Bernd Nitzschke (Hrsg.) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Schlüsseltexte der Psychologie Herausgegeben von Helmut E. L...
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Bernd Nitzschke (Hrsg.) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Schlüsseltexte der Psychologie Herausgegeben von Helmut E. Lück
Dem Lebenswerk und den Originalschriften der „großen Psychologen“ wie Wundt, Freud, Stern oder Münsterberg wird im Psychologiestudium und in der akademischen Psychologie wenig Aufmerksamkeit zuteil. Ziel dieser Reihe ist die Auswahl, Aufbereitung und Kommentierung klassischer Lektüre in einer Form, die für Studierende und Psychologie-Interessierte verständlich und anregend ist. Die Begegnung mit diesem klassischen Lesestoff und die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Faches sollen neue Perspektiven eröffnen und den Lesern einen breiteren Zugang zur Psychologie ermöglichen.
Bernd Nitzschke (Hrsg.)
Die Psychoanalyse Sigmund Freuds Konzepte und Begriffe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Kea S. Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagfoto: Sigmund Freud Privatstiftung Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17000-8
Inhalt
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
1.
9
1.
Vorbemerkung - zu diesem Buch
9
2.
Sigmund Freuds Kindheit und Jugend
12
3.
Der Student
13
4.
Von Wien nach Paris
16
5.
Große Hoffnungen - und Enttäuschungen
18
6.
Zeit des Umbruchs
23
7.
Ein Ziel ist erreicht
26
8.
Das "wilde Heer" formiert sich
28
9.
Krankheit, später Ruhm und Tod
31
10. Was bleibt? Was kommt?
34
Psychischer Apparat und psychische Regulation Basiskonzepte der Psychoanalyse
39
1.1 Der psychische Apparat
41
1.2 Trieblehre
44
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
47
1.4 Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)
52
1.5 Die Objektfindung
55
1.6 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
64
Inhalt
6
2.
3.
Wunsch - Traum - Zensur Freuds Methode der freien Assoziation
73
2.1 Der Traum ist eine Wunscherfüllung
75
2.2 Zur Psychologie der Traumvorgänge
82
Begehren und Verzicht Freuds Sexualitätskonzept ............................................................................... 97 3.1 [Ursprünge und Entwicklungslinien der Psychosexualität] Zusammenfassung
4.
5.
98
3.2 Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Genitalorganisation)
110
3.3 Über die weibliche Sexualität
114
Wunsch - Abwehr - Symptom Freuds Theorie der psychischen Erkrankung
133
4.1 Der Sinn der Symptome
135
4.2 Widerstand und Verdrängung
148
4.3 Neurose und Psychose
158
4.4 Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose
162
4.5 Die Ichspaltung im Abwehrvorgang
167
Übertragen - Erinnern - Bewältigen Freuds Behandlungskonzept
171
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
172
5.2 Zur Dynamik der i.Tbertragung
181
5.3 Bemerkungen über die Übertragungsliebe
191
5.4 Wege der psychoanalytischen Therapie
203
5.5 Konstruktionen in der Analyse
213
Inhalt
6.
7
Die Stimme des Intellekts ist leise Freuds Kulturtheorie
223
6.1 Zeitgemäßes über Krieg und Tod
227
6.2 Die Zukunft einer illusion
241
6.3 Das Unbehagen in der Kultur
255
Literatur
279
Sachregister
291
1.
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
1.
Vorbemerkung - zu diesem Buch
"Vom Jahre 1902 an scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzte um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu verbreiten. Ein Kollege [Wilhelm Stekel, s. unten - B. N.], welcher die gute Wirkung der analytischen Therapie an sich selbst erfahren hatte, gab die Anregung dazu. Man kam an bestimmten Abenden in meiner Wohnung zusammen, diskutierte nach gewissen Regeln, suchte sich in dem befremdlich neuen Forschungsgebiete zu orientieren und das Interesse anderer dafür zu gewinnen. [...] Die Schwierigkeiten der Unterweisung in der Ausübung der Psychoanalyse, die ganz besonders groß sind und an vielen der heutigen Zerwürfnisse die Schuld tragen, machten sich bereits in der privaten Wiener psychoanalytischen Vereinigung geltend. Ich selbst wagte es nicht, eine noch unfertige Technik und eine im steten fluß begriffene Theorie mit jener Autorität vorzutragen, die den anderen wahrscheinlich manche Irrwege und endliche Entgleisungen erspart hätte." Soweit Freud (1914d, S. 63 f.) im Rückblick auf die Auseinandersetzungen, die zum Bruch mit zwei seiner Wiener Anhänger führten: mit Alfred Adler (1870-1937), dem späteren Begründer der Individualpsychologie, und mit Wilhelm Stekel (1868-1940), der später die von ihm so benannte "Aktive Psychoanalyse" vertrat. Als sich dann auch noch Konflikte mit Carl Gustav Jung (1875-1961) anbahnten, der nach seiner Abkehr von Freud eine eigene Schule mit der Bezeichnung "Analytische Psychologie" ins Leben rief, kam es doch zu dem, was Freud bislang vermieden hatte: Ein "Geheimes Komitee", das 1912 auf Vorschlag von Ernest Jones (1879-1958), Otto Rank (1884-1939) und Sandor Ferenczi (1873-1933) gegründet wurde, sollte hinfort die Einhaltung der psychoanalytischen Standards überwachen (Freud & Jones, 1993, S. 146). Doch auch dieser Versuch scheiterte aufgrund von Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten. In den 1920er Jahren löste sich die Institution wieder auf (Wittenberger & Tögel, 1999-2006). Und das war gut so. Denn die "klassische" Psychoanalyse (Will, 2003), zu der auch die "reine" Behandlungstechnik (vgl. Eissler, 1953) gehört, mag
10
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
als idealtypische Konstruktion lehrreich sein, doch in der Praxis handelt es sich dabei um einen jener "Fliegenden Holländer" (vgl. Cremerius, 1993)/ von denen viel geredet wird, die aber niemand je zu Gesicht bekommen hat. Schließlich lebt die Psychoanalyse - wie jede Wissenschaft - vom offenen Diskurs. Und deshalb ist die psychoanalytische Theorie auch heute noch"im steten Fluss", und die psychoanalytische Behandlungstechnik ist wie zu Freuds Zeiten: noch immer "unfertig" (Heigl-Evers & Nitzschke, 1994). Die Theorie und Praxis der Psychoanalyse orientieren sich am Zuwachs klinischer Erfahrung, berücksichtigen die Ergebnisse der empirischen Forschung und zunehmend auch die Erkenntnisse der Nachbardisziplinen (vor allem der Neurowissenschaften). Das bedingt zwar eine gewisse Unübersichtlichkeit. Doch diese Vielfalt ist besser als die Einfalt, mit der man unter Berufung auf Dogmen zur Einheit verpflichten wollte. Wer Orientierung sucht, der findet sie dennoch - zum Beispiel im "Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe" (Mertens & Waldvogel, 2008). Im englischen Sprachraum erfüllt dieselbe Aufgabe "The Edinburgh International Encyclopaedia of Psychoanalysis" (Skelton, 2006). Und dem französischsprachigen Leser bietet das "Dictionnaire International de la Psychanalyse" (de Mijolla, 2002) ebenfalls einen profunden Überblick des psychoanalytischen Wissens. Dieses Wissen reicht inzwischen weit über Freud hinaus. Seine Entdeckungen stehen jedoch am Beginn dieser Wissenschaft. Und deshalb ist Freud ein Klassiker/ der von jeder Generation neu interpretiert werden kann. Er selbst hat die Psychoanalyse als work in progress aufgefasst. "In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben" (Freud, 1927a, S. 293 f.). Das psychoanalytische Wissen verdankt sich also nicht der "Offenbarung, Intuition oder Divination", vielmehr ist es das Ergebnis der "Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen" (Freud, 1933a, S. 171). Diesen fortschreitenden Prozess der Begriffsbildung und Konzeptentwicklung, der sich als "Vokabular der Psychoanalyse" niedergeschlagen hat, haben Laplanche und Pontalis (1973)/ zwei französische Psychoanalytiker, minutiös rekonstruiert. Doch die Rückbesinnung auf Freud ist nicht alles, denn die Anfänge der Psychoanalyse liegen"vor Freud" (Hemecker/1991). "Die Psychoanalyse ist [... l, wie selbstverständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie
1.
Vorbemerkung - zu diesem Buch
11
geht aus Anregungen hervor, die sie verarbeitet. So muß ihre Geschichte mit der Schilderung der Einflüsse beginnen, die für ihre Entstehung maßgebend waren [...]" (Freud 1924 f, S. 405). Freud hat auf solche Ursprünge selbst mehrfach hingewiesen, etwa auf den Hypnotismus, von dem er sich Schritt für Schritt löste. Und er hat wiederholt versucht, seine Grundauffassungen übersichtlich darzustellen. Das gilt für die Publikation der Vorträge, die er 1909 an der Clark University in Worcester, Massachusetts, hielt, nachdem er zu deren zwanzigjähriger Gründungsfeier eingeladen worden war (Freud, 1910a). Und am Ende seines Lebens hat er die Essentials seiner Lehre dann noch einmal in einem (unvollendet gebliebenen und erst posthum veröffentlichten) "Abriß der Psychoanalyse" (Freud, 1940a) zusammengefasst. Den umfangreichsten Versuch, den Leser in seine Gedankenwelt einzuführen, hat Freud jedoch mit den Vorlesungen (Freud, 1916-17a, 1933a) unternommen, deren Publikation in zwei (zeitlich weit auseinander liegenden) Etappen erfolgte. Im Vorwort des ersten Bandes bezieht sich Freud auf Überblicksarbeiten zur Psychoanalyse, die vor ihm Hitschmann (1913), Pfister (1913), Kaplan (1914) u. a. veröffentlicht hatten. Dort heißt es: "Was ich hier als ,Einführung in die Psychoanalyse' der Öffentlichkeit übergebe, will auf keine Weise in Wettbewerb mit den bereits vorliegenden Gesamtdarstellungen dieses Wissensgebietes treten" (1916-17a, S. 3). Was damals galt - gilt auch heute: Die vorliegende Auswahl will mit anderen Neuausgaben der Schriften Freuds nicht "in Wettbewerb" treten. Wohl aber will sie mit Hilfe der Anordnung und Kommentierung der Texte den Grundriss sichtbar machen, dem Freuds Denkgebäude folgt, in dem es genug Platz gibt für die Traumdeutung und das sexuelle Begehren, die Krankheitslehre, die Behandlungsstrategie und die Kulturtheorie. Und mag man Freuds Werk auch manchmal wie ein großes Labyrinth erleben - es gibt doch einen roten Faden: das ist der TriebWunsch, der affektvoll zur Wiederholung drängt, bis der Wunsch erfüllt oder der notwendige Triebverzicht geleistet ist (der die Modifikation des Wunsches hin zu einer kulturell akzeptablen Form einschließt). So oder so - das Ziel, das durch die Bewältigung der Erregung, die Verarbeitung der Reize, die Befriedigung der Bedürfnisse, die Erfüllung der Wünsche, die Beruhigung der Affekte und endlich durch die Aussöhnung mit der Tatsache erreicht werden soll, dass es kein Zurück in die Zeit vor dem nun einmal geschehenen Leid gibt, ist immer dasselbe: Ordnung im Chaos, also psychische Strukturbildung. Darauf beruhen die individuelle Reife und der kollektive Fortschritt: "Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee" (Freud, 1933a, S. 86).
12
2.
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
Sigmund Freuds Kindheit und Jugend
Freud meinte, Biographen seien versucht, "den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsch zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widersprüchen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten. Es ist zu bedauern, daß sie dies tun, denn sie opfern damit die Wahrheit einer lllusion [...1" (Freud, 191Oc, S. 202 f.). Im Folgenden sei versucht, dem Wunsch nicht nachzugeben, den großen Mann zu idealisieren - aber auch der Versuchung zu widerstehen, ihn klein zu machen. Sigismund Schlomo Freud (so der Eintrag in der Familienbibel) kommt am 6. Mai 1856 in Freiberg, Mähren, zur Welt, damals eine Provinzstadt des Habsburger Reichs, heute ein Ort in Tschechien (Phoor). Er ist das erste Kind von Amalia Nathansohn (1835-1930), der zweiten (oder dritten?) Ehefrau des Wollhändlers Kallamon Jacob Freud (1815-1896). Später kommen weitere sieben Geschwister hinzu, von denen sechs (fünf Schwestern und ein Bruder) überleben, während der Zweitgeborene, Julius, ein halbes Jahr nach der Geburt (1857) stirbt. Aus der ersten Ehe des Vaters hat Sigmund zwei Halbbrüder: Emanuel (1833-1914) und Philipp (18351911). So kommt er als Onkel seines um ein Jahr älteren Neffen John, des Sohnes von Emanuel, zur Welt. "Bis zu meinem vollendeten dritten Jahre waren wir unzertrennlich gewesen, hatten einander geliebt und gerauft, und diese Kinderbeziehung hat [...] über all meine späteren Gefühle im Verkehr mit Altersgenossen entschieden" (Freud, 1900a, S. 427). John wandert mit seinem Vater und dessen Bruder 1859 nach England aus, während Jacob Freud mit seiner Familie nach Leipzig und dann, weil er dort als Jude keine Aufenthaltserlaubnis erhält, weiter nach Wien zieht. Die Bedeutung, die dieser Verlust der Heimat für ihn hatte, schilderte Sigmund Freud später in einer verdeckt autobiographischen Arbeit, in der er einem fiktiven Patienten die folgenden Worte in den Mund legte: "Ich bin das Kind von ursprünglich wohlhabenden Leuten, die, wie ich glaube, in jenem kleinen Provinznest behaglich gelebt hatten. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trat eine Katastrophe in dem Industriezweig ein, mit dem sich der Vater beschäftigte. Er verlor sein Vermögen, und wir verlie-
3.
Der Student
13
ßen den Ort notgedrungen, um in die große Stadt zu übersiedeln. Dann kamen lange harte Jahre [... 1" (1899a, S. 542). Die erwähnte "Katastrophe" scheint, wenn sie denn tatsächlich stattgefunden haben sollte, allerdings nur den Wollhändler Jacob Freud betroffen zu haben, denn der Handel der befreundeten jüdischen Familie Fluß, die in Freiburg eine Tuchfabrik besaß, florierte weiter, und Freud war, als er später als Jugendlicher seine alte Heimat aufsuchte, auch wieder Gast dieser Familie. In Wien wohnt Jacob Freud mit seiner Familie in der Leopoldstadt, einem Viertel, in dem sich viele der Juden niederlassen, die aus den Ostprovinzen in die Hauptstadt des Habsburger Reichs ziehen (Hödl, 1994). Freuds Vater kann beruflich nicht mehr Fuß fassen. Es ist unklar, wie er seine Familie ernährt. Vermutlich wird er von Verwandten seiner Frau, aber auch von seinen jetzt in England lebenden Söhnen unterstützt. Als Sigmund Freud 1875 Urlaub in England macht und dort die Lebenssituation seiner Halbbrüder kennen lernt, malt er sich aus, "wie anders es geworden wäre, wenn ich nicht als Sohn des Vaters, sondern des Bruders zur Welt gekommen wäre" (1901b, S. 245). Und noch im hohen Alter wird er auf die bitteren Jahre der Armut seiner Jugend zurückblickend schreiben: "Wer in seinen eigenen jungen Jahren das Elend der Armut verkostet, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, daß er kein Verständnis und kein Wohlwollen für die Bestrebungen hat, die Besitzungleichheit der Menschen [...] zu bekämpfen" (1930a, S. 472/ Anm. 1). Unterrichtet wird der Sohn zunächst zu Hause, vom Vater. Möglicherweise hat er dann auch außer Haus Privatunterricht bekommen. Mit neun Jahren tritt er in das Leopoldstädter Realgymnasium ein und ist bald Klassenprimus. 1873 legt er das Abitur "mit Auszeichnung" ab.
3.
Der Student
Sigmund Freud immatrikuliert sich im Fach Medizin und wird bald Mitglied im Leseverein deutscher Studenten Wiens. Die Mitglieder des Vereins verehren Richard Wagner, Schopenhauer und Nietzsche und propagieren den Anschluss DeutschÖsterreichs an das Deutsche Kaiserreich. Freud bleibt Mitglied bis zum Verbot des Vereins wegen Staatsgefährdung der Donaumonarchie im Jahr 1878. Später wird er auf dieses deutsch-nationale Engagement wie auf alle anderen nationalen Überheblichkeiten kritisch zurückblicken: "Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn
14
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben" (Freud, 1960a, S. 381). Freud legt sein Studium sehr breit an. Er inskribiert die üblichen medizinischen Fächer, hört aber auch - gemeinsam mit seinem Freund Josef Paneth (18571890) - philosophische Vorlesungen bei Franz Brentano (1838-1917). Einige Jahre später wird Paneth der "Physiologe Zarathustras" (Hernecker, 1990) sein, das heißt, Paneth lernt anlässlich seines Forschungsaufenthalts in der Zoologischen Station Villefranche in der Nähe von Nizza Friedrich Nietzsche kennen, mit dem er sich intensiv über erkenntnistheoretische und naturwissenschaftliche Themen austauscht (Paneth, 2007). Über diese Gespräche berichtet er auch Freud, der auf philosophische Fragestellungen bestens vorbereitet ist, denn Brentano hatte dem jungen Studenten die nötigen Kenntnisse vermittelt. So steht es in einem Brief, den der 19jähdge Freud im März 1875 an seinen Freund Eduard Silberstein schreibt: "Bei Cartesius sollten wir beginnen, diesen ganz durchlesen, weil von ihm ein neuer Anstoß für die Philosophie ausgehe. Von seinen Nachfolgern Guelin[c]x, Malebranche, Spinoza sei keiner lesenswert. Sie knüpften alle an die verfehlte Seite in Cartesius' Philosophie an, seine vollständige Trennung von Seele und Leib. [...] Locke und Leibniz hingegen seien nicht zu umgehn [...]." Auch Hume und Kant wären zu lesen. Kant verdiene aber "das Ansehn durchaus nicht, das man ihm lasse, er sei voll von Sophismen, ein unausstehlicher Pedant und kindisch erfreut, wenn er etwas dreiteilen oder vierteilen" könne. "Kurz, Kant kommt bei ihm [Brentano - B. N.] sehr schlecht weg, was Kant hebt, das sind seine Nachfolger, Schelling, Fichte, Hegei", die Brentano als "Schwindler" bezeichnet habe. "Von diesen wollen Sie uns also dispensieren7" fragte der Student den Professor. "Im Gegenteil, ich will Sie warnen, sie zu lesen, begeben Sie sich nicht auf diese schlüpfrigen Wege des Verstandes, es geht einem wie dem Irrenarzt, der anfangs wohl merkt, daß es dort toll zugeht, aber sich später daran gewöhnt und nicht selten selbst einen Span holt''' (Freud, 1989a, S. 117 f.). Brentano kennt auch die "Philosophie des Unbewußten" (Hartmann, 1869) und geht darauf ausführlich ein, da dieses Buch zu Freuds Studentenzeit das literarisch-philosophische Salongespräch beherrscht. Doch Brentano kritisiert solche metaphysischen Spekulationen. Er ist ein Vertreter der Wissenschaft, der - wie später Freud sich selbst charakterisieren wird - die "Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen" (Freud, 1933a, S. 171) als Grundlage aller weiteren Schlüsse
3.
Der Student
15
betrachtet. Und deshalb fordert Brentano, es sei an der Zeit, ein Institut für experimentelle Psychologie an der Wiener Universität einzurichten. Der Plan wird von den zuständigen Behörden verworfen - und so entsteht das weltweit erste Institut dieser Art an der Universität Leipzig (Brauns & Schöpf, 1989, S. 44). "Für jetzt die Neuigkeit, daß zumal unter dem zeitigenden Einfluß Brentano's in mir der Entsch1uß gereift ist, das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben", heißt es im bereits zitierten Brief an den Freund weiter (Freud, 1989a, S. 109). Freud wendet sich also der Zoologie zu. Und earl Claus (1835-1899), der an der Wiener Universität für Darwins Evolutionstheorie eintritt, regt ihn zu einer Studie (Freud, 1877b) über den Bau der Hoden des Aals an. Dafür seziert Freud in der Zoologischen Station Triest vierhundert Fische. Zwei Jahre später beschäftigt sich Freud dann mit einem ganz anderen Thema: Für die deutsche Ausgabe der Werke von John Stuart Mill (1806-1873), die Theodor Gomperz (1832-1912), Professor für Klassische Philologie, herausgibt, übersetzt er einige Schriften dieses Philosophen. Sie behandeln die "Frauenemanzipation", die "Arbeiterfrage" und den "Sozialismus". Den stärksten Einfluss auf den jungen Studenten hat jedoch weder der Philosoph (Brentano) noch der Zoologe (Claus) noch der Philologe (Gomperz). Den stärksten Eindruck hinterlässt ein Physiologe: Ernst von Brücke (1819-1892). Er ist die "größte Autorität, die je auf mich gewirkt hat", schreibt Freud (1927a, S. 290) noch im hohen Alter. Da ist er bereits über Siebzig. Brücke lehnt die natu.rphilosophische Lehre von der Lebenskraft, den Vitalismus, entschieden ab. Zur Erklärung physiologischer Vorgänge genüge es, die physikalisch-chemischen Gesetze zu ermitteln, denen der Organismus unterliege. Das sei eine Aufgabe der Naturwissenschaften. Das ist Brückes Überzeugung. Freud übernimmt sie und überträgt sie auf die Psychologie. Im "Abriß der Psychoanalyse" heißt es: Die "Auffassung, das Psychische sei an sich unbewußt, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten. Die Vorgänge, mit denen sie sich beschäftigt, sind an sich ebenso unerkennbar wie die anderer Wissenschaften [...], aber es ist möglich die Gesetze festzustellen, denen sie gehorchen [...]. Es kann dabei nicht ohne neue Annahmen und die Schöpfung neuer Begriffe abgehen, aber diese [...] haben Anspruch auf denselben Annäherungswert wie die entsprechenden intellektuellen Hilfskonstruktionen in anderen Naturwissenschaften" (Freud, 1940a, S. 80 f.).
16
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
"Ich werde Einsicht nehmen in die jahrtausendealten Akten der Natur, vielleicht selbst ihren ewigen Prozeß belauschen und meinen Gewinst mit jedermann teilen, der lernen will", hatte Freud (1969a, S. 116) bereits kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag geschrieben. Jetzt, als Student, arbeitet er am Physiologischen Institut bei Brücke, zunächst fünf Jahre als studentische Hilfskraft und dann, nach der Promotion 1881, noch ein Jahr als Demonstrator. Das ist eine lange Zeit (von 1876 bis 1882), die stets begleitet war von der Hoffnung, er, Freud, könne eines Tages Brückes Assistent und vielleicht sogar dessen Nachfolger werden. Brücke entscheidet anders: Sein Nachfolger wird Sigmund Exner (1846-1926). Und Freud versucht sein Glück andernorts. Noch während seines einjährigen Militärdienstes bewirbt er sich 1880 bei Alexander Rollett für eine Assistentenstelle am Physiologischen Institut der Universität Graz (Bewerbungsschreiben siehe: Hemecker, 1991, S. 141). Als er auch hier keinen Erfolg hat, fasst er zwei Jahre später den Entschluss, Arzt zu werden, anstatt Forscher zu bleiben. Als Arzt wird er dann Psychoanalytiker - und als Psychoanalytiker ist er wieder Forscher. Und so schreibt er, der Siebzigjährige, stolz: "Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht, und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wiedergefunden habe" (Freud, 1927a, S. 290).
4.
Von Wien nach Paris
1882 verlobt sich Sigmund Freud mit Martha Bernays (1861-1951), die er vier Jahre später heiraten und mit der er sechs Kinder bekommen wird: Mathilde (1887-1978), Martin (1889-1967), Oliver (1891-1969), Ernst (1892-1970), Sophie (1893-1920) und Anna (1895-1982), seine jüngste Tochter, die sehr viel später, nach dem Tod ihres Vaters, als Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) sein Erbe verwalten wird. Kurz nach der Verlobung tritt Freud als Aspirant in das Wiener Allgemeine Krankenhaus ein, um hier die praktischen Kenntnisse zu erwerben und damit die Voraussetzungen für die Niederlassung als Arzt zu erfüllen. Er beginnt in der Chirurgie, wechselt aber schon nach wenigen Wochen in die Innere Medizin über, die Hermann Nothnagel (1841-1905) leitet. Dessen "Begriff von ärztlicher Pflichterfüllung war extrem streng. Er bedeutete seinen Studenten, wer mehr als fünf Stunden Schlaf brauche, tauge nicht zum Medizinstudium" (Bemfeld & Cassirer Bemfeld, 1981, S. 163). Freud wird später zehn bis zwölf Stunden am Tag Patien-
4.
Von Wien nach Paris
17
ten analysieren - und danach die Korrespondenz erledigen und die anstehenden wissenschaftlichen Publikationen betreuen. Da bleiben auch nicht mehr als fünf Stunden Schlaf übrig. Im Mai 1883 wird Freud Sekundararzt bei Theodor Meynert (1833-1892), einem der führenden Neuroanatomen der damaligen Zeit. Damit beginnt das knappe halbe Jahr Arbeit in der Psychiatrie. Freud verfasst entsprechende Krankengeschichten, die inzwischen auch publiziert worden sind (Hirschmüller, 1991). Danach ist er für wenige Wochen in der Dermatologie ("Zweite Abteilung für Syphilis") tätig, bevor er im Januar 1884 zur Internistischen Allgemeinstation überwechselt, wo er bis Mitte 1885 bleiben wird. Seit Mai 1883 forscht Freud neben seiner ärztlichen Tätigkeit im Krankenhaus noch zusätzlich in Meynerts himanatomischem Labor. Diese Arbeiten dienen der Vorbereitung der Habilitation, die Meynert gemeinsam mit Nothnagel und Brücke unterstützen wird. In ihrem Antrag an die Habilitationskomrnission heißt es u. a.: "Herr Dr. Freud ist ein Mann von guter Allgemeinbildung, ruhigem ernsten Charakter, ein vortrefflicher Arbeiter auf nervenanatomischem Gebiete, von feiner Geschicklichkeit, klarem Blicke, umfassender Literaturkenntnis und besonnener Schlußweise, [...] seine Vortragsweise ist durchsichtig und sicher" (Gicklhorn & Gicklhorn, 1960, S. 70). Dem Gesuch wird im September 1885 stattgegeben. Jetzt ist Freud "Privatdozenten für Nervenpathologie". Kurz darauf, im Oktober 1885 geht er, ausgestattet mit einem Reisestipendium, für das ihn seine akademischen Lehrer vorgeschlagen haben, nach Paris, um dort an der Klinik Salpetriere hirnanatomische Studien zu betreiben. Hier, im "Mekka der Neurologen" Gones, 1962, I, S. 248), lernt er Jean Martin Charcot (1825-1893), den Direktor der Klinik, kennen, von dem Freud in den kommenden Jahren zwei Bücher (Charcot, 1886 u. 1887/88) ins Deutsche übersetzen wird. Freud ist von Charcot fasziniert. Die "Autorität", mit der er gegen die verbreitete Auffassung angetreten sei, dass hysterische Patienten ihre Symptome nur simulierten, habe den Weg für eine "ernsthafte Beschäftigung" mit dieser Erkrankung überhaupt erst freigemacht, wird er später in einem Nachruf auf Charcot schreiben (Freud, 1893j, S. 30). Charcot ist ein genauer Beobachter der Ausdrucksformen der Gemütsbewegungen, die vor aller Sprache liegen. So öffnet er Freud die Augen für die Mimik und Gestik und die Ohren für das Gestammel der Hysteriker. Freud zieht daraus weit reichende Schlüsse: "Wenn ich einen Menschen in einem Zustande finde, der
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Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
alle Zeichen eines schmerzhaften Affekts an sich trägt, im Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der Schluß nahe, einen seelischen Vorgang in diesem Menschen zu vermuten/ dessen berechtigte Äußerung jene körperlichen Phänomene sind. Der Gesunde wäre dann imstande mitzuteilen, welcher Eindruck ihn peinigt, der Hysterische würde antworten, er wisse es nicht, und das Problem wäre sofort gegeben, woher es komme, daß der Hysterische einem Affekt unterliegt, von dessen Veranlassung er nichts zu wissen behauptet. Hält man nun an seinem Schlusse fest, daß ein entsprechender psychischer Vorgang" auch bei den psychisch Kranken"vorhanden sein müsse", so bleibe als "Lösung" nur die Auffassung, "daß der Kranke sich in einem besonderen Seelenzustande befinde, in dem das Band des Zusammenhangs nicht mehr alle Eindrücke oder Erinnerungen als solche umschlinge, in dem es einer Erinnerung möglich sei, ihren Affekt durch körperliche Phänomene zu äußern, ohne daß die Gruppe der anderen seelischen Vorgänge, das Ich, darum wisse [... l" (Freud, 1893f, S. 30 f.). An dieser These wird Freud bis ans Ende seines Lebens festhalten: das Nichterinnernkönnen ist die Folge des Nichtwissenwollens. Und warum will man von vergangenen traumatischen und (oder) konflikthaften Erlebnissen nichts mehr wissen/ die doch in all den nonverbalen Ausdrucksformen gegenwärtig sind, die man "Symptome" nennt? Weil diese Erinnerungen eben die unlustvollen Affekte mit sich bringen könnten, die dort und damals abgewehrt werden mussten, weil sie anders nicht zu bewältigen waren. Das ist der Sinn der Symptome: sie sprechen - doch ihre Sprache versteht nur der, der die abgewehrten (unlustvollen) Affekte versteht.
5.
Große Hoffnungen - und Enttäuschungen
Noch während er am Wiener Allgemeinen Krankenhaus angestellt ist, beginnt Freud - er ist gerade 28 Jahre alt - sich für das "damals wenig bekannte Alkaloid Kokain" der Firma Merck zu interessieren. Er bestellt die Substanz, um deren"physiologische Wirkungen zu studieren" (Freud, 1925d, S. 38). In der Folge veröffentlicht er eine Reihe von Arbeiten (Freud, 1884e, 1884f, 1885a, 1885b, 1887d - alle enthalten in: Freud, 1996)/ in denen er die euphorisierende und leistungssteigernde Wirkung des Mittels beschreibt. Am Ende der ersten Studie gibt er einen Hinweis auf den möglichen Nutzen des Mittels für die ärztliche Praxis: "Anwendungen, die auf der anästhesierenden Eigenschaft des Cocains beruhen, dürfen sich wohl noch mehrere ergeben" (Freud, 1884e, S. 83; die Seitenangabe folgt dem Neudruck
5.
Große Hoffnungen - und Enttäuschungen
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der Kokain-Studien in: Freud, 1996). Doch dann macht nicht Freud, sondern dessen Kollege, Carl Koller, die entscheidende Entdeckung "der Lokalanästhesie durch Kokain, die für die kleine Chirurgie so wichtig geworden ist" (Freud, 1925d, S. 39). Freud ist enttäuscht - und sucht nach einem anderen großen Wurf. Er glaubt, ihn gefunden zu haben. Da er meint, "daß der Coca eine direkt antagonistische Wirkung gegen das Morphin zukommt" (Freud, 1884e, S. 79), empfiehlt er das Mittel jetzt für die Morphinentziehung Süchtiger, ein Rat, den er bei der Behandlung seines Freundes Ernst von Fleischl auch gleich selbst beherzigt. Die Folgen sind verheerend: Fleisch! ist bald nicht nur morphiumsüchti~sondern auch noch kokainabhängig (Nitzschke, 2007b). Nichtsdestotrotz verschreibt Freud die Substanz Patienten weiterhin als Stimmungsaufheller (Antidepressivum), denn er hat damit selbst einschlägige Erfahrungen gemacht. Als er zum Beispiel bei Charcot zu einem Empfang eingeladen ist, hat er mit "etwas Cocain" seine Nervosität bekämpft, "um das Maul öffnen zu können" (Brief aus Paris an die Braut vom 18. Januar 1886 - Freud, 1960a, S. 199). Jetzt aber sieht er sich heftigen Angriffen ausgesetzt. Albrecht Erlenmeyer (18491926), "zu jener Zeit vielleicht die größte deutsche Autorität auf dem Gebiet des Morphinismus" (Fichtner, Hirschmüller, 1988, S. 121), warnt seine Fachkollegen eindringlich vor den Schäden des Kokaingenusses (Erlenmeyer, 1885, 1886, 1887). Die Kokainsucht sei - neben der Trunksucht und der Morphiumsucht - die dritte Geißel der Menschheit. Freud bemerkt gegenüber einem Kollegen Jahrzehnte später: "Das Studium von Kokain war ein Allotrion, das ich gerne [rechtzeitig - B. N.] beendet hätte" (zit. n. Jones, 1960, I, S. 108). Als Freuds letzte Kokain-Studie (1887d) erscheint, ist er seit einem Jahr als Neuropathologe (Nervenarzt) in Wien niedergelassen. Im Apri11886 lautet seine Praxisanschrift: Rathausstraße 7. Kurz darauf wird er zu einer Wehrübung einberufen. Am 14. September kann er endlich heiraten. Unter der sexuellen Abstinenz, die er sich während der vierjährigen Verlobungszeit auferlegt, hat Freud sehr gelitten. Seiner Braut beschreibt er, was er beim Besuch einer Vorstellung der Oper "Carmen" gedacht hat: "Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen [...]und diese Gewohnheit der ständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. [...] warum betrinken wir uns nicht? Weil uns die Unbehaglichkeit und die Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrin-
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ken Lust schafft [...]. So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuß zu verschaffen [...]" (Freud, 1988, S. 42 f.). Eben dieser Zusammenhang zwischen dem Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip (Freud 1911b) und dem Unbehagen, das mit diesem Fortschritt verbunden ist, wird Freud in seinen psychoanalytischen Schriften später ausführlich beschäftigen - wobei er als Vermittler im Konflikt zwischen dem Es (die Lust sich zu "betrinken") und dem Über-Ich ("die Schande des Katzenjammers") das Ich proklamiert (Freud, 1923b), das wiederum Resultat des gelungenen Fortschritts zur "Kultur" ist. Kultur gewährt Sicherheit, die aber geht auf Kosten des intensiven Erlebens und damit des "Glückes", das die Befriedigung leidenschaftlichen Begehrens gewährt (Freud, 1930a). Carmen muss jung sterben - und Freud wird lebenslang an Martha gebunden sein. Neben seiner Praxistätigkeit arbeitet Freud auch noch als Leiter der neurologischenAbteilung des "Kinder-Krankeninstituts", dem Max Kassowitz (1842-1913), Professor für Kinderheilkunde an der Universität Wien, vorsteht. Bis 1897 kommt er zwei bis drei Mal wöchentlich (unentgeltlich) in die Klinik. Ein "Hauptvorteil" sei, so schreibt er an seine Frau, dass er sich damit einen "Namen als Spezialist" erwerben könne (Freud, 1960a, S. 216). Er publiziert weiterhin neurologische Aufsätze und verfasst noch zwei Bücher, in denen er sich mit traditionell medizinischen Themen beschäftigt: ein Buch über Aphasie (Freud, 1891b) und eins über Kinderlähmung (Freud, 1893b). Ab 1891 praktiziert er in der Berggasse 19. Hier befindet sich heute das Sigmund Freud Museum, eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt Wien. Sein Hauptinteresse gehört jetzt der Psychopathologie, speziell der Hysterie. Aus Paris hatte er an seine Braut geschrieben: "Nach manchen Vorlesungen [bei Charcot - B. N.] gehe ich fort wie aus Notre-Dame, mit neuen Empfindungen vom Vollkommenen" (Freud, 1960a, S. 189). Doch was für Freud neu war, ist für die Zuhörer, die 1886 in Wien seinen Vortrag über männliche Hysterie hören, längst bekannt. Vierzig Jahre später erinnert sich Freud allerdings anders. Er sei damals auf Unglauben gestoßen: "Wie können Sie solchen Unsinn reden! Hysteron (sic!) heißt doch Uterus. Wie kann denn ein Mann hysterisch sein?'" (Freud, 1925d, S. 39). Von der traditionellen Freud-Biographik wird diese Aussage repetiert (z. B. Lohmann, 2006, S. 24), obgleich aus den Berichten (1886/1988) über den Vortrag, die damals in ärztlichen Fachzeitschriften erschienen sind, ersichtlich wird, dass man Freud vorgeworfen hatte, dass er - anders als für einen Vortrag in der renommierten "Gesellschaft der Ärzte" verlangt - nichts Neues mitzuteilen hatte. In Meynerts Klinik
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war wenige Wochen zuvor ein "Fall von Dyschromatopsie bei einem hysterischen Manne" beschrieben worden (Luzenberger, 1886). Und die Hypothese Charcots, dass Hysterie (nicht nur) bei Männern traumatisch verursacht sei, kannte man auchnur zweifelte man, anders als Freud, der sie übernommen hatte, an ihrer Gültigkeit. Auch sonst ist die Situation, in der sich Freud nach der Praxisgründung befindet/ nicht einfach. Er sieht Patienten, die an gravierenden Symptomen leiden (Sprachstörungen, hysterische Lähmungen, Absenzen usw.) - und hat kaum Mittel, die Kranken zu kurieren. "Mein therapeutisches Arsenal umfaßte nur zwei Waffen, die Elektrotherapie und die Hypnose" (Freud, 1925d, S. 39 f.). Freud setzt jetzt alle Hoffnung in die Hypnose, die er bereits vor seiner Reise nach Paris in Wien kennen gelernt und deren Handhabung durch Charcot er bewundert hat. 1889 reist er in "der Absicht, meine hypnotische Technik zu vervollkommnen" (1925d, S. 41)/ ein zweites Mal nach Frankreich, diesmal nach Nancy zu Hippolyte Bemheim (18401919). Freud hat bereits ein Buch von Bernheim (1888) ins Deutsche übersetzt, der, anders als Charcot, hypnotische Zustände nicht als pathologische Sonderphänomene auffasste, sondern als normalpsychologische Phänomene, die auf Suggestion beruhten und bei (fast) allen Menschen hervorzurufen seien. Freud stellt Bernheim eine Patientin vor, die mit nach Nancy gekommen ist. Es ist Anna von Lieben (1847-1900)/ geborene Todesco, die in den "Studien über Hysterie" (Breuer & Freud, 1895) "Cäci1ie M." genannt wird. Sie leidet an einer schweren Hysterie. An den Berliner Arzt Wilhelm Fließ (1858-1928)/ den er in eben dem Jahr (1887) kennen lernt, in dem er mit der Behandlung Anna von Liebens beginnt, und mit dem ihn eine langjährige intensive Freundschaft verbinden wird, schreibt Freud: "Wenn Du Cäcilie M. kenntest, würdest Du keinen Moment zweifeln, daß nur dieses Weib meine Lehrmeisterin gewesen sein kann" (Freud, 1986/ S. 243). Vorerst bekommt es Freud aber mit seinem vormaligem Lehrmeister (und Förderer) Theodor Meynert zu tun/ der den Gebrauch der Hypnose zu Heilzwecken strikt ablehnt. Freud erwidert auf Meynerts Einwände: "Es fällt den meisten Menschen schwer anzunehmen, daß ein Forscher [gemeint ist Meynert - B. N.], der für einige Kapitel der Neuropathologie große Erfahrung erworben und viel Scharfblick bewiesen hat, für andere Probleme [gemeint ist die Neurosenbehandlung - B. N.] jeder Eignung, als Autorität angerufen zu werden, entbehren sollte; und der Respekt vor der Größe, besonders vor der intellektuellen Größe, gehört gewiß zu den besten Eigenschaften der menschlichen Natur. Aber er soll gegen den Respekt vor den Tatsachen zurücktreten" (Freud, 1889a, S. 127). Freud glaubt (zu dieser Zeit also noch) an die tatsäch1i-
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che Heilkraft der Hypnose - bis er eines Tages diesen Glauben verliert. Er habe die Hypnose aus zwei Gründen aufgegeben, wird er später sagen: Zum einen sei es ihm nicht gelungen, jeden Patienten zu hypnotisieren; und zweitens - das war für Freud der wichtigere Grund - könne man die verdrängten (und deshalb bewusst nicht verfügbaren) Erinnerungen in der Hypnose zwar mobilisieren, der Widerstand gegen sie sei nach der Hypnose aber noch immer derselbe wie vor der Hypnose. Die verdrängten Inhalte können dem Betroffenen auf diesem Wege also nicht verfügbar werden. Freud macht auch aus dieser Not eine Tugend. Er ersetzte die Hypnose durch die Methode der freien Assoziation. Und so kann der Patient nun, während er entspannt auf der Couch liegt, die Erinnerungen an die Kindheit bewusst verfolgen - und wenn er dann noch bereit ist, den Widerstand zu überwinden, den die aktivierten unIustvollen Affekte hervorrufen, die seinerzeit die Verdrängung in Gang gesetzt haben, können Kognitionen und Emotionen endlich in die seelische Organisation ("Ich" genannt) integriert werden, anstatt weiterhin voneinander abgespalten und ins Schattemeich verbannt zu bleiben. Es gab aber noch einen entscheidenden Zwischenschritt auf dem Weg von der Hypnotherapie zum psychoanalytischen Standardverfahren: Das war die "kathartische" - das heißt: eine die Seele reinigende - Behandlungsmethode, die Josef Breuer (1842-1925), Freuds väterlicher Freund und Mentor, bei einer Patientin angewandt (bzw. entdeckt) hatte, zu der er als Hausarzt gerufen worden war. Gemeint ist Berta Pappenheim (1859-1936), die in den "Studien über Hysterie" (Breuer & Freud, 1895) unter dem Pseudonym "Anna 0." vorgestellt wird. Sie war eine Freundin von Martha Bernays, Freuds Verlobter. Freud ist noch Student, als diese Behandlung durchgeführt wird - und erfährt erst Jahre später von Breuer genauere Einzelheiten: Demnach geriet die Patientin wiederholt in veränderte Bewusstseinszustände, in denen sie einzelne Worte murmelte, die keiner verstand, und die deshalb auch niemand ernst nahm - außer Breuer. Wenn er die Patientin danach in Hypnose versetzte, wiederholte er diese Worte, und die Patientin erzählte dazu eine passende Geschichte. "Es waren tieftraurige, oft poetisch schöne Phantasien", in denen die Patientin Inhalte reproduzierte, "die sie während der Absenzen beherrscht und sich in jenen vereinzelt geäußerten Worten verraten hatten" (Freud, 191Oa, S. 7). Hatte sie die so reproduzierten Erlebnisse affektiv abreagiert, kam die Patientin zur Ruhe. Die "hysterischen Phänomene [...] verschwanden, sobald in der Hypnose das Ereignis reproduziert war, welches das Symptom veranIaßt hatte" (Breuer & Freud, 1895, S. 55). An die Stelle dieses "Abreagierens" der Affekte
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wird im psychoanalytischen Standardverfahren das "Durcharbeiten" der Mfekte treten; und die Erzählung wird dann nicht nur einen, sondern zwei Autoren haben: den Analysanden und den Analytiker, dessen Deutungen helfen werden, die Leidens- und Lebensgeschichte sinnvoll zu strukturieren.
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"Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing [so unten - B. N.] die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili [= eine Quelle des Nils; die Nilquellen wurden damals gerade entdeckt - B. N.] aufgezeigt hat." Das schreibt Freud (1986, S. 193) entrüstet an seinen Freud Wilhelm Fließ, nachdem er im April 1896 - wie er es erinnert - bei den Wiener Ärzten abermals auf Unglauben gestoßen ist. Freud hatte ihnen das Geheimnis der Hysterie erklärt - und keiner wollte ihm glauben! Doch - was wollte man ihm nicht glauben? Er hatte eine Gesetzesaussage formuliert. In der schriftlichen Vortragsfassung liest sie sich so: "Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich - durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles - ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropathologie [... 1" (Freud, 1896c, S. 439). In diesem Passus kommt es auf ein Wort an: zugrunde jedes Falles von Hysterie eines Erwachsenen sollte sich in dessen Kindheit ein Missbrauch - "Reizungen der Genitalien, koitusähnliche Handlungen usw." (1896c, S. 443) - aufzeigen lassen. Freud hatte dafür jedoch keinen Beweis nach einer empirisch anerkannten Methode erbracht, sich vielmehr auf das von ihm entwickelte Verfahren - "die analytische Arbeit" - berufen. Und es sollte auch nicht lange dauern, bis er die vermeintliche Gesetzmäßigkeit selbst wieder infrage stellte - und die Hoffnung aufgab, als großer Entdecker gefeiert zu werden: "Die Erwartung des ewigen Nachruhms war so schön und des sicheren Reichtums, die volle Unabhängigkeit, das Reisen, die Hebung der Kinder über die schweren Sorgen, die mich um meine Jugend gebracht haben. Das hing alles daran, ob die Hysterie aufgeht oder nicht" (Freud, 1986, S. 285). Und wieder machte Freud aus der Not eine Tugend. Er hatte in seinem Vortrag ja bereits ausgeführt, dass die Entstehung einer Hysterie (allgemeiner gespro-
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chen: einer Psychoneurose) nicht vom Missbrauch als solchem, dem realen Trauma als Ereignis, sondern vielmehr vom psychischen Trauma, dem Erlebnis und den damit verbundenen weiteren Konflikten abhängt. Werden diese Konflikte nicht gelöst, kann das Erlebnis nicht bewältigt und integriert werden. Statt dessen wird es abgewehrt, und damit wird der Weg einer neurotischen Weiterverarbeitung geöffnet, an dessen Ende das Symptom als Erinnerungssymbol steht, dessen Sinn wieder zu entschlüsseln wäre, damit das Erlebnis erinnert, verstanden und nachträglich in adäquater Weise verarbeitet (in die psychische Struktur integriert) werden kann. "Sie ersehen daraus, daß es auf die Existenz der infantilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt, sondern daß eine psychologische Bedingung noch dabei ist. Diese Szenen müssen als unbewußte Erinnerungen vorhanden sein; nur solange und insofern sie unbewußt sind, können sie hysterische Symptome erzeugen und unterhalten", hatte Freud (1896c, S. 448) seinen Zuhörern erklärt. Jetzt nimmt er die Gesetzesaussage zurück, der zufolge das Ausgangsereignis für die Entwicklung einer Hysterie immer ein real stattgefundener Missbrauch sein musste - und lässt auch andere Ereignisse gelten. Diese in der Literatur so genannte "Aufgabe der Verführungstheorie" bedeutet also keineswegs, wie spätere Kritiker (z. B. Masson, 1986) behauptet haben, dass Freud das Vorkommen realen Missbrauchs von Kindern durch Erwachsene hinfort bestritten hätte (das Gegenteil ist der Fall: s. Nitzschke, 1997). Freud ließ nun aber auch Phantasien als Ausgangspunkt innerseelischer Konflikte und der sich daran anschließenden neurotischen Entwicklung gelten. Mit anderen Worten: In der Außenwelt musste nicht notwendig ein handgreifliches Realereignis stattgefunden haben. Denn in der Innenwelt geschieht ja oft gerade dann Dramatisches, wenn in der Außenwelt nichts geschehen ist, sprich: wenn dort wichtige Wünsche nicht erfüllt worden sind. Das war der entscheidende Erkenntnisfortschritt - und das ist auch der Kern der Sexualtheorie Freuds: Psychische Erkrankung ist eine - wenn auch nicht die einzige - Möglichkeit, auf unerfüllte infantile Triebwünsche zu reagieren. Das gilt für die Wünsche, die in der frühen Beziehung zur Mutter auftreten (in der "präödipalen" Zeit), das gilt aber auch für die Wünsche, die sich im Zusammenhang mit der Geschlechter- und Generationendifferenzierung - Stichwort: "Ödipuskomplex [...] als der Kern der Neurose" (Freud, 1925d, S. 82) - später einstellen, auf die sich Freud vor allem deshalb konzentriert hat, weil die Erinnerungen daran durch das Sprachgedächtnis leichter zu rekonstruieren sind, während die Erinnerungen an die erste Lebenszeit überwiegend im nonverbalen Erfahrungs-
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schatz (sprich: im Körper) verankert sind und deshalb zunächst nicht sprachlich dargestellt, sondern nur gestisch-mimisch und "agierend" zum Ausdruck gebracht werden können. Freud hat Phantasien als Abkömmlinge verdeckter infantiler Wünsche verstanden, die neben einer Trieb- immer auch eine Beziehungsdimension auszeichnet. Und deshalb sind Missbrauch, Verführung und Deprivation nicht nur als handgreifliche, sondern auch als emotionale Ereignisse möglich. Wenngleich sie dann kognitiv und sprachlich schwerer zu fassen sind, hinterlassen sie doch auch in diesen Fällen drängende Wünsche, die nachträglich erfüllt werden sollen. "Es scheint mir, als ob mit der Theorie der Wunscherfüllung nur die psychologische Lösung gegeben wäre, nicht die biologische, oder besser, metapsychologische. (Ich werde Dich [Fließ - B. N.] übrigens ernsthaft fragen, ob ich für meine hinter das Bewußtsein führende Psychologie den Namen Metapsychologie gebrauchen darf.) Biologisch scheint mir das Traumleben durchwegs von den Resten der prähistorischen Lebenszeit (1-3 Jahre) auszugehen, derselben Zeit, welche die Quelle des Unbewußten ist und die Ätiologie aller Psychoneurosen allein erhält, der Zeit, für welche normalerweise eine der Hysterie analoge Amnesie besteht", heißt es in einem Brief Freuds (1986, S. 329 f.) an Fließ, aus dem ersichtlich wird, wie sehr ihm an einer naturwissenschaftlichen (biologisch-physiologischen) Grundlegung der Psychologie gelegen ist. Auf der Rückreise von einem Besuch bei Fließ beginnt er denn auch, den (erst posthum veröffentlichten) "Entwurf einer Psychologie" (1950c [1895]) niederzuschreiben. Im selben Jahr veröffentlicht Freud gemeinsam mit Breuer die "Studien über Hysterie" (1895), zu denen er vier Krankengeschichten und ein Kapitel über die Psychotherapie der Hysterie beiträgt. Ein Jahr zuvor hatte Sigmund Exner, der Nachfolger Brückes auf dem Lehrstuhl für Physiologie, den "Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen" (1894) publiziert. Das ist jetzt auch Freuds Anliegen: Er will den "Boden" finden, "auf dem ich aufhören kann, psychologisch zu erklären, und beginnen, physiologisch zu stützen" (1986, S. 204). Dabei soll ihm Fließ helfen, in dem Freud (1986, S. 350) den "Kepler der Biologie" verehrt, womit er auf den Astronomen Johannes Kepler (1571-1630) anspielt, der die Gesetze der Planetenbewegung formuliert hatte. Später wird sich Freud selbst zu den das Welt- und Menschenbild umstürzenden Entdeckern zählen. Die Reihenfolge lautet dann: Kopernikus - Darwin - Freud (1917a, S. 7 ff.). Freud will nun gemeinsam mit Fließ ein Projekt ausarbeiten, das er - nach dem Bruch der
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Freundschaft 1903/04 - dann aber doch alleine fertig stellen muss. Es erscheint unter dem Titel "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (Freud, 1905d). Darin spielt die Biologie der Sexualität, die auf Fließ zurückgeht (Sulloway, 1982), noch immer eine große Rolle, wenngleich in der verwandelten Gestalt der Libidotheorie und Metapsychologie. Freuds Zustand während der Zeit des Umbruchs hat Ellenberger als "schöpferische Krankheit" (1973, I, S. 613) gekennzeichnet. Freud schreibt im August 1897: "Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst" (1986, S. 281). Daher spricht er jetzt von seiner "Selbstanalyse" (1986, S. 281) - und schränkt kurz darauf schon wieder ein: ,,[...] eigentliche Selbstanalyse ist unmöglich" (1986, S. 305). Fließ ist als Dialogpartner weiterhin unentbehrlich. Zwei Jahre später heißt es an Fließ gewandt: "Glaubst Du eigentlich, daß an dem Haus dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird:? ,Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.''' (Freud, 1986, S. 458). Gemeint ist der Traum von Irmas Injektion, an dem in der"Traumdeutung" (1900a, S. 110-126) die Deutungstechnik und die Theorie der Wunscherfüllung erläutert werden. Freud hatte diesen Traum auf Schloss Bellevue, damals ein Kurhotel. Das Gebäude ist mittlerweile abgerissen worden. Heute findet man an dieser Stelle eine Bronzetafel, auf der jener Satz steht, von dem Freud hoffte, er könne dereinst "auf einer Marmortafel" zu lesen sein.
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Ein Ziel ist erreicht
1897 schlagen Hermann Nothnagel und Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), dessen "Psychopathia sexualis" (1886) als Grundlage der modernen Sexualpathologie gilt, Freud für die Ernennung zum "a. o. Professor der Neuropathologie" vor. Im Bericht an das Ministerium heißt es, Freud habe "seit seiner Habilitierung 21 kleinere Arbeiten und 5 selbständige Werke" vorgelegt und sei seiner Lehrtätigkeit mit Sorgfalt nachgegangen; zuerst las er "über Gehirnanatomie [...], dann über Nervenkrankheiten des Kindes, dann über ausgewählte Kapitel der Neuropathologie [... und] in den letzten Jahren: über die grossen Neurosen". Man halte ihn deshalb "für besonders würdig" ernannt zu werden (zit. n. Gicklhorn & Gickelhorn, 1960, S. 97 f.). Doch dann dauert es fünf Jahre, bis der Unterrichtsminister endlich zustimmt. Und es hätte wahrscheinlich noch etwas länger gedauert, wären nicht zwei promi-
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nente Patientinnen Freuds im Ministerium vorstellig geworden: Elise Gomperz, die Frau des Hofrats Gomperz, für den Freud als Student Schriften John Stuart Mills übersetzt hatte, und Baronin Marie von Ferstel, die ihrem Anliegen mit der Stiftung eines Gemäldes für ein Museum noch etwas Nachdruck verlieh. Es ist viel darüber spekuliert worden, warum Freud nach der Ernennung zum Privatdozenten 17 Jahre warten musste, bis er zum "ausserordentlichen Universitätsprofessor" ernannt wurde. Tatsächlich war die Wartezeit zwischen Habilitation und der nächsten Beförderungsstufe für jüdische Dozenten damals signifikant länger als für nicht-jüdische (Hubenstorf, 1988). Dennoch meint Kurt E. Eissler, langjähriger Sekretär der New Yorker Sigmund Freud Archives, antisemitische Gründe hätten in diesem Fall nicht die entscheidende Rolle gespielt, vielmehr habe "ein konservatives Mitglied des Parlaments" beim Unterrichtsminister "die Professur des anstößigen Dozenten" hintertrieben (1974, S. 111). Das ist eine durchaus realistische Vermutung. Man denke an die Kokain-Episode oder an Freuds Einstellung zur Sexualität, die inzwischen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist und keineswegs allgemeine Zustimmung findet. Wien ist prüde und lüstern zugleich - und huldigt einer Doppelmoral, die in Freuds Beschreibung der "allgemeine[n] Erniedrigung des Liebeslebens" (1912d) ihre tiefere Begründung findet. Und so liest man just in dem Jahr, in dem Freud ernannt wird, in der "Wiener Zeitung" diese harsche Anklage gegen die "obszöne Kunst" Gustav Klimts: "Was soll man denn zu dieser gemalten Pornographie sagen? [...] Für ein unterirdisches Lokal, in dem heidnische Orgien gefeiert werden, mögen diese Malereien passen, für Säle [Klimt hat einen der Säle der Beethoven-Ausstellung 1902 in Wien ausgemalt - B.N.], zu deren Besichtigung die Künstler ehrsame Frauen und junge Mädchen einzuladen sich erkühnen, sicher nicht" (zit. n. Dienes, 2010, S. 241). Das macht Freud auch: Er führt Patienten durch unterirdische Lokale, in denen heidnische Orgien gefeiert werden, wenngleich er diese Stätten des Unbewussten nicht selbst ausschmückt. Das machen ehrsame Frauen wie "Cäcilie M.", junge Mädchen wie "Dora" (Freud, 1905e) oder Männer wie der "Rattenmann" (Freud, 1909d) und der"Wolfsmann" (Freud, 1918b) in ihren Träumen und Tagtraumphantasien selbst. Trotz aller Widerstände ist es am 5. März 1902 dann aber endlich soweit: Kaiser Franz Josef unterzeichnet die Ernennungsurkunde und Freud ist "außerordentlicher Professor" (und im Dezember 1919 wird ihm dann sogar noch der Titel, wenngleich nicht die bezahlte Stelle, eines "ordentlichen Professors" der Universität Wien zugestanden).
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Ironisch schreibt Freud an Fließ: "Es regnet auch jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Sr. Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgegangen"(1986, S. 501). Und so nimmt er denn gemeinsam mit Oberbau-, Regierungs- und anderen Räten an einer Audienz beim Kaiser teil, um sich zu bedanken (Gicklhorn & Gicklhorn, 1960, S.127). Das Ziel ist erreicht: Freud ist die akademische Ehre zuteil geworden, auf die er solange gewartet hatte. Damit geht nun aber auch die "heroische Zeit" der "splendid isolation" (Freud, 1914d, S. 60) zu Ende, wie Freud den Lebensabschnitt im Rückblick nennt, in dem er sich von aller Welt unverstanden fühlte: "Durch mehr als ein Jahrzehnt [...] hatte ich keine Anhänger. Ich stand völlig isoliert. In Wien wurde ich gemieden, das Ausland nahm von mir keine Notiz" (1925d, S. 74). Zwischen 1895 und 1905 hat Freud eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht, in denen er die aus der Hypnose und der Katharsis entwickelte Therapiemethode vorstellt und erstmals - zunächst französisch (Freud, 18900, S. 418) und kurz darauf deutsch (1896b, S. 379) - bei ihrem neuen Namen nennt: "Psychoanalyse". Außerdem erscheinen in dieser Dekade fünf Bücher, grundlegende Schriften über die Hysterie (1895d), den Traum (1900a), die Fehlleistungen des Alltagslebens (1901b), zu denen die "Freudschen Versprecher" gehören, den Witz (1905e) und die Sexualität (1905d). Ab 1902 treffen sich, wie zu Beginn dieser Einleitung erwähnt, dann die ersten Anhänger in Freuds Praxis, um mit ihm die "Wissenschaft vom Unbewußt-Seelischen" zu studieren, wie die Psychoanalyse von Freud (1925d, S. 96) genannt wird, der 1906 von ihnen zum 50. Geburtstag eine Medaille erhält, die auf der Vorderseite sein Portrait und auf der Rückseite König Ödipus und die Sphinx zeigt. Daneben steht in griechischer Schrift der Satz: "Der das berühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war!" Damit habe sich, so soll Freud gesagt haben, eine Phantasie erfüllt, die er als Student hatte: dass dereinst in den Arkaden der Wiener Universität seine Büste und darunter eben die Worte stehen würden, die jetzt auf der Medaille eingraviert seien Gones, 1962,11, S. 27).
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Das "wilde Heer" formiert sich
Auf die Frage, wer damals zu den Psychoanalytikern gehörte, gibt es eine einfache Antwort: Jeder, der sich dazu rechnete. Und so findet man im Kreis um Freud
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(Roazen, 1976) nicht nur Ärzte, die eine neue Behandlungsmethode erlernen wollen, sondern auch "Sonderlinge, Träumer, Sensitive" (Fallend, 1995) wie Herbert Silberer (1882-1923), die mehr an einer Selbstanalyse interessiert sind (Nitzschke, 1988). Zu den so genannten "Laien" (sprich: Nicht-Medizinern) gehören Hugo Heller (1870-1923), in dessen Verlag später Freuds Schriften erscheinen werden, und der Musikwissenschaftler Max Graf (1875-1958), dessen Sohn später als der "kleine Hans" in einer Krankengeschichte Freuds (1909b) auftaucht. Und "ein absolvierter Gewerbeschüler" (Freud, 1914d, S. 63) wird auch in die "Psychologische Mittwoch-Gesellschaft bei Professor Freud" aufgenommen: Otto Rank (1884-1939). Er wird erster Sekretär der (ab 1910 so genannten) "Wiener Psychoanalytische Vereinigung" und fertigt von deren Sitzungen die "Protokolle" an, die inzwischen in vier Bänden vorliegen (Nunberg & Federn, 1976-1981). Nach Ranks Einberufung zum Militärdienst übernimmt der Literaturwissenschaftler Theodor Reik (1888-1969) diese Aufgabe, der in den 1920er Jahren als "Laie" (sprich: Nicht-Mediziner) Patienten psychoanalytisch behandelt und deshalb wegen "Kurpfuscherei" angeklagt wird. Freud verteidigt daraufhin die "Laienanalyse" und die Psychoanalyse im umfassenden Sinn: "Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde [...]. Als ,Tiefenpsychologie', Lehre vom seelisch Unbewußten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen. [...] Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dies Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt" (1926e, S. 283 f.). Die Frage, wer sich denn nun zu Recht als Psychoanalytiker bezeichnen dürfe, wird in den 1920er Jahren neu beantwortet: Von nun an sind die an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten geltenden Standards zu erfüllen, die u. a. eine Lehranalyse vorschreiben. Wenige Jahre zuvor, 1917, hatte Freud noch weniger strenge Voraussetzungen angeführt, als er an Georg Groddeck (1866-1934) schrieb: "Wer erkennt, daß Übertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind, der gehört nun einmal rettungslos zum wilden Heer" (Freud & Groddeck, 1988, S. 14). Groddeck, der als Begründer der Psychosomatik gilt (Will, 1984), war
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ein besonders ungestümer Anhänger Freuds, der seine Abneigung gegen die Einführung der Lehranalyse drastisch zum Ausdruck brachte: "Wenn die psychoanalytische Vereinigung ihre Bedeutung behalten will [...], muß sie es aufgeben, nach Art des Tridentiner Konzils oder der Augsburger Konfession Glaubenssätze aufzustellen [...]" (Groddeck, 1966, S. 150). Dennoch tolerierte Freud Groddeck genauso wie den braven Oskar Pfister (1873-1956), den Pastor aus der Schweiz, dem er "ganz nebenbei" die scheinbar harmlose Frage stellte, warum "von all den Frommen [keiner] die Psychoanalyse geschaffen [habe], warum mußte man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?" (Freud & Pfister, 1963, S. 64). Als sich 1906 ein anderer Schweizer, Carl Gustav Jung, erstmals brieflich an Freud wendet, sieht der die Chance gekommen, dass die Psychoanalyse nun endlich den Weg aus der privaten Praxis in den öffentlichen Raum finden wird. Denn Jung ist Assistent an der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli bei Eugen Bleuler (1857-1939), der als einer der führenden Psychiater seiner Zeit gilt. Kurze Zeit später wird Bleuler (1911) den Begriff "Schiwphrenie" prägen. "Ich habe die großen Verdienste der Züricher psychiatrischen Schule um die Ausbreitung der Psychoanalyse [...] wiederholt dankend anerkannt", schreibt Freud (1914d, S. 65). Mit Jung reist er 1909 in die USA, wo beide an der Gründungsfeier der Clark University teilnehmen - ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der Psychoanalyse in der akademischen Welt. 1910 wird die "Internationale Psychoanalytische Vereinigung" gegründet - und C. G. Jung wird ihr erster Präsident. Damit erfüllt sich ein Wunsch, den Freud zwei Jahre zuvor in einem Brief an Jung so formuliert hat: Jung sollte der "Fortsetzer und Vollender meiner Arbeit" werden, weil er "als starke, unabhängige Persönlichkeit, als Germane, [...] leichter die Sympathien der Mitwelt" erhalten könne "als irgend ein anderer, den ich kenne" (Freud & Jung, 1974, S. 186). Im Klartext heißt das, Jungs "Auftreten" sollte die Psychoanalyse "der Gefahr" entziehen, als "eine jüdisch nationale Angelegenheit" betrachtet zu werden und damit antisemitischen Vorurteilen zum Opfer zu fallen (Freud, Abraham, 2009, S. 107). Es folgt ein Jahrzehnt, in dem die Institutionalisierung der Psychoanalyse, die mit Jung beginnt - und trotz des späteren Zerwürfnisses mit Jung, das 1914 zu dessen Ausscheiden aus der psychoanalytischen "Bewegung" führt -, in großen Schritten vorangeht: 1909 erscheint die erste Ausgabe des von Bleuler und Freud herausgegebenen und von Jung redigierten "Jahrbuch[s] für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen". 1910 wird das "Zentralblatt für Psycho-
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analyse" gegründet, das von Stekel redigiert und nach dessen Ausscheiden 1913 von der "Internationale[n] Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse" abgelöst wird. Zudem erscheint ab 1912 "Imago - Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften". Und hatte der 1. Internationale Psychoanalytische Kongress 1908 in Salzburg noch als privates Treffen gegolten (Freud & Abraham, 2009, S. 106), so erhält die Psychoanalyse am Ende des 1. Weltkriegs sogar staatliche Anerkennung: im September 1918 nehmen Regierungsvertreter aus ÖsterreichUngarn und dem deutschen Kaiserreich, die sich für die Therapie der so genannten Kriegsneurosen interessieren, am 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest teil. Doch dann ist Ruhe an allen Fronten - und Freud schreibt an Ferenczi: "Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt. Kaum daß sie von den Kriegsneurosen aus die Welt zu interessieren beginnt, nimmt der Krieg ein Ende [...]" (Freud & Ferenczi, 1996, S. 187). Es gibt aber auch noch Glück im Unglückund so kann 1919 dank einer Spende, die ein reicher ungarischer Bierbrauer, Anton von Freund, macht, der "Internationale Psychoanalytische Verlag" gegründet werden, in dem Freuds Werke und die Schriften seiner Anhänger hinfort erscheinen.
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Krankheit, später Ruhm und Tod
Im April 1923 unterzieht sich Freud einer ambulanten Gaumenoperation, um, wie er damals noch glaubt, eine schmerzhafte, aber nicht lebensgefährliche Geschwulst entfernen zu lassen. Kurz darauf stirbt sein vierjähriger Enkel Heinz Rudolf an Militartuberkulose. Dessen Mutter, Freuds Tochter Sophie, ist drei Jahre zuvor der Spanischen Grippe erlegen. Jetzt schreibt Freud angesichts des neuen Verlustes, "ich glaube, ich habe nie Schwereres erlebt, vielleicht wirkt die Erschütterung durch meine eigene Erkrankung mit" (1960a, S. 362). Im September 1923 erfährt er dann die ganze Wahrheit über seine eigene Erkrankung: Er leidet unter Gaumenkrebs. Freud muss sich einer zweiten Operation unterziehen, der in den kommenden Jahren über dreißig weitere Eingriffe folgen werden. Dabei wird ein Teil des Oberkiefers entfernt. Freud trägt jetzt eine Prothese im Mund, also an der Stelle seines Körpers, die für ihn von zentraler Bedeutung ist. Es gehe "nichts anderes" zwischen Arzt und Patient vor, "als daß sie miteinander reden", schreibt er (1926e, S. 213) - und kann sich nur noch unter großen Mühen artikulieren. Schmerzen sind Freud vertraut. Zeitlebens leidet er an Kopfschmerzen (Migräne) und an Magen-Darm-Beschwerden. Vom Rauchen, das jetzt zum Mundkrebs
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Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
geführt hat, riet ihm vor langer Zeit schon Fließ ab, der das Rauchen als Ursache von Freuds damaligen Herzbeschwerden angenommen hatte. Trotz mehrfacher Versuche konnte Freud seine Nikotinsucht nicht überwinden. Es handle sich um einen "Ersatz" der "Ursucht" (Freud, 1986, S. 312), womit er die infantile Masturbation meinte, schrieb er an Fließ. Und selbst jetzt, nach wiederholten Operationen im Mundbereich, kann Freud das Rauchen nicht lassen. "Ich begann mit 24 Jahren zu rauchen [1880 - möglicherweise während des Militärdienstes? - B. N.], rauche auch noch heute (72 lh J.) und schränke mich in diesem Genuß sehr ungern ein", schreibt er sechs Jahre nach der ersten Kieferoperation an Richard Rubens (zit. n. Schur, 1973, S. 81 f.). Freud war nicht nur leidenschaftlicher Raucher; er war auch leidenschaftlicher Leser. Als armer Student hat er sich wegen des Kaufs von Büchern verschuldet. Am Ende seines Lebens besitzt er dann eine Bibliothek von mehreren Tausend Bänden (Fichtner, 2006), ein Viertel davon sind Schriften über "Kultur" (Archäologie, Religion etc.). Das Sammeln antiker Fundstücke, vorzugsweise ägyptischer, griechischer und römischer Herkunft (Marinelli, 1998), ist Freuds dritte Leidenschaft. Im Laufe der Zeit erwirbt er etwa 2000 Figuren, Gemmen und Scherben, wobei ihm das Reisen - seine vierte Leidenschaft - sehr hilft. Denn auf Reisen macht Freud "großartige Antiquitäteneinkäufe" (Freud, 2002, S. 236), wie er aus Rom an die Familie in Wien schreibt. Das ist seine fünfte große Leidenschaft: das Schreiben von schätzungsweise 20.000 Briefen (Fichtner, 1989), ein Umfang, der sein wissenschaftliches Werk übertrifft. Die Arbeit setzt Freud wegen seiner Krebserkrankung nur noch in eingeschränkter Form fort. Er zieht sich von den organisatorischen Aufgaben in den psychoanalytischen Institutionen zurück, die seine Tochter Anna übernimmt; und er fehlt beim 7. Internationalen Psychoanalytischen Kongress, der 1924 in Salzburg stattfindet. Dessen Teilnehmer haben in einem Privatdruck in Gestalt liebevoll und doch prägnant gezeichneter Karikaturen überlebt (Neuauflage: Lück & Mühlleitner, 1993). Freud wird auch an keinem späteren Kongress mehr teilnehmen. Aber er verfasst weiterhin wegweisende Schriften - zum Beispiel über die religiösen Illusionen, die Erlösung im Jenseits versprechen und die Erlösung im Diesseits blockieren, weshalb sie überwunden werden sollten (Freud, 1927c, 1930a). In diesem Sinn äußert sich Freud auch gegenüber Albert Einstein, der 1932 vom Völkerbund aufgefordert wird, einen prominenten Denker auszuwählen, um mit ihm über ein frei bestimmtes Thema zu diskutieren.
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Der Begründer der Relativitätstheorie wählt den Begründer der Psychoanalyse und stellt ihm die Frage: "Warum Krieg?" Die Grundüberzeugung, die sein gesamtes Werk durchdringt, ist der Ausgangspunkt von Freuds Antwort: Der Fortschritt der "Kultur" ist an die zunehmende Beherrschung der Trieb-Natur gebunden. Davon hängt das Überleben der Menschheit ab. Und deshalb arbeitet "alles, was die Kulturentwicklung fördert, [...] auch gegen den Krieg". Denn die Bereitschaft zum Krieg ist in der Trieb-Natur verankert. Freud spricht in diesem Zusammenhang vom Destruktions- oder gar vom Todestrieb. Er fordert die pazifizierung dieser Natur - und bekennt sich zum Pazifismus. Die "affektive Ablehnung" des Krieges sei "bei uns Pazifisten" - womit er sich und Einstein meint - bereits vorhanden. Doch: "Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden?" (Freud, 1933b, S. 26 f.). Einsteins Wahl zeigt, dass Freud spätestens jetzt ein von vielen geachteter Wissenschaftler ist. Das war nicht immer so. Freud hatte heftige Ablehnung und persönliche Verunglimpfungen zu ertragen. Das folgende Beispiel steht für solche Angriffe; es offenbart den Kern der Entrüstung: "Freudianer! [...] Zieht nicht unsere heiligsten Gefühle, unsere Liebe und Verehrung zu unsern Eltern, die uns beglückende Liebe unsrer Kinder in den Schmutz Eurer Phantasien hinab durch die fortwährende Unterschiebung widerlicher sexueller Motive!" Dieser Appell erschien 1910 im "Neurologischen Centralblatt" (Herv. im Original- zit. n. Köhler, 1996, S. 94). Eben diesen - in Variationen immer wieder neu vorgebrachten - Vorwurf hat Alfred Döblin, einer der Kuratoren, die 1930 Freud für den Goethepreis der Stadt Frankfurt vorschlagen, aufgegriffen - und in Lob verwandelt: Freud habe den "Lemuren", die in Träumen und Phantasien erscheinen, endlich "Gestalten und Namen" gegeben. "Dieses Namengeben scheint mir, hat die Menschheit, die Sprache bereichert" (zit. n. Plänkers, 1993, S. 169). Zum 80. Geburtstag erhält Freud Gratulationen aus aller Welt. Thomas Mann kommt am 6. Mai 1936 eigens nach Wien, um hier das von ihm verfasste Glückwunschschreiben zu verlesen, das knapp zweihundert Schriftsteller und Künstler unterzeichnet haben (u. a. Virginia Woolf, Stefan Zweig, Knut Hamsun, James Joyce, Robert Musil, Franz Werfel, Paul Klee und Pablo Picasso). Freud wird darin als "ein ganz auf sich gestellter Geist" vorgestellt, der "seinen Weg gegangen und zu Wahrheiten vorgestoßen [ist], die deshalb gefährlich erschienen, weil sie ängstlich Verdecktes enthüllten und Dunkelheiten durchleuchteten" (Mann, 1936, S. 65).
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Zwei Jahre später muss Freud die Stadt verlassen, in der er fast achtzig Jahre gelebt hat. Am 11. März 1938 notiert er in seinem - "Kürzeste Chronik" genannten - Tagebuch: "Finis Austriae". Österreich existiert nicht mehr. Am 14. März 1938 lautet der Eintrag: "Hitler in Wien" (Freud, 1992i, S. 270). Freud emigriert nach England, wo er in London, 20 Maresfield Gardens (heute ein Freud-Museum), sein letztes Lebensjahr verbringt. Am 23. September 1939/ drei Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, stirbt Freud von unerträglichen Schmerzen erlöst durch eine Überdosis Morphium, die ihm sein Arzt/ Max Schur (1897-1969)/ injiziert hat. Eine griechische Vase aus seiner Antikensammlung enthält Freuds Asche. In dieser Urne wird später auch die Asche der Frau aufgenommen/ mit der er 53 Jahre verheiratet war: Martha Freud. Sie stirbt zwölf Jahre später. Auf die Frage eines Journalisten, ob er Pessimist sei, hat Freud mit Anspielung auf den Schlusssatz in Voltaires Roman Candide geantwortet: "Nein, ich bin kein Pessimist, denn ich habe meine Kinder, meine Frau und meine Blumen" (Viereck/ 1927 - zit. n. Tichy & Zwettler-Otte, 1999/ S. 127). Die letzten Worte im Krematorium Golder's Green in London hat denn auch ein Dichter gesprochen. Stefan Zweig sagte: "Dank für die Welten, die Du uns erschlossen und die wir jetzt allein ohne Führung durchwandein, immer Dir treu/ immer Deiner in Ehrfurcht gedenkend, Du kostbarster Freund, Du geliebtester Meister/ Sigmund Freud" (Zweig, 1939/ S. 252).
10. Was bleibt? Was kommt? Freud hat sich in seiner Jugend und im Alter mit zwei - auf den ersten Blick - sehr unterschiedlichen Männern identifiziert. Hannibal, ein Feldherr und Eroberer, war der "Lieblingsheld meiner Gymnasialjahre" (Freud, 1900a, S. 202). Der Mann Moses, mit dem sich Freud (1939a) in seiner letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeit noch einmal eingehend auseinandergesetzt hat/ war ein Religionsstifter, ein Führer. An Hannibal bewunderte Freud den Mut, den er selbst benötigte, um einen unbekannten Kontinent - "Dieses wahre innere Afrika" (Lütkehaus, 1989) - zu erforschen und dabei lieb gewonnene Vorstellungen in Frage zu stellen: "Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ,kompakten Majorität' zu verzichten" (Freud, 1960a, S. 381 f.). Und an Moses bewunderte Freud "die höchste psy-
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chische Leistung, die einem Menschen möglich ist: das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrag einer Bestimmung, der man sich geweiht hat" (1914b, S. 198). Diese "psychische Leistung" setzt die Entwicklung innerer Strukturen voraus, die sich im Verlauf des Prozesses bilden, der mit der Modifikation der Natur der Trieb-Wünsche - in Freuds Worten: mit dem "Niederringen der eigenen Leidenschaften" - einhergeht. Das ist der Fortschritt zur Kultur. Das ist Freuds Bildungsideal. Es liegt seiner Auffassung von psychischer Erkrankung als Resultat von Entwicklungshemmungen ebenso zugrunde wie seiner Therapiekonzeption, die auf die Nachentwicklung innerer Strukturen im Kontext einer therapeutischen - das heißt: einer bei der nachträglichen Bewältigung von Traumata und Konflikten hilfreichen - Beziehung abzielt. In der Schrift über die "zwei Prinzipien des psychischen Geschehens" (1911b) wird dieses Bildungsideal auf das Individuum bezogen als Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip dargestellt; und in den kulturtheoretischen Schriften wird es von Freud auf die Geschichte des KJJllektivs übertragen. Der Mann Moses wird von Freud denn auch als Symbol für den "Fortschritt in der Geistigkeit" (1939a, S. 219 ff.) angeführt. Zwischen dem Kriegshelden Hannibal und dem Religionsstifter Moses gibt es, bei allen Unterschieden, auch eine Gemeinsamkeit: Beide Männer erreichen ihr Ziel nicht. Hannibal kann Rom nicht erobern - Moses stirbt, ohne das Gelobte Land betreten zu haben. Das gilt - im übertragenen Sinne - auch für Freud. Er hat einen Weg gefunden - doch er konnte ihn nicht zu Ende gehen. Das heißt: er hat kein abgeschlossenes und erst recht kein Werk hinterlassen, das sakrosankt wäre. In seinen Worten ausgedrückt, hat er "manche Anregungen ausgeteilt [...], woraus dann in der Zukunft etwas werden soll" (1925d, S. 96). Diese Zukunft dauert, lässt man sie mit Freuds Tod beginnen, nun schon fast ein Jahrhundert an, und die Psychoanalyse als "Lehre von den tieferen, dem Bewußtsein nicht direkt zugänglichen, seelischen Vorgängen", die Psychoanalyse als",Tiefenpsychologie'" (1924f, S. 422), ist noch immer gegenwärtig. Trotz Widerlegung einzelner Annahmen Freuds und vieler Modifikationen und Ergänzungen hat die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten also noch immer eine Zukunft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Freud an eine Maxime gehalten hat, die unterschiedlichen Autoren (u. a. Gustav Mahler) zugeordnet wird, und doch stets denselben Sinn hat: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche."
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Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
In diesem Sinn wären denn auch die für diesen Band ausgewählten Schriften zu lesen. Die Psychoanalyse, wie sie Freud aufgefasst hat, sollte so verständlich werden (1) als Theorie menschlichen Erlebens und Verhaltens und (2) als Methode zur Erforschung psychischer Prozesse im Kontext einer eigentümlichen Beziehung, die äußerlich durch das Couch-Arrangement und innerlich durch das Zulassen früher (assoziativer) Formen des Denkens gekennzeichnet ist. Das ist Freuds wichtigste Entdeckung: die Methode der freien Assoziation. Damit hat er an eine Diskussion angeknüpft und sie mit anderen als nur kognitiven Mitteln fortgesetzt, die in der neueren Philosophiegeschichte bei Descartes beginnt ("ich denke, also bin ich"), und an der sich u. a. Lichtenberg e,Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt") und Nietzsche ("Mythologie des SubjektBegriffs[:] der ,Blitz' leuchtet - Verdoppelung - die Wirkung verdinglicht") beteiligt haben (zu dieser Diskussion s. Nitzschke, 2007a). Zentrales Ergebnis dieses Disputs war schon bei den Philosophen die Erkenntnis, dass das Denken ursprünglich von den Affekten abhängig ist - und damit von den Wünschen, sprich: von den Bedürfnissen des Körpers, also von den"Trieben" gesteuert wird. Dieses Erbe der Philosophen hat Freud übernommen (Ellenberger, 1973, Zentner, 1995, Gödde, 1999) und mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden, die er im Labor bei Brücke und durch die Rezeption der damals neuen Entwicklungslehre Darwins (Burkholz, 1995) gewinnen konnte. Und so wandelte er den Vorsatz, den er als junger Student gefasst hatte ("das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben"), später ganz im Sinne Goethes in die Tat um: "Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." Auf diese Weise entstand die Psychoanalyse, deren grundlegende Begriffe und Konzepte anhand der nachfolgend abgedruckten und einleitend kommentierten Schriften Freuds erläutert werden. Die Texte werden nach der international verbindlichen Freud-Bibliographie (1999) zitiert. Sie folgen - mit geringen Abweichungen (zum Beispiel: "gültig" anstatt "giItig") - der von Freud benutzten Rechtschreibung. Die psychoanalytischen Standardbegriffe werden in Übereinstimmung mit der heute in der Fachliteratur üblichen Schreibweise durchgängig einheitlich wiedergegeben ("ÜberIch" anstatt, wie gelegentlich in Freuds Gesammelten Werken, "Überich"). Freuds Fußnoten, die in den Gesammelten Werken auf jeder Seite mit neuer Zählung beginnen, sind im vorliegenden Band fortlaufend nummeriert. Vom Herausgeber vorgenommene Text-Kürzungen, Änderungen von Kapitel-Überschriften sowie bib-
10. Was bleibt? Was kommt?
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liographische Ergänzungen in den Fußnoten zu Freuds Texten sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Hemd Nitzschke Düsseldorf, im Juli 2010
1.
Psychischer Apparat und psychische Regulation Basiskonzepte der Psychoanalyse
"Wir haben oftmals die Forderung vertreten gehört, daß eine Wissenschaft über klaren und scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein soll. In Wirklichkeit beginnt keine WISsenschaft mit solchen Definitionen, auch die exaktesten nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung der Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden" (Freud, 1915c, S. 210). ,
Jede Wissenschaft wird durch ihren Gegenstand und ihre Forschungsmethode(n) bestimmt. Das gilt auch für die Psychoanalyse. Ihr ursprünglicher Gegenstand war die psychische Erkrankung von Menschen, die beobachtet wurden, während sie über ihr Leiden und die damit verbundenen Ereignisse und Erlebnisse, also über sich selbst, berichteten. Diese - scheinbar objektiven - Beobachtungen wurden durch die Beobachtungen ergänzt, die der Beobachter an sich selbst machen konnte, während er die Geschichten seiner Patienten anhörte. Er hörte also nicht nur mit seinen Ohren zu - er hörte auch auf seine Seele. Also achtete er auf die Gemütsbewegungen seiner Patienten - und auf seine eigenen Gefühle. So ließ sich Schritt für Schritt der Zusammenhang erkennen, in dem die eigenen und die fremden Affekte (ent-)stehen. Bei Freud heißt es, "das Wort Psychoanalyse" sei ursprünglich die "Bezeichnung eines bestimmten therapeutischen Verfahrens" gewesen. Später wurde daraus der "Name einer Wissenschaft", nämlich der "vom Unbewußt-Seelischen" (Freud, 1925d, S. 96). Diese neue Disziplin zeichnete sich durch die Methode der freien Assoziation - das heißt: durch die Gewinnung der Beobachtungsdaten unter der Bedingung des psychoanalytischen Settings - und durch die spezielle Methode der Interpretation dieser Daten aus. Freud sprach in diesem Zusammenhang von der Psychoanalyse als "Deutungskunst" (1923a, S. 215). Diese neue Disziplin beanspruchte, "ein Stück Psychologie" zu sein, "gewiß nicht das Ganze der Psycho-
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
logie, sondern ihr Unterbau, vielleicht überhaupt ihr Fundament" (Freud, 1927a, S. 289). Sie ist jedoch "nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie geht aus Anregungen hervor, die sie verarbeitet. So muß ihre Geschichte mit der Schilderung der Einflüsse beginnen, die für ihre Entstehung maßgebend waren, und darf auch der Zeiten und der Zustände vor ihrer Schöpfung nicht vergessen" (Freud, 1924f, S. 405). Die Entdeckung des Unbewussten hat also lange vor Freud begonnen (Ellenberger, 1996) - und sie hat mit Freuds Weiterentwicklungen noch lange kein Ende gefunden (Ermann, 2008/ 2009/ 2010). Die Themen Wunsch und Traum, Affekt und Phantasie, Sexualität und Tod waren ein Erbe der Romantik, dem Freud, der seinem Selbstverständnis gemäß zeitlebens Naturwissenschaftler blieb (vgl. Freud, 1933a, xxxv. Vorlesung), als ein in der Tradition der Aufklärung erzogener Wissenschaftler zu Leibe rücken wollte. Dabei griff er auf Philosophen zurück, die sich bereits mit dem Unbewussten beschäftigt hatten (s. Nitzschke, 1978/ Hemecker, 1991/ Zentner/ 1995/ Gasser, 1997/ Gödde, 1999); er interessierte sich aber auch für die zeitgenössische Psychologie, die eng mit der Physiologie verwoben war. So beabsichtigte er, wie aus einem Brief an Fließ hervorgeht, am 3. Internationalen Kongress für Psychologie in München 1896 teilzunehmen (Nitzschke, 1989a, S. 10). Einige Jahre zuvor hatte er sich zum 1. Internationalen Kongress für Physiologische Psychologie in Paris 1889 angemeldet. Die im Folgenden dargestellten Basiskonzepte der Psychoanalyse sind der Metapsychologie zuzuordnen (mit Ausnahme der in Kap. 1.5. enthaltenen Annahmen/ die darüber hinausgehen und zeigen, dass die empirische Voraussetzung aller metapsychologischen Spekulationen die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen sind). Als Metapsychologie bezeichnete Freud die Theoretische Psychologie/ deren Grundstruktur er 1895 im "Entwurf einer Psychologie" (1950c) formuliert hatte. Mit Hilfe dieser (später stark erweiterten und modifizierten) Annahmen sollten die triebhaft-affektive und die davon abhängige kognitive Steuerung des Erlebens und Handelns erklärt werden. Und es sollte ersichtlich werden, wie Erlebnisse der Vergangenheit in der Gegenwart zu Erfahrungen umgeformt werden können, die in Bezug auf die Zukunft vernünftig geplantes Handeln ermöglichen. Darüber hinaus wollte Freud wissen, was die psycho-somatische Welt im Innersten zusammenhält (die Libido) und welche Konflikte diesen Zusammenhalt bedrohen oder gar unmöglich machen können. Mit anderen Worten: Es geht in diesem Kapitel um den psychischen Apparat und die Mittel, die ihm zur Verfügung
1.1 Der psychische Apparat
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stehen, um die von innen und außen kommenden Reize so zu verarbeiten, dass die (Trieb-)Wünsche unter Beachtung der Außenwelt wie des Gewissens zu erftillen sind und die Einheitlichkeit und Funktionsfähigkeit des Ich dabei bewahrt bleiben.
1.1 Der psychische Apparat Im Juli 1938 beginnt Freud., der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in England aufhält, wohin er nach der nationalsozialistischen Besetzung Österreichs im März desselben
Jahres emigriert ist, mit der Niederschrift eines Textes, der unvollendet bleibt. Er wird ein Jahr nach Freuds Tod unter dem TItel "Abriß der Psychoanalyse" (1940a) veröffentlicht. Man kann diesen Text deshalb auch als das wissenschaftliche Testament Freuds auffassen. Darin verknüpft er die grundlegenden Begriffe und Konzepte der von ihm über ein halbes Jahrhundert hinweg entwickelten und immer wieder modifizierten Psychoanalyse so miteinander, dass die innere Einheit seines Werkes deutlich werden kann. Das gilt für den hier abgedruckten Abschnitt, in dem Freud den "psychischenApparat" vorstellt in ganz besonderer Weise. Mit Hilfe dieses "Instruments, welches den Seelenleistungen dient", sollen die Reize, die dem Körperinneren (Triebreize) entstammen, auf eine Art und Weise bewältigt werden, die sowohl der Triebbefriedigung als auch der Selbsterhaltung gerecht wird. Die Arbeit dieses Apparats erfolgt also im Dienste der Wunscherftillung. Das hat Freud in der"Traumdeutung" erstmals ausführlich begründet (s. Kap. 2. dieses Bandes), wenngleich er da noch recht unbestimmt von den "Instanzen" des psychischen Apparats spricht deren Zusammenwirken mit dem der "Linsensysteme eines Fernrohres" verglichen wird (1900a, S. 541 f.). Dieses Bild greift Freud im "Abriß der Psychoanalyse" wieder auf, doch jetzt tragen die Instanzen die Namen.. die für die Freudsche Psychoanalyse charakteristisch sind: Es, Ich und Über-Ich.
_~ Freud, S. (l940a). Abriß der Psychoanalyse. GW XVI~ S. 67-69. Die Psychoanalyse macht eine Grundvoraussetzung, deren Diskussion philosophischem Denken vorbehalten bleibt deren Rechtfertigung in ihren Resultaten liegt. Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen.. ist uns zweierlei bekannt. erstens das körperliche Organ und Schauplatz desselben, das Gehirn (Nervensystem), anderseits unsere Bewußtseinsakte, die unmittelbar gegeben
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
sind und uns durch keinerlei Beschreibung näher gebracht werden können. Alles dazwischen ist uns unbekannt, eine direkte Beziehung zwischen beiden Endpunkten unseres Wissens ist nicht gegeben. Wenn sie bestünde, würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewußtseinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten. Unsere beiden Annahmen setzen an diesen Enden oder Anfängen unseres Wissens an. Die erste betrifft die Lokalisation. Wir nehmen an, daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl. Der konsequente Ausbau einer solchen Vorstellung ist ungeachtet gewisser bereits versuchter Annäherung eine wissenschaftliche Neuheit. Zur Kenntnis dieses psychischen Apparates sind wir durch das Studium der individuellen Entwicklung des menschlichen Wesens gekommen. Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es: sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden.! Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahrne und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs.
Die hauptsächlichen Charaktere des Ichs. Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennen lernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen 1
Dieser älteste Teil des psychischen Apparates bleibt durchs ganze Leben der wichtigste. An ihm hat auch die Forschungsarbeit der Psychoanalyse eingesetzt.
1.1 Der psychische Apparat
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das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. In seiner Tätigkeit wird es durch die Beachtungen der in ihm vorhandenen oder in dasselbe eingetragenen Reizspannungen geleitet. Deren Erhöhung wird allgemein als Unlust, deren Herabsetzung als Lust empfunden. Wahrscheinlich sind es aber nicht die absoluten Höhen dieser Reizspannung, sondern etwas im Rhythmus ihrer Veränderung, was als Lust und Unlust empfunden wird. Das Ich strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen. Eine erwartete, vorausgesehene Unluststeigerung wird mit dem Angstsignal beantwortet/ ihr Anlaß, ob er von außen oder innen droht, heißt eine Gefahr. Von Zeit zu Zeit löst das Ich seine Verbindung mit der Außenwelt und zieht sich in den Schlafzustand zurück, in dem es seine Organisation weitgehend verändert. Aus dem Schlafzustand ist zu schließen, daß diese Organisation in einer besonderen Verteilung der seelischen Energie besteht. Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluß fortsetzt. Sie hat den Namen des aber-Ichs erhalten. Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert oder sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muß. Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß. Die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich werden durchwegs aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Im Elterneinfluß wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluß von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Über-Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale. Man sieht, daß Es und Über-Ich bei all ihrer fundamentalen Verschiedenheit die eine Übereinstimmung zeigen, daß sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren, das Es den der ererbten, das Über-Ich im wesentlichen den der von Anderen übernommenen, während das Ich hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt wird. [...]
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
1.2 Trieblehre Im zweiten Kapitel des "Abriß der Psychoanalyse" steIlt Freud die psychoanalytische "Trieblehre" dar, wobei er die "Triebe" hier noch einmal als die "Kräfte" des Körpers charakterisiert. An anderer Stelle hatte er den Körper bereits als Ort der "Triebquellen" (1905d, S. 67) bestimmt, dem er jetzt die "Bedürfnisspannungen des Es" zuordnet. Die Wünsche entspringen also dem Körper, doch aufgrund kultureller Forderungen (die zur Abwehr animalischer Ausdrucks- und Befriedigungsformen der Wünsche nötigen) und aufgrund individueller Anforderungen (die den Schutz vor der Wiederholung lebensgeschichtlich bedingter Kränkungen und vor den damit verbundenen unIustvollen Affekten verlangen) können Wünsche oft nur in umgeformter (zensierter) Gestalt bewusst werden. Das allen Wünschen gemeinsame Ziel besteht aber auch noch in der Endfassung der psychoanalytischen Triebtheorie in der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Stabilität, wobei Eros (Sexualität) jetzt das psycho-somatische Gleichgewicht (Homöostase) anstrebt, während Thanatos (Aggression) letztendlich die Rückkehr zum anorganischen Ruhezustand will.
ifTli llJ:l
Freud, S. (1940a). Abriß der Psychoanalyse. GW XVII, S. 70-73.
[...] Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen wir 1Hebe. Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben. Obwohl letzte Ursache jeder Aktivität, sind sie konservativer Naturj aus jedem Zustand, den ein Wesen erreicht hat, geht ein Bestreben hervor, diesen Zustand wiederherzustellen, sobald er verlassen worden ist. Man kann also eine unbestimmte Anzahl von Trieben unterscheiden, tut es auch in der gewöhnlichen Übung. Für uns ist die Möglichkeit bedeutsam, ob man nicht all diese vielfachen Triebe auf einige wenige Grundtriebe zurückführen könne. WIr haben erfahren, daß die Triebe ihr Ziel verändern können (durch Verschiebung), auch daß sie einander ersetzen können,. indem die Energie des einen Triebs auf einen anderen übergeht. Der letztere Vorgang ist noch wenig gut verstanden. Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen,. nur zwei Grundtriebe anzunehmen,. den Eros und den Destruktionstrieb. (Der Gegensatz von SeIbsterhaltungs- und Arterhaltungstrieb sowie der andere von Ich1iebe und Objektliebe fällt noch innerhalb des Eros.) Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten
1.2 Trieblehre
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herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, daß als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen. Wir heißen ihn darum auch Todestrieb. Wenn wir annehmen, daß das Lebende später als das Leblose gekommen und aus ihm entstanden ist, so fügt sich der Todestrieb der erwähnten Formel, daß ein Trieb die Rückkehr zu einem früheren Zustand anstrebt. Für den Eros (oder Liebestrieb) können wir eine solche Anwendung nicht durchführen. Es würde voraussetzen, daß die lebende Substanz einmal eine Einheit war, die dann zerrissen wurde und die nun die Wiedervereinigung anstrebt. 2 In den biologischen Funktionen wirken die beiden Grundtriebe gegeneinander oder kombinieren sich miteinander. So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen. Über den Bereich des Lebenden hinaus führt die Analogie unserer beiden Grundtriebe zu dem im Anorganischen herrschenden Gegensatzpaar von Anziehung und Abstoßung. 3 Veränderungen im Mischungsverhältnis der Triebe haben die greifbarsten Folgen. Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu oder impotent. Es kann keine Rede davon sein, den einen oder anderen der Grundtriebe auf eine der seelischen Provinzen einzuschränken. Sie müssen überall anzutreffen sein. Einen Anfangszustand stellen wir uns in der Art vor, daß die gesamte verfügbare Energie des Eros, die wir von nun ab Libido heißen werden, im noch undifferenzierten Ich-Es vorhanden ist und dazu dient, die gleichzeitig vorhandenen Destruktionsneigungen zu neutralisieren. (Für die Energie des Destruktionstriebes fehlt uns ein der Libido analoger Terminus.) Späterhin wird es uns verhältnismäßig leicht, die Schicksale der Libido zu verfolgen, beim Destruktionstrieb ist es schwerer.
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Dichter haben Ähnliches phantasiert, aus der Geschichte der lebenden Substanz ist uns nichts Entsprechendes bekannt. Die Darstellung der Grundkräfte oder Triebe, gegen die sich die Analytiker noch vielfach sträuben, war bereits dem Philosophen Empedokles von Akragas vertraut.
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
Solange dieser Trieb als Todestrieb im Inneren wirkt, bleibt er stumm, er stellt sich uns erst wenn er als Destruktionstrieb nach außen gewendet wird. Daß dies geschehe, scheint eine Notwendigkeit für die Erhaltung des Individuums. Das Muskelsystem dient dieser Ableitung. Mit der Einsetzung des Über-Ichs werden ansehnliche Beträge des Aggressionstriebes im Innem des Ichs fixiert und wirken dort selbstzerstörend. Es ist eine der hygienischen Gefahren, die der Mensch auf seinem Weg zur Kulturentwicklung auf sich nimmt. Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend (Kränkung). Den Übergang von verhinderter Aggression in Selbstzerstörung durch Wendung der Aggression gegen die eigene Person demonstriert oft eine Person im Wutanfall, wenn sie sich die Haare rauft, mit den Fäusten ihr Gesicht bearbeitet, wobei sie offenbar diese Behandlung lieber einem anderen zugedacht hätte. Ein Anteil von Selbstzerstörung verbleibt unter allen Umständen im Inneren, bis es ihm endlich gelingt, das Individuum zu töten, vielleicht erst, wenn dessen Libido aufgebraucht oder unvorteilhaft fixiert ist. So kann man allgemein vermuten, das Individuum stirbt an seinen inneren Konflikten, die Art hingegen an ihrem erfolglosen Kampf gegen die Außenwelt, wenn diese sich in einer Weise geändert hat, für die die von der Art erworbenen Anpassungen nicht zureichen. Es ist schwer, etwas über das Verhalten der Libido im Es und im Über-Ich auszusagen. Alles, was wir darüber wissen, bezieht sich auf das Ich, in dem anfänglich der ganze verfügbare Betrag von Libido aufgespeichert ist. Wir nennen diesen Zustand den absoluten primären Narzißmus. Er hält solange an, bis das Ich beginnt die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzißtische Libido in Objektlibido umzusetzen. Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudopodien verfährt. Nur im Zustand einer vollen Verliebtheit wird der Hauptbetrag der Libido auf das Objekt übertrage~ setzt sich das Objekt gewissermaßen an die Stelle des Ichs. Ein im Leben wichtiger Charakter ist die Beweglichkeit der Libido, die Leichtigkeit, mit der sie von einem Objekt auf andere Objekte übergeht. Im Gegensatz hierzu steht die Fixierung der Libido an bestimmte Objekte, die oft durchs Leben anhält. Es ist unverkennbar, daß die Libido somatische Quellen hat, daß sie von verschiedenen Organen und Körperstellen her dem Ich zuströmt. Man sieht das am deutlichsten an jenem Anteil der Libido, der nach seinem Triebziel als Sexu-
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
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alerregung bezeichnet wird. Die hervorragendsten der Körperstellen, von denen diese Libido ausgeht, zeichnet man durch den Namen erogene Zonen aus, aber eigentlich ist der ganze Körper eine solche erogene Zone. Das Beste was wir vom Eros, also von seinem Exponenten, der Libido, wissen, ist durch das Studium der Sexualfunktion gewonnen worden, die sich ja in der landläufigen Auffassung, wenn auch nicht in unserer Theorie, mit dem Eros deckt. Wir konnten uns ein Bild davon machen, wie das Sexualstreben, das dazu bestimmt ist, unser Leben entscheidend zu beeinflussen, sich allmählich entwickelt aus den aufeinanderfolgenden Beiträgen von mehreren Partialtrieben, die bestimmte erogene Zonen vertreten.
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
Freud fasste die "Annahme unbewußter seelischer Vorgänge" als "Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie" auf (1923a, S. 223). Empirischer Ausgangspunkt dieser Annahme waren Erfahrungen mit Hypnose, die Freud als niedergelassener Nervenarzt zunächst selbst praktizierte, wobei er seine bereits in Wien erworbenen Kenntnisse durch Studienaufenthalte bei Jean-Martin Charcot in Paris und Hippolyte Bernheim in Nancy vertiefte, zwei in der damaligen Zeit führende Neurologen, deren Bücher Freud ins Deutsche übersetzte (Charcot, 1886, Bernheim, 1888). "Man kann an hypnotisierten Personen experimentell nachweisen, daß es unbewußte psychische Akte gibt und daß die Bewußtheit keine unentbehrliche Bedingung der Aktivität ist. Wer einen solchen Versuch mitangesehen, hat von ihm einen unvergeßlichen Eindruck empfangen und eine unerschütterliche Überzeugung gewonnen", schreibt Freud noch am Ende seines Lebens (1940b, S. 145). Im hier abgedruckten Auszug aus der Schrift "Das Ich und das Es" wird das Unbewusste nun aber nicht mehr auf die Hypnose bezogen, vielmehr aus der psychoanalytischen Praxis abgeleitet, für die das dynamisch unbewusste Verdrängte entscheidend ist. Damit sind die Inhalte (Erinnerungen) gemeint, die schon einmal bewusst waren, infolge unlustvoller Affekte jedoch unmittelbar oder nachträglich wieder abgewehrt und dadurch unbewusst wurden. Das deskriptiv Unbewusste bezieht sich hingegen auf die Inhalte, die augenblicklich nicht verfügbar sind, jedoch ohne große Anstrengung wieder ins Bewusstsein gerufen (erinnert) werden können. Die dritte Bedeutung des Begriffs"Unbewusstes" bezieht sich auf Prozesse, die dem Betroffenen überhaupt nicht bewusst werden können, also zum Beispiel auf
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
die den bewussten Wtllensentscheidungen vorausgehenden neuronalen Abläufe (ubet. 2005) oder auf die lebenslang andauernden Auswirkungen des spiegelnden Affektaustauschs, der in der ursprünglichen Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind stattfand - oder auch fehlte (Fonagy & Targe~ 2003). Zusammenfassend heißt es bei Freud: "Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns Mch seiner inneren Natur so unbekJmnt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Da-
ten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinne" (Freu
Freud, S. (1923b). Das Ich und das Es. GW XIII, S. 239-245. In diesem einleitenden Abschnitt ist nichts Neues zu sagen und die Wiederholung von früher oft Gesagtem nicht zu vermeiden. Die Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die ebenso häufigen als wichtigen pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen,. der WlSsenschaft einzuordnen. Nochmals und anders gesagt die Psychoanalyse kann das Wesen des Psychischen nicht ins Bewußtsein verlegen,. sondern muß das Bewußtsein als eine Qualität des Psychischen ansehen,. die zu anderen Qualitäten hinzukommen oder wegbleiben mag.
Wenn ich mir vorstellen könnte, daß alle an der Psychologie Interessierten diese Schrift lesen werden,. so wäre ich auch darauf vorbereitet, daß schon an dieser Stelle ein Teil der Leser Halt macht und nicht weiter mitgeh~ denn hier ist das erste Schibbolethl4] der Psychoanalyse. Den meisten philosophisch Gebildeten ist die Idee eines Psychischen, das nicht auch bewußt is~ so unfaßb~ daß sie ihnen absurd und durch bloße Logik abweisbar erscheint. Ich glaube, dies kommt nur daher, daß sie die betreffenden Phänomene der Hypnose und des Traumes, welche - vom Pathologischen ganz abgesehen - zu solcher Auffassung zwingen,. nie studiert haben. Ihre Bewußtseinspsychologie ist aber auch unfähig, die Probleme des Traumes und der Hypnose zu lösen. [4]
Schibboleth, hebräisch: "Getreideähre". Das Wort kann nur von denen richtig betont
ausgesprochen werden, die die hebräische Sprache beherrschen. Die Akzeptanz des Unbewussten als Grundlage aller seelischen Prozesse wäre demnach - im übertragenen Sinne verstanden - das unverwechselbare Kennzeichen derer, die sich zu Freud bekennen.
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
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Bewußtsein ist zunächst ein rein deskriptiver Terminus, der sich auf die unmittelbarste und sicherste Wahrnehmung beruft. Die Erfahrung zeigt uns dann, daß ein psychisches Element, zum Beispiel eine Vorstellun~ gewöhnlich nicht dauernd bewußt ist. Es ist vielmehr charakteristisch, daß der Zustand des Bewußtseins rasch vorübergeht; die jetzt bewußte Vorstellung ist es im nächsten Moment nicht mehr, allein sie kann es unter gewissen leicht hergestellten Bedingungen wieder werden. Inzwischen war sie, wir wissen nicht was; wir können sagen, sie sei latent gewesen, und meinen dabei, daß sie jederzeit bewußtseinsftlhig war. Auch wenn wir sagen, sie sei unbewußt gewesen, haben wir eine korrekte Beschreibung gegeben. Dieses Unbewußt fällt dann mit latent-bewußtseinsfähig zusammen. Die Philosophen würden uns zwar einwerfen: Nein, der Terminus unbewußt hat hier keine Anwendun~ solange die Vorstellung im Zustand der Latenz war, war sie überhaupt nichts Psychisches. Würden wir ihnen schon an dieser Stelle widersprechen, so gerieten wir in einen Wortstreit, aus dem sich nichts gewinnen ließe. Wir sind aber zum Terminus oder Begriff des Unbewußten auf einem anderen Weg gekommen, durch Verarbeitung von Erfahrungen, in denen die seelische Dynamik eine Rolle spielt. Wir haben erfahren, das heißt annehmen müssen, daß es sehr starke seelische Vorgänge oder Vorstellungen gibt, - hier kommt zuerst ein quantitatives, also ökonomisches Moment in Betracht - die alle Folgen für das Seelenleben haben können wie sonstige Vorstellungen, auch solche Folgen, die wiederum als Vorstellungen bewußt werden können, nur werden sie selbst nicht bewußt. Es ist nicht nöti~ hier ausführlich zu wiederholen, was schon so oft dargestellt worden ist. Genug, an dieser Stelle setzt die psychoanalytische Theorie ein und behauptet, daß solche Vorstellungen nicht bewußt sein können, weil eine gewisse Kraft sich dem widersetzt, daß sie sonst bewußt werden könnten und daß man dann sehen würde, wie wenig sie sich von anderen anerkannten psychischen Elementen unterscheiden. Diese Theorie wird dadurch unwiderleglich/ daß sich in der psychoanalytischen Technik Mittel gefunden haben, mit deren Hilfe man die widerstrebende Kraft aufheben und die betreffenden Vorstellungen bewußt machen kann. Den Zustand, in dem diese sich vor der Bewußtrnachung befanden, heißen wir Verdrängung, und die Kraft, welche die Verdrängung herbeigeführt und aufrecht gehalten hat/ behaupten wir während der analytischen Arbeit als Widerstand zu verspüren.
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
Unseren Begriff des Unbewußten gewinnen wir also aus der Lehre von der Verdrängung. Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewußten. Wir sehen aber, daß wir zweierlei Unbewußtes haben, das latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte, an sich und ohne weiteres nicht bewußtseinsfähige. Unser Einblick in die psychische Dynamik kann nicht ohne Einfluß auf Nomenklatur und Beschreibung bleiben. Wir heißen das Latente, das nur deskriptiv unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt; den Namen unbewußt beschränken wir auf das dynamisch unbewußte Verdrängte, so daß wir jetzt drei Termini haben, bewußt (bw), vorbewußt (vbw) und unbewußt (ubw), deren Sinn nicht mehr rein deskriptiv ist. [...] Nun können wir mit unseren drei Terminis, bw, vbw und ubw, bequem wirtschaften, wenn wir nur nicht vergessen, daß es im deskriptiven Sinne zweierlei Unbewußtes gibt, im dynamischen aber nur eines. Für manche Zwecke der Darstellung kann man diese Unterscheidung vernachlässigen, für andere ist sie natürlich unentbehrlich. Wir haben uns immerhin an diese Zweideutigkeit des Unbewußten ziemlich gewöhnt und sind gut mit ihr ausgekommen. Vermeiden läßt sie sich, soweit ich sehen kann, nicht; die Unterscheidung zwischen Bewußtem und Unbewußtem ist schließlich eine Frage der Wahrnehmung, die mit Ja oder Nein zu beantworten ist, und der Akt der Wahrnehmung selbst gibt keine Auskunft darüber, aus welchem Grund etwas wahrgenommen wird oder nicht wahrgenommen wird. Man darf sich nicht darüber beklagen, daß das Dynamische in der Erscheinung nur einen zweideutigen Ausdruck findet. 5 5
Soweit vgl.: Freud, 1912g. Eine neuerliche Wendung in der Kritik des Unbewußten verdient an dieser Stelle gewürdigt zu werden. Manche Forscher, die sich der Anerkennung der psychoanalytischen Tatsachen nicht verschließen, das Unbewußte aber nicht annehmen wollen, schaffen sich eine Auskunft mit Hilfe der unbestrittenen Tatsache, daß auch das Bewußtsein - als Phänomen - eine große Reihe von Abstufungen der Intensität oder Deutlichkeit erkennen läßt. So wie es Vorgänge gibt, die sehr lebhaft, grell, greifbar bewußt sind, so erleben wir auch andere, die nur schwach, kaum eben merklich bewußt sind, und die am schwächsten bewußten seien eben die, für welche die Psychoanalyse das unpassende Wort unbewußt gebrauchen wolle. Sie seien aber doch auch bewußt oder "im Bewußtsein" und lassen sich voll und stark bewußt machen, wenn man ihnen genug Aufmerksamkeit schenkte. Soweit die Entscheidung in einer solchen entweder von der Konvention oder von Gefüh1smomenten abhängigen Frage durch Argumente beeinflußt werden kann, läßt sich hierzu folgendes bemerken: Der Hinweis auf eine Deutlichkeitsskala der Bewußtheit hat nichts Verbindliches und nicht mehr Beweiskraft als etwa die analogen Sätze: es gibt so viel Abstufungen der Beleuchtung vom grellsten, blendenden Licht bis zum
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
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Im weiteren Verlauf der psychoanalytischen Arbeit stellt sich aber heraus, daß auch diese Unterscheidungen unzulänglich, praktisch insuffizient sind. Unter den Situationen, die das zeigen, sei folgende als die entscheidende hervorgehoben. Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heißen diese das Ich derselben. An diesem Ich hängt das Bewußtsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität, das ist: zur Abfuhr der Erregungen in die Außenwelt; es ist diejenige seelische Instanz, welche eine Kontrolle über all ihre Partialvorgänge ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur handhabt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, durch welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewußtsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen. Dies durch die Verdrängung Beseitigte stellt sich in der Analyse dem Ich gegenüber, und es wird der Analyse die Aufgabe gestellt, die Widerstände aufzuheben, die das Ich gegen die Beschäftigung mit dem Verdrängten äußert. Nun machen wir während der Analyse die Beobachtung, daß der Kranke in Schwierigkeiten gerät, wenn wir ihm gewisse Aufgaben stellen; seine Assoziationen versagen, wenn sie sich dem Verdrängten annähern sollen. Wir sagen ihm dann, er stehe unter der Herrschaft eines Widerstandes, aber er weiß nichts davon und selbst, wenn er aus seinen Unlustgefühlen erraten sollte, daß jetzt ein Widerstand in ihm wirkt, so weiß er ihn nicht zu benennen und anzugeben. Da aber dieser Widerstand matten Lichtschimrner, folglich gibt es überhaupt keine Dunkelheit. Oder: es gibt verschiedene Grade von Vitalität, folglich gibt es keinen Tod. Diese Sätze mögen ja in einer gewissen Weise sinnreich sein, aber sie sind praktisch verwerflich, wie sich herausstellt, wenn man bestimmte Folgerungen von ihnen ableiten will, zum Beispiel: also braucht man kein Licht anzustecken, oder: also sind alle Organismen unsterblich. Ferner erreicht man durch die Subsurnierung des Unmerklichen unter das Bewußte nichts anderes, als daß man sich die einzige unmittelbare Sicherheit verdirbt, die es im Psychischen überhaupt gibt. Ein Bewußtsein, von dem man nichts weiß, scheint mir doch um vieles absurder als ein unbewußtes Seelisches. Endlich ist solche Angleichung des Unbemerkten an das Unbewußte offenbar ohne Rücksicht auf die dynamischen Verhältnisse versucht worden, welche für die psychoanalytische Auffassung maßgebend waren. Denn zwei Tatsachen werden dabei vernachlässigt; erstens, daß es sehr schwierig ist, großer Anstrengung bedarf, um einern solchen Unbemerkten genug Aufmerksamkeit zuzuführen, und zweitens, daß, wenn dies gelungen ist, das vordem Unbemerkte jetzt nicht vorn Bewußtsein erkannt wird, sondern oft genug ihm völlig fremd, gegensätzlich erscheint und von ihm schroff abgelehnt wird. Der Rekurs vom Unbewußten auf das wenig Bemerkte und nicht Bemerkte ist also doch nur ein Abkörnrnling des Vorurteils, dem die Identität des Psychischen mit dem Bewußten ein für allemal feststeht.
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
sicherlich von seinem Ich ausgeht und diesem angehört, so stehen wir vor einer unvorhergesehenen Situation. Wir haben im Ich selbst etwas gefunden, was auch unbewußt ist, sich gerade so benimmt wie das Verdrängte, das heißt starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewußt zu werden, und zu dessen Bewußtmachung es einer besonderen Arbeit bedarf. Die Folge dieser Erfahrung für die analytische Praxis ist, daß wir in unendlich viele Undeutlichkeiten und Schwierigkeiten geraten, wenn wir an unserer gewohnten Ausdrucksweise festhalten und zum Beispiel die Neurose auf einen Konflikt zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten zurückführen wollen. Wir müssen für diesen Gegensatz aus unserer Einsicht in die strukturellen Verhältnisse des Seelenlebens einen anderen einsetzen: den zwischen dem zusammenhängenden Ich und dem von ihm abgespaltenen Verdrängten. 6 Die Folgen für unsere Auffassung des Unbewußten sind aber noch bedeutsamer. Die dynamische Betrachtung hatte uns die erste Korrektur gebracht, die strukturelle Einsicht bringt uns die zweite. Wir erkennen, daß das ubw nicht mit dem Verdrängten zusammenfällt; es bleibt richtig, daß alles Verdrängte ubw ist, aber nicht alles ubw ist auch verdrängt. Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw. Und dies ubw des Ichs ist nicht latent im Sinne des vbw, sonst dürfte es nicht aktiviert werden, ohne bw zu werden, und seine Bewußtmachung dürfte nicht so große Schwierigkeiten bereiten. Wenn wir uns so vor der Nötigung sehen, ein drittes, nicht verdrängtes ubw aufzustellen, so müssen wir zugestehen, daß der Charakter des Unbewußtseins für uns an Bedeutung verliert. Er wird zu einer vieldeutigen Qualität, die nicht die weitgehenden und ausschließenden Folgerungen gestattet, für welche wir ihn gerne verwertet hätten. Doch müssen wir uns hüten, ihn zu vernachlässigen, denn schließlich ist die Eigenschaft bewußt oder nicht die einzige Leuchte im Dunkel der Tiefenpsychologie.
1.4 Das Ich und das Über-Ich (Ichideal) In der programmatischen Schrift "Das Ich und das Es", der der nachfolgende Ab-
schnitt entnommen ist, wird die erste Fassung des psychischen Apparats, die Freud in der"Traumdeutung" (1900a) vorgestellt hat, so stark modifiziert, dass man von 6
Vgl. Freud, 1920g.
1.4 Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)
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einer Neufassung sprechen kann. Das Unbewusste (s. Kap. 1.3 des vorliegenden Bandes) charakterisiert das Es vollständig, während das Ich und das Über-Ich nur zum Teil mit unbewussten Inhalten identifiziert werden. "Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen [...]. Von den Trieben her erfüllt es sich mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu verschaffen. Für die Vorgänge im Es gelten die logischen Denkgesetze nicht [...]. Im Es findet sich nichts, was der Zeitvorstellung entspricht [...]. Wunschregungen, die das Es nie überschritten haben, aber auch Eindrücke, die durch Verdrängung im Es versenkt worden sind, sind virtuell unsterblich, verhalten sich nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wären. Als Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energiebesetzung beraubt können sie erst werden, wenn sie durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind, und darauf beruht nicht zum kleinsten Teil die therapeutische Wirkung der analytischen Behandlung" (Freud, 1933a, S. 80 f.). Das Ich wird im unten stehenden Text als "zusammenhängende Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person" vorgestellt. Es hat die Aufgabe, für die Erfüllung der Wünsche unter Berücksichtigung der Bedingungen der Außenwelt und der Ansprüche des i.Tber-Ichs (Gewissen) zu sorgen. Aufgrund von Vernunft und Einsicht kann das Ich - anders als die pathogenen Vorgänge, die mit der Abwehr die latente Rebellion gegen die Abwehr und damit das Symptom hervorrufen - bewussten Triebverzicht ermöglichen. Das Über-Ich wiederum orientiert sich an den im Verlauf der Erziehung durch die Eltern vermittelten gesellschaftlichen Normen und Werten. Es stellt somit die verinnerlichte Außenwelt dar, denn schließlich war "aller innerer Zwang ursprünglich, d. h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang" (Freud, 1915b, S. 333). Einschränkend sei gesagt, dass im hier abgedruckten Textausschnitt das Über-Ich mit dem Ichideal gleichgesetzt wird. An anderen Stellen hingegen (zum Beispiel Freud, 1914c) wird zwischen Über-Ich und Ichideal, das heißt, dem Bild, dem zu gleichen man sich wünscht, unterschieden. Bei Berücksichtigung dieser Differenz können cum grano salis das Schuldgefühl als Folge der Übertretung eines Über-Ich-Gebots und das Schamgefühl als Folge einer zu großen Abweichung vom Ichideal verstanden werden.
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
W Freuet, S. (1923&). Das Ich und das Es. GW XIII, S. 264-266. [...] Es ist der Psychoanalyse unzählige Male zum Vorwurf gemacht worden,. daß sie sich um das Höhere, Moralische, Überpersönliche im Menschen nicht kümmere. Der Vorwurf war doppelt ungerecht, historisch wie methodisch. Er~ teres, da von Anbeginn an den moralischen und ästhetischen Tendenzen im Ich der Antrieb zur Verdrängung zugeteilt wurde, letzteres, da man nicht einsehen wollte, daß die psychoanalytische Forschung nicht wie ein philosophisches Sy~ tern. mit einem vollständigen und fertigen Lehrgebäude auftreten konnte, sondern sich den Weg zum Verständnis der seelischen Komplikationen schrittweise durch die analytische Zergliederung normaler wie abnormer Phänomene bahnen mußte. Wir brauchten die zitternde Besorgnis um den Verbleib des Höheren im Menschen nicht zu teilen,. solange wir uns mit dem Studium des Verdrängten im Seelenleben zu beschäftigen hatten. Nun. da wir uns an die Analyse des Ichs heranwagen. können wir an denen. welche, in ihrem sittlichen Bewußtsein erschüttert, geklagt haben. es muß doch ein höheres Wesen im Menschen geben,. antworten: Gewiß, und dies ist das höhere Wesen,. das Ichideal oder über-Ich, die Repräsentanz unserer Elternbeziehung. Als kleine Kinder haben wir diese höheren Wesen gekannt, bewundert, gefürchtet, später sie in uns selbst aufgenommen. Das Ichideal ist also der Erbe des Ödipuskomplexes und somit Ausdruck der mächtigsten Regungen und wichtigsten Ubidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des Ödipuskomplexes bemächtigt und gleichzeitig sich selbst dem Es unterworfen. Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist, tritt ihm das Über-Ich aIs Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber. Konflikte zwischen Ich und Ideal werden. darauf sind wir nun vorbereitet, in letzter Linie den Gegensatz von Real und Psychisch, Außenwelt und Innenwelt, widerspiegeln. Was die Biologie und die Schicksale der Menschenart im Es geschaffen und hinterlassenhaben. das wird durch die Idealbildungvom Ich übernommen und an ihm individuell wieder erlebt. Das Ichideal hat infolge seiner Bildungsgeschichte die ausgiebigste Verknüpfung mit dem phylogenetischen Erwerb, der archaischen Erbschaft, des Einzelnen. Was im einzelnen Seelenleben dem TIefsten angehört hat, wird durch die Idealbildung zum Höchsten der Menschenseele im Sinne unserer Wertungen. Es wäre aber ein vergebliches Bemii.hen. das Ichideal auch nur in ähnlicher Weise wie das Ich zu lokalisieren oder es in eines der
1.5 Die Objektfindung
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Gleichnisse einzupassen, durch welche wir die Beziehung von Ich und Es nachzubilden versuchten. Es ist leicht zu zeigen, daß das Ichideal allen Ansprüchen genügt, die an das höhere Wesen im Menschen gestellt werden. Als Ersatzbildung für die Vatersehnsucht enthält es den Keim, aus dem sich alle Religionen gebildet haben. Das Urteil der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich des Ichs mit seinem Ideal ergibt das demütige religiöse Empfinden, auf das sich der sehnsüchtig Gläubige beruft. Im weiteren Verlauf der Entwicklung haben Lehrer und Autoritäten die Vaterrolle fortgeführt; deren Gebote und Verbote sind im Ideal-Ich mächtig geblieben und üben jetzt als Gewissen die moralische Zensur aus. Die Spannung zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs wird als Schuldgefühl empfunden. Die sozialen Gefühle ruhen auf Identifizierungen mit anderen auf Grund des gleichen Ichideals. Religion, Moral und soziales Empfinden - diese Hauptinhalte des Höheren im Menschen7 - sind ursprünglich eins gewesen. Nach der Hypothese von"Totem und Tabu" [Freud, 1912-13a] wurden sie phylogenetisch am Vaterkomplex erworben/ Religion und sittliche Beschränkung durch die Bewältigung des eigentlichen Ödipuskomplexes, die sozialen Gefühle durch die Nötigung zur Überwindung der erübrigenden Rivalität unter den Mitgliedern der jungen Generation. [...]
1.5 Die Objektfindung Die Schrift "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" ist ursprünglich als dünne Broschüre im Umfang von 83 Seiten erschienen. Das im Zuge der Entfaltung der psychoanalytischen Theorie und Praxis neu erworbene Wissen hat Freud kontinuierlich in spätere Auflagen eingearbeitet, so dass schließlich der umfangreiche Text entstehen konnte, dem der nachfolgende Abschnitt entnommen ist. Dieses Vorgehen hat Freud sonst nur noch auf "Die Traumdeutung" (1900a) angewandt. Es zeigt, welche Bedeutung er gerade diesen beiden Schriften und damit dem Traum und dem Begehren zuerkannte. Die innige Verbindung zwischen der infantilen Wunschwelt und der infantilen Sexualität (Nitzschke, 2005a) ist schließlich auch die Basis der Freudschen Theorie der Sexualität (s. Kap. 3. des vorliegenden Bandes). Und diese Theorie ist nicht zu verstehen, wenn man die zentrale Bedeutung nicht 7
Wissenschaft und Kunst sind hier bei Seite gelassen.
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
versreht, die Freud der lebensnotwendigenSuche des Kindes nach einem "Objekt" zuerkannt hat, das die urspriinglichkörpemahen (triebhaften) Wünsche befriedigt. Gelingt die "Objektfindung", so hat die Suche ihr Ziel erreicht: Nun ist eine Bindung an die Mutter möglich, in der das Kind primäre Liebe - sprich: elementare Versorgung und fundamentale Sicherheit - erleben kann. Das ist die Grundlage jeder Liebe, wenngleich die späteren Modifikationen der Liebe ihre körpemahe Basis nicht ohne weiteres offenbaren: "Wir nennen die Mutter das erste Liebesobjekt. Von Liebe sprechen wir nämlich, wenn wir die seelische Seite der Sexualstrebungen in den Vordergrund rücken und die zu Grunde liegenden körperlichen oder ,sinnlichen' Triebanforderungen [...] für einen Moment vergessen wollen" (Freud,. 1916-17a, S. 341). Doch in der ursprllnglichen Situation der Abhängigkeit, in der sich der Säugling befindet, der mit seinem ganzen Körper die Mutter liebt, gibt es diese Trennung noch nicht. Und insofern ist die lustvolle Erregung des Körpers des Kindes, die im Kontakt mit dem Körper der Mutter hervorgerufen wird, nicht von der "Liebe" des Kindes zur Mutter zu trennen. Das heißt: die infantile Sexualität ist ein Teil der Bindung des Kindes an die Mutter (Nitzschke, 2009). Aus dieser Bindung löst sich das Kind in dem Maße, in dem es Schritt für Schritt in der Lage ist, die ursprüngliche Zweierbeziehung zu modifizieren. Das beginnt mit der Einbeziehung eines Dritten (das ist in der Regel der Vater). Und schließlich sreht mit Beginn der Pubertät die Abgrenzung von beiden Eltern an. "durch welche erst der für den Kulturfortschritt so wichtige Gegensatz der neuen Generation zur alten geschaffen wird", wie es im unten abgedruckten Text heißt. Mit diesem Fort-Schritt in die gesellschaftliche Welt richtet sich die in der Beziehung zur Mutter erworbene und durch die Beziehung zum Vater modifizierte Liebesfähigkeit auf einen Menschen außerhalb der Familie, der dann so geliebt wird wie ursprünglich die Mutter - also mit dem ganzen Körper. Und soweit dies gelingt, spricht Freud von der reifen Sexualität des Erwachsenen.
_. Freud, 8. (1905d). Drei Abhandlungen zur 8exualtheorie. GW V, 8.123-131. Während durch die Pubertätsvorgänge das Primat der Genitalzonen festgelegt wird und das Vordrängen des erigiert gewordenen Gliedes beim Manne gebieterisch auf das neue Sexualziel hinweist, auf das Eindringen in eine die Geni-
1.5 Die Objektfindung
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talzone erregende Körperhöhle, vollzieht sich von psychischer Seite her die Objektfindung, für welche von der frühesten Kindheit an vorgearbeitet worden ist. Als die anfänglichste Sexualbefriedigung noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war, hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers in der Mutterbrust. Er verlor es nur später, vielleicht gerade zur Zeit, als es dem Kinde möglich wurde, die Gesamtvorstellung der Person, welcher das ihm Befriedigung spendende Organ angehörte, zu bilden. Der Geschlechtstrieb wird dann in der Regel autoerotisch und erst nach Überwindung der Latenzzeit stellt sich das ursprüngliche Verhältnis wieder her. Nicht ohne guten Grund ist das Saugen des Kindes an der Brust der Mutter vorbildlich für jede Liebesbeziehung geworden. Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung. 8 Aber von dieser ersten und wichtigsten aller sexuellen Beziehungen bleibt auch nach der Abtrennung der Sexualtätigkeit von der Nahrungsaufnahme ein wichtiges Stück übrig, welches die Objektwahl vorbereiten, das verlorene Glück also wiederherstellen hilft. Die ganze Latenzzeit über lernt das Kind andere Personen, die seiner Hilflosigkeit abhelfen und seine Bedürfnisse befriedigen, lieben, durchaus nach dem Muster und in Fortsetzung seines Säuglingsverhältnisses zur Amme. Man wird sich vielleicht sträuben wollen, die zärtlichen Gefühle und die Wertschätzung des Kindes für seine Pflegepersonen mit der geschlechtlichen Liebe zu identifizieren, allein ich meine, eine genauere psychologische Untersuchung wird diese Identität über jeden Zweifel hinaus feststellen können. Der Verkehr des Kindes mit seiner Pflegeperson ist für dasselbe eine unaufhörlich fließende Quelle sexueller Erregung und Befriedigung von erogenen Zonen aus, zumal da letztere - in der Regel doch die Mutter - das Kind selbst mit Gefühlen bedenkt, die aus ihrem Sexualleben stammen, es streichelt, küßt und wiegt, und ganz deutlich zum Ersatz für ein vollgültiges Sexualobjekt nimmt. 9 Die Mutter würde wahrscheinlich erschrecken, wenn man ihr die Aufklärung gäbe, daß sie 8
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Die Psychoanalyse lehrt, daß es zwei Wege der Objektfindung gibt, erstens die im Text besprochene, die in Anlehnung an die frühinfantilen Vorbilder vor sich geht, und zweitens die narzißtische, die das eigene Ich sucht und im anderen wiederfindet. Diese letztere hat eine besonders große Bedeutung für die pathologischen Ausgänge, fügt sich aber nicht in den hier behandelten Zusammenhang. [Die hier genannte Unterscheidung zwischen dem Ahnlehnungstypus einerseits und dem narzißtischem 'JYpus der Objektwahl andererseits führt Freud, 1914c, S. 154-158, näher aus]. Wem diese Auffassung "frevelhaft" dünkt, der lese die fast gleichsinnige Behandlung des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind bei Havelock Eilis (1903, S. 16) nach.
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mit all ihren Zärtlichkeiten den Sexualtrieb ihres Kindes weckt und dessen spätere Intensität vorbereitet. Sie hält ihr Tun für asexuelle "reine" Liebe, da sie es doch sorgsam vermeidet, den Genitalien des Kindes mehr Erregungen zuzuführen, als bei der Körperpflege unumgänglich ist. Aber der Geschlechtstrieb wird nicht nur durch Erregung der Genitalzone geweckt, wie wir ja wissen; was wir Zärtlichkeit heißen, wird unfehlbar eines Tages seine Wirkung auch auf die Genitalzonen äußern. Verstünde die Mutter mehr von der hohen Bedeutung der Triebe für das gesamte Seelenleben, für alle ethischen und psychischen Leistungen, so würde sie sich übrigens auch nach der Aufklärung alle Selbstvorwürfe ersparen. Sie erfüllt nur ihre Aufgabe, wenn sie das Kind lieben lehrt; es soll ja ein tüchtiger Mensch mit energischem Sexualbedürfnis werden und in seinem Leben all das vollbringen, wozu der Trieb den Menschen drängt. Ein Zuviel von elterlicher Zärtlichkeit wird freilich schädlich werden, indem es die sexuelle Reifung beschleunigt, auch dadurch, daß es das Kind "verwöhnt", es unfähig macht, im späteren Leben auf Liebe zeitweilig zu verzichten oder sich mit einem geringeren Maß davon zu begnügen. Es ist eines der besten Vorzeichen späterer Nervosität, wenn das Kind sich unersättlich in seinem Verlangen nach Zärtlichkeit der Eltern erweist, und anderseits werden gerade neuropathische Eltern, die ja meist zur maßlosen Zärtlichkeit neigen, durch ihre Liebkosungen die Disposition des Kindes zur neurotischen Erkrankung am ehesten erwecken. Man ersieht übrigens aus diesem Beispiel, daß es für neurotische Eltern direktere Wege als den der Vererbung gibt, ihre Störung auf die Kinder zu übertragen. Die Kinder selbst benehmen sich von frühen Jahren an, als sei ihre Anhänglichkeit an ihre Pflegepersonen von der Natur der sexuellen Liebe. Die Angst der Kinder ist ursprünglich nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß sie die geliebte Person vermissen; sie kommen darum jedem Fremden mit Angst entgegen; sie fürchten sich in der Dunkelheit, weil man in dieser die geliebte Person nicht sieht, und lassen sich beruhigen, wenn sie dieselbe in der Dunkelheit bei der Hand fassen können. Man überschätzt die Wirkung aller Kinderschrecken und gruseligen Erzählungen der Kinderfrauen, wenn man diesen Schuld gibt, daß sie die Ängstlichkeit der Kinder erzeugen. Kinder, die zur Ängstlichkeit neigen, nehmen nur solche Erzählungen auf, die an anderen durchaus nicht haften wollen; und zur Ängstlichkeit neigen nur Kinder mit übergroßem oder vorzeitig entwickeltem oder durch Verzärtelung anspruchsvoll gewordenem Sexualtrieb. Das Kind benimmt sich hierbei wie der Erwachsene, indem es sei-
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ne Libido in Angst verwandelt, sowie es sie nicht zur Befriedigung zu bringen vermag, und der Erwachsene wird sich dafür, wenn er durch unbefriedigte Libido neurotisch geworden ist, in seiner Angst wie ein Kind benehmen, sich zu fürchten beginnen, sowie er allein, das heißt ohne eine Person ist, deren Liebe er sicher zu sein glaubt, und diese seine Angst durch die kindischesten Maßregeln beschwichtigen wollen. 10 Wenn die Zärtlichkeit der Eltern zum Kinde es glücklich vermieden hat, den Sexualtrieb desselben vorzeitig, das heißt ehe die körperlichen Bedingungen der Pubertät gegeben sind, in solcher Stärke zu wecken, daß die seelische Erregung in unverkennbarer Weise zum Genitalsystem durchbricht, so kann sie ihre Aufgabe erfüllen, dieses Kind im Alter der Reife bei der Wahl des Sexualobjekts zu leiten. Gewiß läge es dem Kinde am nächsten, diejenigen Personen selbst zu Sexualobjekten zu wählen, die es mit einer sozusagen abgedämpften Libido seit seiner Kindheit liebt.H Aber durch den Aufschub der sexuellen Reifung ist die Zeit gewonnen worden, neben anderen SexuaIhemmnissen die Inzestschranke aufzurichten, jene moralischen Vorschriften in sich aufzunehmen, welche die geliebten Personen der Kindheit als Blutsverwandte ausdrücklich von der Objektwahl ausschließen. Die Beachtung dieser Schranke ist vor allem eine Kulturforderung der Gesellschaft, welche sich gegen die Aufzehrung von Interessen durch die Familie wehren muß, die sie für die Herstellung höherer sozialer Einheiten braucht, und darum mit allen Mitteln dahin wirkt, bei jedem einzel-
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Die Aufklärung über die Herkunft der kindlichen Angst verdanke ich einem dreijährigen Knaben, den ich einmal aus einem dunklen Zimmer bitten hörte: "Tante, sprich mit mir; ich fürchte mich, weil es so dunkel ist." Die Tante rief ihn an: "Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht." "Das macht nichts," antwortete das Kind, "wenn jemand spricht, wird es hell." - Er fürchtete sich also nicht vor der Dunkelheit, sondern weil er eine geliebte Person vermißte, und konnte versprechen sich zu beruhigen, sobald er einen Beweis von deren Anwesenheit empfangen hatte. - Daß die neurotische Angst aus der Libido entsteht, ein Umwandlungsprodukt derselben darstellt, sich also etwa so zu ihr verhält, wie der Essig zum Wein, ist eines der bedeutsamsten Resultate der psychoanalytischen Forschung. Eine weitere Diskussion dieses Problems siehe in meinen "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" [Freud, 1916-17a], woselbst wohl auch nicht die endgültige Aufklärung erreicht worden ist. Vgl. hierzu das [...] über die Objektwahl des Kindes Gesagte: die "zärtliche Strömung" [Freud, 1905d, S. 101].
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nen, speziell beim Jüngling, den in der Kindheit allein maßgebenden Zusammenhang mit seiner Familie zu lockemY Die Objektwahl wird aber zunächst in der Vorstellung vollzogen und das Geschlechtsleben der eben reifenden Jugend hat kaum einen anderen Spielraum, als sich in Phantasien, das heißt in nicht zur Ausführung bestimmten Vorstellungen zu ergeben. 13 In diesen Phantasien treten bei allen Menschen die infan12
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Die Inzestschranke gehört wahrscheinlich zu den historischen Erwerbungen der Menschheit und dürfte wie andere Moraltabus bereits bei vielen Individuen durch organische Vererbung fixiert sein. (Vgl. Freud, 1912-13a). Doch zeigt die psychoanalytische Untersuchung, wie intensiv noch der einzelne in seinen Entwicklungszeiten mit der Inzestversuchung ringt, und wie häufig er sie in Phantasien und selbst in der Realität übertritt. Die Phantasien der Pubertätszeit knüpfen an die in der Kindheit verlassene infantile Sexualforschung an, reichen wohl auch ein Stück in die Latenzzeit zurück. Sie können ganz oder zum großen Teil unbewußt gehalten werden, entziehen sich darum häufig einer genauen Datierung. Sie haben große Bedeutung für die Entstehung mannigfaltiger Symptome, indem sie geradezu die Vorstufen derselben abgeben, also die Formen herstellen, in denen die verdrängten Libidokomponenten ihre Befriedigung finden. Ebenso sind sie die Vorlagen der nächtlichen Phantasien, die als Träume bewußt werden. Träume sind häufig nichts anderes als Wiederbelebungen solcher Phantasien unter dem Einfluß und in AnLehnung an einen aus dem Wach1eben erübrigten Tagesreiz ("Tagesreste"). - Unter den sexuellen Phantasien der Pubertätszeit ragen einige hervor, welche durch allgemeinstes Vorkommen und weitgehende Unabhängigkeit vom Erleben des Einzelnen ausgezeichnet sind. So die Phantasien von der Belauschung des elterlichen Geschlechtsverkehrs, von der frühen Verführung durch geliebte Personen, von der Kastrationsdrohung, die Mutterleibsphantasien, deren Inhalt Verweilen und selbst Erlebnisse im Mutterleib sind, und der sogenannte "Familienroman", in welchem der Heranwachsende auf den Unterschied seiner Einstellung zu den Eltern jetzt und in der Kindheit reagiert. Die nahen Beziehungen dieser Phantasien zum Mythus hat für das letzte Beispiel O. Rank in seiner Schrift "Der Mythus von der Geburt des Helden" 1909 aufgezeigt. Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist. das wesentliche Stück im Inhalt der Neurose darstellt. In ihm gipfelt die infantile Sexualität, welche durch ihre Nachwirkungen die Sexualität des Erwachsenen entscheidend beeinflußt. Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen. Der Fortschritt der psychoanalytischen Arbeit hat diese Bedeutung des Ödipuskomplexes immer schärfer gezeichnet; seine Anerkennung ist das Schiboleth geworden, welches die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern scheidet. In einer anderen Schrift (Das Trauma der Geburt, 1924) hat Rank die Mutterbindung auf die embryonale Vorzeit zurückgeführt und so die biologische Grundlage des Ödipuskomplexes aufgezeigt. Die Inzestschranke leitet er abweichend vom Vorstehenden von dem traumatischen Eindruck der Geburtsangst ab.
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tilen Neigungen, nun durch den somatischen Nachdruck verstärkt, wieder auf; und unter ihnen in gesetzmäßiger Häufigkeit und an erster Stelle die meist bereits durch die Geschlechtsanziehung differenzierte Sexualregung des Kindes für die Eltern, des Sohnes für die Mutter und der Tochter für den Vater. 14 Gleichzeitig mit der Überwindung und Verwerfung dieser deutlich inzestuösen Phantasien wird eine der bedeutsamsten, aber auch schmerzhaftesten, psychischen Leistungen der Pubertätszeit vollzogen, die Ablösung von der Autorität der Eltern, durch welche erst der für den Kulturfortschritt so wichtige Gegensatz der neuen Generation zur alten geschaffen wird. Auf jeder der Stationen des Entwicklungsganges, den die Individuen durchmachen sollen, wird eine Anzahl derselben zurückgehalten, und so gibt es auch Personen, welche die Autorität der Eltern nie überwunden und ihre Zärtlichkeit von denselben nicht oder nur sehr unvollständig zurückgezogen haben. Es sind zumeist Mädchen, die so zur Freude der Eltern weit über die Pubertät hinaus bei der vollen Kinderliebe verbleiben, und da wird es dann sehr lehrreich zu finden, daß es diesen Mädchen in ihrer späteren Ehe an dem Vermögen gebricht, ihren Männern das Gebührende zu schenken. Sie werden kühle Ehefrauen und bleiben sexuell anästhetisch. Man lernt daraus, daß die anscheinend nicht sexuelle Liebe zu den Eltern und die geschlechtliche Liebe aus denselben Quellen gespeist werden, das heißt, daß die erstere nur einer infantilen Fixierung der Libido entspricht. Je mehr man sich den tieferen Störungen der psychosexuellen Entwicklung nähert, desto unverkennbarer tritt die Bedeutung der inzestuösen Objektwahl hervor. Bei den Psychoneurotikern verbleibt infolge von Sexualablehnung ein großes Stück oder das Ganze der psychosexuellen Tätigkeit zur Objektfindung im Unbewußten. Für die Mädchen mit übergroßem Zärtlichkeitsbedürfnis und ebensolchem Grausen vor den realen Anforderungen des Sexuallebens wird es zu einer unwiderstehlichen Versuchung, sich einerseits das Ideal der asexuellen Liebe im Leben zu verwirklichen und andererseits ihre Libido hinter einer Zärtlichkeit, die sie ohne Selbstvorwurf äußern dürfen, zu verbergen, indem sie die infantile, in der Pubertät aufgefrischte Neigung zu Eltern oder Geschwistern fürs Leben festhalten. Die Psychoanalyse kann solchen Personen mühelos nachweisen, daß sie in diese ihre Blutsverwandten im gemeinverständlichen Sinne des Wortes verliebt sind, indem sie mit Hilfe der Symptome und anderen 14
Vergleiche die Ausführungen über das unvermeidliche Verhängnis in der Ödipusfabel [Freud, 1900a, S. 267-271].
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Krankheitsäußerungen ihre unbewußten Gedanken aufspürt und in bewußte übersetzt. Auch wo ein vorerst Gesunder nach einer unglücklichen Liebeserfahrung erkrankt ist, kann man als den Mechanismus solcher Erkrankung die Rückwendung seiner Libido auf die infantil bevorzugten Personen mit Sicherheit aufdecken. Auch wer die inzestuöse Fixierung seiner Libido glücklich vermieden hat, ist dem Einfluß derselben nicht völlig entzogen. Es ist ein deutlicher Nachklang dieser Entwicklungsphase, wenn die erste ernsthafte Verliebtheit des jungen Mannes, wie so häufig, einem reifen Weibe, die des Mädchens einem älteren, mit Autorität ausgestatteten Manne gilt, die ihnen das Bild der Mutter und des Vaters beleben können. 15 In freierer Anlehnung an diese Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich. Vor allem sucht der Mann nach dem Erinnerungsbild der Mutter, wie es ihn seit den Anfängen der Kindheit beherrscht; im vollen Einklang steht es damit, wenn sich die noch lebende Mutter gegen diese ihre Erneuerung sträubt und ihr mit Feindseligkeit begegnet. Bei solcher Bedeutung der kindlichen Beziehungen zu den Eltern für die spätere Wahl des Sexualobjekts ist es leicht zu verstehen, daß jede Störung dieser Kindheitsbeziehungen die schwersten Folgen für das Sexualleben nach der Reife zeitigt; auch die Eifersucht des Liebenden ermangelt nie der infantilen Wurzel oder wenigstens der infantilen Verstärkung. Zwistigkeiten zwischen den Eltern selbst, unglückliche Ehe derselben, bedingen die schwerste Prädisposition für gestörte Sexualentwicklung oder neurotische Erkrankung der Kinder. Die infantile Neigung zu den Eltern ist wohl die wichtigste, aber nicht die einzige der Spuren, die, in der Pubertät aufgefrischt, dann der Objektwahl den Weg weisen. Andere Ansätze derselben Herkunft gestatten dem Manne noch immer in Anlehnung an seine Kindheit mehr als eine einzige Sexualreihe[16] zu entwickeln, ganz verschiedene Bedingungen für die Objektwahl auszubilden. 17 15
Siehe meinen Aufsatz"Über einen besonderen Typus der ObjektwahI beim Manne" [Freud,191Oh]. [16] Der Begriff taucht bei Freud nur an dieser Stelle auf. Gemeint ist die Reihe der Liebespartner, die aufgrund eines gemeinsamen Merkmals ausgewählt werden, das aufgrund unbewusster Kindheitserlebnisse für die PartnerwahI prägend ist. 17 Ungezählte Eigentümlichkeiten des menschlichen Liebeslebens sowie das Zwanghafte der Verliebtheit selbst sind überhaupt nur durch die Rückbeziehung auf die Kindheit und als Wirkungsreste derselben zu verstehen.
1.5 Die Objektfindung
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Eine bei der Objektwahl sich ergebende Aufgabe liegt darin, das entgegengesetzte Geschlecht nicht zu verfehlen. Sie wird, wie bekannt, nicht ohne einiges Tasten gelöst. Die ersten Regungen nach der Pubertät gehen häufig genug ohne dauernden Schaden - irre. Dessoir hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, welche Gesetzmäßigkeit sich in den schwärmerischen Freundschaften von Jünglingen und Mädchen für ihresgleichen verrät. Die größte Macht, welche eine dauernde Inversionl18] des Sexualobjektes abwehrt, ist gewiß die Anziehung, welche die entgegengesetzten Geschlechtscharaktere für einander äußern; zur Erklärung derselben kann im Zusammenhange dieser Erörterungen nichts gegeben werden. 19 Aber dieser Faktor reicht für sich allein nicht hin, die Inversion auszuschließen; es kommen wohl allerlei unterstützende Momente hinzu. Vor allem die Autoritätshemmung der Gesellschaft; wo die Inversion nicht als Verbrechen betrachtet wird, da kann man die Erfahrung machen, daß sie den sexuellen Neigungen nicht weniger Individuen voll entspricht. Ferner darf man für den Mann annehmen, daß die Kindererinnerung an die Zärtlichkeit der Mutter und anderer weiblicher Personen, denen er als Kind überantwortet war, energisch mithilft, seine Wahl auf das Weib zu lenken, während die von seiten des Vaters erfahrene frühzeitige Sexualeinschüchterung und die Konkurrenzeinstellung zu ihm vom gleichen Geschlechte ablenkt. Beide Momente gelten aber auch für das Mädchen, dessen Sexualbetätigung unter der besonderen Obhut der Mutter steht. Es ergibt sich so eine feindliche Beziehung zum eigenen Geschlecht, welche die Objektwahl entscheidend in dem für normal geltenden Sinn beeinflußt. Die Erziehung der Knaben durch männliche Personen (Sklaven in der antiken Welt) scheint die Homosexualität zu begünstigen; beim heutigen Adel wird die Häufigkeit der Inversion wohl durch die Verwendung männlicher Dienerschaft wie durch die geringere persönliche Fürsorge der Mütter für ihre Kinder um etwas verständlicher. Bei manchen Hysterischen ergibt sich, daß der frühzeitige Wegfall einer Person des Elternpaares (durch Tod, Ehescheidung, Entfremdung), worauf dann die übrigbleibende die ganze Liebe des Kindes an sich gezogen hatte, die Bedingung für das Geschlecht der später zum Sexualobjekt gewählten Person festgestellt und damit auch die dauernde Inversion ermöglicht hat. [18] Inversion = Freuds Bezeichnung für Homosexualität. 19 Es ist hier der Ort, auf eine gewiß phantastische, aber überaus geistreiche Schrift von Ferenczi (Versuch einer Genitaltheorie, 1924) hinzuweisen, in der das Geschlechtsleben der höheren TIere aus ihrer biologischen Entwicklungsgeschichte abgeleitet wird.
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1.6 Formulierungen über die zwei Pri.n.zipien des psychischen Geschehens
In dieser Arbeit wird die Regulation (Verarbeitung, Bewältigung) der psycho-physischen - und das heißt bei Freud auch: der affektiven - Erregungen unter grundsätzlichen Gesichtspunkten erörtert. "Wll' hatten uns in die Fiktion eines primitiven psychischen Apparats vertieft, dessen Arbeit durch das Bestreben geregelt wird, Anhäufung von Erregung zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten. [...] Eine solche, von Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch [...]", schreibt Freud in der "Traumdeutung" (1900a, S. 604). In dieser Formulierung erscheinen die Erlebnis-Qualitäten Unlust und Lust als Äquivalente der Zu- und Abnahme einer Quantität. Dieser Spannungserhöhung und Spannungsreduzierung sind spezifische Erlebnis-Qualitäten (und damit Affekte) zugeordnet. Da nun aber die (Trieb-)Wünsche in ihrer ursprünglichen (animalischen) Gestalt nur in der frühen Mutter-Kind-Beziehung und später gar nicht mehr und die kulturell modifizierten (Trieb-)Wünsche in der Regel auch nicht unmittelbar, sondern nur unter Berücksichtigung der Bedingungen der Außen- und Innenwelt, also zeitverzögert zu erfillien sind, ist der Mensch gezwungen, von der Regulation der Wünsche (und Affekte) nach dem Lustprinzip Abstand zu nehmen. In der Alltagsprache ausgedrückt heißt das: Erst die Arbeit, dann der Lohn! In Freuds Theoriesprache formuliert bedeutet das: Die Wünsche (und Affekte) sind nach dem Realitätsprinzip zu regulieren. Mit diesem Konzept wurde "die psychologische Bedeutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren" aufgenommen, heißt es im unten abgedruckten Text. Das ist denn auch der tragende Pfeiler der Theorie wie der Therapie der Freudschen Psychoanalyse. Denn das übergreifende Ziel der Therapie besteht darin, "jenen Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip" zu ermöglichen, "durch welchen sich der reife Mann vom Kinde scheidet" (Freud, 1916d, S. 365). Aus diesem Grund hat Freud die psychoanalytische Therapie wiederholt als "eine Art von Nacherziehung" (1913b, S. 449) charakterisiert.
-
Freud, S. (1911b). Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. GW VIII, S. 230-238.
Wll' haben seit langem gemerkt, daß jede Neurose die Folge, also wahrscheinlich die Tendenz habe, den Kranken aus dem realen Leben herauszudrängen, ihn der
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Wirklichkeit zu entfremden. Eine derartige Tatsache konnte auch der Beobachtung P. Janets nicht entgehen; er sprach von einem Verluste "de la fonction du reel" als von einem besonderen Charakter der Neurotiker, ohne aber den Zusammenhang dieser Störung mit den Grundbedingungen der Neurose aufzudecken. 20 Die Einführung des Verdrängungsprozesses in die Genese der Neurose hat uns gestattet, in diesen Zusammenhang Einsicht zu nehmen. Der Neurotiker wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil er sie - ihr Ganzes oder Stücke derselben - unerträglich findet. Den extremsten Typus dieser Abwendung von der Realität zeigen uns gewisse Fälle von halluzinatorischer Psychose, in denen jenes Ereignis verleugnet werden soll, welches den Wahnsinn hervorgerufen hat (Griesinger [Wilhelm, 1817-1868]). Eigentlich tut aber jeder Neurotiker mit einem Stückchen der Realität das gleiche. 21 Es erwächst uns nun die Aufgabe, die Beziehung des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur Realität auf ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psychologische Bedeutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren aufzunehmen. Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten Psychologie gewöhnt, die unbewußten seelischen Vorgänge zum Ausgange zu nehmen, deren Eigentümlichkeiten uns durch die Analyse bekannt worden sind. Wir halten diese für die älteren, primären, für Überreste aus einer Entwicklungsphase, in welcher sie die einzige Art von seelischen Vorgängen waren. Die oberste Tendenz, welcher diese primären Vorgänge gehorchen, ist leicht zu erkennen; sie wird als das Lust-Unlust-Prinzip (oder kürzer als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück (Verdrängung). Unser nächtliches Träumen, unsere Wachtendenz, uns von peinlichen Eindrücken loszureißen, sind Reste von der Herrschaft dieses Prinzips und Beweise für dessen Mächtigkeit. Ich greife auf Gedankengänge zurück, die ich an anderer Stelle (im allgemeinen Abschnitt der Traumdeutung) entwickelt habe, wenn ich supponiere, daß der psychische Ruhezustand anfänglich durch die gebieterischen Forderungen der inneren Bedürfnisse gestört wurde. In diesem Falle wurde das Gedachte (Ge20 21
P. Janet, Les N~vroses. 1909. Biblioth~que de Philosophie scientifique. [Mit "fonction du r~l" ist die Wahrnehmung der Realität aufgrund von Sinneseindrücken gemeint]. Eine merkwürdig klare Ahnung dieser Verursachung hat kürzlich Otto Rank [1911] in einer Stelle Schopenhauers aufgezeigt. (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band. [Kap 32]).
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
wünschte) einfach halluzinatorisch gesetzt, wie es heute noch allnächtlich mit unseren Traumgedanken geschieht. 22 Erst das Ausbleiben der erwarteten Befriedigung, die Enttäuschung, hatte zur Folge, daß dieser Versuch der Befriedigung auf halluzinatorischem Wege aufgegeben wurde. Anstatt seiner mußte sich der psychische Apparat entschließen, die realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzustreben. Damit war ein neues Prinzip der seelischen Tätigkeit eingeführt; es wurde nicht mehr vorgestellt, was angenehm, sondern was real war, auch wenn es unangenehm sein sollte. 23 Diese Einsetzung des Realitätsprinzips erwies sich als ein folgenschwerer Schritt. 1) Zunächst machten die neuen Anforderungen eine Reihe von Adaptierungen des psychischen Apparats nötig, die wir infolge von ungenügender oder unsicherer Einsicht nur ganz beiläufig aufführen können. Die erhöhte Bedeutung der äußeren Realität hob auch die Bedeutung der jener Außenwelt zugewendeten Sinnesorgane und des an sie geknüpften Bewußtseins, welches außer den bisher allein interessanten Lust- und Unlustqualitäten 22 23
Der Schlafzustand kann das Ebenbild des Seelenlebens vor der Anerkennung der Realität wiederbringen, weil er die absichtliche Verleugnung derselben (Schlafwunsch) zur Voraussetzung nimmt. Ich will versuchen, die obige schematische Darstellung durch einige Ausführungen zu ergänzen: Es wird mit Recht eingewendet werden, daß eine solche Organisation, die dem Lustprinzip frönt und die Realität der Außenwelt vernachlässigt, sich nicht die kürzeste Zeit arn Leben erhalten könnte, so daß sie überhaupt nicht hätte entstehen können. Die Verwendung einer derartigen Fiktion rechtfertigt sich aber durch die Bemerkung, daß der Säugling, wenn man nur die Mutterpflege hinzunimmt, ein solches psychisches System nahezu realisiert. Er halluziniert wahrscheinlich die Erfüllung seiner inneren Bedürfnisse, verrät seine Unlust bei steigendem Reiz und ausbleibender Befriedigung durch die motorische Abfuhr des Schreiens und Zappelns und erlebt darauf die halluzinierte Befriedigung. Er erlernt es später als Kind, diese Abfuhräußerungen absichtlich als Ausdrucksmittel zu gebrauchen. Da die Säuglingspflege das Vorbild der späteren Kinderfürsorge ist, kann die Herrschaft des Lustprinzips eigentlich erst mit der vollen psychischen Ablösung von den Eltern ein Ende nehmen. - Ein schönes Beispiel eines von den Reizen der Außenwelt abgeschlossenen psychischen Systems, welches selbst seine Ernährungsbedürfnisse autistisch (nach einem Worte Bleulers) befriedigen kann, gibt das mit seinem Nahrungsvorrat in die EischaIe eingeschlossene Vogelei, für das sich die Mutterpflege auf die Wärmezufuhr einschränkt. - Ich werde es nicht als Korrektur, sondern nur als Erweiterung des in Rede stehenden Schemas ansehen, wenn man für das nach dem Lustprinzip lebende System Einrichtungen fordert, mittels deren es sich den Reizen der Realität entziehen kann. Diese Einrichtungen sind nur das Korrelat der"Verdrängung", welche innere Unlustreize so behandelt, als ob sie äußere wären, sie also zur Außenwelt schlägt.
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die Sinnesqualitäten auffassen lernte. Es wurde eine besondere Funktion eingerichtet, welche die Außenwelt periodisch abzusuchen hatte, damit die Daten derselben im vorhinein bekannt wären, wenn sich ein unaufschiebbares inneres Bedürfnis einstellte, die Aufmerksamkeit. Diese Tätigkeit geht den Sinneseindrücken entgegen, anstatt ihr Auftreten abzuwarten. Wahrscheinlich wurde gleichzeitig damit ein System von Merken eingesetzt, welches die Ergebnisse dieser periodischen Bewußtseinstätigkeit zu deponieren hatte, ein Teil von dem, was wir Gedächtnis heißen. An Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der auftauchenden Vorstellungen als unlusterzeugend von der Besetzung ausschloß, trat die unparteiische Urteilsfällung, welche entscheiden sollte, ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch, das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht, und durch Vergleichung mit den Erinnerungsspuren der Realität darüber entschied. Die motorische Abfuhr, die während der Herrschaft des Lustprinzips zur Entlastung des seelischen Apparats von Reizzuwächsen gedient hatte und dieser Aufgabe durch ins Innere des Körpers gesandte Innervationen (Mimik, Affektäußerungen) nachgekommen war, erhielt jetzt eine neue Funktion, indem sie zur zweckmäßigen Veränderung der Realität verwendet wurde. Sie wandelte sich zum Handeln. Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Abfuhr (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß besorgt, welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben. Dazu war eine Überführung der frei verschiebbaren Besetzungen in gebundene erforderlich, und eine solche wurde mittels einer Niveauerhöhung des ganzen Besetzungsvorganges erreicht. Das Denken war wahrscheinlich ursprünglich unbewußt, insoweit es sich über das bloße Vorstellen erhob und sich den Relationen der Objekteindrücke zuwendete, und erhielt weitere für das Bewußtsein wahrnehmbare Qualitäten erst durch die Bindung an die Wortreste. 2) Eine allgemeine Tendenz unseres seelischen Apparats, die man auf das ökonomische Prinzip der Aufwandersparnis zurückführen kann, scheint sich in der Zähigkeit des Festhaltens an den zur Verfügung stehenden Lustquellen und in
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
der Schwierigkeit des Verzichts auf dieselben zu äußern. Mit der Einsetzung des Realitätsprinzips wurde eine Art Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung frei gehalten und allein dem Lustprinzip unterworfen blieb. 24 Es ist dies das Phantasieren, welches bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt die Anlehnung an reale Objekte aufgibt. 3) Die Ablösung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip mit den aus ihr hervorgehenden psychischen Folgen, die hier in einer schematisierenden Darstellung in einen einzigen Satz gebannt ist, vollzieht sich in Wirklichkeit nicht auf einmal und nicht gleichzeitig auf der ganzen Linie. Während aber diese Entwicklung an den Ichtrieben vor sich geht, lösen sich die Sexualtriebe in sehr bedeutsamer Weise von ihnen ab. Die Sexualtriebe benehmen sich zunächst autoerotisch, sie finden ihre Befriedigung am eigenen Leib und gelangen daher nicht in die Situation der Versagung, welche die Einsetzung des Realitätsprinzips erzwungen hat. Wenn dann später bei ihnen der Prozeß der Objektfindung beginnt, erfährt er alsbald eine lange Unterbrechung durch die Latenzzeit, welche die Sexualentwicklung bis zur Pubertät verzögert. Diese beiden Momente - Autoerotismus und Latenzperiode - haben zur Folge, daß der Sexualtrieb in seiner psychischen Ausbildung aufgehalten wird und weit länger unter der Herrschaft des Lustprinzips verbleibt, welcher er sich bei vielen Personen überhaupt niemals zu entziehen vermag. Infolge dieser Verhältnisse stellt sich eine nähere Beziehung her zwischen dem Sexualtrieb und der Phantasie einerseits, den Ichtrieben und den Bewußtseinstätigkeiten anderseits. Diese Beziehung tritt uns bei Gesunden wie Neurotikern als eine sehr innige entgegen, wenngleich sie durch diese Erwägungen aus der genetischen Psychologie als eine sekundäre erkannt wird. Der fortwirkende Autoerotismus macht es möglich, daß die leichtere momentane und phantastische Befriedigung am Sexualobjekte so lange an Stelle der realen, aber Mühe und Aufschub erfordernden, festgehalten wird. Die Verdrängung bleibt im Reiche des Phantasierens allmächtig; sie bringt es zustande, Vorstellungen in statu nascendi, ehe sie dem Bewußtsein auffallen können, zu hemmen, wenn deren Besetzung zur Unlustentbindung Anlaß geben kann. Dies ist die schwache Stelle unserer psychischen Organisation, die dazu benutzt werden kann, um bereits 24
Ähnlich wie eine Nation, deren Reichtum auf der Ausbeutung ihrer Bodenschätze beruht, doch ein bestimmtes Gebiet reserviert, das im Urzustande belassen und von den Veränderungen der Kultur verschont werden soll (Yellowstonepark).
1.6 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
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rationell gewordene Denkvorgänge wieder unter die Herrschaft des Lustprinzips zu bringen. Ein wesentliches Stück der psychischen Disposition zur Neurose ist demnach durch die verspätete Erziehung des Sexualtriebs zur Beachtung der Realität und des weiteren durch die Bedingungen, welche diese Verspätung ermöglichen, gegeben. 4) Wie das Lust-Ich nichts anderes kann als wünschen, nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht das Real-Ich nichts anderes zu tun als nach Nutzen zu streben und sich gegen Schaden zu sichern. 25 In Wirklichkeit bedeutet die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung desselben. Eine momentane, in ihren Folgen unsichere Lust wird aufgegeben, aber nur darum, um auf dem neuen Wege eine später kommende, gesicherte zu gewinnen. Doch ist der endopsychische Eindruck dieser Ersetzung ein so mächtiger gewesen, daß er sich in einern besonderen religiösen Mythus spiegelt. Die Lehre von der Belohnung im Jenseits für den - freiwilligen oder aufgezwungenen - Verzicht auf irdische Lüste ist nichts anderes als die mythische Projektion dieser psychischen Umwälzung. Die Religionen haben in konsequenter Verfolgung dieses Vorbildes den absoluten Lustverzicht im Leben gegen Versprechen einer Entschädigung in einern künftigen Dasein durchsetzen können; eine Überwindung des Lustprinzips haben sie auf diesem Wege nicht erreicht. Am ehesten gelingt diese Überwindung der Wissensc1ulft, die aber auch intellektuelle Lust während der Arbeit bietet und endlichen praktischen Gewinn verspricht. 5) Die Erziehung kann ohne weitere Bedenken als Anregung zur Überwindung des Lustprinzips, zur Ersetzung desselben durch das Realitätsprinzip beschrieben werden; sie will also jenem das Ich betreffenden Entwicklungsprozeß eine Nachhilfe bieten, bedient sich zu diesem Zwecke der Liebesprämien von seiten der Erzieher und schlägt darum fehl, wenn das verwöhnte Kind glaubt, daß es 25
Den Vorzug des Real-Ichs vor dem Lust-Ich drückt Bernard Shaw treffend in den Worten aus: To be able to choose the line of greatest advantage instead of yielding in the direction of the least resistance. (Man and Superman. A Comedy and a Philosophy [1903]). [An der von Freud angegebenen Stelle des Schauspiels fragt im 3. Akt der Teufel: "What is the use of knowing?" Darauf antwortet Don Juan: "Why, to be able to choose the line of greatest advantage instead of yielding in the direction of the least resistance. Does a ship sail to its destination no better than a log drifts nowhither? The philosopher is Nature's pilot. And there you have our difference: to be in hell is to drift: to be in heaven is to steer."]
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
diese Liebe ohnedies besitzt und ihrer unter keinen Umständen verlustig werden kann. 6) Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine Versöhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann, und seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben gewähren läßt. Er findet aber den Rückweg aus dieser Phantasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeiten gestaltet, die von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung zugelassen werden. Er wird so auf eine gewisse Weise wirklich der Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne den gewaltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der Außenwelt einzuschlagen. Er kann dies aber nur darum erreichen, weil die anderen Menschen die nämliche Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen Verzicht verspüren wie er selbst, weil diese bei der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip resultierende Unzufriedenheit selbst ein Stück der Realität ist. 26 7) Während das Ich die Umwandlung vom Lust-Ich zum Real-Ich durchmacht, erfahren die Sexualtriebe jene Veränderungen, die sie vom anfänglichen Autoerotismus durch verschiedene Zwischenphasen zur Objektliebe im Dienste der Fortpflanzungsfunktion führen. Wenn es richtig ist, daß jede Stufe dieser beiden Entwicklungsgänge zum Sitz einer Disposition für spätere neurotische Erkrankung werden kann, liegt es nahe, die Entscheidung über die Form der späteren Erkrankung (die Neurosenwahl) davon abhängig zu machen, in welcher Phase der Ich- und der Libidoentwicklung die disponierende Entwicklungshemmung eingetroffen ist. Die noch nicht studierten zeitlichen Charaktere der beiden Entwicklungen, deren mögliche Verschiebung gegeneinander, kommen so zu unvermuteter Bedeutung. 8) Der befremdendste Charakter der unbewußten (verdrängten) Vorgänge, an den sich jeder Untersucher nur mit großer Selbstüberwindung gewöhnt, ergibt sich daraus, daß bei ihnen die Realitätsprüfung nichts gilt, die Denkrealität gleichgesetzt wird der äußeren Wirklichkeit, der Wunsch der Erfüllung, dem Ereignis, wie es sich aus der Herrschaft des alten Lustprinzips ohneweiters ableitet. 26
Vgl. Ähnliches bei O. Rank, Der Künstler. Wien 1907.
1.6 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
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Darum wird es auch so schwer, unbewußte Phantasien von unbewußt gewordenen Erinnerungen zu unterscheiden. Man lasse sich aber nie dazu verleiten, die Realitätswertung in die verdrängten psychischen Bildungen einzutragen und etwa Phantasien darum für die Symptombildung gering zu schätzen, weil sie eben keine Wirklichkeiten sind, oder ein neurotisches Schuldgefühl anderswoher abzuleiten, weil sich kein wirklich ausgeführtes Verbrechen nachweisen läßt. Man hat die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist, in unserem Falle der neurotischen Währung. Man versuche z. B., einen Traum wie den folgenden zu lösen. Ein Mann, der einst seinen Vater während seiner langen und qualvollen Todeskrankheit gepflegt, berichtet, daß er in den nächsten Monaten nach dessen Ableben wiederholt geträumt habe: der Vater sei wieder am Leben und er spreche mit ihm wie sonst. Dabei habe er es aber äußerst schmerzlich empfunden, daß der Vater doch schon gestorben war und es nur nicht wußte. Kein anderer Weg führt zum Verständnis des widersinnig klingenden Traumes, als die Anfügung "nach seinem Wunsch" oder "infolge seines Wunsches" nach den Worten "daß der Vater doch gestorben war" und der Zusatz "daß er es wünschte" zu den letzten Worten. Der Traumgedanke lautet dann: Es sei eine schmerzliche Erinnerung für ihn, daß er dem Vater den Tod (als Erlösung) wünschen mußte, als er noch lebte, und wie schrecklich, wenn der Vater dies geahnt hätte. Es handelt sich dann um den bekannten Fall der Selbstvorwürfe nach dem Verlust einer geliebten Person, und der Vorwurf greift in diesem Beispiel auf die infantile Bedeutung des Todeswunsches gegen den Vater zurück. Die Mängel dieses kleinen, mehr vorbereitenden als ausführenden Aufsatzes sind vielleicht nur zum geringen Anteil entschuldigt, wenn ich sie für unvermeidlich ausgebe. In den wenigen Sätzen über die psychischen Folgen der Adaptierung an das Realitätsprinzip mußte ich Meinungen andeuten, die ich lieber noch zurückgehalten hätte und deren Rechtfertigung gewiß keine kleine Mühe kosten wird. Doch will ich hoffen, daß es wohlwollenden Lesern nicht entgehen wird, wo auch in dieser Arbeit die Herrschaft des Realitätsprinzips beginnt.
2.
Wunsch - Traum - Zensur Freuds Methode der freien Assoziation
Warum ist der Traum für Freud so wichtig? Die Antwort lautet: Weil Freud den Traum als das - allen Menschen vertraute - Normalvorbild einer psychischen Produktion aufgefasst hat, die unter anderen Voraussetzungen psychopathologische Relevanz besitzt. Freud hat den manifesten Traum also verstanden wie ein Symptom: als Ausdruck der abgewehrten, verdeckten und deshalb durch Deutung erst zu erschließenden Erfüllung eines verpönten infantilen Wunsches. (Zur heutigen - wesentlich erweiterten - psychoanalytischen Auffassung des Traumes und seiner Deutung s. zusammenfassend: Mertens, 2000b). Den Trauminhalt, der nach dem Erwachen erinnert wird, fasste Freud als Komprornissbildung zwischen dem ins Bewusstsein drängenden Trieb-Wunsch einerseits und der Kraft andererseits auf, die sich gegen diesen Wunsch richtet, weil dessen Anerkennung das Selbstwertgefühl direkt (Scham) oder auf dem Umweg über das Gewissen (Schuld) verletzen könnte. Diese dem Wunsch entgegengesetzte Kraft äußert sich im Fall des Traumes als Zensur. Bei der Bildung pathologischer Symptome macht sie sich als Abwehr bemerkbar. Und in der psychoanalytischen Behandlung erscheint sie als Widerstand. Bis zu einem gewissen Grad ist die Verdrängung ursprünglicher Trieb-Wünsche bei jedem Menschen anzunehmen - und soweit sie Erfolg hat, kommt die Wiederkehr des Verdrängten nur noch verdeckt (im Traum oder in einer Fehlhandlung) zum Ausdruck (vgl. Freud, 1901b). Psychische Gesundheit zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass Träume und Tagträume (Phantasien) von den Erinnerungen an die Vergangenheit und den Wahrnehmungen der gegenwärtigen Außenwelt deutlich zu unterscheiden sind. "Unser ganzes Verhältnis zur Außenwelt, zur Realität, hängt von dieser Fähigkeit ab. [...] Wir haben mit anderen Worten sehr frühzeitig die halluzinatorische Wunscherfüllung aufgegeben und eine Art Realitätsprüfung eingerichtet" (Freud, 1916-17f, S. 422). Soweit wir in diesem Sinne Freuds erwachsen sind, erfüllen wir unsere Wünsche unter Beachtung der Außen-
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2. Wunsch - Traum - Zensur
welt und der Gebote der Gesellschaft, die wir - vermittelt durch unsere Eltern verinnerlicht haben. Fühlen, Denken und Verhalten psychisch kranker Menschen werden hingegen von Phantasien beherrscht, deren Herkunft die Betroffenen nicht kennen und deren tiefere Begründung sie ebensowenig verstehen wie ihre Träume. So heißt es bereits in einer frühen Formulierung Freuds, der Hysteriker sei in "hypnoiden Zuständen" so "aliniert, wie wir es alle im Traume sind. Aber während unsere Traumpsychosen unseren Wachzustand nicht beeinflussen, ragen die Produkte der hypnoiden Zustände" bei diesem Kranken "ins wache Leben hinein" (1893a, S. 92). Das Ziel einer psychoanalytischen Behandlung im Sinne Freuds ist es deshalb, die Konflikte und Fixierungen, die den Symptomen zugrunde liegen, in der Beziehung zum Analytiker sichtbar zu machen, sie zu deuten (das heißt: ihre vergangene Bedeutung zu erkennen) und sie so durchzuarbeiten, dass die Wunsch-Traum-Phantasien (die Wünsche der Vergangenheit) deutlich von den Wahrnehmungen der Außenwelt (und der in der Gegenwart möglichen Wunscherfüllung) zu unterscheiden sind. Das hierfür notwendige seelische Entwicklungsniveau verlassen wir jedoch jede Nacht wieder; das heißt: unter der Bedingung des Schlafs setzte eine Regression ein, die uns zu früheren Stadien des individuellen (und stammesgeschichtlich-kollektiven) Erlebens zurückführt (1916-171, S. 418). "Wir müssen also sagen, der Unterschied zwischen Neurose und Gesundheit gilt nur für den Tag, er setzt sich nicht ins Traumleben fort. [...] Wir können es nicht in Abrede stellen, daß auch der Gesunde in seinem Seelenleben das besitzt/ was allein die Traumbildung wie die Symptombildung ermöglicht, und müssen den Schluß ziehen, daß auch er Verdrängungen vorgenommen hat [...]. Auch der Gesunde ist also virtuell ein Neurotiker [...]" (1916-17a, S. 475). Und: "Wer den Traum versteht, kann auch den psychischen Mechanismus der Neurosen und Psychosen durchschauen" (Freud, 1913j, S. 398). Eben aus diesem Grund ist der Traum für Freud so wichtig: weil die Analyse des Traums Einblicke in die Vorstadien des Denkens gewährt, die dem vernünftig-geordneten Denken nicht mehr unmittelbar möglich sind. Um diese frühen Formen des Denkens erlebbar zu machen, hat Freud die Methode der freien Assoziation eingeführt. Folgt man dieser Methode, können jene Einfälle klarer ins Bewusstsein treten und zur Sprache kommen, die der gewohnten Ordnung des Denkens widersprechen. Das zielund zweckgerichtete Denken weist diese vom logischen Denkzwang befreiten und daher "frei" genannten - Einfälle in der Regel als "nebensächlich" oder gar als "falsch" zurück. "Diese Einwendungen drohen [...] den Erfolg unserer Ar-
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beit zu stören. Man muß sich gegen sie schützen, und man tut dies [...] indem man [dem Analysanden] als unverbrüchliche Regel angibt, er dürfe keinen Einfall von der Mitteilung ausschließen, auch wenn sich eine der vier Einwendungen gegen ihn erhebe, er sei zu unwichtig, zu unsinnig, gehöre nicht hierher, oder er sei zu peinlich für die Mitteilung" (1916-17a, S. 113). Bei vorübergehender Suspendierung dieser Einwände, die das "richtige" Denken garantieren sollen, sind dann Schritt für Schritt die Einfälle zu gewinnen, die - gedeutet - zu den infantilen Wünschen zurückführen, die der manifeste Traum in verkleideter Gestalt enthält. Damit findet die theoretisch-philosophische Diskussion, die mit Descartes' cogito ergo sum begonnen hatte, ihren praktisch-therapeutischen Abschluss: Nicht ich denke, sondern "es" denkt in mir (Nitzschke, 2007a).
2.1 Der Traum ist eine Wunscherfüllung Freud schrieb "Die Traumdeutung" vom Herbst 1897 bis zum Herbst 1899 nieder. Das Buch erschien bereits im November 1899, war jedoch auf das Jahr 1900 vordatiert. Und tatsächlich sollte es ein Jahrhundertbuch werden. Freud brach darin mit allen bisher bekannten Methoden der Traumdeutung und entwarf eine neue Psychologie, die das Gegenwärtige als Transformation des Vergangenen verständlich machen sollte. Auf die Träume angewandt bedeutet das: Träume enthalten keine Prophezeiungen, die über die Zukunft Auskunft geben; vielmehr geben sie in verschlüsselter Form Auskunft über die Vergangenheit - und das heißt bei Freud: die Träume geben Auskunft über die Gegenwart der ewig unvergänglichen Kindheitswünsche. Und schließlich handelt es sich bei der"Traumdeutung" auch noch um ein sehr persönliches Buch. Freud teilt darin viele eigene Träume mit und legt so Zeugnis ab von der "Selbstanalyse" (Anzieu, 1990), die er in der Zeit, in der er mit Wilhelm Fließ befreundet war (1887-1904), besonders intensiv betrieben hat. Am 3. Oktober 1987 schreibt er an Fließ: "Bei mir geht äußerlich noch sehr wenig vor, innerlich etwas sehr Interessantes. Seit vier Tagen hat sich meine Selbstanalyse, die ich für unentbehrlich halte zur Aufklärung des ganzen Problems, in Träumen fortgesetzt und mir wertvollste Aufschlüsse und Anhaltspunkte ergeben" (Freud, 1986, S. 288). Die hier abgedruckten Abschnitte aus der"Traumdeutung" zeigen den Traum des Erwachsenen als verhüllte Gestalt der Wünsche, die bei Kindern noch in vergleichsweise unzensierter Form zum Ausdruck kommen, und geben Auskunft über die Methode, die den Weg zum Unbewussten eröffnet: die Metho-
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de der freien Assoziation, die der psychoanalytischen Grundregel "Sagen Sie alles, was Ihnen einfällt" entspricht.
W Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. GW II/III, S. 127-136. Wenn man einen engen Hohlweg passiert hat und plötzlich auf einer Anhöhe angelangt ist, von welcher aus die Wege sich teilen und die reichste Aussicht nach verschiedenen Richtungen sich öffnet, darf man einen Moment lang verweilen und überlegen, wohin man zunächst sich wenden soll. Ähnlich ergeht es uns, nachdem wir diese erste Traumdeutungl27l überwunden haben. Wir stehen in der Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis. Der Traum ist nicht vergleichbar dem unregelmäßigen Ertönen eines musikalischen Instruments, das anstatt von der Hand des Spielers, von dem Stoß einer äußeren Gewalt getroffen wird, er ist nicht sinnlos, nicht absurd., setzt nicht voraus, daß ein Teil unseres Vorstellungsschatzes schläft, während ein anderer zu erwachen beginnt. Er ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung; er ist einzureihen in den Zusammenhang der uns verständlichen seelischen Aktionen des Wachens; eine hoch komplizierte geistige Tätigkeit hat ihn aufgebaut. Aber eine Fülle von Fragen bestünntuns im gleichen Moment, da wir uns dieser Erkenntnis freuen wollen. Wenn der Traum laut Angabe der Traumdeutung einen erfüllten Wunsch darstellt, woher rührt die auffällige und befremdende Form, in welcher diese Wunscherfüllung ausgedrückt ist? Welche Veränderung ist mit den Traumgedanken vorgegangen, bis sich aus ihnen der manifeste Traum, wie wir ihn beim Erwachen erinnern, gestaltete? Auf welchem Wege ist diese Veränderung vor sich gegangen? Woher stammt das Material, das zum Traum verarbeitet worden ist? Woher rühren manche der Eigentümlichkeiten, die wir an den Traumgedanken bemerken konnten, wie z. B., daß sie einander widersprechen dürfen? [...] Kann der Traum uns etwas Neues über unsere inneren psychischen Vorgänge lehren, kann sein Inhalt Meinungen korrigieren, an die wir tagsüber geglaubt haben? Ich schlage vor, alle diese Fragen einstweilen beiseite zu lassen und einen einzigen Weg weiter zu verfolgen. Wir haben erfahren, daß der Traum einen Wunsch als erfüllt darstellt. Unser nächstes Interesse soll [27) Gemeint ist "Der Traum von Irmas Injektion" und dessen Deutung (Freuet. 19OOa, S. 110-126).
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es sein zu erkunden, ob dies ein allgemeiner Charakter des Traumes ist oder nur der zufällige Inhalt jenes Traumes ("von Irmas Injektion"), mit dem unsere Analyse begonnen hat, denn selbst wenn wir uns darauf gefaßt machen, daß jeder Traum einen Sinn und psychischen Wert hat, müssen wir noch die Möglichkeit offen lassen, daß dieser Sinn nicht in jedem Traume der nämliche sei. Unser erster Traum war eine Wunscherfüllung; ein anderer stellt sich vielleicht als eine erfüllte Befürchtung heraus; ein dritter mag eine Reflexion zum Inhalt haben, ein vierter einfach eine Erinnerung reproduzieren. Gibt es also noch andere Wunschträume oder gibt es vielleicht nichts anderes als Wunschträume? Es ist leicht zu zeigen, daß die Träume häufig den Charakter der Wunscherfüllung unverhüllt erkennen lassen, so daß man sich wundem mag, warum die Sprache der Träume nicht schon längst ein Verständnis gefunden hat. Da ist z. B. ein Traum, den ich mir beliebig oft, gleichsam experimentell, erzeugen kann. Wenn ich am Abend Sardellen, Oliven oder sonst stark gesalzene Speisen nehme, bekomme ich in der Nacht Durst, der mich weckt. Dem Erwachen geht aber ein Traum voraus, der jedesmal den gleichen Inhalt hat, nämlich daß ich trinke. Ich schlürfe Wasser in vollen Zügen, es schmeckt mir so köstlich, wie nur ein kühler Trunk schmecken kann, wenn man verschmachtet ist, und dann erwache ich und muß wirklich trinken. Der Anlaß dieses einfachen Traumes ist der Durst, den ich ja beim Erwachen verspüre. Aus dieser Empfindung geht der Wunsch hervor zu trinken, und diesen Wunsch zeigt mir der Traum erfüllt. Er dient dabei einer Funktion, die ich bald errate. Ich bin ein guter Schläfer, nicht ewöhnt, durch ein Bedürfnis geweckt zu werden. Wenn es mir gelingt, meinen Durst durch den Traum, daß ich trinke, zu beschwichtigen, so brauche ich nicht aufzuwachen, um ihn zu befriedigen. Es ist also ein Bequemlichkeitstraum. Das Träumen setzt sich an Stelle des Handeins wie auch sonst im Leben. Leider ist das Bedürfnis nach Wasser, um den Durst zu löschen, nicht mit einem Traum zu befriedigen [...]. Derselbe Traum hat sich unlängst einigermaßen modifiziert. Da bekam ich schon vor dem Einschlafen Durst und trank das Wasserglas leer, das auf dem Kästchen neben meinem Bett stand. Einige Stunden später kam in der Nacht ein neuer Durstanfall, der seine Unbequemlichkeiten im Gefolge hatte. Um mir Wasser zu verschaffen, hätte ich aufstehen und mir das Glas holen müssen, welches auf dem Nachtkästchen meiner Frau stand. Ich träumte also zweckentsprechend, daß meine Frau mir aus einem Gefäß zu trinken gibt; dies Gefäß war ein etruskischer Aschenkrug, den ich mir von einer italienischen Reise
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2. Wunsch - Traum - Zensur
heimgebracht und seither verschenkt hatte. Das Wasser in ihm schmeckte aber so salzig (von der Asche offenbar), daß ich erwachen mußte. Man merkt, wie bequem der Traum es einzurichten versteht; da Wunscherfüllung seine einzige Absicht ist, darf er vollkommen egoistisch sein. Liebe zur Bequemlichkeit ist mit Rücksicht auf andere wirklich nicht vereinbar Die Einmengung des Aschenkruges ist wahrscheinlich wieder eine Wunscherfüllung; es tut mir leid, daß ich dies Gefäß nicht mehr besitze, wie übrigens auch das Wasserglas auf seiten meiner Frau mir nicht zugänglich ist. Der Aschenkrug paßt sich auch der nun stärker gewordenen Sensation des salzigen Geschmacks an, von der ich weiß, daß sie mich zum Erwachen zwingen wird.28 Solche Bequemlichkeitsträume waren bei mir in juvenilen Jahren sehr häufig. Von jeher gewöhnt, bis tief in die Nacht zu arbeiten, war mir das zeitige Erwachen immer eine Schwierigkeit. Ich pflegte dann zu träumen, daß ich außer Bett bin und beim Waschtisch stehe. Nach einer Weile konnte ich mich der Einsicht nicht verschließen, daß ich noch nicht aufgestanden war, hatte aber doch dazwischen eine Weile geschlafen. Denselben Trägheitstraum in besonders witziger Form kenne ich von einem jungen Kollegen, der meine Schlafneigung zu teilen scheint. Die Zimmerfrau, bei der er in der Nähe des Spitals wohnte, hatte den strengen Auftrag, ihn jeden Morgen rechtzeitig zu wecken, aber auch ihre liebe Not, wenn sie den Auftrag ausführen wollte. Eines Morgens war der Schlaf besonders süß. Die Frau rief ins Zimmer: Herr Pepi, stehen S' auf, Sie müssen ins Spital. Daraufhin träumte der Schläfer ein Zimmer im Spital, ein Bett, in dem er lag, und eine Kopftafel, auf der zu lesen stand: Pepi H ... cand. med., zweiundzwanzig Jahre. Er sagte sich träumend: Wenn ich also schon im Spital bin, brau28
Das Tatsächliche der Durstträume war auch Weygandt bekannt, der [1893] S. 41 darüber äußert: "Gerade die Durstempfindung wird am präzisesten von allen aufgefaßt: sie erzeugt stets eine Vorstellung des Durstlöschens. - Die Art, wie sich der Traum das Durstlöschen vorstellt, ist mannigfaltig und wird nach einer naheliegenden Erinnerung spezialisiert. Eine allgemeine Erscheinung ist auch hier, daß sich sofort nach der Vorstellung des Durstlöschens eine Enttäuschung über die geringe Wirkung der vermeintlichen Erfrischungen einstellt." Er übersieht aber das Allgemeingültige in der Reaktion des Traumes auf den Reiz. - Wenn andere Personen, die in der Nacht vom Durst befallen werden, erwachen, ohne vorher zu träumen, so bedeutet dies keinen Einwand gegen mein Experiment, sondern charakterisiert diese anderen als schlechtere Schläfer. Vgl. dazu Jesaias, 29, 8: "Denn gleich wie einem Hungrigen träumet, daß er esse, wenn er aber aufwacht, so ist seine Seele noch leer; und wie einem Durstigen träumet, daß er trinke, wenn er aber aufwacht, ist er matt und durstig" ...
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che ich nicht erst hinzugehen, wendete sich um und schlief weiter. Er hatte sich dabei das Motiv seines Träumens unverhohlen eingestanden. [ ... ]
Die Träume der kleinen Kinder sind häufig simple Wunscherfüllungen und dann im Gegensatz zu den Träumen Erwachsener gar nicht interessant. Sie geben keine Rätsel zu lösen, sind aber natürlich unschätzbar für den Erweis, daß der Traum seinem innersten Wesen nach eine Wunscherfüllung bedeutet. Bei meinem Materiale von eigenen Kindern konnte ich einige Beispiele von solchen Träumen sammeln. Einem Ausfluge nach dem schönen Hallstatt im Sommer 1896 von Aussee aus verdanke ich zwei Träume, den einen von meiner damals achteinhalbjährigen Tochter, den anderen von einem fünfeinvierteljährigen Knaben. Als Vorbericht muß ich angeben, daß wir in diesem Sommer auf einem Hügel bei Aussee wohnten/ von wo aus wir bei schönem Wetter eine herrliche Dachsteinaussicht genossen. Mit dem Fernrohr war die Simony-Hütte gut zu erkennen. Die Kleinen bemühten sich wiederholt, sie durchs Fernrohr zu sehen; ich weiß nicht, mit welchem Erfolg. Vor der Partie hatte ich den Kindern erzählt, Hallstatt läge am Fuße des Dachsteins. Sie freuten sich sehr auf den Tag. Von Hallstatt aus gingen wir ins Echerntal, das mit seinen wechselnden Ansichten die Kinder sehr entzückte. Nur eines, der fünfjährige Knabe, wurde allmählich mißgestimmt. So oft ein neuer Berg in Sicht kam, fragte er: Ist das der Dachstein? worauf ich antworten mußte: Nein, nur ein Vorberg. Nachdem sich diese Frage einige Male wiederholt hatte, verstummte er ganz; den Stufenweg zum Wasserfall wollte er überhaupt nicht mitmachen. Ich hielt ihn für ermüdet. Am nächsten Morgen kam er aber ganz selig auf mich zu und erzählte: Heute Nacht habe ich geträumt, daß wir auf der Simony-Hütte gewesen sind. Ich verstand ihn nun; er hatte erwartet/ als ich vom Dachstein sprach, daß er auf dem Ausfluge nach Hallstatt den Berg besteigen und die Hütte zu Gesicht bekommen werde, von der beim Fernrohr so viel die Rede war. Als er dann merkte, daß man ihm zumute, sich mit Vorbergen und einem Wasserfall abspeisen zu lassen, fühlte er sich getäuscht und wurde verstimmt. Der Traum entschädigte ihn dafür. Ich versuchte Details des Traumes zu erfahren; sie waren ärmlich. "Man geht sechs Stunden lang auf Stufen hinauf", wie er es gehört hatte.
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2. Wunsch - Traum - Zensur
Auch bei dem achteinhalbjährigen Mädchen waren auf diesem Ausflug Wünsche rege geworden, die der Traum befriedigen mußte. Wir hatten den zwölfjährigen Knaben unserer Nachbarn nach Hallstatt mitgenommen, einen vollendeten Ritter, der, wie mir schien, sich bereits aller Sympathien des kleinen Frauenzimmers erfreute. Sie erzählte nun am nächsten Morgen folgenden Traum: Denk' dir, ich hab' geträumt, daß der Emil einer von uns ist, Papa und Mama zu euch sagt und im großen Zimmer mit uns schläft wie unsere Buben. Dann kommt die Mama ins Zimmer und wirft eine Handvoll großer Schokoladestangen in blauem und grünem Papier unter unsere Betten. Die Brüder, die sich also nicht kraft erblicher Übertragung auf Traumdeutung verstehen, erklärten ganz wie unsere Autoren: Dieser Traum ist ein Unsinn. Das Mädchen trat wenigstens für einen Teil des Traumes ein, und es ist wertvoll für die Theorie der Neurosen zu erfahren, für welchen: Daß der Emil ganz bei uns ist, das ist ein Unsinn, aber das mit den Schokoladestangen nicht. Mir war gerade das letztere dunkel. Die Mama lieferte mir hierfür die Erklärung. Auf dem Wege vom Bahnhof nach Hause hatten die Kinder vor dem Automaten Halt gemacht und sich gerade solche Schokoladestangen in metallisch glänzendem Papier gewünscht, die der Automat nach ihrer Erfahrung zu verkaufen hatte. Die Mama hatte mit Recht gemeint, jener Tag habe genug Wunscherfüllungen gebracht und diesen Wunsch für den Traum übrig gelassen. Mir war die kleine Szene entgangen. Den von meiner Tochter proskribierten Teil des Traumes verstand ich ohne weiteres. Ich hatte selbst gehört, wie der artige Gast auf dem Wege die Kinder aufgefordert hatte zu warten, bis der Papa oder die Mama nachkommen. Aus dieser zeitweiligen Zugehörigkeit machte der Traum der Kleinen eine dauernde Adoption. Andere Formen des Beisammenseins als die im Traum erwähnten, die von den Brüdern hergenommen sind, kannte ihre Zärtlichkeit noch nicht. Warum die Schokoladestangen unter die Betten geworfen wurden, ließ sich ohne Ausfragen des Kindes natürlich nicht aufklären. Einen ganz ähnlichen Traum wie den meines Knaben habe ich von befreundeter Seite erfahren. Er betraf ein achtjähriges Mädchen. Der Vater hatte mit mehreren Kindern einen Spaziergang nach Dombach in der Absicht unternommen, die Rohrer-Hütte zu besuchen, kehrte aber um, weil es zu spät geworden war, und versprach den Kindern, sie ein anderes Mal zu entschädigen. Auf dem Rückweg kamen sie an der Tafel vorbei, welche den Weg zum Hameau anzeigt. Die Kinder verlangten nun, auch aufs Hameau geführt zu werden, mußten sich aber
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aus demselben Grund wiederum auf einen anderen Tag vertrösten lassen. Am nächsten Morgen kam das achqährige Mädchen dem Papa befriedigt entgegen: Papa, heut' hab ich geträumt, du warst mit uns bei der Rohrer-Hütte und auf dem Hameau. Ihre Ungeduld hatte also die Erfüllung des vom Papa geleisteten Versprechens antizipiert. Ebenso aufrichtig ist ein anderer Traum, den die landschaftliche Schönheit Aussees bei meinem damals dreieinvierteljährigen Töchterchen erregt hat. Die Kleine war zum erstenmal über den See gefahren, und die Zeit der Seefahrt war ihr zu rasch vergangen. An der Landungsstelle wollte sie das Boot nicht verlassen und weinte bitterlich. Am nächsten Morgen erzählte sie: Heute Nacht bin ich auf dem See gefahren. Hoffen wir, daß die Dauer dieser Traurnfahrt sie besser befriedigt hat. Mein ältester, derzeit achqähriger Knabe träumt bereits die Realisierung seiner Phantasien. Er ist mit dem Achilleus in einem Wagen gefahren und der Diomedes war Wagenlenker. Er hat sich natürlich tags vorher für die Sagen Griechenlands begeistert, die der älteren Schwester geschenkt worden sind. Wenn man mir zugibt, daß das Sprechen aus dem Schlaf der Kinder gleichfalls dem Kreis des Träumens angehört, so kann ich im folgenden einen der jüngsten Träume meiner Sammlung mitteilen. Mein jüngstes Mädche~ damals neunzehn Monate alt, hatte eines Morgens erbrochen und war darum den Tag über nüchtern erhalten worden. In der Nacht, die diesem Hungertag folgte, hörte man sie erregt aus dem Schlaf rufen: Anna F.eud, Er(d)beer, Hochbeer, Eier(s)peis, Papp. Ihren Namen gebrauchte sie damals, um die Besitzergreifung auszudrücken; der Speisezettel urnfaßte wohl alles, was ihr als begehrenswerte Mahlzeit erscheinen mußte; daß die Erdbeeren darin in zwei Varietäten vorkamen, war eine Demonstration gegen die häusliche Sanitätspolizei und hatte seinen Grund in dem von ihr wohl bemerkten Nebenumstand, daß die Kinderfrau ihre Indisposition auf allzu reichlichen Erdbeergenuß geschoben hatte; für dies ihr unbequeme Gutachten nahm sie also im Traume ihre Revanche. 29
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Dieselbe Leistung wie bei der jüngsten Enkelin vollbringt dann der Traum kurz nachher bei der Großmutter, deren Alter das des Kindes ungefähr zu 70 Jahren ergänzt. Nachdem sie einen Tag lang durch die Unruhe ihrer Wanderniere zum Hungern gezwungen war, träumt sie dann, offenbar mit Versetzung in die glückliche Zeit des blühenden Mädchentums, daß sie für heide Hauptmahlzeiten "ausgebeten", zu Gast geladen, ist und jedesmal die köstlichsten Bissen vorgesetzt bekommt.
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2. Wunsch - Traum - Zensur
Wenn wir die Kindheit glücklich preisen, weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt, so wollen wir nicht verkennen, eine wie reiche Quelle der Enttäuschung, Entsagung und damit der Traumanregung der andere der großen Lebenstriebe[301 für sie werden kann. 3 !
2.2 Zur Psychologie der Traumvorgänge "Die Traumdeutung" ist nicht nur ein sehr persönliches und deshalb streckenweise recht anschaulich geschriebenes Buch; sie ist bisweilen auch ein eher schwer zu lesendes Buch, in dem die Ergebnisse der praktischen Beschäftigung mit dem Unbewussten - sprich: die Deutung der Träume und der psychopathologischen Symptome - in einen übergreifenden psychologischen Zusammenhang eingeordnet werden. Das ist an den Stellen der Fall, an denen Freud Basiskonzepte der Psychoanalyse (etwa den "psychischen Apparat und dessen Arbeitsweise - s. Kap. 1) vorstellt, die er später differenzierter ausarbeiten wird. Und so hat er, bevor er die"Traumdeutung" niederschreibt, denn auch bereits den "Entwurf einer Psychologie" (1895) formuliert, der allerdings erst posthum erscheinen wird (Freud, 1950c). Das ist die Theoretische Psychologie, deren Urnformulierung im Schlusskapitel ("Zur Psychologie der Traumvorgänge") zum Ausdruck kommt. In den nachfolgenden Auszügen aus der"Traumdeutung" wird gezeigt, dass der Traum eine Brücke zwischen der Normalpsychologie und der Psychopathologie darstellt und sein - gedeuteter - Inhalt in die Lebensgeschichte des Träumers sinnvoll einzugliedern ist. Dieser Sinn-Zusammenhang ist allerdings nur unter Hinzuziehung der freien Einfälle des Träumers - und das heißt mit Hilfe der Methode der freien Assoziation - zu rekonstruieren. [30] Gemeint sind die Ichtriebe, die in Freuds erster Triebtheorie den Sexualtrieben gegenüberstehen. Die Ichtriebe dienen der Selbsterhaltung. In der 1920 revidierten Triebtheorie übernimmt Eros die Aufgabe der Selbsterhaltung, impliziert also die vormaligen Ichtriebe,während Thanatos (Todestrieb) das Leben in Frage stellt. 31 Eingehendere Beschäftigung mit dem Seelenleben der Kinder belehrt uns freilich, daß sexuelle Triebkräfte in infantiler Gestaltung in der psychischen Tätigkeit des Kindes eine genügend große, nur zu lange übersehene Rolle spielen, und läßt uns an dem Glücke der Kindheit, wie die Erwachsenen es späterhin konstruieren, einigermaßen zweifeln. [Diese Anmerkung fügte Freud 1911 hinzu, nachdem er von C. G. Jung auf den Widerspruch zwischen der Aussage, in der Kindheit gebe es noch kein sexuelles Begehren, und der von Freud (190Sd) vertretenen Theorie der infantilen Sexualität aufmerksam gemacht worden war].
2.2 Zur Psychologie der Traumvorgänge
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W Freuet, S. (1900a). Die Traumdeutung. GW II/III, S. 513-537. Unter den Träumen- die ich durch Mitteilung von seiten anderer erfahren habe, befindet sich einer, der jetzt einen ganz besonderenAnspruch auf unsere Beachtung erhebt. Er ist mir von einer Patientin erzählt worden- die ihn selbst in einer Vorlesung über den Traum kennen gelernt hat; seine eigentliche Quelle ist mir unbekannt geblieben. Jener Dame aber hat er durch seinen Inhalt Eindruck gemacht, denn sie hat es nicht versäumt, ihn "nachzuträumen", d. h. Elemente des Traums in einem eigenen Traum zu wiederholen- um durch diese Übertragung eine Übereinstimmung in einem bestimmten Punkte auszudrücken. Die Vorbedingungen dieses vorbildlichen Traumes sind folgende: Ein Vater hat Tage und Nächte lang am Krankenbett seines Kindes gewacht. Nachdem das Kind gestorben- begibt er sich in einem Nebenzimmer zur Ruhe, läßt aber die Tür geöffnet, um aus seinem SchIafraum in jenen zu blicken, worin die Leiche des Kindes aufgebahrt liegt, von großen Kerzen umstellt. Ein alter Mann ist zur Wache bestellt worden und sitzt neben der Leiche, Gebete murmelnd. Nach einigen Stunden Schlafs träumt der Vatet;. daß das Kind an seinem Bette steht, ihn
am Armefaßt und ihm rorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne? Er erwacht, merkt einen hellen Lichtschein, der aus dem Leichenzimmer kommt, eilt hin, findet den greisen Wächter eingeschlummert, die Hüllen und einen Arm der teu.ren Leiche verbrannt durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war. Die Erklärung dieses rührenden Traumes ist einfach genug und wurde auch von dem Vortragenden, wie meine Patientin erzählt, richtig gegeben. Der helle Lichtschein drang durch die offenstehende Tür ins Auge des Schlafenden und regte denselben Schluß bei ihm an, den er als Wachender gezogen hätte, es sei durch Umfallen einer Kerze ein Brand in der Nähe der Leiche entstanden. Vielleicht hatte seIbst der Vater die Besorgnis mit in den Schlaf hinübergenommendaß der greise Wächter seiner Aufgabe nicht gewachsen sein dürfte. Auch wir finden an dieser Deutung nichts zu verändern, es sei denn, daß wir die Forderung hinzufügten, der Inhalt des Traumes müsse überdeterminiertund die Rede des Kindes aus Reden zusammengesetzt sein, die es im Leben wirklich geführt, und die an dem Vater wichtige Ereignisse anknüpfen. Etwa die Klage: Ich verbrenne, an das Fieber, in dem das Kind gestorben, und die Worte: Vatet;. siehst du denn nicht? an eine andere uns unbekannte, aber affektreiche Gelegenheit.
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2. Wunsch - Traum - Zensur
Nachdem wir aber den Traum als einen sinnvollen, in den Zusammenhang des psychischen Geschehens einfügbaren Vorgang erkannt haben, werden wir uns verwundern dürfen, daß unter solchen Verhältnissen überhaupt ein Traum zustande kam, wo das rascheste Erwachen geboten war. Wir werden dann aufmerksam, daß auch dieser Traum einer Wunscherfüllung nicht entbehrt. Im Traum benimmt sich das tote Kind wie ein lebendes, es mahnt selbst den Vater, kommt an sein Bett und zieht ihn am Arm, wie es wahrscheinlich in jener Erinnerung tat, aus welcher der Traum das erste Stück der Rede des Kindes geholt hat. Dieser Wunscherfüllung zuliebe hat der Vater nun seinen Schlaf um einen Moment verlängert. Der Traum erhielt das Vorrecht vor der Überlegung im Wachen, weil er das Kind noch einmal lebend zeigen konnte. Wäre der Vater zuerst erwacht und hätte dann den Schluß gezogen, der ihn ins Leichenzimmer führte, so hätte er gleichsam das Leben des Kindes um diesen einen Moment verkürzt. Es kann kein Zweifel darüber sein, durch welche Eigentümlichkeit dieser kleine Traum unser Interesse fesselt. Wir haben uns bisher vorwiegend darum gekümmert, worin der geheime Sinn der Träume besteht, auf welchem Weg derselbe gefunden wird, und welcher Mittel sich die Traumarbeit bedient hat, ihn zu verbergen. Die Aufgaben der Traumdeutung standen bis jetzt im Mittelpunkte unseres Blickfeldes. Und nun stoßen wir auf diesen Traum, welcher der Deutung keine Aufgabe stellt, dessen Sinn unverhüllt gegeben ist, und werden aufmerksam, daß dieser Traum noch immer die wesentlichen Charaktere bewahrt, durch die ein Traum auffällig von unserem wachen Denken abweicht und unser Bedürfnis nach Erklärung rege macht. Nach der Beseitigung alles dessen, was die Deutungsarbeit angeht, können wir erst merken, wie unvollständig unsere Psychologie des Traumes geblieben ist. Ehe wir aber mit unseren Gedanken diesen neuen Weg einschlagen, wollen wir haltmachen und zurückschauen, ob wir auf unserer Wanderung bis hierher nichts Wichtiges unbeachtet gelassen haben. Denn wir müssen uns klar darüber werden, daß die bequeme und behagliche Strecke unseres Weges hinter uns liegt. Bisher haben alle Wege, die wir gegangen sind, wenn ich nicht sehr irre, ins Lichte, zur Aufklärung und zum vollen Verständnis geführt; von dem Moment an, da wir in die seelischen Vorgänge beim Träumen tiefer eindringen wollen, werden alle Pfade ins Dunkel münden. Wir können es unmöglich dahin bringen, den Traum als psychischen Vorgang aufzuklären, denn erklären heißt auf Bekanntes zurückführen, und es gibt derzeit keine psychologische Kenntnis, der wir un-
2.2 Zur Psychologie der Traumvorgänge
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terordnen könnten, was sich aus der psychologischen Prüfung der Träume als Erklärungsgrund erschließen läßt. Wir werden im Gegenteil genötigt sein/ eine Reihe von neuen Annahmen aufzustellen, die den Bau des seelischen Apparats und das Spiel der in ihm tätigen Kräfte mit Vermutungen streifen, und die wir bedacht sein müssen, nicht zu weit über die erste logische Angliederung auszuspinnen/ weil sonst ihr Wert sich ins Unbestimmbare verläuft. Selbst wenn wir keinen Fehler im Schließen begehen und alle logisch sich ergebenden Möglichkeiten in Rechnung ziehen, droht uns die wahrscheinliche Unvollständigkeit im Ansatz der Elemente mit dem völligen Fehlschlagen der Rechnung. Einen Aufschluß über die Konstruktion und Arbeitsweise des Seeleninstruments wird man durch die sorgfältigste Untersuchung des Traums oder einer anderen vereinzelten Leistung nicht gewinnen oder wenigstens nicht begründen können/ sondern wird zu diesem Zwecke zusammentragen müssen, was sich bei dem vergleichenden Studium einer ganzen Reihe von psychischen Leistungen als konstant erforderlich herausstellt. So werden die psychologischen Annahmen/ die wir aus der Analyse der Traumvorgänge schöpfen, gleichsam an einer Haltestelle warten müssen, bis sie den Anschluß an die Ergebnisse anderer Untersuchungen gefunden haben, die von einem anderen Angriffspunkte her zum Kern des nämlichen Problems vordringen wollen. [ ... ]
Ich meine also/ wir wenden uns vorher zu einem Thema, aus dem sich ein bisher unbeachteter Einwand ableitet, der doch geeignet ist, unseren Bemühungen um die Traumdeutung den Boden zu entziehen. Es ist uns von mehr als einer Seite vorgehalten worden, daß wir den Traum, den wir deuten wollen, eigentlich gar nicht kennen, richtiger, daß wir keine Gewähr dafür haben, ihn so zu kennen, wie er wirklich vorgefallen ist [...]. Was wir vom Traum erinnern, und woran wir unsere Deutungskünste üben, das ist erstens verstümmelt durch die Untreue unseres Gedächtnisses, welches in ganz besonders hohem Grade zur Bewahrung des Traumes unfähig scheint, und hat vielleicht gerade die bedeutsamsten Stücke seines Inhalts eingebüßt. Wir finden uns ja so oft/ wenn wir unseren Träumen Aufmerksamkeit schenken wollen, zur Klage veranlaßt, daß wir viel mehr geträumt haben und leider davon nichts mehr wissen als dies eine Bruchstück- dessen Erinnerung selbst uns eigentümlich unsicher vorkommt. Zweitens aber spricht alles dafür, daß un-
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sere Erinnerung den Traum nicht nur lückenhaft, sondern auch ungetreu und verfälscht wiedergibt. So wie man einerseits daran zweifeln kann, ob das Geträumte wirklich so unzusammenhängend und verschwommen war, wie wir es im Gedächtnis haben, so läßt sich anderseits in Zweifel ziehen, ob ein Traum so zusammenhängend gewesen ist, wie wir ihn erzählen, ob wir bei dem Versuch der Reproduktion nicht vorhandene oder durch Vergessen geschaffene Lücken mit willkürlich gewähltem, neuem Material ausfüllen, den Traum ausschmücken, abrunden, zurichten, so daß jedes Urteil unmöglich wird, was der wirkliche Inhalt unseres Traumes war. Ja, [...] daß alles, was Ordnung und Zusammenhang ist, überhaupt erst bei dem Versuch, sich den Traum zurückzurufen, in ihn hineingetragen wird. So sind wir in Gefahr, daß man uns den Gegenstand selbst aus der Hand winde, dessen Wert zu bestimmen wir unternommen haben. Wir haben bei unseren Traumdeutungen bisher diese Warnungen überhört; Ja wir haben im Gegenteil in den kleinsten, unscheinbarsten und unsichersten Inhaltsbestandteilen des Traumes die Aufforderung zur Deutung nicht minder vernehmlich gefunden, als in dessen deutlich und sicher erhaltenen. [...] Jede Analyse könnte mit Beispielen belegen, wie gerade die geringfügigsten Züge des Traumes zur Deutung unentbehrlich sind, und wie die Erledigung der Aufgabe verzögert wird, indem sich die Aufmerksamkeit solchen erst spät zuwendet. Die gleiche Würdigung haben wir bei der Traumdeutung jeder Nuance des sprachlichen Ausdrucks geschenkt, in welchem der Traum uns vorlag; ja, wenn uns ein unsinniger oder unzureichender Wortlaut vorgelegt wurde, als ob es der Anstrengung nicht gelungen wäre, den Traum in die richtige Fassung zu übersetzen, haben wir auch diese Mängel des Ausdrucks respektiert. Kurz, was nach der Meinung der Autoren [Spitta, 1882, Tannery, 1898, Foucault, 1906] eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text. Dieser Widerspruch bedarf der Aufklärung. Sie lautet zu unseren Gunsten, ohne darum den Autoren Unrecht zu geben. Vom Standpunkte unserer neugewonnenen Einsichten über die Entstehung des Traums vereinigen sich die Widersprüche ohne Rest. Es ist richtig, daß wir den Traum beim Versuch der Reproduktion entstellen; wir finden darin wieder, was wir als die sekundäre und oft mißverständliche Bearbeitung des Traumes durch die Instanz des normalen Denkens bezeichnet haben. Aber diese Entstellung ist
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selbst nichts anderes als ein Stück der Bearbeitung, welcher die Traumgedanken gesetzmäßig infolge der Traumzensur unterliegen. Die Autoren haben hier das manifest arbeitende Stück der Traumentstellung geahnt oder bemerkt; uns verschlägt es wenig, da wir wissen, daß eine weit ausgiebigere Entstellungsarbeit, minder leicht faßbar, den Traum bereits von den verborgenen Traumgedanken her zum Objekt erkoren hat. Die Autoren irren nur darin, daß sie die Modifikation des Traums bei seinem Erinnern und In-Worte-Fassen für willkürlich, also für nicht weiter auflösbar und demnach für geeignet halten, uns in der Erkenntnis des Traumes irre zu leiten. Sie unterschätzen die Determinierung im Psychischen. Es gibt da nichts Willkürliches. Es läßt sich ganz allgemein zeigen, daß ein zweiter Gedankenzug sofort die Bestimmung des Elements übernimmt, welches vom ersten unbestimmt gelassen wurde. Ich will mir z. B. ganz willkürlich eine Zahl einfallen lassen; es ist nicht möglich; die Zahl, die mir einfällt, ist durch Gedanken in mir, die meinem momentanen Vorsatz feme stehen mögen, eindeutig und notwendig bestimmt.32 Ebensowenig willkürlich sind die Veränderungen, die der Traum bei der Redaktion des Wachens erfährt. Sie bleiben in assoziativer Verknüpfung mit dem Inhalt, an dessen Stelle sie sich setzen, und dienen dazu, uns den Weg zu diesem Inhalt zu zeigen, der selbst wieder der Ersatz eines anderen sein mag. Ich pflege bei den Traumanalysen mit Patienten folgende Probe auf diese Behauptung nie ohne Erfolg anzustellen. Wenn mir der Bericht eines Traums zuerst schwer verständlich erscheint, so bitte ich den Erzähler, ihn zu wiederholen. Das geschieht dann selten mit den nämlichen Worten. Die Stellen aber, an denen er den Ausdruck verändert hat, die sind mir als die schwachen Stellen der Traumverkleidung kenntlich gemacht worden, die dienen mir wie Hagen das gestickte Zeichen an Siegfrieds Gewand. Dort kann die Traumdeutung ansetzen. Der Erzähler ist durch meine Aufforderung gewarnt worden, daß ich besondere Mühe zur Lösung des Traumes anzuwenden gedenke; er schützt also rasch, unter dem Drange des Widerstands, die schwachen Stellen der Traumverkleidung, indem er einen verräterischen Ausdruck durch einen ferner abliegenden ersetzt. Er macht mich so auf den von ihm fallen gelassenen Ausdruck aufmerksam. Aus der Mühe, mit der die Traumlösung verteidigt wird, darf ich auch auf die Sorgfalt schließen, die dem Traum sein Gewand gewebt hat. 32
Vgl. Freud, 1901b, S. 270-280.
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Minder recht haben die Autoren, wenn sie dem Zweifel, mit dem unser Urteil der Traumerzählung begegnet, so sehr viel Raum machen. Dieser Zweifel entbehrt nämlich einer intellektuellen Gewähr; unser Gedächtnis kennt überhaupt keine Garantien, und doch unterliegen wir viel öfter, als objektiv gerechtfertigt ist, dem Zwange, seinen Angaben Glauben zu schenken. Der Zweifel an der richtigen Wiedergabe des Traums oder einzelner Traumdaten ist wieder nur ein Abkömmling der Traumzensur, des Widerstands gegen das Durchdringen der Traumgedanken zum Bewußtsein. Dieser Widerstand hat sich mit den von ihm durchgesetzten Verschiebungen und Ersetzungen nicht immer erschöpft, er heftet sich dann noch an das Durchgelassene als Zweifel. Wir verkennen diesen Zweifel um so leichter, als er die Vorsicht gebraucht, niemals intensive Elemente des Traums anzugreifen, sondern bloß schwache und undeutliche. Wir wissen aber jetzt bereits, daß zwischen Traumgedanken und Traum eine völlige Umwertung aller psychischen Werte stattgefunden hat; die Entstellung war nur möglich durch Wertentziehun~sie äußert sich regelmäßig darin und begnügt sich gelegentlich damit. Wenn zu einem undeutlichen Element des Trauminhalts noch der Zweifel hinzutritt, so können wir, dem Fingerzeige folgend, in diesem einen direkteren Abkömmling eines der verfemten Traumgedanken erkennen. Es ist damit wie nach einer großen Umwälzung in einer der Republiken des Altertums oder der Renaissance. Die früher herrschenden edlen und mächtigen Familien sind nun verbannt, alle hohen Stellungen mit Emporkömmlingen besetzt; in der Stadt geduldet sind nur noch ganz verarmte und machtlose Mitglieder oder entfernte Anhänger der Gestürzten. Aber auch diese genießen nicht die vollen Bürgerrechte, sie werden mißtrauisch überwacht. An der Stelle des Mißtrauens im Beispiel steht in unserem Falle der Zweifel. Ich verlange darum bei der Analyse eines Traums, daß man sich von der ganzen Skala der Sicherheitsschätzung frei mache, die leiseste Möglichkeit, daß etwas der oder jener Art im Traum vorgekommen sei, behandle wie die volle Gewißheit. So lange jemand bei der Verfolgung eines Traumelernents sich nicht zum Verzicht auf diese Rücksicht entschlossen, so lange stockt hier die Analyse. Die Geringschätzung für das betreffende Element hat bei dem Analysierten die psychische Wirkun~ daß ihm von den ungewollten Vorstellungen hinter demselben nichts einfallen will. Solche Wirkung ist eigentlich nicht selbstverständlich; es wäre nicht widersinni~ wenn jemand sagte: Ob dies oder jenes im Traume enthalten war, weiß ich nicht sicher; es fällt mir aber dazu folgendes ein. Niemals sagt er so, und gerade die-
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se die Analyse störende Wirkung des Zweifels läßt ihn als einen Abkömmling und als ein Werkzeug des psychischen Widerstands entlarven. Die Psychoanalyse ist mit Recht mißtrauisch. Eine ihrer Regeln lautet: Was immer die Fortsetzung der Arbeit stört, ist ein Widerstand. 33 Auch das Vergessen der Träume bleibt so lange unergründlich, als man nicht die Macht der psychischen Zensur zu seiner Erklärung mitheranzieht. Die Empfindung, daß man in einer Nacht sehr viel geträumt und davon nur wenig behalten hat, mag in einer Reihe von Fällen einen anderen Sinn haben, etwa den, daß die Traumarbeit die Nacht hindurch spürbar vor sich gegangen ist und nur den einen kurzen Traum hinterlassen hat. Sonst ist an der Tatsache, daß man den Traum nach dem Erwachen immer mehr vergißt, ein Zweifel nicht möglich. Man vergißt ihn oft trotz peinlicher Bemühungen, ihn zu merken. Ich meine aber, so wie man in der Regel den Umfang dieses Vergessens überschätzt, so überschätzt man auch die mit der Lückenhaftigkeit des Traumes verbundene Einbuße an seiner Kenntnis. Alles, was das Vergessen am Traurninhalt gekostet hat, kann man oft durch die Analyse wieder hereinbringen; wenigstens in einer ganzen Anzahl von Fällen kann man von einem einzelnen stehen gebliebenen Brocken aus zwar nicht den Traum - aber an dem liegt ja auch nichts - doch die Traumgedanken alle auffinden. [...] In loserer Anreihung will ich hier noch einiges vorbringen, was ich über die Deu-
tung der Träume zu bemerken habe, und was vielleicht den Leser orientieren wird, der mich durch Nacharbeit an seinen eigenen Träumen kontrollieren will.
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Der hier so peremptorisch [jeden möglichen Einwand zurückweisend] aufgestellte Satz: "Was immer die Fortsetzung der Arbeit stört, ist ein Widerstand", könnte leicht mißverstanden werden. Er hat natürlich nur die Bedeutung einer technischen Regel, einer Mahnung für den Analytiker. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß sich während einer Analyse verschiedene Vorfälle ereignen können, die man der Absicht des Analysierten nicht zur Last legen kann. Es kann der Vater des Patienten sterben, ohne daß dieser ihn umgebracht hätte, es kann auch ein Krieg ausbrechen, der der Analyse ein Ende macht. Aber hinter der offenkundigen Übertreibung jenes Satzes steckt doch ein neuer und guter Sinn. Wenn auch das störende Ereignis real und vom Patienten unabhängig ist, so hängt es doch oftmals nur von diesem ab, wieviel störende Wirkung ihm eingeräumt wird, und der Widerstand zeigt sich unverkennbar in der bereitwilligen und übermäßigen Ausnützung einer solchen Gelegenheit.
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Es wird niemand erwarten dürfen, daß ihm die Deutung seiner Träume mühelos in den Schoß falle. Schon zur Wahrnehmung endoptischer Phänomene[34] und anderer für gewöhnlich der Aufmerksamkeit entzogener Sensationen bedarf es der Übung, obwohl kein psychisches Motiv sich gegen diese Gruppe von Wahrnehmungen sträubt. Es ist erheblich schwieriger, der "ungewollten Vorstellungen" habhaft zu werden. Wer dies verlangt, wird sich mit den Erwartungen erfüllen müssen, die in dieser Abhandlung rege gemacht werden, und wird in Befolgung der hier gegebenen Regeln jede Kritik, jede Voreingenommenheit, jede affektive oder intellektuelle Parteinahme während der Arbeit bei sich niederzuhalten bestrebt sein. Er wird der Vorschrift eingedenk bleiben, die Caude Bernard[35] für den Experimentator im physiologischen Laboratorium aufgestellt hat: Travailler camme une bete, d. h. so ausdauernd, aber auch so unbekümmert um das Ergebnis. Wer diese Ratschläge befolgt, der wird die Aufgabe allerdings nicht mehr schwierig finden. Die Deutung eines Traumes vollzieht sich auch nicht immer in einem Zuge; nicht selten fühlt man seine Leistungsfähigkeit erschöpft, wenn man einer Verkettung von Einfällen gefolgt ist, der Traum sagt einem nichts mehr an diesem Tage; man tut dann gut abzubrechen und an einem nächsten zur Arbeit zurückzukehren. Dann lenkt ein anderes Stück des Trauminhalts die Aufmerksamkeit auf sich, und man findet den Zugang zu einer neuen Schicht von Traumgedanken. Man kann das die "fraktionierte" Traumdeutung heißen. Am schwierigsten ist der Anfänger in der Traumdeutung zur Anerkennung der Tatsache zu bewegen, daß seine Aufgabe nicht voll erledigt ist, wenn er eine vollständige Deutung des Traums in Händen hat, die sinnreich, zusammenhängend ist und über alle Elemente des Trauminhalts Auskunft gibt. Es kann außerdem eine andere, eine Oberdeutung, desselben Traumes möglich sein, die ihm entgangen ist. Es ist wirklich nicht leicht, sich von dem Reichtum an unbewußten, nach Ausdruck ringenden Gedankengängen in unserem Denken eine Vorstellung zu machen und an die Geschicklichkeit der Traumarbeit zu glauben, durch mehrdeutige Ausdrucksweise jedesmal gleichsam sieben Fliegen mit einem Schlage zu treffen, wie der Schneidergeselle im Märchen. Der Leser wird immer geneigt sein, dem Autor vorzuwerfen, daß er seinen Witz überflüssig vergeude; wer sich selbst Erfahrung erworben hat, wird sich eines Besseren belehrt finden. [...] [34] Gemeint sind hypnagogische Bilder, die auf innere Erregungen der Sinnesorgane zurückgeführt werden. [35] Oaude Bemard (1813-1878), französischer Physiologe.
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Die Frage, ob jeder Traum zur Deutung gebracht werden kann, ist mit Nein zu beantworten. Man darf nicht vergessen, daß man bei der Deutungsarbeit die psychischen Mächte gegen sich hat, welche die Entstellung des Traumes verschulden. Es wird so eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob man mit seinem intellektuellen Interesse, seiner Fähigkeit zur Selbstüberwindung, seinen psychologischen Kenntnissen und seiner Übung in der Traumdeutung den inneren Widerständen den Herrn zeigen kann. Ein Stück weit ist das immer möglich, so weit wenigstens, um die Überzeugung zu gewinnen, daß der Traum eine sinnreiche Bildung ist, und meist auch, um eine Ahnung dieses Sinns zu gewinnen. Recht häufig gestattet ein nächstfolgender Traum, die für den ersten angenommene Deutung zu versichern und weiter zu führen. Eine ganze Reihe von Träumen, die sich durch Wochen oder Monate zieht, ruht oft auf gemeinsamem Boden und ist dann im Zusammenhange der Deutung zu unterwerfen. Von aufeinanderfolgenden Träumen kann man oft merken, wie der eine zum Mittelpunkte nimmt, was in dem nächsten nur in der Peripherie angedeutet wird, und umgekehrt, so daß die beiden einander auch zur Deutung ergänzen. Daß die verschiedenen Träume derselben Nacht ganz allgemein von der Deutungsarbeit wie ein Ganzes zu behandeln sind, habe ich bereits durch Beispiele erwiesen. In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium. Wir kehren zu den Tatsachen des Traumvergessens zurück. Wir haben es nämlich versäumt, einen wichtigen Schluß aus ihnen zu ziehen. Wenn das Wachleben die unverkennbare Absicht zeigt, den Traum, der bei Nacht gebildet worden ist, zu vergessen, entweder als Ganzes unmittelbar nach dem Erwachen oder stückweise im Laufe des Tages, und wenn wir als den Hauptbeteiligten bei diesem Vergessen den seelischen Widerstand gegen den Traum erkennen, der doch schon in der Nacht das Seinige gegen den Traum getan hat, so liegt die Frage nahe, was eigentlich gegen diesen Widerstand die Traumbildung überhaupt er-
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möglicht hat. Nehmen wir den grellsten Fall, in dem das Wachleben den Traum wieder beseitigt, als ob er gar nicht vorgefallen wäre. Wenn wir dabei das Spiel der psychischen Kräfte in Betracht ziehen, so müssen wir aussagen, der Traum wäre überhaupt nicht zustande gekommen, wenn der Widerstand bei Nacht gewaltet hätte wie bei Tag. Unser Schluß ist, daß dieser während der Nachtzeit einen Teil seiner Macht eingebüßt hatte; wir wissen, er war nicht aufgehoben, denn wir haben seinen Anteil an der Traumbildung in der TraumentsteIlung nachgewiesen. Aber die Möglichkeit drängt sich uns auf, daß er des Nachts verringert war, daß durch diese Abnahme des Widerstands die Traumbildung möglich wurde, und wir verstehen so leicht, daß er, mit dem Erwachen in seine volle Kraft eingesetzt, sofort wieder beseitigt, was er, so lange er schwach war, zulassen mußte. Die beschreibende Psychologie lehrt uns ja, daß die Hauptbedingung der Traumbildung der Schlafzustand der Seele ist; wir könnten nun die Erklärung hinzufügen: der Schlajzustand ermöglicht die Traumbildung, indem er die endapsychische Zensur herabsetzt. Wir sind gewiß in Versuchung, diesen Schluß als den einzig möglichen aus den Tatsachen des Traumvergessens anzusehen, und weitere Folgerungen über die Energieverhältnisse des Schlafens und des Wachens aus ihm zu entwickeln. Wir wollen aber vorläufig hierin innehalten. Wenn wir uns in die Psychologie des Traums ein Stück weiter vertieft haben, werden wir erfahren, daß man sich die Ermöglichung der Traumbildung auch noch anders vorstellen kann. Der Widerstand gegen das Bewußtwerden der Traumgedanken kann vielleicht auch umgangen werden, ohne daß er an sich eine Herabsetzung erfahren hätte. Es ist auch plausibel, daß beide der Traumbildung günstigen Momente, die Herabsetzung sowie die Umgehung des Widerstandes, durch den Schlafzustand gleichzeitig ermöglicht werden. Wir brechen hier ab, um nach einer Weile hier fortzusetzen. Es gibt eine andere Reihe von Einwendungen gegen unser Verfahren bei der Traumdeutung, um die wir uns jetzt bekümmern müssen. Wir gehen ja so vor, daß wir alle sonst das Nachdenken beherrschenden Zielvorstellungen fallen lassen, unsere Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Traumelement richten und dann notieren, was uns an ungewollten Gedanken zu demselben einfällt. Dann greifen wir einen nächsten Bestandteil des Traurninhalts auf, wieder holen an ihm dieselbe Arbeit und lassen uns, unbekümmert um die Richtung, nach der die Gedanken treiben, von ihnen weiter führen, wobei wir - wie man zu sagen pflegt - vom Hundertsten ins Tausendste geraten. Dabei hegen wir die zuver-
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sichtliche Erwartung, am Ende ganz ohne unser Dazutun auf die Traumgedanken zu geraten, aus denen der Traum entstanden ist. Dagegen wird die Kritik nun etwa folgendes einzuwenden haben: Daß man von einem einzelnen Element des Traumes irgendwohin gelangt, ist nichts Wunderbares. An jede Vorstellung läßt sich assoziativ etwas knüpfen; es ist nur merkwürdig, daß man bei diesem ziellosen und willkürlichen Gedankenablauf gerade zu den Traumgedanken geraten soll. Wahrscheinlich ist das eine Selbsttäuschung; man folgt der Assoziationskette von dem einen Elemente aus, bis man sie aus irgendeinem Grunde abreißen merkt; wenn man dann ein zweites Element aufnimmt, so ist es nur natürlich, daß die ursprüngliche Unbeschränktheit der Assoziation jetzt eine Einengung erfährt. Man hat die frühere Gedankenkette noch in Erinnerung und wird darum bei der Analyse der zweiten Traumvorstellung leichter auf einzelne Einfälle stoßen, die auch mit den Einfällen aus der ersten Kette irgend etwas gemein haben. Dann bildet man sich ein, einen Gedanken gefunden zu haben, der einen Knotenpunkt zwischen zwei Traumelementen darstellt. Da man sich sonst jede Freiheit der Gedankenverbindung gestattet und eigentlich nur die Übergänge von einer Vorstellung zur anderen ausschließt, die beim normalen Denken in Kraft treten, so wird es schließlich nicht schwer, aus einer Reihe von "Zwischengedanken" etwas zusammenzubrauen, was man die Traumgedanken benennt, und ohne jede Gewähr, da diese sonst nicht bekannt sind, für den psychischen Ersatz des Traumes ausgibt. Es ist aber alles Willkür und witzig erscheinende Ausnützung des Zufalls dabei, und jeder, der sich dieser unnützen Mühe unterzieht, kann zu einem beliebigen Traume auf diesem Wege eine ihm beliebige Deutung herausgrübeln. Wenn uns solche Einwände wirklich vorgerückt werden, so können wir uns zur Abwehr auf den Eindruck unserer Traumdeutungen berufen, auf die überraschenden Verbindungen. mit anderen Traumelementen, die sich während der Verfolgung der einzelnen Vorstellungen ergeben, und auf die Unwahrscheinlichkeit, daß etwas, was den Traum so erschöpfend deckt und aufklärt wie eine unserer Traumdeutungen, anders gewonnen werden könne, als indem man vorher hergestellten psychischen Verbindungen nachfährt. Wir könnten auch zu unserer Rechtfertigung heranziehen, daß das Verfahren bei der Traumdeutung identisch ist mit dem bei der Auflösung der hysterischen Symptome, wo die Richtigkeit des Verfahrens durch das Auftauchen und Schwinden der Symptome zu ihrer Stelle gewährleistet wird, wo also die Auslegung des Textes an
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2. Wunsch - Traum - Zensur
den eingeschalteten Illustrationen einen Anhalt findet. Wir haben aber keinen Grund, dem Problem, wieso man durch Verfolgung einer sich willkürlich und ziellos weiterspinnenden Gedankenkette zu einem präexistenten Ziele gelangen könne, aus dem Wege zu gehen, da wir dieses Problem zwar nicht zu lösen, aber voll zu beseitigen vermögen. Es ist nämlich nachweisbar unrichtig, daß wir uns einem ziellosen Vorstellungsablauf hingeben, wenn wir, wie bei der Traumdeutungsarbeit, unser Nachdenken fallen und die ungewollten Vorstellungen auftauchen lassen. Es läßt sich zeigen, daß wir immer nur auf die uns bekannten Zielvorstellungen verzichten können, und daß mit dem Aufhören dieser sofort unbekannte - wie wir ungenau sagen: unbewußte - Zielvorstellungen zur Macht kommen, die jetzt den Ablauf der ungewollten Vorstellungen determiniert halten. Ein Denken ohne Zielvorstellungen läßt sich durch unsere eigene Beeinflussung unseres Seelenlebens überhaupt nicht herstellen; es ist mir aber auch unbekannt, in welchen Zuständen psychischer Zerrüttung es sich sonst herstellt)36] Die Psychiater haben hier viel zu früh auf die Festigkeit des psychischen Gefüges verzichtet. Ich weiß, daß ein ungeregelter, der Zielvorstellungen entbehrender Gedankenablauf im Rahmen der Hysterie und der Paranoia ebensowenig vorkommt wie bei der Bildung oder bei der Auflösung der Träume. Er tritt vielleicht bei den endogenen psychischen Affektionen überhaupt nicht ein; selbst die Delirien der Verworrenen sind nach einer geistreichen Vermutung von Leuret [1834, S. 131] sinnvoll und werden nur durch Auslassungen für uns unverständlich. Ich habe die nämliche Überzeugung gewonnen, wo mir Gelegenheit zur Beobachtung geboten war. Die Delirien sind das Werk einer Zensur, die sich keine Mühe mehr gibt, [36] In der 4. Auflage der"Traumdeutung" von 1914 hat Freud an dieser Stelle einen Zusatz eingefügt, in dem er auf Pohorilles (1913) verweist, der aus Eduard von Harbnanns "Die Philosophie des Unbewußten" den folgenden Absatz zitiert: "Es ist das Unbewußte, welches den Zwecken des Interesses gemäß wählt: und das gilt für die Ideenassoziation beim abstrakten Denken, als sinnlichem Vorstellen oder künstlerischem Kombinieren und beim witzigen Einfall" (S. 247). Und selbst dann, "wenn man seine Gedankenfolge anscheinend völlig dem Zufall anheimgibt, oder wenn man sich ganz den unwillkürlichen Träumen der Phantasie überläßt, so walten doch immer zu der einen Stunde andere Hauptinteressen, maßgebende Gefühle und Stimmungen im Gemüt als zu der anderen, und diese werden allemal einen Einfluß auf die Ideenassoziation üben" (S. 246). Pohorilles kommentiert diese Feststellungen mit den Worten: "Die Hervorhebung des Einflusses der Gefühle und Stimmungen auf die freie Gedankenfolge läßt nun das methodische Verfahren der Psychoanalyse auch vom Standpunkte der Hartmannschen Psychologie als durchaus gerechtfertigt erscheinen" (1913, S. 605).
2.2 Zur Psychologie der Traumvorgänge
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ihr Walten zu verbergen, die anstatt ihre Mitwirkung zu einer nicht mehr anstößigen Umarbeitung zu leihen, rücksichtslos ausstreicht, wogegen sie Einspruch erhebt, wodurch dann das Übriggelassene zusammenhangslos wird. Diese Zensur verfährt ganz analog der russischen Zeitungszensur an der Grenze, welche ausländische Journale nur von schwarzen Strichen durchsetzt in die Hände der zu behütenden Leser gelangen läßt. Das freie Spiel der Vorstellungen nach beliebiger Assoziationsverkettung kommt vielleicht bei destruktiven organischen Gehirnprozessen zum Vorschein; was bei den Psychoneurosen für solches gehalten wird, läßt sich allemal durch Einwirkung der Zensur auf eine Gedankenreihe aufklären, welche von verborgen gebliebenen Zielvorstellungen in den Vordergrund geschoben wird. 37 Als ein untrügliches Zeichen der von Zielvorstellungen freien Assoziation hat man es betrachtet, wenn die auftauchenden Vorstellungen (oder Bilder) untereinander durch die Bande der sogenannten oberflächlichen Assoziation verknüpft erscheinen, also durch Assonanz, Wortzweideutigkeit, zeitliches Zusammentreffen ohne innere Sinnbeziehung, durch alle die Assoziationen, die wir im Witz und beim Wortspiel zu verwerten uns gestatten. Dieses Kennzeichen trifft für die Gedankenverbindungen, die uns von den Elementen des Trauminhalts zu den Zwischengedanken und von diesen zu den eigentlichen Traumgedanken führen, zu; wir haben bei vielen Traumanalysen Beispiele davon gefunden, die unser Befremden wecken mußten. Keine Anknüpfung war da zu locker, kein Witz zu verwerflich, als daß er nicht die Brücke von einem Gedanken zum andem hätte bilden dürfen. Aber das richtige Verständnis solcher Nachsichtigkeit liegt nicht feme. Jedesmal, wenn ein psychisches Element mit einem anderen durch eine anstößige und oberflächliche Assoziation verbunden ist, existiert auch eine korrekte und tiejergehende Verknüpjung zwischen den beiden, welche dem Widerstande der Zensur unterliegt. Druck der Zensur, nicht Aufhebung der Zielvorstellungen ist die richtige Begründung für das Vorherrschen der oberflächlichen Assoziationen. Die oberflächlichen Assoziationen ersetzen in der Darstellung die tiefen, wenn die Zensur diese normalen Verbindungswege ungangbar macht. Es ist, wie wenn ein allgemeines Verkehrshindernis, z. B. eine Überschwemmung, im Gebirge die 37
Vgl. hierzu die glänzende Bestätigung dieser Behauptung, die C. G. Jung durch Analysen bei Dementia praecox erbracht hat (1907).
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2. Wunsch - Traum - Zensur
großen und breiten Straßen unwegsam werden läßt; der Verkehr wird dann auf unbequemen und steilen Fußpfaden aufrecht erhalten, die sonst nur der Jäger begangen hatte. Man kann hier zwei Fälle voneinander trennen, die im wesentlichen eins sind. Entweder die Zensur richtet sich nur gegen den Zusammenhang zweier Gedanken, die von einander losgelöst, dem Einspruch entgehen. Dann treten die beiden Gedanken nacheinander ins Bewußtsein; ihr Zusammenhang bleibt verborgen; aber dafür fällt uns eine oberflächliche Verknüpfung zwischen beiden ein, an die wir sonst nicht gedacht hätten, und die in der Regel an einer anderen Ecke des Vorstellungskomplexes ansetzt, als von welcher die unterdrückte, aber wesentliche Verbindung ausgeht. Oder aber, beide Gedanken unterliegen an sich wegen ihres Inhalts der Zensur; dann erscheinen beide nicht in der richtigen, sondern in modifizierter, ersetzter Form, und die beiden Ersatzgedanken sind so gewählt, daß sie durch eine oberflächliche Assoziation die wesentliche Verbindung wiedergeben, in der die von ihnen ersetzten stehen. Unter dem Druck der Zensur hat hier in beiden Fällen eine Verschiebung stattgefunden von einer normalen, ernsthaften Assoziation aufeine oberflächliche, absurd erscheinende. [...] Von den beiden Sätzen, daß mit dem Aufgeben der bewußten Zielvorstellungen die Herrschaft über den Vorstellungsablauf an verborgene Zielvorstellungen übergeht, und daß oberflächliche Assoziationen nur ein Verschiebungsersatz sind für unterdrückte tiefer gehende, macht die Psychoanalyse bei Neurosen den ausgiebigsten Gebrauch; ja, sie erhebt die beiden Sätze zu Grundpfeilern ihrer Technik. Wenn ich einem Patienten auftrage, alles Nachdenken fahren zu lassen und mir zu berichten, was immer ihm dann in den Sinn kommt, so halte ich die Voraussetzung fest, daß er die Zielvorstellungen der Behandlung nicht fahren lassen kann, und halte mich für berechtigt zu folgern, daß das scheinbar Harmloseste und Willkürlichste, das er mir berichtet, im Zusammenhang mit seinem Krankheitszustande steht. Eine andere Zielvorstellung, von der dem Patienten nichts ahnt, ist die meiner Person. Die volle Würdigung sowie der eingehende Nachweis der beiden Aufklärungen gehört demnach in die Darstellung der psychoanalytischen Technik als therapeutische Methode. [...]
3.
Begehren und Verzicht Freuds Sexualitätskonzept
Sigmund Freud hat in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905d) die Lehre von den erogenen Zonen, den Partialtrieben und der libidinösen Besetzung des Ichs und der Objekte dargestellt. "Libido ist ein Terminus aus der Trieblehre zur Bezeichnung des dynamischen Ausdrucks der Sexualität [...]" (1923a, S. 229). Und "Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrückt: Gefühlsbindungen)" (1921c, S. 100) kommen durch die Bindung des Verlangens an Menschen (Gegenstände oder Ideale) zustande. Neben einer Zusammenfassung der psychoanalytischen Triebund Libidotheorie (Kap. 3.1) wird hier die psychologische Bedeutung des anatomischen Geschlechtsunterschieds noch einmal gesondert hervorgehoben (Kap. 3.2 und 3.3). Allgemeiner gesprochen geht es auch dabei wieder um Wünsche - und um die Möglichkeiten der Wunscherfüllung, die durch die Kultur geboten werden. Also geht es um Grenzen - und das heißt bei Freud: es geht um den von der kulturellen Sexualmoral (Freud, 1908d) vorgeschriebenen Triebverzicht, der unter bestimmten Bedingungen pathologische Konsequenzen haben kann (Freud, 1898a). Streng genommen spricht Freud allerdings nicht von Sexualität, sondern von Psychosexualität, denn der "Begriff des Sexuellen umfaßt in der Psychoanalyse weit mehr [als im herkömmlichen Sprachgebrauch - B. N.]; er geht nach unten [Soma, Trieb - B. N.] wie nach oben [Psyche, Geist - B. N.] über den populären Sinn hinaus. [...] Wir sprechen darum auch lieber von Psychosexualität, legen also Wert darauf, daß man den seelischen Faktor des Sexuallebens nicht übersehe und nicht unterschätze. Wir gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort ,lieben'. Wir wissen auch längst, daß seelische Unbefriedigung mit allen ihren Folgen bestehen kann, wo es an normalem Sexualverkehr nicht mangelt [...]" (Freud, 191Ok, S. 120). Wenn Freud von "Liebe" spricht, dann ist bei ihm also auch von "Sexualität" die Rede; doch wenn er von "Sexualität" spricht, dann heißt das nicht, dass er auch von Befriedigung oder gar von dem Frieden reden würde, den man sich wünscht,
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3. Begehren und Verzicht
wenn man an "Liebe" denkt und sexuelles Verlangen verspürt. Es bedarf keiner enthemmten Sexualität, um lieben zu können, vielmehr ist die Befreiung von inneren Hemmnissen und infantilen Fixierungen Voraussetzung der Liebesfähigkeit. Und deshalb ist "jede [...] psychoanalytische Behandlung ein Versuch, verdrängte Liebe zu befreien" (1907a, S. 118). Das letzte Ziel wäre demnach, wie Freud mit Bezug auf die Platonische Fabel von den mannweiblichen Urkörpern, die von den Göttern geteilt wurden, ausführt (1905d, S. 34), die Wiederherstellung der Fähigkeit, sich mit der fehlenden Hälfte - und das heißt: mit dem Gegensätzlichen -liebend zu vereinigen. Anders gesagt: Wunsch, Traum und Kindheit verschränken sich im Wunschtraum von der Wiederherstellung der Kindheit. Doch die Erfüllung dieses Wunsches gefährdet die auf Abgrenzung basierende Autonomie des Erwachsenen. Und deshalb steht dem sexuellen Wunsch nach Auflösung aller Grenzen die Angst vor der Auflösung der Ich-Grenzen entgegen (Spielrein, 1912). Freuds Ausführungen über Kastrationsangst und Penisneid wären in diesem Zusammenhang denn auch "metaphorisch" (Reiche, 1991, S. 23) zu verstehen: als Hinweis auf die Ausdrucksformen des Wunsches, der angesichts des Grenzen auflösenden sexuellen Wunsches die Selbsterhaltung sichern will.
3.1 [Ursprünge und Entwicklungslinien der Psychosexualitätl Zusammenfassung Im nachfolgend abgedruckten Schlusskapitel der "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" fasst Freud die Ursprünge und Entwicklungslinien der Psychosexualität noch einmal zusammen. Dieser Text wird hier nach der in den "Gesammelten Werken" enthalten Fassung wiedergegeben. Sie entspricht der sechsten Auflage der "Abhandlungen" von 1925. Ein Vergleich mit der Erstauflage offenbart wichtige Ergänzungen. So hebt Freud im Zusammenhang mit der "Frühblüte der Sexualität" zum Beispiel hervor, daß in der Zeit zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr eine erste (innerfamiliäre) Objektwahl stattfindet, die all die "reichen, seelischen Leistungen" aufweist, an die bei der zweiten (außerfamiliären) Objektwahl nach der Pubertät angeknüpft werden kann - vorausgesetzt, die (von Freud postulierten) notwendigen Entwicklungsschritte während der Kindheit haben stattgefunden. Die "Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung" (1905d, S. 135) ist demnach der Grund dafür, dass es bei Konflikten, die im Zusammenhang
3.1 [UrsprUnge und Entwicldungslinien der PsychosexualitätJ Zusammenfassung
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mit der außel'familiären Objektwahl auftreten. auch zu einer Rückkehr zu den (in den unbewussten Phantasien fixierten) familiären Liebes- und Bindungsobjekten und den zugehörigen Erlebens- und Verhaltensweisen kommen kann: "Alle die Sexualentwicklung schädigenden Momente äußern ihre Wirkung in der Weise, daß sie eine Regression, eine Rückkehr zu einer früheren Entwicklungsphase hervorrufen" (1905d, S.I42). Zwar charakterisiert Freud den Geschlechtstrieb in der frühen Kindheit als "objektlos, autoerotisch" (1905d, S. 134), doch er meint damit nicht, dass das Kind keine libidinöse Bindung eingehen kann. Die Mutter erfüllt ihre entwicklungsfördemde Aufgabe ja gerade dadurch. dass sie sich als begehrenswerter und liebenswerter Mensch anbietet, wodurch sie das Kind zur (Gegen-)Liebe verführt (Nitzschke, 2(09). Wenn Freud von den "äußeren Einflüssen der Verführung" (1905d, S. 136) spricht, dann meint er aber nicht dieses Verhalten. sondern expliziten sexuellen Missbrauch, dessen Vorkommen - anders als von manchen Kritikem unterstellt (zum Beispiel von Masson, 1986) - Freud niemals bestritten hat: "Glauben Sie übrigens nicht, daß sexueller Mißbrauch des Kindes durch die nächsten männlichen Verwandten durchaus dem Reiche der Phantasie angehört. Die meisten Analytiker werden Fälle behandelt haben, in denen solche Beziehungen real waren und einwandfrei festgestellt werden konnten" (1916-17a, S. 385; s. dazu ausführlich: Nitzschke, 1997).
W Freud, S. (1905d). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, S.132-145.
Es ist an der Zeit eine Zusammenfassung zu versuchen. Wll' sind von den Abirrungen des Geschlechtstriebes in Bezug auf sein Objekt und sein Ziel ausgegangen, haben die Fragestellung vorgefunden. ob diese aus angeborener Anlage entspringen oder infolge der Einflüsse des Lebens erworben werden. Die Beantwortung dieser Frage ergab sich uns aus der Einsicht in die Verhältnisse des Geschlechtstriebes bei den Psychoneurotikem, einer zahlreichen und den Gesunden nicht feme stehenden Menschengruppe, welche Einsicht wir durch psychoanalytische Untersuchung gewonnen hatten. Wir fanden so, daß bei diesen Personen die Neigungen zu allen Perversionen als unbewußte Mächte nachweisbar sind und sich als Symptombildner verraten. und konnten sagen. die Neurose sei gleichsam ein Negativ der Perversion. Angesichts der nun erkannten großen
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Verbreitung der Perversionsneigungen drängte sich uns der Gesichtspunkt auf, daß die Anlage zu den Perversionen die ursprüngliche allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes sei, aus welcher das normale Sexualverhalten infolge organischer Veränderungen und psychischer Hemmungen im Laufe der Reifung entwickelt werde. Die ursprüngliche Anlage hofften wir im Kindesalter aufzeigen zu können; unter den die Richtung des Sexualtriebes einschränkenden Mächten hoben wir Scham, Ekel, Mitleid und die sozialen Konstruktionen der Moral und Autorität hervor. So mußten wir in jeder fixierten Abirrung vom normalen Geschlechtsleben ein Stück Entwicklungshemmung und Infantilismus erblicken. Die Bedeutung der Variationen der ursprünglichen Anlage mußten wir in den Vordergrund stellen, zwischen ihnen und den Einflüssen des Lebens aber ein Verhältnis von Kooperation und nicht von Gegensätzlichkeit annehmen. Anderseits erschien uns/ da die ursprüngliche Anlage eine komplexe sein mußte, der Geschlechtstrieb selbst als etwas aus vielen Faktoren Zusammengesetztes/ das in den Perversionen gleichsam in seine Komponenten zerfällt. Somit erwiesen sich die Perversionen einerseits als Hemmungen, andererseits als Dissoziationen der normalen Entwicklung. Beide Auffassungen vereinigten sich in der Annahme, daß der Geschlechtstrieb des Erwachsenen durch die Zusammenfassung vielfacher Regungen des Kinderlebens zu einer Einheit, einer Strebung mit einem einzigen Ziel entstehe. Wir fügten noch die Aufklärung für das Überwiegen der perversen Neigungen bei den Psychoneurotikern bei, indem wir dieses als kollaterale Füllung von Nebenbahnen bei Verlegung des Hauptstrombettes durch die "Verdrängung" erkannten, und wandten uns dann der Betrachtung des Sexuallebens im Kindesalter ZU. 3B Wir fanden es bedauerlich, daß man dem Kindesalter den Sexualtrieb abgesprochen und die nicht selten zu beobachtenden Sexualäußerungen des Kindes als regelwidrige Vorkommnisse beschrieben hat. Es schien uns vielmehr/ daß das Kind Keime von Sexualtätigkeit mit zur Welt bringt und schon bei der Nahrungsaufnahme sexuelle Befriedigung mitgenießt, die es sich dann 38
Dies gilt nicht nur für die in der Neurose "negativ" auftretenden [d. h. in der Gestalt verdrängter Phantasien vorhandenen] Perversionsneigungen, sondern ebenso für die positiven, eigentlich so benannten Perversionen. Diese letzteren sind also nicht bloß auf die Fixierung der infantilen Neigungen zurückzuführen, sondern auch auf die Regression zu denselben infolge der Verlegung anderer Bahnen der Sexualströmung. Darum sind auch die positiven Perversionen der psychoanalytischen Therapie zugänglich.
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in der gut gekannten Tätigkeit des "Ludelns"[39l immer wieder zu verschaffen sucht. Die Sexualbetätigung des Kindes entwickle sich aber nicht im gleichen Schritt wie seine sonstigen Funktionen, sondern trete nach einer kurzen Blüteperiode vom zweiten bis zum fünften Jahre in die sogenannte Latenzperiode ein. In derselben würde die Produktion sexueller Erregung keineswegs eingestellt/ sondern halte an und liefere einen Vorrat von Energie, der großenteils zu anderen als sexuellen Zwecken verwendet werde, nämlich einerseits zur Abgabe der sexuellen Komponenten für soziale Gefühle, anderseits (vermittels Verdrängung und Reaktionsbildung) zum Aufbau der späteren Sexualschranken. Demnach würden die Mächte, die dazu bestimmt sind, den Sexualtrieb in gewissen Bahnen zu erhalten, im Kindesalter auf Kosten der großenteils perversen Sexualregungen und unter Mithilfe der Erziehung aufgebaut. Ein anderer Teil der infantilen Sexualregungen entgehe diesen Verwendungen und könne sich als Sexualbetätigung äußern. Man könne dann erfahren, daß die Sexualerregung des Kindes aus vielerlei Quellen fließe. Vor allem entstehe Befriedigung durch die geeignete sensible Erregung sogenannter erogener Zonen, als welche wahrscheinlich jede Hautstelle und jedes Sinnesorgan, wahrscheinlich jedes Organ/ fungieren könne, während gewisse ausgezeichnete erogene Zonen[401 existieren/ deren Erregung durch gewisse organische Vorrichtungen von Anfang an gesichert sei. Ferner entstehe sexuelle Erregung gleichsam als Nebenprodukt bei einer großen Reihe von Vorgängen im Organismus, sobald dieselben nur eine gewisse Intensität erreichen, ganz besonders bei allen stärkeren Gemütsbewegungen/ seien sie auch peinlicher Natur. Die Erregungen aus all diesen Quellen setzten sich noch nicht zusammen, sondern verfolgten jede vereinzelt ihr Ziel, welches bloß der Gewinn einer gewissen Lust ist. Der Geschlechtstrieb sei also im Kindesalter nicht zentriert und zunächst objektlos, autoerotisch. Noch während der Kinderjahre beginne die erogene Zone der Genitalien sich bemerkbar zu machen, entweder in der Art, daß sie wie jede andere erogene Zone auf geeignete sensible Reizung Befriedigung ergebe, oder indem auf nicht ganz verständliche Weise mit der Befriedigung von anderen Quellen her gleichzeitig eine Sexualerregung erzeugt werde, die zu der Genitalzone eine besondere Beziehung erhalte. Wir haben es bedauern müssen, daß eine genügende Aufklä[39] "Ludeln" ist ein Ausdruck. für Daumenlutschen oder allgemeiner für Wonnesaugen (s. Lindner, 1879-1880). [40] Gemeint sind die orale (Mund), anale (After) und urogenitale (Genitalien) Zone.
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rung des Verhältnisses zwischen Sexualbefriedigung und Sexualerregung sowie zwischen der Tätigkeit der Genitalzone und der übrigen Quellen der Sexualität nicht zu erreichen war. Durch das Studium der neurotischen Störungen haben wir gemerkt, daß sich im kindlichen Sexualleben von allem Anfang an Ansätze zu einer Organisation der sexuellen Triebkomponenten erkennen lassen. In einer ersten, sehr frühen Phase steht die Oralerotik im Vordergrunde; eine zweite dieser "prägenitalen" Organisationen wird durch die Vorherrschaft des Sadismus und der Analerotik charakterisiert, erst in einer dritten Phase (die sich beim Kind nur bis zum Primat des Phallus entwickelt) wird das Sexualleben durch den Anteil der eigentlichen Genitalzonen mitbestimmt. Wir haben dann als eine der überraschendsten Ermittlungen feststellen müssen, daß diese Frühblüte des infantilen Sexuallebens (zwei bis fünf Jahre) auch eine Objektwahl mit all den reichen, seelischen Leistungen zeitigt, so daß die daran geknüpfte, ihr entsprechende Phase trotz der mangelnden Zusammenfassung der einzelnen Triebkomponenten und der Unsicherheit des Sexualzieles als bedeutsamer Vorläufer der späteren endgültigen Sexualorganisation einzuschätzen ist. Die Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung beim Menschen, also die Unterbrechung dieser Entwicklung durch die Latenzzeit, erschien uns besonderer Beachtung würdig. Sie scheint eine der Bedingungen für die Eignung des Menschen zur Entwicklung einer höheren Kultur, aber auch für seine Neigung zur Neurose zu enthalten. Bei der tierischen Verwandtschaft des Menschen ist unseres Wissens etwas Analoges nicht nachweisbar. Die Ableitung der Herkunft dieser menschlichen Eigenschaft müßte man in der Urgeschichte der Menschenart suchen. Welches Maß von sexuellen Betätigungen im Kindesalter noch als normal, der weiteren Entwicklung nicht abträglich, bezeichnet werden darf, konnten wir nicht sagen. Der Charakter der Sexualäußerungen erwies sich als vorwiegend masturbatorisch. Wir stellten ferner durch Erfahrungen fest, daß die äußeren Einflüsse der Verführung vorzeitige Durchbrüche der Latenzzeit bis zur Aufhebung derselben hervorrufen können, und daß sich dabei der Geschlechtstrieb des Kindes in der Tat als polymorph pervers bewährt; ferner, daß jede solche frühzeitige Sexualtätigkeit die Erziehbarkeit des Kindes beeinträchtigt.
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Trotz der Lückenhaftigkeit unserer Einsichten in das infantile Sexualleben mußten wir dann den Versuch machen, die durch das Auftreten der Pubertät gesetzten Veränderungen desselben zu studieren. Wir griffen zwei derselben als die maßgebenden heraus, die Unterordnung aller sonstigen Ursprunge der Sexualerregung unter das Primat der Genitalzonen und den Prozeß der Objektfindung. Beide sind im Kinderleben bereits vorgebildet. Die erstere vollzieht sich durch den Mechanismus der Ausnützung der Vorlust, wobei die sonst selbständigen sexuellen Akte, die mit Lust und Erregung verbunden sind, zu vorbereitenden Akten für das neue Sexualziel, die Entleerung der Geschlechtsprodukte werden, dessen Erreichung unter riesiger Lust der Sexualerregung ein Ende macht. Wir hatten dabei die Differenzierung des geschlechtlichen Wesens zu Mann und Weib zu berücksichtigen und fanden, daß zum Weibwerden eine neuerliche Verdrängung erforderlich ist, welche ein Stück infantiler Männlichkeit aufhebt und das Weib für den Wechsel der leitenden Genitalzone vorbereitet. Die Objektwahl endlich fanden wir geleitet durch die infantilen, zur Pubertät aufgefrischten Andeutungen sexueller Neigung des Kindes zu seinen Eltern und Pflegepersonen und durch die mittlerweile aufgerichtete Inzestschranke von diesen Personen weg auf ihnen ähnliche gelenkt. Fügen wir endlich noch hinzu, daß während der Übergangszeit der Pubertät die somatischen und die psychischen Entwicklungsvorgänge eine Weile unverknüpft nebeneinander hergehen, bis mit dem Durchbruch einer intensiven seelischen Liebesregung zur Innervation der Genitalien die normalerweise erforderte Einheit der Liebesfunktion hergestellt wird. Jeder Schritt auf diesem langen Entwicklungswege kann zur Fixierungsstelle, jede Fuge dieser verwickelten Zusammensetzung zum Anlaß der Dissoziation des Geschlechtstriebes werden. wie wir bereits an verschiedenen Beispielen erörtert haben. Es erübrigt uns noch, eine Übersicht der verschiedenen, die Entwicklung störenden, inneren und äußeren Momente zu geben und beizufügen, an welcher Stelle des Mechanismus die von ihnen ausgehende Störung angreift. Was wir da in einer Reihe anführen, kann freilich unter sich nicht gleichwertig sein, und wir müssen auf Schwierigkeiten rechnen, den einzelnen Momenten die ihnen gebührende Abschätzung zuzuteilen. An erster Stelle ist hier die angeborene Verschiedenheit der sexuellen Konstitution zu nennen, auf die wahrscheinlich das Hauptgewicht entfällt, die aber, wie begreiflich, nur aus ihren späteren Äußerungen und dann nicht immer mit großer Sicherheit zu erschließen ist. Wir stellen uns unter ihr ein Überwiegen dieser oder
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jener der mannigfachen Quellen der Sexualerregung vor und glauben, daß solche Verschiedenheit der Anlagen in dem Endergebnis jedenfalls zum Ausdruck kommen muß, auch wenn dies sich innerhalb der Grenzen des Normalen zu halten vermag. Gewiß sind auch solche Variationen der ursprünglichen Anlage denkbar/ welche notwendigerweise und ohne weitere Mithilfe zur Ausbildung eines abnormen Sexuallebens führen müssen. Man kann dieselben dann "degenerative" heißen und als Ausdruck ererbter Verschlechterung betrachten. Ich habe in diesem Zusammenhange eine merkwürdige Tatsache zu berichten. Bei mehr als der Hälfte meiner psychotherapeutisch behandelten schweren Fälle von Hysterie/ Zwangsneurose usw. ist mir der Nachweis der vor der Ehe überstandenen Syphilis der Väter sicher gelungen, sei es, daß diese an Tabes oder progressiver Paralyse gelitten hatten, sei es, daß deren luetische Erkrankung sich anderswie anamnestisch feststellen ließ. Ich bemerke ausdrücklich, daß die später neurotischen Kinder keine körperlichen Zeichen von hereditärer Lues an sich trugen, so daß eben die abnorme sexuelle Konstitution als der letzte Ausläufer der luetischen Erbschaft zu betrachten war. So fern es mir nun liegt, die Abkunft von syphilitischen Eltern als regelmäßige oder unentbehrliche ätiologische Bedingung der neuropathischen Konstitution hinzustellen, so halte ich doch das von mir beobachtete Zusammentreffen für nicht zufällig und nicht bedeutungslos. Die hereditären Verhältnisse der positiv Perversen sind minder gut bekannt, weil dieselben sich der Erkundung zu entziehen wissen. Doch hat man Grund anzunehmen, daß bei den Perversionen ähnliches wie bei den Neurosen gilt. Nicht selten findet man nämlich Perversion und Psychoneurose in denselben Familien auf die verschiedenen Geschlechter so verteilt, daß die männlichen Mitglieder oder eines derselben positiv pervers, die weiblichen aber der Verdrängungsneigung ihres Geschlechts entsprechend negativ pervers, hysterisch sind, ein guter Beleg für die von uns gefundenen Wesensbeziehungen zwischen den beiden Störungen. Man kann indes den Standpunkt nicht vertreten, als ob mit dem Ansatz der verschiedenen Komponenten in der sexuellen Konstitution die Entscheidung über die Gestaltung des Sexuallebens eindeutig bestimmt wäre. Die Bedingtheit setzt sich vielmehr fort und weitere Möglichkeiten ergeben sich je nach dem Schicksal, welches die aus den einzelnen Quellen stammenden Sexualitätszuflüsse erfahren. Diese weitere Verarbeitung ist offenbar das endgültig Entscheidende, während die der Beschreibung nach gleiche Konstitution zu drei verschiedenen Endaus-
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gängen führen kann. Wenn sich alle die Anlagen in ihrem, als abnorm angenommenen, relativen Verhältnis erhalten und mit der Reifung verstärken, so kann nur ein perverses Sexualleben das Endergebnis sein. Die Analyse solcher abnormer konstitutioneller Anlagen ist noch nicht ordentlich in Angriff genommen worden, doch kennen wir bereits Fälle, die in solchen Annahmen mit Leichtigkeit ihre Erklärung finden. Die Autoren meinen zum Beispiel von einer ganzen Reihe von Fixationsperversionen, dieselben hätten eine angeborene Schwäche des Sexualtriebes zur notwendigen Voraussetzung. In dieser Form scheint mir die Aufstellung unhaltbar; sie wird aber sinnreich, wenn eine konstitutionelle Schwäche des einen Faktors des Sexualtriebes, der genitalen Zone, gemeint ist, welche Zone späterhin die Zusammenfassung der einzelnen Sexualbetätigungen zum Ziel der Fortpflanzung als Funktion übernimmt. Diese in der Pubertät geforderte Zusammenfassung muß dann mißlingen und die stärkste der anderen Sexualitätskomponenten wird ihre Betätigung als Perversion durchsetzen. 41 Ein anderer Ausgang ergibt sich, wenn im Laufe der Entwicklung einzelne der überstark angelegten Komponenten den Prozeß der Verdrängung erfahren, von dem man festhalten muß, daß er einer Aufhebung nicht gleichkommt. Die betreffenden Erregungen werden dabei wie sonst erzeugt, aber durch psychische Verhinderung von der Erreichung ihres Zieles abgehalten und auf mannigfache andere Wege gedrängt, bis sie sich als Symptome zum Ausdruck gebracht haben. Das Ergebnis kann ein annähernd normales Sexualleben sein, - meist ein eingeschränktes, - aber ergänzt durch psychoneurotische Krankheit. Gerade diese Fälle sind uns durch die psychoanalytische Erforschung Neurotischer gut bekannt geworden. Das Sexualleben solcher Personen hat wie das der Perversen begonnen, ein ganzes Stück ihrer Kindheit ist mit perverser Sexualtätigkeit ausgefüllt, die sich gelegentlich weit über die Reifezeit erstreckt; dann erfolgt aus inneren Ursachen - meist noch vor der Pubertät, aber hie und da sogar spät nachher - ein Verdrängungsumsch1ag, und von nun an tritt, ohne daß die alten Regungen erlöschen, Neurose an die Stelle der Perversion. Man wird an das Sprichwort "Junge Hure, alte Betschwester" erinnert, nur daß die Jugend hier allzu kurz ausgefallen ist. Diese Ablösung der Perversion durch die Neurose im 41
Man sieht dabei häufig, daß in der Pubertätszeit zunächst eine normale Sexualströmung einsetzt, welche aber infolge ihrer inneren Schwäche vor den ersten äußeren Hindernissen zusammenbricht und dann von der Regression auf die perverse Fixierung abgelöst wird.
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Leben derselben Person muß man ebenso wie die vorhin angeführte Verteilung von Perversion und Neurose auf verschiedene Personen derselben Familie mit der Einsicht, daß die Neurose das Negativ der Perversion ist, zusammenhalten. Der dritte Ausgang bei abnormer konstitutioneller Anlage wird durch den Prozeß der "Sublimierung" ermöglicht, bei welchem den überstarken Erregungen aus einzelnen Sexualitätsquellen Abfluß und Verwendung auf andere Gebiete eröffnet wird, so daß eine nicht unerhebliche Steigerung der psychischen Leistungsfähigkeit aus der an sich gefährlichen Veranlagung resultiert. Eine der Quellen der Kunstbetätigung ist hier zu finden und, je nachdem solche Sublimierung eine vollständige oder unvollständige ist, wird die Charakteranalyse hochbegabter, insbesondere künstlerisch veranlagter Personen jedes Mengungsverhältnis zwischen Leistungsfähigkeit, Perversion und Neurose ergeben. Eine Unterart der Sublimierung ist wohl die Unterdrückung durch Reaktionsbildung, die, wie wir gefunden haben, bereits in der Latenzzeit des Kindes beginnt, um sich im günstigen Falle durchs ganze Leben fortzusetzen. Was wir den "Charakter" eines Menschen heißen, ist zum guten Teil mit dem Material sexueller Erregungen aufgebaut und setzt sich aus seit der Kindheit fixierten Trieben, aus durch Sublimierung gewonnenen und aus solchen Konstruktionen zusammen, die zur wirksamen Niederhaltung perverser, als unverwendbar erkannter Regungen bestimmt sind. 42 Somit kann die allgemein perverse Sexualanlage der Kindheit als die Quelle einer Reihe unserer Tugenden geschätzt werden, insofern sie durch Reaktionsbildung zur Schaffung derselben Anstoß gibt.43 Gegenüber den Sexualentbindungen, Verdrängungsschüben und Sublimierungen, letztere beide Vorgänge, deren innere Bedingungen uns völlig unbekannt sind, treten alle anderen Einflüsse weit an Bedeutung zurück. Wer Verdrängungen und Sublimierungen mit zur konstitutionellen Anlage rechnet, als die Le42
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Bei einigen Charakterzügen ist selbst ein Zusammenhang mit bestimmten erogenen Komponenten erkannt worden. So leiten sich Trotz, Sparsamkeit und Ordentlichkeit aus der Verwendung der Analerotik ab. Der Ehrgeiz wird durch eine starke urethralerotische Anlage bestimmt. Ein Menschenkenner wie E. Zola schildert in "La Joie de vivre" ein Mädchen, das in heiterer Selbstentäußerung alles, was es besitzt und beanspruchen könnte, sein Vermögen und seine Lebenswünsche geliebten Personen ohne Entlohnung zum Opfer bringt. Die Kindheit dieses Mädchens ist von einem unersättlichen ZärtIichkeitsbedürfnis beherrscht, das sie bei einer Gelegenheit von Zurücksetzung gegen eine andere in Grausamkeit verfallen läßt.
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bensäußerungen derselben betrachtet, der hat allerdings das Recht zu behaupten, daß die Endgestaltung des Sexuallebens vor allem das Ergebnis der angeborenen Konstitution ist. Indes wird kein Einsichtiger bestreiten, daß in solchem Zusammenwirken von Faktoren auch Raum für die modifizierenden Einflüsse des akzidentell in der Kindheit und späterhin Erlebten bleibt. Es ist nicht leicht, die Wirksamkeit der konstitutionellen und der akzidentellen Faktoren in ihrem Verhältnis zueinander abzuschätzen. In der Theorie neigt man immer zur Überschätzung der ersteren; die therapeutische Praxis hebt die Bedeutsamkeit der letzteren hervor. Man sollte auf keinen Fall vergessen, daß zwischen den beiden ein Verhältnis von Kooperation und nicht von Ausschließung besteht. Das konstitutionelle Moment muß auf Erlebnisse warten, die es zur Geltung bringen, das akzidentelle bedarf einer Anlehnung an die Konstitution, um zur Wirkung zu kommen. Man kann sich für die Mehrzahl der Fälle eine sogenannte "Ergänzungsreihe" vorstellen, in welcher die fallenden Intensitäten des einen Faktors durch die steigenden des anderen ausgeglichen werden, hat aber keinen Grund, die Existenz extremer Fälle an den Enden der Reihe zu leugnen. Der psychoanalytischen Forschung entspricht es noch besser, wenn man den Erlebnissen der frühen Kindheit unter den akzidentellen Momenten eine Vorzugsstellung einräumt. Die eine ätiologische Reihe zerlegt sich dann in zwei, die man die dispositionelle und die definitive heißen kann. In der ersteren wirken Konstitution und akzidentelle Kindheitserlebnisse ebenso zusammen, wie in der zweiten Disposition und spätere traumatische Erlebnisse. Alle die Sexualentwicklung schädigenden Momente äußern ihre Wirkung in der Weise, daß sie eine Regression, eine Rückkehr zu einer früheren Entwicklungsphase hervorrufen. Wir setzen hier unsere Aufgabe fort, die uns als einflußreich für die Sexualentwicklung bekannt gewordenen Momente aufzuzählen, sei es, daß diese wirksame Mächte oder bloß Äußerungen solcher darstellen. Ein solches Moment ist die spontane sexuelle Frühreife, die wenigstens in der Ätiologie der Neurosen mit Sicherheit nachweisbar ist, wenngleich sie so wenig wie andere Momente für sich allein zur Verursachung hinreicht. Sie äußert sich in Durchbrechun& Verkürzung oder Aufhebung der infantilen Latenzzeit und wird zur Ursache von Störungen, indem sie Sexualäußerungen veranlaßt, die einerseits wegen des unfertigen Zustandes der Sexualhemmungen, andererseits infolge des unentwickelten Genitalsystems nur den Charakter von Per-
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versionen an sich tragen können. Diese Perversionsneigungen mögen sich nun als solche erhalten oder nach eingetretenen Verdrängungen zu Triebkräften neurotischer Symptome werden; auf alle Fälle erschwert die sexuelle Frühreife die wünschenswerte spätere Beherrschung des Sexualtriebes durch die höheren seelischen Instanzen und steigert den zwangartigen Charakter, den die psychischen Vertretungen des Triebes ohnedies in Anspruch nehmen. Die sexuelle Frühreife geht häufig vorzeitiger intellektueller Entwicklung parallel; als solche findet sie sich in der Kindheitsgeschichte der bedeutendsten und leistungsfähigsten Individuen; sie scheint dann nicht ebenso pathogen zu wirken, wie wenn sie isoliert auftritt. Ebenso wie die Frühreife fordern andere Momente Berücksichtigung, die man als "zeitliche" mit der Frühreife zusammenfassen kann. Es scheint phylogenetisch festgelegt, in welcher Reihenfolge die einzelnen Triebregungen aktiviert werden, und wie lange sie sich äußern können, bis sie dem Einfluß einer neu auftretenden Triebregung oder einer typischen Verdrängung unterliegen. Allein sowohl in dieser zeitlichen Aufeinanderfolge wie in der Zeitdauer derselben scheinen Variationen vorzukommen, die auf das Endergebnis einen bestimmenden Einfluß üben müssen. Es kann nicht gleichgültig sein, ob eine gewisse Strömung früher oder später auftritt als ihre Gegenströmung, denn die Wirkung einer Verdrängung ist nicht rückgängig zu machen: eine zeitliche Abweichung in der Zusammensetzung der Komponenten ergibt regelmäßig eine Änderung des Resultats. Andererseits nehmen besonders intensiv auftretende Triebregungen oft einen überraschend schnellen Ablauf, z. B. die heterosexuelle Bindung der später manifest Homosexuellen. Die am heftigsten einsetzenden Strebungen der Kinderjahre rechtfertigen nicht die Befürchtung, daß sie den Charakter des Erwachsenen dauernd beherrschen werden; man darf ebensowohl erwarten, daß sie verschwinden werden, um ihrem Gegenteil Platz zu machen. (Gestrenge Herren regieren nicht lange.) Worauf solche zeitliche Verwirrungen der Entwicklungsvorgänge rückführbar sind, vermögen wir auch nicht in Andeutungen anzugeben. Es eröffnet sich hier ein Ausblick auf eine tiefere Phalanx von biologischen, vielleicht auch historischen Problemen, denen wir uns noch nicht auf Karnpfesweite angenähert haben. Die Bedeutung aller frühzeitigen Sexualäußerungen wird durch einen psychischen Faktor unbekannter Herkunft gesteigert, den man derzeit freilich nur als eine psychologische Vorläufigkeit hinstellen kann. Ich meine die erhöhte Haft-
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barkeit oder Fixierbarkeit dieser Eindrücke des Sexuallebens, die man bei späteren Neurotikern wie bei Perversen zur Ergänzung des Tatbestandes hinzunehmen muß, da die gleichen vorzeitigen Sexualäußerungen bei anderen Personen sich nicht so tief einprägen können, daß sie zwangartig auf Wiederholung hinwirken und dem Sexualtrieb für alle Lebenszeit seine Wege vorzuschreiben vermögen. Vielleicht liegt ein Stück der Aufklärung für diese Haftbarkeit in einem anderen psychischen Moment, welches wir in der Verursachung der Neurosen nicht missen können, nämlich in dem Übergewicht, welches im Seelenleben den Erinnerungsspuren im Vergleich mit den rezenten Eindrücken zufällt. Dieses Moment ist offenbar von der intellektuellen Ausbildung abhängig und wächst mit der Höhe der persönlichen Kultur. Im Gegensatz hierzu ist der Wilde als das "unglückselige Kind des Augenblickes" charakterisiert worden. 44 Wegen der gegensätzlichen Beziehung zwischen Kultur und freier Sexualitätsentwicklung, deren Folgen weit in die Gestaltung unseres Lebens verfolgt werden können, ist es auf niedriger Kultur- oder Gesellschaftsstufe so wenig, auf höherer so sehr fürs spätere Leben bedeutsam, wie das sexuelle Leben des Kindes verlaufen ist. Die Begünstigung durch die eben erwähnten psychischen Momente kommt nun den akzidentell erlebten Anregungen der kindlichen Sexualität zugute. Die letzteren (Verführung durch andere Kinder oder Erwachsene in erster Linie) bringen das Material bei, welches mit Hilfe der ersteren zur dauernden Störung fixiert werden kann. Ein guter Teil der später beobachteten Abweichungen vom normalen Sexualleben ist so bei Neurotikern wie bei Perversen durch die Eindrücke der angeblich sexualfreien Kindheitsperiode von Anfang an festgelegt. In die Verursachung teilen sich das Entgegenkommen der Konstitution, die Frühreife, die Eigenschaft der erhöhten Haftbarkeit und die zufällige Anregung des Sexualtriebes durch fremden Einfluß. Der unbefriedigende Schluß aber, der sich aus diesen Untersuchungen über die Störungen des Sexuallebens ergibt, geht dahin, daß wir von den biologischen Vorgängen, in denen das Wesen der Sexualität besteht, lange nicht genug wissen, um aus unseren vereinzelten Einsichten eine zum Verständnis des Normalen wie des Pathologischen genügende Theorie zu gestalten.
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Möglicherweise ist die Erhöhung der Haftbarkeit auch der Erfolg einer besonders intensiven somatischen Sexualäußerung früherer Jahre.
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3.2 Die infantile GenitaIorganisation (Eine Einschaltung in die Genitalorganisation) In dieser Schrift weist Freud der um die Erregungen der"phallischen" Zone (Penis, Klitoris) zentrierten infantilen Sexualität erstmals einen systematischen Platz
in der Libidoorganisation und damit in der Triebentwicklung (orale - anale - phallische Phase) zu. Dieser Schritt hatte beträchtliche Konsequenzen für die psychoanalytische Beurteilung der Konstrukte von Männlichkeit (Besitz eines Penis/ nicht kastriert) und Weiblichkeit (Penislosigkeit/kastriert). Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass dieser Beurteilung des anatomischen Gesch1echtsunterschieds das Erleben des Kindes und damit dessen Phantasien zugrunde liegen. Die entsprechenden Phantasien sind bei Erwachsenen in der Regel unbewusst. Dass die konventionelle Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit nichts von solchen Phantasien wissen will, sich vielmehr an den für Männer und Frauen von Kultur zu Kultur unterschiedlichen Verhaltensvorschrlften und Erlebensmustern orientiert, war auch Freud bekannt. Aus dieser soziologischen Betrachtung der Geschlechterunterschiede könne man daher schließen, "daß weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit" existiert (1905a, S. 121, Anm. 1). Freud geht denn auch von einer biologisch vorgegebenen Bisexualität des Menschen aus, die im Verlauf eines langwierigen Entwicklungs- und Erzi.ehungsprozesses zur konventionell bestimmten "Monosexualität" (1905d, S. 40) des Erwachsenen umgestaltet wird (Mertens, 1992, Mertens, 1994).
W Freud, S. (1923e). Die infantile GenitaIorganisation. GW XIll, S.293-298.
Es ist recht bezeichnend für die Schwierigkeit der Forschungsarbeit in der Psychoanalyse, daß es möglich ist, allgemeine Züge und charakteristische Verhältnisse trotz unausgesetzter jahrzehntelanger Beobachtung zu übersehen, bis sie einem endlich einmal unverkennbar entgegentreten; eine solche Vernachlässigung auf dem Gebiet der infantilen Sexualentwicklung möchte ich durch die nachstehenden Bemerkungen gutmachen. Den Lesern meiner "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (Freud, 1905d) wird es bekannt sein, daß ich in den späteren Ausgaben dieser Schrift niemals eine
3.2 Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Genitalorganisation)
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Umarbeitung vorgenommen, sondern die ursprüngliche Anordnung gewahrt habe und den Fortschritten unserer Einsicht durch Einschaltungen und Abänderungen des Textes gerecht geworden bin. Dabei mag es oft vorgekommen sein, daß das Alte und das Neuere sich nicht gut zu einer widerspruchsfreien Einheit verschmelzen ließen. Anfänglich ruhte ja der Akzent auf der Darstellung der fundamentalen Verschiedenheit im Sexualleben der Kinder und der Erwachsenen, später drängten sich die prägenitalen Organisationen der Libido in den Vordergrund und die merkwürdige und folgenschwere Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung. Endlich nahm die infantile Sexualforschung unser Interesse in Anspruch, und von ihr aus ließ sich die weitgehende Annäherung des Ausganges der kindlichen Sexualität (um das fünfte Lebensjahr) an die Endgestaltung beim Erwachsenen erkennen. Dabei bin ich in der letzten Auflage der "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1922) stehen geblieben. Auf Seite 63 derselben (= Freud, 1905d, S. 100) erwähne ich, daß "häufig oder regelmäßig bereits in den Kinderjahren eine Objektwahl vollzogen wird, wie wir sie als charakteristisch für die Entwicklungsphase der Pubertät hingestellt haben, in der Weise, daß sämtliche Sexualstrebungen die Richtung auf eine einzige Person nehmen, an der sie ihre Ziele erreichen wollen. Dies ist dann die größte Annäherung an die definitive Gestaltung des Sexuallebens nach der Pubertät, die in den Kinderjahren möglich ist. Der Unterschied von letzterer liegt nur noch darin, daß die Zusammenfassung der Partialtriebe und deren Unterordnung unter das Primat der Genitalien in der Kindheit nicht oder nur sehr unvollkommen durchgesetzt wird. Die Herstellung dieses Primats im Dienste der Fortpflanzung ist also die letzte Phase, welche die Sexualorganisation durchläuft." Mit dem Satz, das Primat der Genitalien sei in der frühinfantilen Periode nicht oder nur sehr unvollkommen durchgeführt, würde ich mich heute nicht mehr zufrieden geben. Die Annäherung des kindlichen Sexuallebens an das der Erwachsenen geht viel weiter und bezieht sich nicht nur auf das Zustandekommen einer Objektwahl. Wenn es auch nicht zu einer richtigen Zusammenfassung der Partialtriebe unter das Primat der Genitalien kommt, so gewinnt doch auf der Höhe des Entwicklungsganges der infantilen Sexualität das Interesse an den Genitalien und die Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung, die hinter der in der Reifezeit wenig zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser "infantilen Genitalorganisation" ist zugleich ihr Unterschied von der endgültigen Genitalorganisation der Erwachsenen. Er liegt darin, daß für beide Geschlechter nur
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3. Begehren und Verzicht
ein Genitale, das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also nicht ein Genitalprimat, sondern ein Primat des Phallus. Leider können wir diese Verhältnisse nur für das männliche Kind beschreiben, in die entsprechenden Vorgänge beim kleinen Mädchen fehlt uns die Einsicht. Der kleine Knabe nimmt sicherlich den Unterschied von Männern und Frauen wahr/ aber er hat zunächst keinen Anlaß, ihn mit einer Verschiedenheit ihrer Genitalien zusammenzubringen. Es ist ihm natürlich, ein ähnliches Genitale/ wie er es selbst besitzt, bei allen anderen Lebewesen, Menschen und Tieren, vorauszusetzen, ja wir wissen, daß er auch an unbelebten Dingen nach einem seinem Gliede analogen Gebilde forscht. 45 Dieser leicht erregte, veränderliche, an Empfindungen so reiche Körperteil beschäftigt das Interesse des Knaben in hohem Grade und stellt seinem Forschertrieb unausgesetzt neue Aufgaben. Er möchte ihn auch bei anderen Personen sehen, um ihn mit seinem eigenen zu vergleichen, er benimmt sich, als ob ihm vorschwebte, daß dieses Glied größer sein könnte und sollte; die treibende Kraft, welche dieser männliche Teil später in der Pubertät entfalten wird, äußert sich um diese Lebenszeit wesentlich als Forschungsdrang, als sexuelle Neugierde. Viele der Exhibitionen und Aggressionen/ welche das Kind vornimmt und die man im späteren Alter unbedenklich als Äußerungen von Lüsternheit beurteilen würde, erweisen sich der Analyse als Experimente im Dienste der Sexualforschung angestellt. Im Laufe dieser Untersuchungen gelangt das Kind zur Entdeckung, daß der Penis nicht ein Gemeingut aller ihm ähnlichen Wesen sei. Der zufällige Anblick der Genitalien einer kleinen Schwester oder Gespielin gibt hierzu den Anstoß; scharfsinnige Kinder haben schon vorher aus ihren Wahrnehmungen beim Urinieren der Mädchen, weil sie eine andere Stellung sehen und ein anderes Geräusch hören, den Verdacht geschöpft, daß hier etwas anders sei, und dann versucht, solche Beobachtungen in aufklärender Weise zu wiederholen. Es ist bekannt, wie sie auf die ersten Eindrücke des Penismangels reagieren. Sie leugnen diesen Mangel, glauben doch ein Glied zu sehen, beschönigen den Widerspruch zwischen Beobachtung und Vorurteil durch die Auskunft, es sei noch klein und werde erst wachsen, und kommen dann langsam zu dem affektiv be45
Es ist übrigens merkwürdig, ein wie geringes Maß von Aufmerksamkeit der andere Teil des männlichen Genitales, das Säckchen mit seinen Einschlüssen, beim Kinde auf sich zieht. Aus den Analysen könnte man nicht erraten, daß noch etwas anderes als der Penis zum Genitale gehört.
3.2 Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Genitalorganisation)
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deutsamen Schluß, es sei doch wenigstens vorhanden gewesen und dann weggenommen worden. Der Penismangel wird als Ergebnis einer Kastration erfaßt und das Kind steht nun vor der Aufgabe, sich mit der Beziehung der Kastration zu seiner eigenen Person auseinanderzusetzen. Die weiteren Entwicklungen sind zu sehr allgemein bekannt, als daß es notwendig wäre, sie hier zu wiederholen. Es scheint mir nur, daß man die Bedeutung des Kastrationskomplexes erst richtig würdigen ko.nn, wenn man seine Entstehung in der Phase des Phallusprimats mitberücksichtigt.46 Es ist auch bekannt, wie viel Herabwürdigung des Weibes, Grauen vor dem Weib, Disposition zur Homosexualität sich aus der endlichen Überzeugung von der Penislosigkeit des Weibes ableitet. Ferenczi (1923) hat kürzlich mit vollem Recht das mythologische Symbol des Grausens, das Medusenhaupt, auf den Eindruck des penislosen weiblichen Genitales zurückgeführt. 47 Doch darf man nicht glauben, daß das Kind seine Beobachtung, manche weibliche Personen besitzen keinen Penis, so rasch und bereitwillig verallgemeinert; dem steht schon die Annahme, daß die Penislosigkeit die Folge der Kastration als einer Strafe sei, im Wege. Im Gegenteile, das Kind meint, nur unwürdige weibliche Personen, die sich wahrscheinlich ähnlicher unerlaubter Regungen schuldig gemacht haben wie es selbst, hätten das Genitale eingebüßt. Respektierte Frauen aber wie die Mutter behalten den Penis noch lange. Weibsein fällt eben für das Kind noch nicht mit Penismangel zusammen. 48 Erst später, wenn das Kind die Probleme der Entstehung und Geburt der Kinder angreift und errät, daß nur Frauen Kinder gebären können, wird auch die Mutter des Penis verlustig und mitunter werden ganz komplizierte Theorien aufgebaut, die den Umtausch 46
47
48
Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das Kind die Vorstellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperverlust aus dem Verlieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aus der täglichen Abgabe der Fäzes, ja schon aus der Trennung vom Mutterleib bei der Geburt gewinnt. Von einem Kastrationskomplex sollte man aber doch erst sprechen, wenn sich diese Vorstellung eines Verlustes mit dem männlichen Genitale verknüpft hat. Ich möchte hinzufügen, daß im Mythos das Genitale der Mutter gemeint ist. Athene, die das Medusenhaupt an ihrem Panzer trägt, wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick jeden Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt. Aus der Analyse einer jungen Frau erfuhr ich, daß sie, die keinen Vater und mehrere Tanten hatte, bis weit in die Latenzzeit an dem Penis der Mutter und einiger Tanten festhielt. Eine schwachsinnige Tante aber hielt sie für kastriert, wie sie sich selbst empfand.
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3. Begehren und Verzicht
des Penis gegen ein Kind erklären sollen. Das weibliche Genitale scheint dabei niemals entdeckt zu werden. Wie wir wissen, lebt das Kind im Leib (Darm) der Mutter und wird durch den Darmausgang geboren. Mit diesen letzten Theorien greifen wir über die Zeitdauer der infantilen Sexualperiode hinaus. Es ist nicht unwichtig, sich vorzuhalten, welche Wandlungen die uns geläufige geschlechtliche Polarität während der kindlichen Sexualentwicklung durchmacht. Ein erster Gegensatz wird mit der Objektwahl, die ja Subjekt und Objekt voraussetzt, eingeführt. Auf der Stufe der prägenitalen sadistisch-analen Organisation ist von männlich und weiblich noch nicht zu reden, der Gegensatz von aktiv und passiv ist der herrschende (s. Freud 1905d, S. 99). Auf der nun folgenden Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kilstriert. Erst mit der Vollendung der Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität mit männlich und weiblich zusammen. Das Männliche faßt das Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis zusammen, das Weibliche setzt das Objekt und die Passivität fort. Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.
3.3 Über die weibliche Sexualität
Nachdem Freud die phallische Phase in die Sexualtheorie eingeführt hatte (Kap. 3.2), betonte er: "Aller Akzent fällt [in dieser Phase - B. N.] auf das männliche Glied, alles Interesse richtet sich darauf, ob dies vorhanden ist oder nicht. Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns der Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie" (1926e, S. 241). Wenig später versuchte Freud dann aber doch, Licht ins Dunkel der infantilen Phantasien zu bringen, die "das Rätsel der Weiblichkeit" (1933a, S. 120) umranken. Dabei entdeckte er, anfangs zu seiner eigenen Überraschung, wie groß der Einfluss ist, den die frühe Bindung des Mädchens an die Mutter auf die Sexualität der erwachsenen Frau hat. Es handelt sich dabei offenbar um zwei Aspekte eines Problems. Und deshalb kann man "das Weib nicht verstehen [...], wenn man nicht diese Phase der präödipalen Mutterbindung würdigt" (1933a, S. 127). Diese und andere Thesen, die in der hier abgedruckten Arbeit (Freud, 1931b) enthalten sind, haben eine bis heute
3.3 Über die weibliche Sexualität
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andauernde und oft sehr kontrovers geführte Diskussion ausgelöst (Deutsch, 1948, Horney, 1977, Schlesier, 1981, Fast 1991, Quindeau, 2008, Nitzschke, 2009). Wie immer man die jeweiligen Schlussfolgerungen auch beurteilen mag: Ausgangspunkt der von Freud vertretenen Auffassungen über die weibliche (und letztendlich auch über die männliche) Sexualität ist die These, dass Kinder auf den anatomischen Geschlechtsunterschied mit Phantasien reagieren,. in denen das Nichtvorhandensein eines Penis mit Kastration gleichgesetzt wird (Green, 1996, Nitzschke, 2003). Diesen und anderen infantilen Phantasien hat Freud maßgeblichen Einfluss auf das sexuelle Erleben und Verhalten der Erwachsenen zugesprochen. auch wenn ihnen solche Phantasien nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind.
Freuel, S. (1931b). Über die weibliche Sexualität. GW XIV, S. 517-537. I
In der Phase des normalen Ödipuskomplexes finden wir das Kind an den gegengeschlechtlichen Elternteil zärtlich gebunden. während Verhältnis zum gleichgeschlechtlichen die Feindseligkeit vorwiegt. Es macht uns keine Schwierigkeiten, dieses Ergebnis für den Knaben abzuleiten. Die Mutter war sein erstes Liebesobjekt; sie bleibt es, mit der Verstärkung seiner verliebten Strebungen und der tieferen Einsicht in die Beziehung zwischen Vater und Mutter muß der Vater zum Rivalen werden. Anders für das kleine Mädchen. Ihr erstes Objekt war doch auch die Mutter; wie findet sie den Weg zum Vater? Wie, wann und warum macht sie sich von der Mutter los? WIr haben längst verstanden. die Entwicklung der weiblichen Sexualität werde durch die Aufgabe kompliziert, die ursprünglich leitende genitale Zone, die Klitoris, gegen eine neue, die Vagina. aufzugeben. Nun erscheint uns eine zweite solche Wandlung, der Umtausch des ursprünglichen Mutterobjekts gegen den Vater, nicht weniger charakteristisch und bedeutungsvoll für die Entwicklung des Weibes. In welcher Art die beiden Aufgaben miteinander verknüpft sinc:l können wir noch nicht erkennen.
Frauen mit starker Vaterbindung sind bekanntlich sehr häufig; sie brauchen auch keineswegs neurotisch zu sein. An solchen Frauen habe ich die Beobachtungen gemacht, über die ich hier berichte und die mich zu einer gewissen Auffassung der weiblichen Sexualität veranlaßt haben. Zwei Tatsachen sind mir da vor allein
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3. Begehren und Verzicht
aufgefallen. Die erste war: wo eine besonders intensive Vaterbindung bestand, da hatte es nach dem Zeugnis der Analyse vorher eine Phase von ausschließlicher Mutterbindung gegeben von gleicher Intensität und Leidenschaftlichkeit. Die zweite Phase hatte bis auf den Wechsel des Objekts dem Liebesleben kaum einen neuen Zug hinzugefügt. Die primäre Mutterbeziehung war sehr reich und vielseitig ausgebaut gewesen. Die zweite Tatsache lehrte, daß man auch die Zeitdauer dieser Mutterbindung stark unterschätzt hatte. Sie reichte in mehreren Fällen bis weit ins vierte, in einem bis ins fünfte Jahr, nahm also den bei weitem längeren Anteil der sexuellen Frühblüte ein. Ja, man mußte die Möglichkeit gelten lassen, daß eine Anzahl von weiblichen Wesen in der ursprünglichen Mutterbindung stecken bleibt und es niemals zu einer richtigen Wendung zum Manne bringt. Die praödipale Phase des Weibes rückt hiermit zu einer Bedeutung auf, die wir ihr bisher nicht zugeschrieben haben. Da sie für alle Fixierungen und Verdrängungen Raum hat, auf die wir die Entstehung der Neurosen zurückführen, scheint es erforderlich, die Allgemeinheit des Satzes, der Ödipuskomplex sei der Kern der Neurose, zurückzunehmen. Aber wer ein Sträuben gegen diese Korrektur verspürt, ist nicht genötigt, sie zu machen. Einerseits kann man dem Ödipuskomplex den weiteren Inhalt geben, daß er alle Beziehungen des Kindes zu beiden Eltern umfaßt, anderseits kann man den neuen Erfahrungen auch Rechnung tragen, indem man sagt, das Weib gelange zur normalen positiven Ödipussituation erst, nachdem es eine vom negativen Komplex beherrschte Vorzeit überwunden. Wirklich ist während dieser Phase der Vater für das Mädchen nicht viel anderes als ein lästiger Rivale, wenngleich die Feindseligkeit gegen ihn nie die für den Knaben charakteristische Höhe erreicht. Alle Erwartungen eines glatten Parallelismus zwischen männlicher und weiblicher Sexualentwicklung haben wir ja längst aufgegeben. Die Einsicht in die präödipale Vorzeit des Mädchens wirkt als Überraschung, ähnlich wie auf anderem Gebiet die Aufdeckung der minoisch-mykenischen Kultur hinter der griechischen. Alles auf dem Gebiet dieser ersten Mutterbindung erschien mir so schwer analytisch zu erfassen, so altersgrau, schattenhaft, kaum wiederbelebbar, als ob es einer besonders unerbittlichen Verdrängung erlegen wäre. Vielleicht kam dieser
3.3 Über die weibliche Sexualität
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Eindruck aber davon, daß die Frauen in der Analyse bei mir an der nämlichen Vaterbindung festhalten konnten, zu der sie sich aus der in Rede stehenden Vorzeit geflüchtet hatten. Es scheint wirklich, daß weibliche Analytiker, wie Jeanne Lampl-de Groot und Helene Deutsch, diese Tatbestände leichter und deutlicher wahrnehmen konnten, weil ihnen bei ihren Gewährspersonen die Übertragung auf einen geeigneten Mutterersatz zu Hilfe kam. Ich habe es auch nicht dahin gebracht, einen Fall vollkommen zu durchschauen, beschränke mich daher auf die Mitteilung der allgemeinsten Ergebnisse und führe nur wenige Proben aus meinen neuen Einsichten an. Dahin gehört, daß diese Phase der Mutterbindung eine besonders intime Beziehung zur Ätiologie der Hysterie vermuten läßt, was nicht überraschen kann, wenn man erwägt, daß beide, die Phase wie die Neurose, zu den besonderen Charakteren der Weiblichkeit gehören, ferner auch, daß man in dieser Mutterabhängigkeit den Keim der späteren Paranoia des Weibes findet. 49 Denn dies scheint die überraschende, aber regelmäßig angetroffene Angst, von der Mutter umgebracht (aufgefressen?) zu werden, wohl zu sein. Es liegt nahe, anzunehmen, daß diese Angst einer Feindseligkeit entspricht, die sich im Kind gegen die Mutter infolge der vielfachen Einschränkungen der Erziehung und Körperpflege entwickelt, und daß der Mechanismus der Projektion durch die Frühzeit der psychischen Organisation begünstigt wird. 11
Ich habe die beiden Tatsachen vorangestellt, die mir als neu aufgefallen sind, daß die starke Vaterabhängigkeit des Weibes nur das Erbe einer ebenso starken Mutterbindung antritt und daß diese frühere Phase durch eine unerwartet lange Zeitdauer angehalten hat. Nun will ich zurückgreifen, um diese Ergebnisse in das uns bekanntgewordene Bild der weiblichen Sexualentwicklung einzureihen, wobei Wiederholungen nicht zu vermeiden sein werden. Die fortlaufende Vergleichung mit den Verhältnissen beim Manne kann unserer Darstellung nur förderlich sein. Zunächst ist es unverkennbar, daß die für die menschliche Anlage behauptete Bisexualität beim Weib viel deutlicher hervortritt als beim Mann. Der Mann hat doch nur eine leitende Gesch1echtszone, ein Geschlechtsorgan, während das 49
In dem bekannten Fall von Ruth Mack Brunswick (1928) geht die Affektion direkt aus der präödipalen (Schwester-) Fixierung hervor.
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3. Begehren und Verzicht
Weib deren zwei besitzt: die eigentlich weibliche Vagina und die dem männlichen Glied analoge Klitoris. Wir halten uns für berechtigt anzunehmen, daß die Vagina durch lange Jahre so gut wie nicht vorhanden ist, vielleicht erst zur Zeit der Pubertät Empfindungen liefert. In letzter Zeit mehren sich allerdings die Stimmen der Beobachter, die vaginale Regungen auch in diese frühen Jahre verlegen. Das Wesentliche, was also an Genitalität in der Kindheit vorgeht, muß sich beim Weibe an der Klitoris abspielen. Das Geschlechtsleben des Weibes zerfällt regelmäßig in zwei Phasen, von denen die erste männlichen Charakter hat; erst die zweite ist die spezifisch weibliche. In der weiblichen Entwicklung gibt es so einen Prozeß der Überführung der einen Phase in die andere, dem beim Manne nichts analog ist. Eine weitere Komplikation entsteht daraus, daß sich die Funktion der virilen Klitoris in das spätere weibliche Geschlechtsleben fortsetzt in einer sehr wechselnden und gewiß nicht befriedigend verstandenen Weise. Natiirlich wissen wir nicht, wie sich diese Besonderheiten des Weibes biologisch begründen; noch weniger können wir ihnen teleologische Absicht unterlegen. Parallel dieser ersten großen Differenz läuft die andere auf dem Gebiet der Objektfindung. Beim Manne wird die Mutter zum ersten Liebesobjekt infolge des Einflusses von Nahrungszufuhr und Körperpflege, und sie bleibt es, bis sie durch ein ihr wesensähnliches oder von ihr abgeleitetes ersetzt wird. Auch beim Weib muß die Mutter das erste Objekt sein. Die Urbedingungen der Objektwahl sind ja für alle Kinder gleich. Aber am Ende der Entwicklung soll der Mann-Vater das neue Liebesobjekt geworden sein, d. h. dem Geschlechtswechsel des Weibes muß ein Wechsel im Geschlecht des Objekts entsprechen. Als neue Aufgaben der Forschung entstehen hier die Fragen, auf welchen Wegen diese Wandlung vor sich geht, wie gründlich oder unvollkommen sie vollzogen wird, welche verschiedenen Möglichkeiten sich bei dieser Entwicklung ergeben. Wir haben auch bereits erkannt, daß eine weitere Differenz der Geschlechter sich auf das Verhältnis zum Ödipuskomplex bezieht. Unser Eindruck ist hier, daß unsere Aussagen über den Ödipuskomplex in voller Strenge nur für das männliche Kind passen, und daß wir recht daran haben, den Namen Elektrakomplex abzulehnen, der die Analogie im Verhalten beider Geschlechter betonen will. Die schicksalhafte Beziehung von gleichzeitiger Liebe zu dem einen. und Rivalitätshaß gegen den anderen Elternteil stellt sich nur für das männliche Kind her. Bei diesem ist es dann die Entdeckung der Kastrationsmöglichkeit, wie sie durch den Anblick des weiblichen Genitales erwiesen wird, die die Umbildung des
3.3 Über die weibliche Sexualität
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Ödipuskomplexes erzwingt, die Schaffung des Über-Ichs herbeiführt und so all die Vorgänge einleitet, die auf die Einreihung des Einzelwesens in die Kulturgemeinschaft abzielen. Nach der Verinnerlichung der Vaterinstanz zum ÜberIch ist die weitere Aufgabe zu lösen, dies letztere von den Personen abzulösen, die es ursprünglich seelisch vertreten hat. Auf diesem merkwürdigen Entwicklungsweg ist gerade das narzißtische Genitalinteresse, das an der Erhaltung des Penis, zur Einschränkung der infantilen Sexualität gewendet worden. Beim Manne erübrigt vom Einfluß des Kastrationskomplexes auch ein Maß von Geringschätzung für das als kastriert erkannte Weib. Aus dieser entwickelt sich im Extrem eine Hemmung der Objektwahl und bei Unterstützung durch organische Faktoren ausschließliche Homosexualität. Ganz andere sind die Wirkungen des Kastrationskomplexes beim Weib. Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es sträubt sich auch gegen diesen unliebsamen Sachverhalt. Aus dieser zwiespältigen Einstellung leiten sich drei Entwicklungsrichtungen ab. Die erste führt zur allgemeinen Abwendung von der Sexualität. Das kleine Weib, durch den Vergleich mit dem Knaben geschreckt, wird mit seiner Klitoris unzufrieden, verzichtet auf seine phallische Betätigung und damit auf die Sexualität überhaupt wie auf ein gutes Stück seiner Männlichkeit auf anderen Gebieten. Die zweite Richtung hält in trotziger Selbstbehauptung an der bedrohten Männlichkeit fest; die Hoffnung, noch einmal einen Penis zu bekommen, bleibt bis in unglaublich späte Zeiten aufrecht, wird zum Lebenszweck erhoben, und die Phantasie, trotz alledem ein Mann zu sein, bleibt oft gestaltend für lange Lebensperioden. Auch dieser "Männlichkeitskomplex" des Weibes kann in manifest homosexuelle Objektwahl ausgehen. Erst eine dritte, recht umwegige Entwicklung mündet in die normal weibliche Endgestaltung aus, die den Vater als Objekt nimmt und so die weibliche Form des Ödipuskomplexes findet. Der Ödipuskomplex ist also beim Weib das Endergebnis einer längeren Entwicklung, er wird durch den Einfluß der Kastration nicht zerstört, sondern durch ihn geschaffen, er entgeht den starken feindlichen Einflüssen, die beim Mann zerstörend auf ihn einwirken, ja er wird allzuhäufig vom Weib überhaupt nicht überwunden. Darum sind auch die kulturellen Ergebnisse seines Zerfalls geringfügiger und weniger belangreich. Man geht wahrscheinlich nicht fehl, wenn man aus-
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3. Begehren und Verzicht
sagt, daß dieser Unterschied in der gegenseitigen Beziehung von Ödipus- und Kastrationskomplex den Charakter des Weibes als soziales Wesen prägt.50 Die Phase der ausschließlichen Mutterbindung, die präödipal genannt werden kann, beansprucht also beim Weib eine weitaus größere Bedeutung, als ihr beim Mann. zukommen kann. Viele Erscheinungen des weiblichen Sexuallebens, die früher dem Verständnis nicht recht zugänglich waren, finden in der Zurückführung auf sie ihre volle Aufklärung. Wir heben z. B. längst bemerkt, daß viele Frauen, die ihren Mann nach dem Vatervorbild gewählt oder ihn an die Vaterstelle gesetzt. haben, doch in der Ehe an ihm ihr schlechtes Verhältnis zur Mutter wiederholen. Er sollte die Vaterbeziehung erben und in WIrklichkeit erbt er die Mutterbeziehung. Das versteht man leicht als einen naheliegenden Fall von Regression. Die Mutterbeziehung war die ursprüngliche, auf sie war die Vaterbindung aufgebaut, und nun kommt in der Ehe das Ursprüngliche aus der Verdrängung zum Vorschein. Die Überschreibung affektiver Bindungen vom Mutter- auf das Vaterobjekt bildete ja den Hauptinhalt der zum Weibtum führenden Entwicklung. Wenn wir bei so vielen Frauen den Eindruck bekommen, daß ihre Reifezeit vom Kampf mit dem Ehemann ausgefüllt wird, wie ihre Jugend im Kampf mit der Mutter verbracht wurde, so werden wir im Licht der vorstehenden Bemerkungen den Schluß ziehen, daß deren feindselige Einstellung zur Mutter nicht eine Folge der Rivalität des Ödipuskomplexes ist, sondern aus der Phase vorher 50
Man kann vorhersehen, daß die Feministen unter den Männem, aber auch unsere weiblichen Analytiker mit diesen Ausführungen nicht einverstanden sein werden. Sie dürften kaum die Einwendung zurückhalten, solche Lehren stammen aus dem "Männlichkeitskomplex" des Mannes und sollen dazu dienen, seiner angeborenen Neigung zur Herabsetzung und Unterdrückung des Weibes eine theoretische Rechtfertigung zu schaffen. Allein eine solche psychoanalytische Argumentation mahnt in diesem Falle, wie so häufig, an den berühmten "Stock mit zwei Enden" Dostojewskis. Die Gegner werden es ihrerseits begreiflich finden, daß das Geschlecht der Frauennicht annehmen will, was der heiß begehrten Gleichstellung mit dem Manne zu widersprechen scheint. Die agonale Verwendung der Analyse führt offenbar nicht zur Entscheidung. [Einen Hinweis auf den "Stock mit zwei Enden", den man drehen und wenden kann, wie man will, hatte Freud bereits in einer früheren Arbeit gegeben: "Und nun folgt in dem Plädoyer vor dem Gerichtshof der berühmte Spott auf die Psychologie, sie sei ein Stock mit zwei Enden. Eine großartige Verhüllung, denn man braucht sie nur umzukehren, um den tiefsten Sinn der Dostojewskischen Auffassung (in: "Die Brüder Karamasoff") zu finden. Nicht die Psychologie verdient den Spott, sondern das gerichtliche Ermittlungsverfahren" (Freud, 1928b, S. 413)].
3.3 Über die weibliche Sexualität
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stammt und in der Ödipussituation nur Verstärkung und Verwendung erfahren hat. So wird es auch durch direkte analytische Untersuchung bestätigt. Unser Interesse muß sich den Mechanismen zuwenden, die bei der Abwendung von dem so intensiv und ausschließlich geliebten Mutterobjekt wirksam geworden sind. Wir sind darauf vorbereitet, nicht ein einziges solches Moment, sondern eine ganze Reihe von solchen Momenten zu finden, die zum gleichen Endziel zusammenwirken. Unter ihnen treten einige hervor, die durch die Verhältnisse der infantilen Sexualität überhaupt bedingt sind, also in gleicher Weise für das Liebesleben des Knaben gelten. In erster Linie ist hier die Eifersucht auf andere Personen zu nennen, auf Geschwister, Rivalen, neben denen auch der Vater Platz findet. Die kindliche Liebe ist maßlos, verlangt Ausschließlichkeit, gibt sich nicht mit Anteilen zufrieden. Ein zweiter Charakter ist aber, daß diese Liebe auch eigentlich ziellos, einer vollen Befriedigung unfähig ist, und wesentlich darum ist sie dazu verurteilt, in Enttäuschung auszugehen und einer feindlichen Einstellung Platz zu machen. In späteren Lebenszeiten kann das Ausbleiben einer Endbefriedigung einen anderen Ausgang begünstigen. Dies Moment mag wie bei den zielgehemmten Liebesbeziehungen die ungestörte Fortdauer der Libidobesetzung versichern, aber im Drang der Entwicklungsvorgänge ereignet es sich regelmäßig, daß die Libido die unbefriedigende Position verläßt, um eine neue aufzusuchen. Ein anderes weit mehr spezifisches Motiv zur Abwendung von der Mutter ergibt sich aus der Wirkung des Kastrationskomplexes auf das penislose Geschöpf. Irgendeinmal macht das kleine Mädchen die Entdeckung seiner organischen Minderwertigkeit, natürlich früher und leichter, wenn es Brüder hat oder andere Knaben in der Nähe sind. Wir haben schon gehört, welche drei Richtungen sich dann voneinander scheiden: a) die zur Einstellung des ganzen Sexuallebens; b) die zur trotzigen Überbetonung der Männlichkeit; c) die Ansätze zur endgültigen Weiblichkeit. Genauere Zeitangaben zu machen und typische Verlaufsweisen festzulegen, ist hier nicht leicht. Schon der Leitpun1ct der Entdeckung der Kastration ist wechselnd, manche andere Momente scheinen inkonstant und vom Zufall abhängig. Der Zustand der eigenen phallischen Betätigung kommt in Betracht, ebenso ob diese entdeckt wird oder nicht, und welches Maß von Verhinderung nach der Entdeckung erlebt wird.
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3. Begehren und Verzicht
Die eigene phallische Betätigun~ Masturbation an der Klitoris, wird vom kleinen Mädchen meist spontan gefunden, ist gewiß zunächst phantasielos. Dem Einfluß der Körperpflege an ihrer Erweckung wird durch die so häufige Phantasie Rechnung getragen, die Mutter, Amme oder Kinderfrau zur Verführerin macht. Ob die Onanie der Mädchen seltener und von Anfang an weniger energisch ist als die der Knaben, bleibt dahingestellt; es wäre wohl möglich. Auch wirkliche Verführung ist häufig genu~ sie geht entweder von anderen Kindern oder von Pflegepersonen aus, die das Kind beschwichtigen, einschläfern oder von sich abhängig machen wollen. Wo Verführung einwirkt, stört sie regelmäßig den natürlichen Ablauf der Entwicklungsvorgänge; oft hinterläßt sie weitgehende und andauernde Konsequenzen. Das Verbot der Masturbation wird, wie wir gehört haben, zum Anlaß, sie aufzugeben, aber auch zum Motiv der Auflehnung gegen die verbietende Person, also die Mutter oder den Mutterersatz, der später regelmäßig mit ihr verschrnilzt. Die trotzige Behauptung der Masturbation scheint den Weg zur Männlichkeit zu eröffnen. Auch wo es dem Kind nicht gelungen ist, die Masturbation zu unterdrücken, zeigt sich die Wirkung des anscheinend machtlosen Verbots in seinem späteren Bestreben, sich mit allen Opfern von der ihm verleideten Befriedigung frei zu machen. Noch die ObjektwahI des reifen Mädchens kann von dieser festgehaItenen Absicht beeinflußt werden. Der Groll wegen der Behinderung in der freien sexuellen Betätigung spielt eine große Rolle in der Ablösung von der Mutter. Dasselbe Motiv wird auch nach der Pubertät wieder zur Wirkung kommen, wenn die Mutter ihre Pflicht erkennt, die Keuschheit der Tochter zu behüten. Wir werden natürlich nicht daran vergessen, daß die Mutter der Masturbation des Knaben in gleicher Weise entgegentritt und somit auch ihm ein starkes Motiv zur Auflehnung schafft. Wenn das kleine Mädchen durch den Anblick eines männlichen Genitales seinen eigenen Defekt erfährt, nimmt sie die unerwünschte Belehrung nicht ohne Zögern und ohne Sträuben an. Wie wir gehört haben, wird die Erwartung, auch einmal ein solches Genitale zu bekommen, hartnäckig festgehalten, und der Wunsch danach überlebt die Hoffnung noch um lange Zeit. In allen Fällen hält das Kind die Kastration zunächst nur für ein individuelles Mißgeschick, erst später dehnt es dieselbe auch auf einzelne Kinder, endlich auf einzelne Erwachsene aus. Mit der Einsicht in die Allgemeinheit dieses negativen Charakters stellt sich eine große Entwertung der Weiblichkeit, also auch der Mutter, her.
3.3 Über die weibliche Sexualität
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Es ist sehr wohl möglich, daß die vorstehende Schilderung, wie sich das kleine Mädchen gegen den Eindruck der Kastration und das Verbot der Onanie verhält, dem Leser einen verworrenen und widerspruchsvollen Eindruck macht. Das ist nicht ganz die Schuld des Autors. In Wirklichkeit ist eine allgemein zutreffende Darstellung kaum möglich. Bei verschiedenen Individuen findet man die verschiedensten Reaktionen, bei demselben Individuum bestehen die entgegengesetzten Einstellungen nebeneinander. Mit dem ersten Eingreifen des Verbots ist der Konflikt da, der von nun an die Entwicklung der Sexualfunktion begleiten wird. Es bedeutet auch eine besondere Erschwerung der Einsicht, daß man so große Mühe hat, die seelischen Vorgänge dieser ersten Phase von späteren zu unterscheiden, durch die sie überdeckt und für die Erinnerung entstellt werden. So wird z. B. später einmal die Tatsache der Kastration als Strafe für die onanistische Betätigung aufgefaßt, deren Ausführung aber dem Vater zugeschoben, was beides gewiß nicht ursprünglich sein kann. Auch der Knabe befürchtet die Kastration regelmäßig von seiten des Vaters, obwohl auch bei ihm die Drohung zumeist von der Mutter ausgeht. Wie dem auch sein mag, am Ende dieser ersten Phase der Mutterbindung taucht als das stärkste Motiv zur Abwendung von der Mutter der Vorwurf auf, daß sie dem Kind kein richtiges Genitale mitgegeben, d. h. es als Weib geboren hat. Nicht ohne Überraschung vernimmt man einen anderen Vorwurf, der etwas weniger weit zurückgreift: die Mutter hat dem Kind zu wenig Milch gegeben, es nicht lange genug genährt. Das mag in unseren kulturellen Verhältnissen recht oft zutreffen, aber gewiß nicht so oft, als es in der Analyse behauptet wird. Es scheint vielmehr, als sei diese Anklage ein Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit der Kinder, die unter den kulturellen Bedingungen der Monogamie nach sechs bis neun Monaten der Mutterbrust entwöhnt werden, während die primitive Mutter sich zwei bis drei Jahre lang ausschließlich ihrem Kinde widmet, als wären unsere Kinder für immer ungesättigt geblieben, als hätten sie nie lang genug an der Mutterbrust gesogen. Ich bin aber nicht sicher, ob man nicht bei der Analyse von Kindern, die solange gesäugt worden sind wie die Kinder der Primitiven, auf dieselbe Klage stoßen würde. So groß ist die Gier der kindlichen Libido! Überblickt man die ganze Reihe der Motivierungen, welche die Analyse für die Abwendung von der Mutter aufdeckt, daß sie es unterlassen hat, das Mädchen mit dem einzig richtigen Genitale auszustatten, daß sie es ungenügend ernährt hat, es gezwungen hat, die Mutterliebe mit anderen zu
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3. Begehren und Verzicht
teilen, daß sie nie alle Liebeserwartungen erfüllt, und endlich, daß sie die eigene Sexualbetätigung zuerst angeregt und dann verboten hat/ so scheinen sie alle zur Rechtfertigung der endlichen Feindseligkeit unzureichend. Die einen von ihnen sind unvermeidliche Abfolgen aus der Natur der infantilen Sexualität/ die anderen nehmen sich aus wie später zurechtgemachte RationaHsierungen der unverstandenen GefühIswandlung. Vielleicht geht es eher so zu/ daß die Mutterbindung zugrunde gehen muß, gerade darum, weil sie die erste und so intensiv ist, ähnlich wie man es so oft an den ersten, in stärkster Verliebtheit geschlossenen Ehen der jungen Frauen beobachten kann. Hier wie dort würde die Liebeseinstellung an den unausweichlichen Enttäuschungen und an der Anhäufung der Anlässe zur Aggression scheitern. Zweite Ehen gehen in der Regel weit besser aus. Wir können nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Ambivalenz der Gefühlsbesetzungen ein allgemeingültiges psychologisches Gesetz ist, daß es überhaupt unmöglich ist, große Liebe für eine Person zu empfinden, ohne daß sich ein vielleicht ebenso großer Haß hinzugesellt oder umgekehrt. Dem Normalen und Erwachsenen gelingt es ohne Zweifel, beide Einstellungen voneinander zu sondern/ sein Liebesobjekt nicht zu hassen und seinen Feind nicht auch lieben zu müssen. Aber das scheint das Ergebnis späterer Entwicklungen. In den ersten Phasen des Liebeslebens ist offenbar die Ambivalenz das Regelrechte. Bei vielen Menschen bleibt dieser archaische Zug über das ganze Leben erhalten, für die Zwangsneurotiker ist es charakteristisch, daß in ihren Objektbeziehungen Liebe und Haß einander die Waage halten. Auch für die Primitiven dürfen wir das Vorwiegen der Ambivalenz behaupten. Die intensive Bindung des kleinen Mädchens an seine Mutter müßte also eine stark ambivalente sein und unter der Mithilfe der anderen Momente gerade durch diese Ambivalenz zur Abwendung von ihr gedrängt werden, also wiederum infolge eines allgemeinen Charakters der infantilen Sexualität. Gegen diesen Erklärungsversuch erhebt sich sofort die Frage: Wie wird es aber den Knaben möglich, ihre gewiß nicht weniger intensive Mutterbindung unangefochten festzuhalten? Ebenso rasch ist die Antwort bereit: Weil es ihnen ermöglicht ist, ihre Ambivalenz gegen die Mutter zu erledigen, indem sie all ihre feindseligen Gefühle beim Vater unterbringen. Aber erstens soll man diese Antwort nicht geben, ehe man die präödipale Phase der Knaben eingehend studiert hat, und zweitens ist es wahrscheinlich überhaupt vorsichtiger, sich einzugeste-
3.3 Über die weibliche Sexualität
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hen, daß man diese Vorgänge, die man eben kennen gelernt hat, noch gar nicht gut durchschaut.
rn Eine weitere Frage lautet: Was verlangt das kleine Mädchen von der Mutter? Welcher Art sind seine Sexualziele in jener Zeit der ausschließlichen Mutterbindung? Die Antwort, die man aus dem analytischen Material entnimmt, stimmt ganz mit unseren Erwartungen überein. Die Sexualziele des Mädchens bei der Mutter sind aktiver wie passiver Natur, und sie werden durch die Libidophasen bestimmt, die das Kind durchläuft. Das Verhältnis der Aktivität zur Passivität verdient hier unser besonderes Interesse. Es ist leicht zu beobachten, daß auf jedem Gebiet des seelischen Erlebens, nicht nur auf dem der Sexualität, ein passiv empfangener Eindruck beim Kind die Tendenz zu einer aktiven Reaktion hervorruft. Es versucht, das selbst zu machen, was vorhin an oder mit ihm gemacht worden ist. Es ist das ein Stück der Bewältigungsarbeit an der Außenwelt, die ihm auferlegt ist, und kann selbst dazu führen, daß es sich um die Wiederholung solcher Eindrücke bemüht, die es wegen ihres peinlichen Inhalts zu vermeiden Anlaß hätte. Auch das Kinderspiel wird in den Dienst dieser Absicht gestellt, ein passives Erlebnis durch eine aktive Handlung zu ergänzen und es gleichsam auf diese Art aufzuheben. Wenn der Doktor dem sich sträubenden Kind den Mund geöffnet hat, um ihm in den Hals zu schauen, so wird nach seinem Fortgehen das Kind den Doktor spielen und die gewalttätige Prozedur an einem kleinen Geschwisterchen wiederholen, das ebenso hilflos gegen es ist, wie es selbst gegen den Doktor war. Eine Auflehnung gegen die Passivität und eine Bevorzugung der aktiven Rolle ist dabei unverkennbar. Nicht bei allen Kindern wird diese Schwenkung von der Passivität zur Aktivität gleich regelmäßig und energisch ausfallen, bei manchen mag sie ausbleiben. Aus diesem Verhalten des Kindes mag man einen Schluß auf die relative Stärke der Männlichkeit und Weiblichkeit zielen, die das Kind in seiner Sexualität an den Tag legen wird. Die ersten sexuellen und sexuell mitbetonten Erlebnisse des Kindes bei der Mutter sind natürlich passiver Natur. Es wird von ihr gesäugt, gefüttert, gereinigt, gekleidet und zu allen Verrichtungen angewiesen. Ein Teil der Libido des Kindes bleibt an diesen Erfahrungen haften und genießt die mit ihnen verbundenen Befriedigungen, ein anderer Teil versucht sich an ihrer Umwendung zur
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3. Begehren und Verzicht
Aktivität. An der Mutterbrust wird zuerst das Gesäugtwerden durch das aktive Saugen abgelöst. In den anderen Beziehungen begnügt sich das Kind entweder mit der Selbständigkeit, d. h. mit dem Erfolg, daß es selbst ausführt, was bisher mit ihm geschehen ist, oder mit aktiver Wiederholung seiner passiven Erlebnisse im Spiel, oder es macht wirklich die Mutter zum Objekt, gegen das es als tätiges Subjekt auftritt. Das letztere, was auf dem Gebiet der eigentlichen Betätigung vor sich geht, erschien mir lange Zeit hindurch unglaublich, bis die Erfahrung jeden Zweifel daran widerlegte. Man hört selten davon, daß das kleine Mädchen die Mutter waschen, ankleiden oder zur Verrichtung ihrer exkrementelIen Bedürfnisse mahnen will. Es sagt zwar gelegentlich: jetzt wollen wir spielen, daß ich die Mutter bin und du das Kind, - aber zumeist erfüllt es sich diese aktiven Wünsche in indirekter Weise im Spiel mit der Puppe, in dem es selbst die Mutter darstellt wie die Puppe das Kind. Die Bevorzugung des Spiels mit der Puppe beim Mädchen im Gegensatz zum Knaben wird gewöhnlich als Zeichen der früh erwachten Weiblichkeit aufgefaßt. Nicht mit Unrecht, allein man soll nicht übersehen, daß es die Aktivität der Weiblichkeit ist, die sich hier äußert, und daß diese Vorliebe des Mädchens wahrscheinlich die Ausschließlichkeit der Bindung an die Mutter bei voller Vernachlässigung des Vaterobjekts bezeugt. Die so überraschende sexuelle Aktivität des Mädchens gegen die Mutter äußert sich der Zeitfolge nach in oralen, sadistischen und endlich selbst phallischen, auf die Mutter gerichteten Strebungen. Die Einzelheiten sind hier schwer zu berichten, denn es handelt sich häufig um dunkle Triebregungen, die das Kind nicht psychisch erfassen konnte zur Zeit, da sie vorfielen, die darum erst eine nachträgliche Interpretation erfahren haben und dann in der Analyse in Ausdrucksweisen auftreten, die ihnen ursprünglich gewiß nicht zukamen. Mitunter begegnen sie uns als Übertragungen auf das spätere Vaterobjekt, wo sie nicht hingehören und das Verständnis empfindlich stören. Die aggressiven oralen und sadistischen Wünsche findet man in der Form, in welche sie durch frühzeitige Verdrängung genötigt werden, als Angst, von der Mutter umgebracht zu werden, die ihrerseits den Todeswunsch gegen die Mutter, wenn er bewußt wird, rechtfertigt. Wie oft diese Angst vor der Mutter sich an eine unbewußte Feindseligkeit der Mutter anlehnt, die das Kind errät, läßt sich nicht angeben. (Die Angst, gefressen zu werden, habe ich bisher nur bei Männern gefunden, sie wird auf den Vater bezogen, ist aber wahrscheinlich das Verwandlungsprodukt der auf
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die Mutter gerichteten oralen Aggression. Man will die Mutter auffressen, von der man sich genährt hat; beim Vater fehlt für diesen Wunsch der nächste Anlaß.) Die weiblichen Personen mit starker Mutterbindung, an denen ich die präödipale Phase studieren konnte, haben übereinstimmend berichtet, daß sie den Klystieren und Darmeingießungen, die die Mutter bei ihnen vornahm, größten Widerstand entgegenzusetzen und mit Angst und Wutgeschrei darauf zu reagieren pflegten. Dies kann wohl ein sehr häufiges oder selbst regelmäßiges Verhalten der Kinder sein. Die Einsicht in die Begründung dieses besonders heftigen Sträubens gewann ich erst durch eine Bemerkung von Ruth Mack Brunswick, die sich gleichzeitig mit den nämlichen Problemen beschäftigte, sie möchte den Wutausbruch nach dem Klysma dem Orgasmus nach genitaler Reizung vergleichen. Die Angst dabei wäre als Umsetzung der rege gemachten Aggressionslust zu verstehen. Ich meine, daß es wirklich so ist und daß auf der sadistisch-analen Stufe die intensive passive Reizung der Darmzone durch einen Ausbruch von Aggressionslust beantwortet wird, die sich direkt als Wut oder infolge ihrer Unterdrückung als Angst kundgibt. Diese Reaktion scheint in späteren Jahren zu versiegen. Unter den passiven Regungen der phallischen Phase hebt sich hervor, daß das Mädchen regelmäßig die Mutter als Verführerin beschuldigt, weil sie die ersten oder doch die stärksten genitalen Empfindungen bei den Vornahmen der Reinigung und Körperpflege durch die Mutter (oder die sie vertretende. Pflegeperson) verspüren mußte. Daß das Kind diese Empfindungen gerne mag und die Mutter auffordert, sie durch wiederholte Berührung und Reibung zu verstärken, ist mir oft von Müttern als Beobachtung an ihren zwei- bis dreijährigen Töchterchen mitgeteilt worden. Ich mache die Tatsache, daß die Mutter dem Kind so unvermeidlich die phallische Phase eröffnet, dafür verantwortlich, daß in den Phantasien späterer Jahre so regelmäßig der Vater als der sexuelle Verführer erscheint. Mit der Abwendung von der Mutter ist auch die Einführung ins Geschlechtsleben auf den Vater überschrieben worden. In der phallischen Phase kommen endlich auch intensive aktive Wunschregungen gegen die Mutter zustande. Die Sexualbetätigung dieser Zeit gipfelt in der Masturbation an der Klitoris, dabei wird wahrscheinlich die Mutter vorgestellt, aber ob es das Kind zur Vorstellung eines Sexualziels bringt und welches dies Ziel ist, ist aus meiner Erfahrung nicht zu erraten. Erst wenn alle Interessen des
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Kindes durch die Ankunft eines Geschwisterchens einen neuen Antrieb erhalten haben, läßt sich ein solches Ziel klar erkennen. Das kleine Mädchen will der Mutter dies neue Kind gemacht haben, ganz so wie der Knabe, und auch seine Reaktion auf dies Ereignis und sein Benehmen gegen das Kind ist dasselbe. Das klingt ja absurd genug, aber vielleicht nur damm, weil es uns so ungewohnt klingt. Die Abwendung von der Mutter ist ein höchst bedeutsamer Schritt auf dem Entwicklungsweg des Mädchens, sie ist mehr als ein bloßer Objektwechsel. Wir haben ihren Hergang und die Häufung ihrer vorgeblichen Motivierungen bereits beschrieben, nun fügen wir hinzu, daß Hand in Hand mit ihr ein starkes Absinken der aktiven und ein Anstieg der passiven Sexualregungen zu beobachten ist. Gewiß sind die aktiven Strebungen stärker von der Versagung betroffen worden, sie haben sich als durchaus unausführbar erwiesen und werden damm auch leichter von der Libido verlassen, aber auch auf Seite der passiven Strebungen hat es an Enttäuschungen nicht gefehlt. Häufig wird mit der Abwendung von der Mutter auch die klitoridische Masturbation eingestellt, oft genug wird mit der Verdrängung der bisherigen Männlichkeit des kleinen Mädchens ein gutes Stück ihres Sexualstrebens überhaupt dauemd geschädigt. Der Übergang zum Vaterobjekt wird mit Hilfe der passiven Strebungen vollzogen, soweit diese dem Umsturz entgangen sind. Der Weg zur Entwicklung der Weiblichkeit ist nun dem Mädchen freigegeben, insofeme er nicht durch die Reste der überwundenen präödipalen Mutterbindung eingeengt ist. Überblickt man nun das hier beschriebene Stück der weiblichen Sexualentwicklung, so kann man ein bestimmtes Urteil über das Ganze der Weiblichkeit nicht zurückdrängen. Man hat die nämlichen libidinösen Kräfte wirksam gefunden wie beim männlichen Kind, konnte sich überzeugen, daß sie eine Zeitlang hier wie dort dieselben Wege einschlagen und zu den gleichen Ergebnissen kommen. Es sind dann biologische Faktoren, die sie von ihren anfänglichen Zielen ablenken und selbst aktive, in jedem Sinne männliche Strebungen in die Bahnen der Weiblichkeit leiten. Da wir die Zurückführung der Sexualerregung auf die Wirkung bestimmter chemischer Stoffe nicht abweisen können, liegt zuerst die Erwartung nahe, daß uns die Biochemie eines Tages einen Stoff darstellen wird, dessen Gegenwart die männliche, und einen, der die weibliche Sexualerregung hervorruft. Aber diese Hoffnung scheint nicht weniger naiv als die andere,
3.3 Über die weibliche Sexualität
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heute glücklich überwundene, unter dem Mikroskop die Erreger von Hysterie, Zwangsneurose, Melancholie usw. gesondert aufzufinden. Es muß auch in der Sexualchemie etwas komplizierter zugehen. Für die Psychologie ist, es aber gleichgültig, ob es einen einzigen sexuell erregenden Stoff im Körper gibt oder deren zwei oder eine Unzahl davon. Die Psychoanalyse lehrt uns, mit einer einzigen Libido auszukommen, die allerdings aktive und passive Ziele, also Befriedigungsarten, kennt. In diesem Gegensatz, vor allem in der Existenz von Libidostrebungen mit passiven Zielen, ist der Rest des Problems enthalten. IV
Wenn man die analytische Literatur unseres Gegenstandes einsieht, überzeugt man sich, daß alles, was ich hier ausgeführt habe, dort bereits gegeben ist. Es wäre unnötig gewesen, diese Arbeit zu veröffentlichen, wenn nicht auf einem so schwer zugänglichen Gebiet jeder Bericht über eigene Erfahrungen und persönliche Auffassungen wertvoll sein könnte. Auch habe ich manches schärfer gefaßt und sorgfältiger isoliert. In einigen der anderen Abhandlungen wird die Darstellung unübersichtlich infolge der gleichzeitigen Erörterung der Probleme des Über-Ichs und des Schuldgefühls. Dem bin ich ausgewichen, ich habe bei der Beschreibung der verschiedenen Ausgänge dieser Entwick.lungsphase auch nicht die Komplikationen behandelt, die sich ergeben, wenn das Kind infolge der Enttäuschung am Vater zur aufgelassenen Mutterbindung zurückkehrt oder nun im Laufe des Lebens wiederholt von einer Einstellung zur anderen herüberwechselt. Aber gerade weil meine Arbeit nur ein Beitrag ist unter anderen, darf ich mir eine eingehende Würdigung der Literatur ersparen und kann mich darauf beschränken, bedeutsamere Übereinstimmungen mit einigen und wichtigere Abweichungen von anderen dieser Arbeiten hervorzuheben. In die eigentlich noch unübertroffene Schilderung Abrahams der "Äußerungs-
formen des weiblichen Kastrationskomplexes" (1921) möchte man gerne das Moment der anfänglich ausschließlichen Mutterbindung eingefügt wissen. Der wichtigen Arbeit von Jeanne51 Lampl-de Groot (1927) muß ich in den wesentlichen Punkten zustimmen. Hier wird die volle Identität der präödipalen Phase 51
Nach dem Wunsch der Autorin korrigiere ich so ihren Namen, der in der Internationalen Zeitschrift [für Psychoanalyse] als A. 1. de Gr. angeführt ist.
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3. Begehren und Verzicht
bei Knaben und Mädchen erkannt, die sexuelle (phallische) Aktivität des Mädchens gegen die Mutter behauptet und durch Beobachtungen erwiesen. Die Abwendung von der Mutter wird auf den Einfluß der zur Kenntnis genommenen Kastration zurückgeführt, die das Kind dazu nötigt, das Sexualobjekt und damit auch oft die Onanie aufzugeben, für die ganze Entwicklung die Formel geprägt, daß das Mädchen eine Phase des "negativen" Ödipuskomplexes durchmacht, ehe sie in den positiven eintreten kann. Eine Unzulänglichkeit dieser Arbeit finde ich darin, daß sie die Abwendung von der Mutter als bloßen Objektwechsel darstellt und nicht darauf eingeht, daß sie sich unter den deutlichsten Zeichen von Feindseligkeit vollzieht. Diese Feindseligkeit findet volle Würdigung in der letzten Arbeit von Helene Deutsch (1930), woselbst auch die phallische Aktivität des Mädchens und die Intensität seiner Mutterbindung anerkannt werden. H. Deutsch gibt auch an, daß die Wendung zum Vater auf dem Weg der (bereits bei der Mutter rege gewordenen) passiven Strebungen geschieht. In ihrem früher veröffentlichten Buch "Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktion" (1925) hatte die Autorin sich von der Anwendung des Ödipusschemas auch auf die präödipale Phase noch nicht frei gemacht und darum die phallische Aktivität des Mädchens als Identifizierung mit dem Vater gedeutet. Fenichel (1930) betont mit Recht die Schwierigkeit, zu erkennen, was von dem in der Analyse erhobenen Material unveränderter Inhalt der präödipalen Phase und was daran regressiv (oder anders) entstellt ist. Er anerkennt die phallische Aktivität des Mädchens nach Jeanne Lamp1-de Groot nicht, verwahrt sich auch gegen die von Melanie Klein (1928) vorgenommene "Vorverlegung" des Ödipuskomplexes, dessen Beginn sie schon in den Anfang des zweiten Lebensjahres versetzt. Diese Zeitbestimmung, die notwendigerweise auch die Auffassung aller anderen Verhältnisse der Entwicklung verändert, deckt sich in der Tat nicht mit den Ergebnissen der Analyse an Erwachsenen und ist besonders unvereinbar mit meinen Befunden von der langen Andauer der präödipalen Mutterbindung der Mädchen. Einen Weg zur Milderung dieses Widerspruches weist die Bemerkung, daß wir auf diesem Gebiet noch nicht zu unterscheiden vermögen, was durch biologische Gesetze starr festgelegt und was unter dein Einfluß akzidentellen Erlebens beweglich und veränderlich ist. Wie es von der Wirkung der Verführung längst bekannt ist, können auch andere Momente, der Zeitpunkt der Geburt von Geschwistern, der Zeitpunkt der Entdeckung des Geschlechtsunterschieds, die direkte Beobachtung des Geschlechtsverkehrs, das werbende
3.3 Über die weibliche Sexualität
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oder abweisende Benehmen der Eltern u. a., eine Beschleunigung und Reifung der kindlichen Sexualentwicklung herbeiführen. Bei manchen Autoren zeigt sich die Neigung, die Bedeutung der ersten ursprünglichsten Libidoregungen des Kindes zugunsten späterer Entwicklungsvorgänge herabzudrücken, so daß jenen - extrem ausgedrückt - die Rolle verbliebe, nur gewisse Richtungen anzugeben, während die Intensitäten, welche diese Wege einschlagen, von späteren Regressionen und Reaktionsbildungen bestritten werden. So z. B. wenn K. Horney (1926) meint, daß der primäre Penisneid des Mädchens von uns weit überschätzt wird, während die Intensität des später entfalteten Männlichkeitsstrebens einem sekundären Penisneid zuzuschreiben ist, der zur Abwehr der weiblichen Regungen, speziell der weiblichen Bindung an den Vater, gebraucht wird. Das entspricht nicht meinen Eindrücken. So sicher die Tatsache späterer Verstärkungen durch Regression und Reaktionsbildung ist, so schwierig es auch sein mag, die relative Abschätzung der zusammenströmenden Libidokomponenten vorzunehmen, so meine ich doch, wir sollen nicht übersehen, daß jenen ersten Libidoregungen eine Intensität eigen ist, die allen späteren überlegen bleibt, eigentlich inkommensurabel genannt werden darf. Es ist gewiß richtig, daß zwischen der Vaterbindung und dem Männlichkeitskomplex eine Gegensätzlichkeit besteht, es ist der allgemeine Gegensatz zwischen Aktivität und Passivität, Männlichkeit und Weiblichkeit, - aber es gibt uns kein Recht anzunehmen, nur das eine sei primär, das andere verdanke seine Stärke nur der Abwehr. Und wenn die Abwehr gegen die Weiblichkeit so energisch ausfällt, woher kann sie sonst ihre Kraft beziehen als aus dem Männlichkeitsstreben, das seinen ersten Ausdruck im Penisneid des Kindes gefunden hat und darum nach ihm benannt zu werden verdient? Ein ähnlicher Einwand ergibt sich gegen die Auffassung von Jones (1928), nach der das phallische Stadium bei Mädchen eher eine sekundäre Schutzreaktion sein soll als ein wirkliches Entwicklungsstadium. Das entspricht weder den dynamischen noch den zeitlichen Verhältnissen.
4.
Wunsch - Abwehr - Symptom Freuds Theorie der psychischen Erkrankung
Sigmund Freud hat - beginnend mit den von ihm verfassten Beiträgen zu den "Studien über Hysterie" (Breuer & Freud, 1895) - seine Annahmen über die Ursachen psychischer Erkrankungen auch immer wieder anhand von Krankensgeschichten dargestellt (zum Beispiel: Freud, 1905e, 1909b, 1909d, 1918b). Beim Verfassen solcher Geschichten fiel ihm auf, wie bedeutsam die Darstellungsform für das Verständnis des in der Behandlung gewonnenen Materials ist: "Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin [...] erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes [...] verantwortlich zu machen ist" (1895d, S. 227). Die "Natur" des Gegenstandes besteht in diesem Fall allerdings in der Kultur - nämlich in der Kultur des Gesprächs. Schließlich leitet sich die Psychoanalyse von einer" talking eure" (Freud, 191Oa, S. 7), von einer Redekur her, wie Breuers Patientin "Anna 0." das ursprüngliche kathartische Verfahren genannt hat (vgl. Nitzschke, 1998a). Die psychoanalytische Situation ist eine Dialogsituation, in der über abwesende Dritte (die Mutter, den Vater, den Chef, die Ehefrau usw.) gesprochen wird; und dann, wenn genügend Vertrauen gebildet worden ist, sprechen Analysand und Analytiker auch noch darüber, wie sie die Beziehung erleben, die sie hier und jetzt miteinander gestalten. Die Krankengeschichte erzählt später aber nur einer: der Analytiker, der so die Leidensgeschichte wiedergibt, die sich in der Beziehung zwischen ihm und dem Analysanden entfaltet hat (Kap. 5. des vorliegenden Bandes). Bei Freud heißt es dazu: "Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen" (1895d, S. 227). Eben die Herstellung eines solchen Zusammenhangs zwischen den Symptomen
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
und den (bislang abgewehrten) Erlebnissen ist das Ziel der von Freud konzipierten Therapieform. Als Folge der Erlebnisse in der therapeutischen Situation sollte dieser Sinn-Zusammenhang im Analysanden zu der psychischen Struktur werden, die Freud "Ich" genannt hat. Das ist der Sinn des inzwischen geflügelten Wortes: "Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee" (1933a, S. 86). "Kulturarbeit" ist nun aber das Ergebnis einer therapeutischen Gesprächskultur, von der die Berichterstattung über die Befunde und Ergebnisse der geführten Gespräche noch einmal zu unterscheiden wäre. Denn der Autor dieser Berichterstattung ist nicht der Patient, vielmehr ist der Therapeut der Autor, und der sollte sich dessen bewusst bleiben, dass er das Material strukturiert. Also sollte er darauf achten, dass er sich dabei nicht zu weit von den (Beobachtungs-)Daten entfernt, die er erhoben hat: "Sowie man begonnen hat, sich von dem Material, aus dem man schöpfen soll, zu entfernen, läuft man Gefahr, sich an seinen Behauptungen zu berauschen und endlich Meinungen zu vertreten, denen jede Beobachtung widersprochen hätte" (1918b, S. 76). Ist das der Fall, werden die Krankengeschichten allzu glatt - und so bestätigen sie den Wunsch des Verfassers, dass die Theorie, die er vertritt, auch zutrifft. "Ich kann mich nur verwundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten Hysterischer bei den Autoren entstanden sind. In Wirklichkeit sind die Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben. Sie können zwar über diese oder jene Lebenszeit den Arzt ausreichend und zusammenhängend informieren, dann folgt aber eine andere Periode, in der ihre Auskünfte seicht werden, Lücken und Rätsel lassen [...]. Die Zusammenhänge, auch die scheinbaren/ sind meist zerrissen, die Aufeinanderfolge verschiedener Begebenheiten unsicher [...]. Die Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte/ soweit sie mit der Krankheitsgeschichte zusammenfällt, ist nicht nur charakteristisch für die Neurose, sie entbehrt auch nicht einer großen theoretischen Bedeutsamkeit. Dieser Mangel hat nämlich folgende Begründungen: Erstens hält die Kranke einen Teil dessen, was ihr wohlbekannt ist und was sie erzählen sollte/ bewußt und absichtlich aus den noch nicht überwundenen Motiven der Scheu und Scham (Diskretion, wenn andere Personen in Betracht kommen) zurück; dies wäre der Anteil der bewußten Unaufrichtigkeit. Zweitens bleibt ein Teil ihres anamnestischen Wissens, über welches die Kranke sonst verfügt, während dieser Erzählung aus, ohne daß die Kranke einen Vorsatz auf diese Zurückhaltung verwendet: Anteil der unbewußten Unaufrichtigkeit. Drittens fehlt es nie an wirklichen
4.1 Der Sinn der Symptome
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Amnesien, Gedächtnislücken, in welche nicht nur alte, sondern selbst ganz rezensente Erinnerungen hineingeraten sind, und an Erinnerungstäuschungen, welche sekundär zur Ausfüllung dieser Lücken gebildet wurden" (Freud, 1905e, S. 173 ff.). In den in diesem Kapitel abgedruckten Texten werden einleitend zwei Fallvignetten vorgestellt, die zeigen sollen, wie Freud den Sinn des Leidens aus den Symptomen zu erschließen versuchte. Daran anschließend wird das Fundament der Krankheits- und Behandlungstheorie Freuds erläutert: die Verdrängung - allgemeiner formuliert: die Abwehr - und deren Neuauflage in Gestalt des in der Behandlungssituation auftretenden Widerstands. Es folgen grundsätzliche Überlegungen zur Entstehung psychischer Erkrankung: Sie betreffen das Nichtzustandekommen und (oder) den Zerfall der psychischen Integration in Konflikt- und Belastungssituationen sowie die Schutz- und Abwehrversuche, die den Betreffenden sekundär schädigen, weil er sich dadurch isoliert - und so den Kontakt zu anderen Menschen noch mehr verliert, der nötig wäre, um psychische Integrität zu entwickeln und (oder) aufrecht zu erhalten.
4.1 Der Sinn der Symptome In der XVII. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse stellt Freud seine Auffassung der Symptombildung am Beispiel zweier zwangsneurotischer Patientinnen dar. Danach wären Symptome so zu deuten wie Fehlleistungen (Freud, 1901b) und Träume (Freud, 1900a): als Kompromissbildungen zwischen dem Triebwunsch und der Wunschabwehr. "Symptome sind der Erfolg eines Konfliktes [...]. Die beiden Kräfte, die sich entzweit haben, treffen im Symptom wieder zusammen, versöhnen sich gleichsam durch den Komprorniß der Symptombildung" (Freud, 1916-17a, S. 373). Neurotische Symptome wären demnach seelische Produktionen, die im Zusammenhang mit der (Er-)Lebensgeschichte des Betroffenen sinnvoll zu verstehen sind, sobald man ihre Bedeutung erkannt - das heißt: sobald man sie gedeutet hat. Der hier (geringfügig gekürzt) wiedergegebene Text ist vor allem unter historischenAspekten interessant. Er zeigt Freud als Detektiv (Haubl & Mertens, 1996) und Archäologe (Mertens & Haubi, 1996), der sich deutend und rekonstruierend um die Herstellung des Zusammenhangs zwischen den Symptomen von heute und den Erlebnissen von gestern bemüht. Solch genetische Deutungen unterscheiden sich von Übertragungsdeutungen insofern, als bei letzteren die Beziehung zwischen dem Analysanden und dem Analytiker, die sich infolge der Wiederholung frühe-
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
rer Beziehungserfahrungen hier und jetzt einstellt, im Mittelpunkt steht (s. Kap. 5.2 und 5.3). Das durch die Berücksichtigung von Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen erweiterte Verständnis der Psychodynamik des neurotischen Konflikts rückte bei Freuds Nachfolgern dann immer mehr in den Vordergrund, während reine Syrnptomdeutungen an Gewicht verloren (Racker, 1970). In der modemen Psychoanalyse gilt die Analyse der Regulierung der Affekte des Patienten in der therapeutischen Beziehung hier und jetzt als zentrales diagnostisches Instrument (Krause, 1990, 2005).
Freud, S. (1916-17a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI, S. 264-281. [...] Die neurotischen Symptome haben also ihren Sinn wie die Fehlleistungen, wie die Träume, und so wie diese ihren Zusammenhang mit dem Leben der Personen. die sie zeigen. Ich möchte Ihnen nun diese wichtige Einsicht durch einige Beispiele näher bringen. Daß es immer und in allen Fällen so ist, kann ich ja nur behaupten. nicht beweisen. Wer selbst Erfahrungen sucht, wird sich davon die Überzeugung verschaffen. Ich werde aber diese Beispiele aus gewissen Motiven nicht der Hysterie entnehmen, sondern einer anderen, höchstmerkwürdigen. ihr im Grunde sehr nahestehenden Neurose, von der ich Ihnen einige einleitende Worte zu sagen habe. Diese, die sogenannte Zwangsneurose, ist nicht so populär wie die allbekannte Hysterie; sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht so aufdringlich lärmend, benimmt sich mehr wie eine Privatangelegenheit des Kranken. verzichtet fast völlig auf Erscheinungen am Körper und schafft alle ihre Symptome auf seelischem Gebiet. Die Zwangsneurose und die Hysterie sind diejenigen Formen neurotischer Erkrankung, auf deren Studium die Psychoanalyse zunächst aufgebaut wurde, in deren Behandlung unsere lherapie auch ihre Triumphe feiert. Aber die Zwangsneurose, welcher jener rätselhafte Sprung aus dem Seelischen ins Körperliche abgeht, ist uns durch die psychoanalytische Bemühung eigentlich durchsichtiger und heimlicher geworden als die Hysterie, und wir haben erkannt, daß sie gewisse extreme Charaktere der Neurotik weit greller zur Erscheinung bringt. Die Zwangsneurose äußert sich darin. daß die Kranken von Gedanken beschäftigt werden, für die sie sich eigentlich nicht interessieren, Impulse in sich ver-
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spüren, die ihnen sehr fremdartig vorkommen, und zu Handlungen veranlaßt werden, deren Ausführung ihnen zwar kein Vergnügen bereitet, deren Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist. Die Gedanken (Zwangsvorstellungen) können an sich unsinnig sein oder auch nur für das Individuum gleichgültig, oft sind sie ganz und gar läppisch, in allen Fällen sind sie der Ausgang einer angestrengten Denktätigkeit, die den Kranken erschöpft, und der er sich nur sehr ungern hingibt. Er muß gegen seinen Willen grübeln und spekulieren, als ob es sich um seine wichtigsten Lebensaufgaben handelte. Die Impulse, die der Kranke in sich verspürt, können gleichfalls einen kindischen und unsinnigen Eindruck machen, meist haben sie aber den schreckhaftesten Inhalt wie Versuchungen zu schweren Verbrechen, so daß der Kranke sie nicht nur als fremd verleugnet, sondern entsetzt vor ihnen flieht und sich durch Verbote, Verzichte und Einschränkungen seiner Freiheit vor ihrer Ausführung schützt. Dabei dringen sie niemals, aber wirklich kein einziges Mal, zur Ausführung durch; der Erfolg ist immer, daß die Flucht und die Vorsicht siegen. Was der Kranke wirklich ausführt, die sogenannten Zwangshandlungen, das sind sehr harmlose, sicherlich geringfügige Dinge, meist Wiederholungen, zeremoniöse Verzierungen an Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebens, wodurch aber diese notwendigen Verrichtungen/ das Zubettegehen, das Waschen, Toilettemachen, Spazierengehen zu höchst langwierigen und kaum lösbaren Aufgaben werden. Die krankhaften Vorstellungen, Impulse und Handlungen sind in den einzelnen Formen und Fällen der Zwangsneurose keineswegs zu gleichen Anteilen vermengt; vielmehr ist es Regel, daß das eine oder das andere dieser Momente das Bild beherrscht und der Krankheit den Namen gibt, aber das Gemeinsame all dieser Formen ist unverkennbar genug. Das ist doch gewiß ein tolles Leiden. Ich glaube, der ausschweifendsten psychiatrischen Phantasie wäre es nicht gelungen, etwas dergleichen zu konstruieren, und wenn man es nicht alle Tage vor sich sehen könnte, würde man sich nicht entschließen, daran zu glauben. Nun denken Sie aber nicht, daß Sie dem Kranken etwas leisten, wenn Sie ihm zureden sich abzulenken, sich nicht mit diesen dummen Gedanken zu beschäftigen und an Stelle seiner Spielereien etwas Vernünftiges zu tun. Das möchte er selbst, denn er ist vollkommen klar/ teilt Ihr Urteil über seine Zwangssymptome, ja er trägt es Ihnen entgegen. Er kann nur nicht anders; was sich bei der Zwangsneurose zur Tat durchsetzt, das wird von einer Energie getragen, für die uns wahrscheinlich der Vergleich aus dem nor-
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malen Seelenleben abgeht. Er kann nur eines: verschieben, vertauschen, anstatt der einen dummen Idee eine andere, irgendwie abgeschwächte setzen, von einer Vorsicht oder Verbot zu einem anderen fortschreiten, anstatt des einen Zeremoniells ein anderes ausführen. Er kann den Zwang verschieben, aber nicht aufheben. Die Verschiebbarkeit aller Symptome, weit von ihrer ursprünglichen Gestaltung weg, ist ein Hauptcharakter seiner Krankheit; außerdem fällt es auf, daß die Gegensätze (Polaritäten), von denen das Seelenleben durchzogen ist, in seinem Zustand besonders scharf gesondert hervortreten. Neben dem Zwang mit positivem und negativem Inhalt macht sich auf intellektuellem Gebiet der Zweifel geltend, der allmählich auch das für gewöhnlich Gesichertste annagt. Das Ganze läuft in eine immer mehr zunehmende Unentschlossenheit, Energielosigkeit, Freiheitsbeschränkung aus. Dabei ist der Zwangsneurotiker ursprünglich ein sehr energisch angelegter Charakter gewesen, oft von außerordentlichem Eigensinn, in der Regel über das durchschnittliche Maß intellektuell begabt. Er hat es zumeist zu einer erfreulichen Höhe der ethischen Entwicklung gebracht, zeigt sich übergewissenhaft, mehr als gewöhnlich korrekt. Sie können sich denken, daß ein tüchtiges Stück Arbeit dazugehört, bis man sich in diesem widerspruchsvollen Ensemble von Charaktereigenschaften und Krankheitssymptomen halbwegs zurechtgefunden hat. Wir streben auch vorläufig gar nichts anderes an, als einige Symptome dieser Krankheit zu verstehen, deuten zu können. Vielleicht wollen Sie im Hinblick auf unsere Besprechungen vorher wissen, wie sich die gegenwärtige Psychiatrie zu den Problemen der Zwangsneurose verhält. Das ist aber ein armseliges Kapitel. Die Psychiatrie gibt den verschiedenen Zwängen Namen, sagt sonst weiter nichts über sie. Dafür betont sie, daß die Träger solcher Symptome "Degenerierte" sind. Das ist wenig Befriedigung, eigentlich ein Werturteil, eine Verurteilung anstatt einer Erklärung. Wir sollen uns etwa denken, bei Leuten, die aus der Art geschlagen sind, kämen eben alle möglichen Sonderbarkeiten vor. Nun glauben wir ja, daß Personen, die solche Symptome entwickeln, von Natur aus etwas anders sein müssen als andere Menschen. Aber wir möchten fragen: Sind sie mehr "degeneriert" als andere Nervöse, z. B. die Hysteriker oder als die an Psychosen Erkrankenden? Die Charakteristik ist offenbar wieder zu allgemein. Ja man kann bezweifeln, ob sie auch nur berechtigt ist, wenn man erfährt, daß solche Symptome auch bei ausgezeichneten Menschen von besonders hoher und für die Allgemeinheit bedeutsamer Leistungsfähigkeit vorkommen. Für gewöhnlich erfahren wir ja, dank ihrer eigenen
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Diskretion und der Verlogenheit ihrer Biographen von unseren vorbildlich großen Männem wenig Intimes, aber es kommt doch vor, daß einer ein Wahrheitsfanatiker ist wie Ernile Zola, und dann hören wir von ihm, an wieviel sonderbaren Zwangsgewohnheiten er sein Leben über gelitten hat (Toulouse, 1896). Die Psychiatrie hat sich da die Auskunft geschaffen, von Degeneres superieurs zu sprechen. Schön - aber durch die Psychoanalyse haben wir die Erfahrung gemacht, daß man diese sonderbaren Zwangssymptome wie andere Leiden und wie bei anderen nicht degenerierten Menschen dauernd beseitigen kann. Mir selbst ist solches wiederholt gelungen. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele von Analyse eines Zwangssymptoms mitteilen, eines aus alter Beobachtung, das ich durch kein schöneres zu ersetzen weiß, und ein kürzlich gewonnenes. Ich beschränke mich auf eine so geringe Anzahl, weil man bei einer solchen Mitteilung sehr weitläufig werden, in alle Einzelheiten eingehen muß. Eine nahe an 30 Jahre alte Dame, die an den schwersten Zwangserscheinungen litt, und der ich vielleicht geholfen hätte, wenn ein tückischer Zufall nicht meine Arbeit zunichte gemacht hätte - vielleicht erzähle ich ihnen noch davon -, führte unter anderen folgende merkwürdige Zwangshandlung vielmals im Tage aus. Sie lief aus ihrem Zimmer in ein anderes nebenan, stellte sich dort an eine bestimmte Stelle bei dem in der Mitte stehenden Tisch hin, schellte ihrem Stubenmädchen, gab ihr einen gleichgültigen Auftrag oder entließ sie auch ohne solchen und lief dann wieder zurück. Das war nun gewiß kein schweres Leidenssymptom, aber es durfte doch die Wißbegierde reizen. Die Aufklärung ergab sich auch auf die unbedenklichste, einwandfreieste Weise unter Ausschluß jedes Beitrages von Seiten des Arztes. Ich weiß gar nicht, wie ich zu einer Vermutung über den Sinn dieser Zwangshandlung, zu einem Vorschlag ihrer Deutung hätte kommen können. So oft ich die Kranke gefragt hatte: Warum tun Sie das? Was hat das für einen Sinn? - hatte sie geantwortet: Ich weiß es nicht. Aber eines Tages, nachdem es mir gelungen war, ein großes prinzipielles Bedenken bei ihr niederzukämpfen, wurde sie plötzlich wissend und erzählte, was zur Zwangshandlung gehörte. Sie hatte vor mehr als zehn Jahren einen weitaus älteren Mann geheiratet, der sich in der Hochzeitsnacht impotent erwies. Er war ungezählte Male in dieser Nacht aus seinem Zimmer in ihres gelaufen, um den Versuch zu wiederholen, aber jedesmal erfolglos. Am Morgen sagte er ärgerlich:
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Da muß man sich ja vor dem Stubenmädchen schämen, wenn sie das Bett macht, ergriff eine Flasche roter Tinte, die zufällig im Zimmer war, und goß ihren Inhalt aufs Bettuch, aber nicht gerade auf eine Stelle, die ein Anrecht auf einen solchen Fleck gehabt hätte. Ich verstand anfangs nicht, was diese Erinnerung mit der fraglichen Zwangshandlung zu tun haben sollte, da ich nur in dem wiederholten Aus-einem-Zimmer-in-das-andere-Laufen eine Übereinstimmung fand und etwa noch im Auftreten des Stubenmädchens. Da führte mich die Patientin zu dem Tisch im zweiten Zimmer hin und ließ mich auf dessen Decke einen großen Fleck entdecken. Sie erklärte auch, sie stelle sich so zum Tisch hin, daß das zu ihr gerufene Mädchen den Fleck nicht übersehen könne. Nun war an der intimen Beziehung zwischen jener Szene nach der Brautnacht und ihrer heutigen Zwangshandlung nicht mehr zu zweifeln, aber auch noch allerlei daran zu lernen. Vor allem wird es klar, daß sich die Patientin mit ihrem Mann identifiziert; sie spielt ihn ja, indem sie sein Laufen aus einem Zimmer ins andere nachahmt. Dann müssen wir, um in der Gleichstellung zu bleiben, wohl zugeben, daß sie das Bett und Bettuch durch den Tisch und die Tischdecke ersetzt. Das schiene willkürlich, aber wir sollen nicht ohne Nutzen Traurnsymbolik studiert haben. Im Traum wird gleichfalls sehr häufig ein Tisch gesehen, der aber als Bett zu deuten ist. Tisch und Bett machen mitsammen die Ehe aus, da steht dann leicht eines für das andere. Der Beweis, daß die Zwangshandlung sinnreich ist, wäre bereits erbracht; sie scheint eine Darstellung, Wiederholung jener bedeutungsvollen Szene zu sein. Aber wir sind nicht genötigt, bei diesem Schein Halt zu machen; wenn wir die Beziehung zwischen den beiden eingehender untersuchen, werden wir wahrscheinlich Aufschluß über etwas Weitergehendes, über die Absicht der Zwangshandlung erhalten. Der Kern derselben ist offenbar das Herbeirufen des Stubenmädchens, dem sie den Fleck vor Augen führt, im Gegensatz zur Bemerkung ihres Mannes: Da müßte man sich vor dem Mädchen schämen. Er - dessen Rolle sie agiert - schämt sich also nicht vor dem Mädchen, der Fleck ist demnach an der richtigen Stelle. Wir sehen also, sie hat die Szene nicht einfach wiederholt, sondern sie fortgesetzt und dabei korrigiert, zum Richtigen gewendet. Damit korrigiert sie aber auch das andere, was in jener Nacht so peinlich war und jene Auskunft mit der roten Tinte notwendig machte, die Impotenz. Die Zwangshandlung sagt also: Nein, es ist nicht wahr, er hatte sich nicht vor dem Stubenmädchen zu schämen, er war nicht impotent; sie stellt diesen Wunsch nach Art
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eines Traumes in einer gegenwärtigen Handlung als erfüllt dar, sie dient der Tendenz, den Mann über sein damaliges Mißgeschick zu erheben. Dazu kommt alles andere, was ich Ihnen von dieser Frau erzählen könnte; richtiger gesagt: alles, was wir sonst von ihr wissen, weist uns den Weg zu dieser Deutung der an sich unbegreiflichen Zwangshandlung. Die Frau lebt seit Jahren von ihrem Mann getrennt und kämpft mit der Absicht, ihre Ehe gerichtlich scheiden zu lassen. Es ist aber keine Rede, daß sie frei von ihm wäre; sie ist gezwungen, ihm treu zu bleiben, sie zieht sich von aller Welt zurück, um nicht in Versuchung zu geraten, sie entschuldigt und vergrößert sein Wesen in ihrer Phantasie. Ja, das tiefste Geheimnis ihrer Krankheit ist, daß sie durch diese ihren Mann vor übler Nachrede deckt, ihre örtliche Trennung von ihm rechtfertigt und ihm ein behagliches Sonderleben ermöglicht. So führt die Analyse einer harmlosen Zwangshandlung auf geradem Wege zum innersten Kern eines Krankheitsfalles, verrät uns aber gleichzeitig ein nicht unansehnliches Stück des Geheimnisses der Zwangsneurose überhaupt. Ich lasse Sie gern bei diesem Beispiel verweilen, denn es vereinigt Bedingungen, die man billigerweise nicht von allen Fällen fordern wird. Die Deutung des Symptoms wurde hier von der Kranken mit einem Schlage gefunden ohne Anleitung oder Einmengung des Analytikers, und sie erfolgte durch die Beziehung auf ein Erlebnis, welches nicht, wie sonst, einer vergessenen Kindheitsperiode angehört hatte, sondern im reifen Leben der Kranken vorgefallen und unverlöscht in ihrer Erinnerung geblieben war. Alle die Einwendungen, welche die Kritik sonst gegen unsere Symptomdeutungen vorzubringen pflegt, gleiten von diesem Einzelfalle ab. So gut können wir es freilich nicht immer haben. Und noch eines! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, wie uns diese unscheinbare Zwangshandlung in die Intimitäten der Patientin eingeführt hat? Eine Frau hat nicht viel Intimeres zu erzählen als die Geschichte ihrer Hochzeitsnacht, und daß wir gerade auf Intimitäten des Geschlechtslebens gekommen sind, sollte das zufällig und ohne weiteren Belang sein? Es könnte freilich die Folge der Auswahl sein, die ich diesmal getroffen habe. Urteilen wir nicht zu rasch und wenden wir uns dem zweiten Beispiel zu, welches von ganz anderer Art ist, ein Muster einer häufig vorkommenden Gattung, nämlich ein Sch1afzeremoniell. Ein 19jähriges, üppiges, begabtes Mädchen, das einzige Kind seiner Eltern, denen es an Bildung und intellektueller Regsamkeit überlegen ist, war als Kind
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
wild und übermütig und hat sich im Laufe der letzten Jahre ohne sichtbare äußere Einwirkung zu einer Nervösen umgewandelt. Sie ist besonders gegen ihre Mutter sehr reizbar, immer unzufrieden, deprimiert, neigt zur Unentschlossenheit und zum Zweifel und macht endlich das Geständnis, daß sie auf Plätzen und in größeren Straßen nicht mehr allein gehen kann. Wir werden uns mit ihrem komplizierten Krankheitszustand, der zum mindesten zwei Diagnosen erheischt/ die einer Agoraphobie und einer Zwangsneurose, nicht viel abgeben, sondern nur dabei verweilen, daß dieses Mädchen auch ein Schlafzeremoniell entwickelt hat, unter dem sie ihre Eltern leiden läßt. Man kann sagen, in gewissem Sinne hat jeder Normale sein Schlafzeremoniell oder er hält auf die Herstellung von gewissen Bedingungen, deren Nichterfüllung ihn am Einschlafen stört; er hat den Übergang aus dem Wachleben in den Sch1afzustand in gewisse Formen gebracht, die er allabendlich in gleicher Weise wiederholt. Aber alles/ was der Gesunde an Schlafbedingung fordert, läßt sich rationell verstehen, und wenn die äußeren Umstände eine Änderung notwendig machen, so fügt er sich leicht und ohne Zeitaufwand. Das pathologische Zeremoniell ist aber unnachgiebig, es weiß sich mit den größten Opfern durchzusetzen, es deckt sich gleichfalls mit einer rationellen Begründung und scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung nur durch eine gewisse übertriebene Sorgfalt vom Normalen zu entfernen. Sieht man aber näher zu/ so kann man bemerken, daß die Decke zu kurz ist, daß das Zeremoniell Bestimmungen umfaßt/ die weit über die rationelle Begründung hinausgehen, und andere, die ihr direkt widersprechen. Unsere Patientin schützt als Motiv ihrer nächtlichen Vorsichten vor, daß sie zum Schlafen Ruhe braucht und alle Quellen des Geräusches ausschließen muß. In dieser Absicht tut sie zweierlei: Die große Uhr in ihrem Zimmer wird zum Stehen gebracht, alle anderen Uhren aus dem Zimmer entfernt, nicht einmal ihre winzige Armbanduhr wird im Nachtkästchen geduldet. Blumentöpfe und Vasen werden auf dem Schreibtische so zusammengestellt, daß sie nicht zur Nachtzeit herunterfallen, zerbrechen und sie im Schlafe stören können. Sie weiß, daß diese Maßregeln durch das Gebot der Ruhe nur eine scheinbare Rechtfertigung finden können; die kleine Uhr würde man nicht ticken hören, auch wenn sie auf dem Nachtkästchen liegen bliebe, und wir haben alle die Erfahrung gemacht, daß das regelmäßige Ticken einer Pendeluhr niemals eine Sch1afstörung macht, sondern eher einschläfernd wirkt. Sie gibt auch zu/ daß die Befürchtung, Blumentöpfe und Vasen könnten, an ihrem Platze gelassen, zur Nachtzeit von selbst herunterfallen
4.1 Der Sinn der Symptome
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und zerbrechen, jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt. Für andere Bestimmungen des Zeremoniells wird die Anlehnung an das Ruhegebot fallen gelassen. Ja, die Forderung, daß die Türe zwischen ihrem Zimmer und dem Schlafzimmer der Eltern halb offen bleibe, deren Erfüllung sie dadurch sichert, daß sie verschiedene Gegenstände in die geöffnete Türe rückt, scheint im Gegenteil eine Quelle von störenden Geräuschen zu aktivieren. Die wichtigsten Bestimmungen beziehen sich aber auf das Bett selbst. Das Polster am Kopfende des Bettes darf die Holzwand des Bettes nicht berühren. Das kleine Kopfpolsterchen darf auf diesem großen Polster nicht anders liegen, als indem es eine Raute bildet; ihren Kopf legt sie dann genau in den Längsdurchmesser der Raute. Die Federdecke ("Duchent", wie wir in Österreich sagen) muß vor dem Zudecken so geschüttelt werden, daß ihr Fußende ganz dick wird, dann aber versäumt sie es nicht, diese Anhäufung durch Zerdrücken wieder zu verteilen. Lassen Sie mich die anderen, oft sehr kleinlichen Einzelheiten dieses Zeremoniells übergehen; sie würden uns nichts Neues lehren und zu weit von unseren Absichten abführen. Aber übersehen Sie nicht, daß dies alles sich nicht so glatt vollzieht. Es ist immer die Sorge dabei, daß nicht alles ordentlich gemacht worden ist; es muß nachgeprüft, wiederholt werden, der Zweifel zeichnet bald die eine, bald die andere der Sicherungen aus, und der Erfolg ist, daß ein bis zwei Stunden hingebracht werden, während welcher das Mädchen selbst nicht schlafen kann und die eingeschüchterten Eltern nicht schlafen läßt. Die Analyse dieser Quälereien ging nicht so einfach von statten wie die der Zwangshandlung bei unserer früheren Patientin. Ich mußte dem Mädchen Andeutungen geben und Vorschläge zur Deutung machen, die von ihr jedesmal mit einem entschiedenen Nein abgelehnt oder mit geringschätzigem Zweifel aufgenommen wurden. Aber auf diese erste ablehnende Reaktion folgte eine Zeit, in welcher sie sich selbst mit den ihr vorgelegten Möglichkeiten beschäftigte, Einfälle zu ihnen sammelte, Erinnerungen produzierte, Zusammenhänge herstellte, bis sie alle Deutungen aus eigener Arbeit angenommen hatte. In dem Maße, als dies geschah, ließ sie auch in der Ausführung der Zwangsmaßregeln nach, und noch vor Ende der Behandlung hatte sie auf das gesamte Zeremoniell verzichtet. Sie müssen auch wissen, daß die analytische Arbeit, wie wir sie heute ausführen, die konsequente Bearbeitung des einzelnen Symptoms, bis man mit dessen Aufhellung zu Ende gekommen ist, geradezu ausschließt. Man ist vielmehr genötigt, das eine Thema immer wieder zu verlassen, und ist sicher, von
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
anderen Zusammenhängen her von neuem darauf zurückzukommen. Die Symptomdeutung, die ich TImen jetzt mitteilen werde, ist also eine Synthese von Ergebnissen, deren Förderung sich, von anderen Arbeiten unterbrochen, über die Zeit von Wochen und Monaten erstreckt. Unsere Patientin lernt allmählich verstehen, daß sie die Uhr als Symbol des weiblichen Genitales aus ihren Zurüstungen für die Nacht verbannt hatte. Die Uhr, für die wir sonst auch andere Symboldeutungen kennen, gelangt zu dieser genitalen Rolle durch ihre Beziehung zu periodischen Vorgängen und gleichen Intervallen. Eine Frau kann etwa von sich rühmen, ihre Menstruation benehme sich so regelmäßig wie ein Uhrwerk. Die Angst unserer Patientin richtete sich aber besonders dagegen, durch das Ticken der Uhr im Schlaf gestört zu werden. Das Ticken der Uhr ist dem Klopfen der Klitoris bei sexueller Erregung gleichzusetzen. Durch diese ihr nun peinliche Empfindung war sie in der Tat wiederholt aus dem Schlafe geweckt worden, und jetzt äußerte sich diese Erektionsangst in dem Gebot, welches gehende Uhren zur Nachtzeit aus ihrer Nähe entfernen hieß. Blumentöpfe und Vasen sind wie alle Gefäße gleichfalls weibliche Symbole. Die Vorsicht, daß sie nicht zur Nachtzeit fallen und zerbrechen, entbehrt also nicht eines guten Sinnes. Wir kennen die vielverbreitete Sitte, daß bei Verlobungen ein Gefäß oder Teller zerschlagen wird. Jeder der Anwesenden eignet sich ein Bruchstück an, welches wir als Ablösung seiner Ansprüche an die Braut auf dem Standpunkt einer Eheordnung vor der Monogamie auffassen dürfen. Zu diesem Stück ihres Zeremoniells brachte das Mädchen auch eine Erinnerung und mehrere Einfälle. Sie war einmal als Kind mit einem Glas- oder Tongefäß hingefallen, hatte sich in die Finger geschnitten und heftig geblutet. Als sie heranwuchs und von den Tatsachen des Sexualverkehrs Kenntnis bekam, stellte sich die ängstliche Idee bei ihr ein, sie werde in der Hochzeitsnacht nicht bluten und sich nicht als Jungfrau erweisen. Ihre Vorsichten gegen das Zerbrechen der Vasen bedeuten also eine Abweisung des ganzen Komplexes, der mit der Virginität und dem Bluten beim ersten Verkehr zusammenhängt, ebensowohl eine Abweisung der Angst zu bluten wie der entgegengesetzten, nicht zu bluten. Mit der Geräuschverhütung, welcher sie diese Maßnahmen unterordnete, hatten sie nur entfernt etwas zu tun. Den zentralen Sinn ihres Zeremoniells erriet sie eines Tages, als sie plötzlich die Vorschrift, das Polster dürfe die Bettwand nicht berühren, verstand. Das Polster sei ihr immer ein Weib gewesen, sagte sie, die aufrechte Holzwand ein Mann.
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Sie wollte also - auf magische Weise, dürfen wir einschalten - Mann und Weib auseinanderhalten, das heißt die Eltern voneinander trennen, nicht zum ehelichen Verkehr kommen lassen. Dasselbe Ziel hatte sie in früheren Jahren vor der Einrichtung des Zeremoniells auf direktere Weise zu erreichen gesucht. Sie hatte Angst simuliert oder eine vorhandene Angstneigung dahin ausgebeutet, daß die Verbindungstüre zwischen dem Schlafzimmer der Eltern und dem Kinderzimmer nicht geschlossen werden dürfe. Dies Gebot war ja noch in ihrem heutigen Zeremoniell erhalten geblieben. Auf solche Art schaffte sie sich die Gelegenheit, die Eltern zu belauschen, zog sich aber in der Ausnützung derselben einmal eine durch Monate anhaltende Schlaflosigkeit zu. Nicht zufrieden mit solcher Störung der Eltern setzte sie es dann zeitweise durch, daß sie im Ehebett selbst zwischen Vater und Mutter schlafen durfte. "Polster" und "Holzwand" konnten dann wirklich nicht zusammenkommen. Endlich, als sie schon so groß war, daß ihr Körperliches nicht mehr bequem im Bette zwischen den Eltern Platz finden konnte, erreichte sie es durch bewußte Simulation von Angst, daß die Mutter den Schlafplatz mit ihr tauschte und ihr die eigene Stelle neben dem Vater abtrat. Diese Situation war gewiß der Ausgang von Phantasien geworden, deren Nachwirkung man im Zeremoniell verspürt. Wenn ein Polster ein Weib war, so hatte auch das Schütteln der Federdecke, bis alle Federn unten waren und dort eine Anschwellung hervorriefen, einen Sinn. Es hieß, das Weib schwanger machen; aber sie versäumte es nicht, diese Schwangerschaft wieder wegzustreichen, denn sie hatte Jahre hindurch unter der Furcht gestanden, der Verkehr der Eltern werde ein anderes Kind zur Folge haben und ihr so eine Konkurrenz bescheren. Anderseits, wenn das große Polster ein Weib, die Mutter, war, so konnte das kleine Kopfpölsterchen nur die Tochter vorstellen. Warum mußte dieses Polster als Raute gelegt werden und ihr Kopf genau in die Mittellinie derselben kommen? Sie ließ sich leicht daran erinnern, daß die Raute die an allen Mauern wiederholte Rune des offenen weiblichen Genitales sei. Sie selbst spielte dann den Mann, den Vater, und ersetzte durch ihren Kopf das männliche Glied. (Vgl. die Symbolik des Köpfens für Kastration.) Wüste Dinge, werden Sie sagen, die da in dem Kopf des jungfräulichen Mädchens spuken sollen. Ich gebe es zu, aber vergessen Sie nicht, ich habe diese Dinge nicht gemacht, sondern bloß gedeutet. Solch ein Schlafzeremoniell ist auch etwas Sonderbares, und Sie werden die Entsprechung zwischen dem Zeremoniell und den Phantasien, die uns die Deutung ergibt, nicht verkennen dürfen. Wich-
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
tiger ist mir aber, daß Sie bemerken, es habe sich da nicht eine einzige Phantasie im Zeremoniell niedergeschlagen, sondern eine Anzahl von solchen, die allerdings irgendwo ihren Knotenpunkt haben. Auch daß die Vorschriften des Zeremoniells die sexuellen Wünsche bald positiv, bald negativ wiedergeben, zum Teil der Vertretung und zum Teil der Abwehr derselben dienen. Man könnte auch aus der Analyse dieses Zeremoniells mehr machen, wenn man es in die richtige Verknüpfung mit den anderen Symptomen der Kranken brächte. Aber unser Weg führt uns nicht dahin. Lassen Sie sich die Andeutung genügen, daß dieses Mädchen einer erotischen Bindung an den Vater verfallen ist, deren Anfänge in frühe Kinderjahre zurückgehen. Vielleicht benimmt sie sich auch darum so unfreundlich gegen ihre Mutter. Wir können auch nicht übersehen, daß uns die Analyse dieses Symptoms wiederum auf das Sexualleben der Kranken hingeführt hat. Vielleicht werden wir uns darüber um so weniger verwundern, je öfter wir in den Sinn und in die Absicht neurotischer Symptome Einsicht gewinnen. [...] Der Sinn eines Symptoms liegt, wie wir erfahren haben, in einer Beziehung zum Erleben des Kranken. Je individueller das Symptom ausgebildet ist, desto eher dürfen wir erwarten, diesen Zusammenhang herzustellen. Die Aufgabe stellt sich dann geradezu, für eine sinnlose Idee und eine zwecklose Handlung jene vergangene Situation aufzufinden, in welcher die Idee gerechtfertigt und die Handlung zweckentsprechend war. Die Zwangshandlung unserer Patientin, die zum Tisch lief und dem Stubenmädchen schellte, ist direkt vorbildlich für diese Art von Symptomen. Aber es gibt, und zwar sehr häufig, Symptome von ganz anderem Charakter. Man muß sie"typische" Symptome der Krankheit nennen, sie sind in allen Fällen ungefähr gleich, die individuellen Unterschiede verschwinden bei ihnen oder schrumpfen wenigstens so zusammen, daß es schwer fällt, sie mit dem individuellen Erleben der Kranken zusammenzubringen und auf einzelne erlebte Situationen zu beziehen. Richten wir unseren Blick wiederum auf die Zwangsneurose. Schon das Sch1afzimmerzeremoniell unserer zweiten Patientin hat viel Typisches an sich, dabei allerdings genug individuelle Züge, um die sozusagen historische Deutung zu ermöglichen. Aber alle diese Zwangskranken haben die Neigung zu wiederholen, Verrichtungen zu rhythmieren und von anderen zu isolieren. Die meisten von ihnen waschen zu viel. Die Kranken, welche an Agoraphobie (Topophobie, Raumangst) leiden, was wir nicht mehr zur Zwangsneurose rechnen, sondern als Angsthysterie bezeichnen,
4.1 Der Sinn der Symptome
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wiederholen in ihren Krankheitsbildern oft in ermüdender Monotonie dieselben Züge, sie fürchten geschlossene Räume, große offene Plätze, lange sich hinziehende Straßen und Alleen. Sie halten sich für geschützt, wenn Bekannte sie begleiten oder wenn ein Wagen ihnen nachfährt usw. Auf diesem gleichartigen Untergrund tragen aber doch die einzelnen Kranken ihre individuellen Bedingungen, Launen, möchte man sagen, auf, die einander in den einzelnen Fällen direkt widersprechen. Der eine scheut nur enge Straßen, der andere nur weite, der eine kann nur gehen, wenn wenig, der andere, wenn viele Menschen auf der Straße sind. Ebenso hat die Hysterie bei allem Reichtum an individuellen Zügen einen Überfluß an gemeinsamen, typischen Symptomen, die einer leichten historischen Zurückführung zu widerstreben scheinen. Vergessen wir nicht, es sind ja diese typischen Symptome, nach denen wir uns für die Stellung der Diagnose orientieren. Haben wir nun wirklich in einem Falle von Hysterie ein typisches Symptom auf ein Erlebnis oder auf eine Kette von ähnlichen Erlebnissen zurückgeführt, z. B. ein hysterisches Erbrechen auf eine Folge von Ekeleindrücken, so werden wir irre, wenn uns die Analyse in einem anderen Fall von Erbrechen eine durchaus andersartige Reihe von angeblich wirksamen Erlebnissen aufdeckt. Es sieht dann bald so aus, als müßten die Hysterischen aus unbekannten Gründen Erbrechen äußern, und die von der Analyse gelieferten historischen Anlässe seien nur Vorwände, die von dieser inneren Notwendigkeit verwendet werden, wenn sie sich zufällig ergeben. So kommen wir bald zur betrübenden Einsicht, daß wir zwar den Sinn der individuellen neurotischen Symptome durch die Beziehung zum Erleben befriedigend aufklären können, daß uns aber unsere Kunst für die weit häufigeren typischen Symptome derselben im Stiche läßt. Dazu kommt, daß ich Sie noch gar nicht mit allen Schwierigkeiten vertraut gemacht habe, die sich bei der konsequenten Verfolgung der historischen Symptomdeutung herausstellen. Ich will es auch nicht tun, denn ich habe zwar die Absicht, Ihnen nichts zu beschönigen oder zu verhehlen, aber ich darf Sie doch nicht zu Beginn unserer gemeinsamen Studien ratlos machen und in Verwirrung bringen. Es ist richtig, daß wir erst den Anfang zu einem Verständnis der Symptombedeutung gemacht haben, aber wir wollen an dem Gewonnenen festhalten und uns schrittweise zur Bewältigung des noch Unverstandenen durchringen. Ich versuche es also, Sie mit der Überlegung zu trösten, daß eine fundamentale Verschiedenheit zwischen der einen und der anderen Art von Symptomen doch kaum anzunehmen ist. Hän-
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
gen die individuellen Symptome so unverkennbar vom Erleben des Kranken ab, so bleibt für die typischen Symptome die Möglichkeit, daß sie auf ein Erleben zurückgehen, das an sich typisch, allen Menschen gemeinsam ist. Andere in der Neurose regelmäßig wiederkehrende Züge mögen allgemeine Reaktionen sein, welche den Kranken durch die Natur der krankhaften Veränderung aufgezwungen werden, wie das Wiederholen oder das Zweifeln der Zwangsneurose. Kurz, wir haben keinen Grund zum vorzeitigen Verzagen; wir werden ja sehen, was sich weiter ergibt. Vor einer ganz ähnlichen Schwierigkeit stehen wir auch in der Traumlehre. Ich konnte sie in unseren früheren Besprechungen über den Traum nicht behandeln. Der manifeste Inhalt der Träume ist ja ein höchst mannigfaltiger und individuell verschiedener, und wir haben ausführlich gezeigt, was man aus diesem Inhalt durch die Analyse gewinnt. Aber daneben gibt es Träume, die man gleichfalls "typische" heißt, die bei allen Menschen in gleicher Weise vorkommen, Träume von gleichförmigem Inhalt, welche der Deutung dieselben Schwierigkeiten entgegensetzen. Es sind dies die Träume vom Fallen, Fliegen, Schweben, Schwimmen, Gehemmtsein, vom Nacktsein und andere gewisse Angstträume, die uns bald diese, bald jene Deutung bei einzelnen Personen ergeben, ohne daß die Monotonie und das typische Vorkommen derselben dabei seine Aufklärung fände. Auch bei diesen Träumen beobachten wir aber, daß ein gemeinsamer Untergrund durch individuell wechselnde Zutaten belebt wird, und wahrscheinlich werden auch sie sich in das Verständnis des Traumlebens, das wir an den anderen Träumen gewonnen haben, ohne Zwang, aber unter Erweiterung unserer Einsichten einfügen lassen (s. Freud, 1900a, Kap. V, Abschnitt D).
4.2 Widerstand und Verdrängung
Widerstand und Verdrängung sind die beiden Begriffe, die für Freuds Therapie- und Krankheitskonzept von zentraler Bedeutung sind. Im hier abgedruckten, der XIX. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse entnommenen Abschnitt wird der Zusammenhang erläutert, der zwischen diesen beiden Begriffen besteht. Demnach machen sich die den Wunsch abwehrenden Kräfte, die dort und damals an der Symptombildung (s. Kap. 4.1) beteiligt waren, in der psychoanalytischen Therapie hier und jetzt als Widerstand bemerkbar, sobald die abgewehrten Inhalte erinnert und
4.2 Widerstand und Verdrängung
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affektiv durchgearbeitet werden sollen (s. Kap. 5.1). WIe sich dieser Widerstand im Umgang mit der psychoanalytischen Grundregel (s. Kap. 2.2) auswirkt, stellt Freud im hier abgedruckten Text an ausgewählten Beispielen dar. Dabei zeigt die genauere Betrachtung, dass sich der Widerstand, der die Reproduktion nicht bewältigter Erlebnisse und damit verbundener Affekte verhindern will, auch gegen die Aufforderung richtet, sich ohne weiteres Nachdenken einem "Zustand von ruhiger Selbstbeobachtung" zu überlassen. Dieser mit Hilfe des psychoanalytischen Settings angestrebte Zustand aktiver Passivität (Introspektion im Liegen ohne Blickkontakt zu einem anderen Menschen) löste den hypnotischen Zustand ab, in dem "Anna 0." behandelt wurde (Nitzschke, 1998a), die Patientin Josef Breuers, mit der einst alles begonnen hatte (vgl. Hirschmüller, 1978). Der entscheidende Schritt vom kathartischen Verfahren Breuers hin zur Psychoanalyse Freuds bestand denn auch in der Aufgabe der Hypnose - und dieser Fortschritt hatte mit der Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Verdrängung und Widerstand zu tun: "Die Verdrängung ist nun der Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht, so recht das wesentlichste Stück derselben und selbst nichts anderes als der theoretische Ausdruck einer Erfahrung, die sich beliebig oft wiederholen läßt, wenn man ohne Zuhilfenahme der Hypnose an die Analyse eines Neurotikers geht. Man bekommt dann einen Widerstand zu Spürerl. welcher sich der analytischen Arbeit widersetzt [...]." Durch die Hypnose ließ sich dieser Widerstand vorübergehend beiseite schieben; das dadurch zugängliche Unbewusste ließ sich so (suggestiv) beeinflussen, aber nicht in das Bewusstsein integrieren, da nach dem Erwachen aus der Hypnose in Bezug auf die entsprechenden Inhalte Amnesie bestand. Die Integration bislang unbewußter Inhalte in das bewusst zugängliche Gedächtnis sollte mit Hilfe der Methode der freien Assoziation und der Bearbeitung des dagegen gerichteten Widerstandes nun aber doch möglich werden; und so "setzt die Geschichte der eigentlichen Psychoanalyse erst mit der technischen Neuerung des Verzichts auf die Hypnose ein" (Freud., 1914d, S. 54).
J]
Freud, S. (1916-17a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI, S. 296-306.
[...] Wenn wir es unternehmen, einen Kranken herzustellen, von seinen Leidenssymptomen zu befreien, so setzt er uns einen heftigen, zähen, über die ganze Dauer der Behandlung anhaltenden Widerstand entgegen. Das ist eine so son-
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
derbare Tatsache, daß wir nicht viel Glauben für sie erwarten dürfen. Den Angehörigen des Kranken sagen wir am besten nichts davon, denn diese meinen nie etwas anderes, als es sei eine Ausrede von uns, um die lange Dauer oder den Mißerfolg unserer Behandlung zu entschuldigen. Auch der Kranke produziert alle Phänomene dieses Widerstandes, ohne ihn als solchen zu erkennen, und es ist bereits ein großer Erfolg, wenn wir ihn dazu gebracht haben, sich in diese Auffassung zu finden und mit ihr zu rechnen. Denken Sie doch, der Kranke, der unter seinen Symptomen so leidet und seine Nächsten dabei mitleiden läßt, der so viele Opfer an Zeit, Geld, Mühe und Selbstüberwindung auf sich nehmen will, um von ihnen befreit zu werden, der sollte sich im Interesse seines Krankseins gegen seinen Helfer sträuben. Wie unwahrscheinlich muß diese Behauptung klingen! Und doch ist es so, und wenn man uns diese Unwahrscheinlichkeit vorhält, so brauchen wir nur zu antworten, es sei nicht ohne seine Analogien, und jeder, der wegen unerträglicher Zahnschmerzen den Zahnarzt aufgesucht hat, sei diesem wohl in den Arm gefallen, wenn er sich dem kranken Zahn mit der Zange nähern wollte. Der Widerstand der Kranken ist sehr mannigfaltig, höchst raffiniert, oft schwer zu erkennen, wechselt proteusartig die Form seiner Erscheinung. Es heißt für den Arzt mißtrauisch sein und auf seiner Hut gegen ihn bleiben. Wir wenden ja in der psychoanalytischen Therapie die Technik an, die Ihnen von der Traumdeutung her bekannt ist. Wir legen es dem Kranken auf, sich in einen Zustand von ruhiger Selbstbeobachtung ohne Nachdenken zu versetzen und alles mitzuteilen, was er dabei an inneren Wahrnehmungen machen kann: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, in der Reihenfolge, in der sie in ihm auftauchen. Wir warnen ihn dabei ausdrücklich, irgendeinem Motiv nachzugeben, welches eine Auswahl oder Ausschließung unter den Einfällen erzielen möchte, möge es lauten, das ist zu unangenehm oder zu indiskret, um es zu sagen, oder das ist zu unwichtig, es gehört nicht hierher, oder das ist unsinnig, braucht nicht gesagt zu werden. Wir schärfen ihm ein, immer nur der Oberfläche seines Bewußtseins zu folgen, jede wie immer geartete Kritik gegen das, was er findet, zu unterlassen, und vertrauen ihm an, daß der Erfolg der Behandlung, vor allem aber die Dauer derselben von der Gewissenhaftigkeit abhängt, mit der er diese technische Grundregel der Analyse befolgt. Wir wissen ja von der Technik der Traumdeutung, daß gerade solche Einfälle, gegen welche sich die aufgezählten Bedenken
4.2 Widerstand und Verdrängung
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und Einwendungen erheben, regelmäßig das Material enthalten, welches zur Aufdeckung des Unbewußten hinführt. Durch die Aufstellung dieser technischen Grundregel erreichen wir zunächst, daß sie zum Angriffspunkt des Widerstandes wird. Der Kranke sucht sich ihren Bestimmungen auf jede Art zu entwinden. Bald behauptet er, es fiele ihm nichts ein, bald, es dränge sich ihm so vieles auf, daß er nichts zu erfassen vermöge. Dann merken wir mit mißvergnügtem Erstaunen, daß er bald dieser, bald jener kritischen Einwendung nachgegeben hat; er verrät sich uns nämlich durch die langen Pausen, die er in seinen Reden eintreten läßt. Er gesteht dann zu, das könne er wirklich nicht sagen, er schäme sich, und läßt dieses Motiv gegen sein Versprechen gelten. Oder es sei ihm etwas eingefallen, aber es betreffe eine andere Person als ihn selbst und sei darum von der Mitteilung ausgenommen. Oder, was ihm jetzt eingefallen, sei wirklich zu unwichtig, zu dumm und zu unsinnig; ich könne doch nicht gemeint haben, daß er auf solche Gedanken eingehen solle, und so geht es in unübersehbaren Variationen weiter, wogegen man zu erklären hat, daß alles sagen wirklich alles sagen bedeutet. Man trifft kaum auf einen Kranken, der nicht den Versuch machte, irgendein Gebiet für sich zu reservieren, um der Kur den Zutritt zu demselben zu verwehren. Einer, den ich zu den Höchstintelligenten zählen mußte, verschwieg so wochenlang eine intime Liebesbeziehung und verteidigte sich, wegen der Verletzung der heiligen Regel zur Rede gestellt, mit dem Argument, er habe geglaubt, diese eine Geschichte sei seine Privatsache. Natürlich verträgt die analytische Kur ein solches Asylrecht nicht. Man versuche es etwa in einer Stadt wie Wien für einen Platz wie der Hohe Markt oder für die Stephanskirche die Ausnahme zuzulassen, daß dort keine Verhaftungen stattfinden dürfen, und mühe sich dann ab, einen bestimmten Missetäter einzufangen. Er wird an keiner anderen Stelle als an dem Asyl zu finden sein. Ich entsch10ß mich einmal, einem Mann, an dessen Leistungsfähigkeit objektiv viel gelegen war, ein solches Ausnahmsrecht zuzugestehen, denn er stand unter einem Diensteid, der ihm verbot, von bestimmten Dingen einem anderen Mitteilung zu machen. Er war allerdings mit dem Erfolg zufrieden, aber ich nicht; ich setzte mir vor, einen Versuch unter solchen Bedingungen nicht zu wiederholen. Zwangsneurotiker verstehen es ausgezeichnet, die technische Regel fast unbrauchbar zu machen, dadurch, daß sie ihre Übergewissenhaftigkeit und ihren
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Zweifel auf sie einstellen. Angsthysteriker bringen es gelegentlich zustande, sie ad absurdum zu führen, indem sie nur Einfälle produzieren, die so weit von dem Gesuchten entfernt sind, daß sie der Analyse keinen Ertrag bringen. Aber ich beabsichtige nicht, Sie in die Behandlung dieser technischen Schwierigkeiten einzuführen. Genug, es gelingt endlich, durch Entschiedenheit und Beharrung dem Widerstand ein gewisses Ausmaß von Gehorsam gegen die technische Grundregel abzuringen, und dann wirft er sich auf ein anderes Gebiet. Er tritt als intellektueller Widerstand auf, kämpft mit Argumenten, bemächtigt sich der Schwierigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, welche das normale, aber nicht unterrichtete Denken an den analytischen Lehren findet. Wir bekommen dann alle Kritiken und Einwendungen von dieser einzelnen Stimme zu hören, die uns in der wissenschaftlichen Literatur als Chorus umbrausen. Daher uns auch nichts unbekannt klingt, was man uns von draußen zuruft. Es ist ein richtiger Sturm im Wasserglas. Doch der Patient läßt mit sich reden; er will uns gern dazu bewegen, daß wir ihn unterrichten, belehren, widerlegen, ihn zur Literatur führen, an welcher er sich weiterbilden kann. Er ist gern bereit, ein Anhänger der Psychoanalyse zu werden, unter der Bedingung, daß die Analyse ihn persönlich verschont. Aber wir erkennen diese Wißbegierde als Widerstand, als Ablenkung von unseren speziellen Aufgaben, und weisen sie ab. Bei dem Zwangsneurotiker haben wir eine besondere Taktik des Widerstandes zu erwarten. Er läßt die Analyse oft ungehemmt ihren Weg machen, so daß sie eine immer zunehmende Helligkeit über die Rätsel des Krankheitsfalles verbreiten kann, aber wir wundem uns endlich, daß dieser Aufklärung kein praktischer Fortschritt, keine Abschwächung der Symptome entspricht. Dann können wir entdecken, daß der Widerstand sich auf den Zweifel der Zwangsneurose zurückgezogen hat und uns in dieser Position erfolgreich die Spitze bietet. Der Kranke hat sich ungefähr gesagt: Das ist ja alles recht schön und interessant. Ich will es auch gern weiter verfolgen. Es würde meine Krankheit sehr ändern, wenn es wahr wäre. Aber ich glaube ja gar nicht, daß es wahr ist, und solange ich es nicht glaube, geht es meine Krankheit nichts an. So kann es lange fortgehen, bis man endlich an diese reservierte Stellung selbst herangekommen ist, und nun der entscheidende Kampf losbricht. Die intellektuellen Widerstände sind nicht die schlimmsten; man bleibt ihnen immer überlegen. Aber der Patient versteht es auch, indem er im Rahmen der Analyse bleibt, Widerstände herzustellen, deren Überwindung zu den schwie-
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rigsten technischen Aufgaben gehört. Anstatt sich zu erinnern, wiederholt er aus seinem Leben solche Einstellungen und Gefühlsregungen, die sich mittels der sogenannten"Übertragung" zum Widerstand gegen Arzt und Kur verwenden lassen. Er entnimmt dieses Material, wenn es ein Mann ist, in der Regel seinem Verhältnis zum Vater, an dessen Stelle er den Arzt treten läßt, und macht somit Widerstände aus seinem Bestreben nach Selbständigkeit der Person und des Urteiles, aus seinem Ehrgeiz, der sein erstes Ziel darin fand, es dem Vater gleichzutun oder ihn zu überwinden, aus seinem Unwillen, die Last der Dankbarkeit ein zweites Mal im Leben auf sich zu laden. Streckenweise empfängt man so den Eindruck, als hätte beim Kranken die Absicht, den Arzt ins Umecht zu setzen, ihn seine Ohnmacht empfinden zu lassen, über ihn zu triumphieren, die bessere Absicht, der Krankheit ein Ende zu machen, völlig ersetzt. Die Frauen verstehen es meisterhaft, eine zärtliche, erotisch betonte Übertragung auf den Arzt für die Zwecke des Widerstandes auszubeuten. Bei einer gewissen Höhe dieser Zuneigung erlischt jedes Interesse für die aktuelle Situation der Kur, jede der Verpflichtungen, die sie beim Eingehen in dieselbe auf sich genommen hatten, und die nie ausbleibende Eifersucht sowie die Erbitterung über die unvermeidliche, wenn auch schonend vorgebrachte Abweisung müssen dazu dienen, das persönliche Einvernehmen mit dem Arzt zu verderben und so eine der mächtigsten Triebkräfte der Analyse auszuschalten. Die Widerstände dieser Art dürfen nicht einseitig verurteilt werden. Sie enthalten so viel von dem wichtigsten Material aus der Vergangenheit des Kranken und bringen es in so überzeugender Art wieder, daß sie zu den besten Stützen der Analyse werden, wenn eine geschickte Technik es versteht, ihnen die richtige Wendung zu geben. Es bleibt nur bemerkenswert, daß dieses Material zunächst immer im Dienste des Widerstandes steht und seine der Behandlung feindselige Fassade voranstellt. Man kann auch sagen, es seien Charaktereigenschaften, Einstellungen des Ichs, welche zur Bekämpfung der angestrebten Veränderungen mobil gemacht werden. Man erfährt dabei, wie diese Charaktereigenschaften im Zusammenhang mit den Bedingungen der Neurose und in der Reaktion gegen deren Ansprüche gebildet worden sind, und erkennt Züge dieses Charakters, die sonst nicht, oder nicht in diesem Ausmaße, hervortreten können, die man als latent bezeichnen kann. Sie sollen auch nicht den Eindruck gewinnen, als erblickten wir in dem Auftreten dieser Widerstände eine unvorhergesehene Gefährdung der analytischen Beeinflussung. Nein, wir wissen, daß diese Wider-
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stände zum Vorschein kommen müssen; wir sind nur unzufrieden, wenn wir sie nicht deutlich genug hervorrufen und dem Kranken nicht klarmachen können. Ja, wir verstehen endlich, daß die Überwindung dieser Widerstände die wesentliche Leistung der Analyse und jenes Stück der Arbeit ist, welches uns allein zusichert, daß wir etwas beim Kranken zustande gebracht haben. Nehmen Sie noch hinzu, daß der Kranke alle Zufälligkeiten, die sich während der Behandlung ergeben, im Sinne einer Störung ausnützt, jedes ablenkende Ereignis außerhalb, jede Äußerung einer der Analyse feindseligen Autorität in seinem Kreise, eine zufällige oder die Neurose komplizierende organische Erkrankung, ja daß er selbst jede Besserung seines Zustandes als Motiv für ein Nachlassen seiner Bemühung verwendet, so haben Sie ein ungefähres, noch immer nicht vollständiges Bild der Formen und der Mittel des Widerstandes gewonnen, unter dessen Bekämpfung jede Analyse verläuft. Ich habe diesem Punkt eine so ausführliche Behandlung geschenkt, weil ich Ihnen mitzuteilen habe, daß diese unsere Erfahrung mit dem Widerstande der Neurotiker gegen die Beseitigung ihrer Symptome die Grundlage unserer dynamischen Auffassung der Neurosen geworden ist. Breuer und ich selbst haben ursprünglich die Psychotherapie mit dem Mittel der Hypnose betrieben; Breuers erste Patientin ist durchwegs im Zustande hypnotischer Beeinflussung behandelt worden; ich bin ihm zunächst darin gefolgt. Ich gestehe, die Arbeit ging damals leichter und angenehmer, auch in viel kürzerer Zeit, vor sich. Die Erfolge aber waren launenhaft und nicht andauernd; darum ließ ich endlich die Hypnose fallen. Und dann verstand ich, daß eine Einsicht in die Dynamik dieser Affektionen nicht möglich gewesen war, solange man sich der Hypnose bedient hatte. Dieser Zustand wußte gerade die Existenz des Widerstandes der Wahrnehmung des Arztes zu entziehen. Er schob ihn zurück, machte ein gewisses Gebiet für die analytische Arbeit frei und staute ihn an den Grenzen dieses Gebietes so auf, daß er undurchdringlich wurde, ähnlich wie es der Zweifel bei der Zwangsneurose tut. Darum durfte ich auch sagen, die eigentliche Psychoanalyse hat mit dem Verzicht auf die Hilfe der Hypnose eingesetzt. Wenn aber die Konstatierung des Widerstandes so bedeutsam geworden ist, so dürfen wir wohl einem vorsichtigen Zweifel Raum geben, ob wir nicht allzu leichtfertig in der Annahme von Widerständen sind. Vielleicht gibt es wirklich neurotische Fälle, in denen die Assoziationen sich aus anderen Gründen versagen, vielleicht verdienen die Argumente gegen unsere Voraussetzungen wirk-
4.2 Widerstand und Verdrängung
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lich eine inhaltliche Würdigung und wir tun Umecht daran, die intellektuelle Kritik der Analysierten so bequem als Widerstand beiseite zu schieben. Ja, meine Herren, wir sind aber nicht leichthin zu diesem Urteil gekommen. Wir haben Gelegenheit gehabt, jeden solchen kritischen Patienten bei dem Auftauchen und nach dem Schwinden eines Widerstandes zu beobachten. Der Widerstand wechselt nämlich im Laufe einer Behandlung beständig seine Intensität; er steigt immer an, wenn man sich einem neuen Thema nähert, ist am stärksten auf der Höhe der Bearbeitung desselben und sinkt mit der Erledigung des Themas wieder zusammen. Wir haben es auch niemals, wenn wir nicht besondere technische Ungeschicklichkeiten begangen haben, mit dem vollen Ausmaß des Widerstandes, den ein Patient leisten kann, zu tun. Wir konnten uns also überzeugen, daß derselbe Mann ungezählte Male im Laufe der Analyse seine kritische Einstellung wegwirft und wieder aufnimmt. Stehen wir davor, ein neues und ihm besonders peinliches Stück des unbewußten Materials zum Bewußtsein zu fördern, so ist er aufs äußerste kritisch; hatte er früher vieles verstanden und angenommen, so sind diese Erwerbungen jetzt wie weggewischt; er kann in seinem Bestreben nach Opposition um jeden Preis völlig das Bild eines affektiv Schwachsinnigen ergeben. Ist es gelungen, ihm zur Überwindung dieses neuen Widerstandes zu verhelfen, so bekommt er seine Einsicht und sein Verständnis wieder. Seine Kritik ist also keine selbständige, als solche zu respektierende Funktion, sie ist der Handlanger seiner affektiven Einstellungen und wird von seinem Widerstand dirigiert. Ist ihm etwas nicht recht, so kann er sich sehr scharfsinnig dagegen wehren und sehr kritisch erscheinen; paßt ihm aber etwas in seinen Kram, so kann er sich dagegen sehr leichtgläubig zeigen. Vielleicht sind wir alle nicht viel anders; der Analysierte zeigt diese Abhängigkeit des Intellekts vom Affektleben nur darum so deutlich, weil wir ihn in der Analyse in so große Bedrängnis bringen. Auf welche Weise tragen wir nun der Beobachtung Rechnung, daß sich der Kranke so energisch gegen die Abstellung seiner Symptome und die Herstellung eines normalen Ablaufes in seinen seelischen Vorgängen wehrt? Wir sagen uns, wir haben da starke Kräfte zu spüren bekommen, die sich einer Veränderung des Zustandes widersetzen; es müssen dieselben sein, die seinerzeit diesen Zustand erzwungen haben. Es muß bei der Symptombildung etwas vor sich gegangen sein, was wir nun aus unseren Erfahrungen bei der Symptomlösung rekonstruieren können. Wir wissen schon aus der Breuerschen Beobachtung, die
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
Existenz des Symptoms hat zur Voraussetzun~ daß irgendein seelischer Vorgang nicht in normaler Weise zu Ende geführt wurde, so daß er bewußt werden konnte. Das Symptom ist ein Ersatz für das, was da unterblieben ist. Nun wissen wir, an welche Stelle wir die vermutete Kraftwirkung zu versetzen haben. Es muß sich ein heftiges Sträuben dagegen erhoben haben, daß der fragliche seelische Vorgang bis zum Bewußtsein vordringe; er blieb darum unbewußt. Als Unbewußtes hatte er die Macht, ein Symptom zu bilden. Dasselbe Sträuben widersetzt sich während der analytischen Kur dem Bemühen, das Unbewußte ins Bewußte überzuführen, von neuern. Dies verspüren wir als Widerstand. Der pathogene Vorgan~ der uns durch den Widerstand erwiesen wird, soll den Namen Verdrängung erhalten. Über diesen Prozeß der Verdrängung müssen wir uns nun bestimmtere Vorstellungen machen. Er ist die Vorbedingung der Symptombildun~aber er ist auch etwas, wozu wir nichts Ähnliches kennen. Nehmen wir einen Impuls, einen seelischen Vorgang mit dem Bestreben, sich in eine Handlung umzusetzen, als Vorbild, so wissen wir, daß er einer Abweisung unterliegen kann, die wir Verwerfung oder Verurteilung heißen. Dabei wird ihm die Energie, über die er verfügt, entzogen, er wird machtlos, aber er kann als Erinnerung bestehen bleiben. Der ganze Vorgang der Entscheidung über ihn läuft unter dem Wissen des Ichs ab. Ganz anders, wenn wir uns denken, daß derselbe Impuls der Verdrängung unterworfen würde. Dann behielte er seine Energie und es würde keine Erinnerung an ihn übrig bleiben; auch würde sich der Vorgang der Verdrängung vom Ich unbemerkt vollziehen. Durch diese Vergleichung kommen wir dem Wesen der Verdrängung also nicht näher. Ich will Ihnen auseinandersetzen, welche theoretischen Vorstellungen sich allein brauchbar erwiesen haben, um den Begriff der Verdrängung an eine bestimmtere Gestalt zu binden. Es ist vor allem dazu notwendi~ daß wir von dem rein deskriptiven Sinn des Wortes "unbewußt" zum systematischen Sinn desselben Wortes fortschreiten, das heißt wir entschließen uns zu sagen, die Bewußtheit oder Unbewußtheit eines psychischen Vorganges ist nur eine der Eigenschaften desselben und nicht notwendig eine unzweideutige. Wenn ein solcher Vorgang unbewußt geblieben ist, so ist diese Abhaltung vom Bewußtsein vielleicht nur ein Anzeichen des Schicksals, das er erfahren hat, und nicht dieses Schicksal selbst. Um uns dieses Schicksal zu versinnlichen, nehmen wir an, daß jeder seelische Vorgang - es muß da eine später zu erwähnende Ausnahme zugege-
4.2 Widerstand und Verdrängung
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ben werden - zuerst in einem unbewußten Stadium oder Phase existiert und erst aus diesem in die bewußte Phase übergeht, etwa wie ein photographisches Bild zuerst ein Negativ ist und dann durch den Positivprozeß zum Bild wird. Nun muß aber nicht aus jedem Negativ ein Positiv werden, und ebensowenig ist es notwendig, daß jeder unbewußte Seelenvorgang sich in einen bewußten umwandle. Wir drücken uns mit Vorteil so aus, der einzelne Vorgang gehöre zuerst dem psychischen System des Unbewußten an und könne dann unter Umständen in das System des Bewußten übertreten. Die roheste Vorstellung von diesen Systemen ist die für uns bequemste; es ist die räumliche. Wir setzen also das System des Unbewußten einem großen Vorraum gleich, in dem sich die seelischen Regungen wie Einzelwesen tummeln. An diesen Vorraum schließe sich ein zweiter, engerer, eine Art Salon, in welchem auch das Bewußtsein verweilt. Aber an der Schwelle zwischen beiden Räumlichkeiten walte ein Wächter seines Amtes, der die einzelnen Seelenregungen mustert, zensuriert und sie nicht in den Salon einläßt, wenn sie sein Mißfallen erregen. Sie sehen sofort ein, daß es nicht viel Unterschied macht, ob der Wächter eine einzelne Regung bereits von der Schwelle abweist, oder ob er sie wieder über sie hinausweist, nachdem sie in den Salon eingetreten ist. Es handelt sich dabei nur um den Grad seiner Wachsamkeit und um sein frühzeitiges Erkennen. Das Festhalten an diesem Bilde gestattet uns nun eine weitere Ausbildung unserer Nomenklatur. Die Regungen im Vorraum des Unbewußten sind dem Blick des Bewußtseins, das sich ja im anderen Raum befindet, entzogen; sie müssen zunächst unbewußt bleiben. Wenn sie sich bereits zur Schwelle vorgedrängt haben und vom Wächter zurückgewiesen worden sind, dann sind sie bewußtseinsunfähig; wir heißen sie verdrängt. Aber auch die Regungen, welche der Wächter über die Schwelle gelassen, sind darum nicht notwendig auch bewußt geworden; sie können es bloß werden, wenn es ihnen gelingt, die Blicke des Bewußtseins auf sich zu ziehen. Wir heißen darum diesen zweiten Raum mit gutem Recht das System des Vorbewußten. Das Bewußtwerden behält dann seinen rein deskriptiven Sinn. Das Schicksal der Verdrängung besteht aber für eine einzelne Regung darin, daß sie vom Wächter nicht aus dem System des Unbewußten in das des Vorbewußten eingelassen wird. Es ist derselbe Wächter, den wir als Widerstand kennen lernen, wenn wir durch die analytische Behandlung die Verdrängung aufzuheben versuchen. [...]
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
4.3 Neurose und Psychose In dieser Arbeit bestimmt Freud als den allen Psychoneurosen und Psychosen gememsamenAusgangspunkt die Spannung, die durch "die Nichterfüllung eines jener ewig unbezwungenenKindheitswünsche, die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation wurzeln", ausgelöst wird. Die Differenz der Krankheitsbilder ergibt sich dann aufgrund unterschiedlicher Reaktionen auf die Zumutung, den - in jeder Kultur notwendigen (Kap. 6) - Triebverzicht zu ertragen. Freud verdeutlicht dies mit Verweis auf die Mittel der Regulation, die dem psychischen Apparat zur Verfügung stehen (Kap. 1), beziehungsweise mit Hinweis auf die damit einhergehenden Möglichkeiten. Konflikte, die mit dem Verzicht auf die Erfüllung elementarer Trieb-Wünsche verbunden sind" so zu handhaben. dass es zu keiner weiteren Selbst(be)schädigung kommen kann. Auf die Frage, "unter welchen Umständen und durch welche Mittel es dem Ich gelingt, aus solchen gewiß immer vorhandenen Konflikten ohne Erkrankung zu entkommen", gibt Freud die Antwort, das Ich könne entweder für Triebbefriedigung sorgen oder - alternativ dazu - den notwendigen Triebverzicht ertragen. wenn es genügend entwickelt und damit stark genug ist, in Spannungssituationen, die auf Konflikte zwischen Wunsch und Wunschverzicht zurückgehen, seine Einheitlichkeit zu bewahren. Auf theoretischer Ebene ergibt sich damit eine Verknüpfung zwischen der Triebtheorie und der Ich-Psychologie, die von manchen Nachfolgern Freuds noch besonders betont wurde (zum Beispiel: Reich, 1933), während andere sie wieder so weit gelockert haben (zum Beispiel: Hartmann, 1972), daß es am Ende zu einer gänzlichen Verwerfung der Triebtheorie kommen konnte. In diesem Zusammenhang ist sogar von der "Verflüchtigung des Sexuellen in der Psychoanalyse" (Parin, 1986) die Rede gewesen (vgl. Nitzschke, 2000).
rn
Freud, S. (1924b). Neurose und Psychose. GW XIII, S. 387-391.
In meiner kürzlich erschienenen Schrift "Das Ich und das Es" (Freud" 1923b) habe
ich eine Gliederung des seelischen Apparates angegeben. auf deren Grund sich eine Reihe von Beziehungen in einfacher und übersichtlicher Weise darstellen läßt. In anderen Punkten, zum Beispiel was die Herkunft und Rolle des ÜberIchs betrifft, bleibt genug des Dunkeln und Unerledigten. Man darf nun fordern,
4.3 Neurose und Psychose
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daß eine solche Aufstellung sich auch für andere Dinge als brauchbar und förderlich erweise, wäre es auch nur, um bereits Bekanntes in neuer Auffassung zu sehen, es anders zu gruppieren und überzeugender zu beschreiben. Mit solcher Anwendung könnte auch eine vorteilhafte Rückkehr von der grauen Theorie zur ewig grünenden Erfahrung verbunden sein. Am genannten Orte sind die vielfältigen Abhängigkeiten des Ichs geschildert, seine Mittelstellung zwischen Außenwelt und Es und sein Bestreben, all seinen Herren gleichzeitig zu Willen zu sein. Im Zusammenhange eines von anderer Seite angeregten Gedankenganges, der sich mit der Entstehung und Verhütung der Psychosen beschäftigte, ergab sich mir nun eine einfache Formel, welche die vielleicht wichtigste genetische Differenz zwischen Neurose und Psychose behandelt: die Neurose sei der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt. Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung, daß man gegen so einfache Problernlösungen mißtrauisch sein soll. Auch wird unsere äußerste Erwartung nicht weiter gehen, als daß diese Formel sich im Gröbsten als richtig erweise. Aber auch das wäre schon etwas. Man besinnt sich auch sofort an eine ganze Reihe von Einsichten und Funden, welche unseren Satz zu bekräftigen scheinen. Die Übertragungsneurosen entstehen nach dem Ergebnis aller unserer Analysen dadurch, daß das Ich eine im Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung befördern will, oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt. Das Ich erwehrt sich ihrer dann durch den Mechanismus der Verdrängung; das Verdrängte sträubt sich gegen dieses Schicksal, schafft sich auf Wegen, über die das Ich keine Macht hat, eine Ersatzvertretung, die sich dem Ich auf dem Wege des Kompromisses aufdrängt, das Symptom; das Ich findet seine Einheitlichkeit durch diesen Eindringling bedroht und geschädigt, setzt den Kampf gegen das Symptom fort, wie es sich gegen die ursprüngliche Triebregung gewehrt hatte, und dies alles ergibt das Bild der Neurose. Es ist kein Einwand, daß das Ich, wenn es die Verdrängung vornimmt, im Grunde den Geboten seines Über-Ichs folgt, die wiederum solchen Einflüssen der realen Außenwelt entstammen, welche im Über-Ich ihre Vertretung gefunden haben. Es bleibt doch dabei, daß das Ich sich auf die Seite dieser Mächte geschlagen hat, daß in ihm deren Anforderungen stärker sind als die Triebansprüche des Es, und daß das Ich die Macht ist, welche die Verdrängung gegen jenen Anteil des Es ins Werk
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
setzt und durch die Gegenbesetzung des Widerstandes befestigt. Im Dienste des Über-Ichs und der Realität ist das Ich in Konflikt mit dem Es geraten und dies ist der Sachverhalt bei allen Übertragungsneurosen. Auf der anderen Seite wird es uns ebenso leicht, aus unserer bisherigen Einsicht in den Mechanismus der Psychosen Beispiele anzuführen, welche auf die Störung des Verhältnisses zwischen Ich und Außenwelt hinweisen. Bei der Amentia Meynerts, der akuten halluzinatorischen Verworrenheit, der vielleicht extremsten und frappantesten Form von Psychose, wird die Außenwelt entweder gar nicht wahrgenommen oder ihre Wahrnehmung bleibt völlig unwirksam. Normalerweise beherrscht ja die Außenwelt das Ich auf zwei Wegen: erstens durch die immer von neuem möglichen aktuellen Wahrnehmungen, zweitens durch den Erinnerungsschatz früherer Wahrnehmungen, die als ,,Innenwelt" einen Besitz und Bestandteil des Ichs bilden. In der Amentia wird nun nicht nur die Annahme neuer Wahrnehmungen verweigert, es wird auch der Innenwelt, welche die Außenwelt als ihr Abbild bisher vertrat, die Bedeutung (Besetzung) entzogen; das Ich schafft sich selbstherrlich eine neue Außen- und Innenwelt und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen; daß diese neue Welt im Sinne der Wunschregungen des Es aufgebaut ist, und daß eine schwere, unerträglich erscheinende Wunschversagung der Realität das Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt ist. Die innere Verwandtschaft dieser Psychose mit dem normalen Traum ist nicht zu verkennen. Die Bedingung des Träumens ist aber der Schlafzustand, zu dessen Charakteren die volle Abwendung von Wahrnehmung und Außenwelt gehört. Von anderen Formen von Psychose, den Schizophrenien, weiß man, daß sie zum Ausgang in affektiven Stumpfsinn, das heißt zum Verlust alles Anteiles an der Außenwelt tendieren. Über die Genese der Wahnbildungen haben uns einige Analysen gelehrt, daß der Wahn wie ein aufgesetzter Fleck dort gefunden wird, wo ursprünglich ein Einriß in der Beziehung des Ichs zur Außenwelt entstanden war. Wenn die Bedingung des Konflikts mit der Außenwelt nicht noch weit auffälliger ist, als wir sie jetzt erkennen, so hat dies seinen Grund in der Tatsache, daß im Krankheitsbild der Psychose die Erscheinungen des pathogenen Vorganges oft von denen eines Heilungs- oder Rekonstruktionsversuches überdeckt werdenJs2] [52] Freud (1911c) hat einen solchen Rekonstruktionsversuch am Beispiel der autobiographischenAufzeichnungen (1903; Neuauflage 2003) des wahnkranken Daniel Paul Schreber dargestellt (s. Lothane, 2004).
4.3 Neurose und Psychose
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Die gemeinsame Ätiologie, für den Ausbruch einer Psychoneurose oder Psychose bleibt immer die Versagun~ die Nichterfüllung eines jener ewig unbezwungenen KindheitswÜTISche, die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation wurzeln. Diese Versagung ist im letzten Grunde immer eine äußere; im einzelnen Fall kann sie von jener inneren Instanz (im Über-Ich) ausgehen, welche die Vertretung der Realitätsforderung übernommen hat. Der pathogene Effekt hängt nun davon ab, ob das Ich in solcher Konfliktspannung seiner Abhängigkeit von der Außenwelt treu bleibt und das Es zu knebeln versucht, oder ob es sich vom Es überwältigen und damit von der Realität losreißen läßt. Eine Komplikation wird in diese anscheinend einfache Lage aber durch die Existenz des Über-Ichs eingetragen, welches in noch nicht durchschauter Verknüpfung Einflüsse aus dem Es wie aus der Außenwelt in sich vereinigt, gewissermaßen ein Idealvorbild für das ist, worauf alles Streben des Ichs abzielt, die Versöhnung seiner mehrfachen Abhängigkeiten. Das Verhalten des Über-Ichs wäre, was bisher nicht geschehen ist, bei allen Formen psychischer Erkrankung in Betracht zu ziehen. Wir können aber vorläufig postulieren, es muß auch Affektionen geben, denen ein Konflikt zwischen Ich und Über-Ich zugrunde liegt. Die Analyse gibt uns ein Recht anzunehmen, daß die Melancholie ein Muster dieser Gruppe ist, und dann würden wir für solche Störungen den Namen "narzißtische Psychoneurosen" in Anspruch nehmen. Es stimmt ja nicht übel zu unseren Eindrücken, wenn wir Motive finden, Zustände wie die Melancholie von den anderen Psychosen zu sondern. Dann merken wir aber, daß wir unsere einfache genetische Formel vervollständigen konnten, ohne sie fallen zu lassen. Die Übertragungsneurose entspricht dem Konflikt zwischen Ich und Es, die narzißtische Neurose dem zwischen Ich und Über-Ich, die Psychose dem zwischen Ich und Außenwelt. Wir wissen freilich zunächst nicht zu sagen, ob wir wirklich neue Einsichten gewonnen oder nur unseren Formelschatz bereichert haben, aber ich meine, diese Anwendungsmöglichkeit muß uns doch Mut machen, die vorgeschlagene Gliederung des seelischen Apparates in Ich, Über-Ich und Es weiter im Auge zu behalten. Die Behauptun~ daß Neurosen und Psychosen durch die Konflikte des Ichs mit seinen verschiedenen herrschenden Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen in der Funktion des Ichs entsprechen, das doch das Bemühen zeigt, all die verschiedenen Ansprüche miteinander zu versöhnen, fordert eine andere Erörterung zu ihrer Ergänzung heraus. Man möchte wissen, unter welchen
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
Umständen und durch welche Mittel es dem Ich gelingt, aus solchen gewiß immer vorhandenen Konflikten ohne Erkrankung zu entkommen. Dies ist nun ein neues Forschungsgebiet, auf dem sich gewiß die verschiedensten Faktoren zur Berücksichtigung einfinden werden. Zwei Momente lassen sich aber sofort herausheben. Der Ausgang aller solchen Situationen wird unzweifelhaft von ökonomischen Verhältnissen, von den relativen Größen der miteinander ringenden Strebungen abhängen. Und ferner: es wird dem Ich möglich sein, den Bruch nach irgendeiner Seite dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst deformiert, sich Einbußen an seiner Einheitlichkeit gefallen läßt, eventuell sogar sich zerklüftet oder zerteilt. Damit rückten die Inkonsequenzen, Verschrobenheiten und Narrheiten der Menschen in ein ähnliches Licht wie ihre sexuellen Perversionen, durch deren Annahme sie sich ja Verdrängungen ersparen. Zum Schlusse ist der Frage zu gedenken, welches der einer Verdrängung analoge Mechanismus sein mag, durch den das Ich sich von der Außenwelt ablöst. Ich meine, dies ist ohne neue Untersuchungen nicht zu beantworten, aber er müßte, wie die Verdrängung, eine Abziehung der vom Ich ausgeschickten Besetzung zum Inhalt haben.
4.4 Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose In diesem Text spezifiziert Freud die Strategien des Rückzugs in die Innenwelt-Rea-
lität (vgl. Nitzschke, 1978), die immer dann zum Tragen kommen, wenn die Außenwelt-Realität als zu belastend erlebt wird und keine Mittel zur Verfügung stehen, sie wunschgemäß zu verändern. Dieser Rückzug in die Innenwelt soll dann die in der Außenwelt nicht erreichte Wunscherfüllung auf phantastische Weise ermöglichen, aber auch Wiedergutmachung und Entschädigung für das in der Außenwelt Erlittene liefern. Verselbständigen sich derartige Heilungs- und Rekonstruktionsversuche (Freud, 1924b) in einer neurotischen oder psychotischen Symptomatik, so führt dieser Weg, der ursprünglich Schutz und Entlastung bringen sollte, in die - nun weiter schädigende - soziale Isolation. Bei Freud heißt es dazu: "Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten. [...] die Abkehr von der Realität ist gleichzeitig ein Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft" (1912-13a, S. 92). Freud hat diesen Austritt mit dem Eintritt
4.4 Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose
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in ein Kloster verglichen: "Die Neurose vertritt in unserer Zeit das Klostel1 in welches sich alle die Personen zurückzuziehen pflegten, die das Leben enttäuscht hatte, oder die sich für das Leben zu schwach fühlten" (1910a, S. 54). Durch diese "Flucht in die Krankheit" (1916-17a, S. 397) geht nun aber die Bindung an andere Menschen immer mehr verloren - und deshalb kann man die Wiederherstellung solcher Bindungen mit Hilfe eines weiterentwickelten und für die Behauptung in der Außenwelt gestärkten Ichs als das allgemeine Ziel der psychoanalytischen Behandlung bezeichnen.
Freud, S. (1924e). Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. GW XIII, S. 363-368. Ich habe kürzlich (Freud, 1924b) einen der unterscheidenden Züge zwischen Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das Ich in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es (frieblebens) unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der Psychose im Dienste des Es von einem Stück der Realität zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht des Realeinflusses, für die Psychose die des Es maßgebend. Der Realitätsverlust wäre für die Psychose von vomeherein gegeben; für die Neurose, sollte man meinen, wäre er vermieden. Das stimmt nun aber gar nicht zur Erfahrung, die wir alle machen können, daß jede Neurose das Verhältnis des Kranken zur Realität irgendwie stört, daß sie ihm ein Mittel ist, sich von ihr zurückzuziehen und in ihren schweren Ausbildungen direkt eine Flucht aus dem realen Leben bedeutet. Dieser Widerspruch erscheint bedenklich, allein er ist leicht zu beseitigen und seine Aufklärung wird unser Verständnis der Neurose nur gefördert haben. Der Widerspruch besteht nämlich nur so lange, als wir die Eingangssituation der Neurose ins Auge fassen, in welcher das Ich im Dienst der Realität die Verdrängung einer Triebregung vornimmt. Das ist aber noch nicht die Neurose selbst. Diese besteht vielmehr in den Vorgängen, welche dem geschädigten Anteil des Es eine Entschädigung bringen, also in der Reaktion gegen die Verdrängung und im Mißglücken derselben. Die Lockerung des Verhältnisses zur Realität ist dann die Folge dieses zweiten Schrittes in der Neurosenbildung und es sollte uns nicht verwundern, wenn die Detailuntersuchung zeigte, daß der
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
Realitätsverlust gerade jenes Stück der Realität betrifft, über dessen Anforderung die Triebverdrängung erfolgte. Die Charakteristik der Neurose als Erfolg einer mißglückten Verdrängung ist nichts Neues. Wir haben es immer so gesagt und nur infolge des neuen Zusammenhanges war es notwendig, es zu wiederholen. Das nämliche Bedenken wird übrigens in besonders eindrucksvoller Weise wiederauftreten, wenn es sich um einen Fall von Neurose handelt, dessen Veranlassung ("die traumatische Szene") bekannt ist und an dem man sehen kann, wie sich die Person von einem solchen Erlebnis abwendet und es der Amnesie überantwortet. Ich will zum Beispiel auf einen vor langen Jahren analysierten Fall zurückgreifen (Freud, 1895d, S. 221 f [Die entsprechende Szene betrifft den Fall "Fräulein Elisabeth v. R."]), in dem das in ihren Schwager verliebte Mädchen am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird: Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird sofort vergessen und damit der Regressionsvorgang eingeleitet, der zu den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber gerade hier lehrreich, zu sehen, auf welchem Wege die Neurose den Konflikt zu erledigen versucht. Sie entwertet die reale Veränderung, indem sie den in Betracht kommenden Triebanspruch, also die Liebe zum Schwager, verdrängt. Die psychotische Reaktion wäre gewesen, die Tatsache des Todes der Schwester zu verleugnen. Man könnte nun erwarten, daß sich bei der Entstehung der Psychose etwas dem Vorgang bei der Neurose Analoges ereignet, natürlich zwischen anderen Instanzen. Also daß auch bei der Psychose zwei Schritte deutlich werden, von denen der erste das Ich diesmal von der Realität losreißt, der zweite aber den Schaden wieder gutmachen will und nun die Beziehung zur Realität auf Kosten des Es wiederherstellt. Wirklich ist auch etwas Analoges an der Psychose zu beobachten; es gibt auch hier zwei Schritte, von denen der zweite den Charakter der Reparation an sich trägt, aber dann weicht die Analogie einer viel weiter gehenden Gleichsinnigkeit der Vorgänge. Der zweite Schritt der Psychose will auch den Realitätsverlust ausgleichen, aber nicht auf Kosten einer Einschränkung des Es, wie bei der Neurose auf Kosten der Realbeziehung, sondern auf einem anderen, mehr selbstherrlichen Weg durch Schöpfung einer neuen Realität, welche nicht mehr den nämlichen Anstoß bietet wie die verlassene. Der zweite Schritt wird also bei der Neurose wie bei der Psychose von denselben Tendenzen ge-
4.4 Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose
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tragen, er dient in beiden Fällen dem Machtbestreben des Es, das sich von der Realität nicht zwingen läßt. Neurose wie Psychose sind also beide Ausdruck der Rebellion des Es gegen die Außenwelt, seiner Unlust oder wenn man will, seiner Unfähigkeit, sich der realen Not, der ,AvllYJCT)', anzupassen. Neurose und Psychose unterscheiden sich weit mehr von einander in der ersten einleitenden Reaktion als in dem auf sie folgenden Reparationsversuch. Der anfängliche Unterschied kommt dann im Endergebnis in der Art zum Ausdruck, daß bei der Neurose ein Stück der Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber umgebaut wird. Oder: bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht eine aktive Phase des Umbaues, bei der Neurose auf den anfänglichen Gehorsam ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch anders ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen. Normal oder "gesund" heißen wir ein Verhalten, welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige, normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren Arbeitsleistung an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei der Psychose mit der Herstellung innerer Veränderungen; es ist nicht mehr autoplastisch, sondern alloplastisch. Die Umarbeitung der Realität geschieht bei der Psychose an den psychischen Niederschlägen der bisherigen Beziehungen zu ihr, also an den Erinnerungsspuren, Vorstellungen und Urteilen, die man bisher von ihr gewonnen hatte und durch welche sie im Seelenleben vertreten war. Aber diese Beziehung war nie eine abgeschlossene, sie wurde fortlaufend durch neue Wahrnehmungen bereichert und abgeändert. Somit stellt sich auch für die Psychose die Aufgabe her, sich solche Wahrnehmungen zu verschaffen, wie sie der neuen Realität entsprechen würden, was in gründlichster Weise auf dem Wege der Halluzination erreicht wird. Wenn die Erinnerungstäuschungen, Wahnbildungen und Halluzinationen bei so vielen Formen und Fällen von Psychose den peinlichsten Charakter zeigen und mit Angstentwicklung verbunden sind, so ist das wohl ein Anzeichen dafür, daß sich der ganze Umbildungsprozeß gegen heftig widerstrebende Kräfte vollzieht. Man darf sich den Vorgang nach dem uns besser bekannten Vorbild der Neurose konstruieren. Hier sehen wir, daß jedesmal mit Angst reagiert wird, so oft der verdrängte Trieb einen Vorstoß macht, und daß das Ergebnis des Konflikts doch nur ein Kompromiß und als Befriedigung un-
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
vollkommen ist. Wahrscheinlich drängt sich bei der Psychose das abgewiesene Stück der Realität immer wieder dem Seelenleben auf, wie bei der Neurose der verdrängte Trieb, und darum sind auch die Folgen in beiden Fällen die gleichen. Die Erörterung der verschiedenen Mechanismen, welche bei den Psychosen die Abwendung von der Realität und den Wiederaufbau einer solchen bewerkstelligen sollen, so wie des Ausmaßes von Erfolg, das sie erzielen können, ist eine noch nicht in Angriff genommene Aufgabe der speziellen Psychiatrie. Es ist also eine weitere Analogie zwischen Neurose und Psychose, daß bei beiden die Aufgabe, die im zweiten Schritt in Angriff genommen wird, teilweise mißlingt, indem sich der verdrängte Trieb keinen vollen Ersatz schaffen kann (Neurose) und die Realitätsvertretung sich nicht in die befriedigenden Formen umgießen läßt. (Wenigstens nicht bei allen Formen der psychischen Erkrankungen.) Aber die Akzente sind in den zwei Fällen anders verteilt. Bei der Psychose ruht der Akzent ganz auf dem ersten Schritt, der an sich krankhaft ist und nur zu Kranksein führen kann, bei der Neurose hingegen auf dem zweiten, dem Mißlingen der Verdrängung, während der erste Schritt gelingen kann und auch im Rahmen der Gesundheit ungezählte Male gelungen ist, wenn auch nicht ganz ohne Kosten zu machen und Anzeichen des erforderten psychischen Aufwandes zu hinterlassen. Diese Differenzen und vielleicht noch viele andere sind die Folge der topischen Verschiedenheit in der Ausgangssituation des pathogenen Konflikts, ob das Ich darin seiner Anhänglichkeit an die reale Welt oder seiner Abhängigkeit vom Es nachgegeben hat. Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das betreffende Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das Zusammentreffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unterschied zwischen Neurose und Psychose wird aber dadurch abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt, die unerwünschte Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen. Die Möglichkeit hierzu gibt die Existenz einer Phantasiewelt, eines Gebietes, das seinerzeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der realen Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer "Schonung" von den Anforderungen der Lebensnotwendigkeit frei gehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich ist, aber ihm nur lose anhängt. Aus dieser Phantasiewelt entnimmt die Neurose das Material für ihre Wunschneubildungen und findet es dort gewöhnlich auf dem Wege der Regression in eine befriedigendere reale Vorzeit.
4.5 Die Ichspaltung im Abwehrvorgang
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Es ist kaum zweife1ha.ft, daß die Phantasiewelt bei der Psychose die nämliche Rolle spielt, daß sie auch hier die Vorratskammer darstellt, aus der der Stoff oder die Muster für den Aufbau der neuen Realität geholt werden. Aber die neue phantastische Außenwelt der Psychose will sich an die Stelle der äußeren Realität setzen, die der Neurose hingegen lehnt sich wie das Kinderspiel gern an ein Stück der Realität an - ein anderes als das, wogegen sie sich wehren mußte, - verleiht ihm eine besondere Bedeutung und einen geheimen Sinn, den wir nicht immer ganz zutreffend einen symbolischen heißen. So kommt für heide, Neurose wie Psychose, nicht nur die Frage des Realitätsverlustes, sondern auch die eines Realitätsersatzes in Betracht.
4.5 Die Ichspaltung im Abwehrvorgang
Im Mittelpunkt dieser 1938 niedergeschriebenen, jedoch erst posthum veröffentlichten Notiz steht die Frage nach der "so außerordentlich wichtige[n] synthetische[n] Funktion des Ichs". Damit stellt Freud noch ein letztes Mal die Frage, die ihn zeitlebens beschäftigt hatte: Wie ist die Einheit der Person möglich? Schon in einer seiner ersten Arbeiten, in der er über die Behandlung einer Patientin berichtet, deren bewusster W111e durch einen für sie unerklärlichen "Gegenwillen" gehemmt war, hatte er sich mit der "Dissoziation des Bewußtseins" (1892-93a, S. 10) beschäftigt. Nach Jahrzehnten der Erfahrung in der psychoanalytischer Praxis spricht er nun von IIIchspaltung", die zustande komme, wenn eine Bedrohung (hier: die Kastration) sowohl akzeptiert wie geleugnet werde. Bei dieser gleichzeitigen Bejahung und Vemeinung spielt der Fetisch (Freud, 1927e) als Zeichen vermeintlicher Unversehrtheit eine wichtige Rolle.
_~ Freud, 5. (1940e). Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. GW XVII, 5.59-62.
Ich befinde mich einen Moment lang in der interessanten Lage nicht zu wissen, ob das, was ich mitteilen will, als längst bekannt und selbstverständlich oder als völlig neu und befremdend gewertet werden soll. Ich glaube aber eher das letztere.
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
Es ist mir endlich aufgefallen, daß das jugendliche Ich der Person, die man Jahrzehnte später als analytischen Patienten kennen lernt, sich in bestimmten Situationen der Bedrängnis in merkwürdiger Weise benommen hat. Die Bedingung hierfür kann man allgemein und eher unbestimmt angeben, wenn man sagt, es geschieht unter der Einwirkung eines psychischen Traumas. Ich ziehe es vor, einen scharf umschriebenen Einzelfall hervorzuheben, der gewiß nicht alle Möglichkeiten der Verursachung deckt. Das Ich des Kindes befinde sich also im Dienste eines mächtigen Triebanspruchs, den zu befriedigen es gewohnt ist, und wird plötzlich durch ein Erlebnis geschreckt, das ihn lehrt, die Fortsetzung dieser Befriedigung werde eine schwer erträgliche Gefahr zur Folge haben. Es soll sich nun entscheiden: entweder die reale Gefahr anerkennen, sich vor ihr beugen und auf die Triebbefriedigung verzichten, oder die Realität verleugnen, sich glauben machen, daß kein Grund zum Fürchten besteht, damit es an der Befriedigung festhalten kann. Es ist also ein. Konflikt zwischen dem Anspruch des Triebes und dem Einspruch der Realität. Das Kind tut aber keines von beiden, oder vielmehr, es tut gleichzeitig beides, was auf dasselbe hinauskommt. Es antwortet auf den Konflikt mit zwei entgegengesetzten Reaktionen, beide gültig und wirksam. Einerseits weist es mit Hilfe bestimmter Mechanismen die Realität ab und läßt sich nichts verbieten, anderseits anerkennt es im gleichen Atem die Gefahr der Realität, nimmt die Angst vor ihr als Leidenssymptom auf sich und sucht sich später ihrer zu erwehren. Man muß zugeben, das ist eine sehr geschickte Lösung der Schwierigkeit. Beide streitende Parteien haben ihr Teil bekommen; der Trieb darf seine Befriedigung behalten, der Realität ist der gebührende Respekt gezollt worden. Aber umsonst ist bekanntlich nur der Tod. Der Erfolg wurde erreicht auf Kosten eines Einrisses im Ich, der nie wieder verheilen, aber sich mit der Zeit vergrößern wird. Die beiden entgegengesetzten Reaktionen auf den Konflikt bleiben als Kern einer Ichspaltung bestehen. Der ganze Vorgang erscheint uns so sonderbar, weil wir die Synthese der Ichvorgänge für etwas Selbstverständliches halten. Aber wir haben offenbar darin Unrecht. Die so außerordentlich wichtige synthetische Funktion des Ichs hat ihre besonderen Bedingungen und unterliegt einer ganzen Reihe von Störungen. Es kann nur von Vorteil sein, wenn ich in diese schematische Darstellung die Daten einer besonderen Krankengeschichte einsetze. Ein Knabe hat im Alter zwischen drei und vier Jahren das weibliche Genitale kennen gelernt durch
4.5 Die Ichspaltung im Abwehrvorgang
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Verführung von Seiten eines älteren Mädchens. Nach Abbruch dieser Beziehungen setzt er die so empfangene sexuelle Amegung in eifriger manueller Onanie fort, wird aber bald von der energischen Kinderpflegerin ertappt und mit der Kastration bedroht, deren Ausführung, wie gewöhnlich, dem Vater zugeschoben wird. Die Bedingungen für eine ungeheure Schreckwirkung sind in diesem Falle gegeben. Die Kastrationsdrohung für sich allein muß nicht viel Eindruck machen, das Kind verweigert ihr den Glauben, es kann sich nicht leicht vorstellen, daß eine Trennung von dem so hoch eingeschätzten Körperteil möglich ist. Beim Anblick des weiblichen Genitales hätte sich das Kind von einer solchen Möglichkeit überzeugen können, aber das Kind hatte damals den Schluß nicht gezogen, weil die Abneigung dagegen zu groß und kein Motiv vorhanden war, das ihn erzwang. Im Gegenteile, was sich etwa an Unbehagen regte, wurde durch die Auskunft beschwichtigt, was da fehlt, wird noch kommen, es - das Glied - wird ihr später wachsen. Wer genug kleine Knaben beobachtet hat, kann sich an eine solche Äußerung beim Anblick des Genitales der kleinen Schwester erinnern. Anders aber, wenn beide Momente zusammengetroffen sind. Dann weckt die Drohung die Erinnerung an die für harmlos gehaltene Wahrnehmung und findet in ihr die gefürchtete Bestätigung. Der Knabe glaubt jetzt zu verstehen, warum das Genitale des Mädchens keinen Penis zeigte, und wagt es nicht mehr zu bezweifeln, daß seinem eigenen Genitale das Gleiche widerfahren kann. Er muß fortan an die Realität der Kastrationsgefahr glauben. Die gewöhnliche, die als normal geltende Folge des Kastrationsschrecks ist nun, daß der Knabe der Drohung nachgibt, im vollen oder wenigstens im partiellen Gehorsam - indem er nicht mehr die Hand ans Genitale führt - entweder sofort oder nach längerem Kampf, also auf die Befriedigung des Triebes ganz oder teilweise verzichtet. Wir sind aber darauf vorbereitet, daß unser Patient sich anders zu helfen wußte. Er schuf sich einen Ersatz für den vermißten Penis des Weibes, einen Fetisch. Damit hatte er zwar die Realität verleugnet, aber seinen eigenen Penis gerettet. Wenn er nicht anerkennen mußte, daß das Weib ihren Penis verloren hatte, so büßte die ihm erteilte Drohung ihre Glaubwürdigkeit ein, dann brauchte er auch für seinen Penis nicht zu fürchten, konnte ungestört seine Masturbation fortsetzen. Dieser Akt unseres Patienten imponiert uns als eine Abwendung von der Realität, als ein Vorgang, den wir gern der Psychose vorbehalten möchten. Er ist auch nicht viel
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4. Wunsch - Abwehr - Symptom
anders, aber wir wollen doch unser Urteil suspendieren, denn bei näherer Betrachtung entdecken wir einen nicht unwichtigen Unterschied. Der Knabe hat nicht einfach seiner Wahrnehmung widersprochen, einen Penis dorthin halluziniert, wo keiner zu sehen war, sondern er hat nur eine Wertverschiebung vorgenommen, die Penisbedeutung einem anderen Körperteil übertragen, wobei ihm - in hier nicht anzuführender Weise - der Mechanismus der Regression zu Hilfe kam. Freilich betraf diese Verschiebung nur den Körper des Weibes, für den eigenen Penis änderte sich nichts. Diese, man möchte sagen, kniffige Behandlung der Realität entscheidet über das praktische Benehmen des Knaben. Er betreibt seine Masturbation weiter, als ob sie seinem Penis keine Gefahr bringen könnte, aber gleichzeitig entwickelt er in vollem Widerspruch zu seiner anscheinenden Tapferkeit oder Unbekümmertheit ein Symptom, welches beweist, daß er diese Gefahr doch anerkennt. Es ist ihm angedroht worden, daß der Vater ihn kastrieren wird, und unmittelbar nachher, gleichzeitig mit der Schöpfung des Fetisch, tritt bei ihm eine intensive Angst vor der Bestrafung durch den Vater auf, die ihn lange beschäftigen wird, die er nur mit dem ganzen Aufwand seiner Männlichkeit bewältigen und überkompensieren kann. Auch diese Angst vor dem Vater schweigt von der Kastration. Mit Hilfe der Regression auf eine orale Phase erscheint sie als Angst, vom Vater gefressen zu werden. Es ist unmöglich, hier nicht eines urtümlichen Stücks der griechischen Mythologie zu gedenken, das berichtet, wie der alte Vatergott Kronos seine Kinder verschlingt und auch den jüngsten Sohn Zeus verschlingen will, und wie der durch die List der Mutter gerettete Zeus später den Vater entmannt. Um aber zu unserem Fall zurückzukehren, fügen wir hinzu, daß er noch ein anderes, wenn auch geringfügiges Symptom produzierte, das er bis auf den heutigen Tag festgehalten hat, eine ängstliche Empfindlichkeit seiner beiden kleinen Zehen gegen Berührung, als ob in dem sonstigen Hin und Her von Verleugnung und Anerkennung der Kastration doch noch ein deutlicherer Ausdruck zukäme....
5.
Übertragen - Erinnern - Bewältigen Freuds Behandlungskonzept
Im Dezember 1904 hielt Freud vor dem "Wiener medizinischen Doktorenkollegium" einen Vortrag, in dem er feststellte, es gebe"viele Arten und Wege der Psychotherapie". Er fuhr fort: "Alle sind gut, die zum Ziel der Heilung führen." Dann hob er die hypnotische Suggestion hervor, die er anfangs selbst praktiziert hatte, und benannte die Techniken der "Psychotherapie durch Ablenkung, durch Übung, durch Hervorrufung zweckdienlicher Affekte". "Ich verachte keine derselben und würde sie alle unter geeigneten Bedingungen ausüben", setzte er hinzu (1905a, S. 16). Schließlich hätten diese und andere psychotherapeutische Methoden dasselbe Ziel wie das psychoanalytische Verfahren: die Beseitigung der Symptome. Es gebe jedoch einen gravierenden Unterschied. Denn anders als die genannten Verfahren beruhe das von ihm entwickelte Behandlungskonzept nicht darauf, die Symptome so rasch wie möglich wieder zum Verschwinden zu bringen; vielmehr bemühe man sich erst einmal darum, mit Hilfe der Methode der freien Assoziation und anderen Techniken die Genese der Symptome so genau wie möglich zu rekonstruieren. So lassen sich die Erlebnisse, die bislang in den Symptomen gebunden waren, Schritt für Schritt in der Beziehung zum Analytiker zur Sprache bringen. So gewinnen sie eine neue Ausdrucksform. Und so lässt sich zwischen den pathogenen Ideen und dem übrigen - normal genannten - Seelenleben ein Zusammenhang herstellen. Diese neue Erfahrung im Umgang mit altem Leid ist das Spezifische des psychoanalytischen Behandlungskonzepts: die bislang pathogen wirksamen Inhalte werden als sinnreiche Botschaften dechiffriert, und die zugehörigen Affekte werden nicht sofort abreagiert, sondern in einer nach therapeutischen Gesichtspunkten (psychoanalytisches Setting) angeordnet Beziehung in der Art beWältigt, die erforderlich ist, um den Aufbau beziehungsweise die Weiterentwicklung psychischer Strukturen (Ich und Über-Ich) zu ermöglichen. So verstanden und gedeutet sind die entsprechenden Vorstellungsinhalte dann auch in die erinnerbare Lebensgeschichte zu integrieren.
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
Dass dies alles hier und jetzt in der Beziehung zwischen zwei Menschen stattfindet (vgl. Hoffmann, 1983, Mertens, 1990 f.), betonte Freud, als er auf die Gefühlssituation zu sprechen kam, in der sich der Patient befindet: "Die Mitteilungen, deren die Analyse bedarf, macht er nur unter der Bedingung einer besonderen Gefühlsbindung an den Arzt; [...] diese Mitteilungen betreffen das Intimste seines Seelenlebens, alles was er als sozial selbständige Person vor anderen verbergen muss, und im weiteren alles, was er als einheitliche Persönlichkeit [gemeint ist hier das vom Patienten akzeptierte Selbstbild] sich selbst nicht eingestehen will" (1916-17a, S. 10), äußert der Patient nur dann, wenn er Vertrauen zum Arzt gefasst hat und sich so immer mehr den Anteilen seines Erlebens annähern kann, die er bislang abwehren musste. Wenn die Ängste, die der Analysand in die Beziehung zum Analytiker überträgt, so durchgearbeitet werden können, dass eine Weiterentwicklung möglich wird (vgl. Tyson & Tyson, 1997; Seiffge-Krenke, 2004; Döll-Hentschker, 2008), führt dies auch dazu, dass die bislang abgewehrten (Beziehungs-)Wünsche des Analysanden ihre triebhafte Gestalt verlieren. Bei dieser Transformation spielen die Informationen (Deutungen), die der Analytiker gibt, eine wichtige Rolle. Doch Worte sind nicht nur Worte. Worte werden auch von Affekten begleitet. Und deshalb kommt es darauf an, in welchem Ton sie vorgetragen werden (Nitzschke, 1984). "Worte rufen Affekte hervor" (Freud, 1916-17a, S. 10). Deshalb sind sie "das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung", wie Freud (1890a, S. 289) bereits bemerkte, als er noch mit Hypnose und Suggestion arbeitete. Kurze Zeit später stellte er fest: "Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann ,ausgesprochen' werden" (1895d, S. 85). An dieser Überzeugung hielt Freud fest. Und deshalb ist aus seiner Sicht die Übertragung - sprich: die leidenschaftliche Reproduktion der (infantilen) Affekte des Analysanden in der Beziehung zum Analytiker - der Dreh- und Angelpunkt der psychoanalytischen Therapie, was die nachfolgenden Texte verdeutlichen sollen.
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten Kurz nach Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1910 beginnt Freud mit der Publikation einer Reihe von Arbeiten (1911e, 1912b, 1912e, 1913c, 1914g, 1915a), in denen er die wichtigsten Aspekte der psychoanalytischen
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
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Behand1ungstechnikerläutert. Die hier abgedruckte Abhandlung ist aus zwei Gründen von besonderer Bedeuhmg: Zum einen stellt Freud im Rückblick auf die Entwicklung, die er selbst zurückgelegt hat. hier noch einmal dar, wie eng die psychoanalytische Krankheitslehre (Kap. 4) mit dem Behandlungskonzept verknüpft ist; und zum anderen gibt er durch die Einführung des Begriffs"Wiederholungszwang" einen ersten Hinweis auf die 1920 revidierte Triebtheorie (Kap. 1), in der Eros und Thanatos durch das gemeinsame - wenngleich unterschiedlich in Szene gesetzte - Bestreben charakterisiert werden. Vergangenes zu wiederholen. um Früheres wiederherzustellen. Ja, auch der Wiederholungszwang basiert -laut Freud - auf einem Wunsch! Zur Verhinderung der pathologischen Konsequenzen dieses Begehrens schlägt Freud das Durcharbeiten der gegen die Erinnerungen, die unlustvolle Affekte hervorrufen könnten. gerichteten Widerstände vor. Die überwindung dieser Widerstände geht einher mit der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip (Kap. 1). "Als eine solche Nacherziehung zur überwindung innerer Widerstände können Sie nun die psychoanalytische Behandlung ganz allgemein auffassen [...]" (1910a, S. 24 f.). Bleibt anzumerken, dass der Widerstand in der Behandlungssituation zwar vom Patienten ausgeht; er kann aber auch von dessen Familienangehörigen (oder Lebenspartner) geleistet werden. soweit die Stabilität des Herkunftsfamilie (oder die der gegenwärtigen Beziehung) von der Eignung des Patienten als Sündenbock und damit von dessen Erkrankung abhängt: "Wer überhaupt weiß, von weichen Spaltungen oft eine Familie zerklüftet wird, der kann auch als Analytiker nicht von der Wahrnehmung überrascht werden", dass die Familienangehörigen des Patienten "mihmter weniger Interesse daran verraten. daß er gesund werde, als daß er so bleibe, wie er ist" (Freud, 1916-17a, S. 478).
W Freud, 8. (1914g). Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. GW X, 8.126-139.
Es scheint mir nicht überflüssig, den Lernenden immer wieder daran zu mahnen. welche tiefgreifenden Veränderungen die psychoanalytische Technik seit ihren ersten Anfängen erfahren hat. Zuerst. in der Phase der Breuerschen Katharsis, die direkte Einstellung des Moments der Symptombildung und das konsequent festgehaltene Bemühen. die psychischen Vorgänge jener Situation reproduzieren zu lassen. um sie zu einem Ablauf durch bewußte Tätigkeit zu leiten. Erinnern und Abreagieren waren damals die mit Hilfe des hypnotischen
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
Zustandes zu erreichenden Ziele. Sodann, nach dem Verzicht auf die Hypnose, drängte sich die Aufgabe vor, aus den freien Einfällen des Analysierten zu erraten, was er zu erinnern versagte. Durch die Deutungsarbeit und die Mitteilung ihrer Ergebnisse an den Kranken sollte der Widerstand umgangen werden; die Einstellung auf die Situationen der Symptombildung und jene anderen, die sich hinter dem Momente der Erkrankung ergaben, blieb erhalten, das Abreagieren trat zurück und schien durch den Arbeitsaufwand ersetzt, den der Analysierte bei der ihm aufgedrängten Überwindung der Kritik gegen seine Einfälle (bei der Befolgung der [psychoanalytischen] Grundregel) zu leisten hatte. Endlich hat sich die konsequente heutige Technik herausgebildet, bei welcher der Arzt auf die Einstellung eines bestimmten Moments oder Problems verzichtet, sich damit begnügt, die jeweilige psychische Oberfläche des Analysierten zu studieren und die Deutungskunst wesentlich dazu benützt, um die an dieser hervortretenden Widerstände zu erkennen und dem Kranken bewußt zu machen. Es stellt sich dann eine neue Art von Arbeitsteilung her: der Arzt deckt die dem Kranken unbekannten Widerstände auf; sind diese erst bewältigt, so erzählt der Kranke oft ohne alle Mühe die vergessenen Situationen und Zusammenhänge. Das Ziel dieser Techniken ist natürlich unverändert geblieben. Deskriptiv: die Ausfüllung der Lücken der Erinnerung, dynamisch: die Überwindung der Verdrängungswiderstände. Man muß der alten hypnotischen Technik dankbar dafür bleiben, daß sie uns einzelne psychische Vorgänge der Analyse in Isolierung und Schematisierung vorgeführt hat. Nur dadurch konnten wir den Mut gewinnen, komplizierte Situationen in der analytischen Kur selbst zu schaffen und durchsichtig zu erhalten. Das Erinnern gestaltete sich nun in jenen hypnotischen Behandlungen sehr einfach. Der Patient versetzte sich in eine frühere Situation, die er mit der gegenwärtigen niemals zu verwechseln schien, teilte die psychischen Vorgänge derselben mit, soweit sie normal geblieben waren, und fügte daran, was sich durch die Umsetzung der damals unbewußten Vorgänge in bewußte ergeben konnte. Ich schließe hier einige Bemerkungen an, die jeder Analytiker in seiner Erfahrung bestätigt gefunden hat. Das Vergessen von Eindrücken, Szenen, Erlebnissen reduziert sich zumeist auf eine "Absperrung" derselben. Wenn der Patient von diesem"Vergessenen" spricht, versäumt er selten, hinzuzufügen: das habe ich eigentlich immer gewußt, nur nicht daran gedacht. Er äußert nicht selten
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
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seine Enttäuschung darüber, daß ihm nicht genug Dinge einfallen wollen, die er als"vergessen" anerkennen kann, an die er nie wieder gedacht, seitdem sie vorgefallen sind. Indes findet auch diese Sehnsucht, zumal bei Konversionshysterien, ihre Befriedigung. Das "Vergessen" erfährt eine weitere Einschränkung durch die Würdigung der so allgemein vorhandenen Deckerinnerungen (Freud, 1899a). In manchen Fällen habe ich den Eindruck empfangen, daß die bekannte, für uns theoretisch so bedeutsame Kindheitsamnesie durch die Deckerinnerungen vollkommen aufgewogen wird. In diesen ist nicht nur einiges Wesentliche aus dem Kindheitsleben erhalten, sondern eigentlich alles Wesentliche. Man muß nur verstehen, es durch die Analyse aus ihnen zu entwickeln. Sie repräsentieren die vergessenen Kinderjahre so zureichend wie der manifeste Trauminhalt die Traumgedanken. Die andere Gruppe von psychischen Vorgängen, die man als rein interne Akte den Eindrücken und Erlebnissen entgegenstellen kann, Phantasien, Beziehungsvorgänge, Gefühlsregungen, Zusammenhänge, muß in ihrem Verhältnis zum Vergessen und Erinnern gesondert betrachtet werden. Hier ereignet es sich besonders häufig, daß etwas "erinnert" wird, was nie "vergessen" werden konnte, weil es zu keiner Zeit gemerkt wurde, niemals bewußt war, und es scheint überdies völlig gleichgültig für den psychischen Ablauf, ob ein solcher "Zusammenhang" bewußt war und dann vergessen wurde, oder ob er es niemals zum Bewußtsein gebracht hat. Die Überzeugung, die der Kranke im Laufe der Analyse erwirbt, ist von einer solchen Erinnerung ganz unabhängig. Besonders bei den mannigfachen Formen der Zwangsneurose schränkt sich das Vergessene meist auf die Auflösung von Zusammenhängen, Verkennung von Abfolgen, Isolierung von Erinnerungen ein. Für eine besondere Art von überaus wichtigen Erlebnissen, die in sehr frühe Zeiten der Kindheit fallen und seinerzeit ohne Verständnis erlebt worden sind, nachträglich[531aber Verständnis und Deutung gefunden haben, läßt sich eine Erinnerung meist nicht erwecken. Man gelangt durch Träume zu ihrer Kenntnis und wird durch die zwingendsten Motive aus dem Gefüge der Neurose genötigt, an sie zu glauben, kann sich auch überzeugen, daß der Analysierte nach Überwindung seiner Widerstände das Ausbleiben des Erinnerungsgefühles (Bekanntschaftsempfindung) nicht gegen deren Annahme verwertet. Immerhin er[53] Zum Konzept der Nachträglichkeit s. Kettner (1999).
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
fordert dieser Gegenstand soviel kritische Vorsicht und bringt soviel Neues und Befremdendes, daß ich ihn einer gesonderten Behandlung an geeignetem Materiale vorbehalte)54] Von diesem erfreulich glatten Ablauf ist nun bei Anwendung der neuen Technik sehr wenig, oft nichts, übrig geblieben. Es kommen auch hier Fälle vor, die sich ein Stück weit verhalten wie bei der hypnotischen Technik und erst später versagen; andere Fälle benehmen sich aber von vornherein anders. Halten wir uns zur Kennzeichnung des Unterschiedes an den letzteren Typus, so dürfen wir sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt. Zum Beispiel: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, daß er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt. Er erinnert nicht, daß er in seiner infantilen Sexualforschung rat- und hilflos stecken geblieben ist, sondern er bringt einen Haufen verworrener Träume und Einfälle vor, jammert, daß ihm nichts gelinge, und stellt es als sein Schicksal hin, niemals eine Unternehmung zu Ende zu führen. Er erinnert nicht, daß er sich gewisser Sexualbetätigungen intensiv geschämt und ihre Entdeckung gefürchtet hat, sondern er zeigt, daß er sich der Behandlung schämt, der er sich jetzt unterzogen hat, und sucht diese vor allen geheim zu halten usw. Vor allem beginnt er die Kur mit einer solchen Wiederholung. Oft, wenn man einem Patienten mit wechselvoller Lebensgeschichte und langer Kran.kheitsgeschichte die psychoanalytische Grundregel mitgeteilt und ihn dann aufgefordert hat, zu sagen, was ihm einfalle, und nun erwartet, daß sich seine Mitteilungen im Strom ergießen werden, erfährt man zunächst, daß er nichts zu sagen weiß. Er schweigt und behauptet, daß ihm nichts einfallen will. Das ist natürlich nichts anderes als die Wiederholung einer homosexuellen Einstellung, die sich als Widerstand gegen jedes Erinnern vordrängt. Solange er in Behandlung
[54] Gemeint sind die so genannten"Urszenen" oder"Urphantasien" wie Beobachtung des elterlichen Koitus, Verführung des Kindes oder Kastrationsdrohung, die Freud (191617a, S. 386) als Mischungen aus individuell Erlebtem, phantastisch Ergänztem und kollektiv Erinnertem auffasste.
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
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verbleibt, wird er von diesem Zwange zur Wiederholung nicht mehr frei; man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern. Natürlich wird uns das Verhältnis dieses Wiederholungszwanges zur Übertragung und zum Widerstande in erster Linie interessieren. Wir merken bald, die Übertragung ist selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung ist die Übertragung der vergessenen Vergangenheit nicht nur auf den Arzt, sondern auch auf alle anderen Gebiete der gegenwärtigen Situation. Wir müssen also darauf gefaßt sein, daß der Analysierte sich dem Zwange zur Wiederholung, der nun den Impuls zur Erinnerung ersetzt, nicht nur im persönlichen Verhältnis zum Arzte hingibt, sondern auch in allen anderen gleichzeitigen Tätigkeiten und Beziehungen seines Lebens, zum Beispiel wenn er während der Kur ein Liebesobjekt wählt, eine Aufgabe auf sich nimmt, eine Unternehmung eingeht. Auch der Anteil des Widerstandes ist leicht zu erkennen. Je größer der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) ersetzt sein. Entspricht doch das ideale Erinnern des Vergessenen in der Hypnose einem Zustande, in welchem der Widerstand völlig bei Seite geschoben ist. Beginnt die Kur unter der Patronanz [Schirmherrschaft] einer milden und unausgesprochenen positiven Übertragung, so gestattet sie zunächst ein Vertiefen in die Erinnerung wie bei der Hypnose, während dessen selbst die Krankheitssymptome schweigen; wird aber im weiteren Verlaufe diese Übertragung feindselig oder überstark und darum verdrängungsbedürftig, so tritt sofort das Erinnern dem Agieren den Platz ab. Von da an bestimmen dann die Widerstände die Reihenfolge des zu Wiederholenden. Der Kranke holt aus dem Arsenale der Vergangenheit die Waffen hervor, mit denen er sich der Fortsetzung der Kur erwehrt, und die wir ihm Stück für Stück entwinden müssen. Wir haben nun gehört, der Analysierte wiederholt anstatt zu erinnern, er wiederholt unter den Bedingungen des Widerstandes; wir dürfen jetzt fragen, was wiederholt oder agiert er eigentlich? Die Antwort lautet, er wiederholt alles, was sich aus den Quellen seines Verdrängten bereits in seinem offenkundigen Wesen durchgesetzt hat, seine Hemmungen und unbrauchbaren Einstellungen, seine pathologischen Charakterzüge. Er wiederholt ja auch während der Behandlung alle seine Symptome. Und nun können wir merken, daß wir mit der Hervorhebung des Zwanges zur Wiederholung keine neue Tatsache, sondern nur eine einheitlichere Auffassung gewonnen haben. Wir machen uns nun klar, daß das Kranksein des Analysierten nicht mit dem Beginne seiner Analyse aufhören
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
kann, daß wir seine Krankheit nicht als eine historische Angelegenheit, sondern als eine aktuelle Macht zu behandeln haben. Stück für Stück dieses Krankseins wird nun in den Horizont und in den Wirkungsbereich der Kur gerückt, und während der Kranke es als etwas Reales und Aktuelles erlebt, haben wir daran die therapeutische Arbeit zu leisten, die zum guten Teile in der Zurückführung auf die Vergangenheit besteht. Das Erinnernlassen in der Hypnose mußte den Eindruck eines Experiments im Laboratorium machen. Das Wiederholenlassen während der analytischen Behandlung nach der neueren Technik heißt ein Stück realen Lebens heraufbeschwören und kann darum nicht in allen Fällen harmlos und unbedenklich sein. Das ganze Problem der oft unausweichlichen 11 Verschlimmerung während der Kur" schließt hier an. Vor allem bringt es schon die Einleitung der Behandlung mit sich, daß der Kranke seine bewußte Einstellung zur Krankheit ändere. Er hat sich gewöhnlich damit begnügt, sie zu bejammern, sie als Unsinn zu verachten, in ihrer Bedeutung zu unterschätzen, hat aber sonst das verdrängende Verhalten, die Vogel-StraußPolitik, die er gegen ihre Ursprünge übte, auf ihre Äußerungen fortgesetzt. So kann es kommen, daß er die Bedingungen seiner Phobie nicht ordentlich kennt, den richtigen Wortlaut seiner Zwangsideen nicht anhört oder die eigentliche Absicht seines Zwangsimpulses nicht erfaßt. Das kann die Kur natürlich nicht brauchen. Er muß den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Erscheinungen seiner Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt. Die Versöhnung mit dem Verdrängten, welches sich in den Symptomen äußert, wird so von Anfang an vorbereitet, aber es wird auch eine gewisse Toleranz fürs Kranksein eingeräumt. Werden nun durch dies neue Verhältnis zur Krankheit Konflikte verschärft und Symptome hervorgedrängt, die früher noch undeutlich waren, so kann man den Patienten darüber leicht durch die Bemerkung trösten, daß dies nur notwendige, aber vorübergehende Verschlechterungen sind, und daß man keinen Feind umbringen kann, der abwesend oder nicht nahe genug ist. Der Widerstand kann aber die Situation für seine Absichten ausbeuten und die Erlaubnis, krank zu sein, mißbrauchen wollen. Er scheint dann zu demonstrieren: Schau her, was dabei herauskommt, wenn ich mich wirklich auf diese Dinge einlasse. Hab' ich nicht recht getan, sie
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
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der Verdrängung zu überlassen? Besonders jugendliche und kindliche Personen pflegen die in der Kur erforderliche Einlenkung auf das Kranksein gern zu einem Schwelgen in den Krankheitssymptomen zu benützen. Weitere Gefahren entstehen dadurch, daß im Fortgange der Kur auch neue, tiefer liegende Triebregungen, die sich noch nicht durchgesetzt hatten, zur Wiederholung gelangen können. Endlich können die Aktionen des Patienten außerhalb der Übertragung vorübergehende Lebensschädigungen mit sich bringen oder sogar so gewählt sein, daß sie die zu erreichende Gesundheit dauernd entwerten. Die Taktik, welche der Arzt in dieser Situation einzuschlagen hat, ist leicht zu rechtfertigen. Für ihn bleibt das Erinnern nach alter Manier, das Reproduzieren auf psychischem Gebiete, das Ziel, an welchem er festhält, wenn er auch weiß, daß es bei der neuen Technik nicht zu erreichen ist. Er richtet sich auf einen beständigen Kampf mit dem Patienten ein, um alle Impulse auf psychischem Gebiete zurückzuhalten, welche dieser aufs Motorische lenken möchte, und feiert es als einen Triumph der Kur, wenn es gelingt, etwas durch die Erinnerungsarbeit zu erledigen, was der Patient durch eine Aktion abführen möchte. Wenn die Bindung durch die Übertragung eine irgend brauchbare geworden ist, so bringt es die Behandlung zustande, den Kranken an allen bedeutungsvolleren Wiederholungsaktionen zu hindern und den Vorsatz dazu in statu nascendi als Material für die therapeutische Arbeit zu verwenden. Vor der Schädigung durch die Ausführung seiner Impulse behütet man den Kranken am besten, wenn man ihn dazu verpflichtet, während der Dauer der Kur keine lebenswichtigen Entscheidungen zu treffen, etwa keinen Beruf, kein definitives Liebesobjekt zu wählen, sondern für alle diese Absichten den Zeitpunkt der Genesung abzuwarten. Man schont dabei gern, was von der persönlichen Freiheit des Analysierten mit diesen Vorsichten vereinbar ist, hindert ihn nicht an der Durchsetzung belangloser, wenn auch törichter Absichten, und vergißt nicht daran, daß der Mensch eigentlich nur durch Schaden und eigene Erfahrung klug werden kann. Es gibt wohl auch Fälle, die man nicht abhalten kann, sich während der Behandlung in irgend eine ganz unzweckmäßige Unternehmung einzulassen, und die erst nachher mürbe und für die analytische Bearbeitung zugänglich werden. Gelegentlich muß es auch vorkommen, daß man nicht die Zeit hat, den wilden Trieben den Zügel der Übertragung anzulegen, oder daß der Patient in einer Wiederholungsaktion das Band zerreißt, das ihn an die Behandlung knüpft. Ich
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
kann als extremes Beispiel den Fall einer älteren Dame wählen, die wiederholt in Dämmerzuständen ihr Haus und ihren Mann verlassen hatte und irgendwohin geflüchtet war, ohne sich je eines Motives für dieses "Durchgehen" bewußt zu werden. Sie kam mit einer gut ausgebildeten zärtlichen Übertragung in meine Behandlung, steigerte dieselbe in unheimlich rascher Weise in den ersten Tagen und war am Ende einer Woche auch von mir "durchgegangen", ehe ich noch Zeit gehabt hatte, ihr etwas zu sagen, was sie an dieser Wiederholung hätte hindern können. Das Hauptmittel aber, den Wiederholungszwang des Patienten zu bändigen und ihn zu einem Motiv fürs Erinnern umzuschaffen, liegt in der Handhabung der Übertragung. Wir machen ihn unschädlich, ja vielmehr nutzbar, indem wir ihm sein Recht einräumen, ihn auf einem bestimmten Gebiete gewähren lassen. Wir eröffnen ihm die Übertragung als den Tummelplatz, auf dem ihm gestattet wird, sich in fast völliger Freiheit zu entfalten, und auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im Seelenleben des Analysierten verborgen hat. Wenn der Patient nur so viel Entgegenkommen zeigt, daß er die Existenzbedingungen der Behandlung respektiert, gelingt es uns regelmäßig, allen Symptomen der Krankheit eine neue Übertragungsbedeutung zu geben, seine gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu ersetzen, von der er durch die therapeutische Arbeit geheilt werden kann. Die Übertragung schafft so ein Zwischenreich zwischen der Krankheit und dem Leben, durch welches sich der Übergang von der ersteren zum letzteren vollzieht. Der neue Zustand hat alle Charaktere der Krankheit übernommen, aber er stellt eine artefizielle Krankheit dar, die überall unseren Eingriffen zugänglich ist. Er ist gleichzeitig ein Stück des realen Erlebens, aber durch besonders günstige Bedingungen ermöglicht und von der Natur eines Provisoriums. Von den Wiederholungsreaktionen, die sich in der Übertragung zeigen, führen dann die bekannten Wege zur Erweckung der Erinnerungen, die sich nach Überwindung der Widerstände wie mühelos einstellen. Ich könnte hier abbrechen, wenn nicht die Überschrift dieses Aufsatzes mich verpflichten würde, ein weiteres Stück der analytischen Technik in die Darstellung zu ziehen. Die Überwindung der Widerstände wird bekanntlich dadurch eingeleitet, daß der Arzt den vom Analysierten niemals erkannten Widerstand aufdeckt und ihn dem Patienten mitteilt. Es scheint nun, daß Anfänger in der Analyse geneigt sind, diese Einleitung für die ganze Arbeit zu halten. Ich bin
5.2 Zur Dynamik der Übertragung
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oft in Fällen zu Rate gezogen worden, in denen der Arzt darüber klagte, er habe dem Kranken seinen Widerstand vorgestellt, und doch habe sich nichts geändert, ja der Widerstand sei erst recht erstarkt und die ganze Situation sei noch undurchsichtiger geworden. Die Kur scheine nicht weiter zu gehen. Diese trübe Erwartung erwies sich dann immer als irrig. Die Kur war in der Regel im besten Fortgange; der Arzt hatte nur vergessen, daß das Benennen des Widerstandes nicht das unmittelbare Aufhören desselben zur Folge haben kann. Man muß dem Kranken die Zeit lassen, sich in den ihm unbekannten Widerstand zu vertiefen, ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden, indem er ihm zum Trotze die Arbeit nach der analytischen Grundregel fortsetzt. Erst auf der Höhe desselben findet man dann in gemeinsamer Arbeit mit dem Analysierten die verdrängten Triebregungen auf, welche den Widerstand speisen und von deren Existenz und Mächtigkeit sich der Patient durch solches Erleben überzeugt. Der Arzt hat dabei nichts anderes zu tun, als zuzuwarten und einen Ablauf zuzulassen, der nicht vermieden, auch nicht immer beschleunigt werden kann. Hält er an dieser Einsicht fest, so wird er sich oftmals die Täuschun~ gescheitert zu sein, ersparen, wo er doch die Behandlung längs der richtigen Linie fortführt. Dieses Durcharbeiten der Widerstände mag in der Praxis zu einer beschwerlichen Aufgabe für den Analysierten und zu einer Geduldprobe für den Arzt werden. Es ist aber jenes Stück der Arbeit, welches die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hat und das die analytische Behandlung von jeder Suggestionsbeeinflussung unterscheidet. Theoretisch kann man es dem "Abreagieren" der durch die Verdrängung eingeklemmten Affektbeträge gleichstellen, ohne welches die hypnotische Behandlung einflußlos blieb.
5.2 Zur Dynamik der Übertragung In dieser Arbeit erläutert Freud das Konzept der Übertragun~wobei er auf Annah-
men über die im Kontext familiärer Beziehungen durchlaufene Entwicklung der infantilen Sexualität zurückgreift (Freud, 1905d). Er reserviert den Übertragungsbegriff also ausdrücklich für die Anteile der sexuellen (und aggressiven) Gefühlsbeziehungen, die in der Kindheit infolge ungelöster Konflikte gehemmt wurden und deshalb noch immer an infantile Imagines (der Eltern oder anderer Bindungspersonen) fixiert sind. Diese Konflikte schlagen sich später in der Beziehungsgestaltung
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
des Erwachsenen nieder, bleiben für ihn aber solange unverständlich, solange er die den aktuell konfIikthaften Beziehungen zugnmde liegenden (verdrängten) Liebesund Hassbedingungen (vgl. Freud, 1910h, 1912d, 1918a) nicht erinnern kann. Die Aufführung eines solchen Beziehungsdramas nennt Freud "Übertragung". Kommt diese Übertragung infantiler Wünsche und Ängste in der Beziehung zum Analytiker zustande, wird sie als wichtiges diagnostisches Indiz, aber auch als Widerstand aufgefasst, solange das damit ausgedrückte Begehren nur agiert werden soa aber nicht erinnert werden darf. Das Ziel der Behandlung ist es daher, den Ursprung der agierten infantilen Leidenschaften zu erinnern und affektiv so durchzuarbeiten. dass das damit verbundene Leiden endlich in die Lebensgeschichte des Patienten integriert werden kann (vgl. Kap. 5). Die Überwindung der Widerstände in und durch die therapeutische Beziehung hat Freud als Ergebnis eines Kampfes aufgefasst. "Dieser Kampf zwischen Arzt und Patient, zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt sich fast ausschließlich an den Übertragungsphänomenen ab." Gelingt die angestrebte Domestizierung der Leidenschaften. dann können diese - unter Beachtung des Realitätsprinzips, also in modifizierter Form (Kap. 1.6) - im Leben außerhalb des Behandlungsraums auch wieder "agiert" werden.
m
Freuel, S. (1912b). Zur Dynamik der Übertragung. GW VIII, S. 364·374.
Das schwer zu erschöpfende Thema der 11 Übertragung" ist kürzlich in diesem Zentralblatt von W. Stekel (191la) in deskriptiver Weise behandelt worden. Ich möchte nun hier einige Bemerkungen anfügen. die verstehen lassen sollen. wie die Übertragung während einer psychoanalytischen Kur notwendig zustande kommt, und wie sie zu der bekannten Rolle während der Behandlung gelangt. Machen wir uns klar, daß jeder Mensch durch das Zusammenwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen auf ihn während seiner Kinderjahre eine bestimmte Eigenart erworben hat, wie er das Liebesleben ausübt, also welche Liebesbedingungen er stellt, welche Triebe er dabei befriedigt, und wel-
5.2 Zur Dynamik der Übertragung
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che Ziele er sich setzt.55 Das ergibt sozusagen ein Klischee (oder auch mehrere), welches im Laufe des Lebens regelmäßig wiederholt, neu abgedruckt wird, insoweit die äußeren Umstände und die Natur der zugänglichen Liebesobjekte es gestatten, welches gewiß auch gegen rezente Eindrücke nicht völlig unveränderlich ist. Unsere Erfahrungen haben nun ergeben, daß von diesen das Liebesleben bestimmenden Regungen nur ein Anteil die volle psychische Entwicklung durchgemacht hat; dieser Anteil ist der Realität zugewendet, steht der bewußten Persönlichkeit zur Verfügung und macht ein Stück von ihr aus. Ein anderer Teil dieser libidinösen Regungen ist in der Entwicklung aufgehalten worden, er ist von der bewußten Persönlichkeit wie von der Realität abgehalten, durfte sich entweder nur in der Phantasie ausbreiten oder ist gänzlich im Unbewußten verblieben, so daß er dem Bewußtsein der Persönlichkeit unbekannt ist. Wessen Liebesbedürftigkeit nun von der Realität nicht restlos befriedigt wird, der muß sich mit libidinösen Erwartungsvorstellungen jeder neu auftretenden Person zuwenden/ und es ist durchaus wahrscheinlich, daß beide Portionen seiner Libido, die bewußtseinsfähige wie die unbewußte, an dieser Einstellung Anteil haben. Es ist also völlig normal und verständlich, wenn die erwartungsvoll bereitgehaltene Libidobesetzung des teilweise Unbefriedigten sich auch der Person des 55
Verwahren wir uns an dieser Stelle gegen den mißverständlichen Vorwurf, als hätten wir die Bedeutung der angeborenen (konstitutionellen) Momente geleugnet, weil wir die der infantilen Eindrücke hervorgehoben haben. Ein solcher Vorwurf stammt aus der Enge des Kausalbedürfnisses der Menschen, welches sich im Gegensatz zur gewöhnlichen Gestaltung der Realität mit einem einzigen verursachenden Moment zufrieden geben will. Die Psychoanalyse hat über die akzidentellen Faktoren der Ätiologie viel, über die konstitutionellen wenig geäußert, aber nur darum, weil sie zu den ersteren etwas Neues beibringen konnte, über die letzteren hingegen zunächst nicht mehr wußte, als man sonst weiß. WIr lehnen es ab, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen beiden Reihen von ätiologischen Momenten zu statuieren; wir nehmen vielmehr ein regelmäßiges Zusammenwirken beider zur Hervorbringung des beobachteten Effekts an. LiaLflW'/lClU TUXT] [= Begabung und Zufall] bestimmen das Schicksal eines Menschen; selten, vielleicht niemals, eine dieser Mächte allein. Die Aufteilung der ätiologischen Wirksamkeit zwischen den beiden wird sich nur individuell und im einzelnen vollziehen lassen. Die Reihe, in welcher sich wechselnde Größen der beiden Faktoren zusammensetzen, wird gewiß auch ihre extremen Fälle haben. Je nach dem Stande unserer Erkenntnis werden wir den Anteil der Konstitution oder des Erlebens im Einzelfalle anders einschätzen und das Recht behalten, mit der Veränderung unserer Einsichten unser Urteil zu modifizieren. Übrigens könnte man es wagen, die Konstitution selbst aufzufassen als den Niederschlag aus den akzidentellen Einwirkungen auf die unendlich große Reihe der Ahnen.
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
Arztes zuwendet. Unserer Voraussetzung gemäß, wird sich diese Besetzung an Vorbilder halten, an eines der Klischees anknüpfen, die bei der betreffenden Person vorhanden sind oder, wie wir auch sagen können, sie wird den Arzt in eine der psychischen "Reihen" einfügen, die der Leidende bisher gebildet hat. Es entspricht den realen Beziehungen zum Arzte, wenn für diese Einreihung die VaterImago (nach Jungs [1911, 5.164] glück.lichemAusdruck) maßgebend wird. Aber die Übertragung ist an dieses Vorbild nicht gebunden, sie kann auch nach der Mutter- oder Bruder-Imago usw. erfolgen. Die Besonderheiten der Übertragung auf den Arzt, durch welche sie über Maß und Art dessen hinausgeht, was sich nüchtern und rationell rechtfertigen läßt, werden durch die Erwägung verständlich, daß eben nicht nur die bewußten Erwartungsvorstellungen, sondern auch die zurückgehaltenen oder unbewußten diese Übertragung hergestellt haben. Über dieses Verhalten der Übertragung wäre weiter nichts zu sagen oder zu grübeln, wenn nicht dabei zwei Punkte unerklärt blieben, die für den Psychoanalytiker von besonderem Interesse sind. Erstens verstehen wir nicht, daß die Übertragung bei neurotischen Personen in der Analyse soviel intensiver ausfällt als bei anderen, nicht analysierten, und zweitens bleibt es rätselhaft, weshalb uns bei der Analyse die Übertragung als der stärkste Widerstand gegen die Behandlung entgegentritt, während wir sie außerhalb der Analyse als Trägerin der Heilwirkung, als Bedingung des guten Erfolges anerkennen müssen. Es ist doch eine beliebig oft zu bestätigende Erfahrung, daß, wenn die freien Assoziationen eines Patienten versagen56, jedesmal die Stockung beseitigt werden kann durch die Versicherung, er stehe jetzt unter der Herrschaft eines Einfalles, der sich mit der Person des Arztes oder mit etwas zu ihm Gehörigen beschäftigt. Sobald man diese Aufklärung gegeben hat, ist die Stockung beseitigt, oder man hat die Situation des Versagens in die des Verschweigens der Einfälle verwandelt. Es scheint auf den ersten Blick ein riesiger methodischer Nachteil der Psychoanalyse zu sein, daß sich in ihr die Übertragung, sonst der mächtigste Hebel des Erfolgs, in das stärkste Mittel des Widerstandes verwandelt. Bei näherem Zusehen wird aber wenigstens das erste der beiden Probleme weggeräumt. Es ist nicht richtig, daß die Übertragung während der Psychoanalyse intensiver und ungezügelter auftritt als außerhalb derselben. Man beobachtet in Anstalten, in 56
Ich meine, wenn sie wirklich ausbleiben, und nicht etwa infolge eines banalen Unlustgefühles von ihm verschwiegen werden.
5.2 Zur Dynamik der Übertragung
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denen Nervöse nicht analytisch behandelt werden, die höchsten Intensitäten und die unwürdigsten Formen einer bis zur Hörigkeit gehenden Übertragung, auch die unzweideutigste erotische Färbung derselben. Eine feinsinnige Beobachterin wie die Gabriele Reuter (1895) hat dies zur Zeit/ als es noch kaum eine Psychoanalyse gab, in einem merkwürdigen Buche geschildert, welches überhaupt die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen verrät.f57] Diese Charaktere der Übertragung sind also nicht auf Rechnung der Psychoanalyse zu setzen, sondern der Neurose selbst zuzuschreiben. Das zweite Problem bleibt vorläufig unangetastet. Diesem Problem, der Frage, warum die Übertragung uns in der Psychoanalyse als Widerstand entgegentritt, müssen wir nun näher rücken. Vergegenwärtigen wir uns die psychologische Situation der Behandlung: Eine regelmäßige und unentbehrliche Vorbedingung jeder Erkrankung an einer Psychoneurose ist der Vorgang, den Jung (1910) treffend als Introversion der Libido bezeichnet hat. 58 Das heißt: Der Anteil der bewußtseinsfähigen, der Realität zugewendeten libido wird verringert, der Anteil der von der Realität abgewendeten, unbewußten, welche etwa noch die Phantasien der Person speisen darf, aber dem Unbewußten angehört, um so viel vermehrt. Die Libido hat sich (ganz oder teilweise) in die Regression begeben und die infantilen Imagines wiederbelebt. 59 Dorthin folgt ihr nun die analytische Kur nach, welche die Libido aufsuchen, wieder dem Bewußtsein zugänglich und endlich der Realität dienstbar machen will. Wo die analytische Forschung auf die in ihre Verstecke zurückgezogene Libido stößt/ muß ein Kampf ausbrechen; alle die Kräfte, welche die Regression der Libido [57] Gabriele Reuter (1859-1941) hat in diesem autobiographisch gefärbten Roman das typische Schicksal einer "höheren Tochter" im Wilhelminischen Zeitalter dargestellt. 58 Wenngleich manche Äußerungen Jungs den Eindruck machen, als sehe er in dieser introversion etwas für die Dementia praecox Charakteristisches, was bei anderen Neurosen nicht ebenso in Betracht käme. 59 Es wäre bequem zu sagen: Sie hat die infantilen "Komplexe" wieder besetzt. Aber das wäre unrichtig; einzig zu rechtfertigen wäre die Aussage: Die unbewußten Anteile dieser Komplexe. - Die außerordentliche VerschIungenheit des in dieser Arbeit behandelten Themas legt die Versuchung nahe, auf eine Anzahl von anstoßenden Problemen einzugehen, deren Klärung eigentlich erforderlich wäre/ ehe man von den hier zu beschreibenden psychischen Vorgängen in unzweideutigen Worten reden könnte. Solche Probleme sind: Die Abgrenzung der Introversion und der Regression gegeneinander, die Einfügung der Komplexlehre in die Libidotheorie, die Beziehungen des Phantasierens zum Bewußten und Unbewußten wie zur Realität u. a. Es bedarf keiner Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle diesen Versuchungen widerstanden habe.
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
verursacht haben, werden sich als "Widerstände" gegen die Arbeit erheben, um diesen neuen Zustand zu konservieren. Wenn nämlich die Introversion oder Regression der Libido nicht durch eine bestimmte Relation zur Außenwelt (im allgemeinsten: durch die Versagung der Befriedigung) berechtigt und selbst für den Augenblick zweckmäßig gewesen wäre, hätte sie überhaupt nicht zustande kommen können. Die Widerstände dieser Herkunft sind aber nicht die einzigen, nicht einmal die stärksten. Die der Persönlichkeit verfügbare Libido hatte immer unter der Anziehung der unbewußten Komplexe (richtiger der dem Unbewußten angehörenden Anteile dieser Komplexe) gestanden und war in die Regression geraten, weil die Anziehung der Realität nachgelassen hatte. Um sie frei zu machen, muß nun diese Anziehung des Unbewußten überwunden, also die seither in dem Individuum konstituierte Verdrängung der unbewußten Triebe und ihrer Produktionen aufgehoben werden. Dies ergibt den bei weitem großartigeren Anteil des Widerstandes, der ja so häufig die Krankheit fortbestehen läßt, auch wenn die Abwendung von der Realität die zeitweilige Begründung wieder verloren hat. Mit den Widerständen aus beiden Quellen hat die Analyse zu kämpfen. Der Widerstand begleitet die Behandlung auf jedem Schritt; jeder einzelne Einfall, jeder Akt des Behandelten muß dem Widerstande Rechnung tragen, stellt sich als ein Komprorniß aus den zur Genesung zielenden Kräften und den angeführten, ihr widerstrebenden, dar. Verfolgt man nun einen pathogenen Komplex von seiner (entweder als Symptom auffälligen oder auch ganz unscheinbaren) Vertretung im Bewußten gegen seine Wurzel im Unbewußten hin, so wird man bald in eine Region kommen, wo der Widerstand sich so deutlich geltend macht, daß der nächste Einfall ihm Rechnung tragen und als Komprorniß zwischen seinen Anforderungen und denen der Forschungsarbeit erscheinen muß. Hier tritt nun nach dem Zeugnisse der Erfahrung die Übertragung ein. Wenn irgend etwas aus dem Komplexstoff (dem Inhalt des Komplexes) sich dazu eignet, auf die Person des Arztes übertragen zu werden, so stellt sich diese Übertragung her, ergibt den nächsten Einfall und kündigt sich durch die Anzeichen eines Widerstandes, etwa durch eine Stockung, an. Wir schließen aus dieser Erfahrung, daß diese Übertragungsidee darum vor allen anderen Einfallsmöglichkeiten zum Bewußtsein durchgedrun-
5.2 Zur Dynamik der Übertragung
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gen ist, weil sie auch dem Widerstande Genüge tut. Ein solcher Vorgang wiederholt sich im Verlaufe einer Analyse ungezählte Male. Immer wieder wird, wenn man sich einem pathogenen Komplexe annähert, zuerst der zur Übertragung befähigte Anteil des Komplexes ins Bewußtsein vorgeschoben und mit der größten Hartnäckigkeit verteidigt. 60 Nach seiner Überwindung macht die der anderen Komplexbestandteile wenig Schwierigkeiten mehr. Je länger eine analytische Kur dauert, und je deutlicher der Kranke erkannt hat, daß Entstellungen des pathogenen Materials allein keinen Schutz gegen die Aufdeckung bieten, desto konsequenter bedient er sich der einen Art von Entstellung, die ihm offenbar die größten Vorteile bringt, der Entstellung durch Übertragung. Diese Verhältnisse nehmen die Richtung nach einer Situation, in welcher schließlich alle Konflikte auf dem Gebiete der Übertragung ausgefochten werden müssen. So erscheint uns die Übertragung in der analytischen Kur zunächst immer nur als die stärkste Waffe des Widerstandes, und wir dürfen den Schluß ziehen, daß die Intensität und Ausdauer der Übertragung eine Wirkung und ein Ausdruck des Widerstandes seien. Der Mechanismus der Übertragung ist zwar durch ihre Zurückführung auf die Bereitschaft der Libido erledigt, die im Besitze infantiler Imagines geblieben ist; die Aufklärung ihrer Rolle in der Kur gelingt aber nur, wenn man auf ihre Beziehungen zum Widerstande eingeht. Woher kommt es, daß sich die Übertragung so vorzüglich zum Mittel des Widerstandes eignet? Man sollte meinen, diese Antwort wäre nicht schwer zu geben. Es ist ja klar, daß das Geständnis einer jeden verpönten Wunschregung besonders erschwert wird, wenn es vor jener Person abgelegt werden soll, der die Regung selbst gilt. Diese Nötigung ergibt Situationen, die in der Wirklichkeit als kaum durchführbar erscheinen. Gerade das will nun der Analysierte erzielen, wenn er das Objekt seiner Gefühlsregungen mit dem Arzte zusammenfallen läßt. Eine nähere Überlegung zeigt aber, daß dieser scheinbare Gewinn nicht 60
Woraus man aber nicht allgemein auf eine besondere pathogene Bedeutsarnkeit des zum Übertragungswiderstand gewählten Elementes schließen darf. Wenn in einer Schlacht um den Besitz eines gewissen Kirchleins oder eines einzelnen Gehöfts mit besonderer Erbitterung gestritten wird, braucht man nicht anzunehmen, daß die Kirche etwa ein Nationalheiligtum sei, oder daß das Haus den Anneeschatz berge. Der Wert der Objekte kann ein bloß taktischer sein, vielleicht nur in dieser einen Schlacht zur Geltung kommen.
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
die Lösung des Problems ergeben kann. Eine Beziehung von zärtlicher, hingebungsvoller Anhänglichkeit kann ja anderseits über alle Schwierigkeiten des Geständnisses hinweghelfen. Man pflegt ja unter analogen realen Verhältnissen zu sagen: Vor dir schäme ich mich nicht, dir kann ich alles sagen. Die Übertragung auf den Arzt könnte also ebensowohl zur Erleichterung des Geständnisses dienen, und man verstünde nicht, warum sie eine Erschwerung hervorruft. Die Antwort auf diese hier wiederholt gestellte Frage wird nicht durch weitere Überlegung gewonnen, sondern durch die Erfahrung gegeben, die man bei der Untersuchung der einzelnen Übertragswiderstände in der Kur macht. Man merkt endlich, daß man die Verwendung der Übertragung zum Widerstande nicht verstehen kann, solange man an"Übertragung" schlechtweg denkt. Man muß sich entschließen, eine "positive" Übertragung von einer "negativen" zu sondern, die Übertragung zärtlicher Gefühle von der feindseliger, und beide Arten der Übertragung auf den Arzt gesondert zu behandeln. Die positive Übertragung zerlegt sich dann noch in die solcher freundlicher oder zärtlicher Gefühle, welche bewußtseinsfähig sind, und in die ihrer Fortsetzungen ins Unbewußte. Von den letzteren weist die Analyse nach, daß sie regelmäßig auf erotische Quellen zurückgehen, so daß wir zur Einsicht gelangen müssen, alle unsere im Leben verwertbaren Gefühlsbeziehungen von Sympathie, Freundschaft, Zutrauen und dergleichen seien genetisch mit der Sexualität verknüpft und haben sich durch Abschwächung des Sexualzieles aus rein sexuellen Begehrungen entwickelt, so rein und unsinnlich sie sich auch unserer bewußten Selbstwahrnehmung darstellen mögen. Ursprünglich haben wir nur Sexualobjekte gekannt; die Psychoanalyse zeigt uns, daß die bloß geschätzten oder verehrten Personen unserer Realität für das Unbewußte in uns immer noch Sexualobjekte sein können. Die Lösung des Rätsels ist also, daß die Übertragung auf den Arzt sich nur insofern zum Widerstande in der Kur eignet, als sie negative Übertragung oder positive von verdrängten erotischen Regungen ist. Wenn wir durch Bewußtmachen die Übertragung "aufheben", so lösen wir nur diese beiden Komponenten des Gefühlsaktes von der Person des Arztes ab; die andere bewußtseinsfähige und unanstößige Komponente bleibt bestehen und ist in der Psychoanalyse genau ebenso die Trägerin des Erfolges wie bei anderen Behandlungsmethoden. Insofern gestehen wir gerne zu, die Resultate der Psychoanalyse beruhten auf Suggestion; nur muß man unter Suggestion das verstehen, was wir mit Ferenczi (1909) darin finden: die Beeinflussung eines Menschen vermittels der bei
5.2 Zur Dynamik der Übertragung
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ihm möglichen Übertragungsphänomene. Für die endliche Selbständigkeit des Kranken sorgen wir, indem wir die Suggestion dazu benützen, ihn eine psychische Arbeit vollziehen zu lassen, die eine dauernde Verbesserung seiner psychischen Situation zur notwendigen Folge hat. Es kann noch gefragt werden, warum die Widerstandsphänomene der Übertragung nur in der Psychoanalyse, nicht auch bei indifferenter Behandlung, z. B. in Anstalten zum Vorschein kommen. Die Antwort lautet: sie zeigen sich auch dort, nur müssen sie als solche gewürdigt werden. Das Hervorbrechen der negativen Übertragung ist in Anstalten sogar recht häufig. Der Kranke verläßt eben die Anstalt ungeändert oder rückfällig, sobald er unter die Herrschaft der negativen Übertragung gerät. Die erotische Übertragung wirkt in Anstalten nicht so hemmend, da sie dort wie im Leben beschönigt, anstatt aufgedeckt wird; sie äußert sich aber ganz deutlich als Widerstand gegen die Genesung, zwar nicht, indem sie den Kranken aus der Anstalt treibt, - sie hält ihn im Gegenteil in der Anstalt zurück, - wohl aber dadurch, daß sie ihn vom Leben feme hält. Für die Genesung ist es nämlich recht gleichgültig, ob der Kranke in der Anstalt diese oder jene Angst oder Hemmung überwindet; es kommt vielmehr darauf an, daß er auch in der Realität seines Lebens davon frei wird. Die negative Übertragung verdiente eine eingehende Würdigung, die ihr im Rahmen dieser Ausführungen nicht zuteil werden kann. Bei den heilbaren Formen von Psychoneurosen findet sie sich neben der zärtlichen Übertragung, oft gleichzeitig auf die nämliche Person gerichtet, für welchen Sachverhalt Bleuler den guten Ausdruck Ambivalenz geprägt hat. 61 Eine solche Ambivalenz der Gefühle scheint bis zu einem gewissen Maße normal zu sein, aber ein hoher Grad von Ambivalenz der Gefühle ist gewiß eine besondere Auszeichnung neurotischer Personen. Bei der Zwangneurose scheint eine frühzeitige"Trennung der Gegensatzpaare" für das Triebleben charakteristisch zu sein und eine ihrer konstitutionellen Bedingungen darzustellen. Die Ambivalenz der Gefühlsrichtungen erklärt uns am besten die Fähigkeit der Neurotiker, ihre Übertragungen in den Dienst des Widerstandes zu stellen. Wo die Übertragungsfähigkeit im wesentlichen negativ geworden ist, wie bei den Paranoiden, da hört die Möglichkeit der Beeinflussung und der Heilung auf. 61
[Siehe: Riklin 1910]. Für die gleichen Phänomene hatte W. Stekel [1911b] vorher die Bezeichnung "Bipolarität" vorgeschlagen.
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
Mit allen diesen Erörterungen haben wir aber bisher nur eine Seite des Übertragungsphänomens gewürdigt; es wird erfordert, unsere Aufmerksamkeit einem anderen Aspekt derselben Sache zuzuwenden. Wer sich den richtigen Eindruck davon geholt hat, wie der Analysierte aus seinen realen Beziehungen zum Arzte herausgeschleudert wird, sobald er unter die Herrschaft eines ausgiebigen Übertragungswiderstandes gerät, wie er sich dann die Freiheit herausnimmt, die psychoanalytische Grundregel zu vernachlässigen, daß man ohne Kritik alles mitteilen solle, was einem in den Sinn kommt, wie er die Vorsätze vergißt, mit denen er in die Behandlung getreten war, und wie ihm logische Zusammenhänge und Schlüsse nun gleichgültig werden, die ihm kurz vorher den größten Eindruck gemacht hatten, der wird das Bedürfnis haben, sich diesen Eindruck noch aus anderen als den bisher angeführten Momenten zu erklären, und solche liegen in der Tat nicht feme; sie ergeben sich wiederum aus der psychologischen Situation, in welche die Kur den Analysierten versetzt hat. In der Aufspürung der dem Bewußten abhanden gekommenen Libido ist man in den Bereich des Unbewußten eingedrungen. Die Reaktionen, die man erzielt, bringen nun manches von den Charakteren unbewußter Vorgänge mit ans Licht, wie wir sie durch das Studium der Träume kennen gelernt haben. Die unbewußten Regungen wollen nicht erinnert werden, wie die Kur es wünscht, sondern sie streben danach, sich zu reproduzieren, entsprechend der Zeitlosigkeit und der Halluzinationsfähigkeit des Unbewußten. Der Kranke spricht ähnlich wie im Traume den Ergebnissen der Erweckung seiner unbewußten Regungen Gegenwärtigkeit und Realität zu; er will seine Leidenschaften agieren, ohne auf die reale Situation Rücksicht zu nehmen. Der Arzt will ihn dazu nötigen, diese Gefühlsregungen in den Zusammenhang der Behandlung und in den seiner Lebensgeschichte einzureihen, sie der denkenden Betrachtung unterzuordnen und nach ihrem psychischen Werte zu erkennen. Dieser Kampf zwischen Arzt und Patienten, zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt sich fast ausschließlich an den Übertragungsphänomenen ab. Auf diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden, dessen Ausdruck die dauernde Genesung von der Neurose ist. Es ist unleugbar, daß die Bezwingung der Übertragungsphänomene dem Psychoanalytiker die größten Schwierigkeiten bereitet, aber man darf nicht vergessen, daß gerade sie uns den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kran-
5.3 Bemerkungen über die Übertragungsliebe
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ken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.
5.3 Bemerkungen über die Übertragungsliebe
Was meinte Freud, wenn er von Übertragungen sprach? Auf diese Frage gibt es keine bessere Antwort als die von Freud: "Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig" (1905e, S. 279 f.). Das ist ein ganz normaler Vorgang, der sich im Fall der sexuell-erotischen Übertragung so abspielt wie bei jeder Verliebtheit. Die französische Redewendung "On revient toujours Cl ses premieres amours" drückt diesen Sachverhalt allerdings etwas poetischer aus als die deutsche Redensart "alte Liebe rostet nicht". Mit Freuds nüchternen Worten ausgedrückt heißt das: "Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung" (Freud, 1905d, S. 123). Deshalb spricht er der Übertragungsliebe aber nicht den Charakter einer echten Liebe ab. Im Fall pathologischer Fixierungen an primäre Objekte und (oder) an infantile Formen der Triebbefriedigung gilt jedoch noch die wichtige Einschränkung: Le premier amour est toujours le dernier.f62] Damit die erste Liebe nicht die letzte bleiben muss, vielmehr Vorbild für eine neue freie Liebe werden kann, hat Freud als das allgemeine Ziel der psychoanalytischen Behandlung die Befreiung der Sexualität aus alten (infantilen) Fesseln definiert (1923a, S. 227 f.). So gesehen ist "jede [...] psychoanalytische Behandlung ein Versuch/ verdrängte Liebe zu befreien" (Freud, 1907a, S. 118). Im nachstehenden Text beschreibt Freud die Maßnahmen, die notwendig sind, um die Liebe von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien und ihr so eine Zukunft zu geben. Dass sich der Analytiker hierbei verhalten sollte wie die Mutter oder der Vater, die auf die körperlich-sinnliche Liebe ihres Kindes zwar einfühlend, aber nicht so antworten, als handle es sich dabei um das Begehren eines Erwachsenen, drückt sich in der Forderung aus, die Liebe des Patienten sei anzuerken[62] "Die erste Liebe ist immer die letzte" - so lautet auch der Titel eines Buches des frankophonen marokkanischen Schriftstellers Tahar Ben JelIoun.
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
nen, ihr sei aber nicht sexualisierend oder gar auf der Ebene realer Handlungen zu begegnen. Wenn das Abstinenzgebot in diesem Sinne eingehalten wird, dann muss die liebe in der psychoanalytischen Situation auch keine Sünde sein (Krutzenbich1er & Essers, 2(06).
W Freud, S. (1915a). Bemerkungen über die Öbertragungsliebe. GW X, 5.306-321.
Jeder Anfänger in der Psychoanalyse bangt wohl zuerst vor den Schwierigkeiten, welche ihm die Deutung der Einfälle des Patienten und die Aufgabe der Reproduktion des Verdrängten bereiten werden. Es steht ihm aber bevor, diese Schwierigkeiten bald gering einzuschätzen und dafür die Überzeugung einzutauschen, daß die einzigen wirklich ernsthaften Schwierigkeiten bei der Handhabung der Übertragung anzutreffen sind. Von den Situationen, die sich hier ergeben, will ich eine einzige, scharf umschriebene, herausgreifen, sowohl wegen ihrer Häufigkeit und realen Bedeutsamkeit als auch wegen ihres theoretischen Interesses. Ich meine den Fall, daß eine weibliche Patientin durch unzweideutige Andeutungen erraten läßt oder es direkt ausspricht, daß sie sich wie ein anderes sterbliches Weib in den sie analysierenden Arzt verliebt hat. Diese Situation hat ihre peinlichen und komischen Seiten wie ihre ernsthaften; sie ist auch so verwickelt und vielseitig bedingt, so unvermeidlich und so schwer lösbar, daß ihre Diskussion längst ein vitales Bedürfnis der analytischen Technik erfüllt hätte. Aber da wir selbst nicht immer frei sind, die wir über die Fehler der anderen spotten, haben wir uns zur Erfüllung dieser Aufgabe bisher nicht eben gedrängt. Immer wieder stoßen wir hier mit der Pflicht der ärztlichen Diskretion zusammen, die im Leben nicht zu entbehren, in unserer Wissenschaft aber nicht zu brauchen ist. Insofeme die literatur der Psychoanalytik auch dem realen Leben angehört, ergibt sich hier ein unlösbarer Widerspruch. Ich habe mich kürzlich (Freud, 1914d) an einer Stelle über die Diskretion hinausgesetzt und angedeutet, daß die nämliche Übertragungssituation die Entwicklung der psychoanalytischen Therapie um ihr erstes Jahrzehnt verzögert hat. Für den wohlerzogenen Laien - ein solcher ist wohl der ideale Kulturmensch der Psychoanalyse gegenüber - sind liebesbegebenheiten mit allem anderen inkommensurabel; sie stehen gleichsam auf einem besonderen Blatte, das keine
5.3 Bemerkungen über die Übertragungsliebe
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andere Beschreibung verträgt. Wenn sich also die Patientin in den Arzt verliebt hat, wird er meinen, dann kann es nur zwei Ausgänge haben, den selteneren, daß alle Umstände die dauernde legitime Vereinigung der Beiden gestatten, und den häufigeren, daß Arzt und Patientin auseinandergehen und die begonnene Arbeit, welche der Herstellung dienen sollte, als durch ein Elementarereignis gestört aufgeben. Gewiß ist auch ein dritter Ausgang denkbar, der sich sogar mit der Fortsetzung der Kur zu vertragen scheint, die Anknüpfung illegitimer und nicht für die Ewigkeit bestimmter Liebesbeziehungen; aber dieser ist wohl durch die bürgerliche Moral wie durch die ärztliche Würde unmöglich gemacht. Immerhin würde der Laie bitten, durch eine möglichst deutliche Versicherung des Analytikers über den Ausschluß dieses dritten Falles beruhigt zu werden. Es ist evident, daß der Standpunkt des Psychoanalytikers ein anderer sein muß. Setzen wir den Fall des zweiten Ausganges der Situation, die wir besprechen, Arzt und Patientin gehen auseinander, nachdem sich die Patientin in den Arzt verliebt hat; die Kur wird aufgegeben. Aber der Zustand der Patientin macht bald einen zweiten analytischen Versuch bei einem anderen Arzte notwendig; da stellt es sich denn ein, daß sich die Patientin auch in diesen zweiten Arzt verliebt fühlt, und ebenso, wenn sie wieder abbricht und von neuem anfängt, in den dritten usw. Diese mit Sicherheit eintreffende Tatsache, bekanntlich eine der Grundlagen der psychoanalytischen Theorie, gestattet zwei Verwertungen, eine für den analysierenden Arzt, die andere für die der Analyse bedürftige Patientin. Für den Arzt bedeutet sie eine kostbare Aufklärung und eine gute Warnung vor einer etwa bei ihm bereitliegenden Gegenübertragung.l631 Er muß erkenne~ daß das Verlieben der Patientin durch die analytische Situation erzwungen wird und nicht etwa den Vorzügen seiner Person zugeschrieben werden kann, daß er also gar keinen Grund hat auf eine solche "Eroberung", wie man sie außerhalb der Analyse heißen würde, stolz zu sein. Und es ist immer gut, daran gemahnt zu werden. Für die Patientin ergibt sich aber eine Alternative: entweder sie muß
[63] Der Begriff "Gegenübertragung" taucht erstmals in einern Brief Freuds an C. G. Jung auf, in dem es heißt: "Solche Erfahrungen, wenngleich schmerzlich, sind notwendig [...]. Es wächst einem so die nötige harte Haut, man wird der ,Gegenübertragung' Herr, in die man doch jedes Mal versetzt wird, und lernt seine eigenen Affekte verschieben und zweckmäßig plazieren" (Freud & Jung, 1974 -145 F = Brief vorn 7. Juni 1909). Siehe dazu auch: Spielrein, 1986.
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auf eine psychoanalytische Behandlung verzichten oder sie muß sich die Verliebtheit in den Arzt als unausweichliches Schicksal gefallen lassen. 64 Ich zweifle nicht daran, daß sich die Angehörigen der Patientin mit ebensolcher Entschiedenheit für die erste der beiden Möglichkeiten erklären werden wie der analysierende Arzt für die zweite. Aber ich meine, es ist dies ein Fall, in welchem der zärtlichen - oder vielmehr egoistisch eifersüchtigen - Sorge der Angehörigen die Entscheidung nicht überlassen werden kann. Nur das Interesse der Kranken sollte den Ausschlag geben. Die Liebe der Angehörigen kann aber keine Neurose heilen. Der Psychoanalytiker braucht sich nicht aufzudrängen, er darf sich aber als unentbehrlich für gewisse Leistungen hinstellen. Wer als Angehöriger die Stellung Tolstois l6S1 zu diesem Probleme zu der seinigen macht, mag im ungestörten Besitze seiner Frau oder Tochter bleiben und muß es zu ertragen suchen, daß diese auch ihre Neurose und die mit ihr verknüpfte Störung ihrer Liebesfähigkeit beibehält. Es ist schließlich ein ähnlicher Fall wie der der gynäkologischen Behandlung. Der eifersüchtige Vater oder Gatte irrt übrigens groß, wenn er meint, die Patientin werde der Verliebtheit in den Arzt entgehen, wenn er sie zur Bekämpfung ihrer Neurose eine andere als die analytische Behandlung einschlagen läßt. Der Unterschied wird vielmehr nur sein, daß eine solche Verliebtheit, die dazu bestimmt ist, unausgesprochen und unanalysiert zu bleiben, niemals jenen Beitrag zur Herstellung der Kranken leisten wird, den ihr die Analyse abzwingen würde. Es ist mir bekannt geworden, daß einzelne Ärzte, welche die Analyse ausüben, die Patienten häufig auf das Erscheinen der Liebesübertragung vorbereiten oder sie sogar auffordern, sich "nur in den Arzt zu verlieben, damit die Analyse vorwärtsgehe". Ich kann mir nicht leicht eine unsinnigere Technik vorstellen. Man raubt damit dem Phänomen den überzeugenden Charakter der Spontaneität und bereitet sich selbst schwer zu beseitigende Hindernisse. Zunächst hat es allerdings nicht den Anschein, als ob aus der Verliebtheit in der Übertragung etwas für die Kur Förderliches entstehen könnte. Die Patientin, auch die bisher fügsamste, hat plötzlich Verständnis und Interesse für die Be64
Daß die Übertragung sich in anderen und minder zärtlichen Gefühlen äußern kann, ist bekannt und soll in diesem Aufsatze nicht behandelt werden. [65] Tolstoi predigte das Ideal absoluter Keuschheit. In der Novelle "Die Kreutzersonate" setzt er diesem Ideal die zerstörerische Kraft der sexuellen Leidenschaften entgegen.
5.3 Bemerkungen über die Übertragungsliebe
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handlung verloren, will von nichts anderem sprechen und hören als von ihrer Liebe, für die sie Entgegnung fordert; sie hat ihre Symptome aufgegeben oder vernachlässigt sie, ja, sie erklärt sich für gesund. Es gibt einen völligen Wechsel der Szene, wie wenn ein Spiel durch eine plötzlich hereinbrechende Wirklichkeit abgelöst würde, etwa wie wenn sich während einer Theatervorstellung Feuerlärm erhebt. Wer dies als Arzt zum erstenmal erlebt, hat es nicht leicht, die analytische Situation festzuhalten und sich der Täuschung zu entziehen, daß die Behandlung wirklich zu Ende sei. Mit etwas Besinnung findet man sich dann zurecht. Vor allem gedenkt man des Verdachtes, daß alles, was die Fortsetzung der Kur stört, eine Widerstandsäußerung sein mag. An dem Auftreten der stürmischen Liebesforderung hat der Widerstand unzweifelhaft einen großen Anteil. Man hatte ja die Anzeichen einer zärtlichen Übertragung bei der Patientin längst bemerkt und durfte ihre Gefügigkeit, ihr Eingehen auf die Erklärungen der Analyse, ihr ausgezeichnetes Verständnis und die hohe Intelligenz, die sie dabei erwies, gewiß auf Rechnung einer solchen Einstellung gegen den Arzt schreiben. Nun ist das alles wie weggefegt, die Kranke ist ganz einsichtslos geworden, sie scheint in ihrer Verliebtheit aufzugehen, und diese Wandlung ist ganz regelmäßig in einem Zeitpunkte aufgetreten, da man ihr gerade zumuten mußte, ein besonders peinliches und schwer verdrängtes Stück ihrer Lebensgeschichte zuzugestehen oder zu erinnern. Die Verliebtheit ist also längst dagewesen, aber jetzt beginnt der Widerstand sich ihrer zu bedienen, um die Fortsetzung der Kur zu hemmen, um alles Interesse von der Arbeit abzulenken und um den analysierenden Arzt in eine peinliche Verlegenheit zu bringen. Sieht man näher zu, so kann man in der Situation auch den Einfluß komplizierender Motive erkennen, zum Teile solcher, die sich der Verliebtheit anschließen, zum anderen Teile aber besonderer Äußerungen des Widerstandes. Von der ersteren Art ist das Bestreben der Patientin, sich ihrer Unwiderstehlichkeit zu versichern, die Autorität des Arztes durch seine Herabsetzung zum Geliebten zu brechen und was sonst als Nebengewinn bei der Liebesbefriedigung winkt. Vom Widerstande darf man vermuten, daß er gelegentlich die Liebeserklärung als Mittel benützt, um den gestrengen Analytiker auf die Probe zu stellen, worauf er im Falle seiner Willfährigkeit eine Zurechtweisung zu erwarten hätte. Vor allem aber hat man den Eindruck, daß der Widerstand als agent provocateur die Verliebtheit steigert und die Bereitwilligkeit zur sexuellen Hingabe über-
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treibt, um dann desto nachdrücklicher unter Berufung auf die Gefahren einer solchen Zuchtlosigkeit das Wirken der Verdrängung zu rechtfertigen. All dieses Beiwerk, das in reineren Fällen auch wegbleiben kann, ist von Alf.[red] Adler bekanntlich als das Wesentliche des ganzen Vorganges angesehen worden. Wie muß sich aber der Analytiker benehmen, um nicht an dieser Situation zu scheitern, wenn es für ihn feststeht, daß die Kur trotz dieser Liebesübertragung und durch dieselbe hindurch fortzusetzen ist? Ich hätte es nun leicht, unter nachdrücklicher Betonung der allgemein gültigen Moral zu postulieren, daß der Analytiker nie und nimmer die ihm angebotene Zärtlichkeit annehmen oder erwidern dürfe. Er müsse vielmehr den Moment für gekommen erachten, um die sittliche Forderung und die Notwendigkeit des Verzichtes vor dem verliebten Weibe zu vertreten und es bei ihr zu erreichen, daß sie von ihrem Verlangen ablasse und mit Überwindung des animalischen Anteils an ihrem Ich die analytische Arbeit fortsetze. Ich werde aber diese Erwartungen nicht erfüllen, weder den ersten noch den zweiten Teil derselben. Den ersten nicht, weil ich nicht für die Klientel schreibe, sondern für Ärzte, die mit ernsthaften Schwierigkeiten zu ringen haben, und weil ich überdies hier die Moralvorschrift auf ihren Ursprung, das heißt auf Zweckmäßigkeit zurückführen kann. Ich bin diesmal in der glücklichen Lage, das moralische Oktroi ohne Veränderung des Ergebnisses durch Rücksichten der analytischen Technik zu ersetzen. Noch entschiedener werde ich aber dem zweiten Teile der angedeuteten Erwartung absagen. Zur Triebunterdrückung, zum Verzicht und zur Sublimierung auffordern, sobald die Patientin ihre Liebesübertragung eingestanden hat, hieße nicht analytisch, sondern sinnlos handeln. Es wäre nicht anders, als wollte man mit kunstvollen Beschwörungen einen Geist aus der Unterwelt zum Aufsteigen zwingen, um ihn dann ungefragt wieder hinunter zu schicken. Man hätte ja dann das Verdrängte nur zum Bewußtsein gerufen, um es erschreckt von neuem zu verdrängen. Auch über den Erfolg eines solchen Vorgehens braucht man sich nicht zu täuschen. Gegen Leidenschaften richtet man mit sublimen Redensarten bekanntlich wenig aus. Die Patientin wird nur die Verschmähung empfinden und nicht versäumen, sich für sie zu rächen. Ebensowenig kann ich zu einem Mittelwege raten, der sich manchen als besonders klug empfehlen würde, welcher darin besteht, daß man die zärtlichen Gefühle der Patientin zu erwidern behauptet und dabei allen körperlichen Betäti-
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gungen dieser Zärtlichkeit ausweicht, bis man das Verhältnis in ruhigere Bahnen lenken und auf eine höhere Stufe heben kann. Ich habe gegen dieses Auskunftsmittel einzuwenden, daß die psychoanalytische Behandlung auf Wahrhaftigkeit aufgebaut ist. Darin liegt ein gutes Stück ihrer erziehlichen Wirkung und ihres ethischen Wertes. Es ist gefährlich, dieses Fundament zu verlassen. Wer sich in die analytische Technik eingelebt hat, trifft das dem Arzte sonst unentbehrliche Lügen und Vorspiegeln überhaupt nicht mehr und pflegt sich zu verraten, wenn er es in bester Absicht einmal versucht. Da man vom Patienten strengste Wahrhaftigkeit fordert, setzt man seine ganze Autorität aufs Spiel, wenn man sich selbst von ihm bei einer Abweichung von der Wahrheit ertappen läßt. Außerdem ist der Versuch, sich in zärtliche Gefühle gegen die Patientin gleiten zu lassen, nicht ganz ungefährlich. Man beherrscht sich nicht so gut, daß man nicht plötzlich einmal weiter gekommen wäre, als man beabsichtigt hatte. Ich meine also, man darf die Indifferenz, die man sich durch die Niederhaltung der Gegenübertragung erworben hat, nicht verleugnen. Ich habe auch bereits erraten lassen, daß die analytische Technik es dem Arzte zum Gebote macht, der liebesbedürftigen Patientin die verlangte Befriedigung zu versagen. Die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden; ich meine dabei nicht allein die körperliche Entbehrung, auch nicht die Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde vielleicht kein Kranker vertragen. Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muß, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen. Anderes als Surrogate könnte man ja nicht bieten, da die Kranke infolge ihres Zustandes, solange ihre Verdrängungen nicht behoben sind, einer wirklichen Befriedigung nicht fähig ist. Gestehen wir zu, daß der Grundsatz, die analytische Kur solle in der Entbehrung durchgeführt werden, weit über den hier betrachteten Einzelfall hinausreicht und einer eingehenden Diskussion bedarf, durch welche die Grenzen seiner Durchführbarkeit abgesteckt werden sollen. Wir wollen es aber vermeiden, dies hier zu tun, und uns möglichst enge an die Situation halten, von der wir ausgegangen sind. Was würde geschehen, wenn der Arzt anders vorginge und die etwa beiderseits gegebene Freiheit ausnützen würde, um die Liebe der Patientin zu erwidern und ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit zu stillen?
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Wenn ihn dabei die Berechnung leiten sollte, durch solches Entgegenkommen würde er sich die Herrschaft über die Patientin sichern und sie so bewegen, die Aufgaben der Kur zu lösen, also ihre dauernde Befreiung von der Neurose zu erwerben, so müßte ihm die Erfahrung zeigen, daß er sich verrechnet hat. Die Patientin würde ihr Ziel erreichen, er niemals das seinige. Es hätte sich zwischen Arzt und Patientin nur wieder abgespielt, was eine lustige Geschichte vom Pastor und vom Versicherungsagenten erzählt. Zu dem ungläubigen und schwerkranken Versicherungsagenten wird auf Betreiben der Angehörigen ein frommer Mann gebracht, der ihn vor seinem Tode bekehren soll. Die Unterhaltung dauert so lange, daß die Wartenden Hoffnung schöpfen. Endlich öffnet sich die Tür des Krankenzimmers. Der Ungläubige ist nicht bekehrt worden, aber der Pastor geht versichert weg. Es wäre ein großer Triumph für die Patientin, wenn ihre Liebeswerbung Erwiderung fände, und eine volle Niederlage für die Kur. Die Kranke hätte erreicht, wonach alle Kranken in der Analyse streben, etwas zu agieren, im Leben zu wiederholen, was sie nur erinnern, als psychisches Material reproduzieren und auf psychischem Gebiete erhalten soll (Freud, 1914g). Sie würde im weiteren Verlaufe des Liebesverhältnisses alle Hemmungen und pathologischen Reaktionen ihres Liebeslebens zum Vorscheine bringen, ohne daß eine Korrektur derselben möglich wäre, und das peinliche Erlebnis mit Reue und großer Verstärkung ihrer Verdrängungsneigung abschließen. Das Liebesverhältnis macht eben der Beeinflußbarkeit durch die analytische Behandlung ein Ende; eine Vereinigung von beiden ist ein Unding. Die Gewährung des Liebesverlangens der Patientin ist also ebenso verhängnisvoll für die Analyse wie die Unterdrückung desselben. Der Weg des Analytikers ist ein anderer, ein solcher, für den das reale Leben kein Vorbild liefert. Man hütet sich, von der Liebesübertragung abzulenken, sie zu verscheuchen oder der Patientin zu verleiden; man enthält sich ebenso standhaft jeder Erwiderung derselben. Man hält die Liebesübertragung fest, behandelt sie aber als etwas Umeales, als eine Situation, die in der Kur durchgemacht, auf ihre unbewußten Ursprünge zurückgeleitet werden soll und dazu verhelfen muß, das Verborgenste des Liebeslebens der Kranken dem Bewußtsein und damit der Beherrschung zuzuführen. Je mehr man den Eindruck macht, selbst gegen jede Versuchung gefeit zu sein, desto eher wird man der Situation ihren analytischen Gehalt entziehen können. Die Patientin, deren Sexualverdrängung doch nicht aufgehoben, bloß
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in den Hintergrund geschoben ist, wird sich dann sicher genug fühlen, um alle Uebesbedingungen, alle Phantasien ihrer Sexualsehnsucht, alle Einzelcharaktere ihrer Verliebtheit zum Vorscheine zu bringen, und von diesen aus dann selbst den Weg zu den infantilen Begründungen ihrer Liebe eröffnen. Bei einer Klasse von Frauen wird dieser Versuch, die Liebesübertragung für die analytische Arbeit zu erhalten, ohne sie zu befriedigen, allerdings nicht gelingen. Es sind das Frauen von elementarer Leidenschaftlichkeit, welche keine Surrogate vertragen, Naturkinder, die das Psychische nicht für das Materielle nehmen wollen, die nach des Dichters Worten nur zugänglich sind "für Suppenlogik mit Knödelargumenten" .166] Bei diesen Personen steht man vor der Wahl: entweder Gegenliebe zeigen oder die volle Feindschaft des verschmähten Weibes auf sich laden. In keinem von beiden Fällen kann man die Interessen der Kur wahrnehmen. Man muß sich erfolglos zurückziehen und kann sich etwa das Problem vorhalten, wie sich die Fähigkeit zur Neurose mit so unbeugsamer Liebesbedürftigkeit vereinigt. Die Art, wie man andere, minder gewalttätige Verliebte allmählich zur analytischen Auffassung nötigt, dürfte sich vielen Analytikern in gleicher Weise ergeben haben. Man betont vor allem den unverkennbaren Anteil des Widerstandes an dieser "Liebe". Eine wirkliche Verliebtheit würde die Patientin gefügig machen und ihre Bereitwilligkeit steigern, um die Probleme ihres Falles zu lösen, bloß darum, weil der geliebte Mann es fordert. Eine solche würde gern den Weg über die Vollendung der Kur wählen, um sich dem Arzte wertvoll zu machen und die Realität vorzubereiten, in welcher die Liebesneigung ihren Platz finden könnte. Anstatt dessen zeige sich die Patientin eigensinnig und ungehorsam, habe alles Interesse für die Behandlung von sich geworfen und offenbar auch keine Achtung vor den tief begründeten Überzeugungen des Arztes. Sie produziere also einen Widerstand in der Erscheinungsform der Verliebtheit und trage überdies kein Bedenken, ihn in die Situation der sogenannten "Zwickmühle" zu bringen. Denn wenn er ablehne, wozu seine Pflicht und sein Verständnis ihn nötigen, werde sie die Verschmähte spielen können und sich dann aus Rachsucht und Erbitterung der Heilung durch ihn entziehen, wie jetzt infolge der angeblichen Verliebtheit. [66] Anspielung auf Heinrich Heines Gedicht "Die Wanderratten", in dem es heißt: "Im hungrigen Magen Eingang finden / Nur Suppenlogik mit Knödelgründen, / Nur Argumente von Rinderbraten, / Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten."
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Als zweites Argument gegen die Echtheit dieser Liebe führt man die Behauptung ein, daß dieselbe nicht einen einzigen neuen, aus der gegenwärtigen Situation entspringenden Zug an sich trage, sondern sich durchwegs aus Wiederholungen und Abklatschen früherer, auch infantiler, Reaktionen zusammensetze. Man macht sich anheischig, dies durch die detaillierte Analyse des Liebesverhaltens der Patientin zu erweisen. Wenn man zu diesen Argumenten noch das erforderliche Maß von Geduld hinzufügt, gelingt es zumeist, die schwierige Situation zu überwinden und entweder mit einer errnäßigten oder mit der "umgeworfenen" Verliebtheit die Arbeit fortzusetzen, deren Ziel dann die Aufdeckung der infantilen Objektwahl und der sie umspinnenden Phantasien ist. Ich möchte aber die erwähnten Argumente kritisch beleuchten und die Frage aufwerfen, ob wir mit ihnen der Patientin die Wahrheit sagen oder in unserer Notlage zu Verhehlungen und Entstellungen Zuflucht genommen haben. Mit anderen Worten: ist die in der analytischen Kur manifest werdende Verliebtheit wirklich keine reale zu nennen? Ich meine, wir haben der Patientin die Wahrheit gesagt, aber doch nicht die ganze, um das Ergebnis unbekümmerte. Von unseren beidenArgumenten ist das erste das stärkere. Der Anteil des Widerstandes an der Übertragungsliebe ist unbestreitbar und sehr beträchtlich. Aber der Widerstand hat diese Liebe doch nicht geschaffen, er findet sie vor, bedient sich ihrer und übertreibt ihre Äußerungen. Die Echtheit des Phänomens wird auch durch den Widerstand nicht entkräftet. Unser zweites Argument ist weit schwächer; es ist wahr, daß diese Verliebtheit aus Neuauflagen alter Züge besteht und infantile Reaktionen wiederholt. Aber dies ist der wesentliche Charakter jeder Verliebtheit. Es gibt keine, die nicht infantile Vorbilder wiederholt. Gerade das, was ihren zwanghaften, ans Pathologische mahnenden Charakter ausmacht, rührt von ihrer infantilen Bedingtheit her. Die Übertragungsliebe hat vielleicht einen Grad von Freiheit weniger als die im Leben vorkommende, normal genannte, läßt die Abhängigkeit von der infantilen Vorlage deutlicher erkennen, zeigt sich weniger schmiegsam und modifikationsfähig, aber das ist auch alles und nicht das Wesentliche. Woran soll man die Echtheit einer Liebe sonst erkennen? An ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Brauchbarkeit zur Durchsetzung des Liebeszieles? In diesem Punkte scheint die Übertragungsliebe hinter keiner anderen zurückzustehen; man hat den Eindruck, daß man alles von ihr erreichen könnte.
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Resümieren wir also: Man hat kein Anrecht, der in der analytischen Behandlung zutage tretenden Verliebtheit den Charakter einer "echten" Liebe abzustreiten. Wenn sie so wenig normal erscheint, so erklärt sich dies hinreichend aus dem Umstande, daß auch die sonstige Verliebtheit außerhalb der analytischen Kur eher an die abnormen als an die normalen seelischen Phänomene erinnert. Immerhin ist sie durch einige Züge ausgezeichnet, welche ihr eine besondere Stellung sichern. Sie ist 1. durch die analytische Situation provoziert, 2. durch den diese Situation beherrschenden Widerstand in die Höhe getrieben, und 3., sie entbehrt in hohem Grade der Rücksicht auf die Realität, sie ist unkluger, unbekümmerter um ihre Konsequenzen, verblendeter in der Schätzung der geliebten Person, als wir einer normalen Verliebtheit gerne zugestehen wollen. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß gerade diese von der Norm abweichenden Züge das Wesentliche einer Verliebtheit ausmachen. Für das Handeln des Arztes ist die erste der drei erwähnten Eigenheiten der Übertragungsliebe das Maßgebende. Er hat diese Verliebtheit durch die Einleitung der analytischen Behandlung zur Heilung der Neurose hervorgelockt; sie ist für ihn das unvermeidliche Ergebnis einer ärztlichen Situation, ähnlich wie die körperliche Entblößung eines Kranken oder wie die Mitteilung eines lebenswichtigen Geheimnisses. Damit steht es für ihn fest, daß er keinen persönlichen Vorteil aus ihr ziehen darf. Die Bereitwilligkeit der Patientin ändert nichts daran, wälzt nur die ganze Verantwortlichkeit auf seine eigene Person. Die Kranke war ja, wie er wissen muß, auf keinen anderen Mechanismus der Heilung vorbereitet. Nach glücklicher Überwindung aller Schwierigkeiten gesteht sie oft die Erwartungsphantasie ein, mit der sie in die Kur eingetreten war: Wenn sie sich brav benehme, werde sie am Ende durch die Zärtlichkeit des Arztes belohnt werden. Für den Arzt vereinigen sich nun ethische Motive mit den technischen, um ihn von der Liebesgewährung an die Kranke zurückzuhalten. Er muß das Ziel im Auge behalten, daß das in seiner Liebesfähigkeit durch infantile Fixierungen behinderte Weib zur freien Verfügung über diese für sie unschätzbar wichtige Funktion gelange, aber sie nicht in der Kur verausgabe, sondern sie fürs reale Leben bereithalte, wenn dessen Forderungen nach der Behandlung an sie herantreten. Er darf nicht die Szene des Hundewettrennens mit ihr aufführen, bei dem ein Kranz von Würsten als Preis ausgesetzt ist, und das ein Spaßvogel verdirbt, indem er eine einzelne Wurst in die Rennbahn wirft. Über die fallen die Hunde her und vergessen ans Wettrennen und an den in der Feme winkenden
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Kranz für den Sieger. Ich will nicht behaupten, daß es dem Arzte immer leicht wird, sich innerhalb der ihm von Ethik und Technik vorgeschriebenen Schranken zu halten. Besonders der jüngere und noch nicht fest gebundene Mann mag die Aufgabe als eine harte empfinden. Unzweifelhaft ist die geschlechtliche Liebe einer der Hauptinhalte des Lebens und die Vereinigung seelischer und köperlicher Befriedigung im Liebesgenusse geradezu einer der Höhepunkte desselben. Alle Menschen bis auf wenige verschrobene Fanatiker wissen das und richten ihr Leben danach ein; nur in der Wissenschaft ziert man sich, es zuzugestehen. Anderseits ist es eine peinliche Rolle für den Mann, den Abweisenden und Versagenden zu spielen, wenn das Weib um Liebe wirbt, und von einer edlen Frau, die sich zu ihrer Leidenschaft bekennt, geht trotz Neurose und Widerstand ein unvergleichbarer Zauber aus. Nicht das grobsinnliche Verlangen der Patientin stellt die Versuchung her. Dies wirkt ja eher abstoßend und ruft alle Toleranz auf, um es als natürliches Phänomen gelten zu lassen. Die feineren und zielgehemmten Wunschregungen des Weibes sind es vielleicht, die die Gefahr mit sich bringen, Technik und ärztliche Aufgabe über ein schönes Erlebnis zu vergessen. Und doch bleibt für den Analytiker das Nachgeben ausgeschlossen. So hoch er die Liebe schätzen mag, er muß es höher stellen, daß er die Gelegenheit hat, seine Patientin über eine entscheidende Stufe ihres Lebens zu heben. Sie hat von ihm die Überwindung des Lustprinzips zu lernen, den Verzicht auf eine naheliegende, aber sozial nicht eingeordnete Befriedigung zugunsten einer entfernteren, vielleicht überhaupt unsicheren, aber psychologisch wie sozial untadeligen. Zum Zwecke dieser Überwindung soll sie durch die Urzeiten ihrer seelischen Entwicklung durchgeführt werden und auf diesem Wege jenes Mehr von seelischer Freiheit erwerben, durch welches sich die bewußte Seelentätigkeit - im systematischen Sinne - von der unbewußten unterscheidet. Der analytische Psychotherapeut hat so einen dreifachen Kampf zu führen, in seinem Inneren gegen die Mächte, welche ihn von dem analytischen Niveau herabziehen möchten, außerhalb der Analyse gegen die Gegner, die ihm die Bedeutung der sexuellen Triebkräfte bestreiten und es ihm verwehren, sich ihrer in seiner wissenschaftlichen Technik zu bedienen, und in der Analyse gegen seine Patienten, die sich anfangs wie die Gegner gebärden, dann aber die sie beherrschende Überschätzung des Sexuallebens kundgeben und den Arzt mit ihrer sozial ungebändigten Leidenschaftlichkeit gefangen nehmen wollen.
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Die Laien, von deren Einstellung zur Psychoanalyse ich eingangs sprach, werden gewiß auch diese Erörterungen über die Übertragungsliebe zum Anlasse nehmen, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Gefährlichkeit dieser therapeutischen Methode zu lenken. Der Psychoanalytiker weiß, daß er mit den explosivsten Kräften arbeitet und derselben Vorsicht und Gewissenhaftigkeit bedarf wie der Chemiker. Aber wann ist dem Chemiker je die Beschäftigung mit den ob ihrer Wirkung unentbehrlichen Explosivstoffen wegen deren Gefährlichkeit untersagt worden?[67] Es ist merkwürdig, daß sich die Psychoanalyse alle Lizenzen erst neu erobern muß, die anderen ärztlichen Tätigkeiten längst zugestanden sind. Ich bin gewiß nicht dafür, daß die harmlosen Behandlungsmethoden aufgegeben werden sollen. Sie reichen für manche Fälle aus, und schließlich kann die menschliche Gesellschaft den furor sanandi ebensowenig brauchen wie irgend einen anderen Fanatismus. Aber es heißt die Psychoneurosen nach ihrer Herkunft und ihrer praktischen Bedeutung arg unterschätzen, wenn man glaubt, diese Affektionen müßten durch Operationen mit harmlosen Mittelchen zu besiegen sein. Nein, im ärztlichen Handeln wird neben der medicina immer ein Raum bleiben für das ferrum und für das ignis,l681und so wird auch die kunstgerechte, unabgeschwächte Psychoanalyse nicht zu entbehren sein, die sich nicht scheut, die gefährlichsten seelischen Regungen zu handhaben und zum Wohle des Kranken zu meistern.
5.4 Wege der psychoanalytischen Therapie Bei dieser richtungsweisenden Arbeit handelte es sich ursprünglich um einen beim 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest im September 1918, also noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs verlesenen Text. Daher die vorangestellte Anrede. Freud empfiehlt hier seinen Zuhörern (und späteren Lesern) einen flexiblen Umgang mit der Abstinenzregel. Und er beseitigt ein Missverständnis: Abstinenz bedeutet nicht die Entbehrung jeglicher Befriedigung. Die undogmati[67] "Denken Sie an das schöne Gleichnis von Lassalle von der zersprungenen Eprouvette in der Hand des Chemikers [...]. Kleine Laboratoriumsexplosionen werden bei der Natur des Stoffes, mit dem wir arbeiten, nie zu vermeiden sein" (Freud & Jung, 1974147F). [68] Anspielung auf den Hippokrates zugeschriebenen Aphorismus: "Was Arzneien nicht heilen, heilt das Messer; was das Messer nicht heilt, heilt Brennen; was aber Brennen nicht heilt, muß als unheilbar angesehen werden."
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sche Halbmg Freuds reicht aber noch einen Schritt weiter, wenn er auf die Patienten zu sprechen kommt, die von der passiv-abwartenden (deutenden) Haltung des Analytikers nicht genügend profitieren können. In solchen Fällen müsse man dem "Gold der Analyse" das "Kupfer der Suggestion" beimischen. beziehungsweise auf Interventionsformen zurückgreifen. bei denen der Analytiker nicht nur als das auf der Ebene infantiler Phantasien zu deutende Übertragungsobjekt in Erscheinung trete. Vielmehr müsse er in solchen Fällen auch als der in der Außenwelt sichtbare "Erzieher und Ratgeber" in Erscheinung treten, der auf die Fragen des Patienten eingeht und aktiv antwortend reagiert (Heigl-Evers & Nitzsch.ke, 1994). Neben der hier erstmals ausgesprochenen (und inzwischen erfüllten) Prophezeiung, die Psychoanalyse werde eines Tages nicht nur reichen Privatpatienten zugute kommen (in Deutschland ist die psychoanalytische Therapie seit 1967 Kassenleistung), enthält der Text viele weitere Anregungen. die zur Fortentwicklung der psychoanalytischen Therapie beigetragen haben (vgl. Thomä & Kächele, 2006). Das gilt besonders im Hinblick auf die Patienten, die an (heute so genannten) strukturellen Störungen leiden. Für sie gibt es heute zahlreiche von der klassischen Psychoanalyse abgeleitete Verfahren. die störungsspezifisch ausgerichtet sind (Wöller & Kruse, 2001; Rudolf, 2004; Fischer, 2007; Streeck & Leich.senring, 2009).
m
Freuel, 5. (1919a). Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII, 5.183-194.
Meine Herren Kollegen! Sie wissen. wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und Abgesch10ssenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben. Neues dazuzulernen und an unserem Vorgehen abzuändern. was sich durch Besseres ersetzen läßt. Da wir nun nach langen. schwer durchlebten Jahren der Trennung wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es mich., den Stand unserer Therapie zu revidieren. der wir ja unsere Stellung in der mensch.1ichen Gesellschaft danken, und Ausschau zu halten. nach welchenneuen Richtungen sie sich entwickeln könnte. Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den neurotisch Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden unbewußten. verdrängten Regungen zu brin-
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gen und zu diesem Zwecke die Widerstände aufzudecken, die sich in ihm gegen solche Erweiterungen seines Wissens von der eigenen Person sträuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Widerstände auch deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Übertragung auf die Person des Arztes ausnützen, um unsere Überzeugung von der Unzweckmäßigkeit der in der Kindheit vorgefallenen Verdrängungsvorgänge und von der Undurchführbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu der seimigen werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des neuen Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den wir an die Stelle des früheren Krankheitskonflikts bei ihm gesetzt haben, sind von mir an anderer Stelle klargelegt worden. Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern. Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken das verdrängte Seelische in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir Psychoanalyse genannt. Warum "Analyse", was Zerlegung, Zersetzung bedeutet und an eine Analogie mit der Arbeit des Chemikers an den Stoffen denken läßt, die er in der Natur vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine solche Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die Symptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind wie alle seine seelischen Tätigkeiten hochzusammengesetzter Natur; die Elemente dieser Zusammensetzung sind im letzten Grunde Motive, Triebregungen. Aber der Kranke weiß von diesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr Ungenügendes. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hochkomplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die Symptome auf die sie motivierenden Triebregungen zurück, weisen diese dem Kranken bisher unbekannten Triebmotive in den Symptomen nach, wie der Chemiker den Grundstoff, das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet, in dem es in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich geworden war. Und ebenso zeigen wir dem Kranken an seinen nicht für krankhaft gehaltenen seelischen Äußerungen, daß ihm deren Motivierung. nur unvollkommen bewußt war, daß andere Triebmotive bei ihnen mitgewirkt haben, die ihm unerkannt geblieben sind. Auch das Sexualstreben der Menschen haben wir erklärt, indem wir es in seine Komponenten zerlegten, und wenn wir einen Traum deuten, gehen wir so vor, daß wir den Traum als Ganzes vernachlässigen und die Assoziation an seine einzelnen Elemente anknüpfen.
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Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psychoanalytischen Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte sich nun eine Anregung zu einer neuen Richtung unserer Therapie ergeben. Wir haben den Kranken analysiert, das heißt seine Seelentätigkeit in ihre elementaren Bestandteile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm aufgezeigt; was läge nun näher als zu fordern, daß wir ihm auch bei einer neuen und besseren Zusammensetzung derselben behilflich sein müssen? Sie wissen, diese Forderung ist auch wirklich erhoben worden. Wir haben gehört: Nach der Analyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese desselben folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis geknüpft, man könnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese geben, und das Bestreben, das Hauptgewicht der psychotherapeutischen Einwirkung auf diese Synthese, eine Art Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivisektion Zerstörten, zu verlegen. Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns in dieser Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwächst. Wollte ich mir gestatten, aufrichtig und unhöflich zu sein, so würde ich sagen, es handelt sich da um eine gedankenlose Phrase. Ich bescheide mich zu bemerken, daß nur eine inhaltsleere Überdehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen, eine unberechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber ein Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von anderem, ähnlichem, angebracht, kein Programm, keine Inhaltsangabe oder Definition. Und ein Vergleich braucht das Verglichene nur an einem Punkte zu tangieren und kann sich in allen anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische ist etwas so einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Vergleich seine Natur wiedergeben kann. Die psychoanalytische Arbeit bietet Analogien mit der chemischen Analyse, aber ebensolche mit dem Eingreifen des Chirurgen oder der Einwirkung des Orthopäden oder der Beeinflussung des Erziehers. Der Vergleich mit der chemischen Analyse findet seine Begrenzung darin, daß wir es im Seelenleben mit Strebungen zu tun haben, die einem Zwang zur Vereinheitlichung und Zusammenfassung unterliegen. Ist es uns gelungen, ein Symptom zu zersetzen, eine Triebregung aus einem Zusammenhange zu befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern tritt sofort in einen neuen ein. 69 69
Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas ganz Ähnliches. Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker erzwingt, vollziehen sich von ihm ungewollte Synthesen dank der freigewordenen Affinitäten und der Wahlverwandtschaft der Stoffe.
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Ja, im Gegenteil! Der neurotisch Kranke bringt uns ein zerrissenes, durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben entgegen, und während wir daran analysieren, die Widerstände beseitigen, wächst dieses Seelenleben zusammen, fügt die große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die Triebregungen ein, die bisher von ihm abgespalten und abseits gebunden waren. So vollzieht sich bei dem analytisch Behandelten die Psychosynthese ohne unser Eingreifen, automatisch und unausweichlich. Durch die Zersetzung der Symptome und die Aufhebung der Widerstände haben wir die Bedingungen für sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas in dem Kranken in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun ruhig darauf wartet, bis wir es irgendwie zusammensetzen. Die Entwicklung unserer Therapie wird also wohl andere Wege einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Ferenczi in seiner Arbeit über"Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse" (1919) als die "Aktivität" des Analytikers gekennzeichnet hat. Einigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu verstehen ist. Wir umschrieben unsere therapeutische Aufgabe durch die zwei Inhalte: Bewußtmachen des Verdrängten und Aufdeckung der Widerstände. Dabei sind wir allerdings aktiv genug. Aber sollen wir es dem Kranken überlassen, allein mit den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu werden? Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten, als er durch den Antrieb der Übertragung erfährt? Liegt es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen, daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen, welche für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste ist? Seine Leistung ist doch auch abhängig von einer Anzahl von äußerlich konstellierenden Umständen. Sollen wir uns da bedenken, diese Konstellation durch unser Eingreifen in geeigneter Weise zu verändern? Ich meine, eine solche Aktivität des analytisch behandelnden Arztes ist einwandfrei und durchaus gerechtfertigt. Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet der analytischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung eingehende Bemühung erfordern und ganz bestimmte Vorschriften ergeben wird. Ich werde heute nicht versuchen, Sie in diese noch in Entwicklung begriffene Technik einzuführen, sondern mich damit begnügen, einen Grundsatz hervorzuheben, dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zufallen wird. Er lautet: Die analytische Kur soll, soweit es möglich ist, in der Entbehrung - Abstinenz - durchgeführt werden.
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Wie weit es möglich ist, dies festzustellen, bleibe einer detaillierten Diskussion überlassen. Unter Abstinenz ist aber nicht die Entbehrung einer jeglichen Befriedigung zu verstehen - das wäre natürlich undurchführbar - auch nicht, was man im populären Sinne darunter versteht, die Enthaltung vom sexuellen Verkehr, sondern etwas anderes, was mit der Dynamik der Erkrankung und der Herstellung weit mehr zu tun hat. Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war, die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome ihm den Dienst von Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können während der Kur beobachten, daß jede Besserung seines Leidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert und die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese Triebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Verringerung derselben ist für unsere Heilungsabsicht gefährlich. Welche Folgerung drängt sich uns also unabweisbar auf? Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende finde. Wenn es durch die Zersetzung und Entwertung der Symptome ermäßigt worden ist, müssen wir es irgendwo anders als eine empfindliche Entbehrung wieder aufrichten, sonst laufen wir Gefahr, niemals mehr als bescheidene und nicht haltbare Besserungen zu erreichen. Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei Seiten. Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durch die Analyse erschüttert worden ist, aufs emsigste bemüht, sich an Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu schaffen, denen nun der Leidenscharakter abgeht. Er bedient sich der großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil freigewordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vorlieben, Gewohnheiten, auch solche, die bereits früher bestanden haben, mit Libido zu besetzen und sie zu Ersatzbefriedigungen zu erheben. Er findet immer wieder neue solche Ablenkungen, durch welche die zum Betrieb der Kur erforderte Energie versickert, und weiß sie eine Zeitlang geheim zu halten. Man hat die Aufgabe, alle diese Abwege aufzuspüren und jedesmal von ihm den Verzicht zu verlangen, so harmlos die zur Befriedigung führende Tätigkeit auch an sich erscheinen mag. Der Halbgeheilte kann aber auch minder harmlose Wege einschlagen, zum Beispiel indem er, wenn ein Mann, eine voreilige Bindung an ein Weib aufsucht. Nebenbei bemerkt, unglückliche Ehe und körperliches Siechtum sind die gebräuchlichsten Ablösungen der Neurose. Sie befriedigen insbesondere das Schuldbewußtsein (Strafbedürfnis), welches viele Kranke so zähe an ihrer Neurose festhalten läßt. Durch eine ungeschick-
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te Ehewahl bestrafen sie sich selbst; langes organisches Kranksein nehmen sie als eine Strafe des Schicksals an und verzichten dann häufig auf eine Fortführung der Neurose. Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situationen als energisches Einschreiten gegen die voreiligen Ersatzbefriedigungen äußern. Leichter wird ihm aber die Verwahrung gegen die zweite, nicht zu unterschätzende Gefahr, von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird. Der Kranke sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst im Übertragungsverhältnis zum Arzt und kann sogar danach streben, sich auf diesem Wege für allen ihm sonst auferlegten Verzicht zu entschädigen. Einiges muß man ihm ja wohl gewähren, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles und der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn es zu viel wird. Wer als Analytiker etwa aus der Fülle seines hilfsbereiten Herzens dem Kranken alles spendet, was ein Mensch vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben ökonomischen Fehler, dessen sich unsere nicht analytischen Nervenheilanstalten schuldig machen. Diese streben nichts anderes an, als es dem Kranken möglichst angenehm zu machen, damit er sich dort wohlfühle und gerne wieder aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht dorthin nehme. Dabei verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker, für seine eigentlichen Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In der analytischen Kur muß jede solche Verwöhnung vermieden werden. Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt betrifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten. Es ist zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die er am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert. Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten Aktivität des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die Entbehrung aufrecht zu halten, erschöpft habe. Eine andere Richtung der analytischen Aktivität ist, wie Sie sich erinnern werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen uns und der Schweizer Schule gewesen. Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere Hand begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten. Ich halte an dieser Ablehnung auch heute noch fest und meine, daß hier die Stelle für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns in anderen Beziehungen hinwegsetzen müssen, habe auch erfahren, daß eine so weit gehende Aktivität gegen den Patienten für die therapeutische Absicht gar nicht erforderlich ist. Denn ich
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
habe Leuten helfen können, mit denen mich keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stellung und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigenart zu stören. Ich habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten, allerdings den Eindruck empfangen, daß der Einspruch unserer Vertreter - ich glaube, es war in erster Linie E. Jones l70l - allzu schroff und unbedingt ausgefallen ist. Wir können es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die so haltlos und existenzunfähig sind, daß man bei ihnen die analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muß, und auch bei den meisten anderen wird sich hie und da eine Gelegenheit ergeben, wo der Arzt als Erzieher und Ratgeber aufzutreten genötigt ist. Aber dies soll jedesmal mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht zur Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen Wesens erzogen werden. Unser verehrter Freund J. Putnam[711in dem uns jetzt so feindlichen Amerika muß es uns verzeihen, wenn wir auch seine Forderung nicht annehmen können, die Psychoanalyse möge sich in den Dienst einer bestimmten philosophischen Weltanschauung stellen und diese dem Patienten zum Zwecke seiner Veredlung aufdrängen. Ich möchte sagen, dies ist doch nur Gewaltsarnkeit, wenn auch durch die edelsten Absichten gedeckt. Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns durch die allmählich wachsende Einsicht aufgenötigt, daß die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht durch die nämliche Technik erledigt werden können. Es wäre voreilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber an zwei Beispielen kann ich erläutern, inwiefern dabei eine neue Aktivität in Betracht kommt. Unsere Technik ist an der Behandlung der Hysterie erwachsen und noch immer auf diese Affektion eingerichtet. Aber schon die Phobien nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten hinauszugehen. Man wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet, bis sich der Kranke durch die Analyse bewegen läßt, sie aufzugeben. Er bringt dann niemals jenes Material in die Analyse, das zur überzeugenden Lösung der Phobie unentbehrlich ist. Man muß anders vorgehen. Nehmen Sie das Beispiel eines Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen, eine leichtere und eine schwerere. Die ersteren haben zwar jedesmal unter der Angst zu [70] Ernest Jones (1879-1958) war von 1920-1924 und 1932-1949 Vorsitzender der internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und verfasste die erste umfassende Freud-Biographie üones 1953-57; dt 1962). [71] Zu James J. Putnam (1846-1918), amerikanischer Neurologe, s. Prochnik (2006).
5.4 Wege der psychoanalytischen Therapie
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leiden, wenn sie allein auf die Straße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten. Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluß der Analyse bewegen kann, sich wieder wie Phobiker des ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen und während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen. Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie so weit zu ermäßigen, und erst wenn dies durch die Forderung des Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und Erinnerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie ermöglichen. Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten bei den schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im allgemeinen zu einem "asymptotischen" Heilungsvorgang, zu einer unendlichen Behandlungsdauer neigen, deren Analyse immer in Gefahr ist, sehr viel zutage zu fördern und nichts zu ändern. Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die richtige Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis die Kur selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem Gegenzwang den Krankheitszwang gewaltsam zu unterdrücken. Sie verstehen aber, daß ich Ihnen in diesen zwei Fällen nur Proben der neuen Entwicklungen vorgelegt habe, denen unsere Therapie entgegengeht. Und nun möchte ich zum Schlusse eine Situation ins Auge fassen, die der Zukunft angehört, die vielen von ihnen phantastisch erscheinen wird, die aber doch verdient, sollte ich meinen, daß man sich auf sie in Gedanken vorbereitet. Sie wissen, daß unsere therapeutische Wirksamkeit keine sehr intensive ist. Wir sind nur eine Handvoll Leute, und jeder von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem Jahr nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen das Übermaß von neurotischem Elend, das es in der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben braucht, kommt das, was wir davon wegschaffen können, quantitativ kaum in Betracht. Außerdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft eingeschränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei dieser Wahl durch alle Vorurteile von der Psychoanalyse abgelenkt werden. Für die breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit nichts tun. Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Organisation gelänge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren, daß wir zur Behandlung von größeren Menschenmassen ausreichen. Anderseits läßt sich vorhersehen: Irgend einmal wird
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, daß der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. Und daß die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder bedrohen als die Tuberkulose und ebensowenig wie diese der ohnmächtigen Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke überlassen werden können. Dann werden also Anstalten oder Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse widerstands- und leistungsfähig zu erhalten. Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als dringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen den Termin noch länger hinausschieben, es ist wahrscheinlich, daß private Wohltätigkeit mit solchen Instituten den Anfang machen wird; aber irgend einmal wird es dazu kommen müssen. Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Technik den neuen Bedingungen anzupassen. Ich zweifle nicht daran, daß die Triftigkeit unserer psychologischen Annahmen auch auf den Ungebildeten Eindruck machen wird, aber wir werden den einfachsten und greifbarsten Ausdruck unserer theoretischen Lehren suchen müssen. Wir werden wahrscheinlich die Erfahrung machen, daß der Arme noch weniger zum Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil das schwere Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und das Kranksein ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfe bedeutet. Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung mit materieller Unterstützung nach Art des Kaiser Josef vereinigen können. Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind.
5.5 Konstruktionen in der Analyse
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5.5 Konstruktionen in der Analyse Freud weist im hier abgedruckten Text darauf hin, dass die Arbeit der "Konstruktion oder, wenn man es so lieber hört, der Rekonstruktion", die der Analytiker stellvertretend für den Analysanden leistet, das Ziel hat, Zusammenhänge, die aufgrund der Abwehr unlustvoller Affekte zerrissen worden sind oder gar nicht erst zustande kommen konnten, (wieder) herzustellen, womit dann auch (wieder) eine lückenlose Erinnerung möglich wird. Im Hinblick auf die Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen hatte Freud dabei zwischen dem objektiv feststellbaren Ereignis und dem subjektiven Erleben dieses Ereignisses unterschieden. Hinreichende Ursache psychischer Erkrankungenist demnach weder das Realereignis (Trauma - Konflikt) noch das Affektereignis (die Affekte, die mit dem psychischen Trauma oder Konflikt einhergehen); ausschlaggebend sind vielmehr die Erlebnisse, die durch die Verarbeitung der Affekte unter Einschluss von Interpretationen (Kognitionen) zustande kommen. In Freuds m.etapsychologischer Sprache formuliert lautet die Frage dann: Welche Mittel stehen dem psychischen Apparat zur Verfügung, um die durch das Ereignis ausgelösten Affekte so zu bewältigen, dass Erlebnisse entstehen können, die künftig bewusst verfügbar sind, anstatt abgewehrt zu werden und damit pathogen wirksam bleiben? Es geht also um die Bewältigungsmechanismen, die dem vom Trauma oder Konflikt Betroffenen zur Verfügung stehen, die darüber entscheiden, ob es zu einer psychisehen Erkrankung kommen wird (s. Kap. 1 und Kap. 4 des vorliegenden Bandes). Die Erlebnisse, die durch die Re-Konstruktion erstmals (oder wieder) eine annehmbare Be-Deutung gewinnen, erhalten damit zugleich einen Platz in der Lebensgeschichte des Patienten. Und so können dann auch die wunscherfüllenden illusionen, die sich mit der Abkehr von der Außenwelt-Realität bei psychischer Erkrankung einstellen, zugunsten der Anerkennung der "historischen Wahrheit" aufgegeben werden.
Freud, S. (1937d). Konstruktionen in der Analyse. GW XVI, S. 43-56. I
Ein sehr verdienter Forscherl'2l, dem ich es immer hoch angerechnet, daß er der Psychoanalyse Gerechtigkeit erwiesen zu einer Zeit, da die meisten anderen sich [72) Gemeint ist der Sexualforscher Havelock Bilis (1859-1939).
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
über diese Verpflichtung hinaussetzten, hat doch einmal eine ebenso kränkende wie ungerechte Äußerung über unsere analytische Technik getan. Er sagte, wenn wir einem Patienten unsere Deutungen vortragen, verfahren wir gegen ihn nach dem berüchtigten Prinzip: Heads I win, tails you lose. Das heißt, wenn er uns zustimmt, dann ist es eben recht; wenn er aber widerspricht, dann ist es nur ein Zeichen seines Widerstandes, gibt uns also auch recht. Auf diese Weise behalten wir immer recht gegen die hilflose arme Person, die wir analysieren, gleichgültig wie sie sich gegen unsere Zumutungen verhalten mag. Da es nun richtig ist, daß ein Nein unseres Patienten uns im allgemeinen nicht bestimmt, unsere Deutung als unrichtig aufzugeben, ist eine solche Entlarvung unserer Technik den Gegnern der Analyse sehr willkommen gewesen. Es verlohnt sich darum, eingehend darzustellen, wie wir das "Ja" und das "Nein" des Patienten während der analytischen Behandlung, den Ausdruck seiner Zustimmung und seines Widerspruchs, einzuschätzen pflegen. Freilich wird bei dieser Rechtfertigung kein ausübender Analytiker etwas erfahren, was er nicht schon weiß. Es ist bekanntlich die Absicht der analytischen Arbeit, den Patienten dahin zu bringen, daß er die Verdrängungen - im weitesten Sinne verstanden - seiner Frühentwicklung wieder aufhebe, um sie durch Reaktionen zu ersetzen, wie sie einem Zustand von psychischer Gereiftheit entsprechen würden. Zu diesem Zwecke soll er bestimmte Erlebnisse und die durch sie hervorgerufenen Affektregungen wieder erinnern, die derzeit bei ihm vergessen sind. Wir wissen, daß seine gegenwärtigen Symptome und Hemmungen die Folgen solcher Verdrängungen, also der Ersatz für jenes Vergessene sind. Was für Materialien stellt er uns zur Verfügung, durch deren Ausnützung wir ihn auf den Weg führen können, die verlorenen Erinnerungen wiederzugewinnen? Mancherlei, Bruchstücke dieser Erinnerungen in seinen Träumen, an sich von unvergleichlichem Wert, aber in der Regel schwer entstellt durch alle die Faktoren, die an der Traumbildung Anteil haben; Einfälle, die er produziert, wenn er sich der "freien Assoziation" überläßt, aus denen wir Anspielungen auf die verdrängten Erlebnisse und Abkömmlinge der unterdrückten Affektregungen sowie der Reaktionen gegen sie herauszufinden vermögen; endlich Andeutung von Wiederholungen der dem Verdrängten zugehÖrigen Affekte in wichtigeren oder geringfügigen Handlungen des Patienten innerhalb wie außerhalb der analytischen Situation. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß das Verhältnis der übertragung, das sich zum Analytiker herstellt, besonders geeignet ist, um die Wiederkehr solcher Af-
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fektbeziehungen zu begünstigen. Aus diesem Rohstoff - sozusagen - sollen wir das Gewünschte herstellen. Das Gewünschte ist ein zuverlässiges und in allen wesentlichen Stücken vollständiges Bild der vergessenen Lebensjahre des Patienten. Hier werden wir aber daran gemahnt, daß die analytische Arbeit aus zwei ganz verschiedenen Stücken besteht, daß sie sich auf zwei gesonderten Schauplätzen vollzieht, an zwei Personen vor sich geht, von denen jedem eine andere Aufgabe zugewiesen ist. Man fragt sich einen Augenblick lang, warum man auf diese grundlegende Tatsache nicht längst aufmerksam gemacht wurde, aber man sagt sich sofort, daß einem hier nichts vorenthalten wurde, daß es sich um ein allgemein bekanntes, sozusagen selbstverständliches Faktum handelt, das nur hier in einer besonderen Absicht herausgehoben und für sich gewürdigt wird. Wir wissen alle, der Analysierte soll dazu gebracht werden, etwas von ihm Erlebtes und Verdrängtes zu erinnern, und die dynamischen Bedingungen dieses Vorgangs sind so interessant, daß das andere Stück der Arbeit, die Leistung des Analytikers, dagegen in den Hintergrund rückt. Der Analytiker hat von dem, worauf es ankommt, nichts erlebt und nichts verdrängt; seine Aufgabe kann es nicht sein, etwas zu erinnern. Was ist also seine Aufgabe? Er hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu lwnstruieren. Wie, wann und mit welchen Erläuterungen er seine Konstruktionen dem Analysierten mitteilt, das stellt die Verbindung her zwischen beiden Stücken der analytischen Arbeit, zwischen seinem Anteil und dem des Analysierten. Seine Arbeit der Konstruktion oder, wenn man es so lieber hört, der Rekonstruktion, zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit der des Archäologen, der eine zerstörte und verschüttete Wohnstätte oder ein Bauwerk der Vergangenheit ausgräbt. Sie ist eigentlich damit identisch, nur daß der Analytiker unter besseren Bedingungen arbeitet, über mehr Hilfsmaterial verfügt, weil er sich um etwas noch Lebendes bemüht, nicht um ein zerstörtes Objekt, und vielleicht auch noch aus einem anderen Grunde. Aber wie der Archäologe aus stehengebliebenen Mauerresten die Wandungen des Gebäudes aufbaut, aus Vertiefungen im Boden die Anzahl und Stellung von Säulen bestimmt, aus den im Schutt gefundenen Resten die einstigen Wandverzierungen und Wandgemälde wiederherstellt, genauso geht der Analytiker vor, wenn er seine Schlüsse aus Erinnerungsbrocken, Assoziationen und aktiven Äußerungen des Analysierten zieht. Beiden bleibt das Recht zur Rekonstruktion durch Ergänzung und Zusammen-
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
fügung der erhaltenen Reste unbestritten. Auch manche Schwierigkeiten und Fehlerquellen sind für beide Fälle die nämlichen. Eine der heikelsten Aufgaben der Archäologie ist bekanntlich die Bestimmung des relativen Alters eines Fundes, und wenn ein Objekt in einer bestimmten Schicht zum Vorschein kommt, bleibt es oft zu entscheiden, ob es dieser Schicht angehört oder durch eine spätere Störung in die Tiefe geraten ist. Es ist leicht zu erraten, was bei den analytischen Konstruktionen diesem Zweifel entspricht. Wir haben gesagt, der Analytiker arbeite unter günstigeren Verhältnissen als der Archäologe, weil er auch über Material verfügt, zu dem die Ausgrabungen kein Gegenstück bringen können, z. B. die Wiederholungen von aus der Frühzeit stammenden Reaktionen und alles, was durch die Übertragung an solchen Wiederholungen aufgezeigt wird. Außerdem kommt aber in Betracht, daß der Ausgräber es mit zerstörten Objekten zu tun hat, von denen große und wichtige Stücke ganz gewiß verlorengegangen sind, durch mechanische Gewalt, Feuer und Plünderung. Keiner Bemühung kann es gelingen, sie aufzufinden, um sie mit den erhaltenen Resten zusammenzusetzen. Man ist einzig und allein auf die Rekonstruktion angewiesen, die sich darum oft genug nicht über eine gewisse Wahrscheinlichkeit erheben kann. Anders ist es mit dem psychischen Objekt, dessen Vorgeschichte der Analytiker erheben will. Hier trifft regelmäßig zu, was sich beim archäologischen Objekt nur in glücklichen Ausnahmsfällen ereignet hat wie in Pompeji und mit dem Grab des Tutankhamen. Alles Wesentliche ist erhalten, selbst was vollkommen vergessen scheint, ist noch irgendwie und irgendwo vorhanden, nur verschüttet, der Verfügung des Individuums unzugänglich gemacht. Man darf ja bekanntlich bezweifeln, ob irgendeine psychische Bildung wirklich voller Zerstörung anheimfällt. Es ist nur eine Frage der analytischen Technik, ob es gelingen wird, das Verborgene vollständig zum Vorschein zu bringen. Dieser außerordentlichen Bevorzugung der analytischen Arbeit stehen nur zwei andere Tatsachen entgegen, nämlich daß das psychische Objekt unvergleichlich komplizierter ist als das materielle des Ausgräbers und daß unsere Kenntnis nicht genügend vorbereitet ist auf das, was wir finden sollen, da dessen intime Struktur noch soviel Geheimnisvolles birgt. Und nun kommt unser Vergleich der beiden Arbeiten auch zu seinem Ende, denn der Hauptunterschied der beiden liegt darin, daß für die Archäologie die Rekonstruktion das Ziel und das Ende der Bemühung ist, für die Analyse aber ist die Konstruktion nur eine Vorarbeit.
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11 Vorarbeit allerdings nicht in dem Sinne, daß sie zuerst als Ganzes erledigt werden müßte, bevor man das nächste beginnt, etwa wie bei einem Hausbau, wo alle Mauern aufgerichtet und alle Fenster eingesetzt sein müssen, ehe man sich mit der inneren Dekoration der Gemächer beschäftigen kann. Jeder Analytiker weiß, daß es in der analytischen Behandlung anders zugeht, daß beide Arten von Arbeit nebeneinander herlaufen, die eine immer voran, die andere an sie anschließend. Der Analytiker bringt ein Stück Konstruktion fertig, teilt es dem Analysierten mit, damit es auf ihn wirke; dann konstruiert er ein weiteres Stück aus dem neu zuströmenden Material, verfährt damit auf dieselbe Weise, und in solcher Abwechslung weiter bis zum Ende. Wenn man in den Darstellungen der analytischen Technik so wenig von "Konstruktionen" hört, so hat dies seinen Grund darin, daß man anstatt dessen von "Deutungen" und deren Wirkung spricht. Aber ich meine, Konstruktion ist die weitaus angemessenere Bezeichnung. Deutung bezieht sich auf das, was man mit einem einzelnen Element des Materials, einem Einfall, einer Fehlleistung u. dgl., vornimmt. Eine Konstruktion ist es aber, wenn man dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte etwa in folgender Art vorführt: Bis zu Ihrem nten Jahr haben Sie sich als alleinigen und unbeschränkten Besitzer der Mutter betrachtet, dann kam ein zweites Kind und mit ihm eine schwere Enttäuschung. Die Mutter hat Sie für eine Weile verlassen, sich auch später Ihnen nicht mehr ausschließlich gewidmet. Ihre Empfindungen für die Mutter wurden ambivalent, der Vater gewann eine neue Bedeutung für Sie und so weiter. In unserem Aufsatz ist unsere Aufmerksamkeit ausschließlich dieser Vorarbeit der Konstruktionen zugewendet. Und da erhebt sich zuallererst die Frage, welche Garantien haben wir während der Arbeit an den Konstruktionen, daß wir nicht irregehen und den Erfolg der Behandlung durch die Vertretung einer unrichtigen Konstruktion aufs Spiel setzen? Es mag uns scheinen, daß diese Frage eine allgemeine Beantwortung überhaupt nicht zuläßt, aber noch vor dieser Erörterung wollen wir einer trostreichen Auskunft lauschen, die uns die analytische Erfahrung gibt. Die lehrt uns nämlich, es bringt keinen Schaden, wenn wir uns einmal geirrt und dem Patienten eine unrichtige Konstruktion als die wahrscheinliche historische Wahrheit vorgetragen haben. Es bedeutet natürlich einen Zeitverlust, und wer dem Patienten immer nur irrige Kombinationen zu erzählen weiß, wird ihm keinen guten Eindruck machen und es in seiner Be-
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
handlung nicht weit bringen, aber ein einzelner solcher Irrtum ist harmlos. Was in solchem Falle geschieht, ist vielmehr, daß der Patient wie unberührt bleibt, weder mit Ja noch mit Nein darauf reagiert. Das kann möglicherweise nur ein Aufschub seiner Reaktion sein; bleibt es aber so, dann dürfen wir den Schluß ziehen, daß wir uns geirrt haben, und werden dies ohne Einbuße in unserer Autorität bei passender Gelegenheit dem Patienten eingestehen. Diese Gelegenheit ist gegeben, wenn neues Material zum Vorschein gekommen ist, das eine bessere Konstruktion und somit die Korrektur des Irrtums gestattet. Die falsche Konstruktion fällt in solcher Art heraus, als ob sie nie gemacht worden wäre, ja in manchen Fällen gewinnt man den Eindruck, als hätte man, mit Polonius zu reden, den Wahrheitskarpfen gerade mit Hilfe des Lügenköders gefangen.l73l Die Gefahr, den Patienten durch Suggestion irrezuführen, indem man ihm Dinge "einredet", an die man selbst glaubt, die er aber nicht annehmen sollte, ist sicherlich maßlos übertrieben worden. Der Analytiker müßte sich sehr inkorrekt benommen haben, wenn ihm ein solches Mißgeschick zustoßen könnte; vor allem hätte er sich vorzuwerfen, daß er den Patienten nicht zu Wort kommen ließ. Ich kann ohne Ruhmredigkeit [= ohne prahlen zu wollen] behaupten, daß ein solcher Mißbrauch der "Suggestion" in meiner Tätigkeit sich niemals ereignet hat. Aus dem Vorstehenden geht bereits hervor, daß wir keineswegs geneigt sind, die Anzeichen zu vernachlässigen, die sich aus der Reaktion des Patienten auf die Mitteilung einer unserer Konstruktionen ableiten. Wir wollen diesen Punkt eingehend behandeln. Es ist richtig, daß wir ein "Nein" des Analysierten nicht als vollwertig hinnehmen, aber ebensowenig lassen wir sein "Ja" gelten; es ist ganz ungerechtfertigt, uns zu beschuldigen, daß wir seine Äußerung in allen Fällen in eine Bestätigung umdeuten. In Wirklichkeit geht es nicht so einfach zu, machen wir uns die Entscheidung nicht so leicht. Das direkte "Ja" des Analysierten ist vieldeutig. Es kann in der Tat anzeigen, daß er die vernommene Konstruktion als richtig anerkennt, es kann aber auch bedeutungslos sein oder selbst was wir "heuchlerisch" heißen können, indem es seinem Widerstand bequem ist, die nicht aufgedeckte Wahrheit durch eine solche Zustimmung weiterhin zu verbergen. Einen Wert hat dies Ja nur, wenn es von indirekten Bestätigungen gefolgt wird, wenn der Patient in unrnittelba[73] Polonius: "Eu'r Lügenköder fängt den Wahrheitskarpfen" (Shakespeare, Hamlet, n. Akt, 1. Szene).
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rem Anschluß an sein Ja neue Erinnerungen produziert, welche die Konstruktion ergänzen und erweitern. Nur in diesem Falle anerkennen wir das "Ja" als die volle Erledigung des betreffenden Punktes. Das Nein des Analysierten ist ebenso vieldeutig und eigentlich noch weniger verwendbar als sein Ja. In seltenen Fällen erweist es sich als Ausdruck berechtigter Ablehnung; ungleich häufiger ist es Äußerung eines Widerstandes, der durch den Inhalt der mitgeteilten Konstruktion hervorgerufen wird, aber ebensowohl von einem anderen Faktor der komplexen analytischen Situation herrühren kann. Das Nein des Patienten beweist also nichts für die Richtigkeit der Konstruktion, es verträgt sich aber sehr gut mit dieser Möglichkeit. Da jede solche Konstruktion unvollständig ist, nur ein Stückchen des vergessenen Geschehens erfaßt, steht es uns frei anzunehmen, daß der Analysierte nicht eigentlich das ihm Mitgeteilte leugnet, sondern seinen Widerspruch von dem noch nicht aufgedeckten Anteil her aufrechthält. Er wird in der Regel seine Zustimmung erst dann äußern, wenn er die ganze Wahrheit erfahren hat, und die ist oft recht weitläufig. Die einzig sichere Deutung seines "Nein" ist also die auf Unvollständigkeit; die Konstruktion hat ihm gewiß nicht alles gesagt. Es ergibt sich also, daß man aus den direkten Äußerungen des Patienten nach der Mitteilung einer Konstruktion wenig Anhaltspunkte gewinnen kann, ob man richtig oder unrichtig geraten hat. Um so interessanter ist es, daß es indirekte Arten der Bestätigung gibt, die durchaus zuverlässig sind. Eine derselben ist eine Redensart, die man in wenig abgeänderten Worten von den verschiedensten Personen wie über Verabredung zu hören bekommt. Sie lautet: Das (daran) habe ich (oder: hätte ich) nie gedacht. Man kann diese Äußerung unbedenklich übersetzen: Ja, Sie haben das Unbewußte in diesem Falle richtig getroffen. Leider hört man die dem Analytiker so erwünschte Formel häufiger nach Einzeldeutungen als nach der Mitteilung umfangreicher Konstruktionen. Eine ebenso wertvolle Bestätigung, diesmal positiv ausgedrückt, ist es, wenn der Analysierte mit einer Assoziation antwortet, die etwas dem Inhalt der Konstruktion Ähnliches oder Analoges enthält. Anstatt eines Beispieles hierfür aus einer Analyse, das leicht aufzufinden, aber weitläufig darzustellen wäre, möchte ich hier ein kleines außeranalytisches Erlebnis erzählen, das einen solchen Sachverhalt mit beinahe komisch wirkender Eindringlichkeit darstellt. Es handelte sich um einen Kollegen, der mich - es ist lange her - zum Konsiliarius in seiner ärztlichen Tätigkeit gewählt hatte. Eines Tages aber brachte er mir seine junge Frau, die ihm Unge-
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legenheiten bereitete. Sie verweigerte ihm unter allerlei Vorwänden den sexuellen Verkehr, und er erwartete offenbar von mir, daß ich sie über die Folgen ihres unzweckmäßigen Benehmens aufklären sollte. Ich ging darauf ein und setzte ihr auseinander, daß ihre Weigerung bei ihrem Mann wahrscheinlich bedauerliche Gesundheitsstörungen oder Versuchungen hervorrufen würde, die zum Verfall ihrer Ehe führen könnten. Dabei unterbrach er mich plötzlich, um mir zu sagen: Der Engländer, bei dem Sie einen Himtumor diagnostiziert haben, ist auch schon gestorben. Die Rede schien zuerst unverständlich, das auch im Satze rätselhaft, es war von keinem anderen Gestorbenen gesprochen worden. Eine kurze Weile später verstand ich. Der Mann wollte mich offenbar bekräftigen, er wollte sagen: Ja, Sie haben ganz gewiß recht, Ihre Diagnose bei dem Patienten hat sich auch bestätigt. Es war ein volles Gegenstück zu den indirekten Bestätigungen durch Assoziationen, die wir in den Analysen erhalten. Daß an der Äußerung des Kollegen auch andere, von ihm beiseite geschobene Gedanken einen Anteil gehabt haben, will ich nicht bestreiten. Die indirekte Bestätigung durch Assoziationen, die zum Inhalt der Konstruktion passen, die ein solches "auch" mit sich bringen, gibt unserem Urteil wertvolle Anhaltspunkte, um zu erraten, ob sich diese Konstruktion in der Fortsetzung der Analyse bewahrheiten wird. Besonders eindrucksvoll ist auch der Fall, wenn sich die Bestätigung mit Hilfe einer Fehlleistung in den direkten Widerspruch einschleicht. Ein schönes Beispiel dieser Art habe ich früher einmal an anderer Stelle veröffentlicht (Freud, 1901b, S. 104). In den Träumen des Patienten tauchte wiederholt der in Wien wohlbekannte Name fauner auf, ohne in seinen Assoziationen genügende Aufklärung zu finden. Ich versuchte dann die Deutung, er meine wohl Gauner, wenn er fauner sage, und der Patient antwortet prompt: Das scheint mir doch zu jewagt. Oder der Patient will die Zumutung, daß ihm eine bestimmte Zahlung zu hoch erscheine, mit den Worten zurückweisen: Zehn Dollars spielen bei mir keine Rolle, setzt aber anstatt Dollars die niedrigere Geldsorte ein und sagt: Zehn Schilling. Wenn die Analyse unter dem Druck starker Momente steht, die eine negative therapeutische Reaktion erzwingen, wie Schuldbewußtsein, masochistisches Leidensbedürfnis, Sträuben gegen die Hilfeleistung des Analytikers, macht das Verhalten des Patienten nach der Mitteilung der Konstruktion uns oft die gesuchte Entscheidung sehr leicht. Ist die Konstruktion falsch, so ändert sich nichts beim Patienten; wenn sie aber richtig ist oder eine Annäherung an die Wahrheit
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bringt, so reagiert er auf sie mit einer unverkennbaren Verschlimmerung seiner Symptome und seines Allgemeinbefindens. Zusammenfassend werden wir feststellen, wir verdienen nicht den Vorwurf, daß wir die Stellungnahme des Analysierten zu unseren Konstruktionen geringschätzig zur Seite drängen. Wir achten auf sie und entnehmen ihr oft wertvolle Anhaltspunkte. Aber diese Reaktionen des Patienten sind zumeist vieldeutig und gestatten keine endgültige Entscheidung. Nur die Fortsetzung der Analyse kann die Entscheidung über Richtigkeit oder Unbrauchbarkeit unserer Konstruktion bringen. Wir geben die einzelne Konstruktion für nichts anderes aus als für eine Vermutung, die auf Prüfung, Bestätigung oder Verwerfung wartet. Wir beanspruchen keine Autorität für sie, fordern vom Patienten keine unmittelbare Zustimmung, diskutieren nicht mit ihm, wenn er ihr zunächst widerspricht. Kurz, wir benehmen uns nach dem Vorbild einer bekannten Nestroyschen Figur, des Hausknechts l741, der für alle Fragen und Einwendungen die einzige Antwort bereit hat: Im Laufe der Begebenheiten wird alles klar werden. III
Wie dies in der Fortsetzung der Analyse vor sich geht, auf welchen Wegen sich unsere Vermutung in die Überzeugung des Patienten verwandelt, das darzustellen lohnt kaum der Mühe; es ist aus täglicher Erfahrung jedem Analytiker bekannt und bietet dein Verständnis keine Schwierigkeit. Nur ein Punkt daran verlangt nach Untersuchung und Aufklärung. Der Weg, der von der Konstruktion des Analytikers ausgeht, sollte in der Erinnerung des Analysierten enden; er führt nicht immer so weit. Oft genug gelingt es nicht, den Patienten zur Erinnerung des Verdrängten zu bringen. Anstatt dessen erreicht man bei ihm durch korrekte Ausführung der Analyse eine sichere Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion, die therapeutisch dasselbe leistet wie eine wiedergewonnene Erinnerung. Unter welchen Umständen dies geschieht und wie es möglich wird, daß ein scheinbar unvollkommener Ersatz doch die volle Wirkung tut, das bleibt ein Stoff für spätere Forschung. Ich werde diese kleine Mitteilung mit einigen Bemerkungen beschließen, die eine weitere Perspektive eröffnen. Es ist mir in einigen Analysen aufgefallen, [74] Schlosser Gluthammer, der in Johann Nestroys "Der Zerrissene" feststellt: "Im Verlauf der Begebenheiten wird das alles klar" (1. Akt, 3. Szene).
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daß die Mitteilung einer offenbar zutreffenden Konstruktion ein überraschendes und zunächst unverständliches Phänomen bei den Analysierten zum Vorschein brachte. Sie bekamen lebhafte Erinnerungen, von ihnen selbst als "überdeutlich" bezeichnet, aber sie erinnerten nicht etwa die Begebenheit, die der Inhalt der Konstruktion war, sondern Details, die diesem Inhalt nahestanden, z. B. die Gesichter der darin genannten Personen überscharf oder die Räume, in denen sich Ähnliches hätte zutragen können, oder, ein Stück weiter weg, die Eimichtungsgegenstände dieser Räumlichkeiten, von denen die Konstruktion natürlich nichts hatte wissen können. Dies geschah ebensowohl in Träumen unmittelbar nach der Mitteilung als auch im Wachen in phantasieartigen Zuständen. An diese Erinnerungen selbst schloß weiter nichts an; es lag dann nahe, sie als Ergebnis eines Kompromisses aufzufassen. Der "Auftrieb" des Verdrängten, durch die Mitteilung der Konstruktion rege geworden, hatte jene bedeutsamen Erinnerungsspuren zum Bewußtsein tragen wollen; einem Widerstand war es gelungen, zwar nicht die Bewegung aufzuhalten, aber wohl sie auf benachbarte, nebensächliche Objekte zu verschieben. Diese Erinnerungen hätte man Halluzinationen nennen können, wenn zu ihrer Deutlichkeit der Glaube an ihre Aktualität hinzugekommen wäre. Aber die Analogie gewann an Bedeutung, als ich auf das gelegentliche Vorkommen wirklicher Halluzinationen bei anderen, gewiß nicht psychotischen Fällen aufmerksam wurde. Der Gedankengang ging dann weiter: Vielleicht ist es ein allgemeiner Charakter der Halluzination, bisher nicht genug gewürdigt, daß in ihr etwas in der Frühzeit Erlebtes und dann Vergessenes wiederkehrt, etwas, was das Kind gesehen oder gehört zur Zeit, da es noch kaum sprachfähig war, und was sich nun dem Bewußtsein aufdrängt, wahrscheinlich entstellt und verschoben in Wirkung der Kräfte, die sich einer solchen Wiederkehr widersetzen. Und bei der nahen Beziehung der Halluzination zu bestimmten Formen von Psychose darf unser Gedankengang noch weiter greifen. Vielleicht sind die Wahnbildungen, in denen wir diese Halluzinationen so regelmäßig eingefügt finden, selbst nicht so unabhängig vom Auftrieb des Unbewußten und von der Wiederkehr des Verdrängten, wie wir gemeinhin annehmen. Wir betonen im Mechanismus einer Wahnbildung in der Regel nur zwei Momente, die Abwendung von der Realwelt und deren Motive einerseits und den Einfluß der Wunscherfüllung auf den Inhalt des Wahns anderseits. Aber kann der dynamische Vorgang nicht eher der sein, daß die Abwendung von der Realität vom Auftrieb des Verdrängten
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ausgenützt wird, um seinen Inhalt dem Bewußtsein aufzudrängen, wobei die bei diesem Vorgang erregten Widerstände und die Tendenz zur Wunscherfüllung sich in die Verantwortlichkeit für die Entstellung und Verschiebung des Wiedererinnerten teilen? Das ist doch auch der uns bekannte Mechanismus des Traumes, den schon uralte Ahnung dem Wahnsinn gleichgesetzt hat. Ich glaube nicht, daß diese Auffassung des Wahns vollkommen neu ist, aber sie betont einen Gesichtspunkt, der für gewöhnlich nicht in den Vordergrund gerückt wird. Wesentlich an ihr ist die Behauptung, daß der Wahnsinn nicht nur Methode hat, wie schon der Dichter erkannte}75l sondern daß auch ein Stück historischer Wahrheit in ihm enthalten ist, und es liegt uns nahe anzunehmen, daß der zwanghafte Glaube, den der Wahn findet, gerade aus solch infantiler Quelle seine Stärke bezieht. Mir stehen heute, um diese Theorie zu erweisen, nur Reminiszenzen zu Gebote, nicht frische Eindrücke. Es würde wahrscheinlich die Mühe lohnen, wenn man versuchte, entsprechende Krankheitsfälle nach den hier entwickelten Voraussetzungen zu studieren und auch ihre Behandlung danach einzurichten. Man würde die vergebliche Bemühung aufgeben, den Kranken von dem Irrsinn seines Wahns, von seinem Widerspruch zur Realität, zu überzeugen, und vielmehr in der Anerkennung des Wahrheitskerns einen gemeinsamen Boden finden, auf dem sich die therapeutische Arbeit entwickeln kann. Diese Arbeit bestünde darin, das Stück historischer Wahrheit von seinen Entstellungen und Anlehnungen an die reale Gegenwart zu befreien und es zurechtzurücken an die Stelle der Vergangenheit, der es zugehört. Die Verrückung aus der vergessenen Vorzeit in die Gegenwart oder in die Erwartung der Zukunft ist ja ein regelmäßiges Vorkommnis auch beim Neurotiker. Oft genug, wenn ihn ein Angstzustand erwarten läßt, daß sich etwas Schreckliches ereignen wird, steht er bloß unter dem Einfluß einer verdrängten Erinnerung, die zum Bewußtsein kommen möchte und nicht bewußt werden kann, daß etwas damals Schreckhaftes sich wirklich ereignet hat. Ich meine, man wird aus solchen Bemühungen an Psychotikern sehr, viel Wertvolles erfahren, auch wenn ihnen der therapeutische Erfolg versagt bleibt. Ich weiß, daß es nicht verdienstlich ist, ein so wichtiges Thema so beiläufig zu behandeln, wie es hier geschieht. Ich bin dabei der Verlockung einer Analogie [75] Anspielung auf Shakespeare, der Polonius die Worte in den Mund legt: "Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode" (Hamlet, H. Akt, 2. Szene).
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5. Übertragen - Erinnern - Bewältigen
gefolgt. Die Wahnbildungen der Kranken erscheinen mir als Äquivalente der Konstruktionen, die wir in den analytischen Behandlungen aufbauen, Versuche zur Erklärung und Wiederherstellung, die unter den Bedingungen der Psychose allerdings nur dazu führen können, das Stück Realität, das man in der Gegenwart verleugnet, durch ein anderes Stück zu ersetzen, das man in früher Vorzeit gleichfalls verleugnet hatte. Die intimen Beziehungen zwischen dem Stoff der gegenwärtigen Verleugnung und dem der damaligen Verdrängung aufzudecken wird die Aufgabe der Einzeluntersuchung. Wie unsere Konstruktion nur dadurch wirkt, daß sie ein Stück verlorengegangener Lebensgeschichte wiederbringt, so dankt auch der Wahn seine überzeugende Kraft dem Anteil historischer Wahrheit, den er an die Stelle der abgewiesenen Realität einsetzt. In solcher Art würde auch der Wahn sich dem Satze unterwerfen, den ich früher einmal nur für die Hysterie ausgesprochen habe, der Kranke leide an seinen Reminiszenzen (Freud 1993a, S. 86). Diese kurze Formel wollte auch damals nicht die Komplikation der Krankheitsverursachung bestreiten und die Wirkung so vieler anderer Momente ausschließen. Erfaßt man die Menschheit als ein Ganzes und setzt sie an die Stelle des einzelnen menschlichen Individuums, so findet man, daß auch sie Wahnbildungen entwickelt hat, die der logischen Kritik unzugänglich sind und der Wirklichkeit widersprechen. Wenn sie trotzdem eine außerordentliche Gewalt über die Menschen äußern können, so führt die Untersuchung zum gleichen Schluß wie beim einzelnen Individuum. Sie danken ihre Macht dem Gehalt dem Gehalt an historischer WahrheW 761, die sie aus der Verdrängung vergessener Urzeiten heraufgeholt haben.
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VgI. Abschnitt g ("Die historische Wahrheit") in Freud, 1939a, S. 236-240.
6.
Die Stimme des Intellekts ist leise Freuds Kulturtheorie
Das Wort "Kultur" hat im Deutschen ursprünglich eine zweifache Bedeutung: Zum einen bezieht es sich auf die Bebauung des Bodens; zum anderen ist damit die Pflege des Körpers und Geistes gemeint. Wer Kultur hat, der arbeitet also fleißig und kann sich auch sonst gut benehmen. Von dieser Wortbedeutung ging Freud aus. Indem er die Arbeit auf die Beherrschung der Natur insgesamt ausdehnte, erweiterte er den Begriff allerdings: "Die menschliche Kultur - ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet - und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen -, zeigt dem Beobachter bekanntlich zwei Seiten. Sie umfaßt einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, anderseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln" (1927c, S. 326). Kultur beginnt also mit Arbeit. Die Menschen organisieren ihre Arbeitsbeziehungen in sozialen Verbänden, in denen sie die Güter produzieren, die sie benötigen, um sich selbst und ihre Art zu erhalten. Somit stehen Hunger und Liebe, also die "Natur", am Ausgangspunkt der "Kultur". Selbsterhaltung (Arbeit) und Arterhaltung (Sexualität) sind nun aber genau die Triebe, die Freud einander gegenüberstellte, als er die erste Fassung seiner Triebtheorie ausarbeitete (Kap. 1.2 des vorliegenden Bandes). Zieht man das Alte Testament zu Rate, lassen sich die Ereignisse, die zur Kultur führten, auch noch anders gewichten. Demnach stand am Beginn der Kultur die Wissbegier, die die Erkenntnis von Gut und Böse und damit das Gewissen nach sich zog - und damit die Strafe der Vertreibung aus dem Paradies, der die Arbeit im Schweiße des Angesichts, also der Triebverzicht folgte. Und dann geschah noch
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etwas: Kain erschlug seinen Bruder, auf den er neidisch war, weil Gott den Ackerbauer Abel angeblich mehr liebte. Die Geschichte der Kultur beginnt demnach mit einem Mord aus Eifersucht. Freud hat dieses Thema in mehreren Arbeiten (1912-13a, 1921c, 1939a) aufgegriffen - und abgewandelt. Jetzt erschlägt nicht der Bruder den Bruder, vielmehr ermordet die Brüderhorde den Urvater aus Neid, weil der das alleinige sexuelle Verfügungsrecht über die Frauen besitzt. Das ist die kollektive Fassung des Ödipus-Dramas, in dem der Sohn (unwissentlich - gewissenlos) den Vater erschlägt und die Mutter heiratet. Obgleich Freuds aus der Urhordentheorie Darwins abgeleitete These von der Ermordung des Urvaters so nicht mehr haltbar ist (Kraft, 2008, S. 748), sind die damit verbundenen Schlussfolgerungen unter psychologischen Gesichtspunkten doch interessant: Demnach haben die Söhne als Reaktion auf die Ermordung des Vaters Schuldgefühle entwickelt - und, ihr Verbrechen sühnend, den Vater zum Gott verklärt, der nun als Repräsentant ihres Gewissens über sie wacht. Wie im Alten Testament, so steht damit auch bei Freud das Gewissen als Reaktion auf eine Begierde am Anfang der Kultur. Das von Freud konstatierte Unbehagen in der Kultur ist also der Tatsache geschuldet, dass die Triebe in der Kultur nicht nach dem Lustprinzip ausgelebt werden können. Das heißt: die Menschen können ihre Wünsche nicht rücksichtslos - nicht ohne Rücksicht auf andere Menschen - erfüllen. Die nachfolgenden Texte machen das deutlich - sie zeigen aber auch, dass Freud die Zähmung der Natur der Triebe nicht dem archaisch strengen Gewissen überlassen wollte, das sich in religiösen und anderen Institutionen dogmatisch verfestigt hat. Er wollte vielmehr das Ich stärken, es vom animalischen Es wie vom archaischen Über-Ich emanzipieren. Also plädierte er für die durch Einsicht in die Notwendigkeit errungene Vernunft als Regulativ menschlicher Beziehungen - und damit für die illusionslose Anerkennung der dem Menschen durch die Natur gesetzten Grenzen. Die Gewalt der Natur hat Freud denn auch entsprechend beschrieben: "Da sind die Elemente, die jedem menschlichen Zwang zu spotten scheinen, die Erde, die bebt, zerreißt, alles menschliche und Menschenwerk begräbt, das Wasser, das im Aufruhr alles überflutet und ersäuft, der Sturm, der es wegbläst, da sind die Krankheiten, [...] endlich das schmerzliche Rätsel des Todes [...]. Mit diesen Gewalten steht die Natur wider uns auf, großartig, grausam, unerbittlich, rückt uns wieder unsere Schwäche und Hilflosigkeit vor Augen [...]" (1927b, S. 336 f.). Und das ist die Illusion, an deren Erfüllung Freud bei aller Skepsis gegenüber
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wunscherfüllenden Illusionen doch glauben wollte - die Solidarität der Menschen, die durch die Naturgewalt nicht verhindert, sondern erzwungen wird: "Es ist einer der wenigen erfreulichen und erhebenden Eindrücke, die man von der Menschheit haben kann/ wenn sie angesichts einer Elementarkatastrophe [...] alle inneren Schwierigkeiten und Feindseligkeiten vergißt und sich der großen gemeinsamen Aufgabe, ihrer Erhaltung gegen die Übermacht der Natur, erinnert" (1927b, S. 337).
6.1 Zeitgemäßes über Krieg und Tod Am 16. Februar 1915 - also ein knappes halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs - spricht Freud im Israelitischen Humanitätsverein "Wien", dem er seit 1897 angehört, über Krieg und Tod. Sein Vortrag (die Originalfassung ist abgedruckt bei: Nitzschke, 1991/ S. 132-142) wurde in leicht veränderter Fassung in Freuds Gesammelte Werke aufgenommen. Dieser Fassung folgen die nachstehenden Auszüge aus dem Vortragstext. Freud beginnt mit einer Vision: Demnach wären die "Kulturländer", die jetzt gegeneinander Krieg führen, in einem "größeren Vaterland" vereint. Das ist die geistige Heimat aller "Kulturweltbürger", die sich - wie Freud selbst (Gay, 1988) - der Aufklärung (und damit der Ideologie- und Religionskritik) verpflichtet fühlen. Doch dann zeigt Freud auf, warum dieses Ideal eine wunscherfüllende Illusion bleiben musste: Weil die Menschen aufgrund unzureichender Triebbeherrschung bislang nicht in der Lage waren, dieses Ideal zu verwirklichen. Wir stammen von einer endlosen Reihe von Mördern ab - und das, was wir Weltgeschichte nennen, war im " wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden". Ja, Freuds Kritik geht noch weiter, denn im Namen des Fortschritts zur Geistigkeit hat sich eine neue Form der Barbarei entwickelt: Der"Wilde" hatte noch Achtung vor seinem Feind - und fühlte sich schuldig, wenn er ihn im Krieg töten musste. Das war "ein Stück ethischer Feinfühligkeit, welches uns Kulturmenschen verloren gegangen ist". Indem wir uns als Herren über Leben und Tod gebärden, haben wir die Herrschaft, die der Tod über uns hat/ umso mehr besiegelt. Das ist die Dialektik der Aufklärung. Schließlich stehe das Rätsel des Todes am Ausgangspunkt jeder Psychologie/ schreibt Freud im hier abgedruckten Text. Und schon als Verfasser der"Traumdeutung" hatte er bekannt, dieses Buch sei als "ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters" (1900a, S. X) zu verstehen. Der Vater als Garant der kulturellen Ordnung, die auf Triebverzicht beruht - und der Ver-
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lust des Vaters als Bedrohung diesel' Ordnung: das ist der Themenbogen, der sich von Freuds Schrift übel' "Totem und Tabu" (1912-13a) bis zu Freuds Abhandlung über den "Mann Moses und die monotheistische Religion" (1939a) spannt. Im folgenden Text hat dieser Bogen einen Stützpfeiler gefunden.
W Freud, S. (1915b). Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X, S. 324-340. Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelenstörung verkünden. Aber wahrscheinlich empfinden wir das Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht erlebt haben. Der Einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit ein Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist, fühlt sich in seiner Orientierung verwirrt und in seiner Leistungsfähigkeit gehemmt. Ich meine, ihm wird jeder kleine Wink willkommen sein, der es ihm erleichtert, sich wenigstens in seinem eigenen Innem zurechtzufinden. Unter den Momenten, welche das seelische Elend der Daheimgebliebenen verschuldet haben, und deren Bewältigung ihnen so schwierige Aufgaben steIlt/ möchte ich zwei hervorheben und an dieser Stelle behandeln: Die Enttäuschung, die dieser Krieg hervorgerufen hat, und die Vel'änderte Einstellung zum Tode, zu der er uns - wie alle anderen Kriege - nötigt. Wenn ich von Enttäuschung rede, weiß jedermann sofort, was damit gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsschwärmer zu sein, man kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen
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verurteilen und das Aufhören der Kriege herbeisehnen. Man sagte sich zwar, die Kriege könnten nicht aufhören, solange die Völker unter so verschiedenartigen Existenzbedingungen leben, solange die Wertungen des Einzellebens bei ihnen weit auseinandergehen, und solange die Gehässigkeiten, welche sie trennen/ so starke seelische Triebkräfte repräsentieren. Man war also darauf vorbereitet/ daß Kriege zwischen den primitiven und den zivilisierten Völkern, zwischen den Menschenrassen, die durch die Hautfarbe voneinander geschieden werden, ja Kriege mit und unter den wenig entwickelten oder verwilderten Völkerindividuen Europas die Menschheit noch durch geraume Zeit in Anspruch nehmen werden. Aber man getraute sich etwas anderes zu hoffen. Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist, die man mit der Pflege welturnspannender Interessen beschäftigt wußte, deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind, von diesen Völkern hatte man erwartet, daß sie es verstehen würden, Mißhelligkeiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Austrage zu bringen. Innerhalb jeder dieser Nationen waren hohe sittliche Normen für den einzelnen aufgestellt worden, nach denen er seine Lebensführung einzurichten hatte, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte. Diese oft überstrengen Vorschriften forderten viel von ihm/ ein ausgiebige Selbstbeschränkung, einen weitgehenden Verzicht auf Triebbefriedigung. Es war ihm vor allem versagt, sich der außerordentlichen Vorteile zu bedienen, die der Gebrauch von Lüge und Betrug im Wettkampfe mit den Nebenmenschen schafft. Der Kulturstaat hielt diese sittlichen Normen für die Grundlage seines Bestandes/ er schritt ernsthaft ein, wenn man sie anzutasten wagte, erklärte es oft für untunIich, sie auch nur einer Prüfung durch den kritischen Verstand zu unterziehen. Es war also anzunehmen, daß er sie selbst respektieren wolle und nichts gegen sie zu unternehmen gedenke, wodurch er der Begründung seiner eigenen Existenz widersprochen hätte. Endlich konnte man zwar die Wahrnehmung machen/ daß es innerhalb dieser Kulturnationen gewisse eingesprengte Völkerreste gäbe, die ganz allgemein unliebsam wären und darum nur widerwillig, auch nicht im vollen Umfange, zur Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit zugelassen würden, für die sie sich als genug geeignet erwiesen hatten. Aber die großen Völker selbst, konnte man meinen, hätten so viel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und so viel Toleranz für ihre Verschiedenheiten erworben, daß
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"fremd" und "feindlich" nicht mehr wie noch im klassischen Altertume für sie zu einem Begriffe verschmelzen durften. Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben ungezählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen, in dem er sich ungehemmt und unverdächtigt erging. Er genoß so das blaue und das graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen Wiesenflächen, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große historische Erinnerungen ruhen, und die Stille der unberührten Natur. Dies neue Vaterland war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er von einem Saale dieses Museums in einen andern wanderte, konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Vollkommenheit Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier war die kühle unbeugsame Energie aufs höchste entwickelt, dort die graziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der Sinn für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben. Vergessen wir auch nicht, daß jeder Kulturweltbürger sich einen besonderen "Parnaß" und eine "Schule von Athen" geschaffen hatte. Unter den großen Denkern, Dichtem, Künstlern aller Nationen, hatte er die ausgewählt, denen er das Beste zu schulden vermeinte, was ihm an Lebensgenuß und Lebensverständnis zugänglich geworden war, und sie den unsterblichen Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den vertrauten Meistem seiner eigenen Zunge. Keiner von diesen Großen war ihm darum fremd erschienen, weil er in anderer Sprache geredet hatte, weder der unvergleichliche Ergründer der menschlichen Leidenschaften, noch der schönheitstrunkene Schwärmer oder der gewaltig drohende Prophet, der feinsinnige Spötter, und niemals warf er sich dabei vor, abtrünnig geworden zu sein der eigenen Nation und der geliebten Muttersprache.
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Der Genuß der Kulturgemeinschaft wurde gelegentlich durch Stimmen gestört, welche warnten, daß infolge altüberkommener Differenzen Kriege auch unter den Mitgliedern derselben unvermeidlich wären. Man wollte nicht daran glauben, aber wie stellte man sich einen solchen Krieg vor, wenn es dazu kommen sollte? Als eine Gelegenheit die Fortschritte im Gemeingefühle der Menschen aufzuzeigen seit jener Zeit, da die griechischen Amphiktyonien verboten hatten, eine dem Bündnisse angehörige Stadt zu zerstören, ihre Ölbäume umzuhauen und ihr das Wasser abzuschneiden. Als einen ritterlichen Waffengang, der sich darauf beschränken wollte, die Überlegenheit des einen Teiles festzustellen, unter möglichster Vermeidung schwerer Leiden, die zu dieser Entscheidung nichts beitragen könnten, mit voller Schonung für den Verwundeten, der aus dem Kampfe ausscheiden muß, und für den Arzt und Pfleger, der sich seiner Herstellung widmet. Natürlich mit allen Rücksichten für den nicht kriegführenden Teil der Bevölkerung, für die Frauen, die dem Kriegshandwerk feme bleiben, und für die Kinder, die, herangewachsen, einander von beiden Seiten Freunde und Mithelfer werden sollen. Auch mit Erhaltung all der internationalen Unternehmungen und Institutionen, in denen sich die Kulturgemeinschaft der Friedenszeit verkörpert hatte. Ein solcher Krieg hätte immer noch genug des Schrecklichen und schwer zu Ertragenden enthalten, aber er hätte die Entwicklung ethischer Beziehungen zwischen den Großindividuen der Menschheit, den Völkern und Staaten, nicht unterbrochen. Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die - Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen wird.
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Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum Vorscheine, daß die Kulturvölker einander so wenig kennen und verstehen, daß sich das eine mit Haß und Abscheu gegen das andere wenden kann. Ja, daß eine der großen Kulturnationen so allgemein mißliebig ist, daß der Versuch gewagt werden kann, sie als "barbarisch" von der Kulturgemeinschaft auszuschließen, obwohl sie ihre Eignung durch die großartigsten Beitragsleistungen längst erwiesen hat. Wir leben der Hoffnung, eine unparteiische Geschichtsschreibung werde den Nachweis erbringen, daß gerade diese Nation, die, in deren Sprache wir schreiben, für deren Sieg unsere Lieben kämpfen, sich am wenigsten gegen die Gesetze der menschlichen Gesittung vergangen habe, aber wer darf in solcher Zeit als Richter auftreten in eigener Sache? Völker werden ungefähr durch die Staaten, die sie bilden, repräsentiert; diese Staaten durch die Regierungen, die sie leiten. Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat/ nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten List, sondern auch der bewußten Lüge und des absichtlichen Betruges gegen den Feind, und dies zwar in einem Maße, welches das in früheren Kriegen Gebräuchliche zu übersteigen scheint. Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Übermaß von Verheim1ichung und eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche die Stimmung der so intellektuell Unterdrückten wehrlos macht gegen jede ungünstige Situation und jedes wüste Gerücht. Er löst sich los von Zusicherungen und Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll. Man wende nicht ein, daß der Staat auf den Gebrauch des Unrechts nicht verzichten kann, weil er sich dadurch in Nachteil setzte. Auch für den Einzelnen ist die Befolgung der sittlichen Normen, der Verzicht auf brutale Machtbetätigung in der Regel sehr unvorteilhaft, und der Staat zeigt sich nur selten dazu fähig, den Einzelnen für das Opfer zu entschädigen, das er von ihm gefordert hat. Man darf sich auch nicht darüber verwundern, daß die Lockerung aller sitt-
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lichen Beziehungen zwischen den Großindividuen der Menschheit eine Rückwirkung auf die Sittlichkeit der Einzelnen geäußert hat, denn unser Gewissen ist nicht der unbeugsame Richter, für den die Ethiker es ausgeben, es ist in seinem Ursprunge "soziale Angst" und nichts anderes. Wo die Gemeinschaft den Vorwurf aufhebt, hört auch die Unterdrückung der bösen Gelüste auf, und die Menschen begehen Taten von Grausamkeit, Tücke, Verrat und Roheit, deren Möglichkeit man mit ihrem kulturellen Niveau für unvereinbar gehalten hätte. So mag der Kulturweltbürger, den ich vorhin eingeführt habe, ratlos dastehen in der ihm fremd gewordenen Welt, sein großes Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die Mitbürger entzweit und erniedrigt! Zur Kritik seiner Enttäuschung wäre einiges zu bemerken. Sie ist, strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie besteht in der Zerstörung einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen. Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege gemacht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat. Beginnen wir mit dem zweiten Punkte und versuchen wir es, die Anschauung, die wir kritisieren wollen, in einen einzigen knappen Satz zu fassen. Wie stellt man sich denn eigentlich den Vorgang vor, durch welchen ein einzelner Mensch zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit gelangt? Die erste Antwort wird wohl lauten: Er ist eben von Geburt und von Anfang an gut und edel. Sie soll hier weiter nicht berücksichtigt werden. Eine zweite Antwort wird auf die Anregung eingehen, daß hier ein Entwicklungsvorgang vorliegen müsse, und wird wohl annehmen, diese Entwicklung bestehe darin, daß die bösen Neigungen des Menschen in ihm ausgerottet und unter dem Einflusse von Erziehung und Kulturumgebung durch Neigungen zum Guten ersetzt werden. Dann darf man sich allerdings verwundern, daß bei dem so Erzogenen das Böse wieder so tatkräftig zum Vorschein kommt.
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Aber diese Antwort enthält auch den Satz, dem wir widersprechen wollen. In Wirklichkeit gibt es keine "Ausrottung" des Bösen. Die psychologische - im strengeren Sinne die psychoanalytische - Untersuchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse. Wir klassifizieren sie und ihre Äußerungen in solcher Weise, je nach ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft. Zuzugeben ist, daß alle die Regungen, welche von der Gesellschaft als böse verpönt werden - nehmen wir als Vertretung derselben die eigensüchtigen und die grausamen - sich unter diesen primitiven befinden. Diese primitiven Regungen legen einen langen Entwicklungsweg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen zugelassen werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus Egoismus - Altruismus, aus Grausamkeit - Mitleid geworden wäre. Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, daß manche Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatzpaaren auftreten, ein sehr merkwürdiges und der populären Kenntnis fremdes Verhältnis, das man die "Gefühlsambivalenz" benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verständnis zu bewältigen ist die Tatsache, daß starkes Lieben und starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person vereint vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, daß die beiden entgegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten auch die nämliche Person zum Objekte nehmen. Erst nach Überwindung all solcher"Triebschicksale" stellt sich das heraus, was man den Charakter eines Menschen nennt, und was mit "gut" oder "böse" bekanntlich nur sehr unzureichend klassifiziert werden kann. Der Mensch ist selten im ganzen gut oder böse, meist "gut" in dieser Relation, "böse" in einer anderen oder "gut" unter solchen äußeren Bedingungen, unter anderen entschieden "böse". Interessant ist die Erfahrung, daß die kindliche Präexistenz starker "böser" Regungen oft geradezu die Bedingung wird für eine besonders deutliche Wendung des Erwachsenen zum "Guten". Die stärksten kindlichen Egoisten können die hilfreichsten und aufopferungsfähigsten Bürger werden; die meis-
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ten Mitleidsschwärmer, Menschenfreunde, Tierschützer haben sich aus kleinen Sadisten und Tierquälern entwickelt. Die Umbildung der "bösen" Triebe ist das Werk zweier im gleichen Sinne wirkenden Faktoren, eines inneren und eines äußeren. Der innere Faktor besteht in der Beeinflussung der bösen - sagen wir: eigensüchtigen - Triebe durch die Erotik/ das Liebesbedürfnis des Menschen im weitesten Sinne genommen. Durch die Zumischung der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt. Man lernt das Geliebtwerden als einen Vorteil schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten darf. Der äußere Faktor ist der Zwang der Erziehung, welche die Ansprüche der kulturellen Umgebung vertritt/ und die dann durch die direkte Einwirkung des Kulturmilieus fortgesetzt wird. Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste. Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in altruistische/ soziale verwandelt werden. Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich/ d. h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war. Die Menschen/ die heute geboren werden, bringen ein Stück Neigung (Disposition) zur Umwandlung der egoistischen in soziale Triebe als ererbte Organisation mit, die auf leichte Anstöße hin diese Umwandlung durchführt. Ein anderes Stück dieser Triebumwandlung muß im Leben selbst geleistet werden. In solcher Art steht der einzelne Mensch nicht nur unter der Einwirkung seines gegenwärtigen Kulturmilieus, sondern unterliegt auch dem Einflusse der Kulturgeschichte seiner Vorfahren. Heißen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit zur Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einflusse der Erotik seine Kultureignung, so können wir aussagen, daß dieselbe aus zwei Anteilen besteht, einem angeborenen und einem im Leben erworbenen, und daß das Verhältnis der beiden zueinander und zu dem unverwandelt gebliebenen Anteile des Trieblebens ein sehr variables ist. Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil zu hoch zu veranschlagen/ und überdies laufen wir Gefahr, die gesamte Kultureignung in ihrem Verhältnisse zum primitiv gebliebenen Triebleben zu überschätzen, d. h. wir
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verleitet, die Menschen "besser" zu beurteilen, als sie in Wirklichkeit sind. Es besteht nämlich noch ein anderes Moment, welches unser Urteil trübt und das Ergebnis im günstigen Sinne verfälscht. Die Triebregungen eines anderen Menschen sind unserer Wahrnehmung natürlich entrückt. Wir schließen auf sie aus seinen Handlungen und seinem Benehmen, welche wir auf Motive aus seinem Triebleben zurückführen. Ein solcher Schluß geht notwendigerweise in einer Anzahl von Fällen irre. Die nämlichen, kulturell "guten" Handlungen können das einemal von "edlen" Motiven herstammen, das anderemal nicht. Die theoretischen Ethiker heißen nur solche Handlungen "gut", welche der Ausdruck guter Triebregungen sind, den anderen versagen sie ihre Anerkennung. Die von praktischen Absichten geleitete Gesellschaft kümmert sich aber im ganzen um diese Unterscheidung nicht; sie begnügt sich damit, daß ein Mensch sein Benehmen und seine Handlungen nach den kulturellen Vorschriften richte, und fragt wenig nach seinen Motiven. Wir haben gehört, daß der äußere Zwang, den Erziehung und Umgebung auf den Menschen üben, eine weitere Umbildung seines Trieblebens zum Guten, eine Wendung vom Egoismus zum Altruismus herbeiführt. Aber dies ist nicht die notwendige oder regelmäßige Wirkung des äußeren Zwanges. Erziehung und Umgebung haben nicht nur Liebesprämien anzubieten, sondern arbeiten auch mit Vorteilsprämien anderer Art, mit Lohn und Strafen. Sie können also die Wirkung äußern, daß der ihrem Einflusse Unterliegende sich zum guten Handeln im kulturellen Sinne entschließt, ohne daß sich eine Triebveredlung, eine Umsetzung egoistischer in soziale Neigungen, in ihm vollzogen hat. Der Erfolg wird im groben derselbe sein; erst unter besonderen Verhältnissen wird es sich zeigen, daß der eine immer gut handelt, weil ihn seine Triebneigungen dazu nötigen, der andere nur gut ist, weil, insolange und insoweit dies kulturelle Verhalten seinen eigensüchtigen Absichten Vorteile bringt. Wir aber werden bei oberflächlicher Bekanntschaft mit den Einzelnen kein Mittel haben, die beiden Fälle zu unterscheiden, und gewiß durch unseren Optimismus verführt werden, die Anzahl der kulturell veränderten Menschen arg zu überschätzen. Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert und sich um die Triebbegründung derselben nicht kümmert, hat also eine große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen Erfolg ermutigt, hat sie sich verleiten lassen, die sittlichen Anforderungen
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möglichst hoch zu spannen und so ihre Teilnehmer zu noch weiterer Entfernung von ihrer Triebveranlagung gezwungen. Diesen ist nun eine fortgesetzte Triebunterdrückung auferlegt, deren Spannung sich in den merkwürdigsten Reaktions- und Kompensationserscheinungen kundgibt. Auf dem Gebiete der Sexualität, wo solche Unterdrückung am wenigsten durchzuführen ist, kommt es so zu den Reaktionserscheinungen der neurotischen Erkrankungen. Der sonstige Druck der Kultur zeitigt zwar keine pathologische Folgen, äußert sich aber in Charakterverbildungen und in der steten Bereitschaft der gehemmten Triebe, bei passender Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen. Wer so genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt, psychologisch verstanden, über seine Mittel und darf objektiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgültig ob ihm diese Differenz klar bewußt worden ist oder nicht. Es ist unleugbar, daß unsere gegenwärtige Kultur die Ausbildung dieser Art von Heuchelei in außerordentlichem Umfange begünstigt. Man könnte die Behauptung wagen, sie sei auf solcher Heuchelei aufgebaut und müßte sich tiefgreifende Abänderungen gefallen lassen, wenn es die Menschen unternehmen würden, der psychologischen Wahrheit nachzuleben. Es gibt also ungleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen, ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses Maß von Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung der Kultur unerläßlich sei, weil die bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zureichen würde. Anderseits bietet die Aufrechterhaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grundlage die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weitergehende Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur anzubahnen. Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits den einen Trost, daß unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten. Daß die menschlichen Großindividuen, die Völker und Staaten, die sittlichen Beschränkungen gegeneinander fallen ließen, wurde ihnen zur begreiflichen Anregung, sich für eine Weile dem bestehenden Drucke der Kultur zu entziehen und ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend
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Befriedigung zu gönnen. Dabei geschah ihrer relativen Sittlichkeit innerhalb ihres Volkstumes wahrscheinlich kein Abbruch. Wir können uns aber das Verständnis der Veränderung, die der Krieg an unseren früheren Kompatrioten zeigt, noch vertiefen und empfangen dabei eine Warnung, kein Unrecht an ihnen zu begehen. Seelische Entwicklungen besitzen nämlich eine Eigentümlichkeit, welche sich bei keinem anderen Entwicklungsvorgang mehr vorfindet. Wenn ein Dorf zur Stadt, ein Kind zum Manne heranwächst, so gehen dabei Dorf und Kind in Stadt und Mann unter. Nur die Erinnerung kann die alten Züge in das neue Bild einzeichnen; in Wirklichkeit sind die alten Materialien oder Formen beseitigt und durch neue ersetzt worden. Anders geht es bei einer seelischen Entwicklung zu. Man kann den nicht zu vergleichenden Sachverhalt nicht anders beschreiben als durch die Behauptung, daß jede frühere Entwicklungsstufe neben der späteren, die aus ihr geworden ist, erhalten bleibt; die Sukzession bedingt eine Koexistenz mit, obwohl es doch dieselben Materialien sind, an denen die ganze Reihenfolge von Veränderungen abgelaufen ist. Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen, daß er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären. Diese außerordentliche Plastizität der seelischen Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht unbeschränkt; man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung - Regression - bezeichnen, denn es kommt wohl vor, daß eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich. Die sogenannten Geisteskrankheiten müssen beim Laien den Eindruck hervorrufen, daß das Geistes- und Seelenleben der Zerstörung anheimgefallen sei. In Wirklichkeit betrifft die Zerstörung nur spätere Erwerbungen und Entwicklungen. Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in der Rückkehr zu früheren Zuständen des Affektlebens und der Funktion. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Plastizität des Seelenlebens gibt der Schlafzustand, den wir allnächtlich anstreben. Seitdem wir auch tolle und verworrene Träume zu übersetzen verstehen, wissen wir, daß wir mit jedem Einschlafen unsere mühsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von uns werfen - um es am Morgen wieder anzutun. Diese Entblößung ist natürlich ungefährlich, weil wir durch den Sch1afzustand ge-
6.1 Zeitgemäßes über Krieg und Tod
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lähmt/ zur Inaktivität verurteilt sind. Nur der Traum kann von der Regression unseres Gefühllebens auf eine der frühesten Entwicklungsstufen Kunde geben. So ist es z. B. bemerkenswert, daß alle unsere Träume von rein egoistischen Motiven beherrscht werden. Einer meiner englischen Freunde vertrat diesen Satz vor einer wissenschaftlichen Versammlung in Amerika, worauf ihm eine anwesende Dame die Bemerkung machte, das möge vielleicht für Österreich richtig sein, aber sie dürfe von sich und ihren Freunden behaupten, daß sie auch noch im Traume altruistisch fühlen. Mein Freund, obwohl selbst ein Angehöriger der englischen Rasse, mußte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in der Traumanalyse der Dame energisch widersprechen: Im Traume sei auch die edle Amerikanerin ebenso egoistisch wie der Österreicher. Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher unsere Kultureignung beruht/ durch Einwirkungen des Lebens - dauernd oder zeitweilig - rückgängig gemacht werden. Ohne Zweifel gehören die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildung erzeugen können, und darum brauchen wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig unkulturell benehmen, die Kultureignung abzusprechen, und dürfen erwarten, daß sich ihre Triebveredlung in ruhigeren Zeiten wieder herstellen wird. Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei unseren Weltmitbürgern nicht weniger überrascht und geschreckt als das so schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe. Ich meine die Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen. Dies ergibt freilich ein trauriges Bild, und ich will ausdrücklich betonen, daß ich keineswegs als verblendeter Parteigänger alle intellektuellen Verfehlungen nur auf einer der beiden Seiten finde. Allein diese Erscheinung ist noch leichter zu erklären und weit weniger bedenklich als die vorhin gewürdigte. Menschenkenner und Philosophen haben uns längst belehrt, daß wir Unrecht daran tun/ unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt könne nur verläßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei; im gegenteiligen Falle benehme er sich einfach wie ein Instrument zu Handen eines Willens und liefere das Resultat, das ihm von diesem aufgetragen sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen affektive Interessen, und da-
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rum sei das Streiten mit Gründen, die nach Falstaffs Wort l77J so gemein sind wie Brombeeren, in der Welt der Interessen so unfruchtbar. Die psychoanalytische Erfahrung hat diese Behauptung womöglich noch unterstrichen. Sie kann alle Tage zeigen, daß sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wieder erlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist. Die logische Verblendung, die dieser Krieg oft gerade bei den besten unserer Mitbürger hervorgezaubert hat, ist also ein sekundäres Phänomen, eine Folge der Gefühlserregung, und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu verschwinden. Wenn wir solcher Art unsere uns entfremdeten Mitbürger wieder verstehen, werden wir die Enttäuschung, die uns die Großindividuen der Menschheit, die Völker, bereitet haben, um vieles leichter ertragen, denn an diese dürfen wir nur weit bescheidenere Ansprüche stellen. Dieselben wiederholen vielleicht die Entwicklung der Individuen und treten uns heute noch auf sehr primitiven Stufen der Organisation, der Bildung höherer Einheiten, entgegen. Dementsprechend ist das erziehliche Moment des äußeren Zwanges zur Sittlichkeit, welches wir beim Einzelnen so wirksam fanden, bei ihnen noch kaum nachweisbar. Wir hatten zwar gehofft, daß die großartige, durch Verkehr und Produktion hergestellte Interessengemeinschaft den Anfang eines solchen Zwanges ergeben werde, allein es scheint, die Völker gehorchen ihren Leidenschaften derzeit weit mehr als ihren Interessen. Sie bedienen sich höchstens der Interessen, um die Leidenschaften zu rationalisieren; sie schieben ihre Interessen vor, um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können. Warum die Völkerindividuen einander eigentlich geringschätzen, hassen, verabscheuen, und zwar auch in Friedenszeiten, und jede Nation die andere, das ist freilich rätselhaft. Ich weiß es nicht zu sagen. Es ist in diesem Falle gerade so, als ob sich alle sittlichen Erwerbungen der Einzelnen auslöschten, wenn man eine Mehrheit oder gar Millionen Menschen zusammennimmt, und nur die primitivsten, ältesten und rohesten, seelischen Einstellungen übrig blieben. An diesen bedauerlichen Verhältnissen werden vielleicht erst späte Entwicklungen etwas ändern können. Aber etwas [77] Shakespeare (Heinrich IV, 1. Teil, 2. Aufzug, 4. Szene) legt Falstaff die Worte in den Mund: "Give you a reason on compulsion! If reasons were as plentiful as blackberries,
I would give no man a reason upon compulsion, no!" (dt. "Mit Gewalt Gründe angeben! Wenn Gründe so gemein [verbreitet, im Überfluss vorhanden] wären wie Brombeeren, so soUte mir doch keiner mit Gewalt einen Grund abnötigen, nein!").
6.2 Die Zukunft einer Illusion
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mehr Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Beziehungen der Menschen zueinander und zwischen ihnen und den sie Regierenden, dürfte auch für diese Umwandlung die Wege ebnen. [ ... ]
6.2 Die Zukunft einer Illusion Die "Erziehung zur Realität" ist ohne Verzicht auf (religiöse) Illusionen nicht möglich. Die Gründe für diese von Freud vertretene Position werden in der hier - in Teilen - wiedergegebenen Schrift über "Die Zukunft einer Illusion" mit Hilfe eines Dialogs entwickelt, den der Autor als Religionskritiker mit einem fiktiven Befürworter der Religion führt. So bringt Freud die Einwände vor, die sich im Leser regen, wenn er aufgefordert wird, den Kaiser ohne Kleider zu betrachten. Und das heißt bei Freud: der Mensch sollte sich als hilflosen und doch so mächtigen Teil der Natur anerkennen, anstatt seine Schwächen und seine Angst vor dem Tod mit dem Mantel tröstender Illusionen zuzudecken. Es sei die "einzige Absicht" dieser Schrift, schreibt Freud, die "Notwendigkeit dieses Fortschritts" vom Wunschdenken zu dem Denken aufzuzeigen, das sich soweit wie möglich von affektiver Beeinflussung frei gemacht hat. Nur wer bereit ist, auf die Illusion zu verzichten, dass am Ende der Geschichte ein besseres Leben auf ihn wartet, ist in der Lage, das Leben hier und jetzt menschlich zu gestalten. Das ist die Emanzipation, die Freud empfiehlt: ,,[...] wer nicht weiter geht, wer sich demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen Welt bescheidet, der ist [...] irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes." Schließlich unterscheiden sich individuelles Wunschdenken und kollektiver Wahn nach Auffassung Freuds auch nur in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht. Und deshalb fordert Freud vom Kollektiv, was er vom Individuum fordert: die weitgehende Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip (s. Kap. 1 und Kap. 5 des vorliegenden Bandes).
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Ifn
W
Freuet, S. (1927c). Die Zukunft einer Illusion. GW XIv, S. 325-333; S. 335; S. 340 f.; S. 353 f.; S. 355; S. 359 f.; S. 370 f.; S. 371-374; S. 377.
Wenn man eine ganze Weile innerhalb einer bestimmten Kultur gelebt und sich oft darum bemüht hat zu erforschen. wie ihre Ursprünge und der Weg ihrer Entwicklung waren. verspürt man auch einmal die Versuchung, den Blick nach der anderen Richtung zu wenden und die Frage zu stellen. welches fernere Schicksal dieser Kultur bevorsteht und welche Wandlungen durchzumachen ihr bestimmt ist. Man wird aber bald merken, daß eine solche Untersuchung von vornherein durch mehrere Momente entwertet wird. Vor allem dadurch, daß es nur wenige Personen gibt, die das menschliche Getriebe in all seinen Ausbreitungen überschauen können. Für die meisten ist Beschränkung auf ein einzelnes oder wenige Gebiete notwendig geworden; je weniger aber einer vom Vergangenen und Gegenwärtigen weiß, desto unsicherer muß sein Urteil über das Zukünftige ausfallen. Ferner darum, weil gerade bei diesem Urteil die subjektiven Erwartungen des Einzelnen eine schwer abzuschätzende Rolle spielen; diese zeigen sich aber abhängig von rein persönlichen Momenten seiner eigenen Erfahrung, seiner mehr oder minder hoffnungsvollen Einstellung zum Leben. wie sie ihm durch Temperament, Erfolg oder Mißerfolg vorgeschrieben worden ist. Endlich kommt die merkwürdige Tatsache zur WIrkung, daß die Menschen im allgemeinen ihre Gegenwart wie naiv erleben, ohne deren Inhalte würdigen zu können; sie müssen erst Distanz zu ihr gewinnen. d. h. die Gegenwart muß zur Vergangenheit geworden sein. wenn man aus ihr Anhaltspunkte zur Beurteilung des Zukünftigen gewinnen soll. Wer also der Versuchung nachgibt, eine Äußerung über die wahrscheinliche Zukunft unserer Kultur von sich zu geben. wird gut daran tun. sich der vorhin angedeuteten Bedenken zu erinnern. ebenso wie der Unsicherheit, die ganz allgemein an jeder Vorhersage haftet. Daraus folgt für mich, daß ich in eiliger Flucht vor der zu großen Aufgabe alsbald das kleine Teilgebiet aufsuchen werde, dem auch bisher meine Aufmerksamkeit gegolten hat, nachdem ich nur seine Stellung im großen Ganzen bestimmt habe. Die menschliche Kultur - ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der TIere unterscheidet - und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen - zeigt dem Beobachter bekanntlich zwei Seiten. Sie umfaßt einerseits
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all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, anderseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln. Die beiden Richtungen der Kultur sind nicht unabhängig voneinander, erstens, weil die gegenseitigen Beziehungen der Menschen durch das Maß der Triebbefriedigung, das die vorhandenen Güter ermöglichen, tiefgreifend beeinflußt werden, zweitens, weil der einzelne Mensch selbst zu einem anderen in die Beziehung eines Gutes treten kann, insofern dieser seine Arbeitskraft benützt oder ihn zum Sexualobjekt nimmt, drittens aber, weil jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, die doch ein allgemeinmenschliches Interesse sein soll. Es ist merkwürdig, daß die Menschen, so wenig sie auch in der Vereinzelung existieren können, doch die Opfer, welche ihnen von der Kultur zugemutet werden, um ein Zusammenleben zu ermöglichen/ als schwer drückend empfinden. Die Kultur muß also gegen den Einzelnen verteidigt werden und ihre Einrichtungen, Institutionen und Gebote stellen sich in den Dienst dieser Aufgabe; sie bezwecken nicht nur, eine gewisse Güterverteilung herzustellen, sondern auch diese aufrechtzuhalten, ja sie müssen gegen die feindseligen Regungen der Menschen all das beschützen, was der Bezwingung der Natur und der Erzeugung von Gütern dient. Menschliche Schöpfungen sind leicht zu zerstören und Wissenschaft und Technik, die sie aufgebaut haben, können auch zu ihrer Vernichtung verwendet werden. So bekommt man den Eindruck, daß die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und Zwangsmitteln zu setzen. Es liegt natürlich nahe anzunehmen, daß diese Schwierigkeiten nicht am Wesen der Kultur selbst haften, sondern von den Unvollkommenheiten der Kulturformen bedingt werden/ die bis jetzt entwickelt worden sind. In der Tat ist es nicht schwer, diese Mängel aufzuzeigen. Während die Menschheit in der Beherrschung der Natur ständige Fortschritte gemacht hat und noch größere erwarten darf, ist ein ähnlicher Fortschritt in der Regelung der menschlichen Angelegenheiten nicht sicher festzustellen und wahrscheinlich zu jeder Zeit/ wie auch jetzt wieder, haben sich viele Menschen gefragt, ob denn dieses Stück des Kulturerwerbs überhaupt der Verteidigung wert ist. Man sollte meinen, es müßte eine Neuregelung der menschlichen Beziehungen möglich sein/ welche die Quellen der Unzufrieden-
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heit mit der Kultur versagen macht, indem sie auf den Zwang und die Triebunterdrückung verzichtet, so daß die Menschen sich ungestört durch inneren Zwist der Erwerbung von Gütern und dem Genuß derselben hingeben könnten. Das wäre das goldene Zeitalter, allein es fragt sich, ob ein solcher Zustand zu verwirklichen ist. Es scheint vielmehr, daß sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muß; es scheint nicht einmal gesichert, daß beim Aufhören des Zwanges die Mehrzahl der menschlichen Individuen bereit sein wird, die Arbeitsleistung auf sich zu nehmen, deren es zur Gewinnung neuer Lebensgüter bedarf. Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und daß diese bei einer großen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen. Dieser psychologischen Tatsache kommt eine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung der menschlichen Kultur zu. Konnte man zunächst meinen, das Wesentliche an dieser sei die Beherrschung der Natur zur Gewinnung von Lebensgütern und die ihr drohenden Gefahren ließen sich durch eine zweckmäßige Verteilung derselben unter den Menschen beseitigen, so scheint jetzt das Schwergewicht vom Materiellen weg aufs Seelische verlegt. Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen. Ebensowenig wie den Zwang zur Kulturarbeit, kann man die Beherrschung der Masse durch eine Minderzahl entbehren, denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Triebverzicht nicht, sind durch Argumente nicht von dessen Unvermeidlichkeit zu überzeugen und ihre Individuen bestärken einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit. Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie als ihre Führer anerkennen, sind sie zu den Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist. Es ist alles gut, wenn diese Führer Personen von überlegener Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens sind, die sich zur Beherrschung ihrer eigenen Triebwünsche aufgeschwungen haben. Aber es besteht für sie die Gefahr, daß sie, um ihren Einfluß nicht zu verlieren, der Masse mehr nachgeben als diese ihnen, und darum erscheint es notwendig, daß sie durch Verfügung über Machtmittel von der Masse unabhängig seien. Um es kurz zu fassen, es sind zwei weitverbreitete Eigenschaften der Menschen, die es verschulden, daß die kulturellen Einrichtungen nur durch ein gewisses Maß
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von Zwang gehalten werden können, nämlich, daß sie spontan nicht arbeitslustig sind und daß Argumente nichts gegen ihre Leidenschaften vermögen. Ich weiß, was man gegen diese Ausführungen einwenden wird. Man wird sagen, der hier geschilderte Charakter der Menschenmassen, der die Unerläßlichkeit des Zwanges zur Kulturarbeit beweisen soll, ist selbst nur die Folge fehlerhafter kultureller Einrichtungen, durch die die Menschen erbittert, rachsüchtig, unzugänglich geworden sind. Neue Generationen, liebevoll und zur Hochschätzung des Denkens erzogen, die frühzeitig die Wohltaten der Kultur erfahren haben, werden auch ein anderes Verhältnis zu ihr haben, sie als ihr eigenstes Besitztum empfinden, bereit sein, die Opfer an Arbeit und Triebbefriedigung für sie zu bringen, deren es zu ihrer Erhaltung bedarf. Sie werden den Zwang entbehren können und sich wenig von ihren Führern unterscheiden. Wenn es menschliche Massen von solcher Qualität bisher in keiner Kultur gegeben hat, so kommt es daher, daß keine Kultur noch die Einrichtungen getroffen hatte, um die Menschen in solcher Weise, und zwar von Kindheit an, zu beeinflussen. Man kann daran zweifeln, ob es überhaupt oder jetzt schon, beim gegenwärtigen Stand unserer Naturbeherrschung möglich ist, solche kulturelle Einrichtungen herzustellen, man kann die Frage aufwerfen, woher die Anzahl überlegener, unbeirrbarer und uneigennütziger Führer kommen soll, die als Erzieher der künftigen Generationen wirken müssen, man kann vor dem ungeheuerlichen Aufwand an Zwang erschrecken, der bis zur Durchführung dieser Absichten unvermeidlich sein wird. Die Großartigkeit dieses Planes, seine Bedeutsamkeit für die Zukunft der menschlichen Kultur wird man nicht bestreiten können. Er ruht sicher auf der psychologischen Einsicht, daß der Mensch mit den mannigfaltigsten Triebanlagen ausgestattet ist, denen die frühen Kindheitserlebnisse die endgültige Richtung anweisen. Die Schranken der Erziehbarkeit des Menschen setzen darum auch der Wirksamkeit einer solchen Kulturveränderung ihre Grenze. Man mag es bezweifeln, ob und in welchem Ausmaß ein anderes Kulturmilieu die beiden Eigenschaften menschlicher Massen, die die Führung der menschlichen Angelegenheiten so sehr erschweren, auslöschen kann. Das Experiment ist noch nicht gemacht worden. Wahrscheinlich wird ein gewisser Prozentsatz der Menschheit - infolge krankhafter Anlage oder übergroßer Triebstärke - immer asozial bleiben, aber wenn man es nur zustande bringt, die kulturfeindliche Mehrheit von heute zu einer Minderheit herabzudrücken, hat man sehr viel erreicht, vielleicht alles, was sich erreichen läßt.
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Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, daß ich mich weit weg von dem vorgezeichneten Weg meiner Untersuchung verirrt habe. Ich will darum ausdrücklich versichern, daß es mir ferne liegt, das große Kulturexperiment zu beurteilen, das gegenwärtig in dem weiten Land zwischen Europa und Asien angestellt wird.l78] Ich habe weder die Sachkenntnis noch die Fähigkeit, über dessen Ausführbarkeit zu entscheiden, die Zweckmäßigkeit der angewandten Methoden zu prüfen oder die Weite der unvermeidlichen Kluft zwischen Absicht und Durchführung zu messen. Was dort vorbereitet wird, entzieht sich als unfertig einer Betrachtung, zu der unsere längst konsolidierte Kultur den Stoff bietet. Wir sind unversehens aus dem Ökonomischen ins Psychologische hinübergeglitten. Anfangs waren wir versucht, den Kulturbesitz in den vorhandenen Gütern und den Einrichtungen zu ihrer Verteilung zu suchen. Mit der Erkenntnis, daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht und darum unvermeidlich eine Opposition bei den von diesen Anforderungen Betroffenen hervorruft, wurde es klar, daß die Güter selbst, die Mittel zu ihrer Gewinnung und Anordnungen zu ihrer Verteilung nicht das Wesentliche oder das Alleinige der Kultur sein können. Denn sie sind durch die Auflehnung und Zerstörungssucht der Kulturteilhaber bedroht. Neben die Güter treten jetzt die Mittel, die dazu dienen können, die Kultur zu verteidigen, die Zwangsmittel und andere, denen es gelingen soll, die Menschen mit ihr auszusöhnen und für ihre Opfer zu entschädigen. Letztere können aber als der seelische Besitz der Kultur beschrieben werden. Einer gleichfÖrmigen Ausdrucksweise zuliebe wollen wir die Tatsache, daß ein Trieb nicht befriedigt werden kann, Versagung, die Einrichtung, die diese Versagung festlegt, Verbot, und den Zustand, den das Verbot herbeiführt, Entbehrung nennen. Dann ist der nächste Schritt, zwischen Entbehrungen zu unterscheiden, die alle betreffen, und solchen, die nicht alle betreffen, bloß Gruppen, Klassen oder selbst einzelne. Die ersteren sind die ältesten: mit den Verboten, die sie einsetzen, hat die Kultur die Ablösung vom animalischen Urzustand begonnen, vor unbekannt wie vielen Tausenden von Jahren. Zu unserer Überraschung fanden wir, daß sie noch immer wirksam sind, noch immer den Kern der Kulturfeindseligkeit bilden. Die Triebwünsche, die unter ihnen leiden, werden mit jedem Kind von neuem geboren; es gibt eine Klasse von Menschen, die Neuro[78] Gemeint ist die Sowjetunion.
6.2 Die Zukunft einer Illusion
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tiker, die bereits auf diese Versagungen mit Asozialität reagieren. Solche Triebwünsche sind die des Inzests, des Kannibalismus und der Mordlust. Es klingt sonderbar, wenn man sie, in deren Verwerfung alle Menschen einig scheinen, mit jenen anderen zusammenstellt, um deren Gewährung oder Versagung in unserer Kultur so lebhaft gekämpft wird, aber psychologisch ist man dazu berechtigt. Auch ist das kulturelle Verhalten gegen diese ältesten Triebwünsche keineswegs das gleiche, nur der Kannibalismus erscheint allen verpönt und der nicht analytischen Betrachtung völlig überwunden, die Stärke der Inzestwünsche vermögen wir noch hinter dem Verbot zu verspüren und der Mord wird von unserer Kultur unter bestimmten Bedingungen noch geübt, ja geboten. Möglicherweise stehen uns Entwicklungen der Kultur bevor, in denen noch andere, heute durchaus mögliche Wunschbefriedigungen ebenso unannehmbar erscheinen werden, wie jetzt die des Kannibalismus. Schon bei diesen ältesten Triebverzichten kommt ein psychologischer Faktor in Betracht, der auch für alle weiteren bedeutungsvoll bleibt. Es ist nicht richtig, daß die menschliche Seele seit den ältesten Zeiten keine Entwicklung durchgemacht hat und im Gegensatz zu den Fortschritten der Wissenschaft und der Technik heute noch dieselbe ist wie zu Anfang der Geschichte. Einen dieser seelischen Fortschritte können wir hier nachweisen. Es liegt in der Richtung unserer Entwicklung, daß äußerer Zwang allmählich verinnerlicht wird, indem eine besondere seelische Instanz, das Über-Ich des Menschen, ihn unter seine Gebote aufnimmt. Jedes Kind führt uns den Vorgang einer solchen Umwandlung vor, wird erst durch sie moralisch und sozial. Diese Erstarkung des Über-Ichs ist ein höchst wertvoller psychologischer Kulturbesitz. Die Personen, bei denen sie sich vollzogen hat, werden aus Kulturgegnern zu Kulturträgem. Je größer ihre Anzahl in einem Kulturkreis ist, desto gesicherter ist diese Kultur, desto eher kann sie der äußeren Zwangsmittel entbehren. Das Maß dieser Verinnerlichung ist nun für die einzelnen Triebverbote sehr verschieden. Für die erwähnten ältesten Kulturforderungen scheint die Verinnerlichung, wenn wir die unerwünschte Ausnahme der Neurotiker beiseite lassen, weitgehend erreicht. Dies Verhältnis ändert sich, wenn man sich zu den anderen Triebanforderungen wendet. Man merkt dann mit Überraschung und Besorgnis, daß eine Überzahl von Menschen den diesbezüglichen Kulturverboten nur unter dem Druck des äußeren Zwanges gehorcht, also nur dort, wo er sich geltend machen kann und solange er zu befürchten ist. Dies trifft auch auf jene sogenannt moralischen Kulturforderun-
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gen zu, die in gleicher Weise für alle bestimmt sind. Das meiste, was man von der moralischen Unzuverlässigkeit der Menschen erfährt, gehört hierher. Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den Anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können, und das war wohl seit vielen kulturellen Zeitaltern immer ebenso. Bei den Einschränkungen, die sich nur auf bestimmte Klassen der Gesellschaft beziehen, trifft man auf grobe und auch niemals verkannte Verhältnisse. Es steht zu erwarten, daß diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrung los zu werden. Wo dies nicht möglich ist, wird sich ein dauerndes Maß von Unzufriedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben. Eine Verinnerlichung der Kulturverbote darf man dann bei den Unterdrückten nicht erwarten, dieselben sind vielmehr nicht bereit, diese Verbote anzuerkennen, bestrebt, die Kultur selbst zu zerstören, eventuell selbst ihre Voraussetzungen aufzuheben. Die Kulturfeindschaft dieser Klassen ist so offenkundig, daß man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient. [ ... ]
Das vielleicht bedeutsamste Stück des psychischen Inventars einer Kultur hat noch keine Erwähnung gefunden. Es sind ihre im weitesten Sinn religiösen Vorstellungen, mit anderen später zu rechtfertigenden Worten, ihre Illusionen. [ ... ]
6.2
Die Zukunft einer Illusion
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So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen. geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. Es ist deutlich erkennbar, daß dieser Besitz den Menschen nach zwei Richtungen beschützt, gegen die Gefahren der Natur und des Schicksals und gegen die Schädigungen aus der menschlichen Gesellschaft selbst. Im Zusammenhang lautet es: das Leben in dieser Welt dient einem höheren Zweck, der zwar nicht leicht zu erraten ist, aber gewiß eine Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet. Wahrscheinlich soll das Geistige des Menschen, die Seele, die sich im Lauf der Zeiten so langsam und widerstrebend vom Körper getrennt hat, das Objekt dieser Erhebung und Erhöhung sein. Alles, was in dieser Welt vor sich geht, ist Ausführung der Absichten einer uns überlegenen Intelligenz, die, wenn auch auf schwer zu verfolgenden Wegen und Umwegen, schließlich alles zum Guten, d. h. für uns Erfreulichen, lenkt. Über jedem von uns wacht eine gütige, nur scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zuläßt, daß wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte werden; der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum anorganisch Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz, die auf dem Wege der Höherentwicklung liegt. Und nach der anderen Seite gewendet, dieselben Sittengesetze, die unsere Kulturen aufgestellt haben, beherrschen auch alles Weltgeschehen, nur werden sie von einer höchsten richterlichen Instanz mit ungleich mehr Macht und Konsequenz behütet. Alles Gute findet endlich seinen Lohn. alles Böse seine Strafe, wenn nicht schon in dieser Form des Lebens, so in den späteren Existenzen. die nach dem Tod beginnen. Somit sind alle Schrecken, Leiden und Härten des Lebens zur Austilgung bestimmt; das Leben nach dem Tode, das unser irdisches Leben fortsetzt, wie das unsichtbare Stück des Spektrums dem sichtbaren angefügt ist, bringt all die Vollendung, die wir hier vielleicht vermißt haben. Und die überlegene Weisheit, die diesen Ablauf lenkt, die Allgüte, die sich in ihm äußert, die Gerechtigkeit, die sich in ihm durchsetzt, das sind die Eigenschaften der göttlichen Wesen, die auch uns und die Welt im ganzen geschaffen haben. Oder vielmehr des einen göttlichen Wesens, zu dem sich in unserer Kultur alle Götter der Vorzeiten verdichtet haben. Das Volk, dem zuerst solche Konzentrierung der göttlichen Eigenschaften gelang, war nicht wenig stolz auf diesen Fortschritt. Es hatte den väterlichen Kern. der von jeher hinter jeder Gottesgestalt verborgen war, freigelegt; im Grunde war es eine Rückkehr zu den
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historischen Anfängen der Gottesidee. Nun, da Gott ein Einziger war, konnten die Beziehungen zu ihm die Innigkeit und Intensität des ...kindlichen Verhältnisses zum Vater wiedergewinnen. Wenn man soviel für den Vater getan hatte, wollte man aber auch belohnt werden, zum mindesten das einziggeliebte Kind sein, das auserwählte Volk. Sehr viel später erhebt das fromme Amerika den Anspruch, "God's own country" zu sein, und für eine der Formen, unter denen die Menschen die Gottheit verehren, trifft es auch zu. [ ... ]
Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet sich, abgesehen von dem komplizierteren Aufbau der Wahnidee, auch von dieser. An der Wahnidee heben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muß nicht notwendig falsch, d. h. unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein. Ein Bürgermädchen kann sich z. B. die Illusion machen, daß ein Prinz kommen wird, um sie heimzuholen. Es ist möglich, einige Fälle dieser Art haben sich ereignet. Daß der Messias kommen und ein goldenes Zeitalter begründen wird, ist weit weniger wahrscheinlich; je nach der persönlichen Einstellung des Urteilenden wird er diesen Glauben als Illusion oder als Analogie einer Wahnidee klassifizieren. Beispiele von Illusionen, die sich bewahrheitet haben, sind sonst nicht leicht aufzufinden. Aber die Illusion der Alchimisten, alle Metalle in Gold verwandeln zu können, könnte eine solche sein. Der Wunsch, sehr viel Gold, soviel Gold als möglich zu haben, ist durch unsere heutige Einsicht in die Bedingungen des Reichtums sehr gedämpft, doch hält die Chemie eine Umwandlung der Metalle in Gold nicht mehr für unmöglich. Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet. Wenden wir uns nach dieser Orientierung wieder zu den religiösen Lehren, so dürfen wir wiederholend sagen: Sie sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, an sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, daß man sie - mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede - den Wahn-
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ideen vergleichen kann. Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. So wie sie unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar. [ ... ]
Kritiker beharren darauf, einen Menschen, der sich zum Gefühl der menschlichen Kleinheit und Ohnmacht vor dem Ganzen der Welt bekannt, für "tief religiös" zu erklären, obwohl nicht dieses Gefühl das Wesen der Religiosität ausmacht, sondern erst der nächste Schritt, die Reaktion darauf, die gegen dies Gefühl eine Abhilfe sucht. Wer nicht weiter geht, wer sich demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen Welt bescheidet, der ist vielmehr irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes. [ ... ]
Der einzige, dem diese Veröffentlichung Schaden bringen kann, bin ich selbst. Ich werde die unliebenswürdigsten Vorwürfe zu hören bekommen wegen Seichtigkeit, Borniertheit, Mangel an Idealismus und an Verständnis für die höchsten Interessen der Menschheit. Aber einerseits sind mir diese Vorhaltungen nicht neu, und anderseits, wenn jemand schon in jungen Jahren sich über das Mißfallen seiner Zeitgenossen hinausgesetzt hat, was soll es ihm im Greisenalter anhaben, wenn er sicher ist, bald jeder Gunst und Mißgunst entrückt zu werden? In früheren Zeiten war es anders, da erwarb man durch solche Äußerungen eine sichere Verkürzung seiner irdischen Existenz und eine gute Beschleunigung der Gelegenheit, eigene Erfahrungen über das jenseitige Leben zu machen. Aber ich wiederhole, jene Zeiten sind vorüber und heute ist solche Schreiberei auch für den Autor ungefährlich. Höchstens daß sein Buch in dem einen oder dem anderen Land nicht übersetzt und nicht verbreitet werden darf. Natürlich gerade in einem Land, das sich des Hochstands seiner Kultur sicher fühlt. Aber wenn man überhaupt für Wunschverzicht und Ergebung in das Schicksal plädiert, muß man auch diesen Schaden ertragen können. Es tauchte dann bei mir die Frage auf, ob die Veröffentlichung dieser Schrift nicht doch jemand Unheil bringen könnte. Zwar keiner Person, aber einer Sache, der Sache der Psychoanalyse. Es ist ja nicht zu leugnen, daß sie meine Schöpfung ist, man hat ihr reichlich Mißtrauen und Übelwollen bezeigt; wenn ich jetzt mit so unliebsamen Äußerungen hervortrete, wird man für die Verschiebung von meiner Person auf die Psychoanalyse nur allzu bereit sein. Jetzt sieht man, wird
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6. Die Stimme des Intellekts ist leise
es heißen, wohin die Psychoanalyse führt. Die Maske ist gefallen; zur Leugnung von Gott und sittlichem Ideal, wie wir es ja immer vermutet haben. Um uns von der Entdeckung abzuhalten, hat man uns vorgespiegelt, die Psychoanalyse habe keine Weltanschauung und könne keine bilden. Dieser Lärm wird mir wirklich unangenehm sein, meiner vielen Mitarbeiter wegen/ von denen manche meine Einstellung zu den religiösen Problemen überhaupt nicht teilen. Aber die Psychoanalyse hat schon viele Stürme überstanden, man muß sie auch diesem neuen aussetzen. In Wirklichkeit ist die Psychoanalyse eine Forschungsmethode, ein parteiloses Instrument, wie etwa die Infinitesimalrechnung. Wenn ein Physiker mit deren Hilfe herausbekommen sollte, daß die Erde nach einer bestimmten Zeit zugrunde gehen wird, so wird man sich doch bedenken, dem Kalkül selbst destruktive Tendenzen zuzuschreiben und ihn darum zu ächten. Alles, was ich hier gegen den Wahrheitswert der Religionen gesagt habe, brauchte die Psychoanalyse nicht, ist lange vor ihrem Bestand von anderen gesagt worden. Kann man aus der Anwendung der psychoanalytischen Methode ein neues Argument gegen den Wahrheitsgehalt der Religion gewinnen, tant pis [ach ja!] für die Religion, aber Verteidiger der Religion werden sich mit demselben Recht der Psychoanalyse bedienen, um die affektive Bedeutung der religiösen Lehre voll zu würdigen. Nun, um in der Verteidigung fortzufahren: die Religion hat der menschlichen Kultur offenbar große Dienste geleistet, zur Bändigung der asozialen Triebe viel beigetragen, aber nicht genug. Sie hat durch viele Jahrtausende die menschliche Gesellschaft beherrscht; hatte Zeit zu zeigen, was sie leisten kann. Wenn es ihr gelungen wäre, die Mehrzahl der Menschen zu beglücken, zu trösten, mit dem Leben auszusöhnen, sie zu Kulturträgern zu machen, so würde es niemand einfallen/ nach einer Änderung der bestehenden Verhältnisse zu streben. Was sehen wir anstatt dessen? [ ... ]
Denken Sie an den betrübenden Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen. Wäre es so ganz unmöglich, daß gerade die religiöse Erziehung ein großes Teil Schuld an dieser relativen Verkümmerung trägt? Ich meine, es würde sehr lange dauern, bis ein nicht beeinflußtes Kind anfinge, sich Gedanken über Gott und Dinge jenseits dieser Welt zu machen. Vielleicht würden diese Gedan-
6.2 Die Zukunft einer Illusion
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ken dann dieselben Wege einschlagen, die sie bei seinen Urahnen gegangen sind, aber man wartet diese Entwicklung nicht ab, man führt ihm die religiösen Lehren zu einer Zeit zu, da es weder Interesse für sie noch die Fähigkeit hat, ihre Tragweite zu begreifen. Verzögerung der sexuellen Entwicklung und Verfrühung des religiösen Einflusses, das sind doch die beiden Hauptpunkte im Programme der heutigen Pädagogik, nicht wahr? Wenn dann das Denken des Kindes erwacht, sind die religiösen Lehren bereits unangreifbar geworden. Meinen Sie aber, daß es für die Erstarkung der Denkfunktion sehr förderlich ist, wenn ihr ein so bedeutsames Gebiet durch die Androhung der Höllenstrafen verschlossen wird? Wer sich einmal dazu gebracht hat, alle die Absurditäten, die die religiösen Lehren ihm zutragen, ohne Kritik hinzunehmen, und selbst die Widersprüche zwischen ihnen zu übersehen, dessen Denkschwäche braucht uns nicht arg zu verwundern. Nun haben wir aber kein anderes Mittel zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit als unsere Intelligenz. Wie kann man von Personen, die unter der Herrschaft von Denkverboten stehen, erwarten, daß sie das psychologische Ideal, den Primat der Intelligenz, erreichen werden? [ ... ]
Aber ich will meinen Eifer ermäßigen und die Möglichkeit zugestehen, daß auch ich einer Illusion nachjage. Vielleicht ist die Wirkung des religiösen Denkverbots nicht so arg wie ich's annehme, vielleicht stellt es sich heraus, daß die menschliche Natur dieselbe bleibt, auch wenn man die Erziehung nicht zur Unterwerfung unter die Religion mißbraucht. Ich weiß es nicht und Sie können es auch nicht wissen. Nicht nur die großen Probleme dieses Lebens scheinen derzeit unlösbar, sondern auch viele geringere Fragen sind schwer zu entscheiden. Aber gestehen Sie mir zu, daß hier eine Berechtigung für eine Zukunftshoffnung vorhanden ist, daß vielleicht ein Schatz zu heben ist, der die Kultur bereichern kann, daß es sich der Mühe lohnt, den Versuch einer irreligiösen Erziehung zu unternehmen. Fällt er unbefriedigend aus, so bin ich bereit, die Reform aufzugeben und zum früheren, rein deskriptiven Urteil zurückzukehren: der Mensch ist ein Wesen von schwacher Intelligenz, das von seinen Triebwünschen beherrscht wird. In einem anderen Punkte stimme ich Ihnen ohne RüCkhalt bei. Es ist gewiß ein unsinniges Beginnen, die Religion gewaltsam und mit einem Schlage aufheben zu wollen. Vor allem darum, weil es aussichtslos ist. Der Gläubige läßt sich seinen Glauben nicht entreißen, nicht durch Argumente und nicht durch Verbote.
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6. Die Stimme des Intellekts ist leise
Gelänge es aber bei einigen, so wäre es eine Grausamkeit. Wer durch Dezennien Schlafmittel genommen hat, kann natürlich nicht schlafen, wenn man ihm das Mittel entzieht. Daß die Wirkung der religiösen Tröstungen der eines Narkotikums gleichgesetzt werden darf, wird durch einen Vorgang in Amerika hübsch erläutert. Dort will man jetzt den Menschen - offenbar unter dem Einfluß der Frauenherrschaft - alle Reiz-, Rausch- und Genußmittel entziehen179] und übersättigt sie zur Entschädigung mit Gottesfurcht. Auch auf den Ausgang dieses Experiments braucht man nicht neugierig zu sein. Ich widerspreche Ihnen also, wenn Sie weiter folgern, daß der Mensch überhaupt den Trost der religiösen lllusion nicht entbehren kann, daß er ohne sie die Schwere des Lebens, die grausame Wirklichkeit, nicht ertragen würde. Ja, der Mensch nicht, dem Sie das süße - oder bittersüße - Gift von Kindheit an eingeflößt haben. Aber der andere, der nüchtern aufgezogen wurde? Vielleicht braucht der, der nicht an der Neurose leidet, auch keine Intoxikation, um sie zu betäuben. Gewiß wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat/ in dem es ihm so warm und behaglich war. Aber nicht wahr/ der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus, ins "feindliche Leben". Man darf das "die Erziehung zur Realität" heißen, brauche ich Ihnen noch zu verraten, daß es die einzige Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschritts aufmerksam zu machen? Sie fürchten wahrscheinlich, er wird die schwere Probe nicht bestehen? Nun, lassen Sie uns immerhin hoffen. Es macht schon etwas aus, wenn man weiß, daß man auf seine eigene Kraft angewiesen ist. Man lernt dann, sie richtig zu gebrauchen. Ganz ohne Hilfsmittel ist der Mensch nicht, seine Wissenschaft hat ihn seit den Zeiten des Diluviums viel gelehrt und wird seine Macht noch weiter vergrößern. Und was die großen Schicksalsnotwendigkeiten betrifft, gegen die es eine Abhilfe nicht gibt, die wird er eben mit Ergebung ertragen lernen. Was soll ihm die Vorspiegelung eines Großgrundbesitzes auf dem Mond, von [79] Gemeint ist das Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Alkohol in den USA (Prohibition 1919 bis 1933).
6.3 Das Unbehagen in der Kultur
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dessen Ertrag doch noch nie jemand etwas gesehen hat? Als ehrlicher Kleinbauer auf dieser Erde wird er seine Scholle zu bearbeiten wissen, so daß sie ihn nährt)SO] Dadurch, daß er seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt. Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen)811 [ ... ]
Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und Recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber er bedeutet an sich nicht wenig. An ihn kann man noch andere Hoffnungen anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Feme.
6.3 Das Unbehagen in der Kultur In dieser Schrift verknüpft Freud die Fäden, die er dazu benutzt hat, einen Weg durchs Labyrinth der Seele zu finden, mit dem Gewebe der Kultur. Der ewige [BO] Anspielung auf Voltairs "Candide", dessen Realitätssinn dem wolkigen Optimismus widerspricht. Er empfiehlt, den Garten auf Erden anzubauen, anstatt dem Garten Eden nachzujagen - und sich damit ins Unglück. zu stürzen. [81] Freud zitiert hier die beiden Schlußzeilen aus Heinrich Heines Versepos "Deutschland. Ein Wintermärchen" (Caput 1). Freuds Text kann man als Prosakommentar zu dieser Aussage Heines auffassen: "Ein neues Lied, ein besseres Lied, / 0 Freunde, will ich euch dichten! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. [...] Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder. / / Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen."
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Wunsch nach individuellem Glück trifft hierbei auf die Einsicht in die Notwendigkeiten des Zusammenlebens mit anderen Menschen, die ebenfalls nach Glück streben. Und deshalb hat das Leben in der Kultur einen Preis: Die kollektiv garantierte Sicherheit verlangt Triebverzicht von jedem einzelnen. Dem. widerspricht der Wunsch nach Glück. denn Glück bedeutet das "Erleben starker Lustgefühle", und dieses Erleben ist an die Natur der ungezilhmten Triebe gebunden: "Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen [... l." Dem Missvergnügen, das den kulturell geforderten Triebverzicht begleitet, kann man nun auf unterschiedliche Weise begegnen: Man kann den Verzicht verweigern - und setzt sich so kollektiven Sanktionen oder individueller Pathologie aus. Man kann aber auch auf geistige Tröstungen (Religion) oder auf Rauschmittel zurückgreifen, die auf biochemischem Wege euphorisierend wirken (Freud, 1996, Nitzschke, 2007b). Eben weil Trieb und Verzicht die zwei Seiten eines Prozesses sind, der zu einem Leben in der Kultur ohne lllusionen befähigen solL geht Freud in den hier abgedruckten Auszügen aus der Schrift über "Das Unbehagen in der Kultur" noch einmal auf die psychoanalytische Triebtheorie ein (vgl. Kap. 1.2 und Kap. 3 des vorliegen Bandes). In diesem Zusammenhang rechtfertigt er die Einführung des Todestriebes, ohne die Linksfreudianer explizit beim Namen zu nennen, die ihm vorgeworfen hatten, er rede vom Todestrieb - und verschweige die politischen Herrschaftsverhältnisse (Nitzschke, 2010). Tatsächlich beschäftigt sich Freud in der vorliegenden Schrift mit dem Kommunismus (Nitzschke, 1989b), während er über den Faschismus, der jetzt (1930) in Mittel- und Südeuropa auf dem Vormarsch ist, kein Wort verliert. Wenig später vernichtet sich in Hitler-Deutschland die institutionalisierte Psychoanalyse in vorauseilendem Gehorsam selbst (vgl. Nitzschke, 2002).
Il
Freuel, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIv;. S. 421-426i S. 432-441; S. 442; S. 468-470i S. 470 f.i S. 472 f.i S. 476-481.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen. Und doch ist man bei jedem solchen allgemeinen Urteil in Gefahr, an die Buntheit
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der Menschenwelt und ihres seelischen Lebens zu vergessen. Es gibt einzelne Männer, denen sich die Verehrung ihrer Zeitgenossen nicht versagt, obwohl ihre Größe auf Eigenschaften und Leistungen ruht, die den Zielen und Idealen der Menge durchaus fremd sind. Man wird leicht annehmen wollen, daß es doch nur eine Minderzahl ist, welche diese großen Männer anerkennt, während die große Mehrheit nichts von ihnen wissen will. Aber es dürfte nicht so einfach zugehen, dank den Unstimmigkeiten zwischen dem Denken und dem Handeln der Menschen und der Vielstimmigkeit ihrer Wunschregungen. Einer dieser ausgezeichneten Männer nennt sich in Briefen meinen Freund. Ich hatte ihm meine kleine Schrift zugeschickt, welche die Religion als Illusion behandelt (Freud, 1927c), und er antwortete, er wäre mit meinem Urteil über die Religion ganz einverstanden, bedauerte aber, daß ich die eigentliche Quelle der Religiosität nicht gewürdigt hätte. Diese sei ein besonderes Gefühl, das ihn selbst nie zu verlassen pflege, das er von vielen anderen bestätigt gefunden und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die Empfindung der "Ewigkeit" nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam "Ozeanischem". Dies Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persönlicher Fortdauer knüpfe sich daran, aber es sei die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefaßt, in bestimmte Kanäle geleitet und gewiß auch aufgezehrt werde. Nur auf Grund dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen, auch wenn man jeden Glauben und jede Illusion ablehne. Diese Äußerung meines verehrten Freundes, der selbst einmal den Zauber der Illusion poetisch gewürdigt hat (Rolland, 1924), brachte mir nicht geringe Schwierigkeiten.82 Ich selbst kann dies "ozeanische" Gefühl nicht in mir entdecken. Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten. Man kann versuchen, ihre physiologischen Anzeichen zu beschreiben. Wo dies nicht angeht, - ich fürchte, auch das ozeanische Gefühl wird sich einer solchen Charakteristik entziehen, - bleibt doch nichts übrig, als sich an den Vorstellungsinhalt zu halten, der sich assoziativ am ehesten zum Gefühl gesellt. Habe ich meinen 82
Seit dem Erscheinen der beiden Bücher "La vie de Ramakrishna" [1929] und "La vie de Vivekananda" (1930) brauche ich nicht mehr zu verbergen, daß der im Text gemeinte Freund Romain Rolland ist. [In den genannten Büchern portraitiert Rolland die beiden Mystiker Ramakrishna (1836-1886) und Vivekananda (1863-1902), deren Meditationspraktiken "ozeanische Gefühlszustände" ermöglichen sollten].
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6. Die Stimme des Intellekts ist leise
Freund richtig verstanden, so meint er dasselbe, was ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter seinem Helden als Trost vor dem freigewählten Tod mitgibt: "Aus dieser Welt können wir nicht fallen." 83 Also ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt. Ich möchte sagen, für mich hat dies eher den Charakter einer intellektuellen Einsicht, gewiß nicht ohne begleitenden Gefühlston, wie er aber auch bei anderen Denkakten von ähnlicher Tragweite nicht fehlen wird. An meiner Person könnte ich mich von der primären Natur eines solchen Gefühls nicht überzeugen. Darum darf ich aber sein tatsächliches Vorkommen bei anderen nicht bestreiten. Es fragt sich nur, ob es richtig gedeutet wird und ob es als "fons et origo" [Quelle und Ursprung] aller religiösen Bedürfnisse anerkannt werden soll. Ich habe nichts vorzubringen, was die Lösung dieses Problems entscheidend beeinflussen würde. Die Idee, daß der Mensch durch ein unmittelbares, von Anfang an hierauf gerichtetes Gefühl Kunde von seinem Zusammenhang mit der Umwelt erhalten sollte, klingt so fremdartig, fügt sich so übel in das Gewebe unserer Psychologie, daß eine psychoanalytische, d. i. genetische Ableitung eines solchen Gefühls versucht werden darf. Dann stellt sich uns folgender Gedankengang zur Verfügung: Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt. Daß dieser Anschein ein Trug ist, daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient, das hat uns erst die psychoanalytische Forschung gelehrt, die uns noch viele Auskünfte über das Verhältnis des Ichs zum Es schuldet. Aber nach außen wenigstens scheint das Ich klare und scharfe Grenzlinien zu behaupten. Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man aber nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, daß Ich und Du Eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen. Was vorübergehend durch eine physiologische Funktion aufgehoben werden kann, muß natürlich auch durch krankhafte Vorgänge gestört werden können. Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen kennen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außen83
D. ehr. Grabbe, Hannibal: "Ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. WIr sind einmal darin" [Grabbe, 1975-77, Band 11, S. 294].
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welt unsicher wird, oder die Grenzen wirklich unrichtig gezogen werden; Fälle/ in denen uns Teile des eigenen Körpers, ja Stücke des eigenen Seelenlebens, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle wie fremd und dem Ich nicht zugehörig erscheinen, andere, in denen man der Außenwelt zuschiebt, was offenbar im Ich entstanden ist und von ihm anerkannt werden sollte. Also ist auch das Ichgefühl Störungen unterworfen und die Ichgrenzen sind nicht beständig. Eine weitere Überlegung sagt: Dies Ichgefühl des Erwachsenen kann nicht von Anfang an so gewesen sein. Es muß eine Entwicklung durchgemacht haben, die sich begreiflicherweise nicht nachweisen, aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit konstruieren läßt. 84 Der Säugling sondert noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen. Er lernt es allmählich auf verschiedene Anregungen hin. Es muß ihm den stärksten Eindruck machen, daß manche der Erregungsquellen, in denen er später seine Körperorgane erkennen wird, ihm jederzeit Empfindungen zusenden können, während andere sich ihm zeitweise entziehen - darunter das Begehrteste: die Mutterbrust - und erst durch ein Hilfe heischendes Schreien herbeigeholt werden. Damit stellt sich dem Ich zuerst ein "Objekt" entgegen, als etwas, was sich "außerhalb" befindet und erst durch eine besondere Aktion in die Erscheinung gedrängt wird. Einen weiteren Antrieb zur Loslösung des Ichs von der Empfindungsmasse, also zur Anerkennung eines "Draußen", einer Außenwelt, geben die häufigen, vielfältigen, unvermeidlichen Schmerz- und Unlustempfindungen, die das unumschränkt herrschende Lustprinzip aufheben und vermeiden heißt. Es entsteht die Tendenz/ alles, was Quelle solcher Unlust werden kann/ vom Ich abzusondern, es nach außen zu werfen, ein reines Lust-Ich zu bilden, dem ein fremdes, drohendes Draußen gegenübersteht. Die Grenzen dieses primitiven Lust-Ichs können der Berichtigung durch die Erfahrung nicht entgehen. Manches, was man als lustspendend nicht aufgeben möchte, ist doch nicht Ich, ist Objekt, und manche Qual/ die man hinausweisen will, erweist sich doch als unabtrennbar vom Ich, als innerer Herkunft. Man lernt ein Verfahren kennen, wie man durch absichtliche Lenkung der Sinnestätigkeit und geeignete Muskelaktion Innerliches - dem Ich Angehöriges - und Äußerliches - einer Außenwelt Entstammendes - unterscheiden kann, und tut damit den ersten Schritt zur Einsetzung des Realitäts84
Siehe die zahlreichen Arbeiten über Ichentwicklung und Ichgefiihl von Ferenczi [zum Beispiel 19131 bis zu den Beiträgen von P[aul] Federn 1926,1927 und später [enthalten in: Federn, 1956].
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prinzips, das die weitere Entwicklung beherrschen soll. Diese Unterscheidung dient natürlich der praktischen Absicht, sich der verspürten und der drohenden Unlustempfindungen zu erwehren. Daß das Ich zur Abwehr gewisser Unlusterregungen aus seinem Inneren keine anderen Methoden zur Anwendung bringt, als deren es sich gegen Unlust von außen bedient, wird dann der Ausgangspunkt bedeutsamer krankhafter Störungen. Auf solche Art löst sich also das Ich von der Außenwelt. Richtiger gesagt: Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenderen, ja - eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, daß dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen - in größerem oder geringerem Ausmaße - erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All, dieselben, mit denen mein Freund das "ozeanische" Gefühl erläutert. Haben wir aber ein Recht zur Annahme des Überlebens des Ursprünglichen neben dem Späteren, das aus ihm geworden ist? Unzweifelhaft; ein solches Vorkommnis ist weder auf seelischem noch auf anderen Gebieten befremdend. Für die Tierreihe halten wir an der Annahme fest, daß die höchstentwickelten Arten aus den niedrigsten hervorgegangen sind. Doch finden wir alle einfachen Lebensformen noch heute unter den Lebenden. Das Geschlecht der großen Saurier ist ausgestorben und hat den Säugetieren Platz gemacht, aber ein richtiger Vertreter dieses Geschlechts, das Krokodil, lebt noch mit uns. Die Analogie mag zu entlegen sein, krankt auch an dem Umstand, daß die überlebenden niedrigen Arten zumeist nicht die richtigen Ahnen der heutigen, höher entwickelten sind. Die Zwischenglieder sind in der Regel ausgestorben und nur durch Rekonstruktion bekannt. Auf seelischem Gebiet hingegen ist die Erhaltung des Primitiven neben dem daraus entstandenen Umgewandelten so häufi& daß es sich erübrigt, es durch Beispiele zu beweisen. Meist ist dieses Vorkommen Folge einer Entwicklungsspaltung. Ein quantitativer Anteil einer Einstellun& einer Triebregun& ist unverändert erhalten geblieben, ein anderer hat die weitere Entwicklung erfahren.
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Wir rühren hiermit an das allgemeinere Problem der Erhaltung im Psychischen, das kaum noch Bearbeitung gefunden hat, aber so reizvoll und bedeutsam ist, daß wir ihm auch bei unzureichendem Anlaß eine Weile Aufmerksamkeit schenken dürfen. Seitdem wir den Irrtum überwunden haben, daß das uns geläufige Vergessen eine Zerstörung der Gedächtnisspur, also eine Vernichtung bedeutet, neigen wir zu der entgegengesetzten Annahme, daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann/ daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z. B. durch eine so weit reichende Regression wieder zum Vorschein gebracht werden kann. [ ... ]
Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns/ es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. [...] Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend gering schätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgendetwas dieser Art ist unerläßlich. 85 Auf die Ablenkungen zielt Voltaire, wenn er seinen "Candide" in den Rat ausklingen läßt, seinen Garten zu bearbeiten[861; solch eine Ablenkung ist auch die wissenschaftliche Tätigkeit. Die Ersatzbefriedigungen, wie die Kunst sie bietet, sind gegen die Realität Illusionen, darum nicht minder psychisch wirksam dank der Rolle, die die Phantasie im Seelenleben behauptet hat. Die Rauschmittel beeinflussen unser Körperliches, ändern seinen Chemismus. Es ist nicht einfach, die Stellung der Religion innerhalb dieser Reihe anzugeben. Wir werden weiter ausholen müssen. Die Frage nach dem Zweck des menschlichen Lebens ist ungezählte Male gestellt worden; sie hat noch nie eine befriedigende Antwort gefunden, läßt eine solche vielleicht überhaupt nicht zu. Manche Fragesteller haben hinzugefügt: wenn sich ergeben sollte, daß das Leben keinen Zweck hat, dann würde es jeden 85
Auf erniedrigtem Niveau sagt WiIhelm Busch in der "Frommen Helene" [Kapitel 16] dasselbe: "Wer Sorgen hat, hat auch Likör." [86] Mit der Schrift "Candide oder die beste aller Welten" (dt. 1776) widerspricht Voltaire satirisch der optimistischen Philosophie von Gottfried WiIhelm Leibniz. Am Ende heißt es: "Ich weiß auch, sagte Candide, daß unser Garten muß angebaut werden. Da haben Sie recht, sagte Panglos; denn wie Gott den Menschen in den Garten Eden setzte, setzte er ihn deshalb herein, [...] daß er ihn bebaute. Der beste Beweis, daß der Mensch nicht zur Ruhe geschaffen ist. Laßt uns arbeiten, ohne alle Vemünfteleien, sagte Martin. Das ist das einzige Mittel, sich das Leben erträglich zu machen."
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Wert für sie verlieren. Aber diese Drohung ändert nichts. Es scheint vielmehr, daß man ein Recht dazu hat/ die Frage abzulehnen. Ihre Voraussetzung scheint jene menschliche Überhebung, von der wir soviel andere Äußerungen bereits kennen. Von einem Zweck des Lebens der Tiere wird nicht gesprochen, wenn deren Bestimmung nicht etwa darin besteht, dem Menschen zu dienen. Allein auch das ist nicht haltbar, denn mit vielen Tieren weiß der Mensch nichts anzufangen - außer, daß er sie beschreibt, klassifiziert, studiert - und ungezählte Tierarten haben sich auch dieser Verwendung entzogen, indem sie lebten und ausstarben, ehe der Mensch sie gesehen hatte. Es ist wiederum nur die Religion, die die Frage nach einem Zweck des Lebens zu beantworten weiß. Man wird kaum irren zu entscheiden, daß die Idee eines Lebenszweckes mit dem religiösen System steht und fällt. Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu/ was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust/ anderseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird "Glück" nur auf das letztere bezogen. Entsprechend dieser Zweiteilung der Ziele entfaltet sich die Tätigkeit der Menschen nach zwei Richtungen, je nachdem sie das eine oder das andere dieser Ziele - vorwiegend oder selbst ausschließlich - zu verwirklichen sucht. Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch "glücklich" sei, ist im Plan der "Schöpfung" nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur
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den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. 87 Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt. Weit weniger Schwierigkeiten hat es, Unglück zu erfahren. Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Wamungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen. Das Leiden, das aus dieser Quelle stammt, empfinden wir vielleicht schmerzlicher als jedes andere; wir sind geneigt, es als eine gewissermaßen überflüssige Zutat anzusehen- obwohl es nicht weniger schicksalsmäßig unabwendbar sein dürfte als das Leiden anderer Herkunft. Kein Wunder, wenn unter dem Druck dieser Leidensmöglichkeiten die Menschen ihren Glücksanspruch zu ermäßigen pflegen, wie ja auch das Lustprinzip selbst sich unter dem Einfluß der Außenwelt zum bescheideneren Realitätsprinzip umbildete, wenn man sich bereits glücklich preist, dem Unglück entgangen zu sein, das Leiden überstanden zu haben, wenn ganz allgemein die Aufgabe der Leidvermeidung die der Lustgewinnung in den Hintergrund drängt. Die Überlegung lehrt, daß man die Lösung dieser Aufgabe auf sehr verschiedenen Wegen versuchen kann; alle diese Wege sind von den einzelnen Schulen der Lebensweisheit empfohlen und von den Menschen begangen worden. Uneingeschränkte Befriedigung aller Bedürfnisse drängt sich als die verlockendste Art der Lebensführung vor, aber das heißt den Genuß vor die Vorsicht setzen und straft sich nach kurzem Betrieb. Die anderen Methoden- bei denen die Vermeidung von Unlust die vorwiegende Absicht ist, scheiden sich je nach der Unlustquelle, der sie die größere Aufmerksamkeit zuwenden. Es gibt da extreme und gemäßigte Verfahren, einseitige und solche, die zugleich an mehreren Stellen angreifen. Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man versteht: das Glück, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe. Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwendung verteidigen, wenn man 87
Goethe mahnt sogar: "Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen." Das mag immerhin eine Übertreibung sein. [Das korrekte Zitat lautet: "Alles in der Welt läßt sich ertragen / Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen." Aus: Sprichwörtlich. Gedichte. Ausgabe letzter Hand. 1827].
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diese Aufgabe für sich allein lösen will. Es gibt freilich einen anderen und besseren Weg, indem man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann mit Allen am Glück Aller. Die interessantesten Methoden zur Leidverhütung sind aber die, die den eigenen Organismus zu beeinflussen versuchen. Endlich ist alles Leid nur Empfindung, es besteht nur, insofern wir es verspüren, und wir verspüren es nur infolge gewisser Einrichtungen unseres Organismus. Die roheste, aber auch wirksamste Methode solcher Beeinflussung ist die chemische, die Intoxikation. Ich glaube nicht, daß irgendwer ihren Mechanismus durchschaut, aber es ist Tatsache, daß es körperfremde Stoffe gibt, deren Anwesenheit in Blut und Geweben uns unmittelbare Lustempfindungen verschafft, aber auch die Bedingungen unseres Empfindungslebens so verändert, daß wir zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich werden. Beide Wirkungen erfolgen nicht nur gleichzeitig, sie scheinen auch innig miteinander verknüpft. Es muß aber auch in unserem eigenen Chemismus Stoffe geben, die ähnliches leisten, denn wir kennen wenigstens einen krankhaften Zustand, die Manie, in dem dies rauschähnliche Verhalten zustande kommt, ohne daß ein Rauschgift eingeführt worden wäre. Überdies zeigt unser normales Seelenleben Schwankungen von erleichterter oder erschwerter Lustentbindung, mit denen eine verringerte oder vergrößerte Empfänglichkeit für Unlust parallel geht. Es ist sehr zu bedauern, daß diese toxische Seite der seelischen Vorgänge sich der wissenschaftlichen Erforschung bisher entzogen hat. Die Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends wird so sehr als Wohltat geschätzt, daß Individuen wie Völker ihnen eine feste Stellung in ihrer Libidoökonomie eingeräumt haben. Man dankt ihnen nicht nur den unmittelbaren Lustgewinn, sondern auch ein heiß ersehntes Stück Unabhängigkeit von der Außenwelt. Man weiß doch, daß man mit Hilfe des "Sorgenbrechers" sich jederzeit dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungsbedingungen Zuflucht finden kann. Es ist bekannt, daß gerade diese Eigenschaft der Rauschmittel auch ihre Gefahr und Schädlichkeit bedingt. Sie tragen unter Umständen die Schuld daran, daß große Energiebeträge, die zur Verbesserung des menschlichen Loses verwendet werden könnten, nutzlos verloren gehen. Der komplizierte Bau unseres seelischen Apparats gestattet aber auch eine ganze Reihe anderer Beeinflussungen. Wie Triebbefriedigung Glück ist, so wird es
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Ursache schweren Leidens, wenn die Außenwelt uns darben läßt, die Sättigung unserer Bedürfnisse verweigert. Man kann also hoffen, durch Einwirkung auf diese Triebregungen von einem Teil des Leidens frei zu werden. Diese Art der Leidabwehr greift nicht mehr am Empfindungsapparat an, sie sucht der inneren Quellen der Bedürfnisse Herr zu werden. In extremer Weise geschieht dies, indem man die Triebe ertötet, wie die orientalische Lebensweisheit lehrt und die Yogapraxis ausführt. Gelingt es, so hat man damit freilich auch alle andere Tätigkeit aufgegeben (das Leben geopfert), auf anderem Wege wieder nur das Glück der Ruhe erworben. Den gleichen Weg verfolgt man bei ermäßigten Zielen, wenn man nur die Beherrschung des Trieblebens anstrebt. Das Herrschende sind dann die höheren psychischen Instanzen, die sich dem Realitätsprinzip unterworfen haben. Hierbei wird die Absicht der Befriedigung keineswegs aufgegeben; ein gewisser Schutz gegen Leiden wird dadurch erreicht, daß die Unbefriedigung der in Abhängigkeit gehaltenen Triebe nicht so schmerzlich empfunden wird wie die der ungehemmten. Dagegen steht aber eine unleugbare Herabsetzung der Genußmöglichkeiten. Das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung ist unvergleichlich intensiver, als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes. Die Unwiderstehlichkeit perverser Impulse, vielleicht der Anreiz des Verbotenen überhaupt, findet hierin eine ökonomische Erklärung. Eine andere Technik der Leidabwehr bedient sich der Libidoverschiebungen, welche unser seelischer Apparat gestattet, durch die seine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt. Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität, die wir gewiß eines Tages werden metapsychologisch charakterisieren können. Derzeit können wir nur bildweise sagen, sie erscheinen uns "feiner und höher", aber ihre Intensität ist im Vergleich mit der aus der Sättigung grober, primärer Triebregungen gedämpft; sie erschüttern nicht unsere Leiblichkeit. Die Schwäche dieser Methode liegt aber darin, daß sie nicht allgemein verwendbar, nur
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wenigen Menschen zugänglich ist. Sie setzt besondere, im wirksamen Ausmaß nicht gerade häufige Anlagen und Begabungen voraus. Auch diesen Wenigen kann sie nicht vollkommenen Leidensschutz gewähren, sie schafft ihnen keinen für die Pfeile des Schicksals undurchdringlichen Panzer und sie pflegt zu versagen, wenn der eigene Leib die Quelle des Leidens wird. SB Wenn schon bei diesem Verfahren die Absicht deutlich wird, sich von der Außenwelt unabhängig zu machen, indem man seine Befriedigungen in inneren, psychischen Vorgängen sucht, so treten die gleichen Züge noch stärker bei dem nächsten hervor. Hier wird der Zusammenhang mit der Realität noch mehr gelockert, die Befriedigung wird aus Illusionen gewonnen, die man als solche erkennt, ohne sich durch deren Abweichung von der Wirklichkeit im Genuß stören zu lassen. Das Gebiet, aus dem diese Illusionen stammen, ist das des Phantasielebens; es wurde seinerzeit, als sich die Entwicklung des Realitätssinnes vollzog, ausdrücklich den Ansprüchen der Realitätsprüfung entzogen und blieb für die Erfüllung schwer durchsetzbarer Wünsche bestimmt. Obenan unter diesen Phantasiebefriedigungen steht der Genuß an Werken der Kunst, der auch dem nicht selbst Schöpferischen durch die Vermittlung des Künstlers zugänglich gemacht wird. 89 Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Ent88
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Wenn nicht besondere Veranlagung den Lebensinteressen gebieterisch die Richtung vorschreibt, kann die gemeine, jedermann zugängliche Berufsarbeit an die Stelle rükken, die ihr von dem weisen Ratschlag Voltaires angewiesen wird [so Anmerkung 5]. Es ist nicht möglich, die Bedeutung der Arbeit für die Libidoökonomie im Rahmen einer knappen Übersicht ausreichend zu würdigen. Keine andere Technik der Lebensführung bindet den Einzelnen so fest an die Realität als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gemeinschaft sicher einfügt. Die Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten, narzißtische, aggressive und selbst erotische, auf die Berufsarbeit und auf die mit ihr verknüpften menschlichen Beziehungen zu verschieben, leiht ihr einen Wert, der hinter ihrer Unerläßlichkeit zur Behauptung und Rechtfertigung der Existenz in der Gesellschaft nicht zurücksteht. Besondere Befriedigung vermittelt die Berufstätigkeit, wenn sie eine frei gewählte ist, also bestehende Neigungen, fortgeführte oder konstitutionell verstärkte Triebregungen durch Sublimierung nutzbar zu machen gestattet. Und dennoch wird Arbeit als Weg zum Glück von den Menschen wenig geschätzt. Man drängt sich nicht zu ihr wie zu anderen Möglichkeiten der Befriedigung. Die große Mehrzahl der Menschen arbeitet nur notgedrungen, und aus dieser natürlichen Arbeitsscheu der Menschen leiten sich die schwierigsten sozialen Probleme ab. Vgl. Freud, 1911b und Freud, 1916-17a, Kap. 23.
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mckung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen und ist nicht stark genu& um reales Elend vergessen zu machen. Energischer und gründlicher geht ein anderes Verfahren vor, das den einzigen Feind in der Realität erblickt, die die Quelle alles Leids ist, mit der sich nicht leben läßt, mit der man darum alle Beziehungen abbrechen muß, wenn man in irgendeinem Sinne glücklich sein will. Der Eremit kehrt dieser Welt den Rücken, er will nichts mit ihr zu schaffen haben. Aber man kann mehr tun, man kann sie umschaffen wollen, anstatt ihrer eine andere aufbauen, in der die unerträglichsten Züge ausgetilgt und durch andere im Sinne der eigenen Wünsche ersetzt sind. Wer in verzweüelter Empörung diesen Weg zum Glück einschlägt, wird in der Regel nichts erreichen; die Wirklichkeit ist zu stark für ihn. Er wird ein Wahnsinniger, der in der Durchsetzung seines Wahns meist keine Helfer findet. Es wird aber behauptet, daß jeder von uns sich in irgendeinem Punkte ähnlich wie der Paranoiker benimmt, eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einträgt. Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt. Ich glaube nicht, daß diese Aufzählung der Methoden, wie die Menschen das Glück zu gewinnen und das Leiden fernzuhalten bemüht sind, vollständig ist, weiß auch, daß der Stoff andere Anordnungen zuläßt. Eines dieser Verfahren habe ich noch nicht angeführt; nicht daß ich daran vergessen hätte, sondern weil es uns noch in anderem Zusammenhange beschäftigen wird. Wie wäre es auch möglich, gerade an diese Technik der Lebenskunst zu vergessen! Sie zeichnet sich durch die merkwürdigste Vereinigung von charakteristischen Zügen aus. Sie strebt natürlich auch die Unabhängigkeit vom Schicksal- so nennen wir es am besten - an und verlegt in dieser Absicht die Befriedigung in innere seelische Vorgänge, bedient sich dabei der vorhin erwähntem Verschiebbarkeit der Libido, aber sie wendet sich nicht von der Außenwelt ab, klammert sich im Gegenteil an deren Objekte und gewinnt das Glück aus einer Gefühlsbeziehung zu ihnen. Sie gibt sich dabei auch nicht mit dem gleichsam müde resignierenden Ziel der Unlustvermeidung zufrieden, eher geht sie achtlos an diesem vorbei und hält am ursprünglichen, leidenschaftlichen Streben nach positiver Glückserfüllung
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fest. Vielleicht kommt sie diesem Ziele wirklich näher als jede andere Methode. Ich meine natürlich jene Richtung des Lebens, welche die Liebe zum Mittelpunkt nimmt, alle Befriedigung aus dem Lieben und Geliebtwerden erwartet. Eine solche psychische Einstellung liegt uns allen nahe genug; eine der Erscheinungsformen der Liebe, die geschlechtliche Liebe, hat uns die stärkste Erfahrung einer überwältigenden Lustempfindung vermittelt und so das Vorbild für unser Glücksstreben gegeben. Was ist natürlicher, als daß wir dabei beharren, das Glück auf demselben Wege zu suchen, auf dem wir es zuerst begegnet haben. Die schwache Seite dieser Lebenstechnik liegt klar zu Tage; sonst wäre es auch keinem Menschen eingefallen, diesen Weg zum Glück für einen anderen zu verlassen. Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben. Aber die auf den Glückswert der Liebe gegründete Lebenstechnik ist damit nicht erledigt, es ist viel mehr darüber zu sagen. [ ... ]
Trotz dieser Unvollständigkeit getraue ich mich bereits einiger unsere Untersuchung abschließenden Bemerkungen. Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man - nein, kann man - die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben. Man kann sehr verschiedene Wege dahin einschlagen, entweder den positiven Inhalt des Ziels, den Lustgewinn, oder den negativen, die Unlustvermeidung, voranstellen. Auf keinem dieser Wege können wir alles, was wir begehren, erreichen. Das Glück in jenem ermäßigten Sinn, in dem es als möglich erkannt wird, ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie. Es gibt hier keinen Rat, der für alle taugt; ein jeder muß selbst versuchen, auf welche besondere Fasson er selig werden kann. Die mannigfachsten Faktoren werden sich geltend machen, um seiner Wahl die Wege zu weisen. Es kommt darauf an, wieviel reale Befriedigung er von der Außenwelt zu erwarten hat und inwieweit er veranlaßt ist, sich von ihr unabhängig zu machen; zuletzt auch, wieviel Kraft er sich zutraut, diese nach seinen Wünschen abzuändern. [ ... ]
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Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft kann uns hier die Spur zeigen. Sie lautet: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst;1901sie ist weltberühmt, gewiß älter als das Christentum, das sie als seinen stolzesten Anspruch vorweist, aber sicherlich nicht sehr alt; in historischen Zeiten war sie den Menschen noch fremd. Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen, als hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung und Befremden nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? Wie wird es uns möglich? Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgend eine Art verdienen. (Ich sehe von dem Nutzen, den er mir bringen kann, sowie von seiner möglichen Bedeutung als Sexualobjekt für mich ab; diese beiden Arten der Beziehung kommen für die Vorschrift der Nächstenliebe nicht in Betracht.) Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muß ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müßte ihn teilen. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle. Wenn ich ihn aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen, unmöglich soviel, als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt bin für mich selbst zurückzubehalten. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann? Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert, ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß. Er scheint nicht [90] Diese Stelle aus dem Neuen Testament (Matthäus 22, 39) folgt der Stelle aus dem Alten Testament (3. Moses 19,18), an der es heißt: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr."
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die mindeste Liebe für mich zu haben, bezeigt mir nicht die geringste Rücksicht. Wenn es ihm einen Nutzen bringt, hat er kein Bedenken, mich zu schädigen, fragt sich dabei auch nicht, ob die Höhe seines Nutzens der Größe des Schadens, den er mir zufügt, entspricht. Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgend eine Lust damit befriedigen kann, macht er sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je sicherer er sich fühlt, je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dies Benehmen gegen mich von ihm erwarten. Wenn er sich anders verhält, wenn er mir als Fremdem Rücksicht und Schonung erweist, bin ich ohnedies, ohne jene Vorschrift, bereit, es ihm in ähnlicher Weise zu vergelten. Ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: Liebe deinen Nächsten wie dein Nächster dich liebt, dann würde ich nicht widersprechen. Es gibt ein zweites Gebot, das mir noch unfaßbarer scheint und ein noch heftigeres Sträuben in mir entfesselt. Es heißt: Liebe deine Feinde. Wenn ich's recht überlege, habe ich unrecht, es als eine noch stärkere Zumutung abzuweisen. Es ist im Grunde dasselbe. 91 Ich glaube nun von einer würdevollen Stimme die Mahnung zu hören: Eben darum, weil der Nächste nicht liebenswert und eher dein Feind ist, sollst du ihn lieben wie dich selbst. Ich verstehe dann, das ist ein ähnlicher Fall wie das Cre-
do quia absurdum.l92] [ ... ]
Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen 91
Ein grober Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen. So gesteht H. Heine: "Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht friiher, als bis sie gehenkt werden." (Heine, Gedanken und Einfälle.) [Unter diesem Titel erstmals posthum erschienen in: "Letzte Gedichte und Gedanken von Heinrich Heine", herausgegeben von AdoU Strodtmann, Hamburg 1869]. [92] Geflügeltes Wort (ohne klare Herkunft - oftmals Tertullian zugeschrieben). Dt. "Ich glaube es, gerade weil es widervemünftig ist."
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auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz[93] zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschengis Khan und Timurlenk, der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkriegs in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen. [ ... ]
Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinen Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen. Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten
[93] "Der Mensch ist des Menschen Wolf." Der Satz geht auf den römischen Dichter Plautus (ca. 250-184 v. ehr.) zurück: ,,lupus est homo homini". Thomas Hobbes hat ihn aufgegriffen, um damit den Zustand der menschlichen Gesellschaft vor aller Kultur zu charakterisieren.
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Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist. 94 Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht. Sie ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigt sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat, bildet den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind. Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, daß der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird. [ ... ]
Ich habe bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt wie diesmal, daß ich allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, in weiterer Folge Setzerarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigentlich selbstverständliche Dinge zu erzählen. Darum greife ich es gerne auf, wenn sich der Anschein ergibt, daß die Anerkennung eines besonderen, selbständigen Aggressionstriebes eine Abänderung der psychoanalytischen Trieblehre bedeutet.
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Wer in seinen eigenen jungen Jahren das Elend der Armut verkostet, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat [Freud spiel damit auf seine Armut an, die bis ins Erwachsenenalter hinein anhieltl, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, daß er kein Verständnis und kein Wohlwollen für die Bestrebungen hat, die Besitzungleichheit der Menschen und was sich aus ihr ableitet, zu bekämpfen. Freilich, wenn sich dieser Kampf auf die abstrakte Gerechtigkeitsforderung der Gleichheit aller Menschen berufen will, liegt der Einwand zu nahe, daß die Natur durch die höchst ungleichmäßige körperliche Ausstattung und geistige Begabung der Einzelnen Ungerechtigkeiten eingesetzt hat, gegen die es keine Abhilfe gibt.
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Es wird sich zeigen, daß dem nicht so ist, daß es sich bloß darum handelt, eine Wendung, die längst vollzogen worden ist, schärfer zu fassen und in ihre Konsequenzen zu verfolgen. Von allen langsam entwickelten Stücken der analytischen Theorie hat sich die Trieblehre am mühseligsten vorwärts getastet. Und sie war doch dem Ganzen so unentbehrlich, daß irgend etwas an ihre Stelle gerückt werden mußte. In der vollen Ratlosigkeit der Anfänge gab mir der Satz des Dichterphilosophen Schiller den ersten Anhalt, daß "Hunger und Liebe" das Getriebe der Welt zusammenhaltenJ95] Der Hunger konnte als Vertreter jener Triebe gelten, die das Einzelwesen erhalten wollen, die Liebe strebt nach Objekten; ihre Hauptfunktion, von der Natur in jeder Weise begünstigt, ist die Erhaltung der Art. So traten zuerst Ichtriebe und Objekttriebe einander gegenüber. Für die Energie der letzteren, und ausschließlich für sie, führte ich den Namen Libido ein; somit lief der Gegensatz zwischen den Ichtrieben und den aufs Objekt gerichteten "libidinösen" Trieben der Liebe im weitesten Sinne. Einer von diesen Objekttrieben, der sadistische, tat sich zwar dadurch hervor, daß sein Ziel so gar nicht liebevoll war, auch schloß er sich offenbar in manchen Stücken den Ichtrieben an, konnte seine nahe Verwandtschaft mit Bemächtigungstrieben ohne libidinöse Absicht nicht verbergen, aber man kam über diese Unstimmigkeit hinweg; der Sadismus gehörte doch offenbar zum Sexualleben, das grausame Spiel konnte das zärtliche ersetzen. Die Neurose erschien als der Ausgang eines Kampfes zwischen dem Interesse der Selbstbewahrung und den Anforderungen der Libido, ein Kampf, in dem das Ich gesiegt hatte, aber um den Preis schwerer Leiden und Verzichte. Jeder Analytiker wird zugeben, daß dies auch heute nicht wie ein längst überwundener Irrtum klingt. Doch wurde eine Abänderung unerläßlich, als unsere Forschung vom Verdrängten zum Verdrängenden, von den Objekttrieben zum Ich fortschritt. Entscheidend wurde hier die Einführung des Begriffes Narzißmus, d. h. die Einsicht, daß das Ich selbst mit Libido besetzt ist, sogar deren ursprüngliche Heimstätte sei und gewissermaßen auch ihr Hauptquartier bleibe. Diese narzißtische Libido wendet sich den Objekten zu, wird so zur Objektlibido und kann sich in narzißtische Libido zurückverwandeln. Der Begriff Narzißmus [95] In Schillers Gedicht "Die Weltweisen" heißt es: "So übt Natur die Mutterpflicht / Und sorgt, daß nie die Kette bricht, / Und daß der Reif nie springet. / Einstweilen, bis den Bau der Welt / Philosophie zusammenhält, / Erhält sie das Getriebe / Durch Hunger und durch Liebe."
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machte es möglich, die traumatische Neurose sowie viele den Psychosen nahestehende Affektionen und diese selbst analytisch zu erfassen. Die Deutung der Übertragungsneurosen als Versuche des Ichs, sich der Sexualität zu erwehren, brauchte nicht verlassen zu werden, aber der Begriff der Libido geriet in Gefahr. Da auch die Ichtriebe libidinös waren, schien es eine Weile unvermeidlich, Libido mit Triebenergie überhaupt zusammenfallen zu lassen, wie C. G. Jung schon früher gewollt hatte)96] Doch blieb etwas zurück wie eine noch nicht zu begründende Gewißheit, daß die Triebe nicht alle von gleicher Art sein können. Den nächsten Schritt machte ich in "Jenseits des Lustprinzips" (Freud, 1920g), als mir der Wiederholungszwang und der konservative Charakter des Trieblebens zuerst auffiel. Ausgehend von Spekulationen über den Anfang des Lebens und von biologischen Parallelen zog ich den Schluß, es müsse außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen,97 einen anderen, ihm gegensätzlichen, geben, der diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen strebe. Also außer dem Eros einen Todestrieb; aus dem Zusammen- und Gegeneinander wirken dieser beiden ließen sich die Phänomene des Lebens erklären. Nun war es nicht leicht, die Tätigkeit dieses angenommenen Todestriebs aufzuzeigen. Die Äußerungen des Eros waren auffällig und geräuschvoll genug; man konnte annehmen, daß der Todestrieb stumm im Inneren des Lebewesens an dessen Auflösung arbeite, aber das war natürlich kein Nachweis. Weiter führte die Idee, daß sich ein Anteil des Triebes gegen die Außenwelt wende und dann als Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein komme. Der Trieb würde so selbst in den Dienst des Eros gezwängt, indem das Lebewesen anderes, Belebtes wie Unbelebtes, anstatt seines eigenen Selbst vernichtete. Umgekehrt würde die Einschränkung dieser Aggression nach außen die ohnehin immer vor sich gehende Selbstzerstörung steigern müssen. Gleichzeitig konnte man aus diesem Beispiel erraten, daß die beiden Triebarten selten - vielleicht niemals voneinander isoliert auftreten, sondern sich in verschiedenen, sehr wechselnden Mengungsverhältnissen miteinander legieren und dadurch unserem Urteil unkenntlich machen. Im längst als Partialtrieb der Sexualität bekannten Sadismus hätte man eine der[%] Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser These Jungs findet sich bei Freud (1914d, S. 107 H.). 97 Der Gegensatz, in den hierbei die rastlose Ausbreitungstendenz des Eros zur allgemeinen konservativen Natur der Triebe tritt, ist auffällig und kann der Ausgangspunkt weiterer Problemstellungen werden.
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artige besonders starke Legierung des Liebesstrebens mit dem Destruktionstrieb vor sich, wie in seinem Widerpart, im Masochismus, eine Verbindung der nach innen gerichteten Destruktion mit der Sexualität, durch welche die sonst unwahrnehmbare Strebung eben auffällig und fühlbar wird. Die Annahme des Todes- oder Destruktionstriebes hat selbst in analytischen Kreisen Widerstand gefunden; ich weiß, daß vielfach die Neigung besteht, alles, was an der Liebe gefährlich und feindselig gefunden wird, lieber einer ursprünglichen Bipolarität ihres eigenen Wesens zuzuschreiben. Ich hatte die hier entwickelten Auffassungen anfangs nur versuchsweise vertreten, aber im Laufe der Zeit haben sie eine solche Macht über mich gewonnen, daß ich nicht mehr anders denken kann. Ich meine, sie sind theoretisch ungleich brauchbarer als alle möglichen anderen, sie stellen jene Vereinfachung ohne Vernachlässigung oder Vergewaltigung der Tatsachen her, nach der wir in der wissenschaftlichen Arbeit streben. Ich erkenne, daß wir im Sadismus und Masochismus die stark mit Erotik legierten Äußerungen des nach außen und nach innen gerichteten Destruktionstriebes immer vor uns gesehen haben, aber ich verstehe nicht mehr, daß wir die Ubiquität der nicht erotischen Aggression und Destruktion übersehen und versäumen konnten, ihr die gebührende Stellung in der Deutung des Lebens einzuräumen. (Die nach innen gewendete Destruktionssucht entzieht sich ja, wenn sie nicht erotisch gefärbt ist, meist der Wahrnehmung.) Ich erinnere mich meiner eigenen Abwehr, als die Idee des Destruktionstriebs zuerst in der psychoanalytischen Literatur auftauchte,l981und wie lange es dauerte, bis ich für sie empfänglich wurde. Daß andere dieselbe Ablehnung zeigten und noch zeigen, verwundert mich weniger. Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum "Bösen", zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird. Gott hat sie ja zum Ebenbild seiner eigenen Vollkommenheit geschaffen, man will nicht daran gemahnt werden, wie schwer es ist, die - trotz der Beteuerungen der Christian Science - unleugbare Existenz des Bösen mit seiner Allmacht oder seiner Allgüte zu vereinen. Der Teufel wäre zur Entschuldigung Gottes die beste Auskunft, er würde dabei dieselbe ökonomisch entlastende Rolle übernehmen, wie der Jude in der Welt des arischen Ideals. Aber selbst dann: man kann doch von [98] Implizit verweist Freud hier u. a. auf Sabina Spielrein (1912), die diese Auffassung bereits 1911 bei einer Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung vorgetragen hatte (vgJ. Nitzschke, 2005b).
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Gott ebensowohl Rechenschaft für die Existenz des Teufels verlangen, wie für die des Bösen, das er verkörpert. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es für jedermann ratsam, an geeigneter Stelle eine tiefe Verbeugung vor der tief sittlichen Natur des Menschen zu machen; es verhilft einem zur allgemeinen Beliebtheit und es wird einem manches dafür nachgesehen. 99 Der Name Libido kann wiederum für die Kraftäußerungen des Eros verwendet werden, um sie von der Energie des Todestriebs zu sondemYXJ Es ist zuzugestehen, daß wir letzteren um so viel schwerer erfassen, gewissermaßen nur als Rückstand hinter dem Eros erraten und daß er sich uns entzieht, wo er nicht durch die Legierung mit dem Eros verraten wird. Im Sadismus, wo er das erotische Ziel in seinem Sinne umbiegt, dabei doch das sexuelle Streben voll befriedigt, gelingt uns die klarste Einsicht in sein Wesen und seine Beziehung zum Eros. Aber auch wo er ohne sexuelle Absicht auftritt, noch in der blindesten Zerstörungswut läßt sich nicht verkennen, daß seine Befriedigung mit einem außerordentlich hohen narzißtischen Genuß verknüpft ist, indem sie dem Ich die Erfüllung seiner alten Allmachtswünsche zeigt. Gemäßigt und gebändigt, gleichsam zielgehemmt, muß der Destruktionstrieb, auf die Objekte gerichtet, dem Ich die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse und die Herrschaft über die Natur verschaffen. Da seine Annahme wesentlich auf theoretischen Gründen ruht, muß man zugeben, daß sie auch gegen theoretische Einwendungen nicht voll gesichert ist. Aber so erscheint es uns eben jetzt beim gegenwärtigen Stand unserer Einsichten; zukünftige Forschung und Überlegung wird gewiß die entscheidende Klarheit bringen. Für alles Weitere stelle ich mich also auf den Standpunkt, daß die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist, und komme darauf zurück, daß die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet. Irgend99
Ganz besonders überzeugend wirkt die Identifizierung des bösen Prinzips mit dem Destruktionstrieb in Goethes Mephistopheles "Denn alles, was entsteht, I Ist wert, daß es zu Grunde geht. I ... I So ist denn alles, was Ihr Sünde, I Zerstörung, kurz das Böse nennt, I Mein eigentliches Element." Als seinen Gegner nennt der Teufel selbst nicht das Heilige, das Gute, sondern die Kraft der Natur zum Zeugen, zur Mehrung des Lebens, also den Eros. "Der Luft, dem Wasser, wie der Erden I Entwinden tausend Keime sich, IIrn Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten! I Hätt' ich mir nicht die Flamme vorbehalten, I Ich hätte nichts Aparts für mich." [Faust I - Studierzimmer]. 100 Unsere gegenwärtige Auffassung kann man ungefähr in dem Satz ausdrücken, daß an jeder Triebäußerung Libido beteiligt ist, aber daß nicht alles an ihr Libido ist.
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einmal im Laufe dieser Untersuchung hat sich uns die Einsicht aufgedrängt, die Kultur sei ein besonderer Prozeß, der über die Menschheit abläuft, und wir stehen noch immer unter dem Banne dieser Idee. Wir fügen hinzu, sie sei ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle. Warum das geschehen müsse, wissen wir nicht; das sei eben das Werk des Eros. Diese Menschenmengen sollen libidinös aneinandergebunden werden; die Notwendigkeit allein, die Vorteile der Arbeitsgemeinschaft werden sie nicht zusammenhalten. Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen. Dieser Aggressionstrieb ist der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt. Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muß uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht. Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart. Und diesen Streit der Giganten wollen unsere Kinderfrauen beschwichtigen mit dem "Eiapopeia vom Himmel"! [ ... ]
Literatur
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Sachregister
Abfuhr 51, 66f Abreagieren 9, 173f, 181 Abstinenz 19,197,203,207 Abstinenzgebot 191 Abstinenzregel 203 Abwehr 6,44,53,73,93, 131ff, 146,213, 260,275 Abwehrvorgang 6, 167 Affekt 11,18, 22f, 39f, 47, 64, 136, 149, 171ff, 193,213f Aggression 44ff, 124, 127, 271ff Aggressionslust 127, 248, 272 Aggressionstrieb 277 Agieren 177 Agierenwollen 182, 190 Agoraphobie 142,146 Aktivität 42,44,47,114, 125f, 130f, 207ff Allmacht 275 Allmachtswünsche 276 Altruismus 234, 236 Ambivalenz 124, 189, 217 Amnesie 25, 149, 164 Analerotik 102,106 Analysand 133,172 Analyse 6, 29, 31, 51, 54, 65, 74, 77, SSff,93, 105,112-161,172- 221 analysieren 17,206,214 Analytiker 23, 45, 74, 89, 99, 117, 120, 133, 135, 171ff, 182, 191, 195f, 202, 204, 209, 213- 221, 273 analytisch 116, 184, 196, 206f, 274 Angst 58f, 98, 117, 126f, 144f, 165, 168, 170, 189, 210f, 233, 241, 263 Angsthysterie 146 Angsthysteriker 152 Angstsignal 43 Angstträume 148 Anpassung 42
Aphasie 20 Arbeiterfrage 15 Arbeitsteilung 174 Arbeitszwang 246 archaisch 226 asozial 245 Asozialität 247 Assoziation 6,22,36,39, 73ff, 82, 93ff, 149, 171,205,214,219 Aufklärung 10,40, 57ff, 75, 84, 86, 100f, 109, 120, 139, 148, 152, 163, 184, 187, 193, 22Of,227 Aufmerksamkeit SOf, 67, SSf, 900, 112, 178, 189, 202, 217, 242, 261, 263 autistisch 66 autoerotisch 57, 68, 99, 101 Autoerotismus 68, 70 Autonomie 98 Bedürfnis 67,77,84,190,192,197,249 Beeinflussung 94, 153f, 188f, 206, 210, 212, 235,241,264 Befriedigung 11, 20, 43, 53, 57, 59f, 66, 68, 97, l00f, 12lf, 138, 165, 168f, 175, ISS, 197, 202f, 207f, 225, 234, 237ff, 248, 256, 262ff, 276 Befriedigungsarten 129 Begehren 6, 11, 55, 82, 97, 182, 191 Behandlung 19, 2lf, 29, 46, 53, 57, 73f, 96ff, 133,136,143, 149f, 152ff, 163, 167, 170, 173, 176-201, 21Off, 217, 223 Behandlungskonzept 6,171,173 Behandlungsmethoden 188, 203 Behandlungssituation 135, 173 Behandlungsstrategie 11 Behandlungstechnik 9,10,173 Behandlungstheorie 135
292 Besetzung 41, 67f, 97, 160, 162 Bewältigung 11,35,55,64,147,228 Bewältigungsmechanismen 213 Bewusstsein 5, 25, 35, 47ff, 67f, 73f, 88, 96, 149, 155ff, 175, 183ff, 196, 198,205, 222f bewusstseinsfähig 49,188 Bewusstseinspsychologie 48 Bewusstseinstätigkeit 67 Beziehung 24, 35f, 42f, 48, 55f, 63ff, 74, 101, 109ff, 133, 135f, 140f, 144, 146f, 160, 164f, 171ff, 182, 187, 191,222,234, 243,269,276 Bindung 45, 56f, 97, 99, 108, 114, 124, 126, 131, 146, 163, 179 Bisexualität 110, 117 Brust 57 Charakter 17, 19, 46, 52, 65, 70, 77, 102, 106, 107,108,118, 120f, 138, 146, 164f, 191, 194,200,222,234,245,258,274 Charakteranalyse 106 Chirurgie 16, 19 Denken 36, 41, 67, 74, 75, 84, 90, 93f, 150, 152, 203, 241, 252f, 257 Denkfunktion 253 Denkprozess 67 Denkrealität 70 Denkschwäche 252f Denktätigkeit 68, 137 Denkzwang 74 Deprivation 25 Destruktion 274f, 288 Destruktionstrieb 44ff, 275ff Determinierung 87 deuten 74,85,135,138,140,205 Deutung 73,76, 82ff, 89ff, 139ff, 175, 192, 213,214,217,219,220, 274f Deutungsarbeit 84, 91, 174 Deutungskunst 39, 174 Dissoziation 103, 167 Durcharbeiten 6,23, 172f, 181 Dynamik 6,49f, 154, 18lf, 208 dynamisch 47,50,174
Sachregister
Eifersucht 62, 121, 153, 226 Einschlafen 77,142,238 Einsicht 16, 52f, 65f, 78, 99, 106, 111ff, 122, 123, 127, 136, 146f, 154f, 160, 181, 188, 210, 226, 240, 244f, 250, 256, 258, 273, 276, 277 Ekel 100 Elektrakomplex 118 Eltern 33,43,53,56, 58f, 6Off, 66, 74, 103f, 116,131, 141ff, 176, 181 Elternbeziehung 54 Endbefriedigung 121 Energie 43, 44f, 53, 101, 137, 156, 208, 230, 257, 273, 276 Energiebesetzung 53 Entstellung 86, 88, 91, 187, 223 Entwicklung 24,35, 42f, 55, 61, 65, 68, 100, 102f, 105, 108, 114f, 118ff, 123, 128, 130, 138, 173, 181, 183, 192,202,207, 231, 233, 235, 238, 240, 242, 247, 253, 259,260,266 Entwicklungsgeschichte 63 Entwicklungsstufe 238 Erektionsangst 144 Erbrunerung 18,71,77~84ff,93, 123, 140~ 144,156, 169, 174ff, 213, 221, 223, 238,271 Erinnerungsarbeit 179 Erinnerungssymbol 24 Erkrankung 6,17,24,31,35,39,58,62,70, 104, 133, 135f, 154, 158, 16lf, 173f, 185,208,213 erogenen Zonen 57, 97 erogene Zone 47, 101 Eros 44ff, 82, 173, 274, 276, 277 Erotik 235, 275 Erregung 11, 56ff, 64, 101, 103, 144 ErregungsqueUen 259 Ersatz 32,57,87,93,156, 166, 169, 214, 221 Ersatzbefriedigung 209 Ersatzbildung 55 Ersatzgedanken 96 Erzieher 43, 69, 204, 210, 245 Erziehung 53, 63, 69, 101, 117, 209, 233, 235f, 241, 252ff
293
Sachregister
Familie 12f, 32, 56, 59, 60, 106, 173,272 Familienroman 60 Fehlleistung 217,220 Feind 124, 178,227,232,243,267, 270f Feindseligkeit 62, 115ff, 124, 126, 130, 248, 269, 27lf, 277 Fetisch 167, 169, 170 Fixierung 46, 6lf, 100, 105, 117 Flucht 42, 137, 163, 165, 242 Flucht in die Krankheit 163 Fortpflanzungsfunktion 70
Geburt 12, 42, 60, 113, 130, 233 Geburt des Helden 60 Geburtsangst 60 Geburt von Geschwistern 130 Gedächtnis 42,67,86,88, 149 Gedächtnisspur 261 Gefühl 251, 256ff, 269 Gefühlsambivalenz 234 Gefühlsbeziehung 267 Gefühlsbindung 172 Gefühlserregung 240 Gefühlswiderstand 240 Gegenbesetzung 160 Gegenübertragung 193, 197 Geisteskrankheit 238 Generation 10, 55f, 61, 237 Genitale 112ff, 122f, 168f Genitalien 23, 58, 101, 103, 111f Genitalorganisation 6, 110f, 114 Genitalprimat 112 Genitalzone 56,58, 101ff Geschlecht 63, 118, 120, 260 Geschlechtsleben 60,63,100, 114, 118, 127 Geschlechtsorgan 117 Geschlechtstrieb 57f, 99, lOOff Geschlechtsunterschied 115 Geschlechtswechsel 118 Geschwister 12, 121 Gewissen 53, 55, 73, 211, 225f, 233 Gewissenhaftigkeit 150, 203 Glücksgefühl 265 Gott 52, 226, 250, 252, 261, 270, 275f Gottesfurcht 254 Gottesgestalt 249 Gottesidee 250
Gottheit 250 Grundregel 76, 149ff, 174, 176, 181, 190 Hilflosigkeit 57, 226, 249, 254 Homöostase 44 Homosexualität 63,113,119 Hypnose 2lf, 28, 47f, 149, 154, 172, 174, 177f Hypnotherapie 22 hypnotisieren 22 Hypnotismus 11 Hysterie 20ff, 28, 94, 104, 117, 129, 133, 136, 147,210,224 hysterisch 20, 104 Ichgefühl 259f Ichideal 5, 52ff Ich1iebe 44 Ich-Psychologie 158 Ichspaltung 6, 167f Ichtriebe 82, 273f Idealbildung 54 Ideal-Ich 55 idealisieren 12 Ideenassoziation 94 identifizieren 57 Identifizierung 130, 276 Identität 51, 57, 129 infantil 62 Infantilismus 100, 254 Instanz 43,51,86,161,247,249 Intellekt 182,190,239,255 intellektuell 138, 232 Intelligenz 195,239,249, 252f Introspektion 149 Introversion 185 Inversion 63 Inzest 248 Inzestschranke 59,60,103 Inzestversuchung 60 Isolierung 174f Jude 12,34,275 Kannibalismus 247 Kastration 113, 115, 119, 121ff, 130, 145, 167,
294 169,170 Kastrationsangst 98 Kastrationscirohung 60, 169, 176 Kastrationsgefahr 169 Kastrationskomplex 113, 120 Kind 12, 48, 56ff, 63ff, 69, 83f, 99ff, 109, 112130, 141, 144f, 168, 169,217,222, 238, 246f, 250, 252,254,272 Kinderspiel 125, 167 Kindheit 5, 12, 22f, 57, 59, 60, 62, 82, 98f, 105f, 107, 111, 118, 175, 181, 205, 245, 249,254 Kindheitsarnnesie 175 Kindheitsbeziehungen 62 Kindheitserinnerung 282 Kindheitserlebnisse 62, 107, 245 Kindheitsgeschichte 108 Kindheitswünsche 75, 158, 161 Klitoris 110, 115, 118f, 122, 127, 144 Komplex 116, 186 Kompromiss 135, 165, 186 Kompromissbildung 73 Konflikt 20, 52, 123, 135, 160f, 164, 168, 213 Konfliktspannung 161 Konstruktion 10, 85, 213, 215ff Krankengeschichte 29, 133, 168 Kranker 197 krankhaft 166,205, 258 Krankheit 5,26,31,105, 137f, 141, 146, 152f, 163, 178, 180, 186 Krankheitsbilder 158 Krankheitsgeschichte 134,176 Krankheitsverursachung 224 Kränkung 46, 237 Krieg 7, 31, 33, 89, 227f, 231, 238, 240 Kriegsneurotiker 212 Kultur 7, 20, 29, 32f, 35, 68, 97, 102, 109, 110, 116, 133, 158, 225f, 233, 235, 237, 242-256, 27lf, 276f Kulturarbeit 11, 134, 229, 244f Kultureignung 235, 237, 239 Kulturentwicklung 33, 46, 272, 277 Kulturfeindschaft 248 Kulturfeindseligkeit 246 Kulturforderung 59 Kulturgehorsam 236 Kulturgemeinschaft 119, 229, 23lf Kulturgeschichte 235
Sachregister Kulturheuchler 237 Kultunnensch 192 Kulturvölker 230, 232 KulturweltbÜIger 227, 230, 233 Künstler 27, 33, 70, 230 Laienanalyse 29 Latenz 49 Latenzperiode 68, 101 Latenzzeit 57, 60, 68, 102, 106, 107, 113 Lebensgeschichte 23, 82, 134f, 171, 176, 182, 190, 195, 213, 224 Lebenszweck 119,262 Lehranalyse 29,30 Leiden 39, 137, 139, 182, 208, 231, 249, 263, 265, 267f, 273 Leidenschaft 32, 35, 202 Leidenschaftlichkeit 116,199,202 Libido 40, 45ff, 59, 6lf, 97, 111, 121, 123, 125, 128f, 183, 185ff, 190, 208, 267, 273ff Libidobesetzung 121, 183 Libidoökonomie 264, 266, 268 Libidoorganisation 110 Libidotheorie 26, 97, 185 Liebe 33, 56, 57ff, 61, 63, 70, 78, 97, 98f, 118, 121, 124, 164, 191, 194, 197, 198ff, 225, 268, 269, 270, 273, 275 Liebesbedingungen 182, 198 Liebesbedürfnis 235 Liebesbeziehung 57, 151 Liebesfähigkeit 56, 98, 194, 201 Liebesleben 116, 121, 182f Liebesobjekt 56, 115, 118, 124, 177, 179 Liebesübertragung 194, 196, 198f Lust 20, 43, 64, 65, 66, 69f, 101, 103, 255, 259,270 Lustgewinn 69, 264, 265, 268 Lust-Ich 69f, 259 Lustprinzip 20, 35, 64ff, 68, 205, 226, 256, 259, 262f, 268 Lust-Unlust-Prinzip 65 Männlichkeit 103, 110, 119, 12lf, 125, 128, 131,170 Männlichkeitskomplex 119, 120, 131 Masochismus 275
Sachregister Masse 244 Massenwahn 267 Masturbation 32, 122, 127, 128, 169, 170 masturbatorisch 102 Mechanismus 62, 74, 103, 117, 159, 160, 162, 170, 187, 201, 222f, 264 Melancholie 129, 161 Metapsychologie 25f, 40 metapsychologisch 265 Minderwertigkeit 119, 121 Missbrauch 23ff, 99, 218 Mitleid 100, 234 Monosexualität 110 Moral 55, 100, 193, 196 moralisch 247 Motiv 79,90, 121ff, 142, 150ff, 160, 169, 180 Motivierung 205, 250 Mutter 24,31,48, 56ff, 99, 113-133, 142, 145f, 170, 184, 191, 217, 226, 230, 272 Mutterbeziehung 116, 120 Mutterbindung 60,114, 116f, 120, 123ff, 127ff Mutterbrust 57, 113, 123, 126, 259 Mutterersatz 117, 122 Mutterliebe 123 Mythologie 36, 170 Mythos 113 Mythus 60, 69 Nachdenken 92,94,96, 149f Nacherziehung 64,173 Nachträglichkeit 175, 285 Narzissmus 46, 273, 282 negative therapeutische Reaktion 220 Neid 226 Neugierde 112 Neurose 6, 24, 52, 60, 64f, 69, 74, 99, 100, 102, lOSt, 116f, 134, 136, 148, 153f, 158f, 161ff, 175, 180, 185, 190, 194, 197, 199, 20lf, 208, 212, 254, 273f Neurosenbehandlung 21 Neurosenwahl 70 Normalpsychologie 82 Notwendigkeit 28,46, 147, 196, 226, 228, 241,254,277 Novelle 194
295
Objekt 46, 56, 87, 99, 114f, 118f, 126, 159, 187, 215f, 249, 254, 258f, 268, 273 Objektfindung 5, 55f, 61, 68, 103, 118, 191 Objektlibido 46, 273 Objektliebe 44, 70 objektlos 99, 101 Objekttriebe 273 Objektwahl 57, 59ff, 98f, 102f, 111, 114, 118f, 122,200 Objektwechsel 128, 130 ödipuskomplex 24, 60, 116, 118f ökonomisch 275 Onanie 122f, 130, 169 Oralerotik 102 Orgasmus 127 Paranoia 94,117 Partialtrieb 274 Passivität 114, 125, 131, 149, 203 Patient 22, 31, 134, 152, 155, 169, 172, 174, 179, 18Off, 208, 218, 220 Penis 110, 112ff, 119, 169, 170 Penislosigkeit 110, 113 Penismangel 113 Penisneid 98, 131 pervers 102, 104 Perversion 99, 104ff Phallus 102, 112 Phantasie 28,40, 68, 94, 99, 119, 122, 137, 141,146,183,261 Phantasieren 68 Phantasiewelt 70, 162, 166, 167 Philosoph 15, 279 Philosophie 14f, 36, 65, 94, 261, 273 philosophisch 48 Phobie 178, 210f, 282 phylogenetisch 55, 108, 158, 161 präödipal 120 Primat der Genitalien 111 Primat des Phallus 102, 112 Projektion 69, 117 Psychiatrie 17, 29, 138f, 166 Psychoanalyse 5, 9, 10f, 15, 28ff, 33, 35f, 39ff, 44, 48, 50, 54, 57, 59ff, 64f, 82, 89, 94, 96f, 110, 129f, 133, 135f, 139, 148f, 152, 154, 158, 183ff, 188, 192, 202ff, 210ff, 234, 25lf, 256
Sachregister
296
Psychoanalytiker 10, 16, 29, 184, 190, 194, 202
psychoanalytisch 29, 212 Psychodynarnik 136 Psychoneurose 24, 104, 161, 185 Psychopathologie 20, 82 Psychose 6, 65, 158ff, 222, 224 Psychosexualität 6, 97, 98 Psychosomatik 29 Psychosynthese 206, 207 Psychotherapeut 133, 202 psychotherapeutisch 104 Psychotherapie 25, 154, 171, 212 Pubertät 56, 59, 61ff, 68, 98, 103, 105, 11lf, 114,118,122 Pubertätszeit 6Of, 105
Quantität 64 Reaktionsbildung 101, 106, 131 Real-Ich 69, 70 Realität 43, 54, 60, 65ff, 160ff, 183, 185f,
188ff, 199, 201, 213, 222ff, 241, 250, 254, 261, 264, 266f Realitätsprinzip 20, 35, 64, 68ff, 173, 241, 263,265 Realitätsprüfung 68, 70, 73, 266 Realitätsverlust 6, 162, 163, 164, 282 Regression 74, 99f, 105, 107, 120, 131, 166, 170, 185f, 238f, 261 Reifezeit 105, 111, 120, 260 Reiz 66, 78, 254
Reizschutz 42 Reizspannung 43, 67 Reizung 101, 127 Rekonstruktion 213, 215f, 260 Religion 29, 32, 55, 228, 241, 252f, 256f, 26lf Repräsentanz 54 Reproduktion 86,149, 172, 192 Rivalität 55, 120 Rivalitätshass 118 Sadismus 102, 273ff sadistisch 114, 127 Säugling 56f, 259 Säuglingspflege 66
Scham 73, 100, 134 Schamgefühl 53 Schizophrenie 30 Schlaf 16,17,78,81, 83f, 144 Schlaflosigkeit 145 Schlafwunsch 66 Schlafzeremoniell 141ff Schlafzustand 43,66,92, 142, 160, 238 Schmerz 259, 262f, 269 Schuld 9, 58, 73, 123, 252, 264 Schuldbewusstsein 208, 220 Schuldgefühl 53, 55, 71 Seelenleben 4lf, 44, 48f, 54, 58, 74, 82, 109,
138, 165, 166, 171, 180, 206, 238, 260f,264 Selbst 85, 158, 228, 258, 274 Selbstanalyse 26, 29, 75, 227 Selbstbeobachtung 149,150 Selbsterhaltung 41, 82, 98, 225 Selbstüberwindung 70, 91, 150 Selbstwahrnehmung 188 Selbstwertgefühl 73 Selbstzerstörung 46, 274 Sexualäußerung 109 Sexualbefriedigung 57, 102 Sexualchemie 129 Sexualentwicklung 62, 68, 98f, 102, 107, 110f, 114, 116f, 128, 131 Sexualerregung 46, 101ff, 128 Sexualforschung 60, 11lf, 176 Sexualfunktion 47, 123, 130 Sexualität 6, 26ff, 40, 44, 55f, 60, 82, 97f, 102, 109ff, 181, 188, 191, 225, 237, 274f Sexualleben 57,62, l02f, 105, 109, 111, 146, 273 Sexualmoral 97 Sexualobjekt 57, 63, 130, 243, 269, 271 Sexualorganisation 102, 111 Sexualregung 61 Sexualtrieb 57ff, 68, 100f, 109 Sexualverkehr 97 Sexualziel 56, 103 sexuell 61, 125, 129, 191, 271 sozial 172, 202, 247 Sprache 17f, 33, 48, 74, 77, 97, 171, 213, 230, 232 sprachfähig 222 Sprachgedächtnis 24
Sachregister Strafbedürlnis 208 Subjekt 36,114,126 Sublimierung 106, 196, 265f Suggestionsbehandlung 285 Symbol 35,113,144 Symbolik 145 Symptom 6,22,24,53,73,133,135, 146f, 156, 159, 170, 186, 206, 239 Symptombedeutung 147 Symptombildung 71,74, 135, 148, 155f, 173f Symptomdeutung 144,147 Synthese 144,168,206
Technik 9, 21, 49, 96, 150, 153, 173ff, 192,
194, 196f, 20lf, 207, 2100, 243, 247, 264ff Thanatos 44, 82, 173 Tod 5, 7, 16, 31, 35, 4Of, 51, 63, 71, 168, 227f, 241, 249, 258, 277 Todestrieb 33, 45f, 82, 256, 274 Todeswunsch 126 Traum 6,26,28,40,55,71, 73ff, 98, 140, 148, 160,205,239 Trauma 24,60,213 Traumanalyse 239 Traumarbeit 84, 89, 90 traumatisch 21 Traumbildung 74, 9lf, 214 Traumdeutung 11, 26, 41, 52, 55, 64f, 75f, 80, 82ff, 90ff, 150, 227 TraumentsteIlung 87, 92 Traumgedanken 66, 76, 87ff, 175 Traumleben 25, 74 Traumsymbolik 140 Traumvorgänge 6, 82, 85 Traumwunsch 91 Traumzensur 51,87f Trieb 11, 25, 33, 35, 41, 45f, 58, 64, 73, 97, 158, 165f, 168, 246, 256, 274 Triebanspruch 164 Triebbefriedigung 41, 70, 158, 168, 191, 229, 235,243,245,264 Triebentwicklung 110 Triebhaftigkeit 253 Triebleben 182, 189f, 235f, 255 Trieblehre 5, 44, 97, 272f Triebregung 108, 159, 163, 206, 260, 265
297 Triebstärke 245 Triebunterdrückung 196, 237, 244 Triebverdrängung 164 Triebverzicht 11, 53, 97, 158, 225, 227, 235, 244,246,256 Triebwunsch 135 Triebziel 46
U
überdeterminiert 83 Übergewissenhaftigkeit 151 Über-Ich 5, 20, 36, 41, 43, 46, 52f, 119, 159, 161, 171, 226, 247 Übertragung 6, 29, 80, 83, 117, 153, 172, 177, 179ff, 205, 207, 216 Übertragungsbedeutung 180 Übertragungsliebe 6, 190ff, 200ff Übertragungsneurose 161, 180 Übertragungsobjekt 204 Übertragungswiderstand 186 Unbefriedigung 97, 265 unbewusst 15, 24, 47, 49f, 52, 60, 67, 71, 110, 156f,258 Unbewusstes 5, 47f, 50, 156 Unlust 19, 43, 64, 65f, 69, 165, 259ff Unlustentbindung 68 Unluststeigerung 43 Urvater 226
Vater 12f, 56, 61, 71, 80, 83f, 89, 113, 115f, 118ff, 145f, 153, 169f, 184, 191, 194, 217, 226f, 250 Vaterabhängigkeit 117 Vaterbeziehung 120 Vaterbindung 115ff, 120, 131 Vatergott 170 Vaterkomplex 55 Vaterobjekt 120, 126, 128 Vatersehnsucht 55 Verdrängung 6, 22, 49ff, 65ff, 73, 100ff, 108, 116,120,126,128,135, 148f, 156f, 159, 162ff, 166, 179, 181, 186, 195, 224 Verführung 25, 60, 99, 102, 109, 122, 130, 169,176 Verführungstheorie 24 verinnerlicht 74, 247
298 Verinnerlichung 119, 247, 248 Verleugnung 66, 170, 224 Versagung 68, 128, 161, 185, 208, 246f, 265 Verschiebbarkeit 138, 208, 267 Verschiebung 44, 67, 70, 96, 170, 223, 251 vorbewusst 50 Vorlust 103 Vorstellung 12, 19,42,49, 51, 60, 65, 67f, 90, 93, 113, 127, 157 Vorzeit 60, 116f, 166, 223f Wahnbildung 222 Wahnsinn 65, 223 Wahrheit 12, 31, 197, 200, 213, 217ff, 237, 265 Weiblichkeit 110, 114, 117, 12lf, 125f, 128, 131 Widerstand 6, 22, 29, 49, 51, 73, 88, 89, 9lf, 127, 148ff, 173ff, 189, 195, 199, 200ff, 218, 222, 240, 275 Wiederholung 11,44,48, 109, 125f, 135, 140, 176f,179f Wiederholungsaktion 179 Wiederholungszwang 173, 180, 274 Wiederkehr des Verdrängten 73, 222 Wissenschaft 10,14,28,35,39,48,55,69, 192,202,228,243,247,254,264 Witz 28, 90, 95 Wunsch 6, 11f, 30, 40, 64, 70f, 73f, 76f, 80, 98,122,127,129, 133f, 140, 148, 158, 173,250,256 Wunschdenken 241 Wunscherfüllung 6, 25f, 41, 73ff, 84, 97, 162, 222f,250 Wunschversagung 160
z
zärtlich 115 Zärtlichkeit 58f, 61, 63, 80, 196f, 201 Zärtlichkeitsbedürfnis 61, 106 Zeit 5, 11, 15ff, 43, 47, 57, 59, 66, 75, 81, 98f, 114,118,122, 125f, 127, 143f, 150, 154, 163, 168, 172, 175, 179, 180f, 184, 209, 213, 222, 228f, 23lf, 243, 252f,275 Zeitvorstellung 53 Zensur 6, 55, 73, 89, 92, 94f, 96, 232
Sachregister Zerstörungswut 276 zielgehemmt 276 Zielvorstellung 96 Zivilisation 225, 242 Zwang 53, 138, 148,206,211,226, 235f, 244f,247 Zwangshandlung 139, 140f, 143, 146 Zwangsneurose 104,129, 136ff, 14lf, 146, 148, 152, 154, 175 Zweierbeziehung 56 zweizeitiger Ansatz der Sexualentwicklung 98,102,111
Dieses Buch ist Annelise Heigl-Evers (1921-2002) und Tobias Bracher (1917-1998) gewidmet, die mich während meiner psychoanalytischen Ausbildung Schritt für Schritt von der Auffassung Kurt Lewins Uberzeugt haben: "Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. "