während ihr Verstand, Vergessen suchend, von einem Entsetzen zum anderen flatterte. Ihr Leben huschte an Jenna vorüber. Der Gedanke an Cody durchbohrte ihr das Herz... sie würde ihr Kind vor diesem Schrecken bewahren, wenn sie konnte. Sie wollte sich läutern, wollte eine kleine rechtschaffene Tat mit in die Ewigkeit nehmen. Wollte Eric seiner Beute berauben. Die Klinge des Hohepriesters blinkte unheimlich über ihr in der höhlenartigen, von Kerzen erleuchteten Kapelle. Er hob das mit Edelsteinen besetzte Heft des uralten Dolches und vollführte über dem Opferleib seltsame Kreise. Jenna betete stumm, er möge nicht den Tod der zweihundert Schnitte im Sinn haben, die am längsten währende und qualvollste Art. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie es sein würde, bei lebendigem Leibe gehäutet zu werden. Erics Arme waren zu dem uralten Gruß an die Mächte des Bösen erhoben - er rief den Fürsten der Finsternis und die Göttin
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Sekhmet mit ihren machtvollen Geheimnamen an und bat sie, das Opfer des Gefäßes, das die Botin hervorgebracht hatte, anzunehmen. Die Altardiener hörten auf, die Fässer mit beißendem Weihrauch zu schwenken, und reichten Ghania zwei Schalen; diese mu rmelte etwas über ihnen, bevor sie sie an Eric weitergab. Sie waren mit Blut und Exkrementen gefüllt, in welche gestohlene Hostien geworfen und damit entweiht worden waren; er benutzte die widerwärtige Masse, um geheimnisvolle Lettern auf Jennas heftig zuckenden Leib zu schreiben. Die feierlich gekleideten Zuschauer waren jetzt voll bei der Sache. Sie sangen leise, und die klangvollen Laute vermischten sich mit Jennas kläglichen Schluchzern. Eric erhob den heiligen Dolch noch einmal über den Körper der jungen Frau und intonierte die uralten Worte, um den Fährmann des Hades aufzuwecken, der die verlorene Seele des Opfers in die Unterwelt befördern würde. Er entnahm einem Tabernakel auf dem Altar eine Schriftrolle - es war der dämo nische Pakt, den Jenna bei ihrer Heirat mit ihrem Blut unterschrieben hatte. Er las die Worte mit tönender Stimme, aber sie verstand sie nicht mehr. Eric sah Jenna an, keine Spur von Zuneigung im Gesicht, nicht einmal von Erkennen. Das Mädchen war ein erwähltes Gefäß gewesen, um die Isis -Botin hervorzubringen. Er war gut zu ihr gewesen, wenn es nötig war, und grausam, wenn dies angemessen war. Im Augenblick störte ihr Schniefen seine Konzentration, es vertrug sich nicht mit den schönen rituellen Worten, die die Opferung begleiteten. Jenna wollte nicht betteln, aber vielleicht würde ein Teil von ihm sich auf alles besinnen, was sie einander gewesen waren... vielleicht würde eine Erinnerung ihn gnädig stimmen. Sie kreischte seinen Namen heraus, eine unverzeihliche Kränkung. Als die Klinge ihre Zunge fand, wurden die Schreie zu Gurgeln. Ich ertrinke! dachte sie irre, und es schien plötzlich wichtiger als die Angst oder der Schmerz. Danach dachte Jenna nichts mehr. Sie litt nur noch, bis sie
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starb. Das letzte, was sie auf Erden sah, war Ghanias lächelndes Gesicht. Mit ihrem letzten Atemzug schwor Jenna O'Connor Vannier Rache.
72 Alpträume von Blut und Schmerzen bedrängten Maggies Schlaf von dem Augenblick an, als sie den Kopf aufs Kissen legte. Sie hatte sich so heftig hin und her gewälzt, daß die Laken als wirrer Haufen um sie herum lagen, als das Schrillen des Telefons in ihrem Bett sie um drei Uhr morgens weckte. »Spreche ich mit Mrs. Margaret O'Connor?« fragte eine Stimme. Maggie mühte sich, die Schlaftrunkenheit aus dem Kopf zu vertreiben, und tastete nach der Lampe. Die Stimme gab sich als Polizeibeamter zu erkennen. »Bei den Cloisters hat es einen Verkehrsunfall gegeben«, sagte der Mann. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, Mrs. O'Connor, daß der Wagen Ihrer Tochter außer Kontrolle geriet und die Leitplanken durchbrach. Leider ist die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, aber ihre Handtasche ist weggeflogen, als das Auto sich überschlug. Sie enthielt eine Visitenkarte des Antiquitätengeschäftes - deswegen haben wir Sie so schnell gefunden.« »O mein Gott!« stöhnte Maggie, während sie sich anstrengte, es zu begreifen. »Officer, war ein Kind bei meiner Tochter im Auto?« »Nein, kein Kind. Sie war allein. Wir sind noch bei der Untersuchung, wie es passiert ist, Ma'am. Wir müssen natürlich die Unterlagen des Zahnarztes Ihrer Tochter überprüfen, um sicherzugehen... die Leiche wurde durch die Explosion furchtbar verstümmelt. Können Sie mir sagen, wer ihr Zahnarzt war?« Der Mann stellte Routinefragen, dachte Maggie, als ob sie fähig wäre, sie zu beantworten. Aber das war Wahnsinn. Wußte er nicht, daß es in ihr keine Antworten mehr gab? Vielleicht gab es auf der ganzen Welt keine Antworten mehr... Sie behielt den Hörer lange in der zitternden Hand, ehe sie imstande war aufzulegen. Sie saß wie gelähmt auf der Bettkante,
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den Hörer umklammernd, starrte ins Leere und versuchte sich zu besinnen, wie man atmete. Jenna war tot. Jenna würde nie mehr nach Hause kommen, nie Codys Mami sein oder Maggies Kind. Nie die verlorene Zeit aufholen, oder die verlorene Liebe, oder die verlorene Hoffnung. Eric hatte sie getötet, das war die schlichte Wahrheit, egal, wie es für die Polizei aussah. Der herzlose Schweinehund, der Jennas Ehemann war, hatte Maggies Kind getötet. Und jetzt war Cody allein mit dem Mörder ihrer Mutter. Ein Schrei entrang sich einer Tiefe in ihr, jenseits der zivilisierten Schichten, die die Menschheit über die Tiere erhoben. Ein geheimes Trauerreservoir öffnete seine Schleusentore, und Maggie hörte mit großem Entsetzen ihre eigene Stimme schreien. Als Maria Aparecida das Geräusch vernahm, rannte sie aus ihrem Schlafzimmer über den Flur zu Maggie, und ohne zu ahnen, was für eine Tragödie sich ereignet hatte, legte die mütterliche Frau einfach die Arme um Maggie und hielt sie fest, bis sie aufhörte, um sich zu schlagen und zu schreien. »Weine, meine Tochter«, summte sie wie zu einem Kind. »Weine alle Tränen heraus, die du heimlich versteckt hast... Maria versteht den Schmerz deines Herzens... Maria versteht...« Maggie öffnete die geschwollenen Augen und blinzelte in das frühmorgendliche Licht. Einen seligen Augenblick dachte sie, alles sei ein gräßlicher Traum gewesen, aber Maria Aparecidas besorgtes Gesicht neben dem Bett brachte sie in die Wirklichkeit zurück. »Dona Maggie, ich bitte um Vergebung. Ich hätte Sie nie geweckt... Sie haben ja nur ein, zwei Stündchen geschlafen, Gott helfe Ihnen. Der Mann, er hat gesagt, ich muß Ihnen das hier sofort geben. Es hat was mit Jenna zu tun, sagt er.« Sie schlug das Kreuzzeichen, als sie den Namen der Verstorbenen aussprach. Maggie nickte, ohne zu begreifen. Das hier ergab so wenig Sinn wie alles übrige. Wie konnte irgendein Mann von Jenna wissen... Ihr Kopf hämmerte, als sie sich aufsetzte. Sie konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein. Nur, daß sie geweint und daß sie geschrien hatte, daran konnte sie sich erinnern. Und an den Anruf.
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Zitternd stand sie auf und schlüpfte in die Pantoffeln neben dem Bett. Sie hatte einen Geschmack im Mund wie Blut, und ihr war durch und durch übel. Maggie riß das braune Papier von dem Päckchen. Es enthielt eine Videokassette ohne Beschriftung. Sie sah Maria fragend an, dann ging sie zu dem Schrank gegenüber ihrem Bett und schaltete den Fernsehapparat ein, um zu sehen, was das sein könnte. Sie bedeutete Maria, sich auf den kleinen Boudoir-Sessel zu setzen, um sich mit ihr die Kassette anzusehen. Das Video hatte die Qualität eines schlechten Amateurfilms; das Bild war zuerst dunkel, die Handlung kaum erkennbar. Winzige Lichtpunkte schienen im Zickzack über den leeren Bildschirm zu hüpfen, und dann setzte der Ton ein - ein unheimlicher Gesang, der Maggie veranlaßte, genauer aufzupassen. Plötzlich wurde das Bild scharf, als hätte jemand eine Lampe eingeschaltet, und Maggie erkannte das verweinte, verängstigte, über die Kante eines Altars hängende Gesicht ihrer Tochter, das herrliche flachsblonde Haar schwer von Schweiß wie die Mähne eines Palominos nach einem anstrengenden Ritt. Eric Vannier in bizarrer Aufmachung tat etwas... sie konnte es genau sehen... Lieber Himmel! Er schnitt mit einem edelsteinbesetzten Messer an ihrem Körper herum! Wie ein Schlachter, der eine Rinderhälfte zerlegte, tranchierte er routiniert, tauchte die Hände in die offenen Wunden ihres sterbenden Kindes! Völlig gelähmt vor Schock starrte Maggie auf den Bildschirm. War das Maria Aparecidas Stimme unter den Singenden? Nein, nein! Das war ein furchtbares Mißverständnis. Heilige Maria voll der Gnaden... sie beteten den Rosenkranz! Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes... Maria Aparecida sprach Gebete, vollkommen schockiert von dem, was sie gesehen hatte. Das Gemetzel auslöschen... Jetzt und in der Stunde... das Gemetzel auslöschen... Der Herr ist mit dir... Sie starrte wie gelähmt auf den dunklen Fernsehschirm, aber ohne ihn zu sehen. Sie sah vielmehr ein lachendes Kind namens Jenna am Tag ihrer Taufe, unschuldig, kostbar,
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Gott nahe. Und die junge Mutter, die es draußen vor der Kirche so stolz auf dem Arm hielt, voll Liebe und Hoffnung und in seliger Ahnungslosigkeit dessen, was ihr in den kommenden Jahren genommen und zerstört werden würde. Maggie schaffte es kaum bis ins Bad, bevor sie sich übergab. Sie saß auf dem Fliesenboden, klammerte sich an der Toilette fest, und Tränen unaussprechlicher Qual liefen ihr über das Ge sicht. Nichts auf dieser Erde würde jemals die Erinnerung tilgen an das, was sie gesehen hatte. Lieber Himmel, erbarme dich ihrer, sagte sie ein ums andere Mal stumm in sich hinein, damit kein anderer unbarmherziger Gedanke sich Bahn brechen konnte. Lieber Himmel, erbarme dich ihrer. Lieber Himmel, erbarme dich meiner. Wie betäubt vor Schmerz stolperte Maggie die Treppenstufen zum sechsten Polizeirevier hinauf. Sie konnte sich dem diensthabenden Polizisten kaum verständlich machen, sie schaffte es aber, zu Devlin zu gelangen. Hemmungslos schluchzend stieß sie die Geschichte der Videokassette in ihrer Hand hervor. Devlin rief Garibaldi herein. Der gab die Kassette einem anderen Polizisten, um sie in den Videorekorder einlegen zu lassen, der in einer Ecke des Vernehmungsraumes installiert war. Der Mann verschwand damit über den Flur, während Gino und Devlin versuchten, Maggie soweit zu beruhigen, daß sie ihnen begreiflich machen konnte, was passiert war. »Lassen Sie uns die Kassette anschauen, Maggie«, sagte Ga ribaldi, während er Devlin einen vielsagenden Blick zuwarf. »Warten Sie hier im Büro des Lieutenants auf uns, während wir prüfen, ob uns das irgendwie weiterhilft. Es is t schlimm genug, daß Sie sie einmal sehen mußten.« Devlin nahm die Schluchzende in seine Arme, ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Maggie war erschreckend schlaff, als sei ihre ganze Lebenskraft versickert. Er setzte sie, so vorsichtig er konnte, auf einen Stuhl in seinem Büro und folgte Garibaldi über den Flur in den Vernehmungsraum. Die zwei Männer setzten sich hin, ohne zu sprechen, schalteten das Gerät ein und warteten. Nur Schnee war auf dem Bild-
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schirm zu sehen. Die zwei wechselten fragende Blicke, und Garibaldi ließ das Band mehrmals vorlaufen. Die Kassette war vollkommen leer. »Sie ist nicht so überdreht, daß sie sich das eingebildet haben könnte, Lieutenant?« fragte Garibaldi ehrlich besorgt. »Auf keinen Fall. So eine Geschichte erfindet kein Mensch. Du kennst sie, Gino. Sie ist am Boden zerstört.« Er saß einen Moment schweigend da, das Bild der schluchzenden Maggie in seinem Büro vor Augen. »Schickt das verfluchte Ding ins Labor«, sagte er heiser. »Mal sehen, ob die Jungs rauskriegen, was die verdammten Schweine angestellt haben, um das Video zu löschen. Und sag ihnen, daß ich ihnen keine Geschichten über schwarze Magie abkaufe.« Gino nickte und verschwand mit der Kassette. Devlin holte tief Luft und überlegte, was er in dieser jämmerlichen Welt tun könnte, um Maggie zu überzeugen, daß sie nicht verrückt geworden war. Sie saß auf dem Stuhl neben dem Schreibtisch, als Devlin in sein Büro zurückkam. Sie war vornübergesunken wie eine Stoffpuppe, die Knie schutzsuchend an die Brust gezogen, die Arme darum geschlungen, den Kopf auf die Knie gestützt. Er hatte diese instinktive Schutzhaltung schon früher gesehen. Vom Schicksal in die Magengrube getreten, klappten die Menschen in sich zusammen und flohen in ein geheimes inneres Land, und einige kehrten nie zurück. Er hätte sie so gerne berührt und getröstet, aber er wußte, dies war ein verzweifelter, privater Schmerz, den er nicht stören durfte. »Komm mit mir, Maggie«, sagte er sanft. »Ich bringe dich hier weg.« Sie folgte ihm automatisch bis zu seinem Auto, dann sträubte sie sich einzusteigen. »Ich muß laufen«, sagte sie und drehte sich um, so daß ihm nichts übrigblieb, als ihr zu folgen. »Vor vielen Jahren«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen, »als Jack und ich jung verheiratet waren, haben wir ein Jahr im Süden gelebt, damit er dort sein Studium abschließen konnte.Wir hatten eine Putzfrau, die einmal pro Woche kam - schwarz und
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arm, aber eine Schönheit. Sie war groß und dünn wie eine Flöte, mit hohen, stolzen Brüsten wie eine Dschungelpriesterin...« Ihre Stimme war heiser wie bei einer Schlafwandlerin. Devlin wunderte sich, worauf Maggie mit dieser seltsamen Geschichte hinaus wollte; was hatte das mit Jennas Tod zu tun? Wer könnte es ihr verdenken, daß sie durcheinander war, nach dem, was sie erlebt hatte? Er nahm ihren Arm, und sie sträubte sich nicht, sondern fuhr einfach in dem monotonen Tonfall fort, »Ich war mit Jenna schwanger«, sagte sie seufzend, wie als Antwort auf seine unausgesprochene Frage, »und schwelgte in dem selbstgefälligen Stolz früher Mutterschaft. Ich fühlte zum erstenmal, daß sich Leben in mir regte, und ich war berauscht von dieser beachtlichen Leistung.« Sie lachte kurz über sich selbst, und Devlin, der sah, wie nahe sie den Tränen war, hörte aufmerksam zu. »Die Makler haben Wagenladungen voll armer Schwarzer aus den ländlichen Gegenden abgeholt und zur Tagesarbeit in der Stadt abgesetzt. Sie arbeiteten von Morgengrauen bis zum Dunkelwerden für drei Dollar am Tag.« Maggie seufzte wieder. »Ich hatte diese Frau richtig gern, und ich habe ihren Mut bewundert...« Die Erinnerung daran schmerzte offensichtlich, und Devlin faßte Maggies Arm fester, aber sie nahm es nicht wahr. Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne daß sie es merkte. »Sie hatte fünf Kinder, und es gab nicht einen Moment in ihrem Leben ohne Plackerei: kochen, putzen, schrubben, vor ihrem Taugenichts von Ehemann kuschen... er war ständig betrunken und hat sie erbarmungslos geschlagen. Dann wurde sie wieder schwanger, wir unterhielten uns über Kinder, und es entwickelte sich eine zarte Freundschaft zwischen uns... Dann kam sie eines Tages nicht zur Arbeit. Sie hatte natürlich kein Telefon, und so erfuhr ich erst die Woche darauf, daß sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte und es einen Tag später gestorben war. Mit drei Dollar am Tag kann man sich keine Schwangerschaftsvorsorge leisten, wenn man bereits fünf Mäuler zu füttern hat. Jedenfalls... in der Unwissenheit meiner einundzwanzig Jahre sagte ich zu ihr: ›Ich schätze, so ist es wirklich das Beste,
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nicht, Emmy? Ein weiteres Maul zu stopfen, das ist doch das letzte, was du jetzt brauchen kannst.‹« Maggie atmete tief durch, dann sah sie Devlin zum erstenmal an, während ihr Tränen über die Wangen strömten. »Sie hat kein einziges Wort zu mir gesagt, Dev...« Ihre Stimme brach beim bitteren Schmerz der Erinnerung. »Aber ich habe es in ihren Augen gelesen. Ihren Zorn über meine unsägliche Dummheit zu denken, es könnte besser sein, ein Kind zu verlieren. Ihre Resignation angesichts der Ungerechtigkeit des Lebens, das mir einen guten Ehemann, Geld und ein gesundes Kind geschenkt hatte. Und ich bemerkte so etwas wie überlegenes Mitleid mit mir, als wollte sie sagen: ›Ich weiß, du wolltest nicht so blöd sein, du bist bloß eine verwöhnte Idiotin, und das Leben hat dich noch nicht gebeutelt. Eines Tages wird es das tun, und dann weißt du, was ich weiß.‹ Wir haben nie wieder richtig miteinander geredet. Sie hatte mich abgeschrieben, und das geschah mir recht.« Maggie hielt inne, wischte sich kurz über die Augen und sprach rasch weiter. »Heute morgen hat Maria meiner Nachbarin nebenan von Jennas Tod erzählt, und die Frau sagte zu mir: ›O Maggie, es hat mir so leid getan, als ich das von Ihrer Tochter hörte... aber ich schätze, irgendwie befreit es Sie!‹« Maggie atmete ein, krampfhaft und tief. »Da fühlte ich, wie mich dieselben Gefühle durchströmten, Dev, die ich in Emmys Gesicht gesehen hatte. Es ist keine Befreiung! Es ist das schlimmste Versagen der Welt. Und es ist für immer.« Dieses Bekenntnis hatte den unterdrückten Schmerz befreit, und Maggie fing an zu schluchzen, leise, zuckend, als würde ihr das Herz brechen. Devlin blieb stehen, nahm die Schwergeprüfte in seine Arme und wiegte sie, ohne auf die Blicke der Passanten zu achten. »O Maggie, Maggie, meine Maggie«, flüsterte er ihr ins Haar, während er sie tätschelte und wiegte wie ein Kind. »Ich liebe dich so sehr.« Nach einer Weile ließ sie sich von ihm nach Hause bringen. Schlaff, alle Lebenskraft verbraucht, sackte sie auf die Couch im Salon und schlief ein, den Kopf auf Devlins Schoß.
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Malachy Devlin blieb neben ihr sitzen, solange sie schlief; er wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, sie aufzuwecken. Schlaf war die einzige Erleichterung, die sie jetzt finden konnte. Sie hatte noch so vieles durchzustehen... der Leichnam... das Begräbnis ... die Leere in ihrem Herzen, wo Jenna gewohnt hatte. Er erinnerte sich an dies alles, den alptraumhaften Wachtraum des Todes und seine makabren Rituale. Auch sie könnte mir genommen werden. Der Gedanke setzte sich in ihm fest, ich habe die Frau gefunden, die ich liebe, und diese Schweinehunde legen es darauf an, sie mir wegzunehmen. Bei Jenna sind sie mir schon zuvorgekommen. Ich darf nicht zulassen, daß sie dem Kind was antun, sonst bleibt nichts mehr übrig von Maggies Herz. Es war mein Fehler, daß ich Daniel und Jan verlor, dachte er, verbissen, aufrichtig zu sich selbst. Aber diesmal nicht. Diesmal passe ich gut auf. Drei Stunden später auf dem Revier gab Garibaldi Devlin die Videokassette mit einer Grimasse zurück. »Die Jungs von der Technik sagen, die Kassette ist nie bespielt worden, Lieutenant.« Devlin sah ihn scharf an. »Unmöglich«, erwiderte er. »Ich schätze, damit bleibt nur, daß es eine Halluzination war von all dem Streß oder eine glatte Lüge«, sagte Garibaldi leise. Devlin schüttelte langsam den Kopf. »Sie ist nicht verrückt, und sie lügt nicht. Es muß eine andere Erklärung geben.« Die beiden Männer starrten die Kassette an; und als ihnen allmählich die Erkenntnis dämmerte, trafen sich ihre Blicke. »Das ist nicht dieselbe Kassette!« sagten sie fast gleichzeitig. »Stell fest, ob Jackson sie zwischen meinem Büro und dem Videorekorder aus der Hand gelegt hat«, befahl Devlin. Garibaldi war in Minutenschnelle verschwunden und wieder zurück. »Er sagt, er hat sie auf den Apparat gelegt, weil ein Anruf kam, als wir noch mit Maggie sprachen. Es war reichlich Zeit, daß jemand die Kassetten vertauschen konnte. Aber Lieutenant, das würde ja heißen, wir haben einen von denen hier unter uns. Das ist einfach unglaublich, oder?« »Vielleicht nicht einen von ihnen, Gino. Vielleicht nur einen, den sie gelegentlich einspannen. Unmöglich ist das nicht.«
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»Tja... also, das heißt ja wohl, daß wir uns von jetzt an verdammt gut vorsehen müssen, Lieutenant. Meinst du, wir sollten damit vielleicht zum Captain gehen?« »Wenn der Leichenbeschauer sagt, daß Jenna ermordet wurde, gehe ich zum Captain.« Wieder trafen sich die Blicke der zwei Männer und zeigten denselben Argwohn. Jetzt war nicht einmal mehr der Captain über einen Verdacht erhaben. Der Leichenbeschauer schob die Halbbrille auf seiner Nase eine winzige Spur nach oben und blickte von dem grausigen Unterfangen auf, die Ursache von Jenna Vanniers Tod zu bestimmen. Die Leiche war verkohlt, und Teile von ihr fehlten. Der Mann sah Devlin über die Leiche hinweg an. »Was wir hier haben, Lieutenant, ist sehr sonderbar... Sie sollten es vielleicht für sich behalten, bis wir mehr wissen...« Devlin hob eine Augenbraue, anstatt die naheliegende Frage zu stellen. Autopsien waren nicht sein Lieblingsgebiet in seinem Beruf, und diese hier schon gar nicht. »Die Frau ist nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagte der Leichenbeschauer bestimmt. »Sie wurde zu Tode gefoltert. Ihre Zunge und mehrere lebenswichtige Organe fehlen. Und wenn sie in Rauch aufgegangen sind, dann können Sie jede Wette darauf eingehen, daß es nicht im Feuer eines Autounfalls war.« »Haben Sie so was wie dies schon mal gesehen?« fragte Devlin, bemüht, nicht auf die verkohlten Überreste auf dem Tisch zu sehen. Das flotte junge Mädchen auf dem Bild auf Maggies Schreibtisch stand ihm deutlich vor Augen. »Der Fall in Texas vor ein paar Jahren... die vielen Opfer des Satanismusses, die man in einem alten Schuppen an der Grenze fand... allen war bei lebendigem Leibe das Herz herausgeschnitten worden«, sagte der Leichenbeschauer nachdenklich. »Die Zunge ist allerdings eine Neuheit. Vielleicht wollte man die Frau einfach zum Schweigen bringen, als man sie abschlachtete.« Devlin nickte, während er gleichzeitig überlegte, wie man das
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Schlimmste aus den Medien heraushalten konnte. Irgendeine Andeutung von einem Ritualmord, und sie hätten eine Schlagzeile und Einzelheiten aus Maggies Privatleben. »Haben Sie sie gekannt?« fragte der Leichenbeschauer, als er Devlins gequälten Blick sah. »Nein, ich habe sie nie gesehen. Aber ihre Mutter ist eine gute Freundin von mir.« »Hm. Noch schlimmer, schätze ich. Die Kleine hat jetzt wenigstens keine Schmerzen mehr.« Devlin nickte erneut. Es gab nichts zu sagen. »Wenn die Mutter die Überreste abholen kommt, will ich versuchen, ihr nicht alle gräßlichen Einzelheiten zu erzählen.« Devlin sah ihn scharf an. »Sie kennt die Einzelheiten bereits. Jemand hat ihr ein Video geschickt.« Der Leichenbeschauer starrte ihn einen Moment an, während er diese Information verdaute, dann nahm er mit einer vielsagenden Geste die Brille ab und massierte seinen Nasenrücken, bevor er sprach. »Eine schöne Welt ist das, in der wir leben. Lieutenant, würden Sie das nicht auch sagen? Denken Sie nicht auch, daß Gott tot ist oder daß wir ihm einfach scheißegal geworden sind?« »Homo homini lupus«, murmelte Devlin. Der Leichenbeschauer sah den Polizisten genauer an, verwundert über die lateinischen Worte. »Ein Mensch kann des anderen Wolf sein, Lieutenant«, sagte er gebieterisch, »aber Gott sollte es besser wissen, verdammt noch mal.«
73 Die Unerbittlichkeit von Jennas Tod durchströmte Maggie mit solcher Gewalt, daß ihr übel wurde, als sie an dem zwei Tage alten Grab stand. Sie hatte die Beerdigung in dumpfer Betäubtheit hinter sich gebracht; Amanda und Ellie hatten für alles gesorgt und sie geführt wie eine Schlafwandlerin. Sie hatte die abscheuliche Erinnerung an das Video mit der puren Kraft ihres Willens bis jetzt abgewehrt, damit sie lange
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genug am Leben und handlungsfähig bleiben konnte, um das zu tun, was getan werden mußte. Der Kampf um Cody stand noch bevor. Cody lebte, und Cody brauchte sie. Aber das Entsetzen sickerte in sie hinein, in ihre Träume, in ihren bewußten Wachzustand, unerbittlich, unaufhaltsam. Eine lebende Wesenheit, die Blut durch die Ritzen, unter die Schwellen von Verstand und Herz träufelte. Maggie war heute morgen aufgewacht mit dem Wissen, daß sie diesem Wesen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten mußte, um bei Verstand zu bleiben. Ihr versucht, die Kälte zu überleben, ihr kleinen Blumen, dachte sie, als sie auf die welkenden Narzissen zu ihren Füßen sah. So wie ich. Still und verloren fragte sie sich, wie diese Tragödie ihr und Jennas Leben hatte verschlingen können. Niemand außer dir weiß, was wir einander in den guten Zeiten gewesen sind, Jenna... Sie flüsterte den Gedanken ihrer Tochter zu, wo immer sie war. Sie kennen einzig das Ende der Liebe... doch dir und mir war der Anfang gemein. Maggie ließ sich von dem Strom eiskalten Schmerzes einhüllen, der in ihr aufstieg wie eine alles ertränkende Flut. Wie konnte es so ein schlimmes Ende nehmen, wo doch so viel Liebe war? Habe ich dich zu wenig gehegt oder zu sehr geliebt? Habe ich dich während des langen Sterbens deines Vaters zu lange allein gelassen? Das habe ich nicht gewollt, mein Herz. Ich hätte dich mit meinem Herzblut ernährt, wenn dich das hätte retten können, so wie ich Cody retten werde. Verstehst du, daß ich alles, was ich für sie tue, auch für dich tue? »Ich finde mich mit deinem Tod nicht ab, Jenna«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, wie man Lebewohl sagt.« Plötzlich kam Maggie der Gedanke, daß die Ermordete, die zu ihren Füßen lag, nicht Jenna war. Jenna war vor langer, langer Zeit gestorben, als sie das erste Mal eine Nadel in ihren Arm stach. Du sollst in deinem fünfzehnten Jahre an einer vergifteten Spindel dich stechen, sagte die böse Fee bei Dornröschens Taufe. Und so geschah es. Sie bekreuzigte sich und wandte sich zum Gehen. Als sie die Friedhofsparzelle hinter sich ließ, fragte sie sich, wie lange es
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wohl dauerte, bis sie neben ihrer Tochter auf dem stillen Hügel schliefe. Und wenn es soweit wäre, würde Cody dann ihre ewige, Ruhe mit ihnen teilen?
74 Ghania streichelte ihre geliebte Schlange voll nachsichtiger Zuneigung. »O Malikali, mein Liebling«, flüsterte sie verführerisch, »warum nur habe ich mir dich statt einer Spinne oder Katze als Hausgeist ausgesucht?« Sie kicherte kurz über ihre eigene Frage. »Die ließen sich leicht herumtragen, du dagegen bist so dick und lang geworden, daß es sehr mühsam ist, dich hochzuheben.« Sie tätschelte den hin und her schwankenden Kopf' und nahm sich ein paar Momente Zeit, den gelassenen Blick des Reptils zu erwidern. Sie hatte beschlossen, dieses Geschöpf zu benutzen, um die Talente des Kindes zu erwecken. Aber der Vorgang erforderte größte Sorgfalt, denn das Kind hatte gerade die richtige Größe als Leckerbissen für Malikali. Die Hexe schüttelte den Kopf über derlei Unwägbarkeiten; es galt immer, so vieles zu bedenken beim Erwecken von verborgenen Kräften ... und nie war eine Belohnung zu erwarten gewesen wie jene am Ende dieses Regenbogens. Ghania öffnete den Kaninchenstall und zog die zwei größten heraus. Sie warf die widerstrebenden Tiere in die Zementgrube, wo die Schlange sie zu fressen pflegte, und ging fort. Es war nicht nötig zuzusehen. Malikali würde ihren Spaß daran haben, die zwei zu quälen, und dann würde sie sie verschlingen. Auf dem Weg in den Kindertrakt überlegte sich Ghania die geeignetste Folter, mit der sie das Kind in die Isis -Botin verwandeln würde. Sie trat vor ihren Altar und rief ehrfürchtig die geheimen Namen an. Alle die arroganten Dummköpfe von Adepten, die sich zu der Generalprobe eingefunden hatten, bildeten sich ein, die wahre Magie zu beherrschen. Aber jeder war ausschließlich auf sein System und seine eigenen Dämonen fixiert, wogegen Ghania durch keinerlei Beschränkungen eingeengt war. Sie gehörte dem Fürsten der Finsternis in all seinen Verkörperungen an; wo immer das Böse gedieh, war Ghania zur
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Stelle, denn für das Reich ihres Meisters gab es keine Grenzen. Allein Eric, Nicky und Hazred ahnten Ghanias wahre Macht, die anderen sahen in ihr lediglich eine bessere Dienerin. Diese Idioten. Ghania hob ihre großen Arme zum dämonischen Gruß an das wahre Böse. Sie wollte die infernalischen Mächte nach der letzten Folter des Sternkindes befragen. »Sie sind heute wie eine Löwin im Käfig, Dona Maggie«, sagte Maria besorgt. Sie hatte beobachtet, wie Maggie das Essen auf ihrem Teller herumschob und es dann stehenließ - danach hatte sie sie ein Dutzend Dinge in Angriff nehmen sehen, nur um sie gleich darauf wieder aus der Hand zu legen. Jetzt sah sie sie rastlos auf und ab gehen. »Es ist Cody, Maria«, entgegnete Maggie erregt. »Ich habe eine schlimme Ahnung, daß ihr heute abend etwas passiert. Etwas Schreckliches geht mit ihr vor... etwas Erstickendes. Ich kann es fühlen. Es wurde im Laufe des Abends immer schlimmer.« Sie schüttelte den Kopf, ihr Vorgefühl machte ihr angst. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« »Der Lieutenant, Dona Maggie«, meinte Maria vorsichtig. »Kann er die Polizei nicht veranlassen, etwas für uns zu tun? Er ist ein guter Mensch. Wo ist sein Aufgebot, um die Kleine zu retten? Wird er denn gar nichts tun?« Maggie zuckte die Achseln. »Und der Priester? Ich habe ihn diese Woche kaum gesehen. Ist er vielleicht meinen Freund Padre James besuchen gegangen?« Maggie wußte, daß Maria den Äthiopier aufgrund seiner Tüchtigkeit in der Küche und seiner Anerkennung ihrer Kochkünste fast in den Heiligenstand erhoben hatte. »Vielleicht«, erwiderte Maggie unverbindlich, und diese unzulängliche Antwort veranlaßte Maria Aparecida, eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen und die Lippen zu schürzen. »Wir sind arg erschöpft«, sagte sie, womit sie sich in das gegenwärtige Martyrium einbezog, »aber der liebe Gott läßt uns nicht im Stich.« »Warum sagen Sie das, Maria?«
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»Wir wollen nur das Beste für das kleine Küken, Dona Maggie. Wenn der liebe Gott ins Herz sieht und Reinheit findet, schickt er seine Engel. Sie werden noch an meine Worte denken.« Maggie sah Maria Aparecida nach und wünschte, sie könnte ebenso zuversichtlich sein. Sie sah auf die Uhr; es war dreiundzwanzig Uhr sechs. Dreiundzwanzig Uhr und sechs Minuten am 28. April. Bald war Walpurgisnacht, der Anfang oder das Ende. Sie fühlte, wie ihr Leben sich leerte... geliebte Menschen verschwanden, Jenna und Peter, und wo sie gewesen waren, war eine Leere in ihrer Seele, bodenlos, schwarz, formlos - wie ein furchtbarer Hunger, der nicht gestillt werden konnte, oder eine wichtige Aufgabe, die unerledigt blieb. Wer würde als nächstes von ihr gehen? Nicht Cody, lieber Gott! Bitte nicht Cody. Ärgerlich über sich selbst, ging Maggie in die Küche, um Tee zu machen, froh über das kleine Ablenkungsmanöver und das Pfeifen des Wasserkessels in dem stillen Haus. Maria war nach oben gegangen, und selbst die Kuckucksuhr in der Diele schien leiser als sonst. Warum bekam sie auf einmal ein Schuldgefühl wegen ihres Alleinseins? Als hätte sie bei einer wichtigen Erprobung ihrer Würde versagt, und dies sei nun ihre Strafe. Vielleicht, wenn sie ein besserer Mensch gewesen wäre. Vielleicht, wenn sie Jenna besser verstanden hätte. Vielleicht, wenn Peter kein Priester wäre. Vielleicht, wenn sie richtig reagiert hätte, als Dev sagte: Ich liebe dich. Vielleicht, wenn Cody nicht entführt worden wäre. Vielleicht, wenn... vielleicht, wenn... Sie mußte den heutigen Abend überstehen, mußte ihre Ge danken sammeln, um den morgigen Tag zu planen. Die Zeit wurde knapp. Warum war es so schwierig zu erkennen, auf welche Weise das getan werden mußte, was sie zu tun hatte? Warum war sie nicht stärker und klüger und fähiger, um alles zu einem guten Ende zu bringen? Hatte es da oben im Schlafzimmer geknackt? Hör auf! Sich selbst hassend, weil sie diesen Zwang verspürte, schlich Maggie auf Zehenspitzen durch die Schlafzimmer und suchte in den
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Schränken nach der Quelle des Geräusches; als sie niemand entdeckte, knipste sie alle Lichter an und ließ die Jalousien herunter. Sie versuchte, an Codys Zimmer vorbeizugehen, konnte es aber nicht, und so trat sie vorsichtig ein und starrte die verlassenen Spielsachen des Kindes an. Es war auch Jennas Zimmer gewesen. O Gott! Laß mich nicht daran denken! Maggie ging an das Bücherbord, und intuitiv zog sie den ledergebundenen Gedichtband heraus, der ihr und später dann Jenna gehört hatte, bevor er das Eigentum Codys wurde; er klappte an einer vielsagenden Stelle auf, und sie las die vertrauten Worte: »Herr, sieh auf die Familie, die hier vereint. Schenke uns Frieden, Freude und Seelenruhe, Mache uns mild gegen unsere Freunde, Mache uns stark gegen unsere Feinde, Auf daß wir tapfer seien in Gefahr, Beständig bei jedem Wandel des Glücks Und bis an die Pforten des Todes Uns treu sind und uns lieben.« Bis an die Pforten des Todes... leise wiederholte sie die Worte. Vielleicht führte dies alles unausweichlich dorthin. Jack würde dort warten, Jenna vielleicht auch... Maggie brachte es nicht über sich, das Zimmer zu verlassen, und mit einem Seufzer legte sie sich auf Codys Bett, nahm den Schmusebär des Kindes in die Arme und sank in einen unruhigen Schlaf. Der Raum, wo Ghania Cody allein gelassen hatte, war fensterlos und sehr, sehr kalt. Er enthielt keine Möbel, nur ein paar Kisten und auf dem Fußboden eine alte Kindermatratze, die nach Schweiß roch. Cody kauerte sich in die hinterste Ecke und drückte sich an die schützende Wand. Sie hatte keine Ahnung, weshalb Ghania ihr so etwas Schreckliches antat - sie hatte nichts Verbotenes getan. Aber plötzlich, ohne jede Vorwarnung, hatte Ghania sie aus
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ihrem warmen Bett gezerrt und in den kalten, gräßlichen Raum mit der Schlange gebracht. Dann hatte sie Malikalis Käfig aufgeschlossen und sie miteinander in der eisigen Dunkelheit allein gelassen. Sie hatte gesehen, wie Ghania die Schlange ins Zimmer gleiten ließ, bevor sie das Licht ausmachte. Cody hockte sich hin, machte sich so klein wie möglich und lauschte in entsetzter Anspannung... die Schlange war irgendwo ganz nah; aus Angst, sie zu sehen, wagte es Cody nicht, die Augen zu öffnen. Ghania hatte gesagt, sie würde heute nacht sterben. Malikali würde sich um sie herumwinden und drücken und drücken... dann würde die Schlange sie verschlucken, und sie würde in ihr gefangen sein und schreien und schreien, wo niemand sie hören könnte... Cody wimmerte im Dunkeln, ihre Stimme war ein leiser, erstickter Laut. »Mim... Bitte, Mim. Bitte laß sie mich nicht fressen!« Sie begann leise zu weinen, wagte nicht einmal zu schniefen, aus Angst, die Schlange würde kommen. Sie konnte das gleitende Geräusch des großen Körpers hören, der sich über den Betonboden auf sie zu bewegte. Sie kam, jetzt, glitt näher. Cody drückte sich gegen die Wand und bat Mim, zu ihr zu kommen. Warum komms t du nicht? Sie hatte die schreckliche Frage so lange aus sich herausgeschrien, daß sie ein Loch in ihr Herz gerissen hatte, durch das alles hindurchgefallen war. »Mim!« flüsterte sie eindringlich. Dann sah sie es deutlich... die Augen, leuchtende gelbe Schlitze im Dunkeln. Und da gab sie jede Zurückhaltung auf. »Mim!« schrie sie in Todesangst. »Mim! Mim! Miiiiiiii...« »MIIIIIIM!« Der verzweifelte Schrei durchdrang im Traum Maggies Bewußtsein. Sie lief zu dem Geräusch hin. Cody schrie ihren Namen. Wieder und wieder und wieder, das Echo hallte rings um sie herum. Aber wo kam es her? Die Traum-Maggie schaute in rasender Verzweiflung nach rechts und nach links. Wohin sollte sie rennen? »Mim! Hilf mir!«
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Dort drüben! Durch die pechschwarzen Bäume. Maggie bewegte sich auf das Geräusch zu. »Ich komme!« rief sie. Aber der peitschende Wind blies die Worte in ihre Kehle zurück. »Ich komme, Cody. Wo bist du?« Wirre Ranken streckten sich aus, um ihre Füße zu umschlingen. Und die Erde unter ihr gab nach... »Miiiiiiiim...« Der lange, nachhallende Schrei verebbte. »Miiiiii...« Maggie setzte sich in dem mit Rüschen verzierten Bett auf. Sie war schweißgebadet, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Zitternd stand sie auf und knipste die Nachttischlampe an. Dieser Traum war realistisch gewesen, etwas Furchtbares geschah mit Cody. Und es geschah jetzt. Maggie rannte in ihr Zimmer, riß sich das schweißnasse TShirt vom Leibe, zog ihre Jogginghose an und nahm hastig ihre Schlüssel von der Kommode. Sie mußte nachdenken... mußte was tun... mußte einen Entschluß fassen. Heute nacht. Sie zog ein Sweatshirt mit Kapuze vom Kleiderständer in der Diele und ging zur Tür hinaus. Sie mußte rennen, zu Cody. Nein. Das war Wahnsinn. Die einzige Möglichkeit, sie zu retten, war nachzudenken. Maggie fing an zu laufen. Laufen war etwas Reales. Laufen würde ihr beim Denken helfen. Sie bog um die dunkle Ecke von St. Luke's Place und überlegte sich einen Weg, der sie nicht in gefährliche Viertel führte. Hinüber zur Sixth und dann die Eighth Avenue entlang - dort waren Straßenlampen und Leute, egal, wie spät es war. Die kalte, feuchte Luft strömte in ihre Lungen, und die Sauerstoffzufuhr machte sie vollends wach. Es war Zeit, sich etwas zu überlegen. Aller mystischer Hokuspokus der Welt würde Cody nicht retten, wenn keiner sie aus dem verdammten Haus holte. Die Polizeiarbeit, die Dev geleistet hatte, war soweit gut und schön; und ohne ihn hätte sie nicht einen Bruchteil der Wahrheit erfahren. Aber wenn das Ministerium sich nicht einschalten wollte oder konnte, dann waren Dev die Hände gebunden, und es war sinnlos zu denken, daß die Polizei sie retten würde.
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Und die Zeit wurde knapp. Es blieb nur eine Möglichkeit - das wußte sie, als sie an die Ecke Christopher Street kam und nach rechts einbog. Sie mußte Cody selbst aus dem Haus herausholen. Okay! Und dann? Rennen wie der Teufel, wenn es sein mußte. Irgendwohin rennen, wo Cody in Sicherheit war. Eric würde aufgeben müssen. Das maßgebliche Datum wäre verstrichen, und was würde es nützen, Cody bis in alle Ewigkeit zu verfolgen, wenn er nicht wußte, wo er suchen sollte? Aber sie können euch auf der astralen Ebene finden, ermahnte sie ihre innere Stimme. Wenn sie eine Sendung verwirklichen können, dann können sie euch, verdammt noch mal, finden, egal, wo ihr euch versteckt! Maggies Lungen brannten. Ihr Körper wehrte sich gegen das anstrengende Laufen. Aber sie mußte sich verausgaben, sich zwingen, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Es mußte einen Ausweg aus dieser Klemme geben. Maggie rannte bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Furcht und Kummer können Sie erschöpfen, hatte Mr. Wong gesagt. Die Worte hämmerten in ihrem Kopf im Rhythmus ihrer Füße auf dem Pflaster. Mancher Kummer sitzt zu tief für Tränen. Auch zu tief, um von Lachen vertrieben zu werden. Er nistet im Herzgewebe, im Hirngewebe, in den Eingeweiden. Er vergiftet den Geist und sickert zwischen die Ritzen des Bewußtseins. Kummer kann Sie besiegen. Ich darf es nicht soweit kommen lassen. Sie fühlte Herz, Seele, Verstand gegen die Grenzen ankämp fen. Ich muß sie retten. Muß sie retten. Muß mich in der Gewalt haben. Muß mich in der Gewalt haben. Die Worte hämmerten im Rhythmus der fliegenden Füße. Die Straßenlaternen an der Ecke schienen vor Maggie zu tanzen, winzige weiße Lichter schwirrten an ihrem Blickfeld vorüber wie Kometen. Die Straße unter ihren Füßen schien nicht mehr fest zu sein. Ich habe mich verirrt... es ist so ein weiter Weg, um mich zu finden. Die Ge gend ist mir fremd. Ihre Gedanken waren zusammenhanglos, wirr und doch kristallklar, als ob sie direkt durch sie hindurch-
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sehen könnte. Eine Glasscheibe. Ein glasklarer Schmerz. Hilf mir, lieber Gott! Hilf mir, sie zu retten. Plötzlich konnte sie Mim in sich fühlen, ein sich steigerndes Bewußtsein, eine Erinnerung an Macht. Etwas erwachte. Bitte, lieber Gott, laß es genug sein. Du lebst und stirbst allein. Der Gedanke war plötzlich in ihr, unwiderlegbar. Aber deine Qualen kommen von den anderen, von den Wahnsinnigen, den Traurigen, den Kranken, den Bedürftigen. Sie alle saugen an dir. Trinken wahllos dein Lebensblut. Psychische Vampire. Vampire der Liebe. Aber so soll es sein, weil die Liebe alles ist. Alles, was zählt. Alles, was Gott bewegt. Cody ist die Botin, und ich bin die Hüterin. Ich bin die einzige, die sie jetzt retten kann. In ihrer Todesangst wandte Cody sich jetzt nach innen, fort von der Gefahr, die sie in der schrecklichen Dunkelheit anstarrte. Tief, tief ließ sie sich in sich hineinfallen, hinab in die Leere... so floh sie in Sicherheit, an den Ort der Zersplitterung; den Ort, wohin gewöhnliche Kinder sich zurückziehen, wenn ihr Schmerz sie über das erträgliche Maß hinaus packt; den Ort, wo sie sich von dem festen Mittelpunkt zu beschützenden »Anderen« zersplittern; den Ort der Sybillen, wo Persönlichkeiten sich vervielfältigen, um die Verzweifelten, die sie beherbergen, zu retten. Aber Cody war kein gewöhnliches Kind. Und sie war nicht mehr allein in der Dunkelheit. Riesige goldene Schwingen peitschten ringsum die Luft; sie streiften die Wange des Kindes und legten sich um die kauernde Gestalt. Wärme, Stille und Licht strahlten von den Schwingen aus, bildeten eine schützende Zuflucht. Verwundert und verwirrt blickte Cody auf. Große Wesen aus Licht, heller als die Sonne, bewegten sich im Raum und strahlten weit darüber hinaus. Ge gen diese erschien die Schlange klein und unbedeutend, und Cody wußte, sie waren vom Ort des Lichts gekommen, um sie zu retten. Staunend spürte sie, wie ihr Körper sich veränderte und mit
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Energie füllte; sie dachte, vielleicht sei sie gestorben. Wäre sie alt genug gewesen, um die Molekularbiologie zu verstehen, so hätte sie die Frequenzveränderung gefühlt. Licht begann von ihrem kleinen Körper auszustrahlen, und Cody wurde größer... Sie empfand sich nicht mehr als Kind. Lichtstrahlen ergossen sich von Händen und Augen der sie behütenden Wesen - Cody erkannte, daß dies eine unermeßlich stärkere Form jener Energie war, die von ihren Händen in die Kranken oder Verletzten floß, und jeder Gedanke hatte jetzt Kraft. Ein Winken mit ihrer Hand würde Schutz bringen. Das wurde ihr bewußt. Ebenso wie sie andere unvorstellbare Dinge wußte... die ganze Schwachheit und Stärke der Menschheitsgeschichte war in jede Zelle geschrieben. Und Liebe! Süße Liebe, größer als irgend etwas, das sie je erträumt hatte, strömte in alle Poren. Sogar Liebe für jene, die sie quälten... nicht für ihre Boshaftigkeit, sondern für ihre menschliche Schwäche, die sie vor langer Zeit das Böse wählen ließ. Liebe zur ganzen Menschheit. Liebe zu Gott/Göttin. Liebe sogar zu der todbringenden Schlange, die vor der blendenden Ge stalt zitterte. Cody richtete den Blick auf das riesige schillernde Ungeheuer und sah nicht das unablässig Böse seines Vorhabens, sondern die Schönheit und Kraft, die ihm von Natur aus innewohnten. Daß sie als Folterinstrument benutzt wurde, war nicht die Schuld der Pythonschlange, sondern Ghanias Magie, die sie verhext hatte. Sie erinnerte sich an eine Prüfung im Tempel vor langer, langer Zeit... Die große Schlange wich vor der ungeheuren Flut der Liebe zurück, die sich aus Codys Augen ergoß. In vielen Kulturen waren Schlangen der Göttin geweiht, in anderen wurden sie unter ihren Füßen zermalmt... all dies teilten Codys Augen mit, und als die Pythonschlange wieder neben sie glitt, geschah es, um ihr Ehre zu erweisen. Ghania beobachtete das Kind und die Schlange mit gespannter Konzentration durch den Spion in der Tür. Die Spezialoptik des
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Glases verschaffte ihr trotz der Dunkelheit in dem Raum dahinter eine ausgezeichnete Sicht; es war ein Nachtsichtglas, das im Krieg Verwendung fand - Eric und Nicky hatten stets Zugang zu den besten Ausrüstungen der Regierung, zumal jenen, die in Kriegsregionen eingesetzt wurden. »Ihre Kräfte sind erweckt!« sagte sie triumphierend. Nicholas Sayles stand neben ihr in der kleinen Kammer und beobachtete das Drama, das sich nebenan abspielte. »Entsetzen ist stets der schnellste Ansporn.« Er genoß es, andere leiden zu sehen, aber die Schlange war ihm zuwider. Er hatte einmal einen Zusammenstoß mit Ghanias Hausgeist gehabt, und die Erinnerung daran wirkte noch nach. »Man konnte sich immer auf dich verlassen, wenn es auf Schnelligkeit ankam. Wie gefährlich wird es sein, die Kleine um sich zu haben, da sie nun voll erweckt ist?« »Sie is t nur ein Kind in dieser Inkarnation, Nicholas. Sie würde Zeit brauchen, um die Anwendung der Fähigkeiten, die sie nun besitzt, zu erlernen... bislang verfügt sie über kein System zum Gebrauch ihrer Macht. Jeden Tag würde sie ein bißchen dazulernen, aber ihr bleibt nur noch ein Tag. Bis zur Stunde der Opferung wird sie eine würdige Botin sein. Wenn sie älter wäre, könnte die Geschichte anders ausgehen, aber so...« »Willst du sie die ganze Nacht mit deinem Liebling allein lassen, meine Grausame?« fragte er, wie immer fasziniert von der unerbittlichen Boshaftigkeit der Hexe. Ghania stieß ein tiefes, kehliges Lachen aus. »Ich versichere dir, Nicholas, die einzige Kreatur, die heute nacht in dem Raum in Gefahr ist, ist meine Python.« Sie wandte sich der Tür zwischen den Räumen zu. »Ich muß jetzt zu ihr...«, sagte sie in abweisendem Ton, und Nicholas Sayles ließ ihr die Kränkung durchgehen; Ghania machte ihre Arbeit sehr gut. Ghania trat ein und sah das Kind ruhig in der Mitte des Raumes stehen. Das Gesicht der dreijährigen Cody O'Connor war heiter oder zumindest ebenso gefaßt wie das eines buddhistischen Mönchs. Sie war jetzt ein anderer Mensch und starrte ihre Aufseherin unversöhnlich an.
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Ghania beobachtete jede ihrer Nuancen. Das Kind hatte Präsenz und Kraft, majestätische Standhaftigkeit und Rückgrat... die Erweckung war so gewaltig wie geplant. Es war erfreulich zu sehen, daß das alte System so gut funktionierte - aber bis zur Materialisation dauerte es noch einen Tag. Ghania sah, daß Malikali aus freien Stücken in ihren Käfig zurückgekehrt war. Sie lächelte Cody zu, in der ein anderer Geist zum Leben erwacht war. Ein alter, weiser, eigensinniger Geist, durch tausend Leben für eine einzige Aufgabe vorbereitet. Sie blickte fasziniert auf das Kind und las die Gedanken so deutlich, als würden sie laut ausgesprochen. Daß du mich nicht verkennst, Hexe, teilten sie der Priesterin des Bösen deutlich mit. Nur weil ich im Körper eines Kindes wohne, bin ich noch lange keine Anfängerin. Sogar Christus mußte von seiner Mutter unterwiesen werden, um geben und seinen Namen sagen zu lernen. Auch meine Mutter unterweist mich. Glaube nicht, du hast mich gefangen, weil ich in deiner Falle bin. Das Spiel ist noch nicht gespielt. Der Finsternis sei Dank, daß der Körper noch so klein und die Erdenjahre so wenige waren... trotzdem mußte sie bis zur Zeremonie betäubt werden. Man durfte kein Risiko eingehen. Ghania stieß die Injektionsnadel tief in den Arm des Kindes und schob den Kolben vor. Maggie bog um die Ecke der Cornelia Street und erspähte einen halben Häuserblock vor sich das Gebäude, wo Devlin wohnte. Sie rannte die alte Kalksteintreppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf, stieß die äußere Vestibültür auf und drückte beharrlich auf die Klingel. Seine verschlafene Stimme knatterte aus der alten Gegensprechanlage. »Wer ist da?« »Ich bin's, Dev«, keuchte Maggie, noch außer Atem. »Mach auf. Ich muß dich sprechen.« Der Summer ertönte, und Devlin stand vor ihr, in einer hastig übergezogenen Turnhose und ohne Hemd, mit fragendem, besorgtem Gesichtsausdruck. Seine ungekämmten Haare fielen ihm in die Stirn und verliehen ihm ein jungenhaftes Aussehen.
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»Ich hole sie da raus, Dev«, sagte Maggie, ohne sich mit einem »Hallo« aufzuhalten, als er sie in seine Wohnung führte. »Ich werde eine Möglichkeit finden, sie zu entführen, bevor sie ihr Ritual ausführen. Heute abend ist etwas mit ihr passiert. Ich weiß nicht, was, aber es ist etwas Furchtbares geschehen. Ich bin gerannt... ich habe die Teile zusammengesetzt...« Devlin, noch schlaftrunken, starrte sie an. Er hob eine Hand, um den Wortschwall zu unterbrechen. »Um Gottes willen, Maggie«, sagte er, »kannst du mir eine Minute Zeit lassen, daß ich zu mir komme? Es ist zwei Uhr nachts.« »Ist mir egal, wie spät es ist, Devlin!« erwiderte sie. »Sie tun ihr weh heute nacht. Frag mich nicht, woher ich das weiß. Ich weiß es eben. Die Schweine tun ihr weh. Und ich geh hin und hol sie.« »Um Gottes willen, Maggie«, wiederholte Devlin zornig. »Hast du den Verstand verloren? Du wirst umgebracht oder verhaftet. Wäre ich das letzte Mal nicht dabeigewesen, wärst du jetzt Hackfleisch. Würdest du mich die Sache bitte auf meine Weise machen lassen? Du bist dafür nicht ausgerüstet.« »Nein, ich lasse es dich nicht auf deine Weise machen«, fuhr sie ihn an. »Kapierst du nicht? Es ist keine Zeit zu warten, bis jemand anders was unternimmt. Cody ist mein Enkelkind, und ich muß wissen, daß ich alles Menschenmögliche getan habe, um sie zu retten.« »Du läßt also dein verdammtes Ego ihrer und deiner Sicherheit in die Quere kommen?« Maggie riß die Augen auf. »Du Mistkerl!« rief sie wütend. »Wir reden hier nicht über Egos! Nicht mein Ego ist es, was mich mein Leben aufs Spiel setzen läßt - es ist Liebe! Cody ist ein Teil meines Herzens, verstehst du das nicht? Ich habe alles gelernt, was Ellie und Peter mich lehren konnten, weil ich wider alle Vernunft gehofft habe, es gäbe irgendwo eine Zauberformel, die diesen ganzen verdammten Alptraum verschwinden läßt. Aber die gibt es nicht. Und dann habe ich abgewartet, ob eure sagenhafte Polizeiarbeit sie retten könnte, aber jetzt wissen wir, daß sie es nicht kann. Denkst du, ich würde nicht begeistert
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sein, wenn irgend jemand irgendwo wüßte, wie sie gerettet werden kann? Niemand weiß besser als ich, wie jämmerlich ungeeignet ich für diesen Job bin... ich bringe dafür keine Ausrüstung mit, außer Liebe. Aber die habe ich, Devlin. Ich liebe sie. Genug, um es mit diesen Wahnsinnigen aufzunehmen - genug, um zu sterben, wenn es sein muß. Und das ist kein egoistisches Gequatsche. Ich bin kein Dummkopf! Wenn es irgend jemand anderen auf der Welt gäbe, dem ich zutrauen könnte, sie aus diesem widerlichen Haus rauszuholen, würde ich den Job im Handumdrehen abgeben. Aber es gibt niemand. Cody ist drei Jahre alt, Dev! Und sie ist allein in einem Haus voll Monster, die Kinder töten, und ich habe ihr gesagt, ich würde wiederkommen. Und bei Gott, ich werde wiederkommen. Und wenn ich weiter nichts ausrichten kann, als ihr zu versichern, daß sie nicht allein stirbt, daß sie nicht denken soll, niemand hätte sie genug geliebt, um ihre Rettung zu versuchen... Ich gehe hin!« Das unnachgiebige Stirnrunzeln, mit dem er ihren Ausbruch erwiderte, machte sie wütend. Warum wünschte sie so sehr, daß er sie verstünde? »Ach Scheiße!« sagte sie, unsäglich enttäuscht. »Ich weiß nicht mal, weshalb ich hierhergekommen bin...« Sie wandte sich zum Gehen, aber Devlin packte ihren Arm und zog sie gewaltsam an sich. Sie wollte protestieren, aber dann war sein Mund auf ihrem, und eine Hand hatte ihre Haare gepackt, und die andere hielt sie so fest, daß sie kaum atmen konnte. Maggie versuchte sich loszureißen, aber er setzte ihrer Kraft seine eigene entgegen. »Komm mit mir!« sagte er, und sein Gesicht war so dicht an ihrem, daß sie seinen Atem fühlen konnte. Eine Aufforderung, eine Bitte? Wohin? Wohin mitkommen? »Laß mich los!« sagte sie und stieß seine Hand weg. Und dann waren seine Arme überall, und auch alle in ihr aufgestauten Gefühle waren da. Die Sehnsucht und das Verlangen, zu lieben und geliebt zu werden, das Äußere und Innere von jemand zum Explodieren zu bringen. Sie schlang die Arme um
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seinen festen Körper und begrub die Vergangenheit in seinem Kuß. Und dann lagen sie auf seinem Bett; sie hatte keine Ahnung, wie sie dahin gekommen waren, und auf einmal wußte sie die Wahrheit: daß sie diesen Mann liebte, daß sie ihn begehrte, und das seit langem. Daß sie ihn berühren und erkunden und lieben wollte, ihm aus den Tiefen ihres Körpers und ihrer Seele Liebe schenken wollte. »Komm mit mir!« wiederholte er drängend, und diesmal hatte es alle Bedeutung der Welt. Sie hörte die Sprungfedern knarren, als er sich rittlings auf sie setzte, sah ihn lächeln, als er zum erstenmal ihre Brüste berührte, fest, zärtlich und leidenschaftlich, und auch die anderen Stellen. Sie fühlte die Hitze seiner Lenden, die sich auf sie preßten und ihr Kraft einflößten. Sein Penis ragte über ihr auf, und er wollte angefaßt, geliebt und gestreichelt werden, so wie Devlins Hände und Lippen sie streichelten. Und er beugte sich über sie, seinen Mund auf ihren Lippen, ihrem Hals, ihrer Wange, ihrem Ohr. Und er sprach mit einer Stimme, die nur für den Liebesakt bestimmt war, sanfte Worte, aufmunternde Worte. Fühlen... wollen... komm mit mir... so gut. So schön. Und dann lag er auf dem Bett und hob ihre Hüften an, so daß sie rittlings auf ihm saß, sich wild aufbäumender Leib, köstliches drängendes Feuer. »Nein!« hörte sie sich sagen, aber sie wußte nicht, wovor sie sich fürchtete. Nicht vor Dev... »Ja!« sagte er und drang plötzlich in sie ein, und die ganze Kraft seines Körpers war in der Bewegung. Sie schrie, erschrocken über die Wildheit der Gefühle - unbeherrscht, jenseits aller Vernunft. »Ja!« sagte er und drückte ihre Hüften an sich, so daß sie nicht entkommen konnte. Wieder das plötzliche Stoßen, und wieder, wie ein bockender Hengst, und sie war verloren, Wellen der Lust schlugen über ihr zusammen. Sie fühlte, hörte und sah nur noch durch einen Schleier von Lust. »Nein...«, hörte sie sich erneut stöhnen, einen Schrei der Ab-
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sage an alles Vergangene, das durch diesen Liebesakt vertrieben wurde. »Maggie!« schrie er von weit weg, und sie fühlte sich wieder hochgehoben, und alle Kraft seines Körpers erzwang sich Einlaß in sie, erschütterndes Stoßen, Explosion, Wahnsinn, Leben ... Umarmen, halten, lachen, die Liebe in Vollkommenheit. Maggie lag neben ihm auf dem Bett, halb bedeckt von seinem Körper, alle Nerven, Muskeln, Fasern, Knochen flüssig vom Liebesakt. Alle Dringlichkeit aufgelöst in träger Erfüllung. Was war soeben zwischen ihnen geschehen? fragte sie sich. Ekstase, Trost, ein Abschluß der Vergangenheit, eine Bestätigung des Lebens in einer todbringenden Welt. Und, oh, noch so viel mehr... Er nahm sie wieder in seine Arme, berührte, erforschte und streichelte sie. Anders als vorher, sanfter jetzt, kamen sie ihrem gegenseitigen Verlangen voll Zärtlichkeit und Einverständnis ohne Hast entgegen. Und dann waren sie still, lächelten einer in des anderen Haut hinein, erschöpft und erfüllt. »Das ist erst der Anfang für uns, Maggie«, sagte er und zog sie besitzergreifend an sich. »Für deinen hundertsten Geburtstag plane ich eine Überraschung.« »Hm?« murmelte sie verwundert, gerührt über sein Bedürfnis, ihrer beider Zukunft zu vereinen. »Ich hebe das Beste bis zuletzt auf«, sagte er schläfrig. »Ich nenne es den Fick des Jüngsten Gerichts.« »Fein«, antwortete sie amüsiert. »Da hab ich was, worauf ich mich freuen kann.« Wie süß ist ein Lachen, das man mit jemand teilt, den man liebt, dachte sie plötzlich, als ihr einfiel, daß das Lachen als letztes stirbt. Jack und sie hatten wegen seiner Krankheit lange keinen Sex haben können, aber ab und zu brachte irgendeine Verrücktheit sie zum Lachen. Und dann durchströmte sie die Liebe, überflutete sie in heilenden Wellen. Als Erinnerung an die guten Zeiten, als es Freude gab. Und Hoffnung. Und genug Lachen, um die Galaxien zu erfüllen. »Ich liebe dich, Maggie«, sagte Devlin in die plötzliche Stille, die über sie gekommen war.
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»Ich liebe dich auch«, antwortete sie, und sie meinte es ernst... und fragte sich dabei, ob ihnen Zeit bleiben würde für die Liebe, und war froh über diesen einen Augenblick. Sie schliefen ein paar Stunden, bevor die Strahlen der aufgehenden Sonne, die in die vorhanglosen Fenster schien, die Realität und den kommenden Tag zu ihnen brachten. »Ich möchte, daß du heute nichts unternimmst, Maggie«, sagte Devlin, als er, noch naß vom Duschen, nackt im Badezimmer stand. Die Jogginghose halb hochgezogen, sah sie ihn erschrocken an. »Ich habe dir gesagt, Dev«, erwiderte sie leichthin, »ich muß Cody heute holen.« Er sah so erschüttert aus, als hätte sie ihn geschlagen. »Verdammt, wovon redest du?« fragte er unwirsch. »Ich dachte, das hätten wir gestern abend alles geklärt.« Jetzt war es an Maggie, erschüttert zu sein. »Du dachtest, wir hätten alles geklärt?« wiederholte sie ungläubig. »Wie denn, Dev? Indem wir zusammen ins Bett gegangen sind und miteinander geschlafen haben? Oh, das ist wirklich großartig. Die Kleine ist völlig durchgedreht, vielleicht beruhige ich sie am besten auf die altmodische Tour!« Wütend und unsagbar traurig zog sie sich ihr Sweatshirt über den Kopf und wandte sich zur Tür. »Die Tatsache, daß ich dich liebe, Dev... oder mit dir geschlafen habe, ändert überhaupt nichts, verdammt noch mal. Ich bin immer noch ich... und ich muß immer noch Cody aus diesem Haus holen.« Sie wartete eine Antwort nicht ab, sondern knallte die Tür hinter sich zu. Devlin stand da, ein Handtuch um die Taille geschlungen, die Fäuste geballt aus Frust und ohnmächtiger Wut. Sie war so verdammt tapfer und so verdammt dämlich! Aber er war auch dämlich gewesen, als er gedacht hatte, Sex könnte sie ablenken. Ich bin ein Arschloch, dachte er angewidert. Er warf das Handtuch auf den Boden und zog eine Unterhose an. Er ging in die Küche, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, trank
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einen Schluck und schüttete den Rest in den Ausguß. Wenn das Ministerium ihm keine Rückendeckung geben wollte, dann mußte er es eben allein machen. Maggie bedauerte, daß Devlin und sie so auseinandergegangen waren, aber das war nun nicht mehr zu ändern. Sie fühlte sich durch und durch ausgehöhlt, von Schmerz, von Angst, sogar von Liebe. Von mehr Empfindungen, als sie aufzählen, geschweige denn kontrollieren konnte. Und sie war hundemü de und nicht in Form für den bevorstehenden Kampf. Sie würde um Hilfe bitten müssen. Sifu, ihr Meister, würde wissen, was zu tun war. Sie eilte zu dem Gebäude, wo er wohnte. Er würde sie nicht am Startblock zusammenbrechen lassen. Mr. Wong ließ sie mit einem kleinen erfreuten Lächeln in seine Wohnung ein; seine Miene verriet nichts davon, daß er die Schwere ihrer Erschöpfung in dem Moment, als er die Tür öffnete, erkannte. Stimme, Gesicht, Körpersprache, Hautfarbe jede Nuance von ihr klärte ihn beredt über ihren Zustand auf. Er hatte von Anfang an gewußt, daß dieser Augenblick kommen würde. »Ich muß einen großen Kampf bestehen, Sifu«, sagte sie, zu erschöpft für ausführliche Erklärungen. »Ich bin gekommen, Sie um Hilfe zu bitten.« Er nickte. Das hatte er erwartet. Er deutete auf die schmale Couch, auf der er die wenigen Privilegierten behandelte, die seine Meisterschaft in der traditionellen chinesischen Medizin zu würdigen wußten. »Wer töten kann, muß heilen können«, hatte sein Meister ihm vor einer Ewigkeit gesagt. »Es ist eine Sache des Ausgleichs.« Er legte seine Finger mit äußerster Konzentration auf ihre Handgelenke. Der Pulsschlag unter seinen kundigen Fingern verriet ihm genau, wo er die Akupunkturnadeln setzen mußte. »Wenn der Körper zu schwach ist, Maggie«, erklärte er ihr dabei, »kann der Geist nicht in ihm bleiben. Körper und Geist sind magnetische Kräfte, die sich gegenseitig anziehen. Aber nur
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wenn der Körper imstande ist, den Geist zu halten, kann dieser in ihn zurückkehren.« Er trat zurück, um die Veränderungen von Maggies Zustand zu beobachten. Sie wußte, daß er, wie alle Meister des Kung-Fu, Energiesysteme sehen konnte, die für sie unsichtbar waren. »Sie brauchen mehr Yang-Energie, Maggie«, sagte er nachdenklich. »Um zu kämpfen, muß Yang sehr stark sein. Ihre Lebenskraft muß mit der Energie einer besonderen Kriegernatur verstärkt werden. Diese Krieger-Energie wird mittels einer uralten Technik, die Fa Gong heißt, für eine gewisse Zeit eingeflößt. Es passiert nicht mit Nadeln.« Er hielt inne und überlegte, wie er es erklären sollte. »Hierzu muß ich die Energie aus meiner Seele ins Universum ausdehnen«, sagte er, als sei dies ein ganz gewöhnlicher Vorgang. »Dann muß ich die Krieger-Energie direkt in Ihren Körper übertragen. Ich werde dies tun, indem ich meine Hände auf die Zentren lege, die Sie von Ihrem Kampfsport-Training kennen.« Er wartete ihre Zustimmung nicht ab; er hatte ein seltenes Geschenk angeboten und wußte, es würde nicht zurückgewiesen werden. Maggie sah den kleinen, kräftigen Mann sich gegen den Boden stemmen und seinen robusten Körper zwingen, sich fest mit der Erde zu verbinden. Er streckte seine Hände aufwärts, um Energie aus dem Universum zu empfangen, als sei er eine Antenne, die auf eine unsichtbare Kraftquelle ausgerichtet war. Als er seine Hände auf ihren Bauch und ihren Brustkorb senkte, fühlte Maggie die pulsierende magnetische Kraft, die sie stärkte und mit Energie auflud... ihren Körper, ihren Geist, ihre Entschlußkraft. Maggie sah den Meister lächeln, zufrieden mit seinem Werk. Nach ein paar Minuten stand sie von der Couch auf und staunte über ihre neue Vitalität. »Sifu, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte sie. »Ich habe meinen Teil getan, nun werden Sie den Ihren tun. Das Ergebnis liegt bei den Göttern. Was immer geschieht, es ist so, wie es sein soll.« Sie sah den gütigen alten Mann an, der ihr Leben in vielerlei
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Hinsicht auf ungewöhnliche Weise verändert hatte, und fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. »Danke, daß Sie mein Freund sind, Sifu«, sagte sie bewegt. Sie hätte ihn gerne umarmt, hatte aber das Gefühl, daß ihn das kränken könnte; nur wenige trauten sich, ihm die Hand zu schütteln. »Auch Freundschaft liegt bei den Göttern«, murmelte er. Dann breitete er unverhofft die Arme für sie aus und hielt sie einen langen Augenblick umfangen, und sie fühlte die Macht seiner Stärke und seiner Weisheit und fragte sich, ob er ihre Ge danken gelesen habe.
75 »Ich hab uns einen Zeugen aufgetrieben, Lieutenant.« Gino grinste breit. »Einen richtigen Zeugen.« »Zeuge? Wofür?« »Daß Eric Vannier, dieses hochelegante blaublütige Schwein, bei einem Ritualopfer amtierte, wo eine junge Frau zu Hundefutter zerschnippelt wurde.« Devlin legte die Papiere aus der Hand und war ganz Ohr. »Wie hast du denn den aufgegabelt?« Garibaldi hockte sich auf die Kante von Devlins Schreibtisch, einen Fuß auf dem Boden, und feixte. »Ich war in Greenwich, um mit Vannier zu sprechen, und wie ich Seine Hoheit befragte, wobei weniger rauskam, als wenn ich mit Zaunpfählen gequatscht hätte, kam mir einer von seinen Gorillas irgendwie bekannt vor. Und als dieser wichtigtuerische Saftsack mir so auf den Wecker ging, daß ich mich kaum konzentrieren konnte, da kam mir die Idee, ich könnte mir mal den Burschen vorknöpfen. Und siehe da, er erwies sich als Ehemaliger einer unserer besseren Strafanstalten. Da hab ich ein bißchen tiefer gebohrt und rausgekriegt, daß, wenn er noch einmal verhaftet wird, er für immer in den Knast geht... also hab ich ihm einen kleinen Deal vorgeschlagen, wenn er über seinen Boß auspackte, den er sowieso nicht leiden kann, wie sich zeigte...« Ginos Grinsen barst schier vor Zufriedenheit.
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»Phantastisch«, sagte Devlin, und er meinte es ernst. »Die Sterne müssen heute günstig stehen, Gino. Jake, der Michelangelo der Tätowierungen, hat angerufen, sie haben ihn zu sich bestellt, um ein paar weitere Kunstwerke zu schaffen - sieben, um genau zu sein. Und er hörte sie über eine große Zeremonie reden, die am dreißigsten April stattfinden soll, es sieht also so aus, als hätte Ellie ins Schwarze getroffen.« »Ganz abgesehen davon, daß sie die besten Titten hat, die ich je sehen durfte.« »Sieh mal an, das ist dir aufgefallen.« »Die wären sogar Stevie Wonder aufgefallen.« Devlin grinste. »Es geht bergauf, Gino. Vielleicht kriegen wir diese Sache ja doch noch in den Griff.« »Hoffen kann nicht schaden, Lieutenant.« »Ich setze einen Freund vom Rauschgiftdezernat auf die Drogensache an und sehe zu, ob ich ein Ablenkungsmanöver für ihre Fete hinkriege, und ich denke, ich hab einen Anhaltspunkt für die Kinderzuchtfarm in Nyack. Dann ist es Zeit, noch mal zum Captain zu gehen.« »Hört sich gut an«, meinte Gino, während er schon auf die Tür zusteuerte. »Ich hab einen an der Hand, der sagt, er kann mir die Namen von ein paar Jungs nennen, die oft im Loopy Jupiter verkehren. Mal sehen, ob was dabei rauskommt.« »Ich habe die hiesige Verbindung, die Sie im Fall O'Connor wollten, Captain«, sagte Devlin, als O'Shaunessy den Hörer auflegte und ihm sein Hängebackengesicht zuwandte. »Und noch verdammt viel mehr, was die Sache allmählich plausibel macht -« »Soviel ich weiß, hatte ich Sie um das Material dieses Reporters gebeten, Lieutenant«, unterbrach O'Shaunessy ihn nicht eben wohlwollend. »Diese Papiere sind mir nicht mehr zugänglich, Captain«, sagte Devlin nebenbei. »Die Familie hat sie aus dem Safe entfernt.« Er belog den Captain nicht gerne, aber die vertauschte Videokassette hatte ihn vorsichtiger werden lassen. »Was ist die hiesige Verbindung?« fragte O'Shaunessy, und er
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heftete seine harten Augen auf Devlin, während er sich alles anhörte, was er zu sagen hatte. »Sie sind bei diesem Fall anscheinend in die Irre geraten, Lieutenant«, sagte er unerbittlich, als Devlin fertig war. »Ich möchte nicht annehmen müssen, daß Ihr Urteilsvermögen von persönlichen Verwicklungen getrübt ist.« Er ließ den Gedanken in der Luft schweben. »Das Kind lebt in Connecticut, das fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Die einzigen Papiere, die vielleicht ausschlaggebend sein könnten, können Sie offenbar nicht beibringen.« Er lehnte sich zurück, die mächtige Brust vor Mißbilligung gewölbt wie eine Kropftaube. »Diese Angelegenheit ist für dieses Revier nicht weiter von Interesse, Lieutenant. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Vollkommen klar, Sir«, sagte Devlin verwundert; weitere Verhandlungen waren offensichtlich nicht vorgesehen. Er stand auf und ging zur Tür. Als er sie erreichte, sagte der Captain noch etwas. »Sie sind ein guter Polizist, Devlin. Deswegen will ich die Papiere lesen, wenn Sie sie mir beschaffen, womit ich bis spätestens heute abend rechne. Und das ist ein Befehl, verstanden?« Devlin nickte und ging. Er war froh, daß Schwester Immaculata die Dringlichkeit seiner Bitte begriffen hatte, den Fellowes-Bericht irgendwo weit weg von der Chase-Manhattan-Bank in Sicherheit zu bringen. »Glaubst du, der Captain könnte einer von denen sein?« fragte Gino, nachdem Devlin ihm sein Treffen mit O'Shaunessy geschildert hatte. Sie standen auf der Straße vor dem Büro. Devlin schüttelte den Kopf. »Das scheint mir ziemlich weit hergeholt, Gino... aber irgendwas ist hier oberfaul. Vielleicht ist es politischer Druck von weiter oben. Vielleicht hat ihm jemand gesagt, er soll sich da raushalten.« »Warum will er dann den Bericht?« »Vielleicht will nicht er ihn, sondern jemand anders.« »Wie sicher sind die Papiere dort, wo du sie versteckt hast?« »Das hängt davon ab, wie scharf sie darauf sind.« Als Devlin
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sich vorstellte, wie irgend jemand, und sei's der Teufel selber, Immaculata Stevens' Zorn auf sich zog, lächelte er beinahe. »Ich habe beschlossen, in den Hexensabbat reinzuplatzen, Gino. Maggie ist überzeugt, daß sie das Kind töten werden, und ich kann das nicht zulassen, ohne wenigstens zu versuchen einzuschreiten.Wenn ich hingehe, bleibt sie vielleicht zu Hause.« Gino bedachte das und nickte. »Wie wär's mit ein bißchen Unterstützung, Lieutenant?« »Das ist ganz allein meine Sache, Gino. Es reicht, wenn ein Job auf dem Spiel steht.« »Vergiß den Scheiß, Lieutenant«, sagte Garibaldi. »Du kannst da nicht ohne Hilfe hingehen, also versuch erst gar nicht, mit mir zu streiten, sondern sag mir nur, was genau bei diesem Hexensabbat abgeht. Müssen wir unsere Fledermausflügel und Wassermolchaugen für den Hexensud mitbringen?« »Ellie sagt, da ist richtig was los, fressen, saufen, vielleicht eine große Orgie. Gegen Mitternacht dann die Materialisation. Um dreiundzwanzig Uhr dreiundvierzig, um genau zu sein... sie brauchen eine exakte astrologische Konstellation für ihren Hokuspokus.« »Ich war noch nie bei einer Orgie«, erwiderte Garibaldi grinsend. »Könnte sich vielleicht lohnen, wenn ein paar Hexen halbwegs anständig aussehen.« »Seit wann müssen die anständig aussehen?« gab Devlin feixend zurück. Sie waren bei Ginos Auto angekommen; er drehte den Schlüssel im Schloß. »Kann ich dich irgendwo absetzen, Lieutenant?« fragte er, als er einstieg. »Ich will zu Maggie, versuchen, was wieder gutzumachen. Du kannst mich Ecke St. Luke's Place rauslassen.« »Okay.« Der Anrufbeantworter auf Maggies Schreibtisch blinkte. Amanda hatte angerufen. Es klang dringend, und Maggie wählte ihre Nummer. »Ich glaub, ich weiß was, das du wissen solltest, Schätzchen«, sagte Amanda. »Am dreißigsten April steigt 'ne tolle Party, und weißt du, wo? Ausgerechnet bei den Vanniers.
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Ein Kostümfest, Maggie, mit einer Gästeliste, die sich gewaschen hat, die ganze Hautevolee donnert sich für 'ne Erste-Mai-Feier auf. Ich hab sechs Namen von der Bande notiert, von der du mir erzählt hast, die bei diesem High-Society-Rummel mitmachen. Es ist alles sehr geheim, weil sie nicht wollen, daß die Presse Wind davon kriegt und ungeladen reinplatzt, darum reden sie in den feinen Kreisen nur hinter vorgehaltener Hand darüber... aber mit purem Neid. Hier haben wir's mit den oberen Zehntausend zu tun, Schätzchen, der Creme de la creme.« Gott segne Amandas Beziehungen, dachte Maggie, als sie auflegte. Vielleicht konnte Ellie etwas mit der Tatsache anfangen, daß es ein Kostümfest war. Auf dem Anrufbeantworter war auch eine Nachricht von Devlin. Sie lautete schlicht: »Bitte paß auf dich auf, Maggie. Ich will nicht ohne dich leben müssen.« »Kostümfest, hm?« überlegte Ellie, als Maggie ihr erzählte, was Amanda herausgefunden hatte. »Natürlich! Es ist ein großer Sabbat. Vermutlich wird jeder einen Nom du Diable wählen und eine historische Figur verkörpern, die schwarze Kunst betrieb. So machen sie es in Europa, Mags. Ich gehe jede Wette ein, daß das geplant ist.« »Werden sie Masken tragen?« fragte Maggie gespannt. »Wenn ja, wäre es viel leichter für mich, unbemerkt reinzukommen.« Ellie runzelte die Stirn. »Vielleicht sind sie maskiert, vielleicht auch nicht. Am besten überlegen wir uns ein Kostüm für Sie, das zu ihrem Thema paßt, Ihnen aber trotzdem genug Bewegungsfreiheit läßt. Auf keinen Fall lange Gewänder oder enge Röcke, das steht fest. Sie könnten als Göttin Bast gehen. Sie hatte den Körper einer Katze und den Kopf einer Löwin. Sie könnten ein aufgemotztes Trikot anziehen und Ihr Gesicht schminken wie das Ensemble von Cats. Damit wären Sie kaum zu erkennen.« »War Bast böse genug, um den Ansprüchen zu genügen?« »Besonders boshaft war sie nicht, aber sie wird in der Litanei von vielen magischen Taten aufgeführt, schwarz und weiß, das genügt für den Hexensabbat, vor allem für den großen Sabbat,
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wo soviel Rummel ist - Saufen, Drogen, Sex in allen erdenklichen Variationen. Fest steht, je weniger Sie anhaben, desto besser wird es denen gefallen. Ich werde als Tanith gehen, die karthagische Mondgöttin«, fügte Ellie hinzu, »da brauche ich nicht viel anzuziehen, und vielleicht lenken unsere Körper ihre Blicke von unseren Gesichtern ab.« »Moment mal, Ellie«, sagte Maggie. »Ich kann nicht zulassen, daß Sie mitkommen. Das ist mein Kampf.« »Meiner auch, Mags. Sie wurden zu einem bestimmten Zweck zu mir geschickt, und jetzt stecken wir zusammen drin. Und es kann sein, daß ich Ihnen auf dem Sabbat mit Worten beispringen muß - ich kenne den Jargon und Sie nicht. Außerdem sollte niemand allein in die Hölle gehen müssen.« Devlin traf sich mit Harry Fisk weit außerhalb der Stadt, wo sie sicher sein konnten, daß sie nicht beobachtet wurden. Harry hätte ihn nicht um sechs Uhr morgens angerufen und zu einem Waldspaziergang aufgefordert, wenn es keine gefährlichen Themen zu besprechen gäbe. »So sieht es aus«, sagte Fisk ohne einleitende Höflichkeiten. »Deine zwei Jungs stehen unter dem Schutz sämtlicher Geheimdienste dieser Welt. Sie tun allen großen Tieren große Gefallen, und sie sind denen in Washington so tief in den Arsch gekrochen, daß du ein Rektoskop bräuchtest, um sie zu finden.« »Und der Drogenhandel? Kann das Drogendezernat bei dem Hexensabbat keine Razzia durchführen?« »Und was werden sie finden? Eine Horde nackter reicher Typen, die Joints rauchen und koksen. Sehr peinlich. Für zehn Minuten, bis eine Menge wichtige Leute telefoniert haben, und plötzlich darf die Story ›im Interesse der nationalen Sicherheit‹ nicht in die Zeitung, und dem Polizeichef im zuständigen Bezirk wird gesagt, daß er sich um wichtigere Sachen kümmern soll.« Devlin blieb stehen. »Soll das heißen, daß du absolut nichts für mich tun kannst, verdammt noch mal?« Harry Fisk sah Devlin an, ehe er wieder sprach. »Ich kenne jemand namens Rafi Abraham«, erwiderte er schließlich. »Ich
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bin mir ziemlich sicher, daß er das Mossad-Team leitet, das sich in diese Sache eingeklinkt hat. Er schuldet mir einen Gefallen. Ich werde versuchen zu erreichen, daß seine Jungs dich bei ihrer Arbeit nicht ausschalten. Das ägyptische Team wird von einem Colonel Hamid angeführt. Das ist ein fieser Kerl, und er kann mich nicht besser leiden als ich ihn, aber er ist nicht so schlau wie Abraham, darum will ich auf Abraham einwirken, daß Hamid kaltgestellt wird.« Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Das ist im Moment alles, was ich habe, aber ich halte die Ohren am Boden wie Jimmy Olsen, okay?« »Ich schulde dir einen Gefallen, Harry«, sagte Devlin, ohne zu lächeln. »Allerdings. Und tot kannst du mir keinen tun, also paß auf deinen idealistischen irischen Arsch auf, Junge, ja?« Die zwei Männer trennten sich und fuhren auf verschiedenen Routen in die Stadt zurück. 76 Maria Aparecida klopfte schüchtern an die Tür zur Bibliothek, wo Maggie zu meditieren versuchte. »Dona Maggie«, sagte sie, »der Priester. Er sagte, er muß Sie sprechen.« Maggie sah erschrocken auf; sie hatte Peter seit jenem Abend vor einer Woche nicht mehr gesehen oder gesprochen. »Die Kuh ist im Sumpf versunken«, sagte Maria mit sonorer Stimme, »aber ein guter Mensch ist noch immer ein guter Mensch.« Die Kuh ist im Sumpf versunken. Das brasilianische Sprichwort bedeutete: »Jetzt ist alles aus.« Maggie lächelte schief. Dank ihrer Intuition wußte Maria stets über alle Vorgänge im Hause Bescheid, selbst wenn sie nicht unmittelbar dabei war. »Bitten Sie ihn herein, Maria«, sagte Maggie, während sie sich fragte, wie, um alles in der Welt, sie die Verlegenheit über ihre letzte Begegnung überbrücken sollten. Sie hörte die vertrauten Schritte auf der Treppe und wünschte flüchtig, sie wäre in einem anderen Zimmer.
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Peter blieb in der Tür stehen, sein Gesicht war von Sorgen gezeichnet, dunkle Ringe umrahmten seine Augen, und seine Schultern wirkten schwerbeladen. »Ich hatte nicht den Mut, Sie anzurufen, Peter«, sagte Maggie und sah ihm in die Augen. »Weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte.« »Liebe Maggie«, begann er... Sie spürte die Liebe und ungeheure Anspannung in seiner Stimme. »Bitte sagen Sie nichts, bis Sie mich angehört haben. Ich habe Ihnen so viel zu sagen, und ich habe keine Ahnung, ob ich den Mut haben werde, auch nur die Hälfte davon auszusprechen.« Er holte tief Luft und trat ein. Sie sah ihn einen Blick auf seinen Lieblingssessel werfen und sich entschließen, sich nicht zu setzen. »Ich kann nur beten, Maggie, daß Sie am Ende verstehen werden, was ich Ihnen sagen will - wenn meine Worte hoffnungslos unzureichend sind, müssen Sie mit dem Herzen zuhören.« Sie nickte und wartete. »Als wir uns kennenlernten, Maggie, befand ich mich schon in der Krise - einer Krise, von der ich Ihnen aus Feigheit nie erzählen konnte... oder vielleicht wußte ich einfach nicht, wie ich es formulieren sollte. Jetzt erkenne ich, daß ich versuchen muß, es Ihnen verständlich zu machen... sonst werden Sie nie wissen, was in meinem Herzen vorgeht.« Er lief von einer Stelle zur anderen. »Als sich die Krise entwickelte und mein Gewissen mich auf seltsame Abwege führte, stellte ich mir die Frage, ob die Mutter Kirche wirklich immer recht hat, wie man uns auf dem Priesterseminar gelehrt hatte. Ich konnte diesen Glauben, dieses Vertrauen nicht mehr aufbringen. Folge ich Christus, indem ich meinem Gewissen folge, oder trotze ich meinen Vorgesetzten nur aus Stolz und Unbeugsamkeit? fragte ich mich. Befand ich mich auf dem berühmten Weg zur Hölle, der mit guten Vorsätzen gepflastert ist, oder erkämpfte ich mir gegen alle Widerwärtigkeiten den Weg zum Himmel? Ich war dem Wahnsinn nahe, und ich war ganz allein.« Sichtlich erschüttert machte er eine Pause. »Als ich mich mit jenem fürchterlichen Alleinsein quälte, kamen Sie zum erstenmal zu mir, Maggie.«
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»Sie wollen mir doch nicht erzählen, Peter, daß ich vorübergehend ein Hafen in einem geistlichen Sturm war«, sagte sie eisig. »Das ist erniedrigend und grausam.« Der Schrecken war ihm anzusehen, und er blieb kurz stehen. »Lieber Gott, nein!« platzte er heraus. »Ich will damit sagen, daß der Himmel Sie mir geschickt hatte, Maggie. Verstehen Sie - die ganze Zeit dachte ich, daß ich Sie rette, dabei waren Sie es, die mich gerettet hat! Ihr Glaube ist absolut rein. Er entspringt keiner Theologie, sondern der Liebe Gottes! Sie leben in einem vollkommen selbstlosen Glauben, Maggie, und das haben Sie mir gezeigt! Denn meine intellektuellen Umwege - mein Schachspiel mit Gut und Böse, meine hamlethafte Seelensuche -, das war alles sinnlos. Mir war zum Sterben zumute, weil ich in einem Paradox gefangen war. Aber Sie waren nicht gefangen! O Maggie, meine Maggie, verstehen Sie nicht? Im wesentlichen sagten Sie zu mir: ›Verdammt, hör auf zu reden und tu etwas! Laß das Paradox fahren und rette das Kind. Dies ist keine Debatte, es ist ein Kampf auf Leben und Tod, um Cody zu retten. Fang an, beweg dich! Das allein ist der ultimative Akt des Glaubens.‹ Sie haben mir schlagartig die Augen geöffnet. ›Ich kann mit meinem Gewissen el ben‹, haben Sie mir auf tausendfache Art gesagt, ›und für alle um mich herum das Beste tun, ich stehe auf Gottes Seite, und ich übernehme die volle Verantwortung für mein Tun. Ich kann Recht von Unrecht, richtig von falsch unterscheiden, und es ist richtig, das Kind zu retten, und wenn ich dabei draufgehe.‹ Das haben Sie gesagt, mit Worten und mit Taten.« Er sah ihr in die Augen. »Sie haben mich dazu gebracht, das Leben zu seinen Bedingungen anzunehmen, Maggie, nicht zu meinen. Und plötzlich besann ich mich wieder, daß Christus Menschlichkeit verkörpert, nicht nur Göttlichkeit und er verbindet beides gleichwertig. Das ist eines der großen Mysterien des Glaubens... und das habe ich in Ihnen gesehen. Sie sind die Hüterin meines Prozesses gewesen, nicht nur Codys Hüterin. Ohne Sie, Maggie, hätte ich nicht ja sagen können im Augenblick der Entscheidung.« Maggie sah ihn an; und plötzlich verstand sie so vieles. »Sie
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lieben Gott, der Sie berufen hat, Peter«, sagte sie leise. »Wenn ich Ihnen geholfen habe, den Weg zu ihm zurückzufinden, dann freut mich das mehr, als Sie sich vorstellen können.« »Wie könnte ich Sie nicht lieben, Maggie«, sagte Peter in wehmütigem Ton, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »Sie haben mir mein Priestertum zurückgegeben... und mich selbst.« Sie sah, daß er mit seinen Gefühlen kämpfte. Er senkte den Kopf, und mit einem abgrundtiefen Seufzer sagte er: »Und dafür verlangte ich von Ihnen, was Sie nicht zu geben bereit waren.« Sie wollte protestieren, aber er brachte sie mit einer gequälten Gebärde zum Schweigen. »Ich weiß jetzt, Maggie, daß Sie mich nicht lieben... nicht in diesem Leben. Und ich Sie auch nicht. Und doch empfinden wir auf substantielle Weise Liebe füreinander. Wir sind Teil unserer gegenseitigen Entfaltung, das scheint sicher. Und es gibt unerklärliche Fäden aus der Vergangenheit, die uns zu umschlingen, uns verlegen zu machen scheinen... Dies eine aber ist ohne jede Verlegenheit: Ich bin Ihr Freund, Maggie, und Sie sind meine Freundin. Darum bitte ich Sie, lassen Sie mich Ihnen jetzt helfen. Ich bin zu diesem Kampf berufen, so gewiß wie Sie und Cody, und ich muß auf Ihrer Seite kämpfen.« Peter holte gepreßt Atem und sagte dann mit großem Ernst: »Was unser ›anderes Leben‹ angeht, Maggie... wer weiß, wie Gott beschließt, uns unseren Heimweg antreten zu lassen? Ich kann nur sagen, ich hoffe von ganzem Herzen, daß wir irgendwo in der Zeit frei gewesen sind, uns zu lieben.« Er war vor Maggies Sessel stehengeblieben. Ihre Augen suchten die seinen. Wer bist du für mich? forschten sie. Welche Lektionen konntest nur du mich lehren? Für Gott mußt du bereit sein, alles zu geben und nichts zu erwarten. Sie sah jetzt die Dinge in einer merkwürdig losgelösten Perspektive ... als hätte ihre Welt sich allein auf Cody konzentriert und auf den morgigen Abend, und alles andere wäre an den Ecken verblaßt wie eine alte Fotografie. Sie dachte, das bedeutete, daß sie sterben würde.
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»Ich glaube, wir sind in einem Mysterium gefangen, das weitaus größer ist als wir selbst«, erwiderte sie ihm, sorgsam darauf bedacht, die richtigen Worte zu finden. »Vielleicht ist es törichter Hochmut von uns, uns einzubilden, wir könnten jemals begreifen, was von uns erwartet wurde und warum. Sie sind mein lieber Freund, Peter, und es scheint, Sie sind es immer gewesen. Was für ein Kampf uns auch bevorsteht, ich werde sehr froh sein, Sie dabei zu haben.« Sie sah die Güte und geistige Großmut in seinen Augen, und sie war froh, ihn geliebt zu haben, und sei es noch so kurze Zeit und aus Gründen, die weit über ihr Begriffsvermögen hinausgingen. Jetzt galt es nur noch, alles zwischen ihnen in Ordnung zubringen. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stimme. »Alles, was in meiner Macht steht«, erwiderte er. Sie lächelte und berührte voller Liebe seine Hand. »Würden Sie mir die Beichte abnehmen, Peter?« fragte sie leise. Erschrocken über die Bitte, stand Peter einen langen, unentschlossenen Moment unbeweglich, dann beugte er neben dem Sessel das Knie. Während er sie am Vorabend des möglichen Todes ihr Herz erleichtern hörte, dachte er, daß es eine sehr ungewisse Frage sei, wer wem die Absolution erteilen sollte. Peter schlug die Bibel bei Paulus' Brief an die Epheser auf, 6. Kapitel, Vers iz-13»Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. Um deswillen ergreifet den Harnisch Gottes, auf daß ihr an dem bösen Tage Widerstand tun und alles wohl ausrichten und das Feld behalten möget.« Dazu war es nun gekommen, das wußte er, zu dem Augenblick, »Widerstand zu tun«. Es war die beste, die einzige Möglichkeit. Er besann sich auf Ellies Worte. »Wenn einer Gottheit ein Opfer versprochen wurde«, hatte sie ihn einmal ermahnt, »so muß
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ein Opfer gebracht werden. Das ist ein Gesetz des Universums, das weit älter ist als das Christentum.« Peter nahm die geweihte Hostie und verschloß sie in dem Behältnis, das er bei Besuchen mitzunehmen pflegte. Wenn es ein Mittel auf Erden gab, das auch gegen das stärkste Böse Macht besaß, so war es das heilige Sakrament. »Mit ihm könnten Sie furchtlos in die Hölle selbst spazieren«, hatte sein Lieblingstheologieprofessor während seiner Studienzeit gesagt. Peter lächelte bei der Erinnerung an diesen Mann... was würde er denken, wenn er wüßte, daß seine Worte nun bald der Feuerprobe unterzogen werden würden? Peter hatte gefastet, seit er Maggie verlassen hatte, und fühlte sich ein bißchen benommen - oder vielleicht kam das auch von den vielen auf Knien verbrachten Stunden. Oder auch von der Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens. Peter überprüfte seine Kampfwerkzeuge. In der Tasche hatte er eine kleine ledergebundene Ausgabe des römisch-katholischen Exorzismus-Rituals. Er kannte es fast auswendig, aber das Buch spendete ihm Trost. Peter küßte ehrfürchtig die Purpurstola und steckte sie in die Tasche, zusammen mit den Weihwasserphiolen und den Fläschchen mit heiligem Öl. Das Chrisma, das bei der Taufe verwendet wurde, hatte er schon eingesteckt; für den Fall, daß sie es wagten, das Kind auf Satan wiederzutaufen, würde er es zu dem Glauben Christi zurückholen. Er bekreuzigte sich und kniete auf den Betschemel vor das große schlichte Kruzifix, das seine Mutter ihm zur Priesterweihe geschenkt hatte. Heute abend auf dem Walpurgisnacht-Fest würde ein Opfer gebracht werden, ohne Frage. Aber Peter hatte nicht die Absicht, Cody oder Maggie die Opfergabe sein zu lassen. Maggie kniete in der leeren Kirche vor dem Altar und betete innig um Mut. Sie fühlte seltsamerweise eine große innere Ruhe, zum erstenmal, seit dieser Wahnsinn angefangen hatte. Ob die frühen Christen sich auf dem Weg zu den Löwen so gefühlt hatten? fragte sie sich.
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Ein ganzes Leben war in drei Monaten gelebt worden. Ich bin nicht die Maggie von »vorher«. Wer bin ich jetzt? Sie sah auf die sternengekrönte Statue der Mutter Maria. War sie zugleich Isis? Ewige Mutter, Himmelskönigin. Trug sie nur in verschiedenen Epochen verschiedene Namen und Gewänder und verkörperte dabei stets das weibliche Prinzip des Universums? Wenn du existierst, liebe Mutter, irgendwo im Kosmos... bitte erhöre mein Gebet! Sie war froh, daß die Zeit zum Handeln gekommen war, froh, daß sie endlich kämpfen konnte. Vielleicht war es irgendwie angemessen ... vielleicht war um ein Kind in Gefahr zu kämpfen das, was Frauen seit dem Anbeginn der Zeiten getan hatten. Maggie stand auf und bekreuzigte sich, dann verließ sie die Kirche. Raphael Abraham nahm das Telefon ab; am anderen Ende war der Rabbi. »Du wirst mich jetzt abholen, Rafi«, sagte der alte Mann sehr bestimmt. »Die Zeit ist gekommen, daß wir an die Arbeit gehen. « »Was für eine Arbeit, Rabbi?« »Stell nicht so dumme Fragen, mein Junge«, erwiderte der Rabbi. »Tu einfach, was ich sage.« Nach diesen Worten legte er auf. Abraham fluchte leise vor sich hin. Er überprüfte den Revolver, den er unter die Achselhöhle geschnallt hatte, und ging entschlossen zur Tür.
77 Devlin schob die Neun-Millimeter-Glock in ihr Halfter und steckte ein paar Ersatzmagazine in die Tasche. Er hatte keine Unterstützung vom Präsidium zu erwarten, und er machte sich keine Illusionen über Erics Bereitschaft, einen tödlichen Kampf zu führen, weswegen die siebzehn Schuß der Glock allemal besser waren als jeder Revolver. Man konnte ja nicht wissen, was
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für eine Söldnerarmee Vannier in Bereitschaft hielt. Dev und Garibaldi würden die Truppen sein, auf die Maggie zählen konnte. Es läutete an der Tür, gerade als er sie öffnen wollte, um hinauszugehen. Überrascht spähte Devlin durch das Guckloch und sah zwei uniformierte Polizisten im Flur stehen. Nash und Schmidt vom Revier; er kannte keinen von ihnen gut, aber er wußte, wer sie waren. »Eine Nachricht von Garibaldi, Lieutenant«, verkündete Nash. »Er sagt, es ist dringend.« Devlin ließ den Riegel zurückschnappen, und die Tür flog gegen ihn; die beiden bulligen Ge stalten hatten Waffen in der Hand. »Nimm ihm sein Schießeisen ab!« befahl Nash, und Schmidt riß die Glock aus ihrem Halfter. »Was haben Sie sonst noch bei sich, Lieutenant?« fragte er und klopfte Devlin ab, um die Reservewaffe zu finden. »Verdammt, was soll das?« fauchte Devlin. »Der Captain will nicht, daß Sie heute abend Probleme bekommen, Lieutenant. Er sagt, Sie machen sich wegen 'nem Flittchen ins Hemd, und er will nicht, daß Sie Ihre Nase in was reinstecken, was Sie nichts angeht.« »Mistkerl!« sagte Devlin. Er war wütend auf sich selbst, weil er nach dem eigenartigen Benehmen des Captains nicht vorsichtiger gewesen war. »Wollen Sie mich umbringen, Nash?« fragte Devlin. »Oder denken Sie, daß ich das morgen vielleicht nicht erwähne, und Sie können es einfach vergessen?« Nash lächelte. »Das spielt keine Rolle mehr, wenn diese Nacht vorbei ist, Lieutenant. Der Captain sagt, morgen ist alles Schnee von gestern. Und wenn Sie sich den Mund fusselig reden, wen interessiert das schon? Ihr Wort gegen unseres.« »Das haut nie hin, und das wissen Sie genau«, erwiderte Devlin, während er auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand sah. »Na, wenn schon, wer sagt denn, daß Sie nicht im Dienst einen tödlichen Unfall bauen?« Schmidt stieß Devlin grob auf einen Küchenstuhl und fesselte
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ihm hinter dem Rücken die Hände mit Handschellen. Wutschäumend über seine eigene Dummheit, fragte sich Devlin, während er mit wachsender Besorgnis die Minuten verfliegen sah, ob Gino in derselben Zwangslage war. Kurz vor zehn waren Geräusche im Flur vor der Wohnung zu vernehmen, und die zwei Uniformierten wurden wachsam. Nash bedeutete Schmidt nachzusehen. Schmidt willigte brummend ein, zog seinen Revolver und öffnete die Tür, dann ging er verstohlen in den Flur, und Nash schloß die Tür hinter ihm ab. Minuten verstrichen, ohne daß etwas zu hören war, auch kein Zeichen von Schmidt. Zwölf Minuten vergingen. Fünfzehn. Devlin sah Nash zunehmend unruhiger werden. Zu aufgeregt, um still zu sitzen, öffnete er schließlich die Tür und rief nach seinem Kollegen. Vier schwerbewaffnete Männer stürmten plötzlich an ihm vorbei. Nash wurde nach hinten geschleudert, und Devlin wußte, daß der Mann tot war, bevor er auf dem Fußboden auftraf. Er kippte seinen Stuhl um und schlug hart auf dem Boden auf; wegen der Handschellen hatte er keine Möglichkeit, sich zu schützen, aber instinktiv kroch er den Schützen aus dem Weg. Ein gedrungener, dunkelhäutiger Mann folgte der Kommandoeinheit auf dem Fuß und schloß leise die Tür hinter sich. Er schien der Anführer zu sein und wirkte ausgesprochen professionell. »Wir stehen auf derselben Seite, Lieutenant Devlin«, sagte er mit dem schweren Akzent des Israeli. »Mein Name ist Abraham. Wenn Sie sich uns anschließen wollen, wir gehen alle auf dieselbe Party.« Er gab einem seiner Männer ein Zeichen, die Handschellen aufzuschließen, und Devlin stand auf und rieb sich die Handgelenke, um den Blutkreislauf wieder anzuregen. »Ein Mann namens Fisk hat ein Wort für Sie eingelegt«, sagte Abraham. »In meinem Job nehmen wir Rücksicht auf unsere jeweiligen Gegenspieler. Wir wollen der Frau und dem Kind nichts tun, Lieutenant, und die Frau vertraut Ihnen. Das könnte vielleicht nützlich für uns sein.« Wie um seine Absicht zu un-
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terstreichen, gab Abraham Devlin seine Waffe zurück. »Könnte sein, daß Sie die brauchen«, sagte er. Devlin überprüfte die halbautomatische Pistole noch einmal und schob sie in ihr Halfter. »Wir haben hier eine Leiche und im Flur noch eine, glaube ich«, sagte er leichthin. »Für die Abfallbeseitigung ist der Hausmeister zuständig«, entgegnete Abraham in autoritärem Ton. »Wir sind knapp mit der Zeit, Lieutenant. Ich schlage vor, wir gehen.« Ein Transporter vor dem Haus nahm die Israeli und Devlin auf und steuerte auf die 1-95 zu. »Falls Sie sich Sorgen um Ihren Freund Garibaldi machen«, sagte Abraham, »den haben wir. Er wird für den Rest der Nacht festgehalten, damit ihm nichts zustößt.« Ein Pkw und ein Konvoi aus mehreren Transportern rasten auf dem Weg nach Greenwich über den New England Thruway. Sie hatten vorher schon angehalten, um den Rabbi abzuholen. Als Devlin einstieg, stellte er sich dem alten Mann vor und fragte sich, wie dieser Mann in dieses verzwickte Puzzle paßte. Es störte Abrahams Ordnungssinn, daß zwei Zivilisten seinem Gefolge hinzugefügt worden waren. Der Polizist konnte unter Beschuß allein reagieren, aber der Rabbi... »Wir müssen besprechen, was hier geschehen wird«, sagte der alte Mann leise auf hebräisch, als hätte er Abrahams Ge danken gelesen. »Da Sie mich angerufen haben, darf ich wohl annehmen, daß Sie etwas wissen, das ich nicht weiß?« erwiderte Abraham in schneidendem Ton. »Wie es scheint, wird die Seele des Kindes von gewissen bösen Geistern als Geisel gehalten«, erwiderte der Rabbi unbeirrt. »Ich muß sie mit Mitteln zu befreien suchen, die du nicht verstehst. Andere Verbündete des Kindes werden herbeigerufen. Ich werde nicht allein arbeiten.« »Und die Amulette?« fragte Abraham. »Sag mir«, bat der Rabbi und richtete im Dunkel des Wagens seine Augen auf Abraham, »glaubst du, daß die Menschheit, wie du sie kennst, genügend entwickelt ist, um sich einer
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Macht zu bedienen, wie sie diesen Amuletten zugeschrieben wird?« Abraham mied die verstörenden Augen und sah einen Moment auf seine Hände. »Es ist nicht meine Aufgabe, mir über solche Fragen Gedanken zu machen, Rabbi. Ich bin Soldat und gehorche Befehlen.« »Ach«, erwiderte der Rabbi, »eine solche Antwort gibst du mir? Ich habe dich etwas gefragt!« Abraham räusperte sich, aber seine Stimme blieb heiser. Er warf einen Blick auf Devlin, doch es war offensichtlich, daß der Mann ihre Unterhaltung nicht verstand. »Menschen sin d Idioten«, sagte er. »Keiner könnte solche Macht haben, ohne sich von ihr korrumpieren zu lassen.« »So«, sagte der Rabbi. »Du hattest den Befehl, mich zu bitten, den Sekhmet-Stein zu zerstören und das Isis -Amulett nach Israel zu schaffen. Jetzt will ich dir sagen, warum das nicht sein kann. Wir müssen annehmen, daß Gott die Existenz des Bösen zuläßt, weil es dem Menschen erlaubt zu wählen, welchen Weg er gehen will. Wie könnte der Mensch ohne das Böse seinen freien Willen ausüben? Wie könnte sein Fortschritt auf demWeg zu Gott bemessen werden, wenn es das Böse nicht zu bekämp fen gälte? Wäre es anders, geriete das Universum aus dem Gleichgewicht.« »Wenn Sie das böse Amulett nicht zerstören wollen, Rabbi«, entgegnete Abraham vorsichtig, »nehme ich alle beide mit nach Israel. Damit wäre das Gleichgewicht gewährleistet.« »Ah«, sagte der Rabbi. »Betrachten wir diese Möglichkeit. Falls die Amulette überhaupt existieren, gehören sie vermutlich der Isis -Botin. Willst du sie ihr stehlen, um deinen Befehlen zu gehorchen? Willst du vielleicht das Kind und die Großmutter töten, um die Amulette in deinen Besitz zu bringen? Oder willst du sie nur einsperren? Und nachdem du dir die magischen Spielsachen gesichert hast, willst du sie einer Regierung übergeben und erwarten, daß diese über ihren Gebrauch befindet? Ich frage dich, Rafi, nach den Folgen einer solchen Tat. Würde diese Regierung dann für immer an der Macht bleiben? Würdest du, Raphael Abraham, ihr zutrauen, klug zu entscheiden, wenn die
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ehemals Gott vorbehaltene Macht auf einmal in der Hand der Knesset läge? Und wenn Israel nicht mehr um seine Existenz bangen müßte, glaubst du, daß es seinen starken, mutigen Charakter behalten oder vielleicht verweichlichen und verfallen würde?« Zutiefst verstört erwiderte Abraham: »Ich weiß die Antworten nicht, Rabbi.« »Du weißt die Antworten nicht?« Der Rabbi strahlte eine patriarchalische Macht aus, als er fragte: »Kennst du irgendeinen, der die Antworten weiß?« »Ich habe auf solche Fragen nichts zu erwidern, Rabbi«, entgegnete Abraham, der sich fest an das klammerte, was er sicher wußte. »Aber ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Wenn dies in meiner Macht steht, so muß ich es tun. Dazu bin ich da. Das bin ich.« »Bist du dir da so sicher, Rafi?« Der Rabbi fixierte ihn mit einem Blick, der sogar den Anflug von Mitgefühl enthielt. »Ein Mensch ist, was er ist... nicht, was er einst war.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der Straße vor ihm zu. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er im Befehlston. »Die Zeit ist ein wesentlicher Faktor.« Damit schloß er die Augen und vertiefte sich für den Rest der Fahrt in Gedanken oder ins Gebet. 78 Der Löwinnen-Kopfputz vom Kostümverleih war bequemer, als Maggie gedacht hatte. Der Angestellte hatte ihr eine Anleitung zum Malen eines Löwengesichts mit Theaterschminke mitgegeben, und es erwies sich als erstaunlich einfach, sich ohne Maske unkenntlich zu machen. Das Kostüm bestand aus einem schwarzen Trikot und einer enganliegenden Pelzweste mit Tigerstreifen; flache schwarze Ballerinaschuhe mit aufgemalten Pfoten vervollständigten die Verkleidung. Ellies exotische Aufmachung bestand hauptsächlich aus einer glatten schwarzen Cleopatra-Perücke und dicken, aufwärts geschwungenen Kajalstrichen um die Augen; ansonsten trug sie
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sehr wenig. Nach einem Blick auf ihre Freundin war Maggie sicher, daß niemand auf dem Hexensabbat sich die Mühe machen würde, Ellies Gesicht in Augenschein zu nehmen. Die zwei Frauen fuhren nach Greenwich und parkten das Auto bei Freunden von Amanda, die sich zur Zeit in Scottsdale aufhielten. Ein Hausmeister führte sie zum Bootshaus und ließ sie zwischen den Ruderbooten und Dinghis wählen, die einen großen verankerten Katamaran umgaben wie Lotsenfische. Sie entschieden sich für ein kleines Boot. Ellie ruderte, und Maggie instruierte sie ein letztes Mal über den Lageplan des Hauses der Vanniers. »Die haben eine Festbeleuchtung wie in Versailles«, sagte Maggie, als sie sich dem Ufer näherten. »Wo sollen wir an Land gehen?« fragte Ellie. »Am bewaldeten Ende der Insel ist ein schmaler Strand. Dort sind keinerlei Dekorationen, und Leute scheinen auch keine da zu sein. Ich finde, wir sollten es dort versuchen.« Das kleine Boot kam knirschend zum Stehen; Maggie und Ellie zogen es den Kiesstrand hinauf und so weit zu den Bäumen hin, wie sie konnten. Dann umarmten sie sich und wünschten sich viel Glück, bevor sie die Böschung hinaufkletterten und durch das Wäldchen liefen, das die Villa umgab. Im hellerleuchteten Hause Vannier ging es hoch her. Lichterketten zogen sich von Baum zu Baum und die Balustrade entlang. Hunderte von Kerzen flackerten in der Brise, die von der Long-Island-Bucht herüberwehte, und erlesene Blumendekorationen verliehen dem Frühlingsgarten den Glanz eines vergangenen Jahrhunderts. Herren und Damen in aufwendigen Kostümen spazierten auf dem Gelände umher und gingen nach Belieben im Haus ein und aus. Es schienen hundert oder mehr Gäste zu sein, und ein Dutzend livrierte Diener eilten hin und her wie Ameisen im Dienste einer anspruchsvollen Königin. Maggie erspähte Ghania auf der Südseite der Loggia in angeregtem Gespräch mit einem Herrn mit Kardinalsschärpe. »Schauen Sie, Mags«, flüsterte Ellie in der Deckung der Bäume am Gartenrand. »Das ist Papst Honorius, der Anti-
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Christ! Und da drüben - der Dicke mit dem Spitzbart -, das ist Dr. John Dee, der persönliche Alchimist von Königin Elisabeth I. Ich schlage vor, wir bleiben zusammen, bis ich etwa ein Dutzend von diesen Kostümierten identifziert habe, für den Fall, daß jemand, nachdem wir uns getrennt haben, mit Ihnen ›Wer bin ich?‹ spielen will.« »Spielen! Ich habe nicht die Absicht, mich mit irgend jemand von diesen kostümierten Widerlingen zu unterhalten.« »Schauen Sie, Mags, der Spaß, wenn man sich als berühmter Bösewicht verkleidet, liegt zum Teil darin, von anderen Gästen erkannt zu werden. Jeder von ihnen ahmt heute abend eine bewunderte, diabolische Gestalt nach, und es schmeichelt ihnen, wenn man ihre Identität errät.« »Hol's der Teufel!« erwiderte Maggie, und Ellie grinste. »Der große, elegante Typ mit dem Abendcape... ich würde sagen, das ist Cagliostro. Und die Frau in der schwarzen Nonnentracht - sie könnte alles mögliche sein.« Sie überlegte einen Moment. »Ich hab's! Sie ist die Äbtissin vom Kloster der Unschuldigen außerhalb von Paris, wo fünfhundert Kinder geopfert worden sein sollen. Ihr Name fällt mir im Moment nicht ein.« Sie blickte auf die rechte Seite des Eingangs. »Die da, mit der Marie-Antoinette-Perücke, das ist einfach, Mags. Madame d'Urfe, die Hexe, eine Freundin Ludwigs XV.« »Mein Gott, Ellie«, sagte Maggie, als eine neue Gruppe in Sicht kam. »Ist das nicht Dr. James Ambrose, der berühmte plastische Chirurg?« Die zwei Frauen identifizierten eine bekannte Fernsehmoderatorin, zwei Senatoren, ein halbes Dutzend Filmstars und mehr Industrielle, als sie zählen konnten. »Wenn all diese schweren Kaliber bei Satan in Lohn und Brot stehen, Ellie«, flüsterte Maggie, »selbst wenn keine wahre Magie im Spiel ist und sie sich nur in ihrer kranken Phantasie dem Bösen verschrieben haben - selbst dann ist hier heute abend ein unglaubliches Zerstörungspotential versammelt.« »Täuschen Sie sich nicht, Mags. Hier ist jede Menge echte Magie im Spiel. Meine Antenne wirbelt nur so von dem Kraftfeld, das die vereinten Energien erzeugen.«
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Wenn Cody wirklich die Isis-Botin ist, dachte Maggie niedergeschlagen, dann könnte, bevor diese Nacht vorbei ist, das mächtigste Instrument im Universum in den Händen furchtbarer Menschen sein, und Cody wäre für immer verloren. Die zwei Frauen traten aus dem Wäldchen in den Garten und stellten mit Erleichterung fest, daß sie sich mühelos unter die kostümierten Gäste mischen konnten. Der große Herr mit dem Cape, den sie vorher gesehen hatten, verwickelte Ellie in ein Ge spräch, was Maggie Gelegenheit gab, sich fortzuschleichen. Das Herz klopfte Maggie-der-Katzengöttin-Bast bis zum Halse, als sie sich zwang, sich in normalem Tempo durch das Gedränge von Gästen und Personal ins Haus zu begeben. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, lächelte freundlich zurück, wenn sie angelächelt wurde. Die Frau mit der enormen Perücke einer französischen Hofdame des 18. Jahrhunderts nahm Maggies Arm, gerade als sie sich unbehelligt bei dem Treppenhaus angelangt glaubte, das in die obere Etage führte. »Meine Liebe«, flötete die Frau, »wie ulkig, daß Sie auch ein Kätzchen in Sekhmets heimischem Revier sind. Katzen hängen bekanntlich extrem stark an ihrem Haus. Haben Sie keine Angst, daß sie ihr Körbchen nicht mit anderen teilen will?« Trotz des Schreckens, der ihr die Kehle zuschnürte, gelang es Maggie, etwas zu erwidern. »Verraten Sie's mir nicht«, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, ablenkenden Lächeln. »D'Urfe! Madame d'Urfe, hab ich recht?« Die pummelige kleine Frau warf sich in die Brust vor Freude, weil sie erkannt worden war, und Maggie konnte entkommen. Ihr Herz klopfte so heftig, daß sie einen Moment stehenbleiben mußte, um sich zu beruhigen. Ruhig, Maggie. Du mußt ruhig bleiben. Das sagte sie sich wieder und wieder, als sie auf die Treppe zusteuerte; sie hoffte, daß diese weniger belebt war. »Was machen Sie hier?« rief ein Kellner ihr zu, als sie auf halbem Wege ins erste Stockwerk war; er stand am Fuß der Treppe zum Anrichteraum und sah stirnrunzelnd zu ihr hinauf. »Psst!« rief sie verschwörerisch zurück und legte den Finger an die Lippen. »Da oben wartet ein Kater auf mich.« Sie brachte
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ein leidlich betörendes Zwinkern zustande, während sie ihm winkte, und entkam ohne ein weiteres Mißgeschick. Peter Messenguer fuhr einmal am Anwesen der Vanniers vorbei, bevor er wendete und ungefähr achthundert Meter zurückfuhr zu der Stelle, wo er seinen Wagen abzustellen gedachte. Er parkte, blieb einen Augenblick am Lenkrad sitzen und sammelte sich. Dann stieg er aus und streckte die langen Glieder. Er zog seine Jacke aus und rückte die Dominikanerkutte zurecht, die er sich bei einem Freund geliehen hatte - wenn jemand nach seinem Kostüm fragte, würde er sich als Inquisitor ausgeben. Er band sich den Gürtel um die Taille und bestückte die tiefen Taschen der Kutte mit den Requisiten, die er von zu Hause mitgebracht hatte, Weihwasser, Chrisma, heiliges Sakrament. Das Exorzismus-Ritual steckte er in die Tasche der Hose, die er unter der Kutte trug, dann holte er tief Luft und machte sich auf den Weg zum Anwesen der Vanniers. Er war froh, daß er mit Maggie und Ellie eine Strategie ausgearbeitet hatte, nach der sie sich alle verteilten, so daß eine zweite Mannschaft bereitstünde, wenn die Frauen entdeckt würden. Er war außerdem froh, daß er damit ein paar Minuten Ruhe gewann, denn er hatte das Gefühl, heute abend mit Gott allein sein zu müssen. Der Kindertrakt war verlassen, was Maggie zu einer systematischen Durchsuchung des Hauses zwang. Fünfzig Zimmer, hatte Jenna gesagt. Ihr schwand der Mut bei der Aussicht, in allen nachzusehen. Denk jetzt nicht an Jenna, sonst wirst du verrückt. In der ersten und zweiten Etage war von Cody keine Spur; Maggies Sorge wuchs mit jedem Schlafraum, in dem sie erfolglos nachsah. Wenigstens waren hier oben weniger ausgelassene Festteilnehmer, die ihr Vorhaben störten. Sie wollte gerade eine schmale Tür in einer Nische öffnen, als sie dahinter schwere Schritte hörte. Schleunigst verdrückte sich Maggie ins nächste Schlafzimmer und ließ die Tür einen Spalt offen. Sie sah Ghania
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lächelnd aus der Nische auftauchen. Mit angehaltenem Atem stand Maggie bewegunglos da, als die Frau durch den Flur zur Treppe und in das untere Stockwerk ging. Mit immer noch wild klopfendem Herzen lief Maggie zurück und drehte vorsichtig an dem Türknauf. Hinter der Tür führte eine weitere Treppe nach oben, und zu ihrer Überraschung erblickte sie statt einer Zimmerdecke einen Himmel voller Sterne. Ein Observatorium! Natürlich. Der perfekte Raum, um Cody in dieser unglückseligen Nacht unterzubringen. O bitte, lieber Gott, flüsterte Maggie, als sie vorsichtig prüfte, ob die Treppe knarrte, mach, daß sie da oben ist! Und mach, daß nicht der ganze Hexensabbat sie bewacht. Maggie stieg die Treppe hinauf; das Herz klopfte ihr bis zum Halse. Als sie oben ankam, atmete sie tief durch und spähte über den Rand des Treppenpodestes. Cody lag auf einer Ledercouch, reglos wie Dornröschen im hundertjährigen Schlaf. Sie war mit einem Gewand bekleidet, das wie ein Miniatur-Brautkleid aussah. Das kostbare weiße Kleid mit der auf den Boden herunterhängenden Spitzenschleppe hüllte das Kind in einen ätherischen Glanz. Ihre hellblonden Haare waren fächerförmig um ihr Engelsgesicht gebreitet, und ihre Stirn war mit einem weißen Blumenkranz geschmückt. Sie sah aus wie aufgebahrt. Bei ihrem Anblick füllten sich Maggies Augen mit Tränen; Cody sah so entkräftet aus, fast durchsichtig. Maggie zwang ihr rasendes Herz zur Ruhe und betrachtete die Frau, die in einem Sessel neben der kleinen Gefangenen saß und in ein Buch vertieft war. Gott sei Dank stand der Sessel Cody zugewandt und nicht der Treppe. Leise wie ein Einbrecher schlich Maggie Zentimeter um Zentimeter an Codys Wächterin heran. Mit einem einzigen flachen Hieb auf den Hinterkopf schlug sie die Frau bewußtlos, ehe diese überhaupt merkte, wie ihr geschah; Maggie fesselte und knebelte sie ohne jegliche Gewissensbisse und wandte sich dem Kind auf der Couch zu. Cody hatte sich nicht gerührt. Maggie hob das geliebte Kind hoch, drückte es an sich, küßte sein süßes Gesichtchen, flüsterte dringlich zu ihm, bekam aber nicht die geringste Reaktion. Rasch zog sie Cody das Brautkleid
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von dem apathischen Leib. Braut wovon? fragte sie sich, froh, die Antwort nicht zu wissen. Sie zog die Pelzweste aus, die zu ihrem Kostüm gehörte, und wickelte sie um den kleinen Körper, der so entsetzlich blutleer aussah. Sie suchte aus den Observatoriumsfenstern einen Fluchtweg; die Schräge des Daches war bedenklich steil, und sie mußte Cody tragen. Ihr Mut erlahmte... so weit gekommen zu sein und dann keinen Ausweg zu haben war undenkbar. Sie mußte in die erste Etage gelangen und sich verstecken, bis sich die Gelegenheit ergäbe, die Personaltreppe hinunterzuschleichen. Oder vielleicht war das Dach in einem anderen Teil des Hauses weniger steil, und sie konnte auf diesem Weg entkommen. Eines stand jedenfalls fest, wo sie war, konnte sie nicht bleiben. Maggie versuchte eine bequeme Art zu finden, das schlafende Kind zu tragen, aber es war unmöglich; Cody wog dreißig Pfund. So gut wie sie es mit ihrer Last konnte, ging sie vorsichtig die Treppe des Observatoriums hinunter. Mit wachsender Furcht schlich sie vom Treppenschacht fort und ging zur Haupttreppe. Sie erreichte die erste Etage ohne Zwischenfall; dort angekommen, verschwand sie in einem leeren Schlafzimmer und legte Cody auf eine Chaiselongue, froh über die kurze Pause. Das Gewicht des Kindes war ein ernstes Problem. Maggie schaute ängstlich aus dem Fenster. Das Dach darunter war schrecklich steil. So ein Mist! Es gab keinen Weg nach draußen, außer zwischen den Gästen oder den Küchenhilfen hindurch, und eines war so aussichtslos wie das andere. Maggie berührte das Gesicht des schlafenden Kindes und strich zärtlich eine goldene Haarsträhne zurück. Schweiß stand auf der kleinen Stirn, und ihre Haut war feucht. Gott verdamme diese Schweine zur Hölle für das, was sie ihr angetan haben! Maggie merkte plötzlich, daß ihre Wut ebenso groß war wie ihre Furcht, und vielleicht war das gut. Sie küßte die weiche, bleiche Wange und hob das Kind wieder auf die Arme... »Ich will mein Bestes für dich tun, Herzchen«, murmelte sie entschlossen. »Gott helfe uns beiden.« Codys
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Kopf sackte auf ihre Schulter, die Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Maggie schlich hinaus auf den Flur und steuerte zielstrebig auf die Treppe zu. Wenn sie nur aus diesem Schreckenshaus heraus ins Freie gelangen könnte; das Boot war kaum mehr als hundert Meter entfernt. Ghania unterhielt sich am Strand mit Senator Edmonds, als plötzlich den Kopf hob und in der Luft schnupperte wie Bluthund auf einer Fährte. Die Botin war bewegt! Bei allem, was unheilig war! Jemand versuchte das Kind dem Haus zu schaffen. Sie rief den Wachen zu, sie zu begleiten, und hastete in hellerleuchtete Villa.
sie ein
aus die
Maggie blickte die Hintertreppe hinunter; unten stand eine Schar Dienstboten, darunter ein Hausmädchen, das sie zweimal gesehen hatte und sie vielleicht wiedererkennen würde. Sie zog sich atemlos zurück und überlegte, was sie nun tun sollte. Dreiundzwanzig Uhr dreiundvierzig rückte mit jeder Minute näher. Maggie ging zurück zur Haupttreppe und sah beklommen hinunter; zu ihrer Erleichterung schienen sich alle im Garten oder am Strand versammelt zu haben, und unten in dem Raum hielten sich keine Gäste auf. Da ihr keine andere Wahl blieb, rannte Maggie zum Fuß der Treppe und durch die Fenstertüren nach draußen; sie schützte Cody mit ihrem eigenen Körper, als sie über den Rasen sprintete. Ghania schrie, Leute rannten in alle Richtungen. Ein Mann stürzte sich auf Maggie, und sie verpaßte ihm einen Tritt in die Rippen, daß er taumelte, aber hinter ihm war noch einer. Sie konnte mit Cody auf den Armen nicht kämpfen, und sie konnte es nicht riskieren, sie loszulassen. Jemand schlug sie von hinten, und sie drehte sich blitzschnell um und versetzte ihm einen Rückhandschlag, der ihm den Kiefer zerschmettert haben mußte. Eine eigenartige Ruhe war über sie gekommen, und al-
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les spielte sich wie im Zeitlupentempo ab. Es gab weder Vergangenheit noch Zukunft... nichts, nur den Augenblick und den Kampf um das Kind. Maggie hörte Knochen brechen, ohne zu wissen, wessen es waren. Cody lag zu ihren Füßen auf der Erde, aber sie erinnerte sich nicht, sie dort hingelegt zu haben. Sie kauerte über ihr, war auf den Füßen, bewegte sich, und sie war alle Frauen überall, die jemals um ein Kind gekämpft hatten. Ringsum schrien Leute, bewegten sich Arme und Beine, schoß Blut hervor, und sie war eine Kriegerin, die aufrecht den Tod erwartete... Und dann war Peter da, Gott sei Dank, in einer Dominikanerkutte, und er kramte nach etwas in seiner Tasche. »Zurück!« rief er, indem er die Oblate aus ihrem silbernen Behältnis nahm und vor sich hin streckte. »Diese Hostie ist geweiht!« Ein entsetztes Stöhnen stieg aus der Menge auf, und der Blutnebel vor Maggies Augen lichtete sich, und sie war wieder in der Jetztzeit, keuchend, blutend und triefend von Schweiß, und stand vor Cody, die im Gras lag. Sie sah Ghania am Rande der Umstehenden, einen nachdenklichen Ausdruck in dem verhaßten Gesicht, vielleicht sogar widerwillige Bewunderung. Alle Bewegungen schienen wundersam erstarrt; niemand näherte sich ihnen über das Gras. Mit letzter Kraft hob Maggie Cody noch einmal hoch, und sie und Peter traten den Rückweg zum Wasser an, und der Kreis der Zuschauer teilte sich wie das Rote Meer. Das war zu schön, es war einfach unmöglich... Wo war Ellie? Sie hatten es fast durch das Gedränge geschafft, als ein großer Mann im Kostüm eines Renaissance-Kardinals aus der Menge trat und sich auf Peter stürzte. Zu Maggies Erstaunen riß er dem Priester die Hostie aus der ausgestreckten Hand. »Priester auf immer«, zischte er triumphierend, während er den sprachlosen Peter zu Boden warf. »Schwarz oder weiß, Pater Messenguer, diese Oblate kann einen Priester nicht fernhalten - und Priester bin ich, das steht fest. Sie wußten natürlich, daß wir für unsere kleine Zeremonie heute nacht einen Priester bereithielten? Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Ich bin Pater Dominic Duchesse, kraft der seltsamen Richtlinien dieser
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Erzdiözese gegenwärtig des Amtes enthoben, doch in den Augen der Sachverständigen für Gelübde immer und ewig ein Priester. « Peter kam taumelnd auf die Beine, und der Mann packte ihn grob an der Kutte und riß ihn nach vorn. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen Ihr unerfreuliches kleines Arsenal geweihter Gegenstände abnehme, Pater... sie bereiten unserem Gastgeber großes Unbehagen.« Zwei Leibwächter packten Peters Arme von hinten, während der »Kardinal« ihm geweihtes Öl, Weihwasser und Chrisma aus der Kutte nahm. Maggie stand da und drückte Cody in einer letzten, verzweifelten Umarmung an ihr Herz; sie war vollkommen erschöpft und endgültig geschlagen. Ghania trat hinzu und entwand ihr das Kind, wobei sie feixte wie eine Hyäne über ihrer Beute. Maggie wandte das Gesicht ab. Sie merkte kaum, daß ihr die Arme hinter dem Rücken gefesselt und sie und Peter von einer Formation von Wächtern fortgeschafft wurden. Sie wußte nicht, wohin man sie brachte, und eigentlich kümmerte es sie auch nicht mehr. Ellie hatte die Vorbereitungen für die Orgie mit wachsender Besorgnis beobachtet, nachdem Maggie sie verlassen hatte. Hinter dem Teil des Gartens mit den Jungpflanzen hatte man einen riesigen Kreis von fünfzehn Meter Durchmesser abgesteckt. Zwölf gigantische schwarze Kerzen aus Pech und Schwefel wurden in Abständen aufgestellt, und der Gestank ließ Ellie würgen. In dem Kreis standen lange Refektoriumstische mit Speisen und Getränken aller Art in groteskem Überfluß. Die Mitte eines jeden Tisches wurde von einer enormen Eisskulptur beherrscht die erste war ein überdimensionaler Phallus, die zweite ein Ziegenbock mit einer immensen Erektion und so weiter. Eine ungeheure Kälte stieg wie Sumpfnebel ringsum auf; die satanischen Priester forderten offensichtlich alle Arten böser Ausstrahlungen auf, der bevorstehenden Orgie beizuwohnen. Ellie wußte, daß sich alles in direktem Gegensatz zum christlichen Ritual der Messe abspielen würde. Es würde gefressen, nicht gefastet, man würde schlemmen und saufen bis zur Über-
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Sättigung. Wahllose sexuelle Exzesse würden abgehalten, die Leute würden sich zu zweit, zu dritt und zu viert im Gras bespringen wie die Tiere, direkt vor den Augen der anderen Festteilnehmer. Ein imposanter Mann in einem mit Hermelin besetzten Papstmantel trat an Ellies Seite und berührte mit der Rückseite seiner Finger lässig ihre Brust. Ellie wappnete sich gegen die Aufdringlichkeit und das Böse, das sie in ihm spürte. Solche sexuellen Vorspiele vor einer Orgie waren durchaus üblich. Sie lächelte den Mann kühl an. »Weißt du, wer ich bin?« fragte er in dem arroganten Tonfall der Privilegierten. »Heute abend bist du Papst Honorius, der Anti-Christ«, erwiderte sie in einem Ton, der seinem in nichts nachstand. »Ansonsten bist du Senator James Edmonds. Und ich denke, in ein paar Minuten wirst du einfach nur ein Freund von Eros sein.« Sie lächelte entwaffnend. »Ich habe dich noch nie gesehen«, sagte er, »sonst würde ich dich kennen. Du bist Tanith, soviel sehe ich. Bist du in den sexuellen Künsten so bewandert wie sie?« »Warum hätte ich wohl sonst ihr Abbild für die Vergnügungen des heutigen Abends gewählt?« fragte Ellie durchtrieben. »Auch Honorius war bekanntlich nicht ohne auf diesem Gebiet, soweit ich mich erinnere. Vielleicht könnten wir unsere Kenntnisse vereinen...« Sie lächelte geheimnisvoll und entfernte sich, bevor er mehr tun konnte, als beizupflichten. »Bis dann...«, rief sie ihm noch zu, ehe sie hastig den Rückzug antrat und sich auf den Tumult zubewegte, den sie aus der entfernten Seite des Hauses vernahm. Sie kam gerade noch rechtzeitig hinzu, um das Ende von Maggies Kampf und Peters Ankunft zu sehen. Ellie beobachtete hilflos das Schauspiel; hier konnte sie nichts ausrichten, daher hielt sie es für besser, zum Boot zu laufen und Hilfe zu holen. Devlin konnte bestimmt etwas tun, wenn er den Bericht einer Augenzeugin hatte, daß Maggie und Peter gegen ihren Willen gefangengehalten wurden. Wenn nicht, bliebe immer noch die Ortspolizei.
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Ellie ging den anderen Gästen aus dem Weg. Die meisten plauderten entweder über die Gefangennahme oder verlustierten sich schon an dem Bankett, und viele paarten sich bereits im Gras. Das Boot war dort, wo sie es zurückgelassen hatte; Ellie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie es unbehelligt erreichte. Sie schob es ins Wasser und kletterte hinein; sie war eine kräftige Ruderin und entfernte sich mühelos vom Ufer. Die erste Welle kam von nirgendwo; sie hob den Bug des kleinen Bootes hoch in die Luft und ließ ihn krachend ins Wellental fallen. Erschrocken über den unerwarteten Angriff, legte Ellie sich in die Riemen und wendete das Boot gerade rechtzeitig, um einem Schlag längsseits von der nächsten Welle auszuweichen. Verdammt! Wo kamen diese Wellen her? Das Meer war glatt wie Glas gewesen, als sie vom Ufer abstieß, jetzt peitschte der Wind wilde Wellen auf, und der Vollmond, der ihr und Maggie auf dem Hinweg geleuchtet hatte, war von einer riesigen schwarzen Wolke verdeckt. Ghania! Sie mußte es gewesen sein, die die Elementargeister des Meeres herbeigerufen hatte; Ellie erhaschte gerade noch einen Blick auf eine Undine im eisigen Wasser, bevor eine Welle über den Bug krachte und ihren Händen die Ruder entriß. Ehe sie sich's versah, hob die nächste Welle das kleine Boot hoch aus dem Wasser und ließ es vornüber krachend aufklatschen. Ellie wurde aus dem Boot geworfen. Es gelang ihr, aufzutauchen und Atem zu schöpfen, ehe sie wieder hinabgesogen wurde in die Schwärze der aufgewühlten Bucht. Während sie gegen die eisigen Wellen ankämpfte und sich abmühte, die Richtung des Ufers zu finden, rief sie ihre Verbündeten auf den inneren Ebenen um Hilfe an, bevor sie ein letztes Mal unterging.
79 »Heilige Mutter Gottes!« flüsterte Maggie unwillkürlich. »Es ist wie im fünfzehnten Jahrhundert.« Peters Augen erfaßten die unglaubliche Szenerie in dem düsteren Keller, und ihn überkam eine instinktive, aus Wissen geborene Furcht. Er murmelte,
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mehr zu sich selbst als zu Maggie: »Wir sind im Bauch des Ungeheuers.« Grobe Hände stießen sie die Stufen der steinernen Kammer hinab. Drei weitläufige Räume waren in das felsige Fundament der großen Villa gehauen worden. Der erste, in dem sie jetzt standen, war ein alchimistisches Laboratorium, komplett mit Amboß und Schmelzofen, dessen Hitze in krassem Gegensatz stand zu der klammen Kälte des Granitgesteins. Borde mit Reagenzgläsern, riesigen Bechergläsern und Röhren, Brennern und Kupferdrahtrollen waren im Licht der Taschenlampen ihrer Bewacher deutlich zu erkennen. Eric drückte auf einen Schalter, und der Raum aus dem 15. Jahrhundert wurde in ein strahlendes elektrisches Licht getaucht. »Sie dürfen nicht denken, wir hätten die Zeit an uns vorübergehen lassen, meine Freunde«, sagte er leutselig. »Wir bedienen uns moderner Annehmlichkeiten, wo es sinnvoll ist, und alter Techniken, wo diese vorzuziehen sind. Was oft der Fall ist, darf ich hinzufügen, wenn es um rituelle Magie geht. Diese nüchternen Zeiten sind für große Rituale leider nicht geeignet.« Sein kritischer Blick fiel auf Maggie und Peter, die unsanft von mehreren Männern vorwärts gestoßen wurden. »Es besteht wirklich kein Anlaß für Grobheit, meine Herren«, sagte er gebieterisch. »Unsere Gäste können nicht fortlaufen, und es bleibt ihnen nur noch verdammt wenig Zeit, daher finde ich, wir können sie vorerst mit etwas mehr Höflichkeit behandeln. Gehen wir dort zu dem großen Lesepult, meine Liebe«, sagte er zu Maggie und nahm ihren Arm. »Als Antiquitätenhändlerin dürften Sie meine Schätze interessieren.« »Ist dies ein Rundgang durchs Haus, Eric?« fauchte sie und entriß ihm mühsam ihren Arm. »Aufsässig bis zuletzt, Maggie, wie? Ich muß sagen, ich bewundere das an Ihnen. Bedauerlich, daß Ihre Tochter nicht vom gleichen Schlag war. Sie ging in den Tod wie ein wimmernder Säugling, um Gnade bettelnd - aber das wissen Sie natürlich längst. Sie werden es besser machen, denke ich.« »Sie werden für Ihre Verbrechen in der Hölle schmoren, Sie verderbter Schweinehund«, sagte Peter.
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»Sehr scharfsinnig«, entgegnete Eric gleichmütig. »Die Hölle ist natürlich mein letzter Bestimmungsort. Was das Schmoren betrifft... das wurde im Laufe der Jahrhunderte von euch Jungs wirklich überdramatisiert, Peter. Ich erwarte, daß ich mich einfach der Gesellschaft von meinesgleichen erfreuen werde...« »Das dürfte genug Hölle sein«, sagte Maggie bestimmt. »Sehr schlagfertig, Maggie.Wie bedauerlich, daß Ihr Witz so bald ausgelöscht sein wird.« Maggie suchte Peters Blick und las in seinen Augen dieselbe verzweifelte Erkenntnis: Sie waren einem Wahnsinnigen ausgeliefert. Eric lächelte sein kaltes, unfrohes Lächeln und winkte sie zur nächsten Kammer. Ein Streckbett und eine eiserne Guillotine standen gegenüber dem Eingang des verdunkelten Raumes; obwohl eindeutig antik, sahen die teuflischen Apparaturen frisch benutzt aus, denn überall klebte getrocknetes Blut. »Wir sind in Torquemadas Landhaus«, flüsterte Maggie Peter zu. Fässer mit Pech waren zu ihrer Rechten aufgereiht - sie erinnerte sich, daß es verwendet wurde, um die Füße der Opfer, die »dem Verhör unterzogen« wurden, in Brand zu setzen. »Kennen Sie mein Lieblingsspielzeug?« fragte Eric, während er ein seltsames Gerät mit beschwerten Seilen und Rollen befühlte, die zur gewölbten Decke des festungsgleichen Raumes hinaufreichten. »Winde und Rad«, antwortete Peter leise, und Maggie hörte die Verachtung in seiner Stimme. Sein Unbehagen amüsierte Eric sichtlich. »Winde und Rad, wahrhaftig. Lassen Sie uns der Dame, der seine Anwendung nicht geläufig zu sein scheint, dieses köstliche zweckmäßige Instrument erläutern.« »Während der Inquisition«, erklärte Peter mit angespannter Stimme, »war dies das Lieblingsfolterinstrument von Torquemadas Todesschwadron. Wenn ein bedauernswertes Mädchen verhört wurde, weil sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben sollte, wurde sie an diese groteske Apparatur geschnallt ... die Arme hinter dem Rücken gefesselt, die Handgelenke an Rollen gekettet, wurde sie zur Decke gezogen und
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hing so mit Gewichten an den Füßen, während ihr durch die Schwerkraft die Gelenke eines nach dem anderen ausgerenkt wurden.« »Sehr informativ, Peter«, sagte Eric beifällig, »aber kläglich unvollständig. Das Schöne war nicht das Hängen, sondern jedesmal, wenn die Rollen hochgezogen wurden...« Er hielt inne, um sie zur Decke zu kurbeln, womit er Maggie und Peter zwang, nach oben zu blicken. »Und dann losgelassen... so!« Die Gewichte sausten herab, als Eric die Rolle losließ, und rasteten mit nachhallendem Knirschen ein, als er sie plötzlich anhielt. »Das Opfer stürzte natürlich mit. Köstliche Schmerzen wurden dem Opfer jedesmal zugeführt, wenn es herabschnellte und wieder hochgezerrt wurde. Gelenke krachten, Knochen brachen... manchmal wurde das ganze Becken ausgerenkt, herrlich! Anfangs waren die Schreie ohrenbetäubend und durchdrangen das Hirn mit jedem neuen Ruck wie rotglühende Dolche. Aber am Spätnachmittag oder Abend war es nur noch ein ersticktes Stöhnen... eigentlich hat es dann keinen richtigen Spaß mehr gemacht. Nicky konnte es am besten. Er hielt sie länger am Schreien und am Leben als sonst jemand.« »Nicky?« fragte Maggie. »Aber das alles geschah doch vor fünfhundert Jahren. Wollen Sie behaupten, daß Nicholas Sayles dabei war?« Eric sah Maggie mit gequälter Miene an, als hätte sie ihn mit einer dummen Frage enttäuscht. »Wir waren alle dabei«, sagte er. »Peter erinnert sich, nicht wahr, Pater? Ihr Priester wart ausgezeichnete Folterer. Die Dominikaner waren natürlich die besten. Wer hat damals das Werk des Teufels verrichtet, Peter? Wie viele Unschuldige habt ihr im Namen eures sanftmütigen Christus ermordet?« »Es war eine grausame Zeit«, entgegnete Peter. »Die Kirche hat vor dem Throne Gottes für vieles geradezustehen.« »Schmeicheln Sie sich nicht, Peter. Jene Priester haben den Thron Gottes nie gesehen - die Herren der Finsternis warteten gleich draußen vor den Sternkammern, um sie in die Hölle hinabzuholen. In der Hölle ist ein besonderer Platz für gescheiterte Priester reserviert, Peter, wußten Sie das? Sie sind verdammt, bis
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in alle Ewigkeit gegenseitig ihre Predigten anzuhören.« Eric lachte über seinen kleinen Scherz. »Wozu halten Sie uns diesen gelehrten Vortrag, Eric?« fragte Peter ungeduldig. »Es bleibt Ihnen doch bestimmt keine Zeit, noch vor der Materialisation irgendwelche von Ihren Spielsachen bei uns anzuwenden.« »Das ist leider wahr, aber auch Phantasieren hat seinen Reiz, finden Sie nicht?« Ein steinerner Bogengang führte in die letzte der großen Kammern. Diese, die bei weitem größte, war eindeutig die Satanskapelle. Maggie hörte Peter scharf einatmen, als sie den riesigen Raum betraten. Sie hatte es auch gespürt: einen Blitz aus eiskalter Energie und purem, unverfälschtem Bösen, so greifbar, daß ihr das Atmen schwerfiel. Auf den Fußboden des Altarraumes war ein immenser Kreis aufgemalt, der ein Pentagramm von gigantischen Ausmaßen umgab. »Der große Zirkel«, sagte Eric stolz. »Sehen Sie die Hautstreifen an den vier Himmelsrichtungen, Peter? Das ist Menschenfleisch, das bei Opferungen gewonnen wurde. Der Streifen im Süden, Maggie, ist Ihre jüngst betrauerte Tochter. Die Nägel sind natürlich aus dem Sarg eines Muttermörders.« Maggie glaubte ersticken zu müssen an der Vorstellung von Jenna, die Erics Worte heraufbeschworen; sie sackte zusammen, schockiert und schwindlig, und wurde von derben, starken Händen, die ihr weh taten, hochgezogen. »Mut, Maggie!« Sie vernahm Peters dringliche Stimme durch den dunklen Nebel, der sie einspann; sie versuchte, Peter zuversichtlich anzulächeln, doch ihre Lippen brachten nur eine Grimasse zustande. In der Mitte eines zweiten Kreises befand sich der Altar. Altartücher aus rotem Samt und schwarzem Satin, mit kostbaren Edelsteinen besetzt, bedeckten den gemeißelten Marmor. Szenen mit Gelagen, Mord und sexueller Perversion waren in den Steinmetzarbeiten verewigt, und die Themen wiederholten sich in den Wandbehängen ringsum.
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»Fesselt die Frau an die Säule links vom Altar«, befahl Eric den Gehilfen, und jeder falsche Charme war jetzt verflogen. »Hängt den Priester ans Kreuz«, sagte er und nickte zu dem eingelassenen Kreuz über dem Altar hinüber. »Das wird Ihnen gefallen, Peter... so im Einklang mit Ihrer Tradition. Sie werden im Tod ein besserer Traditionalist sein, als Sie es je im Leben waren.« »Nein!« platzte Maggie heraus. »Dies ist mein Kampf, Eric, nicht der Peters. Sie haben keinen Streit mit ihm.« »Keinen Streit?« fragte er ungläubig. »Sind Sie verrückt? Er ist der Gegner... der Widersacher. Glauben Sie etwa, Sie haben ihn hierhergebracht, Maggie? Täuschen Sie sich nicht! Sein Erscheinen wurde von einem alten Feind befohlen, der es sehr genießen wird, ihn endlich sterben zu sehen!« »Was werden Sie mit Cody machen?« fragte Maggie. »Eine ganze Menge«, erwiderte Eric gelassen. »Sie ist schließlich der Ehrengast. Nach der Orgie wird eine schwarze Messe gefeiert. Das Isis -Amulett und der Sekhmet-Stein werden zum letzten Mal materialisiert. Wenn beide sicher in meiner Verwahrung sind, werde ich das Isis -Amulett ein für allemal vernichten, und somit wird Cody natürlich nicht mehr benötigt, um es zu beschützen. Das Ka des Kindes wird bis in alle Ewigkeit unter angemessene dämonische Bewachung gestellt, auf daß Sekhmet eine menschliche Wohnstatt hat, die dem Körper ihrer Gastgeberin selbstverständlich Unsterblichkeit gewähren wird, was Ihnen ein gewisser Trost sein dürfte...« Mit ungeheurer Anstrengung riß Maggie hi ren Arm los und landete einen rechten Aufwärtshaken direkt an Erics Kinn, der vor Schmerzen zurücktaumelte. »Nicht, Maggie!« schrie Peter, so erschrocken wie die übrigen. »Oh, das wirst du mir teuer bezahlen, du Miststück!« fauchte Eric, als seine Diener ihm aufhalfen. Er hielt sich das Kinn und rieb es, um die Schmerzen zu lindern, dann schnellte seine Hand vor, packte Maggies Hals und drückte ihr langsam die Kehle zu, bis ihr die Augen aus den Höhlen traten und das Ringen um Luft sie in die Knie zwang. Dann ließ er sie los, und sie wäre ge-
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stürzt, hätten die Gehilfen ihren zusammensackenden Körper nicht aufgefangen. »Ich will dich nicht tot, bis du das Kind gesehen hast«, zischte er. Dann bedeutete er den Wächtern weiterzumachen, drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Kammer. Maggies Augen füllten sich mit Tränen, und sie ließ sich zu der Säule schleppen und anbinden. Sie und Peter waren nicht die ersten, die für eine gerechte Sache litten... auch andere waren tapfer gewesen im Angesicht von Tod und Folter. Maggie schloß die Augen und begann zu beten.
80 Kurz vor dreiundzwanzig Uhr mischten sich die Gehilfen zwischen die Menschen im Garten und forderten sie auf, von ihren Schwelgereien abzulassen, da die Zeit der Zeremonie nahe sei. Gesättigt mit Speisen, Getränken und Sex in allen erdenklichen Variationen, legten die Gäste ihre Kostüme ab und zogen die Kapuzengewänder über, die ihnen von den Dienern ausgehändigt wurden. Alle Leichtfertigkeit war beendet; es war unverkennbar, daß die Anwesenden dem bevorstehenden Ritual mit andächtigem Ernst entgegensahen. Sie begannen, sich für die Prozession aufzustellen. Drinnen waren die dreizehn Adepten bereits in der Bibliothek versammelt. Für sie war es ein Abend der Vorbereitung, nicht des Gelages gewesen. Keiner hatte gegessen, denn Fasten war wesentlich für den Fluß der Energien. Keiner hatte dem Ge schlechtsverkehr gefrönt, denn das hätte die kostbaren Energien verschwendet, die sie für die Ausführung ihrer Pflichten benötigten. Die sexuellen Betätigungen der anderen hatten mehr als ausgereicht, um das Energieniveau rings um das Haus in fiebrige Höhen zu erheben, und die Gesänge der Versammelten würden mit fortschreitender Zeremonie die Vibration steigern. Maggie stand gefesselt und hilflos links vom Satansaltar. Peter hing an dem Kreuz darüber; er hatte seit fast einer halben
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Stunde nichts gesagt, und Maggie war sich nicht sicher, ob er bei Bewußtsein war. Sein Gesicht war blutunterlaufen, und er hatte sich seit einer ganzen Weile nicht bewegt. Es herrschte eine gottlose Kälte in dem großen Gemach, und Maggies Beine fühlten sich taub und zittrig an; mit wachsender Furcht sah sie die Prozession schweigsamer, verhüllter Gestalten. die Kapelle betreten und in den Bankreihen Platz nehmen. Hinter der Prozession wurde eine feierliche Trage sichtbar. Maggie reckte sich in ihren Fesseln, um etwas zu erkennen, und Codys Anblick verschlug ihr den Atem. Das Kind lag in tiefer Trance oder Betäubung auf einer mit Blumen bestreuten Trage. Es war in ein hauchdünnes ägyptisches Gewand gekleidet, seine Stirn war mit einer Blumengirlande bekränzt. Es war still und bleich wie der Tod. Maggie rief Codys Namen, aber sie erhielt keine Reaktion, außer einem scharfen Schlag ins Gesicht von einem finster blickenden Gehilfen. Entmutigt sackte Maggie in ihren Fesseln zusammen. Sie fürchtete sich vor dem Anblick dessen, was jetzt kommen würde. Weihrauch quoll aus den goldenen Gefäßen, und die Luft schien undurchdringlich von dem schweren Duft und dem unheimlichen Ge sang. Aus einer Tür hinter dem Altar trat eine Kolonne verhüllter Gestalten. Maggie zählte insgesamt dreizehn, die mit verschiedenen Kostümen bekleidet waren, einige mit glitzernden Juwelen geschmückt, einige vollkommen schlicht. Am Ende der Prozession sah Maggie Eric und drei priesterliche Gehilfen in kostbaren ägyptischen Festgewändern. Eric, Nicholas Sayles... sie hakte sie im Kopf ab, als sie zum Altar hinaufstiegen. Der Priester, der Peter überwältigt hatte, und... o mein Gott! stöhnte sie vernehmlich, als Abdul Hazred in ihr Blickfeld trat. Kein Wunder, daß sie den blasierten Mistkerl nie leiden konnte. Maggie hätte am liebsten weggesehen, als Eric und die anderen Priester begannen, die schwarze Messe zu zelebrieren, aber sie wagte es nicht. Vater unser, der du bist im Himmel, flüsterte sie, geheiligt werde dein Name... Sie wollte wenigstens in Ge danken der entsetzlichen Gotteslästerung entgegenwirken. Und
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vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern... sie wiederholte das Gebet ununterbrochen, ein Mantra gegen das Böse, bis sie die mit Sandalen bekleideten Füße in die Bankreihen zurückkehren hörte und sah, daß die Travestie der heiligen Kommunion vorüber war. Und führe uns nicht in Versuchung... sie hörte Glocken läuten und sah die Versammlung sich erheben. Sondern erlöse uns von dem Übel... Maggie sah voller Entsetzen zu, wie Eric begann, mit einer Art Zauberstab seltsame Zeichen über Cody zu machen. »Ich nenne dich Satan«, rief er, »bei allen Namen, mit welchen du beschworen werden kannst; gesegnet seien unsere Anstrengungen im Namen der Finsternis.« Es folgte eine Litanei satanischer Namen, von denen sie die meisten noch nie gehört hatte. »Du, der du Übel und Krieg verleihest und Haß und Hoffnungslosigkeit, halte deine großen Legionen bereit, unser Werk heute nacht mit dem Siege zu krönen.« Er hob seine Arme zu der unsichtbaren Macht empor, und während er diese anrief, sah Maggie, daß die Szenerie sich veränderte - konnte der Weihrauch Halluzinogene enthalten? Etwas beeinträchtigte ihr Wahrnehmungsvermögen; sie strengte sich an, ihrer fünf Sinne mächtig zu bleiben. Aus dem Körper der schlafenden Cody sah sie einen Umriß emporsteigen und eine erkennbare Gestalt annehmen. Es war die junge Priesterin, die Maggie aus ihren quälenden Träumen kannte, die Tochter von Mim und Karaden. Um den Hals hatte sie ein goldenes Amulett, das von den Strahlen der Sonne schimmerte. Mit der Wucht einer Flutwelle wurde Maggie von Mims Welt überströmt; sie fühlte jede Zelle durchflutet von der Macht des Amuletts, das sie einst entweiht hatte. Sie rang darum, bei Sinnen zu bleiben, als sie unaufhaltsam mitgerissen wurde. Die ätherische Gestalt der Isis -Botin stand bewegungslos über der schlafenden Cody, und Eric lächelte stolz und zufrieden. Er hob abermals die Arme und rief Sekhmet um ihren Segen an. Die Litanei der Namen, mit denen er sie beschwor, tat auch diesmal ihre Wirkung. Verblüfft und ihren eigenen fünf Sinnen nicht trauend, sah Maggie ein ätherisches Wesen Ghanias Körper verlassen. Dies-
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mal war es eine Kriegerin, schwarz und unvorstellbar grimmig. Um ihren Hals schimmerte der Sekhmet-Stein mit einem kalten bleiernen Feuer wie ein schwarzer Opal. Es schien, daß auch Sekhmet ihre Streiterin erkoren hatte. Unter den Andächtigen erhob sich ein Gemurmel angesichts der brillanten Manifestationen, so klar, daß sie fast stofflich waren. Eric wandte sich nun der Versammlung zu, seine lächelnde Miene kündete von unsagbarer Zufriedenheit; er war im Begriff, ein äußerst heikles, magisches Ritual zu vollziehen, und bislang war es ein Muster an Perfektion. »O große Mutter des Bösen«, rief er, »deine gläubigen Kinder flehen zu dir, befruchte die Geschehnisse dieser verheißungsvollen Nacht. Das Isis -Amulett und der Sekhmet-Stein haben eine ätherische Erscheinungsform angenommen, nun müssen wir das Isis -Amulett zur stofflichen Gestalt beschwören, mittels der großen Formel aus uralter Zeit. Ich, der ich Engeln und Teufeln nach meinem Gutdünken befahl, bitte dich inständig, stehe uns bei in diesem außerordentlichen Werk!« Er bedeutete den übrigen zwölf Adepten, einen Kreis um die Amulette und ihre Streiterinnen zu bilden, und feierlich nahmen die Priester ihre Plätze um die Trage des Kindes ein. Dann war auf einmal die Hölle los. Hektischer Tumult erschütterte den Gang vor der Kapelle, es krachte an der verriegelten Tür. Schüsse, von Schreien durchsetzt, unterbrachen den Gesang. Unmißverständlichem Kampflärm folgte das Geräusch von splitterndem Holz, als die Kapellentür von innen brach und zu Boden fiel. Eine verkleidete Kommandoeinheit stürmte in die Satansmesse; die Versammelten erstarrten vor Schreck. Eric war der erste, der sein Gleichgewicht wiederfand. Mit den Händen beschrieb er eine ausladende Geste und begann die Worte zu intonieren, mit denen Satan persönlich um Schutz angerufen wurde. »Ruhe!« rief Hazred und zog eine Automatik unter seiner Robe hervor. »Noch eine Silbe, und du folgst den zweihundertsiebenundzwanzig, die dir vorausgegangen sind!« Eric verstummte mitten im Wort.
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Hazred wandte sich dem Kind zu und machte bestimmte magische Zeichen über ihm, während er etwas murmelte, das Maggie nicht verstehen konnte. Die Erscheinungen lösten sich auf wie Nebel in der Sonne, so daß Maggie sich fragte, ob sie überhaupt dagewesen waren oder ob sie von einer Art Halluzination getrogen worden war. »Bewacht ihn!« rief Hazred den Soldaten zu, die offensichtlich unter seinem Kommando standen. »Bewacht die zwölf... wenn einer spricht oder einen Finger rührt, bringt ihn um.« Doch plötzlich hatte das ägyptische Kommando auf mehr zu achten als auf die dreizehn Adepten am Altar. Hinter ihnen ertönten Schüsse, so daß sie sich blitzschnell zum Eingang der Kapelle umdrehten. Abrahams Mannschaft stürmte herein, und es wurde in alle Richtungen geschossen. Eine Kugel schlug Hazred die Pistole aus der Hand, und Eric sah seine Chance. Er riß Cody von der Trage und benutzte sie als Deckung vor den Schüssen; das allgemeine Chaos begünstigte seine Flucht, und irgendwie war Ghania bereits aus der Kapelle verschwunden. Sekunden später war Devlin an Maggies Seite und durchschnitt die Seile, mit denen sie gefesselt war. Sie umarmten sich kurz und heftig, zu mehr war keine Zeit. »Hol Peter!« bat sie, als er sie in Sicherheit schaffen wollte, doch Abrahams Männer waren schon dabei, den Priester zu befreien. »Eric hat Cody!« überschrie sie das Getöse. Leichen lagen auf der Erde, und überall waren Soldaten mit Maschinengewehren. Abraham rief seinen Leuten auf hebräisch Befehle zu, als sie, dicht gefolgt von Peter, den Eingang der Kapelle erreichten. Maggie bemerkte den alten Rabbi zum ersten Mal, als er ihr dringlich zurief: »Mrs. O'Connor - Sie und der Priester kommen mit mir. Ich weiß, wohin er mit dem Kind gegangen ist!« »Geh!« drängte Devlin hinter ihr. »Ich geb dir Deckung. Die Israeli sind auf unserer Seite!« Ein Geschoßhagel trieb sie vorwärts. In verschiedenen Teilen des Hauses waren Schüsse zu hören wer konnte wissen, wie viele Leibwächter sich dort aufhielten,
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neben den Soldaten? Die Satanisten verfügten womöglich über eine eigene Armee. Maggie rannte los und folgte dem Rabbi durch einen Korridor, verwundert, wie schnell der alte Mann laufen konnte. »Wer ist das?« rief Maggie über die Schulter Peter zu, der hinter ihr herlief. »Keine Ahnung«, rief er zurück, »aber er scheint zu wissen, wo es langgeht.« Schüsse und Schreie ertönten dicht hinter ihnen, als sie dem Rabbi tiefer ins Innere des alten Gebäudes folgten. Er führte Maggie und Peter eine Wendeltreppe hinab in ein höhlenartiges feuchtes Kellergeschoß. Maggie vernahm erneut eine Gewehrsalve und Devlins Stimme, zusammen mit der tiefen Stimme eines Israeli, der Kommandos brüllte. Das Knattern der Maschinenpistolen war beängstigend nahe, und Devlin war mittendrin, aber sie mußte Cody finden, und darum lief sie weiter. Am Ende eines gewundenen Korridors traten sie durch eine Tür, und der Rabbi hielt eine Hand in die Höhe, um ihnen Halt zu gebieten. Der alte Mann lehnte sich schwer atmend an eine Mauer, während Maggie die Tür schloß, besorgt um Devlin, der auf der anderen Seite war. Der Rabbi richtete das Wort an Peter. »Wir haben wenig Zeit, Pater, zu wenig Zeit für Artigkeiten. Ich bin Rabbi Itzhak Levi, und auch ich bin berufen.« Peter sah dem Rabbi in die Augen und erkannte deutlich, daß der Mann mit einem Fuß in dieser und mit dem anderen in der nächsten Welt stand, was sehr wenig mit seinem fortgeschrittenen Alter zu tun hatte. Der durchdringende Blick des Rabbis brachte etwas in Peter zum Klingen. Er kannte den außerordentlichen Ruf, den der Mann als Gelehrter genoß, aber es war etwas in ihm, das Peter ansprach - eine Art Seelenverwandtschaft. »Ich glaube, die Seele des Kindes wurde von dämonischen Energien eingefangen, die von bösartigen Menschen zu diesem Zweck herbeigerufen wurden«, sagte Peter zum Rabbi. »Ich habe das Amulett und den Stein mit eigenen Augen in ätheri-
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scher Gestalt gesehen, kurz vor der Materialisation, so daß ich ihre mögliche Existenz nicht außer acht lassen kann. Wäre die Beschwörung nicht unterbrochen worden, ich glaube, diese Ge genstände würden sich bereits auf der stofflichen Ebene befinden.« Die Miene des Rabbis drückte Anerkennung aus. »Die Seele des Kindes steht unter Beschuß, sozusagen. Ich habe den Dämon gesehen. Nun frage ich Sie, was schlagen Sie vor?« »Wir müssen sie zurückerobern, Rabbi«, antwortete Peter bestimmt. »Cody ist nicht durch eigene Schuld in Bedrängnis. Ich glaube, der einzige Weg, der uns offensteht, ist eine Form von Exorzismus.« »Unsere Systeme, mit Dämonen umzugehen, sind grundverschieden«, gab der Rabbi zu bedenken. »Das wäre keine leichte Aufgabe. Ich kenne keinen Fall, wo so etwas schon einmal praktiziert wurde.« Maggie glaubte vor Wut zu platzen. »Ihr zwei braucht nicht zu warten, bis die Kerle euch dahinten umbringen, ich erledige das selbst, verdammt noch mal, wenn ihr nicht aufhört zu quatschen und endlich was tut!« Der Rabbi lächelte unversehens und trat wieder in den dunklen Korridor, um den Weg fortzusetzen. »Sie wissen natürlich«, wandte er sich an Maggie, »daß mein Glaube sich unendlich von Ihrem unterscheidet. Wenn ich das versuche, was Pater Peter vorschlägt, muß ich es gemäß den Mysterien des Judaismus tun. Beunruhigt Sie das?« »Nein.« »Und warum nicht?« »Wahrheit ist Wahrheit, Rabbi«, sagte sie, ohne zu zögern. »Der Weg, wie man zu ihr gelangt, ist für Gott gewiß ohne Bedeutung.« Der alte Mann nickte, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. »Gut«, sagte er, »dann ans Werk.« Vor ihnen ragte ein großer steinerner Bogen auf, in den häßliche, groteske Fratzen eingemeißelt waren. Der Rabbi blieb davor stehen. Die Dunkelheit jenseits des Bogens war von einer Beschaffenheit, wie Maggie sie noch nie gesehen hatte, irgend-
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wie klebrig und so pechschwarz, daß sie in die Unendlichkeit zu blicken glaubte. »Das ist ein versiegeltes Portal zwischen den Dimensionen«, sagte der Rabbi zu Peter. »Spüren Sie die böse Ausstrahlung?« Eine bittere Kälte war um sie herum entstanden, und ein ekelerregendes Übel entströmte dem Raum, so daß ihnen das Atmen erschwert wurde. »Du wirst uns diese Pforte öffnen!« befahl der Rabbi, und Maggie erschrak über seine machtvolle Stimme. Ein Knistern wie von statischer Elektrizität antwortete ihm, und ringsum erzitterte die Luft. Sekunden später wurde der von Kerzen erhellte Raum hinter dem Bogen sichtbar; in dem Ge mach lag Cody, neben ihr Eric. »Willkommen im Portal des Teufels«, rief er ihnen kühl entgegen. »Unter Gefahr für eure Seelen dürft ihr in das Tor zur Hölle eintreten.« Peter und der Rabbi wechselten einen Blick und traten in das Gemach, und Maggie überschritt bange die Schwelle und dachte, daß nichts auf dieser Welt - außer Cody - sie bewegen könnte, diese Stätte des Grauens zu betreten. Eric hob die linke Hand und intonierte Worte, die sie nicht verstehen konnte, und sie spürte, daß der Bogen hinter ihr versiegelt wurde.
81 Ghania war außer Atem, als sie nach ihrer rasenden Flucht in ihrem Zimmer anlangte. Sie schlug die Tür zu und ließ sich, nach Luft schnappend, dagegen fallen. Verfluchter Hazred, dieser Verräter! Sie öffnete hastig den Schrank und atmete beim Anblick ihrer unberührten Utensilien erleichtert auf. Sie war zu lange Hohepriesterin eines bösen Meisters gewesen, um irgend etwas dem Zufall zu überlassen. Eric hatte in seiner Mission versagt, doch das bedeutete nicht, daß die Beute verloren sein mußte. Sie durfte nun keine Zeit mit Bedauern verlieren. Ghania nahm die benötigten Gegenstände für das Ritual aus
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dem Fach und arrangierte hastig den Altar. Auch sie verfügte über die uralten Kenntnisse, das Ka des Kindes gefangenzusetzen und sich der zweifachen Beute zu bemächtigen. »Ah, kleine Isis -Botin«, murmelte sie, während sie ihren Zauber vorbereitete. »Du möchtest deiner Bestimmung entkommen, aber Ghania ist alt und listig, und sie denkt an alles. Deine Nägel, deine Haare, dein Blut, dein Schweiß... alles habe ich. Auch dich werde ich haben, sobald mein Zauber vollbracht ist!« Ghania trat in das rituelle Schweigen ein und beschritt dreimal einen Kreis entgegen dem Uhrzeigersinn. Sie schenkte ihren Bluttrank ein und tränkte, Beschwörungen murmelnd, die Cody-Puppe damit. Dann zog sie eine lange, tödlich aussehende Nadel aus dem Altarkissen. Gerade als sie sie der Puppe ins Herz stechen wollte, schlug ihr ein Hieb von hinten, der sie ins Wanken brachte, den Kelch aus der Hand. Naß, verdreckt und fast nackt stand Ellie vor der Priesterin, einen blutigen Dolch in der einen Hand und eine doppelköpfige Axt in der anderen. Die Waffen hatte sie eine Etage tiefer aus einem Schaukasten gerissen; denn auch sie hatte einen Reserveplan parat. »Ertränken wolltest du mich, Hexe?« sagte sie mit tiefer, drohender Stimme. »Glaubst du, du bist die einzige, die einst die Meeresgötter kannte?« Ghania griff nach ihrem Messer, ließ ihre Dschellaba fallen und trat sie aus dem Weg. Die zwei Frauen standen einander gegenüber. Ghania war größer, schwerer, doch als sie in Ellies Augen sah, wußte sie, daß diese Frau ihr gewachsen war. »Bis auf den Tod!« zischte sie herausfordernd. »Du kannst deine Götter preisen, wenn ich dich nicht weiter verfolge als bis dahin, Hexe!« erwiderte Ellie mit ernster Miene. Sie begannen sich zu umkreisen und gegenseitig zu messen, die Waffen gezückt. Ghania schlug zuerst zu, ihr Messer sauste um Haaresbreite an Ellies Bauch vorbei durch die Luft. Ellie fintierte links und traf Ghanias großen Kopf, die aber kämpfte weiter. Parierend, stechend, fintierend kämpften die zwei Frauen wie
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Amazonen, einander so ebenbürtig im Kampf, daß nur Erschöpfung oder das Schicksal einen Sieg herbeiführen konnte. Ghania begann, singend die Elemente zu beschwören, und Ellie wußte, sie mußte verhindern, daß die Schwelle zum Astralreich geöffnet wurde. Durch den Beschwörungsgesang beansprucht, kämpfte Ghania nicht mit voller Kraft, und Ellie machte sich dies zunutze, hob die Doppelaxt hoch über den Kopf und spaltete die Hexe mit einem Schlag vom Scheitel bis zum Schlüsselbein. Im Fallen entwand Ghania ihr die Axt, dann brach sie auf dem Boden zu Ellies Füßen zusammen. Ellie kniete nieder und betete. Devlin war neben Abraham in dem langen Korridor in Deckung gegangen. Der blutige Kampf war schnell zu Ende gewesen, denn die Israeli waren Profis. Kampflärm war aus allen Teilen des Hauses zu hören gewesen. Die Vannier-Truppe schien eher aus Legionären als aus Leibwächtern zu bestehen, was kein Wunder war, denn bei Vanniers internationalen Beziehungen im Drogen- und Waffenhandel standen ihm die besten Söldner zur Verfügung, die man für Geld bekommen konnte. Abraham und Devlin tasteten sich in dem verlassenen Korridor vorwärts. Als sie die verschlossene Tür am Ende erreichten, hatte die Schießerei hinter ihnen ganz aufgehört. Abraham wollte die Tür öffnen. Als sie nicht nachgab, sprengte er das Schloß mit seiner Automatik. Sekunden später waren sie auf der anderen Seite und starrten in den schwarzen Schlund des Portals vor ihnen. Die Anwesenden in dem Raum dahinter waren undeutlich sichtbar in der Dunkelheit. Abraham und Devlin sahen sich an, und Devlin steuerte auf den Bogen zu, der ihn von Maggie und Cody trennte. Aber er konnte nicht durchgehen. Erschrocken über den Stoß, der ihn zurückschleuderte, warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Kraftfeld. Nur ein leichtes elektrisches Zittern verriet die Existenz der Versiegelung. Verwundert versuchte es Abraham mit demselben, unbefriedigenden Ergebnis. Devlin rief nach Maggie, doch konnten Geräusche offensichtlich auch nicht hindurchdringen.
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Devlin und Abraham wechselten verwirrte Blicke. Wie waren die anderen hineingekommen? Was war das für eine Kraft, die sie zurückstieß? Abraham untersuchte die Ränder des Steintors nach Hinweisen, was den Rückstoß verursacht hatte. »Meine Leute werden gleich hier sein«, sagte er. »Wir gehen rein, sobald Verstärkung kommt.« In der eiskalten Kammer bewegte Maggie sich auf Cody zu, die bleich wie eine Lilie auf dem großen steinernen Altar in der Mitte lag. Der Stein sah äonenalt aus und strahlte die Temperatur einer arktischen Eisscholle aus. Maggie streckte die Hand aus, um das Kind zu berühren, und Cody schlug die Augen auf. Maggie fuhr erschrocken zurück; das war nicht Cody, die sie feindselig anstarrte. Auch Peter sah die Präsenz deutlich. Er machte das Kreuzzeichen und schlug das Exorzismus-Ritual auf, das seine Bewacher zum Glück übersehen hatten, da es in seiner Hosentasche und nicht in der Dominikanerkutte versteckt war. Instinktiv wich Maggie vor dem unheimlichen boshaften Blick des Kindes zurück und berührte es nicht. Sie drehte sich um und sah Peter fragend an, aber der Rabbi ergriff das Wort. »Sie sind hier«, sagte er. »Die Dämonen. Sie sind zahlreich, einer aber ist dominierend.« Peter sah den alten Mann an, der die Augen geschlossen hatte. Er konnte offenbar hellsehen. »Sie Ekel! Was haben Sie mit Cody gemacht?« wollte Maggie von Eric wissen. »Was wir getan haben, meine liebe Maggie?« erwiderte er. »Wir haben ihre Seele an einen Ort verbannt, wo sie bis in alle Ewigkeit gefangen sein wird. Cody ist jetzt weiter nichts als eine Behausung für Dämonen. Hätten wir unsere Beschwörung zu Ende geführt, so würde Sekhmet persönlich sich ihrer Person angenommen und ihr Unsterblichkeit gewährt haben. Da wir aber rüde unterbrochen wurden, blieb mir keine andere Wahl, als sie hierherzubringen. Nun beabsichtige ich selbstverständlich, die Amulette zu materialisieren. Und ich beabsichtige, Sie zu töten.«
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Peter trat näher an Eric heran. »Die günstigste Stunde für die Materialisation ist verstrichen, Vannier«, sagte er fest. »Und um uns zu töten... Sie haben keine Waffe, und wir sind in der Überzahl.« »Dann ersuche ich einfach den Fürsten, Sie zu töten«, erwiderte Eric verächtlich. »Und warum sollte er das tun? Ihr Fürst verachtet Versager gewiß ebenso sehr, wie irdische Fürsten sie verachten.« »Von Versagen kann nicht die Rede sein, es wurde nur der Plan geändert.« Eric wandte sich ab, und da begann die Luft ringsum unheilvoll zu knistern. »Du hast versagt, Sterblicher!« donnerte es aus einer unsichtbaren Quelle. »Du hast dir dein Schicksal selbst zuzuschreiben.« Eric griff sich an die Kehle, als ob eine unsichtbare Hand ihn würgte, und die drei Anwesenden sahen ihn stöhnend nach Atem ringen. »Das mußt du büßen!« schmetterte die Stimme. Eric wurde von Wesen gepackt, die nicht zu sehen waren, deren Kraft jedoch unvorstellbar sein mußte. Seine große Gestalt wurde mühelos durch den Raum hin und her geworfen wie ein Sack in den Händen von Kindern. Und dann erschallte Gelächter, als die Dämonen ihm bei lebendigem Leibe Arme und Beine ausrissen. Erics Schreie übertönten fast die Geräusche von reißendem Fleisch und krachenden Knochen. Und dann stank es nach Verbranntem. Sprachlos angesichts des grotesken Schauspiels, wollte Maggie sich abwenden, doch der Rabbi sagte fest: »Es ist nicht mehr als das, was er anderen angetan hat, Mrs. O'Connor. Es ist gerecht.« Der Lärm ließ nach. Peter, Maggie und der Rabbi standen verblüfft und unsicher an der Stätte des Gemetzels. »Peter, Peter, Peter!« ließ sich plötzlich eine männliche Stimme auf dem Altar vernehmen. Sie schien von Cody zu kommen, aber die Lippen des Kindes hatten sich nicht bewegt. Peter holte tief Luft und kehrte sich wieder dem ExorzismusRitual in seiner Hand zu. Ehrfürchtig begann er den Text zu le-
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sen, der aus dem dritten oder vierten Jahrhundert stammte. Das Ritual erfüllte ihn mit einem Gefühl der Erneuerung; jeder Ge danke an sich selbst fiel von ihm ab, und nur die machtvollen Worte blieben. »›... führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel... Rette dieses Kind, deine Dienerin, denn sie hofft auf dich, mein Gott.‹« »Scheiß drauf, du kleinmütiger Misthaufen!« Das Kind spie die Worte hervor, aber es war nicht Codys Stimme. »Die hier wurde uns für alle Ewigkeit freigegeben... Und euch kriegen wir auch. Genau wie dich, du alter Scheinheiliger!« Das war eindeutig auf den Rabbi gemünzt. »Ich exorziere dich, unreiner Geist!« rief Peter mit Donnerstimme. »Alle Geister! Jeden von euch! Im Namen des...« »Sprecht zu mir!« kreischte die Stimme, Peter übertönend. »Sich hinter gedrucktem Papier zu verstecken, das bringt nichts. Ich will einen Kampf, kein Schachspiel. Ihr werdet mit mir schwitzen, oder ich töte das Kind, bevor die Leserei aus dem dämlichen kleinen Buch zu Ende ist!« »Ich befehle dir, dieses Kind zu verlassen, ohne ihm in irgendeiner Weise zu schaden!« verlangte der Rabbi. Dann sprach er ein Gebet, eine kabbalistische Formel, die die Macht der Engel herbeirufen konnte. Dankbar für die Unterstützung des Rabbis, begann Peter erneut, den Exorzismus-Text zu lesen. »Gott, Schöpfer und Beschützer der Menschheit, sieh herab auf diese deine Dienerin...« »Schöpfer und Beschützer der Menschheit, wahrhaftig!« spottete der Dämon. »Peter, der besudelte Priester... Aber ich halte dir das nicht vor.« Die Stimme nahm einen verführerischen Klang an. »Ich kann euch allen eure Herzenswünsche erfüllen. Seht, was ich euch anbiete...« Visionen entstanden vor ihrem inneren Auge, Visionen von ihren geheimsten Träumen. Die Versuchung war groß. Was waren die Amulette schon gegen die Erfüllung solcher Wünsche... Ellie bog um die letzte Ecke des Kellerlabyrinths und kam gleichzeitig mit zwei von Abrahams Männern an der Treppe an.
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Einer packte ihren linken Arm, als sie an ihm vorbeizulaufen versuchte. Die blutige Axt in ihrer rechten Hand surrte so schnell durch die Luft, daß der Mann auf dem Boden lag, ehe sein Kamerad ihn decken konnte. »Laßt sie gehen!« schallte Abrahams Stimme durch den dunklen Korridor. »Laßt die Frau durch!« Sie war binnen Sekunden unten bei Abraham und Devlin und starrte mit nachdenklichem Stirnrunzeln auf den Bogen vor ihnen. »Sie sind da drin, Ellie«, sagte Devlin. »Wir können nicht durch.« Ellie nickte, ging nach vorn, um das Kraftfeld mit der Hand zu berühren, dann trat sie zurück, um die Schnitzereien im Bogen zu betrachten. Es galt, sowohl astrologische Zeichen und Figuren als auch Schriften zu entziffern. »Das ist die sogenannte Teufelspforte«, sagte sie schließlich. »Da steht: ›Wer hier eintritt, tritt in die Hölle.‹ Die Worte ›Maa Kheru‹ öffnen die Höllentore... dies muß eines davon sein. Vermutlich eine Art Energiewirbel, der mühelosen Wechsel in und aus dämonischen Dimensionen ermöglicht.« »Hören Sie, Ellie«, warf Devlin ein. »Ich will gern glauben, daß das ein Club Med für Dämonen ist, wenn Sie mich nur reinbringen können.« Ellie schüttelte den Kopf. »Eric hat das Heiligtum mit Hilfe mächtiger Kräfte versiegelt, Dev. Ich kann das nicht allein aufbekommen... ich muß meine Vorfahren um Hilfe bitten. Aber ich will sehen, was ich tun kann. Wir sind hier tief in der Erde ich werde die Geister meiner Cherokee-Ahnen beschwören, daß sie die Erdmutter ersuchen, uns zu helfen. Die indianische Magie hat reinere Wurzeln als die Erics, denn Cherokees kennen keine schwarze Magie.« Damit wandte sie sich dem Portal zu, hob die Arme zum Schamanengruß an die Mächte der vier Himmelsrichtungen und bat um Einlaß in die Schattenwelt. Minuten später begann sie zu singen; zuerst war es ein leises Klagen, das zu einem volltönenden Gesang anschwoll, der in dem höhlenartigen Raum rauschte wie ein Wasserfall in einem Canyon.
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Die Luft ringsum vibrierte immer stärker, so daß sich den Männern die Nackenhaare sträubten. Die Schwärze des Portals begann unter dem Bogen zu schimmern wie ein irisierender Vorhang, der vom Wind bewegt wurde. »Gehen Sie, wenn der Schimmer verblaßt!« krächzte Ellie heiser; es war deutlich zu sehen, daß sie alle Kräfte aufbot gegen die Gewalten, die das Heiligtum schützten. »Ich kann das Siegel nicht brechen, aber ich kann es genügend schwächen, um uns durchzulassen.« Beide Männer warteten angriffsbereit auf den Augenblick, da sie losstürmen konnten... Maggie war drauf und dran gewesen, das Angebot des Dämons anzunehmen, und sie erschrak über ihre eigene Schwäche. Sie suchte Peters Blick und sah, daß ihn dasselbe Entsetzen ergriffen hatte wie sie. Was mochte er wohl geträumt haben? Sie sah, wie er sich verzweifelt zusammennahm, um den Feind zu bezwingen. Und plötzlich wußte Peter, wozu er berufen war. Seine lebenslange Gottsuche war eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen. »Ich weiß, wie ich dich besiege, Dämon!« rief er mit klarer, schallender Stimme. »Ich biete dir mein Leben für das des Kindes!« Maggie stöhnte laut, und der Rabbi trat zu Peter. Der Dämon brüllte vor Lachen. »Ich will nicht dich, du arrogantes Nichts«, fauchte er. »Ich will alles! Das Kind, die Amulette, alle Macht der Welt! Was bist du im Vergleich dazu? Ein intellektueller Versager von einem Priester! Sogar als Ketzer hast du versagt! Dich will ich nicht... du bist nichts. Verstehst du? Nichts, nichts, nichts!« Die Verachtung in der Stimme des Dämons, die absolute Zurückweisung seiner Selbstopferung erschütterten und demütigten Peter. Die Bedeutung seines Lebens war mit einem Schlag zunichte gemacht... alles, was er gewesen war, alles, was er niemals sein konnte, durchflutete sein Gehirn wie ein kosmischer Hagelsturm. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
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Das Siegel hinter ihnen knatterte. Ellie rief ein triumphierendes »Ho!« und brach vor der Portalöffnung in die Knie, während Devlin durch den Bogen zu Maggie rannte. So sehr Abraham sich bemühte, er konnte die Barriere nicht durchschreiten. »Sie dürfen nicht herein!« rief Ellie ihm zu. »Nur die, die gläubig sind...« Dann folgte sie Devlin, und Abraham, bestürzt über sein Unvermögen, stand im Schatten des urzeitlichen Bogens. Wenigstens konnte er jetzt ganz deutlich sehen, was sich in dem Raum abspielte. Wie in einem Leichenhaus waren die Überreste von Eric verstreut. Und der Leib des Kindes schien beinahe über dem steinernen Altar zu schweben. Codys verzerrtes Gesicht fuhr herum, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, die dämonischen Augen auf Devlin gerichtet. »Hilf mir, Daddy!« rief es aus ihr mit der Stimme eines sterbenden kleinen Jungen. Devlin blieb wie angewurzelt stehen. Das Kind auf dem Altar war nicht mehr Cody. Daniels zartes Gesicht war ihm zugewandt, Blut tropfte ihm aus Nase und Mund, in seiner Brust klaffte ein Loch. Das Kind öffnete wieder den Mund zum Sprechen, aber es waren seine Augen, die alle Anwesenden fesselten. Hilfloses Entsetzen und Flehen sprachen aus diesen Augen. Hilf mir, Daddy, baten sie. Laß mich nicht sterben! »Nein!« rief Devlin heftig bewegt. »Nein!« Er lief zu dem sterbenden Kind, als eine Schockwelle ihn traf wie eine Schrotladung. Und plötzlich war die Sterbensqual in ihm selbst, Schmerz und Furcht. Das Leben wich aus ihm durch das Loch in seiner Brust, und er starb mit seinem Sohn. Devlin kämpfte mit aller Kraft gegen die Todesqualen. Er drängte die Illusion gnadenlos aus seinem Kopf. Dies war nicht Daniel! Dieses geplagte Kind war Cody. Und er würde sie retten, egal, um welchen Preis. Diesmal würde er nicht versagen. Mit einem Schrei stürzte er sich auf das Kind auf dem Altar. Ein weißglühender Blitz durchzuckte Devlin, als hätte er einen Hochspannungsdraht berührt, und er sackte zu Maggies Füßen zusammen.
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Maggie wurde von einem solchen Zorn erfaßt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Hier ging es nicht mehr allein um Cody. Und plötzlich erkannte sie, daß sie die Macht besaß, den Dämon zu überwinden. Es war die Macht aller guten Taten seit Anbeginn der Zeiten, aller selbstlosen Handlungen aus Liebe in der langen Geschichte der Menschheit. Aller Frauen, die jemals trotz widriger Umstände um ein Kind gekämpft hatten. »Du kannst mich töten, Dämon«, schrie sie das Ding auf dem Altar an, »aber du kannst nicht siegen, weil ich im Besitz meiner Seele bin. Das ist meine Macht, und sie kommt von Gott! So weise ich deine Drohungen und Bestechungen zurück, wie ich dich zurückweise. Du kannst diese Amulette haben und alle Reichtümer und Macht, die sie verschaffen können - nimm sie mit in die Hölle. Die Menschheit braucht sie nicht und will sie nicht. Wir schlagen uns durch in unserer Unvollkommenheit, denn unsere Unvollkommenheit ist es, die uns groß macht. Wenn wir vollkommen wären, wäre nichts Heldenhaftes an unseren guten Taten. Wir lieben, aber du kannst nicht lieben, und deshalb kannst du niemals siegen. Die Liebe ist so sehr ein Teil von uns wie unser Blut und unsere Knochen. Sie ist unsere einzige herrliche Vo llkommenheit. Und eines Tages, vielleicht in Äonen, werden wir nicht mehr unvollkommen sein, weil wir ständig aufwärts gestrebt haben, dir zum Trotz. Und wenn jener Tag heraufzieht, werden du und dein Königreich des Bösen aufhören zu existieren. Deine Macht ist vorübergehend, und unsere ist ewig, denn sie kommt von Gott.« Der Dämon zischte vor Wut. »Du hast keine Waffen gegen mich!« »Du weißt nichts von Großmüttern!« fauchte Maggie zurück. »Aber wie könntest du auch? Wir sind auf der anderen Seite!« Sie fühlte ihre Macht und wußte, woher sie kam. »Ich kenne deine Achillesferse, Dämon!« rief sie. »Du kannst mich nicht haben ohne meine Zustimmung. Du kannst nur verführen, und ich bin nicht käuflich. Ich weise dich zurück mit der ganzen Macht meiner unsterblichen Seele. Du kannst mich nicht haben, und du kannst Cody nicht haben. Sie hat dich nicht gewählt, so wenig wie ich!«
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Ehe ihre Worte erstarben, war ein Donnern zu hören, und ein Wind zischte durch den Raum. Es geschahen so viele Dinge auf einmal, daß Maggie später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen konnte, in welcher Reihenfolge sie sich abgespielt hatten. Sie sah die Präsenz in Cody verglimmen wie eine ausgeknipste Glühlampe, und sie sah ein unirdisches Strahlen das urzeitliche Dunkel erhellen. Ein Teil von Cody erhob sich vom Altar und stellte sich zu Maggie, aber die ätherische Gestalt war nicht mehr die eines Kindes. Die junge Priesterin hob die Hand zum rituellen Gruß und sprach mit unvorstellbar süßer Stimme: »Sei gegrüßt, Hüterin. Die Mutter sendet dir ihren Gruß.« Maggie berührte die Hand der Lichtgestalt. »Sei gegrüßt, Botin«, erwiderte sie. »Danke, daß du mir den Weg gewiesen hast.« Ellie lächelte; sie hatte unendlich lange auf diesen Augenblick gewartet, und sie hatte nie aufgehört, daran zu glauben. Die Isis -Botin kniete sich neben Devlin und hielt das schimmernde Amulett an sein Gesicht, und sogleich kehrte das Leben in ihn zurück. Dann erhob sich die himmlische Erscheinung wieder und lächelte Maggie ein letztes Mal zu, bevor sie sich verflüchtigte und nur das Kind zurückblieb. Cody setzte sich auf und sah sich im Raum um. »Du bist mich holen gekommen, Mim?« flüsterte sie glücklich. »Ich hab gewußt, daß du kommst.« »Ja, Herzchen«, murmelte Maggie und nahm das Kind in die Arme. »Ich bin dich holen gekommen.« »Ich hab dich lieb, Mim«, sagte das kleine Mädchen lächelnd. »Ich will nach Hause.« Raphael Abraham blieb gebannt auf der anderen Seite des Portals stehen, obwohl das Siegel verschwunden war. Zutiefst erschüttert über das, was er gesehen und gehört hatte, wartete er, bis der Rabbi herauskam. »Was ist hier geschehen, Rabbi?« fragte er. »Ich muß es wissen.« »Wir haben gesehen, warum Gott die Frau zum Zentrum unseres Glaubens gemacht hat«, erwiderte der Rabbi mit der winzigen Andeutung eines Lächelns.
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»Aber die Amulette, Rabbi. Was ist mit den Amuletten?« »Wenn ich dir sagte, wir konnten nicht das Kind und die Amulette retten, was würdest du dann sagen?« »Ich würde sagen, Rabbi, was ist das Leben eines Kindes, wenn das Wohl vieler auf dem Spiel steht? Wir haben eine dumme Wahl getroffen.« »Und wenn ich dir sagte, die Amulette sind durch die Taten der Frau zurück in die Ewigkeit verbannt worden, weil die Menschheit noch nicht die Charakterstärke entwickelt hat, die für den Besitz solch mächtiger Waffen erforderlich ist?« Abraham lächelte diabolisch. »Auch das würde mir eine dumme Wahl scheinen.« Der Rabbi lächelte. »So«, sagte er. »Soeben hast du erfahren, warum der Menschheit, die solche Waffen besäße, nicht zuzutrauen ist, eine weise Wahl zu treffen.« »Und wenn ich mich vor dem Premierminister verantworten muß«, fragte Abraham, »was soll ich ihm sagen?« Die Miene des Rabbis war ernst, aber seine Augen waren fröhlich. »Du kannst ihm sagen, daß es höhere Mächte gibt als ihn und daß diesen heute gedient wurde.«
82 Die folgenden Tage hatten für Maggie etwas Unwirkliches. Die Welt der normalen, alltäglichen Ereignisse schien nach den bizarren Erlebnissen der vergangenen drei Monate nahezu fremdartig. Sie hatte von Gino erfahren, daß die Schreier befreit und ins Krankenhaus gebracht worden waren und daß die Medien die Leichen, die man auf dem Anwesen Vanniers gefunden hatte, dem Anschlag einer terroristischen Organisation aus Libyen zuschrieben. Von Ellie wußte sie, daß und wie Ghania gestorben war. Maggie ging jeden Morgen in die St.-Joseph-Kirche zur Messe, um für Peter zu beten. Peter hatte ihr außergewöhnliche Dinge erzählt, nachdem sie die schwere Prüfung überstanden hatten, und seine Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf.
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»Es wurde regelrecht abgeschält, Maggie!« hatte er zu ihr gesagt, und die Wandlung ließ seine Augen aufleuchten. »Alles ist verschwunden: der Stolz, der intellektuelle Hochmut, die Widersprüche... alles abgeschält, so daß ich meine Seele bloßgelegt sehen konnte. Als der Dämon mein Angebot, mich zu opfern, zurückwies, war ich völlig außer mir... zum erstenmal in meinem ganzen Leben war ich nichts. Diese Demütigung führte mich zu der Wahrheit, daß Gott mich nicht wegen, sondern trotz meiner Begabungen liebte! Daß ich ihn mein Leben lang durch den Verstand gesucht habe, obwohl man nur durch Liebe zu ihm gelangen kann! Ich habe endlich verstanden, welchen Weg ich zu gehen versuchte, als ich um jene Ecke bog und mich verirrte. In der blindmachenden Finsternis, Maggie, habe ich meinen Heimweg gefunden.« Und sie hatte nur genickt, zu überwältigt von allem, was geschehen war, um antworten zu können. »In der theologischen Lehre von der Herrschaft Gottes gibt es einen Ausdruck, Maggie«, fuhr er mit bewegter Stimme fort. »Prolepsis. Es ist eine Vorwegnahme... ein Vorbote der Zukunft. Ich glaube, Cody ist eine Prolepsis der Zukunft der Menschheit... Gott hat uns das Versprechen gegeben, daß die Zeit kommen wird, wenn Männer und Frauen jenseits von Abartigkeit, Konflikten und Grausamkeit ganz in der Gnade Gottes leben werden. Ich glaube, sie wurde gesandt, um uns daran zu erinnern. Sie sei gesegnet, sage ich, Maggie. Gesegnet sei das Kind und alles, was es für die Menschheit bedeutet.« Als Maggie am fünfzehnten Mai von der Kirche nach Hause ging, mußte sie daran denken, daß es gerade zwei Wochen her war, seit ihrer aller Leben beinahe zu Ende gegangen wäre, und daß es ihr in mancherlei Hinsicht wie eine Ewigkeit vorkam. Plötzlich spürte sie einen überwältigenden Drang, alle um sich zu versammeln, die soviel geleistet hatten, um ihnen von ganzem Herzen zu danken - und um das Leben zu feiern. Maria Aparecida spielte mit Cody auf dem Küchenfußboden »Jacks«, während sie darauf wartete, daß der Braten die richtige Farbnuance annahm.
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»Der liebe Gott sondert die Schafe von den Ziegen, Dona Maggie«, hatte sie erklärt, als Maggie ihr das Kind in die Arme legte. »Der gute Hirte verläßt stets die Herde, um das verirrte Lamm zu suchen.« Jetzt machte das Lachen der beiden Maggie Mut, als sie in ihrem Wohnzimmer auf dem großen Sofa saß, nur durch ein Kissen von Devlin getrennt. »Ich habe dir eine ganze Menge zu sagen, Maggie«, sagte er und griff über das Kissen nach ihrer Hand. »Und ich will es heute abend sagen, bevor die anderen kommen.« Er hielt inne, sichtlich bemüht, Gedanken und Gefühle auszubalancieren. »Ich liebe dich, Maggie O'Connor. Mehr als ich jemals gedacht hätte, jemand lieben zu können... und ich möchte gerne herausfinden, ob es eine gemeinsame Zukunft für uns geben kann. Ich denke, ich kann dich nicht bitten, das Leben einer Polizistenfrau zu führen - die Ängste, die damit verbunden sind, würden dir die Seele zerreißen, aber ich habe mir überlegt, daß ich ein bißchen mehr mit meinem Juraexamen anfangen könnte, als meine Wohnung mit dem Zeugnis zu schmücken. Vielleicht kann ich meine Erfahrung benutzen, um in der Welt etwas Gutes zu tun. Wenn ich in letzter Zeit etwas gelernt habe, dann dies: Was immer jeder von uns Gutes tun kann, tun wir am besten gleich.« Er holte tief Luft und sah ihr in die Augen. »Gib mir eine Chance, dich und Cody nicht zu verlieren, Maggie. Ich liebe dich mehr, als du ahnst.« Maggie legte ihre Finger auf seine Lippen, als könnte sie diese Worte, die Entscheidungen verlangten, zurückhalten. »Ich liebe dich auch, Devlin«, sagte sie langsam, bedächtig, »aber ich bin im Moment zu zerschlagen, um darüber nachdenken zu können. Ich brauche eine Weile, um alles zu verstehen, was mit mir passiert ist, wo ich gewesen bin... wohin ich gehe... In den letzten drei Monaten ist die Welt, wie ich sie kannte, untergegangen. Nichts ist so, wie ich dachte...« Sie biß sich auf die Unterlippe. Wie konnte sie nur ausdrücken, zu welch vielfachen Entfaltungen das Leben sie gezwungen hatte? Sie wußte ja nicht einmal sicher, was für ein Mensch sie geworden war. »Das Leben ist in letzter Zeit hart mit mir umgesprungen,
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Dev. Wenn du mir nur ein bißchen Zeit gibst, wieder zu mir zu finden, bevor ich meinem Herzen irgend etwas abverlange, verspreche ich dir, die Liebe, die du mir bietest, sehr ernst zu nehmen.« Devlin strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du wirst sehen, Maggie«, sagte er, froh, daß sie nicht nein gesagt hatte, »eines Tages wird ein gewisser Glanz auf mich fallen, und dann wirst du mir nicht widerstehen können.« Sie lachten zusammen, und es war ein gutes Gefühl. »Dev«, sagte sie nachdenklich, »was meinst du, was in der unglaublichen Nacht wirklich mit uns passiert ist? Wieviel von dem, was wir gesehen haben, war Wirklichkeit? Es geht mir immer wieder durch den Kopf - zuerst bin ich mir ganz sicher, und in der nächsten Minute lehnt meine Vernunft sich dagegen auf.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, Maggie. Die Küstenwache sagt, es gab keine hohen Wellen außer genau in den paar Minuten, die es dauerte, um Ellies Boot zum Kentern zu bringen. Du hast die Wesen aus Cody und Ghania hervorkommen sehen. Du hast das Amulett und den Stein sich materialisieren sehen. Ich habe Daniel in dem höllischen Portal gesehen ... Teufel, ich bin sogar mit ihm gestorben... und doch sitze ich heute abend hier.« Maggie nickte. »Aber was bedeutet das alles für Cody und mich, wenn es wirklich ist... was bedeutet es für den Rest unseres Lebens und für die Menschheit? Und glaubst du, wir hatten übernatürlichen Beistand, um Cody zu retten, Dev? Es ist wichtig für mich zu wissen, wie du über das alles denkst. Haben Sekhmet und die Satanisten wirklich versucht, Codys Ka zu stehlen? Oder war das so etwas wie eine verrückte Massenhalluzination, hervorgerufen durch den gespenstischen Ort und den emotionalen Horror, den wir alle durchgemacht haben? Wurde in einer anderen Dimension wirklich ein Kampf um Codys Seele geführt, oder war das nur eine Einbildung infolge Peters und des Rabbis und meines übermächtigen Glaubens an Gott? Ist es wirklich möglich, daß wir alle vereint waren durch ein Band der Liebe, das Jahrtausende überdauerte... oder mußten wir das einfach glauben, um mit dem leben zu können, was
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mit uns passierte?« Sie schüttelte den Kopf, noch ganz gefangen von der Ungeheuerlichkeit all dessen, was sie erlebt hatten. Devlin grinste plötzlich. »Ich wäre ja zu gerne imstande, dir zu sagen, daß es die überragende Arbeit der Polizei war, die die Sache gedeichselt hat«, erwiderte er, »aber das würde deine Phantasie noch mehr strapazieren als alles andere zusammen.« Maggie lachte; es war offensichtlich, daß er nicht mehr ungläubig war, und das war ihr wichtig. Vielleicht konnten sie alledem gemeinsam auf den Grund gehen. »Ich denke, die wichtigste Frage, die bleibt, lautet, was geschieht als nächstes?« sagte sie, um die Unwägbarkeiten etwas in den Hintergrund zu drängen. »Glaubst du, daß irgendwelche Mitglieder von Maa Kheru gerichtlich belangt werden wegen Jennas Ermordung oder Codys Entführung? Oder überhaupt wegen irgend etwas?« Devlin schüttelte den Kopf; seine Erfahrungen ließen Optimismus nicht zu. »Es sieht mir sehr nach einem abgekarteten Spiel aus, Maggie. Zu viele prominente Namen... zu viel Geld, das den Besitzer gewechselt hat. Außerdem, Eric, Nicky und Ghania sind tot, wer könnte also für die Schreier und Jenna und alles andere, was in dem Höllenhaus vorging, verantwortlich gemacht werden? Ich denke, wir müssen uns einfach damit zufriedengeben, daß Gott anscheinend seine eigene Gerechtigkeit geübt hat, statt auf unsere zu warten. Wenigstens haben die Schweinehunde das Amulett oder den Stein nicht gekriegt. Stell dir vor, was die Mistkerle mit solchen Instrumenten in Händen mit der Welt angestellt hätten! Übrigens, nach dem, was mit Eric passiert ist, sieht es so aus, als hätte Satan die Schnauze voll gehabt von denen, weil sie ihn reingelegt haben... Und du mußt sagen, es war ein schöner Zug von dem Dämon, daß er den Mistkerl persönlich erledigt hat.« Maggie nickte. »Weißt du, Ellie hat mir was Komisches erzählt. Sie hätte uns früher warnen können, daß Hazred auf der falschen Seite stand, wenn ich seinen Namen erwähnt hätte. Wie es scheint, ist Abdul Hazred der Name eines der Torhüter der Hölle, aber ich habe ihn immer nur ›den Ägypter‹ genannt...«
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Devlin lachte, »Sieht ganz so aus, als wären wir von unsichtbaren Händen manipuliert worden, nicht?« Er lehnte sich seufzend zurück. »Meine Mutter hätte ihre helle Freude daran gehabt, wenn sie mich in die Welt der Gespenster und Geister verstrickt gesehen hätte.« Er lächelte bei der Erinnerung an sie, dann sah er Maggie an und sagte: »Ich denke dauernd, ich bin froh, daß es vorbei ist und daß du in Sicherheit bist.« »Und ich wünsche mir, es gäbe eine greifbarere Gerechtigkeit, Dev«, entgegnete Maggie bekümmert. »Auf dem Hexensabbat waren eine Menge mächtiger, einflußreicher Leute, die nach wie vor Böses bewirken. Wenn niemand bestraft wird und die Welt nie erfährt, was wir erlebt haben, dann hatte Camus vielleicht doch recht, und die Herrschaft des Ungeheuers hat begonnen.« »Vielleicht. Oder vielleicht wurden wir nur daran erinnert, daß Gottes Werk auf Erden von uns verrichtet werden muß.« Maggie lächelte. »Ich glaube, wir hatten die Chance, ihm unter die Arme zu greifen, ein bißchen wenigstens, und seiner Freundin Isis auch, wenn man's genau nimmt. Und egal, was mit uns passiert ist, Cody ist in Sicherheit. Der Kinderpsychologe, bei dem ich mit ihr war, sagt, sie ist erstaunlich gesund, wenn man bedenkt, was sie ihr alles angetan haben. Und jetzt darf sie wieder ein normales kleines Mädchen sein. Sie muß keine Dämonen abwehren, nicht die Welt retten oder sonst was, nur uns lieben und von uns geliebt werden. Und nie wieder muß sie das Wort ›Amulett‹ hören! Von jetzt an darf sie eine ganz gewöhnliche Kindheit haben wie alle Dreijährigen in Amerika.« Es läutete an der Tür, und Maggie lief hin, um Ellie und Amanda zu begrüßen, die gleichzeitig gekommen waren. Peter und Gino würden jede Minute eintreffen. Alle lachten und umarmten sich und machten ein großes Getue um Cody, bis es Zeit für sie war, schlafen zu gehen, und Maggie das innig geliebte Kind auf die Arme nahm und glücklich die Treppe hinauftrug, um es ins Bett zu bringen. Cody lag unter der rosaweiß karierten Bettdecke und lächelte Mim an; es war so schön, zu Hause zu sein. So schön, so sehr geliebt zu werden.
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Mim warf ihr auf der Türschwelle eine letzte Kußhand zu und schloß die Schlafzimmertür hinter sich. Cody lauschte auf die vertrauten Schritte auf der Treppe. Sie wußte, daß alle, die sie liebten, heute abend zu einer Feier in ihr Haus gekommen waren; sie konnte die leise Musik der Stereoanlage hören und wußte, daß Maria Aparecida ihr die leckersten Sachen vom Nachtisch für ihr morgiges Mittagessen aufheben würde. Cody wartete, bis Mim unten war, dann kletterte sie aus dem Bett und ging zum Fenster. Es war ein schöner, klarer Abend, die Sterne flimmerten wie Glühwürmchen, und eine sanfte Brise blähte die Gardinen an dem Fenster, das Mim einen Spalt offen gelassen hatte, damit frische Luft hereinkam. Das Kind blickte, scheinbar in einen Wachtraum vertieft, lange zum Halbmond empor. Es mußte über vieles nachdenken. Schließlich streckte Cody die Hand aus, so daß ein Mondstrahl auf den geöffneten Handteller fiel. Sie murmelte ein paar Worte in einer uralten Sprache; ihre Redeweise war kein kindliches Lispeln mehr, sondern hatte die Bestimmtheit einer Person, die ihre Aufgaben kennt. Das Isis -Amulett materialisierte sich in ihrer kleinen Hand zu einer festen Form; das Gold und die kostbaren Edelsteine, die sein Äußeres bildeten, schimmerten und strahlten auf höchst unirdische Weise. Cody lächelte. Es war ein süßes, überaus zufriedenes Lächeln, Jahrtausende älter als ihr kleiner Körper. »Diese Menschen haben große Fähigkeiten, Mutter«, murmelte sie stolz. »Du hast wohl daran getan, an sie zu glauben.« Und mit einer Geste, die nur ihr allein seit je bekannt war, gab die Isis -Botin das Amulett irgendwo im Kosmos in sichere Verwahrung. Die Zeit der Entscheidung würde eines Tages abermals kommen. Sie würde bereit sein.
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