Kommissar X - Die Puppen des Bauchredners von A. F. Morland ISBN: 3-8328-1117-6
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Kommissar X - Die Puppen des Bauchredners von A. F. Morland ISBN: 3-8328-1117-6
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"Geschossen wird nur im äußersten Notfall", sagte John Holliman eindringlich und mit erhobenem Zeigefinger. "Hä?" äußerte sich sein Freund und Komplize Brad Sturges, weil er kein Wort verstanden hatte. Sturges war nicht schwerhörig, er trug nur, wie immer, seinen Walkman, der ihm die abstehenden Ohren vollplärrte. Seine Vorliebe für dieses Gerät hatte ihm den Spitznamen "Walkie" eingetragen. Böse Zungen behaupteten, daß er mit diesem Ding sogar schlafe. Fest stand jedenfalls, daß er es weder abnahm, wenn er sich auf die Klobrille setzte, noch wenn er seine Freundin beglückte. Walkie war einfach ein bißchen irre. Sie waren beide keine allzu großen Lichter - kleine Ganoven, die sich mit vielen Ungesetzlichkeiten über Wasser hielten. Von einem großen Coup, bei dem sie sich gesundstoßen konnten, träumten sie seit Jahren, und sie wußten, daß sich dieser Traum nie erfüllen würde, denn wer Großes leisten wollte, mußte aus einem besonderen Holz geschnitzt sein, und das waren sie nicht. Diesbezüglich schätzten sie sich richtig ein. Holliman riß dem Freund wütend die Kopfhörer herunter. "Verdammt noch mal; bist du bescheuert? Du kannst doch jetzt nicht Musik hören! Ich sagte, geschossen wird nur im äußersten Notfall! Wir nehmen die Kanonen nur mit, um mehr Eindruck zu schinden." "Ist doch logo", erwiderte Sturges. "Über so 'ne Selbstverständlichkeit brauchst du kein Wort zu verlieren. Ich habe in meinem Leben noch nie auf jemanden geschossen. Man sieht nur besser aus, wenn man einen Raubüberfall mit 'ner Kanone in der Hand ausführt." "Wenn du die Kopfhörer noch mal aufsetzt, drücke ich dir die Stöpsel in den Gehörgang", knurrte John Holliman, ein breitschultriger Bursche mit Sattelnase. Er hatte eine Zeitlang erfolglos geboxt. Bevor sie ihn blöd schlugen hörte er auf. Sturges grinste. "Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, müßte ich jetzt denken, du wärst ein verdammt gewalttätiger Hund. Dabei kannst du keiner Fliege was zuleide tun." "Einer Fliege nicht, aber dir, wenn du die Sache vermasselst." "Warum sollte ich? Ist doch 'n Kinderspiel, was wir vorhaben. Ein Rein-Raus-Geschäft. Wir gehen rein, jagen dem Juwelier ein bißchen Angst ein, damit er nicht auf den Alarmknopf zu drücken wagt, stopfen uns die Taschen voll und gehen wieder raus." "Dann mal los", sagte John Holliman und öffnete den Wagenschlag. Sie befanden sich in Mount St. Vincent, im nördlichsten Teil der Bronx. Das Auto stand in einer schmalen Straße, der Juwelierladen, den sie aufzusuchen gedachten, befand sich um die Ecke. Auch Sturges stieg aus. Der Kopfhörer hing jetzt um seinen Hals, das Gerät war - eine Seltenheit - abgeschaltet. Eine Ameisenstraße schien über seinen Rücken zu führen. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Die Idee, den Juwelier Neil McIntire zu berauben, stammte nicht von ihm, sondern von Holliman. Sie hatten die Sache so gründlich wie möglich ausbaldowert, waren mehrmals hier gewesen und hatten das Geschäft und den Juwelier beobachtet. McIntire war nicht mehr der Jüngste, ein magerer Graukopf mit dicker Brille. Wenn man ihm die wegnahm, war er hilflos. Es konnte unmöglich schwer sein, bei ihm abzuräumen. Dennoch spürte Sturges jetzt dieses lästige Unbehagen in sich hochsteigen, denn schiefgehen konnte immer was, und er war nicht erpicht darauf, eine Gefängniszelle für Copyright 2001 by readersplanet
längere Zeit von innen sehen zu müssen. Allein der Gedanke daran rief bei ihm schon. ein höchst unangenehmes Sodbrennen hervor. "Irgendein Problem, Walkie?", fragte Holliman mit einem scheelen Blick auf den Freund. "Nein. Wieso?" "Du siehst auf einmal so käsig aus." "Soll ich mein Make-up auffrischen?" "Ist bei dir doch zwecklos", erwiderte Holliman. Sie bogen um die Ecke. Bevor sie den kleinen Juwelierladen betraten, pumpte Brad Sturges seine Lunge kräftig mit Sauerstoff voll. Im Geschäft rissen sie ihre Revolver aus dem Gürtel. Und Holliman schrie: "He, Mann, das ist ein Überfall!"
* Neil McIntire zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Ihm gehörte dieser Laden seit 27 Jahren, und er war noch nie überfallen worden. Der etwas kränkliche Mann spürte, wie sein Herz verrückt spielte. Es trommelte wild gegen die Rippen und schmerzte. Als er sich an die Brust griff, dachte Holliman, der Juwelier wolle eine Waffe ziehen. Sein Faustschlag warf McIntire gegen eine Vitrine, deren Glastür klirrend brach. Pfoten hoch!", schrie Holliman. "Pfoten hoch! " McIntire gehorchte zitternd. "Höher mit den Flossen!", schrie Holliman nervös. Er zielte mit dem Revolver auf das Gesicht des Juweliers. "Wir drei verstehen keinen Spaß, Freundchen: der Smith, der Wesson und ich!" "Bitte", stöhnte McIntire, von Todesangst geschüttelt. "Sie werden mich doch nich...." "Das hängt ganz von dir ab, Opa. Mich kratzt das nicht, dich umzunieten. Du wärst nicht der erste, den ich über den Jordan schicke. Wenn du an deinem Leben hängst, verhältst du dich ruhig und bewegst dich nicht, klar?" Holliman tastete den Juwelier hastig ab. Er fand keine Waffe bei McIntire. Brad Sturges schlug das Glas des Verkaufspults mit dem Revolver entzwei und raffte Ringe und Armbänder zusammen. Er warf die Juwelen in einen schwarzen Stoffsack. "Schneller!", drängte ihn Holliman. "Beeil dich!" Sobald sich alles, was wertvoll genug aussah, im Sack befand, zwang Holliman den Juwelier, den Tresor im angrenzenden Büro zu öffnen. Dort befanden sich die wertvollen Stücke. Rasch raffte Sturges alles zusammen. "Umdrehen!", befahl Holliman nun dem Juwelier. "Um Himmels willen, was haben Sie vor?", fragte Neil McIntire entsetzt. "Sie haben doch alles, was Sie wollen. Warum gehen Sie nicht?" "Wir brauchen einen kleinen Vorsprung", entgegnete Holliman. "Da du uns den nicht freiwillig gibst, lege ich dich schlafen. Also dreh dich um!" "Das - das dürfen Sie nicht! Ich bin ein kranker Mann." "Verdammt, denkst du, du ,hast einen General von der Heilsarmee vor dir?" "Sie dürfen mich nicht niederschlagen, das verkrafte ich nicht", stieß McIntire mit zitternder Stimme hervor. "Ich - ich habe Angst. Ich verspreche Ihnen, den Alarm nicht auszulösen." "Laß ihn, John", sagte Sturges. Copyright 2001 by readersplanet
Holliman starrte ihn wütend an. "Keine Namen, du Trottel! Warum gibst du ihm nicht gleich deine Visitenkarte?" Er packte den Juwelier derb, stieß ihn herum und schlug mit dem Smith & Wesson zu. Neil McIntire fiel wie ein gefällter Baum um und rührte sich nicht mehr. Brad, "Walkie" Sturges riß verstört die Augen auf. "Meine Güte, mußte das sein?" "So war's besprochen", sagte Holliman bissig. "Tut dir der Mann denn nicht leid?" "Wenn er zu sich kommt, wird ihm der Schädel brummen, das ist alles." "Und was, wenn du zu kräftig zugeschlagen hast? " "Hab ich nicht", erwiderte Holliman. "Das kannst du nicht wissen. Er hat eine angegriffene Konstitution. Wir sind jetzt vielleicht Raubmörder." "Halt die Schnauze! Du gehst mir auf'n Wecker! Laß uns endlich abhauen, oder willst du hier Wurzeln schlagen?" Sie schoben ihre Waffen in den Gürtel. Eigentlich hatten sie vorgehabt, den Juwelierladen ganz langsam und unauffällig zu verlassen, aber als Brad Sturges losrannte, folgte ihm John Holliman mit großen Schritten. Als sie um die Ecke wetzten, rannten sie eine aufgetakelte Nutte beinahe über den Haufen, die mit schwingenden Hüften und schaukelndem Handtäschchen nichtsahnend daherschlenderte. Sturges rempelte sie an. Sie wäre beinahe von ihren hohen Absätzen heruntergefallen. "He, du blöder Kaffer!", schrie sie aufgebracht. "Du hast wohl nicht alle Latten am Zaun! Siehst du nicht, daß hier eine Dame unterwegs ist?" Sie tastete nach ihrer auftoupierten platinblonden Frisur und stöckelte kopfschüttelnd weiter. Atemlos erreichten Holliman und Sturges ihren Wagen. Holliman rutschte hinter das Steuer und klappte die Tür zu. Sobald Sturges neben ihm saß, die Beute auf den schlotternden Knien, setzte er sich den Kopfhörer auf. Er brauchte jetzt Musik, um sich abzulenken und zu beruhigen. Der Gedanke, er könnte der Komplize eines Raubmörders sein, quälte ihn fürchterlich. Holliman raste los. Geplant hatten sie den Coup ziemlich nüchtern, doch nun war in ihren Adern eine Menge Adrenalin unterwegs. Sie hatten beschlossen, die Beute nicht zu behalten, sondern an einem sicheren Ort zu verstecken und erst einmal Gras über die Sache wachse zu lassen. Sie wollten nicht unter Druck stehen, wenn sie sich nach einem Hehler umschauten, der ihnen die Sore zu einem guten Preis abkaufte. Je mehr Zeit sie sich ließen, um so mehr Gewinn ließ sich erzielen. "Fahr nicht so schnell", ermahnte Sturges seinen Freund. "Willst du, daß 'ne Verkehrsstreife auf uns aufmerksam wird?« Holliman nahm sofort etwas Gas weg. Sie fuhren durch den Van Cortlandt Park. Ihr Ziel war der Woodlawn Cemetery. Dort hatten sie einem Freund vor zwei Wochen das letzte Geleit gegeben. Earl Dexter hatte wie sie eine Menge Dreck am Stecken gehabt, aber gestorben war er nicht in einem Kugelhagel der Polizei, sondern beim Aufhängen einer Gardine. Er war zu faul gewesen, die Haushaltsleiter aus dem Abstellraum zu holen, hatte einen Stuhl auf einen anderen gestellt - und obendrauf noch einen Schemel! Daß die meisten Unfälle im Haushalt passieren, ist erwiesen. Earl Dexter brach sich das Genick, und die Unfallstatistiker registrierten es. Sie fuhren von der Jerome Avenue in den Friedhof. Der Wagen rollte durch eine Allee aus Kastanienbäumen, die so dicht nebeneinanderstanden, daß ihre Kronen den Himmel Copyright 2001 by readersplanet
verdeckten. Neben einem schmucklosen Brunnen hielt Holliman den Wagen an. Er stieg aus und blickte sich gewissenhaft um. Eine gramgebeugte, schwarzgekleidete Frau entfernte sich mit kleinen Schritten. Sie schaute nicht zurück und ging ihres Weges. Sonst sah Holliman niemanden. Er gab seinem Freund ein Zeichen. Mit Brad zu reden, hätte wenig Sinn gehabt, denn der hatte die Ohren im Moment voller Heavy Metal. Sie gingen durch trockenes, knisterndes Gras, an zwei Grabreihen vorbei, und wenig später standen sie vor Earl Dexters letzter Ruhestätte, die mit einer schweren Steinplatte abgedeckt war. Das Werkzeug, das sie brauchten, um die Platte ein Stück zur Seite zu schieben, hatten sie hinter dem Grabstein versteckt. Sie holten die Arbeitsgeräte. "Das hätte sich Earl auch nicht gedacht, daß er uns nach seinem Tod noch einen Gefallen tun würde", sagte Holliman. "Hä?", fragte Sturges. Holliman winkte ab. "Ach, leck mich..." "Hä?" "Bei dir braucht man gute Nerven", brummte Holliman. Sie drückten den Deckel zur Seite und gaben die geraubten Juwelen in Earl Dexters Obhut. "Noch nicht einmal sein Name steht am Grabstein", sagte Brad Sturges. "Das hat keine Eile. Ich bin sicher, Earl wird sich deswegen nicht beschweren. "Hä?"
* Der Tennislehrer war mit Joanna McIntire sehr zufrieden. Sie hatte noch nicht viele Stunden, stellte sich aber schon sehr geschickt an. "Wenn Sie so weitermachen, können Sie bald die Navratilova fordern", sagte der gutaussehende junge Mann am Ende der Tennisstunde lächelnd. "Sie haben Talent für diesen Sport. Gutes Ballgefühl, hervorragende Reflexe, beachtliche Grundschnelligkeit." Joanna lachte. "Sagen Sie das allen Schülerinnen?" "Halten Sie mich für einen unaufrichtigen Süßholzraspler?" "Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht kränken. Ich freue mich natürlich sehr über Ihr Lob", erwiderte die 24jährige Joanna. "Wenn ich eine Sache anpacke, versuche ich Nägel mit Köpfen zu machen. Mit Halbheiten gebe ich mich nicht zufrieden." "Das ist eine sehr lobenswerte Einstellung." Joanna betupfte ihr leicht gerötetes Gesicht mit einem blütenweißen Handtuch. Sie war sehr hübsch und brauchte keine Schminke, um gut auszusehen. Ihr Haar war kastanienbraun und floß in weichen Wellen auf ihre wohlgerundeten Schultern. Das kurze weiße Tenniskleid brachte vor allem ihre langen, makellosen Beine wunderbar zur Geltung. "Nehmen wir zusammen einen Drink?", fragte der Tennislehrer. "Ich habe die nächste Stunde frei." "Tut mir leid, heute geht es nicht", erwiderte das Mädchen. "Ein andermal sehr gern, aber heute habe ich schon eine Verabredung - mit einem großartigen, liebenswerten Mann." "Oh", sagte der Tennislehrer etwas irritiert. "Mit meinem Vater", sagte Joanna lächelnd. Die Züge des Tennislehrers hellten sich sofort wieder auf. "Das ist natürlich etwas anderes." Copyright 2001 by readersplanet
"Einmal im Monat gehen wir fein aus." "Möge es ein wunderschöner Abend für Sie beide werden." "Vielen Dank", sagte Joanna und begab sich in die Damengarderobe. Zwanzig Minuten später traf sie in Mount St. Vincent ein. Jetzt trug sie ein dezent dekolletiertes kornblumenblaues Kleid mit weißen Spitzen. Bestens gelaunt stieg sie aus ihrem weißen Mustang und betrat den Juwelierladen ihres Vaters. "Hallo, Mister McIntire!" rief sie übermütig. "Kundschaft ist da! Ich suche ein königliches Diadem, das..." Sie unterbrach sich. "O mein Gott!", stieß sie heiser hervor, als sie das kaputte Glas des Verkauftischs und der Vitrine sah. "Vater? Vater!" Sie eilte ins Büro. "Himmel, nein! Dad!" Joanna beugte sich über den reglos auf dem Boden Liegenden. Die Brille mit den dicken Gläsern lag neben dem bleichen Gesicht, und als Joanna vorsichtig unter den Kopf faßte, spürte sie klebriges Blut. Sie zuckte aufschreiend hoch. Verdattert starrte sie auf ihre blutigen Finger. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Nein!" stammelte sie immer wieder. "Nein! Nein! Nein!"
* April Bondy, brachte die Morgenpost. Jo Walker war an diesem Tag noch nicht ganz auf der Höhe. Er hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Kein Auftrag hatte ihn so sehr geschlaucht,' sondern sein Freund Captain Tom Rowland. Es geschah alle Jubeljahre mal, daß Tom, der notorische Geizkragen, die Spendierhosen anhatte. Das hatte sich Jo nicht entgehen lassen - und nun war er ein bißchen verkatert, worauf seine blonde Sekretärin jedoch wenig Rücksicht nahm. Jo hatte den Eindruck, daß sie die Tür heute absichtlich lauter als sonst schloß, und sie schien auch lauter als sonst mit ihm zu reden. Er massierte seine Schläfen mit den Fingerkuppen. "Würdest du die Güte haben und mir heute einen extrastarken Kaffee servieren?« "Einen, der Pferde umhaut und Tote aufweckt?" "Ja, ich glaube, so einer würde mir guttun. Ich bin heute ein wenig indisponiert." "Oh, du Ärmster, du tust mir leid. Wenn ich Zeit habe, werde ich dich bedauern." "Was soll der Sarkasmus? Und warum brüllst du mich so an?", ächzte Jo. "Es ist die gleiche Lautstärke wie immer, Großer. Du bist heute nur etwas empfindlicher und hast wahrscheinlich auch, das Gefühl, die Nervenstränge außen zu tragen." "So ungefähr. Du kennst das?" "Zum Glück nur vom Hörensagen. So unvernünftig sind nämlich nur Männer. Du verlangst hoffentlich nicht von mir, daß ich dich bemitleide." "Aber nein. Ich weiß ja, daß, du ein Herz aus Granit hast. Weißt du, was mich interessieren würde? Wie es Tom geht. Als ich ihn zu Hause ablieferte, konnte er keinen zusammenhängenden Satz mehr sagen. Der feiert bestimmt drei Tage krank. Würdest du mir jetzt bitte den Kaffee kochen? Und - keine Telefonate und keine Besuche, wenn es nicht wirklich wichtig ist." "Und was ist wichtig?" "Das liegt ganz in deinem Ermessen." Als April zehn Minuten später mit einem Kaffee erschien, in dem der Löffel steckenblieb, lächelte sie hintergründig. "Du kennst deinen Freund Tom nicht besonders gut. Ich habe mich im Police Center erkundigt. Lieutenant Myers erzählte mir, Tom wäre heute besonders Copyright 2001 by readersplanet
früh in seinem Büro erschienen, und sein Gebrüll wäre bei geschlossenen Fenstern sogar auf der Straße zu hören. Tom ist ein Energiebündel. Nimm dir ein Beispiel an ihm." "Soll ich auch brüllen?" "Laß mal hören." "Ein andermal", sagte Jo. "Sonst wird die Milch im Kaffee sauer." Kurz vor elf meldete April Bondy den Besuch einer jungen, hübschen Dame. "Ihr Name ist Joanna McIntire. Man hat ihren Vater, einen Juwelier, überfallen und beraubt. Sie möchte dich engagieren. Bist du an dem Fall interessiert, oder soll ich Miß McIntire zur Konkurrenz schicken?" "Doch nicht, wenn sie jung und hübsch ist", sagte Jo und prüfte den Sitz seiner Krawatte. "Sieh einer an, du bist ja schon wieder fit." "Das verdanke ich deinem Kaffee." "Ich gab eine Prise Strychnin hinein." "Ich habe einen guten Magen", erwiderte Jo. "Schick Miß McIntire herein - und lausche nicht an der Tür." Mit leidenschaftlich funkelnden Veilchenaugen ging April Bondy hinaus. Sie ließ die Tür für Joanna McIntire offen. Die Tochter des Juweliers trat ein. Jo erhob sich und begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Er bot ihr Platz an und setzte sich ebenfalls. Joanna schlug die rassigem Beine übereinander. Das Knirschen der Nylons erfüllte den Raum. "Man hat Ihren Vater überfallen und beraubt?", fragte Jo. Joanna nickte, und in ihren Augen glänzten Tränen. "Ja, gestern. Kurz vor achtzehn Uhr. Ich war mit Dad verabredet. Wir wollten essen gehen. Das Glas des Verkaufstischs und einer Vitrine war kaputt, und Dad lag in seinem Büro auf dem Boden. Ich dachte, er wäre - tot. Mein Vater ist nicht besonders robust. Man hat ihn niedergeschlagen. Er ist heute immer noch bewußtlos. Wie können Menschen nur so schrecklich roh sein?" Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, öffnete hastig ihre Handtasche, nahm ein Taschentuch heraus und putzte sich geräuschvoll die Nase. "Bitte verzeihen Sie, Mister Walker. Ich habe meinen Vater furchtbar gern." "Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten, Miß McIntire?", fragte Jo. Joanna schüttelte den Kopf. "Nein. Vielen Dank." Sie schaute Jo fest in die Augen. "Ich möchte, daß der, der meinem Vater das angetan hat, zur Verantwortung gezogen wird. Erinnern Sie sich an Mister Joseph Hackman?" "Selbstverständlich", erwiderte Jo. Hackman hatte ihn vor einigen Monaten aufgesucht und um Hilfe gebeten. Hackmans Frau war erpreßt worden. Der Erpresser wollte eine halbe Million Dollar haben. Jo fand heraus, daß Hackmans Frau mit dem Erpresser, ihrem Geliebten, unter einer Decke gesteckt hatte. Die beiden gingen nicht nur leer aus, sondern wanderten obendrein ins Gefängnis. Hackman ließ sich scheiden. Er war inzwischen wieder verheiratet; diesmal mit einer anständigen Frau, was ihm zu wünschen war, denn er war ein netter, sympathischer Mensch. Jo erfuhr, daß Joseph Hackman ein guter Kunde des Juweliers war. Da er damals Jo Walker über den grünen Klee gelobt hatte, erinnerte sich Joanna heute daran und wollte nun ebenfalls Jo Walkers Dienste in Anspruch nehmen. Das Mädchen hatte für die Versicherung eine Liste der geraubten Juwelen aufgestellt. Jo erhielt eine Kopie, aus der hervorging, daß dem oder den Tätern Schmuck im Wert von 380.000 Dollar in die Hände gefallen war. "Rufen Sie mich an, sobald Ihr Vater wieder bei Bewußtsein ist", bat Jo. "Ich möchte ihm ein paar Fragen stellen." Copyright 2001 by readersplanet
"Die Ärzte sagen, es könne noch lange dauern, bis Dad Fragen beantworten darf. Selbst wenn er das Bewusstsein wiedererlangt, darf man ihn nicht aufregen. Ich wäre Ihnen aus diesem Grund dankbar, wenn Sie auf ein Gespräch mit meinem Vater verzichten würden, Mister Walker." "Na, mal sehen", sagte Jo.
* "Zigarette?", fragte Jo die platinblonde Nutte. Er hielt ihr seine Pall Malls hin, und sie bediente sich. Jo hatte Sie in der Nähe des Juwelierladens aufgelesen. Ihr Name war Lula Clemminson, und sie hatte eine Oberweite von gigantischen Ausmaßen. Sie kriegte bestimmt nicht nasse Füße, wenn es regnete, weil sie großzügig überdacht waren. Lula hatte ihn angesprochen. "Na, Süßer, wie wär's mit uns beiden?" "Tut mir leid, aber so, wie ich es am liebsten habe, machst du es mir bestimmt nicht." "Wie denn?" "Gratis", hatte Jo geantwortet. "Bei dir wäre sogar ein fünfzigprozentiger Preisnachlaß drin, Großer, weil du mir gefällst. Aber ganz ohne Mäuse läuft nichts. Ich muß schließlich leben." "Bist du oft in dieser Gegend?" wollte Jo wissen. "Oft? Immer." "Wie heißt du?" "Lula. Und du?" "Jo. Hör zu, Lula, was hältst du von einem schönen Drink und - möglicherweise - von fünfzig Bucks?" "Klingt nicht schlecht. Was müßte ich für die fünfzig Mäuse tun?" "Du brauchst mir nur ein bißchen was zu erzählen, und schon gehört das Geld dir." "Hast du 'nen reichen Onkel, oder druckst du dir die Geldscheine selbst?" "Weder - noch." "Was möchtest du denn gern hören, Süßer? " "Versuch's mal mit einer Miniatur-Fassung von Ali Baba und den vierzig Räubern. Den Gratisdrink können wir gleich dort drüben kippen." Nun saß Kommissar X der aufgedonnerten Prostituierten gegenüber, sie rauchte eine von seinen Pall Malls und hatte einen Highball vor sich stehen. Auch Jo rauchte und nippte ab und zu an einem Johnnie Walker. Lula Clemminson wußte inzwischen, daß sie es mit einem Privatdetektiv zu tun hatte. "Normalerweise kann ich Schnüffler nicht ausstehen", sagte sie ehrlich. "Aber du hast einen Stein bei mir im Brett. Ich fliege auf Typen, die so toll männlich aussehen wie du. Da könnte ich glatt schwach werden. Was würdest du zu hundert Prozent Rabatt sagen? Wenn du's nicht weitererzählst, kann ich ja mal eine Ausnahme machen. Wir hätten bestimmt eine Menge Spaß miteinander." "Das glaube ich dir gern, aber bei mir kommt immer zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen. Gestern wurde der Mann, dem der Juwelierladen dort drüben gehört, niedergeschlagen und ausgeraubt. Er ist immer noch nicht bei Bewußtsein. Seine Tochter bereitet sich große Sorgen um ihn. Vielleicht hast du etwas gesehen, das mir weiterhilft. Wie gesagt, für eine gute Story gibt es fünfzig Dollar."
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"Leg die Piepen schon mal auf den Tisch, Jo", verlangte Lula Clemminson. "Ich glaube, ich kann dir ein bißchen was erzählen." Jo ließ das Geld sehen. "Da wetzten gestern kurz vor achtzehn Uhr zwei Knaben um die Ecke. Der eine hätte mich beinahe umgerannt. Ich habe ihm etwas Unfeines nachgerufen. Wenn ich mich ärgere, nehme ich kein Blatt vor den Mund. Wer alles in sich ,hineinfrißt, kriegt Magengeschwüre, verstehst du? Die Gefahr besteht bei mir nicht." "Kannst du die Kerle beschreiben?", fragte Jo. "Der eine hatte Schultern so breit wie die von Herman Munster und die Nase von 'nem Boxer. Der andere sah mit seinen abstehenden Ohren aus wie ein Segelflieger. Der Kopfhörer eines Walkman hing um seinen Hals, und in der Hand hielt er einen schwarzen Stoffsack. Da muß die Beute drinnen gewesen sein. Wieviel haben die Brüder denn abgestaubt?" "Die geraubten Juwelen haben einen Wert von dreihundertachtzigtausend Dollar", antwortete Jo wahrheitsgetreu. "Meine Güte, wenn ich denke, zu wie vielen Kerlen ich nett sein muß, um das zu verdienen! Der mit der Beute hätte mich fast niedergetrampelt. Kaltschnäuzige Profis waren das nicht. Die sahen aus, als würden sie vor sich selbst davonrennen, als hätten sie Angst vor der eigenen Courage gekriegt." "Sie verdrückten sich zu Fuß?", fragte Kommissar X. Lula schüttelte den Kopf. "Sie hatten einen Wagen." "Farbe? Modell? Baujahr? Polizeiliches Kennzeichen?" "Was Autos betrifft, bin ich 'ne absolute Niete. Ich kann einen Rolls Royce kaum von einem Volkswagen-Käfer unterscheiden. Ich kann dir auf Anhieb nicht einmal sagen, wie viele Räder ein Auto hat. Aber ich habe die Kerle gestern nicht zum erstenmal gesehen." "Lula, du bist eine wahre Fundgrube", sagte Jo begeistert. "Die Brüder haben vor dem Coup die Lage sondiert. Dabei sind sie dir aufgefallen." "Das auch, aber das meine ich nicht. Drüben in Woodlawn, in der Napier Avenue gibt es eine Pizzeria. An und für sich mag ich keine Pizza, aber die von Tonio ist Spitze. Die mußt du unbedingt mal probieren." "Hast du die Verbrecher in Tonios Pizzeria gesehen?", erkundigte sich Jo. "Ja, und der mit dem Walkman scheint was mit der Kellnerin zu haben. Sie ließ sich von ihm befummeln. Nur von ihm. Wenn ich mich recht erinnere, nannte sie ihn Walkie. Wahrscheinlich wegen des Walkmans. Ich könnte mir vorstellen, daß er ihn rund um die Uhr trägt." Jo schob Lula das Geld über den Tisch zu. "Na, bist du zufrieden?", fragte das platinblonde Mädchen. "Hast einiges für deine fünfzig Piepen erfahren, wie? Einem anderen Spürhund würde ich nicht viel Glück wünschen. Bei dir tue ich's. Alles Gute, Jo. Schnapp die beiden." Kommissar X lächelte. "Genau das habe ich vor."
* Jo warf die Tür seines silbergrauen Mercedes 450 SEL zu und begab sich in die Pizzeria. Aus versteckten Lautsprechern perlten Mandolinenklänge. Die Deckendekoration bestand aus Fischernetzen, in denen Meerestiere aus Plastik hingen. Es gab nicht eine, sondern drei Kellnerinnen, und Tonio persönlich zeigte sich für seine Pizzas verantwortlich. Er war ein dunkelhäutiger Mann und trug ein T-Shirt mit breiten blauen und weißen Streifen. Copyright 2001 by readersplanet
Die Pizza Capricciosa, die Jo aß, schmeckte tatsächlich großartig. Dazu trank Jo ein Glas. Valpolicella, doch über den Genuß des Essens vergaß Kommissar X nicht, warum er hier war. Die Kellnerin, die ihn bediente, war nicht Walkies Freundin, aber sie kannte den Mann, und sie wußte, bei welchem Mädchen Walkie hin und wieder seinen Hut aufhängte: bei Scarlet Tobias. Jo wies zu den beiden anderen Kellnerinnen. "Welche von beiden ist Scarlet?" "Keine", antwortete das Mädchen. "Scarlett arbeitet nicht mehr hier. Sie hatte Streit mit Tonio. Er warf sie hinaus." "Und wo arbeitet sie jetzt?" "Keine Ahnung." "Können Sie mir wenigstens sagen, wo sie wohnt?", fragte Jo wenig erbaut. "Kennen Sie die Autowaschstraße in der Martha Avenue?" "Nein, aber ich kenne die Martha Avenue." "Direkt über der Waschstraße hat Scarlet gewohnt", sagte die Kellnerin. "Wieso hat?" "Sie trug, sich mit dem Gedanken, sich eine andere Wohnung zu suchen. Es könnte sein, daß sie inzwischen eine gefunden hat." "Wie ist Walkies richtiger Name?", fragte Jo. "Das kann Ihnen vielleicht nicht einmal Scarlet sagen. Sie nannte ihn immer nur Walkie." Die Autowaschstraße war leicht zu finden, und da dem Mercedes eine Wäsche mal wieder ganz gut tat, fuhr Jo durch den Tunnel. Anschließend stellte er den Wagen zum Trocknen in die Sonne und betrat ein kahles, nüchternes Gebäude. Im ersten Stock stand zum Glück noch an einer der Türen Scarlets Name, und das Mädchen war auch zu Hause. Ganz besonders toll hätte es Jo gefunden, wenn Walkie auch da gewesen wäre. Doch so sehr wurde er denn doch nicht verwöhnt. Scarlet war eine herbe Schönheit und Fremden gegenüber sehr mißtrauisch. Sie musterte Jo abweisend und fragte unfreundlich: "Was wollen Sie?" "Ich war in der Pizzeria. Ihre Kollegin sagte mir, Tonio habe Sie gefeuert." Zorn funkelte sogleich in Scarlet Tobias' Augen. "Dieses Schwein, dieser Peitschenknaller, dieser Leuteschinder. Er schuldet mir hundertfünfundzwanzig Überstunden. Ich habe Buch geführt, aber er streitet es einfach ab. Als ich ihn bat, mir wenigstens die Hälfte auszubezahlen, schnappte er über. Das ließ ich mir natürlich nicht gefallen. Er schrie, und ich schrie zurück - vor den Gästen. Nachdem wir uns eine Weile angebrüllt hatten, flog ich raus, aber so einfach kommt Tonio nicht davon. Ich werde ihn zwingen, mir zu bezahlen, was mir zusteht." "Hoffentlich bitten Sie nicht Walkie und seinen Freund, die Angelegenheit für Sie zu regeln. Die beiden könnten es nämlich übertreiben." Scarlet sah Jo überrascht an. "Walkie? Der ist Vergangenheit. Den gibt es nicht mehr in meinem Leben Der hat sich ziemlich schäbig benommen. Seitdem ist er für mich gestorben." "Das trifft sich gut", sagte Jo. "Ich habe nämlich vor, ihm die abstehenden Ohren langzuziehen." "Ziehen Sie für mich gleich mit." "Mit dem größten Vergnügen." "Treten Sie ein. Was hat Walkie denn ausgefressen?" Scarlet Tobias gab die Tür frei und ließ Jo ein. Die Wohnung war klein, billig möbliert und sauber.
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Jo nannte seinen Namen und verriet dem Mädchen, warum er Walkie suchte. Daß er von kleinen Gaunereien lebte, war ihr bekannt, wenngleich er nie offen mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie hatte es sich aus etlichen Andeutungen zusammengereimt. Der Juwelenraub war ihrer Ansicht nach seine größte Sache. "Niedergeschlagen hat Walkie den Juwelier bestimmt nicht", sagte Scarlet Tobias. "Er ist im Grunde genommen ein Feigling, ein weicher Bruder. Es kostete ihn bestimmt große Überwindung, dieses Verbrechen zu begehen, denn diese Tat war meiner Ansicht nach um eine Nummer zu groß für ihn." "Sie halten nicht viel von Walkie." "Er ist eine Niete", erklärte Scarlet. "Man kann ihm nicht trauen. Wenn er könnte, würde er sogar sich selbst hereinlegen." "Es kann ja nur in Ihrem Sinn sein, wenn ich ihn hinter Schloß und Riegel bringe." "Absolut", sagte Scarlet. "Wissen Sie, wie er wirklich heißt?" "Alle nennen ihn Walkie, diesen Irren. Er schläft, badet, ißt mit dem Walkman. Er soll damit schon geboren worden sein. Deshalb sagt kaum mal jemand Brad zu ihm. Brad Sturges heißt er." "Und wo wohnt er?" Scarlet Tobias sagte ihm auch das. Sie war wirklich fix und fertig mit Walkie. Jo könnte das nur recht sein. Er erkundigte sich auch gleich nach dem Namen des Mannes mit der Sattelnase, doch da war Scarlet Tobias leider nicht so ergiebig. "John", sagte sie: "Von dem kenne ich nur den Vornamen." Jo gab ihr seine Karte. "Sollte Ihnen noch etwas Interessantes einfallen, rufen Sie mich an, okay?"
* Zwei Stunden saß Joanna neben dem Bett ihres Vaters. Er lag auf der Intensivstation. Medizinisch-technische Geräte überwachten seine Lebensfunktionen, an einem Chromgalgen hing eine Infusionsflasche, in der sich eine glasklare Flüssigkeit befand. Einmal hatten die Geräte Alarm geschlagen, und sofort waren zwei Ärzte und eine Krankenschwester zur Stelle gewesen. Sie hatten Joanna hinausgeschickt und um das Leben des Juweliers gekämpft. Joanna war auf dem Flur auf und ab gegangen und starb fast vor Sorge um ihren Vater. Im Moment waren die Werte zufriedenstellend, wie man ihr gesagt hatte, aber ein neuerlicher Rückschlag war nicht auszuschließen. Joanna konnte nicht begreifen, daß man ihrem Vater das angetan hatte, ihm, einem Mann, der mit allen Menschen gut auszukommen versuchte, der hilfsbereit und stets für alle da war. Er trug einen weißen Verband um den Kopf, sein Gesicht wirkte wächsern. "Du mußt am Leben bleiben, Dad", flüsterte Joanna. "Du darfst nicht sterben, mußt leben für mich. Ich liebe dich, Dad." Sie streichelte sein kühles Gesicht und beobachtete die vertrauten Züge. Sie wäre dankbar gewesen für ein kleines Zucken der Wangen, für ein kurzes Flattern der Lider, doch Neil McIntire reagierte überhaupt nicht. Nichts gab Joanna Hoffnung. Nach zwei Stunden stand sie traurig auf und verließ den kleinen Raum, in dem ihr Vater lag. Sie begegnete einem der Ärzte, die sich mit großem Eifer um den bewußtlosen Patienten bemühten. "Sie müssen Geduld haben, Miß McIntire", sagte der Doktor. "Geduld und Zuversicht. Das Schlimmste hat Ihr Vater hinter sich." Copyright 2001 by readersplanet
Joanna sah ihn erregt an. "Heißt das, daß es mit meinem Vater aufwärts geht?" "Wir konnten sein Herz stärken und seinen Kreislauf stabilisieren. Bis vor kurzem war sein Zustand noch bedenklich, doch nun gibt er Anlaß zu einem leichten Optimismus." Joanna wäre dem Arzt vor Freude am liebsten um den Hals gefallen, als sie das hörte.
* "Ich muß unbedingt mit dir reden", sagte Brad "Walkie" Sturges am Telefon. "Schieß los", sagte John Holliman gleichgültig. "Persönlich!" "Na schön, dann komm her." "Nicht in deiner Wohnung, das ist gefährlich." "Sag mal, tickst du nicht richtig? Was ist denn los, Walkie? Hat der Lärm, den du ständig konsumierst, ein paar von deinen Gehirnwindungen verdreht?" "Verdammt, John, wir haben ein Problem. Du wirst staunen, wenn ich dir davon erzähle." "Läuft irgend etwas verkehrt?" "Und wie", sagte Brad Sturges. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, er nagte fortwährend nervös an der Unterlippe. "Ich würde am liebsten ein Loch in den Boden graben und mich darin verkriechen." "Und weshalb?" "Nicht am Telefon", sagte Walkie. "Wo treffen wir uns?" "In Pinkys Spielsalon", schlug Walkie vor. "Einverstanden, aber wenn du mich umsonst aufgescheucht hast, sieht deine Nase von nun an so aus wie meine. Du bist ja 'n richtiger Hysteriker. Reiß dich zusammen, Mann!" Brad Sturges fuhr sofort los. Er traf vor seinem Freund im Spielsalon ein. Pinky begrüßte ihn grinsend. "Na, hat dich mal wieder die Spielleidenschaft gepackt, Walkie?" Pinky trug das graue Haar seitlich lang, dafür hatte er in der Mitte so gut wie nichts mehr. Sein rechtes Bein war aus Kunststoff, und er ging merkwürdig schaukelnd durchs Leben. Er hatte den unverwechselbaren Pinky-Gang. Übermut tut selten gut, sagt man, und Pinky konnte das bestätigen, denn er war damals, als er sein Bein verlor, sehr übermütig gewesen. In der Subwaystation hatte er einem Mädchen imponieren wollen. Sie war siebzehn gewesen, er neunzehn, und er hatte eine Menge verrückter Dinge angestellt - bis er ausrutschte und vor den in die Station einfahrenden Zug stürzte. Das Mädchen hatte er danach nicht wiedergesehen. Sie hatte ihn kein einziges Mal im Krankenhaus besucht, und als er nach drei Monaten entlassen wurde, sagte man ihm, daß sie nicht mehr in New York wohne. "Alles in Ordnung, Walkie?" fragte Pinky. "Klar. Warum fragst du?" Pinky zuckte mit den Schultern. "Du wirkst so fahrig." "Die Nerven", sagte Walkie. "Ich bin in letzter Zeit ein bißchen gestreßt." Pinky wiegte den Kopf. "Wir leben in einer hektischen Zeit. Manchmal frage ich mich, wohin das noch führen soll." Copyright 2001 by readersplanet
"Besser, man macht sich keine Gedanken. Man kann ja doch nichts ändern", sagte Walkie. Ein betrunkener Typ mit pomadigem Haar schlug mit der Faust wie irre auf einen Automaten ein. "He!", rief Pinky ärgerlich. "Laß das gefälligst bleiben!" "Der verdammte Automat hat mich beschissen!", behauptete der Betrunkene wütend. "Bei mir wird niemand beschissen!", blaffte Pinky gereizt. "Der Automat gibt die zwanzig Dollar nicht her, die ich gewonnen habe!", schrie der Betrunkene. "Ich will mein Geld, verdammt! Bei so was verstehe ich keinen Spaß!" "Ich auch nicht. Bau 'ne Fliege, Kumpel, sonst schmeiße ich dich raus!" Der Kerl pumpte den fetten Brustkorb auf. "Ach nein. Du Krüppel willst mich an die frische Luft setzen? Das versuch mal, dann nehme ich dir deine Prothese weg und hau sie dir auf den Schädel." Pinky war zwar nicht mehr der Jüngste, aber er verfügte über Kräfte, die man ihm nicht zutraute. Er hielt seinen Spielsalon ohne Hilfe "sauber". Mit einer schnellen schaukelnden Bewegung war er bei dem Betrunkenen, der mit Verzögerung reagierte. Als er die Fäuste hob, hatte ihn Pinky bereits gepackt und herumgezerrt. Walkie riß die Tür auf, und Pinky stieß den unerwünschten Spielsalonbesucher hinaus. Der Kerl blieb an einem Laternenpfahl hängen, drehte sich um und beschimpfte Pinky unflätig. "Ja, ja!", rief dieser zurück. "Schon gut, und jetzt verschwinde, sonst gibt's Senge. Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus! Ich wäre dir dankbar, wenn du dich hier nicht mehr blicken ließest. Auf Kunden wie dich kann ich nämlich verzichten!" "Du bist prächtig in Form", sagte Brad Sturges anerkennend. "Ich kenne diese Typen. Mit denen wirst du nur fertig, wenn du sie sofort und unerschrocken anpackst. Damit nimmst du ihnen ihr Selbstvertrauen." Walkie grinste. "Hört sich an, als hättest du 'n paar Semester Psychologie studiert. " Pinky nickte. "Habe ich, und zwar hier, mitten im Leben. Diese Praxis ist unbezahlbar. Ich weiß jeden zu nehmen. " Er schaute über Sturges' Schulter. "Entschuldige, ich werde dort hinten gebraucht." "Laß dich nicht aufhalten", sagte Walkie und fütterte einen Flipper mit Münzen. Er spielte unkonzentriert. Jedesmal wenn die Tür aufging, hoffte er, seinen Freund zu sehen, und er war enttäuscht, wenn ein anderer den Spielsalon betrat. Aber endlich traf John Holliman ein. "Sag mal, bist du einen Umweg über Atlantic City gefahren?", fragte Sturges verdrossen. "Mir war, als folge mir jemand, und da Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist, unternahm ich eine kleine Spazierfahrt." Sturges schluckte. Er sah den Komplizen mit großen Augen an. "Jemand war hinter dir her?" "Ich glaube, ich habe es mir eingebildet", sagte Holliman. "Warum sollte mir jemand nachfahren?" "Dafür könnte ich dir an die tausend Gründe nennen", sagte Walkie gepreßt. Er griff nach Hollimans Arm und zog ihn zwischen zwei klotzige Spielautomaten. "John, ich habe dir nichts Erfreuliches zu erzählen. Wir waren unvorsichtig." "Wobei? Als wir den Juwelier überfielen, ging doch alles glatt." "Ich habe in der Zeitung gelesen, daß der Mann immer noch bewußtlos ist. " "Na und? Der wird schon wieder. Wieso waren wir unvorsichtig? Hat uns jemand beobachtet, als wir die Sore zu Grabe trugen?" fragte Holliman. "In der Zeitung steht übrigens, wir hätten Juwelen im Wert von fast einer halben Million abgestaubt. Daß die Brüder nie bei der Wahrheit bleiben können. Immer müssen sie alles aufbauschen." Copyright 2001 by readersplanet
Brad Sturges warf einen mißtrauischen Blick nach links und rechts." John, wir wurden belauscht, als wir über den Coup redeten. Ich meine, als wir ihn planten. Wir hätten besser aufpassen sollen." "Wir heckten die Sache in unserer Stammkneipe aus." "Richtig", bestätigte Walkie. "Und weißt du, wer damals am Nebentisch saß, mit Hasenohren, die bis zu uns reichten? Dave Corbino!" Hollimans Gesicht wurde grau, denn Dave Corbino war ein ganz übler Hundesohn, behaftet mit einer geradezu unsympathischen Geldgier. Er konnte nicht genug davon kriegen. Für Geld tat Corbino einfach alles. Er hätte dem Teufel sogar seine Seele verkauft, doch der gab kein Geld dafür aus, weil sie ihm ohnedies sicher war. Corbino verdiente nicht schlecht, doch er war niemals zufrieden. Er wollte immer noch mehr haben. Das Leben war voller Annehmlichkeiten, aber man brauchte Geld, um sie sich leisten zu können. "Er hörte, was wir vorhatten, und aus der Zeitung hat er erfahren, daß uns der Coup gelang", sagte Brad Sturges nervös. "Woher weißt du das?", fragte John Holliman. "Er hat mich angerufen." "Du hast doch nicht zugegeben, daß wir das Ding gedreht haben?" "Natürlich nicht. Für wie blöd hältst du mich? Ich spielte den Ahnungslosen. Ich gab zu, daß wir einen Coup geplant hätten. Das konnte ich nicht leugnen, wenn er uns dabei zugehört hat. Aber ich behauptete, ein anderer hätte vor uns abgestaubt." "Er hat es nicht geschluckt, wie?", fragte Holliman. "Natürlich nicht." "Was sagte er?" "Daß ich ihn nicht für blöd verkaufen könne. Er wisse genau, daß wir es gewesen wären." "Und?" "Er will von unseren fünfhunderttausendzweihundert Riesen. Er sagt, der Rest reiche für uns beide." John Hollimans Augen weiteten sich. "Ist der verrückt? Wir beteiligen ihn doch nicht. Er hat nichts getan und verlangt zweihunderttausend Dollar, und er redet von fünfhunderttausend, obwohl uns nicht einmal vierhunderttausend in die Hände fielen! Was hast du dem unverschämten Kerl gesagt?" "Daß er keinen Cent erhält." "Und was sagte er?" "Daß mir diese Antwort schon sehr bald leid tun würde." Walkie leckte sich die Lippen. "John, ich habe Angst. Dave Corbino ist ein Killer!" "Verdammt, das weiß ich!", fuhr Holliman seinen Freund an. Er strich sich nervös übers Haar und massierte nachdenklich seinen Nacken. "Was tun wir jetzt, John?", fragte Sturges. "Ich denke ja schon nach." "Ist die Beute in Earl Dexters Grab noch sicher?" "Vorläufig schon", erwiderte Holliman. "Corbino kennt das Versteck nicht." "Bist du sicher? Er könnte uns beobachtet haben..." John Holliman tippte dem Freund an die Stirn. "Könntest du zur Abwechslung nicht mal deinen Grips gebrauchen? Würde er dich anrufen und zweihunderttausend verlangen, wenn er alles haben könnte? Er weiß nicht, wo die Juwelen sind."
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"Aber er wird alles versuchen, um es herauszukriegen", sagte Sturges, "und sein Geschäft ist Mord, wie du weißt. Der nietet uns um, ohne mit der Wimper zu zucken." "Du bist doch wirklich ein selten dämlicher Hund. Wenn er uns umlegt, schaut er doch in die Röhre. Solange er nicht weiß, wo die Klunker sind, kann er uns nichts anhaben. Sie sind unsere Lebensversicherung. Am besten wäre, wir würden die Beute außer Landes schaffen. Man hat mir eine Adresse in Marseille genannt." "Marseille? Das ist doch in Frankreich." "Du merkst aber auch alles", sagte John Holliman spitz. "Dort gibt es einen Hehler, der uns die Sore zum Höchstpreis abkaufen würde. Wir würden das Geld sofort erhalten, bar auf die Hand." "Und was, wenn man uns bei der Ausreise mit den Klunkern erwischt? Dann sind wir sie los. Wir sind keine Diplomaten, deren Gepäck nicht kontrolliert werden darf." "Wir werden getrennt reisen - und ohne die Juwelen", sagte John Holliman. "Dann kann Dave Corbino hier getrost den wilden Mann spielen. Wir kriegen davon nichts mit." "Ohne die Juwelen? Wie stellst du dir das vor, John?" "Laß mal, mir wird schon eine Lösung einfallen. Wenn einer von uns beiden eine gute Idee hatte, war's fast immer ich, das mußt du zugeben." Die Idee, nach Frankreich zu verschwinden, war für Brad Sturges zwar überraschend, aber er fand sie nicht schlecht. Wenn er vor Corbino keine Angst mehr zu haben brauchte, hätte er sich sogar zum Nordpol abgesetzt. Aber wie stellte sich das John mit den Juwelen in der Praxis vor? Holliman massierte sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger. "Irgend jemand müßte die Klunker für uns nach Frankreich schaffen." "Du willst jemanden beteiligen?" "Das habe ich nicht vor", sagte Holliman. "Niemand tut so was umsonst", sagte Walkie. "Doch", widersprach Holliman, "und zwar dann, wenn er davon keine Ahnung hat. Er dürfte nicht wissen, daß er unsere Juwelen in seinem Gepäck hat." "Er könnte sie durch Zufall finden. Die Zollbeamten könnten sie entdecken." "Es müßte eine Person sein, die völlig harmlos und über jeden Verdacht erhaben ist. Außerdem müßte die Beute klug versteckt sein." "Ich glaube, du träumst, John. Du bist ein Phantast. Steig wieder herunter von deinem fliegenden Teppich. Ich gestehe, anfangs gefiel mir deine Idee recht gut, vor allem wäre es herrlich, ein paar tausend Kilometer von Corbino entfernt zu sein, aber die Geschichte hat einen Haken. Es gibt niemanden, dem wir die Sore anhängen können, ohne daß er es merkt..." John Holliman schaute starr an seinem Komplizen vorbei. "He, John", sagte Walkie, "hörst du mir überhaupt noch zu?" "Wie?" Holliman blinzelte. "Doch, doch, natürlich. Du zweifelst daran, daß wir jemanden finden, der die Juwelen für uns ins Ausland bringt, und ich sage dir, daß ich bereits jemanden gefunden habe: Danny Carradine." Sturges schüttelte den Kopf. "Kenne ich nicht. Du denkst doch nicht etwa, ich überlasse die Sore einem wildfremden Menschen..." Holliman griff nach den Schultern seines Freundes und drehte ihn um. Hinter Walkie hing ein buntes Plakat, und auf diesem stand ganz groß der Name DANNY CARRADINE. "Diesen Danny Carradine meinst du?", fragte Brad Sturges überrascht. "Den Bauchredner?" "Klingelt es bei dir immer noch nicht?", fragte Holliman. "Carradine besitzt eine Menge Puppen. Darin verstecken wir die Juwelen. Niemandem wird einfallen, die Puppen zu zerlegen und nachzusehen, ob sich Diebsgut darin befindet. Carradine gibt nur noch eine Vorstellung, dann unternimmt er den großen Sprung über den Atlantik und startet seine Copyright 2001 by readersplanet
Europatournee in Paris. Dort holen wir die Klunker aus den Puppen, fahren nach Marseille und werfen die Sore zum Bestpreis auf den Markt. Na, gefällt dir das immer noch nicht? Siehst du noch irgendwo einen Haken?" "Nein", erwiderte Brad Sturges. "Ich glaube, so könnte es hinhauen." "Du glaubst? Du kannst dich darauf verlassen, daß das klappt. Und wegen Dave Corbino brauchen wir uns auch nicht mehr zu sorgen. Der verfiele nie auf den Gedanken, uns in Frankreich zu suchen." Walkie seufzte: "Okay, John. Holen wir die Juwelen aus dem Grab und jubeln wir sie dem Bauchredner unter."
* Dunkle Schatten lagen auf den Gräbern. Ein heftiger Wind zerzauste die Sträucher und wühlte sich durch die Baumkronen. Ein gespenstisches Brausen störte die Stille. Schwere Wolkenbänke schoben sich immer wieder vor den Mond und ließen die Nacht stockfinster werden. "Richtig unheimlich ist es hier", raunte Sturges seinem Freund zu. Er blickte nach jedem zweiten Schritt zurück und fühlte sich unbehaglich. "Ja", sagte John Holliman dumpf. "Bald werden die Toten aus den Gräbern steigen. Bleib dicht bei mir, sonst holen sie dich. Durchstieß dort drüben nicht eben eine bleiche Knochenhand den Erdhügel?" "Blödmann! Mach dich nicht lustig über mich." "Na hör mal! Wenn einer die Hosen gestrichen voll hat, nur weil er mal nachts einen Friedhof betritt, dann muß er sich das gefallen lassen." Sie waren sehr vorsichtig gewesen, hatten Pinkys Spielsalon durch einen Nebenausgang verlassen, waren ein Stück mit dem Bus gefahren und hatten anschließend dreimal das Taxi gewechselt. Wenn man Dave Corbino im Nacken hatte, könnte man nicht vorsichtig genug sein. Obwohl sie davon überzeugt waren, daß der Killer ihnen unmöglich gefolgt sein konnte, hatte Brad Sturges ein flaues Gefühl im Magen. Er drehte seinen Walkman laut auf und war für John Holliman nicht mehr ansprechbar. Am Tag hatte es Walkie nicht gestört, das Grab des Freundes zu öffnen, doch nun rieselte es ihm bei dieser Tätigkeit kalt über den Rücken, und er war froh, daß John Holliman von ihm nicht verlangte, er solle die Juwelen hochholen. John erledigte das. Er öffnete die Verschnürung des schwarzen Stoffsacks nicht, um nachzusehen, ob nichts fehlte. Wer hätte sie bestehlen sollen? Earl Dexter? Der hatte kein Interesse mehr an irdischen Gütern, und sonst wußte niemand von dem Versteck. Sie schoben die steinerne Grabplatte wieder an ihren Platz, legten das Werkzeug, das sie nie mehr brauchen würden, hinter den Grabstein und verließen den Woodlawn Cemetery. Wieder waren sie übervorsichtig. Immerhin standen fast 400.000 Dollar auf dem Spiel - und vielleicht sogar ihr Leben. Die Juwelen befanden sich in den Puppen des Bauchredners, und die Freunde hatten vereinbart, daß Sturges zuerst nach Frankreich fliegen würde. In erster Linie deshalb, weil Holliman die etwas besseren Nerven hatte. Die Adresse eines preiswerten Hotels an der Peripherie von Paris hatte Holliman vor Monaten von einem Bekannten erhalten. Er hatte sich damals mit dem Gedanken getragen, der Seine-Metropole mal einen Besuch abzustatten.
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Diese Adresse empfing Brad Sturges von seinem Komplizen. Holliman würde wenig später dort eintreffen. Bis zu seiner Abreise wollte aber auch er hier für Dave Corbino von der Bildfläche verschwinden. Er hatte viele Bekannte. Irgendeiner würde ihn bestimmt bei sich aufnehmen. Allerdings nur dann, wenn er verschwieg, daß Corbino ihn suchte, denn den Profi-Killer wollte niemand zum Feind haben. Morgen also würde Walkie die Staaten verlassen, aber er wollte die Nacht nicht mehr in seiner Wohnung verbringen, weil das, für ihn unter Umständen verhängnisvolle Folgen haben konnte. Es war seiner Ansicht nach vernünftiger, in einem Motel in der Nähe des John F. Kennedy International Airport zu schlafen, denn dort brauchte er mit keinem unliebsamen Besuch zu rechnen. Aber einmal mußte er noch nach Hause - alles Geld holen, das er daheim hatte, die wichtigsten Habseligkeiten einpacken - in zehn Minuten würde das erledigt sein. Er fand für seinen Wagen vor dem Haus, in dem er wohnte, eine große Parklücke, stieg hastig aus und blickte sich gewissenhaft um. Wenn ihn irgendeine Wahrnehmung alarmiert hätte, wäre er sofort wieder eingestiegen und wie der Blitz davongerast, doch es beunruhigte ihn nichts. Er verschwand sehr schnell von der Straße, und die innere Spannung ließ erst nach, als er die Wohnungstür hinter sich schloß. Er hängte sich den Kopfhörer um den Hals und knipste Licht an. Im nächsten Moment fuhr ihm ein Eissplitter ins Herz. Jemand war während seiner Abwesenheit hiergewesen und hatte die Wohnung verwüstet. Das konnte nur Dave Corbino getan haben!
* "Verdammtes Schwein!" schaffte sich Sturges Luft. Corbino schien die Beute hier gesucht zu haben. Er hatte alle Schranktüren geöffnet, sämtliche Laden herausgerissen, ihren Inhalt auf den Boden geleert, die Polstermöbel aufgeschlitzt. "Das nutzt dir gar nichts, du geldgieriges Aas! Nicht einen müden Dollar erbst du von uns!" Sturges bewahrte sein Bargeld in einer Zigarrenschachtel auf. Die mußte Corbino übersehen haben, denn das Geld war noch da. Walkie steckte es ein, holte eine Reisetasche und stopfte hinein, was er nach Frankreich mitzunehmen gedachte. Er war wütend. Nicht so sehr wegen des Schadens, denn der, ließ sich verkraften. Was ihn ärgert, war die Frechheit des Killers, mit der er einen Anteil an der Beute forderte, der ihm nicht zustand. "Und was nutzt es dir?", fragte Sturges spöttisch. "Nichts! Die Sore gehört uns, und du gehst leer aus. Wenn du Geld haben willst, muß du dafür auch etwas tun. Niemandem fällt es so einfach in den Schoß: Auch einem Dave Corbino nicht!" Er holte Zahnbürste und Rasierzeug aus dem Badezimmer, und nachdem er den Reißverschluß zugezogen hatte, nahm er die Reisetasche auf. Er ließ seinen Blick noch einmal über das Chaos schweifen, das im Wohnzimmer herrschte. Es war so, als nehme er Abschied für immer. Wer hier Ordnung schuf, war ihm egal. Er jedenfalls hatte keine Lust dazu. Malsehen, wie es ihm in Frankreich gefiel. Vielleicht würde er dableiben. Er konnte auch von dort nach Spanien gehen. Auf der iberischen Halbinsel wäre sein Geld mehr wert gewesen. Mal sehen... Seufzend drehte er sich um. Da traf ihn der nächste, noch größere Schock mit der Wucht eines Keulenschlages, denn vor der Wohnungstür stand Dave Corbino und grinste ihn wölfisch an. Copyright 2001 by readersplanet
"Hallo, Walkie!" sagte der Killer.
* Sturges gefror das Blut in den Adern, er starrte Corbino entsetzt an. Wie die Maus vor der Schlange fühlte er sich. Verdammt, er war vorsichtig gewesen, und er hatte sich hier beeilt. In einer Minute wäre er nicht mehr hiergewesen, aber das Schicksal geizte mit der Zeit. Es schenkte ihm diese lächerliche Minute nicht. Walkie ließ die Reisetasche fallen. Sein Herz hämmerte wie eine Dampframme gegen seine Rippen, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. "Corbino!", stöhnte er, während sich in seinem Kopf die Gedanken überschlugen: Der Killer nickte. "Corbino, dein Freund." Er vollführte eine Handbewegung, die die Wohnung einschloß. "Entschuldige die Unordnung, Walkie. Ich bezahle den Schaden selbstverständlich. Du kannst mir das Geld von meinem Anteil abziehen." "Hier sieht es aus wie nach einem Atomangriff. Warum hast du das getan, Corbino?" Der Killer lachte. "Ich dachte, ich hätte die Chance, mir die gesamte Beute unter den Nagel zu reißen, aber das war ein Irrtum. Ihr habt die Juwelen anscheinend gut versteckt. Die Sache war den Versuch wert. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel. Nichts soll unsere Freundschaft trüben." Du hattest in deinem Leben noch nie einen Freund! dachte Sturges zornig. Du weißt überhaupt nicht, was Freundschaft ist. "Jeder an meiner Stelle hätte es versucht", erklärte Corbino. Er war ganz in Schwarz gekleidet - schwarze Schuhe, schwarze Jeans, schwarzes Hemd, schwarze Nappalederjacke, schwarze Lederhandschuhe. Sogar seine Seele ist pechschwarz, dachte Sturges. Er ist ein Totenvogel. Wenn er wüßte, wo sich die Sore befindet, würde er mich auf der Stelle umlegen. Ich darf es ihm nicht verraten, sonst bin ich dran. Corbino wies auf die Reisetasche. "Wohin wolltest du damit mitten in der Nacht? Du hattest doch nicht etwa die Absicht, dich zu verdrücken? Das könnte ich dir sehr übelnehmen, mein Freund!" Die dunklen Augen des Killers erhielten einen kalten Glanz. Er strich sich das schwarze Haar aus der gefurchten Stirn. "Niemand bootet Dave Corbino aus, Walkie. Es sei denn, er ist lebensmüde." Sturges' Kehle wurde so eng, daß er kein Wort herausbrachte. Dieser Bastard sprach von Ausbooten, als hätte er an dem Coup teilgenommen. Er wollte ernten, was andere gesät hatten. Das sah ihm ähnlich. "Ich - ich habe ein Mädchen kennengelernt", stotterte Sturges. "Sie möchte, daß ich zu ihr ziehe, auf Probe. Deshalb habe ich ein paar persönliche Dinge zusammengeraff..." "Wo wohnt die Kleine?" "Drüben in Brooklyn", log Sturges. "Ich bringe dich zu ihr, dann kenne ich gleich deine neue Adresse." "Oh, das ist nicht nötig. Du brauchst mich nicht zu begleiten, bestimmt nicht", sagte Sturges verzweifelt. "Ich habe nichts Besseres vor." Corbino grinste. Dann wurde er schlagartig ernst. "Oder war das eben eine dicke Lüge? " "Nein", sagte Sturges heiser. "Wie kommst du denn darauf? Ich werde mich hüten, dir die Unwahrheit zu sagen. Das Mädchen gibt es wirklich. Sie wartet auf mich." "Sie wird noch eine Weile warten müssen", sagte Corbino hart. "Ich habe zuvor noch etwas Wichtiges mit dir zu besprechen. Wo sind die Juwelen, Walkie?"
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Sturges schüttelte unglücklich den Kopf. "Das weiß ich nicht, ehrlich, Corbino. Sie befinden sich in einem sicheren Versteck, das ich nicht kenne." "Was? Du kennst das Versteck nicht?" John und ich haben uns nach dem Überfall getrennt. Er brachte die Klunker an einen sicheren Ort." "Du vertraust ihm so sehr, daß du nicht einmal wissen willst, wo sich die Sore befindet?" "John ist mein bester Freund. Er würde mich niemals aufs Kreuz legen", sagte Sturges. "Vielleicht hat er es bereits getan, und du weißt es noch gar nicht." "Ausgeschlossen. Auf John kann ich mich verlassen wie auf mich selbst." "Auch dann, wenn es um eine halbe Million Dollar geh" "Wieso redest du immer von einer halben Million?" "Das steht in der Zeitung", sagte der Killer. "Es sind aber maximal nur vierhunderttausend Bucks. John hat einen Blick dafür." "Dann belle ich hier wohl den falschen Baum an", sagte Coibino. "An John Holliman hätte ich mich wenden müssen. Nun, das kann ich ja immer noch tun." Sturges' Kopfhaut spannte sich. "John wird nichts ohne mein Einverständnis unternehmen", sagte er hastig. "Wir sind ein Team. Wir beschließen alles gemeinsam.« Dave Corbino lachte hohl. "Direkt rührend, wie du ums Überleben kämpfst, mein Junge, aber das wird dir nichts nutzen, denn du bist für mich ein Muster ohne Wert. Ich kann dich nicht mehr brauchen." "Was - was soll denn das heißen? Ich sagte doch soeben, daß John und ich..." "Ab sofort ist nur noch John Holliman mein Gesprächspartner. Er wird mir das Versteck nennen." "Du - du willst alles?" "Das ist meine Art. Wenn man mir den kleinen Finger hinhält, greife ich immer gleich nach der ganzen Hand", sagte Corbino. "Aber wir haben dir doch nicht einmal den kleinen Finger..." "Stimmt, und darüber habe ich mich so seht geärgert, daß ich mich jetzt mit keinem Anteil zufriedengebe, sondern alles nehme, und damit du mir keine Schwierigkeiten bereiten kannst...Du kennst mich. Du weißt, wie ich meine Probleme löse." Sturges kriegte Zustände. Er trug einen Revolver bei sich und spürte den Druck der Waffe in der Magengrube. Noch nie hatte er auf einen Menschen geschossen, aber jetzt würde er es tun müssen. Wenn er nicht feuerte, zog Corbino seine Kanone! Du mußt schneller sein als er! schrie es in Sturges. Er weiß nicht, daß du bewaffnet bist. Das ist deine Chance. Nutze sie! Zieh und schieß! "Corbino", stammelte er zitternd. "Können wir nicht noch..." "Was?", fragte der Killer eisig. "Reden." "Es ist alles gesagt", erwiderte Corbino und glitt mit geschmeidigen Bewegungen näher. Es ging fast über Sturges' Kräfte, den Revolver zu ziehen. Er starrte dem Killer in die ausdruckslosen Augen, während seine Hand die Waffe suchte. Corbino war in diesen Dingen der erfahrenere Mann. Er sah die Bewegung und reagierte sofort. Sein Handkantenschlag entwaffnete Brad Sturges. Walkie schrie heiser auf und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Handgelenk.
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Er krümmte sich und versuchte den Killer mit der Schulter zur Seite zu rammen. Sein Stoß ging ins Leere, weil Corbino auswich, aber er erreichte die Tür trotzdem nicht, weil Corbino ihm ein Bein stellte. Sturges knallte auf den Boden. Der harte Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lungen. Benommen drehte er sich auf den Rücken, während der Killer ohne Eile seine Pistole zog, deren Lauf mit einem klobigen Schalldämpfer verlängert war. "Nein!", flüsterte Walkie. "Corbino - nicht!" Doch Dave Corbino kannte kein Mitleid. Völlig kalt drückte er ab.
* Zweimal hatte Jo Walker versucht, Brad Sturges zu Hause aufzusuchen. Beide Male war der Vogel ausgeflogen. Kommissar X hoffte, beim drittenmal mehr Glück zu haben. Vor dem Haus lungerten betrunkene Jugendliche herum - und das am Vormittag. Wie mochten die wohl am Abend aussehen? Einer von ihnen hatte die Frechheit, sich Jo in den Weg zu stellen. "Du siehst aus, als könntest du mir 'nen Zehner spendieren", sagte er dümmlich grinsend. "Und du siehst aus, als wüßtest du mit dem Geld nichts Rechtes anzufangen", entgegnete Jo. "Ich würd's versaufen." "Eben, und dafür ist mein Geld zu schade", sagte Jo. Einer der Jugendlichen kicherte. "Verdammt, Mann, hörst du das? Meine Freunde lachen mich aus", sagte Jos Gegenüber. "Dein Problem", sagte Kommissar X und wollte weitergehen, doch der Bursche krallte seine Finger in Jos Jackett. "Du bist mir ein bißchen zu kaltschnäuzig, Mister. Das gefällt mir nicht." "Pfoten weg, sonst muß ich dir weh tun!", knurrte Jo. "Das versuch mal", sagte der Typ. Er hätte das lieber nicht sagen sollen, denn einen Augenblick später traf Jos Faust seinen Solarplexus. Er stieß pfeifend die Luft aus und fiel seinen Freunden in die Arme. "Gebt es ihm!", schrie er. "Schlagt ihm die Zähne ein!" Doch keiner tat ihm den Gefallen. Jo betrat ungehindert das Gebäude und begab sich in den ersten Stock. Die Wohnungstür, an die er klopfte, bewegte sich. Er angelte sofort seine 38er Automatic aus der Schulterhalfter und drückte die Tür vorsichtig auf. Friedhofsstille herrschte in der Wohnung des Ganoven. Jo ließ den Blick schweifen. Hier schien ein Einbrecher gründliche Arbeit geleistet zu haben. Im Wohnzimmer herrschte ein fürchterliches Durcheinander. War der Juwelenräuber etwa bestohlen worden? Möglicherweise von seinem Komplizen? Waren sie beim Teilen der Beute in Streit geraten? Wann war der andere, von dem Jo nur wußte, daß er John hieß, hiergewesen? Neben einem Sessel, dessen Unterseite nach oben wies, entdeckte Jo Walker Blut auf dem Teppich. Viel Blut. Eingetrocknetes Blut. Jo schob die Automatic ins Leder und stieß den Sessel zur Seite. Vor ihm lag Brad "Walkie" Sturges, die Kopfhörer um den Hals, ein häßliches Loch in der Brust. Nicht weit von dem Toten entfernt befand sich ein Revolver.
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Jo hob mit dem Taschentuch die Waffe auf und roch an ihr. Es war damit nicht geschossen worden. Jo legte den Revolver wieder auf den Boden und richtete sich auf. Was mochte sich hier in der vergangenen Nacht abgespielt hatte? Für Jo stand fest, daß Sturges bereits etliche Stunden tot war. Die genaue Todeszeit, würde der Polizeiarzt feststellen. Jo suchte das Telefon. Er entdeckte das Kabel und folgte diesem bis zum Apparat, der unter einer ausgeleerten Kommodenlade lag. Er nahm den Hörer auf, hielt ihn ans Ohr und prüfte, ob das Telefon noch intakt war. Der Apparat hatte die brutale Mißhandlung gut überstanden. Jo konnte sich mit Captain Rowland in Verbindung setzen und den Mord melden. Zwanzig Minuten später war Tom mit seinen Männern da. "Hallo, Triefauge", begrüßte ihn Jo. "Du siehst immer noch verkatert aus." "Wen geht das was an?", fragte der gewichtige Leiter der Mordkommission Manhattan C/II unfreundlich. "Ich tue meinen Dienst. Das ist die Hauptsache. Niemand bezahlt mich dafür, daß ich wie ein Dreßman aussehe. Hast du hier irgend etwas verändert?" "Du hast es mit keinem Laien zu tun." "Hast du?" "Nein. Ich habe nach meinem Anruf nicht einmal weitergeatmet", erwiderte Kommissar X. Er hatte sogar den Sessel wieder so neben die Leiche bugsiert, wie er ihn vorgefunden hatte. Nachdem der Polizeifotograf seine Bilder geschossen hatte, sah sich der Polizeiarzt den Toten an. Seiner Ansicht nach war der Todesschuß um Mitternacht abgefeuert worden. "Präzise kann ich es erst sagen, wenn ich die Leiche obduziert habe", meinte der Doktor. "Danke, Doc", sagte der Captain. Der schlaksige Lieutenant Ron Myers drückte Jo flüchtig die Hand und sagte dann: "Nur ein Schuß. Die Kugel hat genau das Herz getroffen. Wenn du mich fragst, Tom, das war die Arbeit eines Profis." Tom Rowland nahm die Meinung seines Stellvertreters nickend zur Kenntnis. "Hör dich mal in der Nachbarschaft um, Ron. Vielleicht hat einer den Schuß gehört und auch was gesehen." "Die meisten Menschen in dieser Stadt verhalten sich leider so wie die drei Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts reden", sagte Jo. "Ab und zu ist auch ein Vernünftiger dabei", meinte Tom. Der sommersprossige Lieutenant entfernte sich. Die Männer von der Spurensicherung begannen mit ihrer gewissenhaften Arbeit. Manchmal war es nur ihnen zu verdanken, daß ein Täter überführt werden konnte. Die Lage des Toten wurde mit weißer Kreide, abgestreut, dann schaffte man Brad Sturges fort. "Gib mir eine Zigarette, Jo", verlangte Captain Rowland. "Ich habe meine im Wagen vergessen." "Jede Wette, daß in deinem Wagen nicht einmal ein Tabakkrümel liegt", sagte Jo grinsend. "Du schnorrst mich seit Jahren an, Wozu auf einmal diese Unaufrichtigkeit? Warum stehst du plötzlich nicht mehr zu deinen schottischen Ahnen?" "Du willst wohl erreichen, daß ich auf das Stäbchen verzichte." "Habe ich eine Chance?" "Nein", erwiderte Tom ehrlich. Jo schüttelte zwei Zigaretten aus der Pall-Mall-Packung und brannte zuerst Toms und anschließend sein Stäbchen an. Der Captain ließ sich von seinem Freund erzählen, an welchem Fall er arbeitete. "Wenn McIntire stirbt, ist das ein Fall für meinen Zuständigkeitsbereich", sagte Tom. Copyright 2001 by readersplanet
"Ich habe heute morgen mit der Tochter des Juweliers telefoniert", sagte Jo. "Joanna McIntire erzählte mir, ihr Vater habe die Krise überwunden. Sie rechnet damit, daß er das Bewußtsein bald wiedererlangt." "Ist ihm zu wünschen. Hast du eine Antwort für das hier, Jo?", erkundigte sich der Captain und wies auf das Chaos. "Auf den ersten Blick sieht es nach einer Differenz zwischen zwei Komplizen aus. Sie konnten sich nicht einigen. Ein Wort ergab das andere, und zum Schluß griffen die Freunde, die plötzlich verfeindet waren, zur Waffe." "Gegen diese Theorie spricht dieses heillose Durcheinander", sagte Jo. "Hier hat jemand etwas gesucht. "Die Beute." "Brauchte Sturges' Komplize die zu suchen? Allem Anschein nach war Brad Sturges ein kleines Licht. Da man sagt, gleich und gleich gesellt sich gern, gehe ich davon aus, daß auch der Komplize kein Doktor Mabuse ist. Wenn man dann noch in Betracht zieht, was dein intelligenter Stellvertreter gesagt hat, nämlich daß der Mord seiner Ansicht nach von einem Profi verübt wurde, was könnte man daraus folgern?" "Daß da einer der lachende Dritte sein wollte", sagte Tom Rowland. "Vielleicht ist er's bereits", meinte Kommissar X. "Brad Sturges und sein Freund überfielen und beraubten Neil McIntire, und ein unbekannter Profi jagt ihnen nun die Beute ab." "Wenn er sie hier gesucht, aber nicht gefunden hat, ist sie bei Sturges' Komplizen, und wenn der Killer weiß, wer das ist, wird es bald die nächste Leiche geben, fürchte ich." "Mal den Teufel nicht an die Wand, Jo", sagte der Captain mit gerümpfter Nase.
* April Bondy saß an ihrem gläsernen Schreibtisch, hatte die attraktiven Beine übereinandergeschlagen und feilte ihre Fingernägel. Was zu tun gewesen war, hatte sie erledigt, und nun gab es keine Arbeit mehr für sie - außer den Inhalt des Karteischranks auszumisten, beziehungsweise auf den neuesten Stand zu bringen, aber das wollte sie erst in Angriff nehmen, wenn sie schon wirklich, nicht mehr wußte, was sie sonst tun sollte. An Tagen wie diesem hätte Jo Walker keine Sekretärin gebraucht. Es passierte überhaupt nichts. Der Fernschreiber tickerte nicht, keine Anrufe erfolgten. Es herrschte anscheinend allerorts Windstille. Hoffentlich war das keine Ruhe vor dem Sturm. Als April die Nagelfeile weglegte, läutete das Telefon. Es sah so aus, als hätte der Apparat sie in ihrer bisherigen Tätigkeit nicht stören wollen. "Detektei Walker. Büro für private Ermittlungen", meldete sie sich. "Geben Sie mir Ihren Chef!" verlangte eine energische Männerstimme. "So einfach geht das nicht, Sir", erwiderte April Bondy freundlich. "In welcher Angelegenheit möchten Sie Mister Walker sprechen?" "In meinem Garten ist ein UFO gelandet. Ich möchte, daß Walker es fortschafft." "Vielleicht sollten Sie sich in diesem Fall lieber mit der NASA in Verbindung setzen." "Hör zu, Lady, heb dir deine klugen Sprüche für den nächsten Anrufer auf", sagte der Mann unfreundlich. "Stell mich endlich zu Walker durch, ich habe ihm etwas verdammt Wichtiges zu sagen." "Tut mir leid, Mister...Ich habe Ihren Namen nicht behalten. Wie war er doch gleich?" "Miller", sagte der Anrufer. "Georgie Miller heiße ich." "Ah ja, Mister Miller, Mister Walker ist zur Zeit außer Haus. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?" Copyright 2001 by readersplanet
"Aber ja, Süße. Du kannst deinem Boß etwas von mir bestellen: Wenn er nicht augenblicklich seine Schnüffelei einstellt, kann es verdammt leicht passieren, daß ich mich dazu hinreißen lasse, ihn zu killen! Hast du alles verstanden?" "Ich denke schon." "Dann sag's ihm, und laß kein Wort aus!" Es klickte in der Leitung. Georgie Miller - es handelte sich mit Sicherheit um einen Phantasienamen - hatte aufgelegt.
* Es gibt Menschen, die tendieren zum Guten, und es gibt Menschen, die geboren werden, um Böses zu tun. Wes Morton gehörte zu letzteren, obwohl er noch nicht einmal zwanzig war. Schon als Kind hatte er seine Umwelt terrorisiert, und je größer er geworden war, desto böser wurden seine Taten: Schlägereien, Einbrüche, Diebstähle, Raub... Viele Straftaten gingen auf sein Konto, und er war stolz darauf, von den Bullen, wie er die Polizisten abfällig nannte, noch nie erwischt worden zu sein. Er bewunderte Dave Corbino, der es seiner Ansicht nach "geschafft" hatte, schaute zu ihm auf wie zu einem kleinen Gott und wollte eines Tages so sein wie dieser - ein Profi-Killer, der für die Erledigung eines Auftrags gut bezahlt wurde. Mädchen gegenüber war Wes Morton wegen seines aknezerfressenen Gesichts gehemmt. Er hatte immer schon ein gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht gehabt. Das hing vermutlich damit zusammen, daß seine Mutter auf den Strich gegangen war. Als er sich dessen zum erstenmal bewußt wurde, war er so schwer geschockt, daß er sich sinnlos betrank und daheim alles - einschließlich seiner Mutter - kurz und klein schlug. Heute vertrat er den Standpunkt, daß alle Frauen Dirnen seien. Es hatte nur jede einen anderen Preis. Dieser Wes Morton, dem keine Tat zu schlecht war, der ehrgeizig einem Killer nacheiferte und von ihm so viel wie möglich lernen wollte, lag zu Hause auf dem Sofa und rauchte genüßlich eine Marihuanazigarette. Er wußte, daß sich Corbino geschmeichelt fühlte, wenn er ihn anhimmelte wie ein Fan den Showstar. Corbino hatte versprochen, ihm ein paar Tricks beizubringen. Irgendwann würde schließlich auch der eine oder andere Auftrag, den Corbino nicht selbst erledigen wollte - sei es, weil er überlastet war oder keine Lust dazu hatte -, für ihn abfallen. Wes Morton konnte es kaum erwarten, in Dave Corbinos Fußstapfen zu treten. Er sah sich als die neue Killer-Generation. Es klopfte. Morton schnellte hoch und stieß die Zigarette in den Aschenbecher. Dann begab er sich zur Tür. Ohne zu öffnen, fragte er: "Wer ist da?" "Corbino!", erwiderte der Mann draußen. Breit grinsend öffnete Wes Morton. Niemand war ihm mehr willkommen als Dave Corbino.
* Als Jo Walker in seinen Mercedes stieg, meldete sich das Autotelefon mit einem dezenten Schnarren. Kommissar X griff nach dem Hörer und hob ihn aus der Halterung. "Ja, was gibt's?" Copyright 2001 by readersplanet
Am anderen Ende war April Bondy. Er sagte ihr, wo er sich befand und was sich ereignet hatte. Er erwähnte auch die zusammengebastelte Theorie, daß es jemanden gäbe, der scharf auf die Beute der kleinen Ganoven wäre. Ein Profi, dessen Waffe besorgniserregend locker säße. "Noch gibt es allerdings keinen Beweis für die Richtigkeit dieser Theorie", sagte Ja. "Den Beweis kann ich liefern", sagte April Bondy. "Vorhin rief ein Mann an. Er nannte sich Georgie Miller, und er verlangt, daß du deine Ermittlungen sofort einstellst." "Und wenn ich seinem Wunsch nicht entspreche?" "Er sagte wörtlich: 'Wenn er nicht augenblicklich seine Schnüffelei einstellt, kann es verdammt leicht passieren, daß ich mich dazu hinreißen lasse, ihn zu killen!'" "Ein unangenehmer Mensch." "Kannst du laut sagen." "Konntest du ihm irgend etwas entlocken, das mir helfen könnte, sein Inkognito zu lüften?" "Leider nicht, Jo. Er legte zu schnell auf. Ich hatte keine Zeit, ihm Fragen zu stellen." "Von wo aus rief er an?", fragte Kommissar X. "Keine Ahnung." "Waren Hintergrundgeräusche zu hören?" "Nein, nichts", erwiderte April Bondy bedauernd. "Hast du das Gespräch mitgeschnitten?" "Es war zu kurz. Als ich daran dachte, war's bereits zu spät. Tut mir leid, Ja. Ist mein Fehler sehr schlimm?" "Wahrscheinlich hätte es ohnedies nichts gebracht, wenn ich mir das aufgezeichnete Gespräch angehört hätte." April entschuldigte sich noch einmal. "Ach, vergiß es, April", sagte Jo. "Sonst noch was?" "Ja. Gleich nach Georgie Miller rief eine Frau an: Scarlet Tobias." "Brad Sturges' Exfreundin. Was wollte sie?", fragte Kommissar X. "Sie sagte, du hättest ihr deine Karte gegeben und sie gebeten, dich anzurufen, falls ihr noch etwas Interessantes einfallen würde." "Was ist ihr denn eingefallen?", fragte Jo neugierig. "Sturges und sein Kumpan haben beziehungsweise hatten eine Stammkneipe." April Bondy nannte die Adresse. "Ich werde mich da mal blicken lassen und die Lauscher spitzen", sagte Ja. "Wenn ich Glück habe, erfahre ich den vollen Namen des Komplizen. Es ist immer wieder erfreulich, von dir angerufen zu werden, mein Schatz." "Wenn du mir einen Heiratsantrag machen möchtest - ich bin ganz Ohr." "Oh! Nun..." Ja räusperte sich. "Wir wollen es nicht gleich übertreiben."
* Dave Corbino wollte freie Bahn haben. Nachdem er Brad Sturges erschossen hatte, mußte er sich an Holliman halten, doch der war untergetaucht. Das bedeutete, Corbino mußte sich die Mühe bereiten, ihn zu suchen. Da konnte er keinen Schnüffler im Nacken brauchen. Er wollte sich aber auch nicht verzetteln. Wichtiger als Walker waren ihm die Juwelen, die ihm unter keinen Umständen durch die Lappen gehen durften, deshalb mußte er sich voll und ganz auf sie konzentrieren. Copyright 2001 by readersplanet
Um Walker sollte sich Wes Morton kümmern. Der Junge brannte darauf, ihm einen Gefallen tun zu dürfen. Nun, er sollte die Gelegenheit dazu erhalten. Morton forderte ihn freudestrahlend auf, einzutreten. Corbino zog die Luft prüfend ein, blickte Wes Morton vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. "Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Dave?" fragte der Junge unsicher. "Du möchtest doch mal eine große Nummer in meiner Branche werden, nicht wahr?" "Ja", sagte Morton. "Das will ich." "Dann solltest du das aber nicht tun." "Was?" "Du hast gekifft!", sagte Corbino ärgerlich. "Ach das. Das ist doch völlig harmlos", sagte Morton. "Ist doch nur wie Alkohol." "Es ist eine Einstiegsdroge, deshalb solltest du die Finger davon lassen. Du kannst natürlich tun, was du willst. Ich bin nicht dein Alter und habe dir nichts vorzuschreiben, aber wenn du noch mal Marihuana rauchst, sind wir geschiedene Leute. Als nächstes käme vielleicht Kokain, dann Meskalin, schließlich Heroin - und ehe du es richtig schnallst, bist du ein ausgeflippter Junkie, der alles tut, um sich den nächsten Schuß zu sichern. Rauf willst du, und runter rutschst du. Ganz runter, verstehst du?" Wes Morton hob die Hände, als ergebe er sich. "Okay, Dave, ich habe begriffen. Ich werde die Finger davon lassen. Mein Wort darauf." "Na schön", sagte Corbino versöhnlich und setzte sich. "Hast du was zu trinken da?" "Klar, Dave. Was möchtest du haben? Whisky, Wodka, Bourbon, Scotch?" "Bourbon mit Wasser." "Sofort." Wes Morton bediente seinen "Freund". Er selbst nahm sich nichts, er war ohnedies schon ein bißchen high, aber zum Glück nicht so, daß sich Dave Corbino gleich wieder ärgerlich verabschiedete. Morton nahm auch Platz. Er umklammerte sein rechtes Knie mit beiden Händen und beobachtete Corbino beim Trinken. "Was führt dich zu mir?", fragte er, als Corbino das Glas absetzte. "Du wolltest doch schon lange ins Geschäft einsteigen, nicht wahr? Ich könnte dir die Möglichkeit bieten." Wes Morton riß begeistert die Augen auf und leckte sich nervös die Lippen. "Wirklich? Ich soll - du meinst...Hast du einen Auftrag für mich?" Der Killer nickte. "Natürlich brauchst du es nicht umsonst zu tun. Du erhältst dafür Geld." In diesem Fall war dem Jungen die Bezahlung nicht so wichtig. Hauptsache, er kriegte seinen ersten Auftrag. Diesen Mord hätte er Corbino sogar zum Geschenk gemacht, nur um zu beweisen, daß er gut war. Wenn er den ersten Auftrag zu Corbinos Zufriedenheit erledigte, würden, das wußte er, weitere folgen, und dafür würde er dann auch kassieren., Doch Corbino stellte ihm als zusätzlichen Anreiz tausend Dollar in Aussicht. Er würde bezahlen, sobald der Auftrag erledigt wäre. Was waren schon tausend Dollar für Corbino, der kräftig nach Juwelen im Wert von einer halben Million schielte! "Tausend Bucks", sagte Wes Morton eifrig. "Einverstanden. Und wen soll ich auf die lange Reise, von der keine Rückkehr möglich ist, schicken? " "Der Mann heißt Jo Walker", sagte Dave Corbino. Den Anruf in Walkers Büro hätte er sich sparen können. Walker für immer aus dem Verkehr zu ziehen, war auf jeden Fall die bessere Lösung. Wer tot ist, bereitet keine Schwierigkeiten mehr. Mit diesem Mord würde Wes Morton seinen Einstand feiern. Copyright 2001 by readersplanet
Ein junger Bursche, noch nicht einmal zwanzig, würde in die Gilde der Profi-Killer aufrücken.
* Brad "Walkie" Sturges' Stammkneipe war ein verrauchter Schuppen mit grauen Wänden und uralter Einrichtung. Die Gläser waren dreckig, der Wirt auch, und die Gäste sahen nach fünfhundert Jahren Zuchthaus aus. Durch irgendeinen Kanal war bereits durchgesickert, daß Brad Sturges nicht mehr unter den Lebenden weilte, stellte Jo Walker fest. Man war informiert, und man begegnete Kommissar X mit großem Mißtrauen. Keiner wollte sich zu Walkie äußern, ja, man konnte sich sogar schwer dazu entschließen, zuzugeben, ihn überhaupt gekannt zu haben. Von einem "Komplizen" wußte man selbstverständlich nichts, und niemand konnte sich - "ehrlich nicht!" - vorstellen, daß Walkie einen Juwelier überfallen und ausgeraubt hätte. Selbstredend konnte auch niemand sagen, warum Sturges getötet worden war und wer es getan hatte. Es mußte die Tat eines Geistesgestörten gewesen sein, denn Brad "Walkie" Sturges hatte keine Feinde gehabt - "ehrlich nicht!" Aber Jo hatte Feinde, das spürte er. Kein einziger Gast war ihm wohlgesonnen. Man hatte eine begreifliche Abneigung gegen Bullen und Schnüffler, denn die wollten einem immer irgend etwas anhängen. Es dauerte nicht lange, bis sich einer fand, der das aussprach, was die anderen dachten: "He, Mann, du gehst uns mit deiner Neugier auf den Geist! Also zieh Leine, bevor ich dich durch den Wolf drehe!" Jo lehnte am Tresen. Der Kerl baute sich breitbeinig vor ihm auf, ein Mann, der wußte, daß er sich auf seine Kraft verlassen konnte. Er ließ die beachtlichen Muskelpakete unter dem weißen T-Shirt spielen und wollte Kommissar X damit wohl einigen Respekt abringen. Jo blickte sich gelassen um. "Redest du mit mir? " "Mit wem sonst?", blaffte der Muskelmann. "Wie heißt du?" "Tony Vega." "Mein Name ist Jo Walker. Darf ich dich zu einem Drink einladen?" Damit brachte Jo den Knaben etwas aus dem Tritt. Vega blinzelte irritiert. "Du hast mich wohl nicht richtig verstanden, Walker. Wir wollen dich hier nicht haben, also hau ab!" "Du bist hier nicht der Wirt, Tony." "Ich spreche für seine Gäste. Die haben in diesem Lokal nämlich das Sagen. Wenn wir ausbleiben, kann der Wirt zusperren. Würdest du nun die Güte haben, deinen Hintern nach draußen zu bewegen?" "Ich habe meinen Drink noch nicht bezahlt", sagte Jo. "Du bist eingeladen." "Ich habe ihn noch nicht getrunken." "Nimm ihn mit. Oder möchtest du ihn mit 'nem Strohhalm schlürfen, nachdem ich dir den Kiefer gebrochen habe?" "Du solltest dir im Fernsehen nicht so viele Kindersendungen anschauen. Da wird man aggressiv." "Verschwinde, Walker!", knurrte Tony Vega feindselig. Copyright 2001 by readersplanet
Seine Geduld war zu Ende. Bisher hatte er sich stets mit bloßem Aufplustern bereits Respekt verschafft. Er befürchtete einen Imageverlust, deshalb wurde er handgreiflich. Seine Hand schoß vor. Er wollte Jo packen, doch dieser lenkte seinen Arm reaktionsschnell ab. Da schlug Tony Vega mit der Faust zu. Es befand sich eine Menge Dampf hinter dem Schlag. Wenn er sein Ziel getroffen hätte, wäre Jo wie Holzklotz umgefallen, aber um einen Kommissar X auf die Bretter zu schicken, genügt es nicht, stark zu sein. Dazu waren auch Schnelligkeit und Intelligenz nötig. Schnell wäre Tony Vega ja einigermaßen gewesen, aber mit der Intelligenz haperte es. Jo sorgte dafür, daß der Schlag ins Leere ging. Die vorschießende Kraft, die nicht gestoppt wurde, hätte Vega beinahe den Arm aus dem Schultergelenk gerissen. Kommissar X konterte trocken und präzise. Er hatte ein sicheres Auge für Deckungsfehler und nutzte sie geschickt. So war mit Vega vermutlich noch keiner umgesprungen. Der Muskelmann sah rot, und Jo hatte auf einmal Mühe, den Mann auf Distanz zu halten. Vega sah aus, als hätte er die Tollwut. Er kämpfte mit gefletschten Zähnen und Speichel auf den Lippen. Um einem Zufallstreffer zu entgehen und die tätliche Auseinandersetzung zum Abschluß zu bringen, glitt Jo zur Seite und riß den massiven Holzhocker hoch, der zu Beginn des Kampfes frei geworden war. Und als sich Vega blindwütig vorwärtswuchtete, schlug Kommissar X mit dem Hocker zu. Das verkraftete nicht einmal der bärenstarke Tony Vega. Er landete auf dem Bauch und blieb liegen. Doch nun lernte Jo Walker die Solidarität der Unterwelt kennen. Die Gäste erhoben sich wie ein Mann und bildeten eine beeindruckende Front gegen ihn. Es wäre nicht ratsam gewesen, auch nur eine Minute länger in der Kneipe zu bleiben, deshalb stellte Jo den Hocker an seinen Platz und legte Geld für seinen Drink auf den Tresen. "Hier", sagte er. "Ich lasse mir nichts schenken. Und Zechpreller bin ich auch keiner." Er ging, ehe sich Tonys Kumpane zu einem Angriff entschlossen.
* Aber er ging nicht weit, nur bis an die nächste Ecke, denn dort stand sein Wagen. Er stieg ein, zündete sich eine Pall Mall an und wartete. Eine halbe Stunde verging, dann trat Tony Vega aus dem Lokal. Es ging ihm wieder gut, er trabte die Straße entlang. Jo startete den Motor und ließ den Mercedes langsam hinter dem Muskelmann herrollen. Vega wohnte drei Blocks von Sturges' Stammkneipe entfernt. Als er in einem der Mietshäuser verschwand, stieg Kommissar X aus und folgte ihm zu Fuß. Im Haus lauschte er. Vega befand sich im ersten Stock und stieg die Stufen zur zweiten Etage hoch. Jo hastete die Treppe hinauf. Er trug Schuhe mit Gummisohlen. Seine Schritte waren kaum zu hören. Erster Stock - weiter... Als Kommissar X die zweite Etage erreichte, hatte Tony Vega noch nicht einmal seine Wohnungstür aufgeschlossen. Jo näherte sich dem Mann, ohne von diesem bemerkt zu werden, und als die Tür aufschwang, versetzte Jo dem Muskelprotz einen kräftigen Stoß. Vega entfuhr ein erschrockener Laut. Im Vorwärtsstolpern drehte er sich um. Jo Walker trat ein und kickte die Tür zu. "Du verfluchter Hurensohn...!" Tony Vega stürzte sich auf Jo Walker.
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Kommissar X war an keiner Neuauflage des Kampfs interessiert. Er wich dem Bulligen aus, hackte mit der Handkante zu und riß die Automatic aus der Schulterhalfter. Von dem schwarzen Mündungsauge seiner Pistole schien eine hypnotische Kraft auszugehen, denn als Tony Vega hineinblickte, erstarrte er, und würgte mühsam seine Wut hinunter. Jo stieß ihn in einen Sessel. "Der Blitz soll dich erschlagen, Walker!, fauchte Tony Vega. "Spar dir die frommen Wünsche. Sag mir lieber, was ich wissen möchte, sonst muß ich ungemütlich werden." "Verdammt, wenn du denkst, ich helfe einem Schnüffler, bist du falsch gewickelt." "Wenn du so allergisch auf Privatdetektive reagierst, muß ich annehmen, daß du eine ganze Menge auf dem Kerbholz hast", sagte Kommissar X. "Meine Weste ist rein, aber ich mag Kerle nicht, die sich dafür bezahlen lassen, anderen etwas anzuhängen." "Was könnte ich dir anhängen?" "Nichts." "Mit was verdienst du dir die Wurst aufs Brot?", wollte Jo wissen. "Ich bin zur Zeit arbeitslos." "Dennoch kannst du es dir leisten, in deiner Stammkneipe herumzuhängen?" "Wir leben in einem sozialen Staat. Wer keinen Job hat, braucht deshalb nicht gleich zu verhungern. Außerdem habe ich etwas gespart, wenn du's genau wissen willst." "Ich wette, du besserst deine Arbeitslosenunterstützung mit Gelegenheitsarbeiten auf, und es braucht bestimmt nicht alles legal zu sein, was man dir anbietet. Hauptsache, die Kasse klingelt." "Da haben wir's", sagte Tony Vega erbost, "es geht schon los. Du hast nichts gegen mich in der Hand, fängst aber bereits an, mir einen Strick zu drehen." "Wenn du nicht willst, daß ich weiterdrehe, solltest du mir ein bißchen was erzählen", sagte Jo. "Ich weiß nichts. Absolut nichts. Weniger als nichts." "Okay, du weißt nicht einmal, daß du auf der Welt bist. Ich nehme es zur Kenntnis. Wie steht es mit Brad Sturges. Hast du den auch nicht gekannt?" "Sturges...?" "Du hast ihn wahrscheinlich nur Walkie genannt. Hör zu, Vega. Sturges hat mit seinem Freund John ein Ding gedreht. Jetzt ist er tot, und John wird es auch bald sein, wenn du mir nicht hilfst." "Ich kann nichts verhindern", erklärte Tony Vega. "Wie heißt Walkies Freund mit vollem Namen? Breite Schultern, Sattelnase - damit kein Irrtum möglich ist." "John Holliman." "Ist ja wunderbar, daß du dich endlich zur Kooperation entschlossen hast. Weiter so", lobte Kommissar X. "Wo wohnt John Holliman? Ich hoffe, es belastet nicht dein Gewissen, mir seine Adresse zu nennen. Ich würde sie in jedem Telefonbuch finden. Du erleichterst mir nur die Suche und zeigst deinen guten Willen." Vega nannte widerwillig die Adresse. "Weiß er, daß er einen Killer auf den Fersen hat?", fragte Jo. "Kann schon sein." "Weiß er, wer es ist?" Copyright 2001 by readersplanet
"Keine Ahnung." "Er ist bestimmt nicht so dumm, zu Hause zu sitzen und auf seinen Mörder zu warten. Wenn er klug ist, hat er sich rechtzeitig nach einem Versteck umgesehen. Du rettest ihm höchstwahrscheinlich das Leben, wenn du mir verrätst, wo er untergekrochen ist." Vega biß sich auf die Unterlippe. Er schien einen schweren Kampf mit sich auszutragen. "Du verpfeifst Holliman nicht", sagte Jo. "Du tust ihm einen Gefallen." "Einen Gefallen", echote Vega. "Du sorgst dafür, daß man ihn einbuchtet. Was für ein Gefallen ist das denn?" "Nach dem Einsperren folgt die Entlassung. Nach dem Killen folgt gar nichts mehr", sagte Kommissar X trocken. "Wie lange muß ich mir noch den Mund fusselig reden? Wenn du mir nicht sagst, wo John Holliman steckt, findet ihn der Killer vor mir und legt ihn um. Zu diesem Mord hast du dann dein Scherflein beigetragen. Ich werde nicht verabsäumen, das an der richtigen Stelle verlauten zu lassen." Tony Vega lachte gallig und schüttelte den Kopf. "Es ist doch wirklich nicht zu fassen. Du drehst schon wieder an 'nem Strick." "Darin bin ich Meister." "Man merkt's." "Wo ist Holliman, Tony?" "Soviel ich weiß, läßt ihn Skippy Blackman bei sich wohnen. Skippy ist ein Transvestit. Wo er wohnt, weiß ich nicht. Er arbeitet in einer Bar namens 'Blue Horse', in Norwood, Webster Avenue. Mehr weiß ich wirklich nicht. Würdest du jetzt gehen?" Jo tätschelte freundschaftlich Vegas Wange. "Aber ja doch, Tony. Alles, was du willst. Nur noch eins: Laß Holliman nicht auf irgendwelchen Umwegen wissen, daß wir uns so ausführlich über ihn unterhalten haben. Er könnte das mißverstehen und sich über dich ärgern, obwohl er dir ewig dankbar sein müßte, denn du hast ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet." Als Jo die Automatic wegsteckte und sich anschickte, zu gehen, atmete Tony Vega erleichtert auf. "Du brauchst dich nicht zu bemühen", sagte Kommissar X lächelnd. "Ich finde allein hinaus."
* Der Killer schien sich gut über Jo Walker informiert zu haben. Kommissar X nahm an, daß der Unbekannte ihn beobachtete. Dann würde er merken, daß er mit seinem Anruf nichts erreicht hatte. In der weiteren Folge würde er versuchen, Jo auszuschalten, wenn er konsequent war. Wenn das passierte, würde Kommissar X schneller als sein Gegner sein müssen. Im Augenblick war der Unbekannte noch im Vorteil, denn er wußte, wer Jo war, während dieser von ihm noch keine Ahnung hatte. Jo würde den Mann erst erkennen, wenn dieser seine Waffe auf ihn richtete, und dann konnte es bereits verdammt spät sein. Hoffentlich nicht zu spät. Es war dem Kerl möglich, etliche Trümpfe auszuspielen, ohne daß Jo ihn daran hindern konnte. Der Unbekannte konnte sich zum Beispiel an April Bondy heranpirschen und sie in seine Gewalt bringen, dann waren Jo die Hände gebunden, und er wäre gezwungen gewesen, die frechsten Forderungen zu erfüllen. Jo knirschte mit den Zähnen, und seine Augen wurden schmal, während er die Stufen hinunterstieg. Der Bursche tat gut daran, die Finger von April zu lassen, denn wenn Jo auch nur die geringste Chance erkannte, würde er sie nutzen und den Mann so durchmangeln, daß in der Stadt kein Hund mehr einen Knochen von ihm nahm. Jo erreichte das Erdgeschoß. Copyright 2001 by readersplanet
Seine nächste Station mußte das "Blue Horse" sein. Er hoffte, daß sich Skippy Blackman nicht lange zierte und ihm sagte, was er wissen wollte. Und er hoffte, daß der Killer nicht vor ihm auf einen ähnlichen Gedanken verfiel, denn der Bursche ging über Leichen - im wahrsten Sinne des Wortes. Er würde John Holliman zwingen, die Juwelen herauszurücken oder ihm zu sagen, wo er sie versteckt hatte, und anschließend würde er ihn töten, das stand für Jo fest. Er verließ das Haus, trat auf die Straße, und im nächsten Moment passierte eine Menge gleichzeitig. Jo sah einen Kerl in Leder. Er saß auf einer Moto-Cross-Maschine, deren Motor lief. Er hatte einen großen schwarzen Helm auf dem Kopf, das schwarze Visier war geschlossen, so daß der Eindruck entstand, er hätte kein Gesicht. Der Knabe war schmal und sah aus wie ein Jüngling. Jo hatte sich den Killer anders vorgestellt, kräftiger und vor allem etwas älter. Aber das mußte er sein, und er war hier, um seine Drohung auszuführen. Seine Hände steckten in ledernen Stulpenhandschuhen, und er hielt einen großkalibrigen Revolver in der Faust. Er drehte am Gashebel, der Moor brüllte auf und überdeckte das Peitschen der Schüsse. Jo ließ sich fallen. Noch bevor er auf dem Boden war, hielt er die Automatic in der Hand und schoß zurück. Die Killerkugeln pfiffen über ihn weg und hackten in die Hausmauer. Aber auch Jo gelang es nicht, den Killer von seiner Honda herunterzuholen. Ehe er einen besseren Schuß anbringen konnte, drehte der Bursche voll auf und sauste davon. Jo sprang auf und lief zu seinem Wagen. Ihm war klar, daß er sich auf ein Wettrennen mit ungleichen Chancen einließ, aber er unternahm dennoch den Versuch, den Killer zu schnappen. Er raste hinter dem Killer her. Das blieb dem Mann auf dem Motorrad nicht verborgen, und er spielte die Vorzüge der Maschine aus. Jo knüppelte den Mercedes durch schmale, winkelige Straßen. Da er sich in dieser Gegend einigermaßen auskannte, blieb er nicht stur hinter dem Fliehenden, sondern entschied sich hin und wieder für eine Abkürzung, die einiges von dem Vorsprung ausglich, den der Mörder für sich herausgefahren hatte. Jo überlegte blitzschnell. Es gab eine Mülldeponie in der Nähe. Wenn er den Burschen darauf zutrieb, gab es kein Entkommen für ihn. Die Deponie befand sich zwischen Riverdale und Spyten Duyvil. Von weitem schon sah Jo die Möwen darüber kreisen. Rechts eine Lagerhausfront, links eine aufgelassene Bootswerft - keine Möglichkeit, nach einer von beiden Seiten abzubiegen. Der "Sehlauch", in dem sich die Honda und der Mercedes befanden, führte geradewegs auf die Mülldeponie zu. An deren Rand stoppte der Killer die Maschine und blickte zurück. Der silbergraue Wagen schoß pfeilschnell heran, und es gab nur einen Fluchtweg: die Deponie! Der Motorradfahrer federte vom Sattel hoch. Stehend konnte er besser balancieren. So langsam und vorsichtig wie möglich lenkte er die Moto-Cross-Maschine den Abhang hinunter. Er mußte sich völlig auf das Verhalten seiner Maschine konzentrieren. Wenn sie seitlich wegrutschte, mußte er sie blitzschnell abfangen, wenn sie kippte, mußte er sofort das Gewicht verlagern. Wichtig war vor allem, daß er nicht zu schnell fuhr. Er traute sich zu, die Strecke, die Mensch und Material alles abverlangte, ohne Minuspunkt hinter sich zu bringen. Wenn er erst einmal unten war, hatte Jo Walker das Nachsehen, denn dorthin konnte er ihm mit dem Wagen nicht folgen, und zu Fuß hatte er keine Chance, ihn einzuholen. Jo stoppte den Mercedes ungefähr da, wo der Killer seine Maschine angehalten hatte. Er sprang aus dem Fahrzeug und zog die Pistole. Ein Drittel der überaus schwierigen Strecke hatte der Motorradfahrer bereits hinter sich. Er machte seine Sache verdammt gut und wirkte Copyright 2001 by readersplanet
ungemein sicher auf der Moto-Cross-Maschine, aber er befand sich auf dem Präsentierteller! Jo hielt die Automatic im Beidhandanschlag, zielte gewissenhaft und drückte ab. Mit dem Knallen des Schusses kippte die Honda nach links, und der Fahrer stürzte nach rechts. Jos Kugel, die den voluminösen Sturzhelm gestreift hatte, hatte dem "Artisten" das Gleichgewicht geraubt. Die Maschine blieb mit kreisendem Hinterrad liegen, während sich der Motorradfahrer mehrmals überschlug. Als sich der Bursche benommen erhob, hatte ihn Kommissar X gut im Visier. Der Typ spreizte sofort die Arme ab, damit Jo nicht feuerte. "Hochkommen!", rief Kommissar X. Der Bursche gehorchte. Auf allen vieren kroch er über den Müll. Jo ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Er ließ den Kerl bis auf fünf Schritte an sich heran, dann sagte er scharf: "Halt!" Der Verbrecher richtete sich abwartend auf. "Deinen Revolver!", verlangte Kommissar X. "Zieh ihn mit der linken Hand, und nur mit zwei Fingern! Und dann wirf ihn mir zu! Aber keine Tricks, ich warne dich!" Der Killer gehorchte mustergültig. Jo schob den Revolver in seinen Gürtel. "So, weiter!", rief er, und der Gangster setzte sich wieder in Bewegung. Jo trat zurück, als der schlanke Bursche den letzten Schritt tat. "Okay, Freundchen, und nun nimmst du den Helm ab!" Der Killer zögerte. "Nun mal los! Ich will hier nicht versauern!" Es blieb dem Burschen nichts anderes übrig, als mit beiden Händen zuzupacken und den schwarzen Sturzhelm abzuheben. Das Aussehen des Verbrechers überraschte Jo. "Sag mal, wie alt bist du eigentlich?" Der Junge schwieg trotzig. "Du bist ja noch nicht einmal trocken hinter den Ohren", sagte Kommissar X. Es zuckte im Gesicht des jungen Verbrechers, aber er preßte die Lippen fest zusammen und erwiderte nichts. "Wie heißt du?", fragte Jo. Schweigen. "Kann noch nicht einmal sprechen, gehört noch der Schnullerbrigade an, spielt aber schon mit 'nem Revolver", sagte Jo, um den wunden Punkt seines Gegenübers zu treffen und ihn zu einer Unvorsichtigkeit zu verleiten. Und es platzte auch prompt aus dem Jungen heraus: "Verdammt, Walker, ich bin in zwei Monaten zwanzig und fühle mich alt genug, dich zu killen! " "Na schön, vielleicht bist du alt genug, aber noch bist du nicht gut genug für mich." "Du hattest bloß Glück." "Man sagt, Glück habe auf die Dauer nur der Tüchtige. Wie heißt du?" "Wes Morton." "Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, daß du schon mal jemandem umgelegt hast, Wes." "Traust du mit das etwa nicht zu?", fragte Morton aggressiv. "Das habe ich nicht gesagt. Ich kann es mir bloß nicht vorstellen. Vielleicht deshalb, weil du noch so jung bist, und du siehst - faß das bitte nicht als Beleidigung auf - auch noch jünger aus. Man könnte dich für siebzehn halten. Woher hast du den Revolver?" "Gekauft." Copyright 2001 by readersplanet
"Wer hat ihn dir verkauft?" "Sage ich nicht." "Mord ist ein verdammt mieses Handwerk, Wes." "Man kann damit eine Menge Geld verdienen", sagte Morton eiskalt. Jo schauderte bei soviel Abgebrühtheit. "Kennst du jemanden, der in dieser Branche arbeitet?" "Vielleicht." "Du eiferst ihm nach, wie?" "Er ist ein As!", sagte Wes Morton leidenschaftlich. "Er hat immer Geld und kann sich 'ne Menge leisten." "Aber an seinen Händen klebt Blut." "Das belastet ihn nicht. Mich würde es auch nicht belasten. Es gibt ohne dies zu viele Menschen auf der Welt." "Verdammt, Wes, ich hätte Lust, dich für diese Bemerkung zu versohlen", sagte Jo scharf. "Wieviel erhältst du, damit du mich abschießt?" "'nen Tausender." "Du bist sehr billig." "Ich stehe am Beginn meiner Karriere. Das große Geld kassiere ich in einigen Jahren. Ich habe Zeit." "Was lief mit deiner Erziehung falsch, daß du heute schon so verdorben bist, Wes?", fragte Jo erschüttert. "Du sprichst von einer Karriere, als hättest du die Absicht, Manager eines Großkonzerns zu werden." "Ich werde mein eigener Herr sein." "Und dein Geschäft wird Mord sein", sagte Jo grimmig. "Du wirst jeden Mord begehen, für den man dich bezahlt, und eine Zeitlang wirst du vielleicht sogar wirklich gut verdienen. Aber nach jedem Mord werden es mehr Polizisten sein, die dich jagen..." "Die dämlichen Bullen", sagte Wes Morton verächtlich. "Unterschätze sie nicht. Ich kenne einige, denen kannst du nicht das Wasser reichen. Die jagen schon länger Verbrecher, als du auf der Welt bist. Einer von ihnen wird dich erwischen, verlaß dich drauf. Dann ist der Traum ausgeträumt. Du wanderst entweder lebenslänglich hinter Gitter oder in eine Todeszelle. Das hängt von dem Bundesstaat ab, in dem dein Prozeß stattfindet. Da sitzt du dann zwischen vier tristen, grauen Wänden und begreifst, daß etwas dran ist an dem, was die Leute sagen: Daß sich nämlich Verbrechen nicht auszahlen, aber deine Einsicht erfolgt zu spät. Du sitzt in deiner Zelle und wartest. Deine Gnadengesuche wird man ablehnen. Du wirst von Tag zu Tag mürber werden, ein Mann ohne Hoffnung und ohne Zukunft. Irgendwann, im Morgengrauen, holen sie dich. Du wirst schreien und um Gnade winseln, doch man wird mit dir genausowenig Mitleid haben wie du mit deinen Opfern. Einmal wird dein Name noch in allen Zeitungen stehen. Dann wird man aufatmen und dich vergessen. Ist das die Karriere, die dir vorschwebt?" Wes Morton schlug den Blick nieder. Jo hatte nicht den Eindruck, daß seine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren, aber vielleicht würde Morton irgendwann in naher Zukunft anfangen, darüber nachzudenken. "Wer hat dir die tausend Dollar gegeben?", wollte Kommissar X wissen. Morton hob den Blick und schaute Jo kalt in die Augen. Da wußte Kommissar X, daß er aus dem verstockten Jungen nichts erfahren würde. Er beschloß, ihn zu Tom Rowland zu bringen.
* Copyright 2001 by readersplanet
Die Vernehmungsspezialisten bearbeiteten Wes Morton mehrere Stunden, und sie entlockten ihm so manches Geheimnis, aber nicht den Namen des Killers, der sein Vorbild war, was sich inzwischen einwandfrei herausstellt hatte. Für ihn war der Mann, der ihm tausend Dollar für den Mord an Jo Walker in Aussicht gestellt hatte, ein Idol, zu dem er fasziniert aufblickte. Er würde wohl erst umdenken, wenn man dieses Idol von seinem Podest gestürzt hatte. Jo Walker war lange Zeit anwesend. Als er sich von Tom Rowland verabschiedete, sagte dieser: "Sei unbesorgt, meine Männer kriegen ihn weich. Die bringen sogar einen Stummen zum Singen." Jo klopfte seine Tasche ab. "Hast du mal eine Zigarette für mich?" Ich habe meine im Wagen vergessen." Tom hob grinsend die Hand. "Moment, mein Freund, der Schnorrer bin ich. Vertausche die Rollen nicht. Im übrigen hättest du dir etwas Intelligenteres einfallen lassen können, statt nachzuplappern, was ich neulich gesagt habe." "Wieso denn? Meine Zigaretten liegen wirklich im Wagen." "Schon gut. Ich treib zwei Stäbchen für uns auf", sagt der Captain, begab sich zur Tür und rief Ron Myers herein. "Hast du was zu rauchen für uns?" Der Lieutenant sah seinen Vorgesetzten an und seufzte: "Was tust du, wenn ich mir eines Tages das Rauchen abgewöhne, Tom?" "Ich lege mir einen anderen Stellvertreter zu", erwiderte der Captain schlagfertig. Nach der Zigarette verließ Kommissar X das Police Center. Es war Abend geworden. Jo aß unterwegs eine Kleinigkeit und rief sein Büro an. April war am Weggehen. Sie sagte, sie hätte mehrmals versucht, ihn zu erreichen. "Was liegt an?", fragte Jo. Daß man auf ihn geschossen hatte, behielt er für sich. Er wollte nicht, daß sich April im nachhinein noch aufregte. "Joanna McIntire hat sich gemeldet", berichtete April. Kommissar X hielt kurz die Luft an. "Ist etwas mit ihrem Vater?" "Er hat das Bewußtsein wiedererlangt." "Das ist ja großartig!" Jo freute sich, obwohl er den Mann nicht persönlich kannte. "Joanna befürchtet, daß du nun darauf dringst, mit ihm zu sprechen", sagte April. "Er ist aber noch nicht soweit." "Dafür habe ich volles Verständnis. Aber ein solches Gespräch ist auch nicht mehr nötig. Die Ereignisse haben sich so weiterentwickelt, daß ich auf seine Aussage verzichten kann. Neil McIntire könnte mir nichts mehr erzählen, was ich nicht schon weiß." "Etwas in dieser Art habe ich ihr gesagt." "Es war in meinem Sinn", sagte Jo. "Jo..." "Ja, Schatz?" "Ich mache mir Sorgen wegen dieses Anrufs - du weißt schon." "Das brauchst du nicht. Es ist alles in bester Ordnung", erwiderte Kommissar X. "Geh nach Hause. Ich kann es mir nicht leisten, dir Überstunden zu bezahlen."
* Jo war im "Blue Horse" gewesen und hatte sich umgesehen. Der Schuppen war gerammelt voll. Man kriegte da drinnen Platzangst. Der Gag der Bar war, daß man von echten Transvestiten bedient wurde, und einer davon - der Hübscheste - war Skippy Blackman. Er Copyright 2001 by readersplanet
hatte so viel zu tun, daß es unmöglich war, ihn zu sprechen. Jo blieb nichts anderes übrig, als sich zu gedulden. Er hatte erfahren, daß Skippys Dienst bis halb zehn dauerte, dann würde er abgelöst und nach Hause gehen. Es war kurz nach neun, und es machte Jo nichts aus, eine halbe Stunde auf Skippy zu warten. Er hatte den jungen Mann in Aktion erlebt. Aus Skippys Verhalten ließ sich leicht schließen, daß er für Mädchen nicht mehr als ein freundliches Lächeln übrig hatte. Skippy Blackman mochte - obwohl selbst ein Mann - Männer. Wenn er John Holliman Unterschlupf gewährte, geschah das vermutlich nicht ganz ohne Hintergedanken. Vielleicht rechnete Skippy damit, daß sich Holliman in einer ganz bestimmten Weise für die Hilfsbereitschaft erkenntlich zeigte. Jo Walker saß nun wieder in seinem Mercedes und wartete. Ihm gegenüber leuchtete ein riesiger blauer, Neon-Pferdekopf, durch den man das "Blue Horse" betrat. Jo stippte die Asche der Pall Mall in den Aschenbecher am Armaturenbrett. Er hob die Zigarette und betrachtete nachdenklich die Glut. In letzter Zeit rauchte er zuviel. Er beschloß, sich einzuschränken, und fing sofort damit an, indem er die Zigarette ausdrückte. Er brauchte für den Kampf gegen die Unterwelt eine eiserne Konstitution, und die wurde vom Nikotin nicht gerade gefördert. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, hörte er sich an, was es auf der Welle des Polizeifunks Neues gab. Das war zwar nicht erlaubt, aber wo kein Kläger, da kein Richter. Dann erschien Skippy Blackman endlich auf der Bildfläche. Ein überschlanker Bursche, den man für ein Mädchen halten mußte. Seine Bewegungen waren voller Anmut und Grazie. Er hatte keine Probleme mit den hohen Stöckelschuhen. Ich würde mir damit glatt die Füße brechen, dachte Jo, während er Skippy Blackman beobachtete. Der Transvestit hatte ein hübsches, gekonnt geschminktes "Mädchengesicht" mit gezupften Augenbrauen und sinnlich geschwungenen, kirschroten Lippen. Sein Busen mußte aus Gummi sein, aber er übertrieb es damit nicht, die Wölbungen waren nur sehr sanft und dezent. Er trug ein Kleid, das bei jedem Schritt um seine wohlgeformten Beine wippte. Jo kannte einige Frauen, die Skippy um diese Beine beneidet hätten. Der Transvestit trippelte zu einem resedagrünen Buick und stieg ein. Jo wartete, bis der Buick losfuhr. Dann folgte er ihm, in der Hoffnung, Skippy Blackman würde ihn direkt zu John Holliman führen.
* Der blonde Transvestit tastete nach seiner ordentlichen Frisur, schloß die Wohnungstür auf und trat ein. Er knipste Licht an, und im nächsten Augenblick packte ihn eine harte, brutale Männerhand und riß ihn herum. Er quiekte erschrocken und wollte die Arme heben, um sein hübsches Gesicht zu schützen, doch Corbinos Faust war schneller. Der Treffer warf Skippy Blackman gegen Tür. "Nicht!", kreischte er. "Um Himmelswillen...!" Er wollte sich umdrehen, die Tür aufreißen und fliehen, doch das ließ der Killer nicht zu. Er zerrte ihn von der Tür fort und drosch mit wuchtigen Schlägen auf ihn ein. Nach einem schmerzhaften Tiefschlag krümmte sich Skippy Blackman. Ein Aufwärtshaken richtete ihn wieder gerade, und dann folgte ein Schwinger, der ihn von den Beinen riß. Seine Schönheit verging. Das Make-up war verschmiert, unter dem linken Auge wölbte sich eine rote Schwellung, Blut tropfte aus seiner Nase, und seine Lippen waren so dick wie die eines Negers. Copyright 2001 by readersplanet
Schluchzend wollte er sich erheben, doch Corbinos Tritt warf ihn zur Seite. Er blieb zitternd liegen und preßte die Arme gegen den schmerzenden Leib. "Großer Gott...!" "Wo ist Holliman?", fragte der Killer scharf. "Man hat mir gesagt, du würdest in verstecken!" "Er - er ist - nicht hier", preßte Skippy Blackman abgehackt hervor. "Verdammt, ich will nicht wissen, wo er nicht ist!", herrschte ihn Corbino an. "Ich habe dich gefragt, wo er ist!" "Nicht hier", schluchzte Skippy. "Nicht hier..." Für diese Antwort bestrafte ihn der Killer mit einem weiteren Tritt. "O Gott!", heulte Skippy. "Verdammt, sag mir endlich, wo Holliman ist!", schrie Corbino zornig. "Ich - weiß es - doch - nicht." "Warum sagt man mir, du hättest ihn bei dir aufgenommen, und dann ist er nicht hier?" "Er - wollte zu mir kommen, hat es sich dann - aber anders überlegt." "Ich wette, du weißt, wo er steckt. Sag es mir, verfluchte Tunte, sonst sorge ich dafür, daß du nie mehr einen Freund aufreißen wirst." "Ich - ich habe keine Ahnung..." Corbino schlug ihn wieder. "Ich weiß es wirklich nicht", stöhnte der Transvestit völlig erledigt. Dave Corbino zog seine Pistole. Diesmal war kein Schalldämpfer aufgeschraubt. Der Killer hatte nicht die Absicht, zu schießen. Er wollte Skippy Blackman nur zu Tode erschrecken. Er setzte ihm die Waffe an die Kehle und fauchte: "Ich frage dich zum letztenmal: Wo ist John Holliman?" "Mein Gott, ich weiß es doch nicht", jammerte der Transvestit. Und Dave Corbino glaubte ihm. Er richtete sich auf und ließ die Pistole verschwinden. Er war davon überzeugt, daß in einer solchen Situation jeder die Wahrheit sagte. "Wenn du zur Polizei gehst, bist du dran", sagte der Killer hart. "Du hattest einen Unfall und bist gegen eine offene Schranktür gelaufen, verstanden?" "Ja", röchelte der Transvestit, "ja..." "Bist ein kluger Junge. Oder möchtest du lieber ein kluges Mädchen sein?", höhnte Corbino. "Ein Jammer, daß dir die Natur etwas geschenkt hat, wofür du keine Verwendung hast." Er lachte dreckig und ging. Skippy Blackman hatte im Moment nicht die Kraft, sich zu erheben. Er kroch auf allen vieren ins Bad, zog sich am Waschbecken hoch und blickte in den Spiegel. Als er sah, wie schrecklich ihn Corbino zugerichtet hatte, weinte er mit zuckenden Schultern. Übelkeit würgte ihn. Er beugte sich über das Becken, und sein Magen krampfte sich zusammen, aber er konnte sich nicht übergeben. Er wünschte diesem brutalen Hund die Pest an den Hals. Vorsichtig wusch er Blut und Schminke ab. Hinter ihm öffnete sich das Fenster, und ein Mann sprang ins Bad: John Holliman.
* "Dieses Schwein!", stieß Holliman entrüstet hervor. "Als er die Wohnung betrat, stieg ich aus dem Fenster. Ich stand fast eine halbe Stunde draußen auf dem Sims. Er hat dich furchtbar zugerichtet. Laß mal sehen." Copyright 2001 by readersplanet
Skippy bedeckte sein Gesicht mit zitternden Händen. "Ich will nicht, daß du mich so siehst." "Sei nicht albern, Skippy. Laß mich dir helfen. Das bin ich dir schuldig. Ich kenne niemanden, der das für mich auf sich genommen hätte. Ich stehe tief in deiner Schuld und werde dir das nie vergessen. Ich werde mich auch ganz bestimmt erkenntlich zeigen. Du erhältst Geld von mir, 'ne Menge Geld." "Ich brauche dein Geld nicht." "Unsinn, Mäuse kann man immer brauchen." "Es gibt etwas, das mehr wert ist als Geld - Freundschaft, John." "Ja", sagte Holliman bewegt. "O ja, du bist ein wahrer Freund. Ich werde den heutigen Tag bis an mein Lebensende nicht vergessen. Ich habe vor, ins Ausland zu gehen..." "Erzähl mir nichts. Ich will es nicht wissen. Je weniger ich weiß, desto besser ist es für dich", sagte Skippy. "Sobald ich die Klunker in Geld umgesetzt habe, hörst du von mir", versprach John Holliman. "Ich werde mich erkenntlich zeigen, und ich werde sehr großzügig sein, denn das hast du verdient. Komm ins Wohnzimmer. Wie du weißt, war ich mal Boxer. Ich weiß, was man tun muß, wenn man so aussieht wie du. Ich habe manchmal noch viel schlimmer ausgesehen. Meine eigene Mutter hätte mich nicht wiedererkannt. Ich hatte selbst Schwierigkeiten, zu glauben, daß dieses Stück rohes Fleisch, das ich im Spiegel sah, ich war." Während Holliman den Freund verarztete, sagte er, er habe wegen des Vorfalls ein furchtbar schlechtes Gewissen. Skippy winkte matt ab. "Vergiß es, John." "Das kann ich nicht. Ich hätte dich dieser Gefahr nicht aussetzen dürfen. Welches Schwein mag Corbino gesteckt haben, daß ich hier bin?" "Wir werden es nie erfahren", sagte Skippy. "Wenn ich es herauskriege, wird der Kerl im Handumdrehen so aussehen wie du, das schwöre ich dir. Ich glaube, es ist besser, wenn ich deine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehme." "Wohin willst du gehen?" "Ach, ich verkrieche mich in irgendeiner unscheinbaren Absteige. Stell dir vor, Corbino kehrt zurück, dann gibt es hier zwei Leichen. Ich möchte nicht, daß du meinetwegen auch noch draufgehst, Skippy. Corbino ist ein gerissener, verflucht mißtrauischer Bastard. Für den Augenblick hat er dir geglaubt, daß du keine Ahnung hast, wo ich bin. Inzwischen wird er sich die Sache aber noch mal gründlich überlegt haben. Vielleicht ist ihm klargeworden, was du für einen Freund auf dich nimmst. Ich darf dich nicht noch tiefer hineinreißen, Skippy, deshalb werde ich dich verlassen."
* Zunächst war Dave Corbino davon überzeugt gewesen, von Skippy Blackman die Wahrheit gehört zu haben. Doch dann wurde im klar, daß er den Knaben, der so gern ein Mädchen gewesen wäre, nicht hart genug angefaßt hatte. Skippy hatte ihn belogen. Das wußte er, seit er in der Reihe der parkenden Fahrzeuge John Hollimans Wagen entdeckt hatte. Skippy vertrug mehr, als er ihm zugetraut hätte. Der Transvestit hatte Holliman Unterschlupf gewährt! Vielleicht wußte Skippy Blackman nicht, wo John Holliman im Augenblick war. Das, aber nur das, war Corbino bereit, zu glauben. Alles andere entsprach nicht der Wahrheit, und dafür würde er Skippy gelegentlich einige schlimme Dinge antun, damit er begriff, daß man einen Dave Corbino nicht belügen durfte. Wir sehen uns wieder, Skippy Blackman, dachte der Killer grimmig. Und das wird für dich höchst unerquickliche Folgen haben. Copyright 2001 by readersplanet
Da er John Holliman nicht in Skippys Wohnung angetroffen hatte, nahm er an, daß der Ganove kurz weggegangen war. Da Hollimans Wagen hier stand, glaubte Corbino, daß sich der Juwelenräuber nicht sehr weit von seinem Versteck entfernt hatte und bald wieder erscheinen würde. Es würde sich also lohnen, auf ihn zu warten. Der Killer begab sich zu seinem Wagen und stieg ein. Das Haus, in dem der Transvestit wohnte, und Hollimans Wagen befanden sich in Corbinos Blickfeld. Er machte es sich so bequem wie möglich und schaute auf die Armaturenbrettuhr. Es war kurz vor 22 Uhr. Wenn alles so lief, wie er sich das vorstellte, würde ihm noch in dieser Nacht ein kleines Vermögen in den Schoß fallen. Die Vorfreunde ließ ihn grinsen. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte genüßlich. Es passiert höchst selten, daß Jo Walker jemanden, den er beschattete, aus den Augen verlor. Schließlich hatte er darin einige Übung. Ganz war er vor so einem Mißgeschick jedoch nie gefeit. Pannen kann es immer geben. Es war ein schwacher Trost für ihn, zu wissen, daß er daran nicht schuld war, daß er keinen Fehler begangen hatte. Er hatte Skippy Blackman "an der langen Leine traben" lassen, um nicht aufzufallen, denn wenn der Transvestit gemerkt hätte, daß er verfolgt wurde, wäre er mit Sicherheit nicht nach Hause gefahren. Jo hatte dafür gesorgt, daß der Sichtkontakt nicht abriß, und er glaubte nicht, daß es schwierig sein würde, Skippy bis zu seiner Wohnung zu folgen. Der Transvestit bog um die Ecke, und Jo drückte ein bißchen mehr aufs Gaspedal, um dranzubleiben. Da torkelte plötzlich zwischen zwei Fahrzeugen ein Betrunkener auf die Fahrbahn. Jo bremste gedankenschnell und verriß. Damit verhinderte er, daß er den Mann, der überhaupt nicht reagierte, frontal erwischte. Der Alkoholisierte stieß seitlich gegen den Mercedes und wurde zurückgeschleudert. Seine Arme flogen hoch, und er landete höchst unsanft auf dem Hintern. Er hatte die Frechheit, zu brüllen, als Jo aus dem Wagen sprang: "He, bist du wahnsinnig? Hast du keine Augen im Kopf? Man sollte dir den Führerschein wegnehmen!" "Haben Sie sich verletzt?", fragte Jo. "Du bist ein Mörder, am Volant. Es gibt viel zu viele von euch, deshalb ist man in dieser Stadt seines Lebens nicht mehr sicher. Jedes Überqueren der Straße wird zu einem Abenteuer, von dem man nicht weiß, wie es ausgeht." "Sie sollten Ihrem Schutzengel danken, daß die Sache so glimpflich abging", sagte Jo. Er wollte dem Mann helfen, aufzustehen, doch dieser stieß seine Hände brüsk zurück. "Nicht anfassen, Mann!", schrie er zornig. "Jordan! Um Himmels willen, da bist du ja!", rief eine dicke Frau aufgeregt. "Wie konntest du nur - allein - über die Straße - in deinem Zustand! Bist du okay, Jordan?" "Klar bin ich okay. Ich habe Knochen wie Eisen." "O Gott, o Gott" "Hör auf mit dem Gezeter, Jenny." "Du hättest tot sein können." "Quatsch! Nicht mal einen Kratzer habe ich abgekriegt." Die Frau, die um mindestens zehn Jahre älter aussah als der Mann, half ihm ächzend auf die Beine. Es stellte sich heraus, daß die beiden miteinander verheiratet waren. Jordans Zeigefinger stach in Jos Richtung. "Deine Autonummer merke ich mir. Das wird ein Nachspiel haben. Du wirst niemanden mehr über den Haufen fahren, dafür werde ich Copyright 2001 by readersplanet
sorgen." "Aber der Mann hat doch überhaupt keine Schuld, Jordan", wandte Jenny ein. "Halt's Maul, Jenny, davon verstehst du nichts", schnauzte Jordan sie an. Jo gab der Frau seine Karte. "Sollte noch ein Problem auftauchen, rufen Sie mich an." "Vielen Dank", sagte sie. "Und entschuldigen Sie..." "Hast du 'ne Meise?", schrie Jordan. "Wieso entschuldigst du dich bei dem Kerl?" Jo kehrte zu seinem Wagen zurück. "Komm, Jordan", sagte Jenny. "He!", rief der Betrunkene. "Wo wollen Sie hin? Ich will, daß die Polizei die Sache zu Protokoll nimmt. Wenn Sie jetzt weiterfahren, wird man Sie wegen Fahrerflucht belangen!" "Aber es ist doch zum Glück nichts passiert, Jordan", sagte die Frau. "Wozu soll die Polizei..." "Hier geht es ums Prinzip. Man muß diese Rowdies zur Räson bringen. Verdammt noch mal laß ,mich los, Jenny. Laß mich sofort los, sonst kannst du was erleben!" Doch Jenny hielt ihn fest. Sie führte ihren unvernünftigen, randalierenden Mann regelrecht ab. Ohne Hoffnung stieg Jo Walker ein und setzte die Fahrt fort. Den Sichtkontakt zu Skippy Blackmans Wagen wiederherzustellen war ausgeschlossen. Jo bog dort ab, wo der Transvestit um die Ecke verschwunden war, und fuhr auf gut Glück ein Stück weiter. Er überlegte, ob er zum "Blue Horse" zurückfahren und sich nach Skippys Adresse erkundigen sollte. Ob man sie ihm nennen würde, war allerdings fraglich. Man war dazu schließlich nicht verpflichtet. Als Jo schon fast soweit war, das Handtuch zu werfen, wurde er vom Glück verwöhnt. Das war nur gerecht nach dem, was ihm das Unglück mit dem betrunkenen Jordan beschert hatte. Er entdeckte Skippy Blackmans Wagen am Straßenrand, und als er sich nach einer Parkmöglichkeit umschaute, bedachte ihn der Himmel mit einem noch viel größeren Geschenk, nämlich mit John Holliman. Der Kerl mit der Sattelnase eilte zu seinem Wagen und stieg ein. Holliman erweckte einen gehetzten, ängstlichen Eindruck. Er sah aus, als hätte ihm Skippy Blackman eine ganz entsetzliche Nachricht überbracht. Als der Juwelenräuber losfuhr, erkannte Jo Walker, daß dies eine Nacht voller Überraschungen war, denn von der Bürgersteigkante löste sich nach wenigen Augenblicken ein zweites, Fahrzeug und folgte dem Ganoven. War das der Mann, der Brad Sturges erschossen hatte? Heftete sich der Killer soeben an die Fersen des zweiten Juwelenräubers? Für Kommissar X war das ein zusätzlicher Grund, John Holliman zu folgen, und er hoffte, daß ihm nicht wieder ein Betrunkener vor den Wagen torkelte.
* Dave Corbino bereitete sich nicht die Mühe; unentdeckt zu bleiben. Er trieb John Holliman wie einen Hasen vor sich her. Sobald Holliman wußte, daß er verfolgt wurde, geriet er in Panik, und kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. Corbino war ein geldgieriger, herzloser Teufel. Er hatte Walkie getötet und Skippy übel zugerichtet. Holliman brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was der Killer mit ihm anstellte, wenn er ihn erwischte. "Verdammter Unsinn!", stieß Holliman unglücklich hervor. Copyright 2001 by readersplanet
Es war keine gute Idee gewesen, den Juwelier auszurauben. Damit hatten sie sich eine Menge Ärger eingehandelt. Einen Augenblick überlegte Holliman, ob er nicht einfach stoppen und mit Corbino reden sollte. Der Killer wollte die Klunker haben. Wenn er sie erhielt, würde er ihn, Holliman in Ruhe lassen, denn dann hatte er ja, wonach er gierte. Aber Corbino war eiskalt und unberechenbar. Vielleicht würde er ihn trotzdem umlegen - um sicherzugehen, daß er nicht versuchte, ihm die Beute wieder abzujagen. Soviel Mut hätte Holliman zwar niemals aufgebracht, aber das konnte Corbino nicht wissen. Vielleicht wollte der Killer auch verhindern, daß sich John Holliman in seiner maßlosen Wut an die Polizei wandte. Wenn du anhältst, schmeißt du dein Leben weg! dachte Holliman. Das wäre soviel wie ein Todesurteil. Er sah nur eine Chance für sich: Zu kämpfen - und die Juwelen zu behalten. Er raste aus der Stadt, befand sich nicht mehr in New York, sondern in Yonkers. In der Nähe des Hillview Reservoirs wurde Kies gewonnen. Baggermaschinen wühlten sich dort Tag und Nacht in die Tiefe und warfen Sand und Schotter auf die endlos langen Förderbänder. Dorthin fuhr John Holliman. Er hatte da mal kurz gearbeitet und kannte sich in der Kiesgrube auf jeden Fall besser aus als Corbino. Diese bessere Ortskenntnis wollte er ausnutzen. Wenn er Glück hatte, half sie ihm, den Kampf, der ihm von Dave Corbino aufgezwungen wurde, für sich zu entscheiden. KIES-UNION stand auf einem gelben Schild, das schwarz umrandet war. Holliman fuhr an einem hohen, turmähnlichen Gebäude vorbei, das mit schwarz lasierten, ungehobelten Brettern verkleidet war. Sein Wagen sauste unter Förderbändern durch, vorbei an Sandbergen verschiedenster Körnung. Die Autoreifen wühlten sich durch hellbraunen Schlamm, und wenig später stemmte Holliman den Fuß auf das Bremspedal. Der Wagen rutschte, brach seitlich aus und blieb stehen. Holliman sprang aus dem Fahrzeug, dessen Tür offenblieb. Seinen Smith & Wesson nahm er mit.
* Dave Corbino hielt seine Pistole schon in der Hand, als er ausstieg. Vorsichtig näherte er sich dem leeren Wagen des Juwelenräubers und warf einen Blick hinein. Dann drehte er sich langsam um und suchte mit schmalen Augen den Ganoven, der sich irgendwo in der Nähe versteckt hatte. Im Moment war Holliman im Vorteil. Er brauchte sich nur nicht zu rühren, konnte abwarten - und schießen, sobald sich eine günstige Gelegenheit bot. Corbino hingegen war gezwungen, den Mann zu suchen. Wenn er Holliman erwischen wollte, mußte er einiges mehr riskieren als dieser. Er war dazu bereit. Als Belohnung winkte ihm immerhin eine fette Beute, die er mit niemandem zu teilen brauchte. Maschinenlärm erfüllte die riesige Kiesgrube. Klackend fielen in der Nähe kindskopfgroße Steine von einem Förderband auf einen kegelförmigen Haufen. "Holliman!", rief der Killer in den Lärm. "Hörst du mich, Holliman?" Der Juwelenräuber, antwortete nicht. "Laß uns vernünftig miteinander reden. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung, die uns beide befriedigt!" Copyright 2001 by readersplanet
Holliman blieb in Deckung. "Du befürchtest, daß ich dir nach dem Leben trachte, Holliman, aber das ist nicht der Fall. Ich hätte auch Walkie nicht getötet, wenn er nicht so unvernünftig gewesen wäre. Er drehte plötzlich durch und griff zur Waffe. Ich war gezwungen, schneller zu schießen. Es war Notwehr, ich schwör's dir. Wir wollen doch beide nicht, daß sich das wiederholt, deshalb schlage ich ein Gespräch vor." Holliman stellte sich weiterhin tot. "Warum antwortest du nicht?", fragte der Killer, während er sich mit kleinen Schritten vorwärtsbewegte. "Traust du mir nicht? Ich kann dich verstehen. Ja, ich kann dich wirklich verstehen, John. Du hältst mich für ein ganz großes Schwein, und ich will nichts beschönigen. Ich gebe zu, daß ich mir die Klunker unter den Nagel gerissen hätte, wenn das möglich gewesen wäre. Was ich deinem Freund Skippy Blackman angetan habe, tut mir ehrlich leid. Er hätte mich nicht belügen sollen. Das brachte mich so sehr in Rage, daß ich kaum mehr wußte, was ich tat. Jedem können einmal die Nerven durchgehen, John. Wir sind alle nur Menschen. Wo bist du? Komm her zu mir! Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nichts tun. Ich kann dich ja gar nicht umlegen, denn nur du weißt, wo die Juwelen sind. Genaugenommen hast du alle Trümpfe in der Hand. Warum spielst du sie nicht aus?" John Holliman lag auf dem vibrierenden Gestänge einer Förderbrücke und beobachtete den Killer, der sich langsam näherte. Er glaubte Corbino kein Wort. Dem tat nichts leid, und es hatte ihm bestimmt Spaß bereitet, Walkie zu töten. Es wäre für ihn auch ein Vergnügen, mich umzulegen, dachte Holliman grimmig, aber ich habe die besseren Karten. Verdammt, Corbino, du wirst hier krepieren! Er richtete sich vorsichtig auf und brachte den Smith & Wesson in Anschlag. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Es ging beinahe über seine Kräfte, noch zu warten, aber er durfte nicht voreilig abdrücken, sonst verfehlte die Kugel ihr Ziel, und Corbino wußte, wo er sich befand. "Hör zu!", rief Dave Corbino. "Ich sehe ein, daß ich mit meiner Forderung zunächst etwas übermäßig war, aber man kann mit mir reden. Ich gebe mich auch mit einem geringeren Anteil zufrieden. Du hattest die Arbeit, also soll dir auch ein größeres Stück vom Kuchen gehören. Sag mir, mit wieviel Prozent du mich beteiligen möchtest, und ich sage dir, ob ich damit einverstanden bin. Ist das nicht ein faires, vernünftiges Angebot?" Der Schweiß tropfte von Hollimans Stirn. Corbino sollte noch drei Schritte tun, dann würde er schießen. Er zählte im Geist mit: Eins - zwei - drei - Feuer! Er drückte ab. Corbino wirbelte herum und stürzte zu Boden. Und er stand nicht mehr auf!
* Ein brennender Schmerz durchtobte Corbinos Hüfte. Er preßte die Zähne zusammen und erweckte den Anschein, tödlich getroffen zu sein. Aber zum Glück war John Holliman ein lausiger Schütze. Seine Kugel hatte ihn nur gestreift. Mit diesem Schuß hatte Holliman seine Position verraten. Jetzt wußte der Killer, wo sich sein Gegner befand. Er blieb liegen, damit Holliman nicht noch einmal feuerte. Reglos wie eine Leiche lag Corbino da, und er spähte zu der Förderbrücke hinauf, die Pistole in der Hand. Jetzt brauchte er sich nur noch in Geduld zu fassen, dann hatte Holliman keine Chance mehr. "Corbino?" Holliman richtete sich zaghaft auf. "Corbino!", rief er lauter. Nun war es der Killer, der sich tot stellte.
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Holliman fiel darauf herein. Er erhob sich, und Dave Corbino konnte sich die Stelle aussuchen, wo er ihn treffen wollte. Die erste Kugel durfte Holliman noch nicht töten. Erst nachdem er sein Geheimnis preisgegeben hatte, würde ihn Corbino eiskalt erschießen.. Im Augenblick genügte es dem Killer, den Ganoven von dort oben herunterzuholen. Er zog durch, und John Holliman brüllte auf. Corbino schnellte hoch, und Holliman fiel ihm schwer verletzt vor die Füße. "So, mein Freund!", knurrte Corbino. "Jetzt verrätst du mir, wo die Juwelen sind, sonst drücke ich noch einmal ab und wiederhole meine Frage. Und wenn du dann immer noch nicht antwortest, kracht meine Kanone ein drittes Mal. Glaub mir, das hältst du nicht durch. Du würdest mit jeder Kugel ein bißchen mehr sterben. Noch hast du die Chance, am Leben zu bleiben. Sobald ich das Versteck kenne, verschwinde ich, und ich rufe von unterwegs die Bullen an. Man wird dich holen und im Krankenhaus zusammenflicken. Ich bin nicht interessiert an deinem Leben. Es hat keinen Wert für mich. Niemand bezahlt mich dafür, daß ich dich umlege. Also - ich höre. "Fahr zu Hölle, Corbino!", gurgelte Holliman, und Blut rann aus seinem Mund. "Du bist ein Idiot", sagte Corbino gleichgültig und richtete die Pistole auf den Schwerverletzten.
* Jo Walker folgte Holliman und seinem "Schatten" bis zur Kies-Union. Er hielt einen großen Sicherheitsabstand und stoppte den Mercedes rechtzeitig, damit man ihn nicht bemerkte. Jetzt eilte er zu Fuß an einem Steinkegel vorbei und suchte, mit der Automatic in der Faust, die beiden Männer. Er hatte seine Pistole nachgeladen, und ein Reservemagazin befand sich in seiner Tasche. Von den Förderbändern, unter denen er hindurchlief, rieselte dünner Staub auf ihn nieder. Er kriegte davon auch einiges in die Atemwege, das ließ sich nicht vermeiden. Zwischen zwei Sandbergen schimmerte ihm der polierte Lack einer Limousine entgegen. Er änderte geringfügig seinen Kurs, und Augenblicke später entdeckte er die beiden Verbrecher. Holliman lag auf dem Boden, und soeben richtete der Killer seine Waffe auf ihn. "Halt!", schrie Kommissar X und sprang in Combat-Stellung. Er irritierte den Killer. Der Mann feuerte nicht auf John Holliman, sondern wirbelte herum und schoß auf Jo. Kommissar X hechtete zur Seite und zog ebenfalls durch. Der Killer ließ sich fallen und schoß das Magazin seiner Pistole leer. Rings um Jo spritzten Steine hoch. Er war gezwungen, den Kopf unten zu lassen. Als sich der Killer verschossen hatte, sprang, er auf und gab Fersengeld. Geduckt hetzte er durch die Dunkelheit, immer wieder blitzschnell einen Haken schlagend. Während des Laufens wechselte er das Magazin, und als Jo sich erhob, ballerte der Killer schon wieder drauflos. Kommissar X kurvte um einen Sandhaufen herum. Er wollte dem schießwütigen Killer in die Flanke fallen, doch der Mann ließ sich auf nichts ein. Er ließ sich den Kampf nicht aufzwingen, sondern setzte alles daran, seinen Wagen zu erreichen, und das schaffte er auch. Jo keuchte auf das Fahrzeug zu. Der Killer ließ den Motor aufheulen und drehte den Wagen im Power Slide um. Jo versuchte das Auto mit mehreren Kugeln zu stoppen. Es glückte ihm nicht. Schwänzelnd und hüpfend sauste das Fahrzeug aus der Kiesgrube und verschwand. Jo konnte dem Killer nicht folgen, denn John Holliman brauchte Hilfe. Er kehrte um. Holliman hustete Blut. "Wer sind Sie?", fragte er erschöpft. "Jo Walker, Privatdetektiv. Wer war der Mann, der auf Sie geschossen hat?" Copyright 2001 by readersplanet
"Dave Corbino, ein Killer. Er hat meinen Freund Brad Sturges umgebracht, und heute wollte er mich... Sie sind hinter den Juwelen her, Walker, nicht wahr? Genau wie Corbino." "Ja. Haben Sie ihm gesagt, wo Sie die Beute versteckt haben?" "Er wollte es wissen, wollte mich zwingen, das Versteck preiszugeben, aber ich habe geschwiegen. Wir hätten das Ding nicht drehen sollen. Es brachte uns kein Glück. Walkie und ich hatten nicht das nötige Format. Wir haben uns zweifellos übernommen, und jetzt ist Walkie tot, und ich werde es auch nicht überstehen." "Sie schaffen es, Holliman", sagte Jo. Er bemühte sich um einen zuversichtlichen Klang seiner Stimme. "Corbinos erster Schuß sollte Sie nur zum Reden bringen. Ich sorge dafür, daß Sie ins Hospital gebracht werden." Holliman krallte die Finger in seine Brust. "Ich befürchtete von Anfang an, daß der Coup eine Nummer zu groß für uns sein würde, aber ich gestand es mir selbst nicht ein. Manchmal ist man so entsetzlich verbohrt. Man weigert sich, seine Grenzen zu erkennen, tut einen leichtsinnigen Schritt darüber hinaus und endet so wie ich - oder wie Brad Sturges. Sie werden mich der Polizei übergeben." "Das muß ich", sagte Jo. "Es ist richtig, daß man mich einsperrt. Für soviel Dummheit gehört man bestraft. Wie geht es Neil McIntire?" "Er ist über dem Berg", erwiderte Jo. Holliman schloß erleichtert die Augen. "Sie erhalten mildernde Umstände, wenn Sie mir verraten, wo sich die Juwelen befinden", sagte Kommissar X. "Ich möchte, daß Sie mir etwas versprechen, Walker. Dafür kriegen Sie auch die Juwelen." "Ich höre." "Jagen Sie Corbino." "Genau das habe ich vor", sagte Jo grimmig. "Und legen Sie ihm das Handwerk." "Versprochen", sagte Kommissar X und eilte zum Mercedes. Durch das Seitenfenster sah er das Blinken des Lämpchens am Autotelefon. Jo riß die Tür auf, setzte sich und hob ab. "Ja?" "Jo? Hier ist Tom. Sag mal, wo treibst du dich herum? Nirgendwo bist du zu erreichen. Weder in deinem Büro-Apartment noch in Musi's Bar & Grill noch in deinem Wagen." "Blödsinn, im Wagen hast du mich erreicht." "Ja, aber erst nach dem dritten Versuch." "Wer fragt in einem Monat noch danach?", sagte Jo. "Habe ich es dir nicht prophezeit? Nun ist es passiert, Jo. Schneller, als ich erwartet habe. Meine Männer haben den Vogel zum Singen gebracht." "Wes Morton?" "Richtig." "Ich beglückwünsche dich zu deinen Vernehmungsspezialisten." Tom lachte. "Schön muß man nicht sein, aber ein gutes Fingerspitzengefühl muß man haben, um die richtigen Leute zu finden. Die würden sogar einem Eisenschädel wie dir jedes Geheimnis entreißen. Wes Morton hatte keine Chance. Er ging in die Knie und hat uns den Namen des Killers verraten." "Dave Corbino", sagte Kommissar X. "Warum hast du mich nicht gefragt?" "Verdammt, Jo, woher weißt du...?" "Ich fasse es als meine Pflicht auf, euch immer um eine Nasenlänge voraus zu sein", erwiderte Jo, und dann berichtete er dem Leiter der Mordkommission Manhattan C/II, was sich ereignet hatte. Copyright 2001 by readersplanet
"Ich schicke einen Sani-Copter", versprach Tom Rowland. "Großartig. Erzähl mir noch schnell, was ihr über Corbino im Computer habt." "Nicht umwerfend viel", mußte der Captain gestehen. "Ich bin bescheiden", sagte Jo, und Tom informierte ihn. Es ging John Holliman sichtlich schlechter, als Kommissar X zu ihm zurückkehrte. Sein Gesicht war wächsern geworden. Er schien bereits viel Blut verloren zu haben. Es handelte sich um eine innere Blutung. "Ein Hubschrauber ist unterwegs", sagte Jo zu dem Schwerverletzten. "Es wird ein Arzt an Bord sein. Nun sind Sie dran, John. Wo sind McIntires Juwelen?" "Danny - Carradine hat sie. Danny C A R R A D I N E - der Bauchredner. Er weiß es nicht wir haben ihm die Klunker untergejubelt. Er sollte sie für uns ins Ausland schaffen - nach Frankreich. Dort hätten wir sie ihm wieder heimlich abgenommen. Er gibt heute seine letzte Vorstellung. Morgen reist er ab. Nach Paris. Dort beginnt seine Europatournee. Die Juwelen befinden sich - in seinen Puppen. Niemand würde sie dort drinnen suchen. Wir hielten das für eine gute Idee." "Sie ist tatsächlich nicht schlecht", sagte Jo. "Wo tritt Carradine denn auf?" "Im Palladium, auf dem Broadway, um 21 Uhr und um Mitternacht." "Die Mitternachtsshow schaffe ich noch. Ich denke, Sie sollten jetzt nichts mehr sagen", erklärte Kommissar X. "Das strengt Sie zu sehr an. Sie werden das bißchen Kraft, das Ihnen bleibt, noch dringend brauchen." Hollimans teigiges Gesicht verzerrte sich, und als es sich wieder entspannte, war er ohnmächtig. Aus der Ferne drang das Knattern eines Hubschraubers an Jos Ohr, und wenig später sah er die Positionslichter des Sani-Copters. Ein lichtstarker ,Scheinwerfer flammte unter der Kanzel auf und tastete die Kiesgrube ab. Jo lief dem Licht entgegen und ruderte mit den Armen, um sich bemerkbar zu machen. Augenblicke später setzte der Helikopter auf. Ein Arzt gab Jo die Hand. "Wo ist der Schwerverletzte?" fragte er. Jo wies mit dem Daumen über seine Schulter. "Er hat das Bewußtsein verloren, Doc. Sein Brustkorb muß voller Blut sein." "Das zapfen wir ihm ab." Der Rettungsarzt begab sich zu Holliman. Zwei Männer folgten ihre mit einer Trage. Sie schafften den Verletzten zum Hubschrauber und schoben ihn hinein. "Fliegen Sie mit?", fragte der Doktor. "Nein, Doc", erwiderte Kommissar X. "Ich habe noch einige wichtige Dinge zu erledigen."
* Dave Corbino kochte vor Wut. Wes Morton hatte es nicht geschafft, ihm den Schnüffler vom Hals zu schaffen. Irgend etwas mußte schiefgelaufen sein. Vielleicht lebte Wes nicht mehr. Recht geschieht es ihm, dachte Corbino zornig. Es ist kein Platz für Nieten auf dieser Welt! Ihm war klar geworden, daß er sich selbst hätte um Walker kümmern müssen. Die Juwelen hätten ihm nicht wichtiger sein dürfen. Wohin das geführt hatte, war ihm jetzt klar. Er stand mit leeren Händen da, hatte einen schmerzhaften Streifschuß an der Hüfte und war gezwungen gewesen, die Flucht zu ergreifen. Diese Schmach! Noch nie war er vor jemandem davongerannt. Das nagte in ihm. Tausend glühende Stacheln schienen sich in seine Seele zu bohren. Er mußte sich Genugtuung verschaffen und sich und diesem Jo Walker beweisen, daß er besser war, als es im Moment aussah. Copyright 2001 by readersplanet
Er hatte sich nicht weit abgesetzt. Auf einem einsamen, dunklen Parkplatz entkleidete er sich im Wagen so weit, wie es nötig war, um den Streifschuß zu verarzten. Die Autoapotheke war gut bestückt. Sogar eine schmerzstillende Einwegspritze war vorhanden. Corbino reinigte die mäßig blutende Wunde, bestrich sie mit einer antiseptischen Flüssigkeit, schmierte eine dicke Schicht Heilsalbe drauf, legte weichen Mull darüber und klebte diesen mit breiten Pflasterstreifen fest. Dann folgte die Spritze. Er stach sich die Kanüle in den Oberschenkel, ohne zu zögern. Er war noch nie zimperlich gewesen. Der Schmerzpegel, den er vertragen konnte, reichte sehr weit. Nachdem er in die Autoapotheke zurückgelegt hatte, was er nicht mehr brauchte, zog er sich an. Seine Hose wies zwei Löcher auf und war blutgetränkt. Es störte ihn nicht. Die Nacht sorgte dafür, daß es niemand sah. Als er den Metalldorn der Gürtelschnalle durch das Loch im Leder schob, knatterte ein Hubschrauber in Richtung Kies-Union. Corbino wußte, welches Ziel der Helikopter anflog. Er hatte seine Kugel präzise ins Ziel gebracht und war sich über die Folgen des Treffers klar. Er hatte die Anatomie des Menschen studiert. Das war wichtig für seinen Beruf. So war er nämlich in der Lage, seinen Opfern ein langes, schmerzvolles oder kurzes, schmerzloses Ende zu bescheren. Als der Sani-Copter wieder abflog, startete Dave Corbino seinen Wagen.
* Danny Carradine Abschiedsvorstellung im Palladium war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Jo Walker mußte ein paar zusätzliche Scheine spendieren, um einen Notsitz zu ergattern. Der Platzanweiser stellte für ihn weit vorn an der Seite einen Stuhl auf, von wo aus Jo die Mitternachtsshow des Bauchredners mit schiefem Hals verfolgen konnte. Jo war daheim vorbeigefahren und hatte sich in aller Eile umgezogen, denn so dreckig, wie er draußen in Yonkers geworden war, hätte man ihn nicht ins Palladium gelassen. Carradine war ein Meister der Bauchredekunst. Man sah niemals, wenn er einer seiner lustig aussehenden Puppen die Stimme lieh. Er war ein Künstler, der für einen Gag seine Seele verkaufte. Vom billigsten Klamauk bis zum intelligentesten Witz war alles in seiner lebendigen, sprühenden Show. Mit einer geradezu spielerisch anmutenden Leichtigkeit riß er sein Publikum zu Lachstürmen hin. Zwischen den einzelnen Nummern brandete immer wieder frenetischer Applaus auf den Danny Carradine mit sympathischer Bescheidenheit entgegennahm. Er war rothaarig, hatte ein schmales Gesicht und eine spitze Nase. Wenn er lächelte, erkannte man, daß ihm der Schalk im Nacken saß. Er war mit Leib und Seele bei der Sache, und es bereitete ihm sichtlich großes Vergnügen, die Menschen zum Lachen zu bringen. Er setzte die Pointen zielsicher wie Wurfpfeile. Sie trafen alle ins Schwarze. Das war in diesem Fall das Zwerchfell. Als die Mitternachtsshow am Ende war, wollte der Applaus nicht enden. Leidenschaftlich forderte das Publi-kum eine Zugabe und erhielt sie. Noch einmal ließ Danny Garradine alle seine Puppen reden - jene Puppen, in denen sich die Juwelen im Wert von 360.000 Dollar befanden. Niemand ahnte es. Nicht einmal Danny Carradine. Er ließ die blond gelockte Sheila, die auf seinem Schoß saß und von allen Puppen am besten angekommen war, sagen, daß es nirgendwo ein besseres Publikum gäbe als in New York, und deshalb würde sie nach der Europatournee hierher zurückkehren - mit oder ohne Danny Carradine. Copyright 2001 by readersplanet
Danach verließ der Künstler mit seinen Freunden, die er so virtuos zum Leben erweckt hatte, die Bühne, und Jo Walker mußte sich von einigen zusätzlichen Geldscheinen trennen, um zu ihm durchgelassen zu werden. Danny Carradine hatte sich auf der Bühne - man hatte es ihm nicht angemerkt - völlig verausgabt. Jetzt saß er müde und abgespannt in seiner kleinen Garderobe, wischte Schweiß und Schminke ab und rauchte die Zigarette, die er sich redlich verdient hatte. Der Rauch zog durch das halboffene Fenster ab. Die Puppen saßen in Reih und Glied auf einem Sofa. Jo warf ihnen beim Eintreten einen wissenden Blick zu. Er nannte seinen Namen, und der Bauchredner dachte, es mit einem Journalisten zu tun zu haben. "Für welches Blatt schreiben Sie, Mister Walker?", fragte er, nachdem er Jo Platz angeboten hatte. "Für keines", antwortete Kommissar X. "Ich bin in der 'Blut-Schweiß-und-Tränen-Branche' tätig. Ich bin Privatdetektiv, Mister Carradine, und ich bin froh, es geschafft zu haben, der Spur bis hierher zu folgen." Der Bauchredner lächelte."»Ich fürchte, ich muß Ihnen eine herbe Enttäuschung bereiten, zu mir führt keine Spur. Man scheint Sie im Verlauf Ihrer Ermittlungen in die Irre geleitet zu haben." Jo schüttelte den Kopf. "Ich bin hier richtig." "Ich habe eine absolut saubere Weste. In meinem ganzen Leben habe ich mir noch nie etwas zuschulden kommen lassen." "Davon bin ich überzeugt, Mister Carradine. Dennoch stehen Sie am Ende meiner Spur. Sie - oder beziehungsweise Ihre lustigen Puppen, die zum erstenmal in ihrem Puppendasein in ein Verbrechen verwickelt worden sind." "Das kann nicht sein." Jo wies auf die leblosen Kollegen des Bauchredners, die ihn unschuldig anlächelten. "In diesen Puppen befinden sich Juwelen im Wert von dreihundertachtzigtausend Dollar. Zwei Ganoven, Brad Sturges und John Holliman, haben ihre Beute hinter Ihrem Rücken in den Puppen versteckt. Sie sollten die Juwelen für Sturges und Holliman außer Landes bringen. In Paris hätten sich die beiden Ihre Beute ebenso heimlich wiedergeholt." Der Bauchredner sah Jo fassungslos an. "Das ist ja... Also es fällt mir schwer, Ihnen das zu glauben, Mister Walker" "Das kann ich verstehen. Sie wären beinahe zum Boten zweier Verbrecher geworden. Würden Sie die Puppen nun öffnen und mir die Juwelen übergeben, damit ich sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen kann?" Jo war irritiert, als der Bauchredner den Kopf schüttelte. "Es befinden sich mit Sicherheit keine Juwelen in diesen Puppen, Mister Walker", erklärte er. "Würden Sie bitte mal nachsehen?", forderte Jo den Künstler auf. "Das ist nicht nötig. Ich weiß, daß die Puppen leer sind." "Mister Carradine, halten Sie mich für eine männliche Scheherazade? Ich bin kein Märchenerzähler. Was ich sage, stimmt: Ich möchte es Ihnen und Ihren netten Freunden ersparen, daß ich sie auseinandernehme, um einen Blick in ihr Inneres zu werfen, denn dabei könnte sehr leicht etwas kaputtgehen. Sie haben in diesen Dingen bestimmt mehr Geschick und Wissen, wo man die Puppen öffnet, ohne daß sie Schaden nehmen." "Ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, daß diese Puppen leer sind, Mister Walker." "Warum sträuben Sie sich, es mir zu beweisen?", fragte Jo hartnäckig. "Weil Sie nicht jene Puppen vor sich haben, mit denen ich mein Programm bisher bestritt. Dies hier ist eine neue Garnitur, die ich heute abend erstmals vor der Europatournee einsetzte." "Und wo ist die alte Garnitur?", fragte Jo wie aus der Pistole geschossen. Copyright 2001 by readersplanet
"Die befindet sich bei Anthony Jones. Er ist Puppenmacher, der Beste, den ich kenne. Wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Niemand versteht meine Ideen so gekonnt zu realisieren wie er. Während ich mit den neuen Puppen Europa bereise, wird Anthony die alte Garnitur reparieren, neu lackieren und kleine Verbesserungen vornehmen." "Und er wird die Juwelen finden. Hat sie vielleicht schon gefunden", sagte Jo. "Du meine Güte, stellen Sie sich vor, Sturges und Holliman wären Ihnen nach Frankreich nachgereist und hätten die Beute nicht in den Puppen gefunden. Die hätten Ihnen nie und nimmer geglaubt, daß Sie die Juwelen nicht an sich genommen haben. Das hätte für Sie höchstunangenehme Folgen gehabt, Mister Carradine. Wo wohnt der Puppenmacher?" "Er hat ein Haus auf Staten Island." Danny Carradine nannte die Adresse. Im selben Moment hörte Kommissar X, wie sich draußen jemand schnell entfernte. Das Gespräch war belauscht worden. Jo stürzte zum halboffenen Fenster: Er riß es ganz auf und erkannte im Streulicht einer Straßenlaterne - den Killer Dave Corbino. Jetzt wußte auch er, wo sich die Juwelen befanden.
* Corbino verschwand um die Ecke. Jo sprang aus dem Fenster, ohne sich von Carradine zu verabschieden. Ein Wagen raste los. Der Killer war zu Anthony Jones unterwegs. Beharrlichkeit führt zum Ziel. Wieder einmal bewahrheitete sich dieser Spruch. Corbino hatte gute Aussichten, die Juwelen doch noch zu erbeuten. Er würde den Puppenmacher töten, wenn dieser Carradines Puppen nicht sofort hergab, daran bestand für Kommissar X nicht der geringste Zweifel. Ein Mann wie Corbino fackelte nicht lange. Sein überzeugendstes Argument war die Waffe in der Hand. Er ließ lieber sie reden, als selbst zu sprechen. Jo hetzte zu seinem Mercedes. Den Wagen des Killers sah er nicht, aber er kannte dessen Ziel. Bei der Befürchtung, Corbino könnte mit dem, was er vorhatte, Erfolg haben, krampfte sich sein Magen zusammen. Jo raste auf die Südspitze Manhattans zu. Er lenkte das Auto mit einer Hand, griff nach dem Hörer des Autotelefons und setzte sich mit April Bondy in Verbindung. Seine Sekretärin hatte schon geschlafen, aber Jos Geschichte ließ sie im Handumdrehen hellwach werden. "Verschaff dir die Telefonnummer des Puppenmachers", erklärte Kommissar X hastig. "Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß es unter Umständen um Leben und Tod geht! Du mußt den Mann warnen. Er soll sich in seinem Haus verbarrikadieren und darf auf keinen Fall jemanden einlassen. "Jo wiederholte sicherheitshalber den Namen des Puppenmachers: "J O N E S, Anthony Jones!" "Ich habe verstanden, Jo", sagte April und legte auf. In wenigen Augenblicken würde der Puppenmacher Bescheid wissen und tun, was ihm April Bondy in Jos Auftrag empfohlen hatte. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, die Barrikade zu durchbrechen. Bis dahin würde Jo, so hoffte er wenigstens, zur Stelle sein und den Killer daran hindern, das Haus des Puppenmachers zu betreten. Während der Rush Hour stank es im Brooklyn Battery Tunnel erbärmlich. An manchen Tagen konnte man meinen, sich in einer Gaskammer zu befinden. Die Abgaswerte näherten sich trotz bester Katalysatorentechnologien einer bedrohlichen Grenze. Jetzt, zwischen zwei und drei Uhr morgens, war die Luft nur wenig belastet. In Brooklyn steuerte Kommissar X die Verrazzano Narrows Bridge an, und sobald sie sich hinter ihm befand, hatte er Staten Island unter den Rädern.
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April rief aufgeregt zurück. "Ich kann Anthony Jones nicht erreichen, Jo. Er hat sein Telefon abgeschaltet." "Dann setz dich mit Tom Rowland in Verbindung. Er müßte im Police Center sein. Sag ihm, er soll sich schleunigst etwas einfallen lassen. Was, das überlasse ich seiner Intelligenz."
* Anthony Jones war ein Nachtmensch, der nicht viel Schlaf brauchte. Er arbeitete oft bis spät in die Nacht hinein. Puppen herstellen war einmal sein Hobby gewesen. Heute war es sein Beruf, und er war noch mit derselben Liebe und Begeisterung wie früher bei der Sache. Heute nacht hatte ihn ein Film aus den Fünfzigerjahren daran gehindert, zu Bett zu gehen. Als der bewegende Streifen zu Ende gewesen war, hatte man zum x-tenmal eine alte Jerry-Lewis-Show wiederholt. Jones hattes sie schon so oft gesehen, daß er jeden Gag kannte. Er konnte darüber einfach nicht mehr lachen, deshalb schaltete der das TV-Gerät ab und unternahm noch einen Rundgang durch das Haus. Seine Werkstatt nahm die Hälfte des Erdgeschosses ein. Hier stellte er neue Puppen her, manchmal nach eigenen Ideen oder nach den Wünschen der Kunden. Und er reparierte Puppen, die nicht mehr voll funktionstüchtig waren. In der Werkstatt wie im übrigen Haus war alles in Ordnung. Jones hatte das Telefon abgeschaltet, damit ihn nach zweiundzwanzig Uhr niemand mehr erreichen konnte. Er tat es nicht seinetwegen, sondern weil er auf seine Frau Rücksicht nahm, die zumeist kurz nach neun zu Bett ging. Sally konnte Tag und Nacht schlafen. Was er zuwenig davon konsumierte, kriegte sie zuviel. Er gönnte es ihr, denn er wußte, daß sie den Schlaf brauchte. Nach zwanzig Jahren Ehe weiß man um die Bedürfnisse des Partners bestens Bescheid. Vorsichtig wie ein Einschleichdieb betrat Anthony Jones das gemeinsame Schlafzimmer. Er brauchte kein Licht, denn er fand sich auch in der Dunkelheit zurecht. Fünf Schritte zum Bett, umdrehen, setzen, Pantoffel abstreifen... Sally würde nichts davon bemerken. Doch in dieser Nacht war Sally noch wach. Sie tat es kund, indem sie ihren Mann mit der Hand leicht berührte. "Du schläfst nicht?", fragte Anthony Jones beinahe vorwurfsvoll - vielleicht auch ein wenig schuldbewußt. War er nicht leise genug gewesen? Hatte der Fernsehapparat zu laut gespielt? "Mein Rücken - das dumme Rheuma. Es läßt mich wieder einmal nicht schlafen", murmelte Sally Jones. "Soll ich dir den Rücken einreiben? Es müßte noch genug von dieser höllisch brennenden Tinktur da sein." "Es ist schon spät..." "Das stört mich nicht." "Morgen früh..." "Ach was, das erledigen wir gleich. Es wird dir guttun." Anthony Jones stand noch einmal auf und begab sich ins Bad. Als er den Spiegelschrank öffnen wollte, schlug jemand mit einem harten Gegenstand an die Haustür, als wollte er das Holz zertrümmern. "Das darf ja wohl nicht wahr sein!", entrüstete sich der Puppenmacher. "Der Kerl muß verrückt sein". Wer sonst verfiele auf die Idee, zu dieser Stunde jemandes Tür einzuschlagen?" Neue Schläge hallten durch das Haus. "Ja, ja!", rief Anthony Jones, im Pyjama aus dem Bad tretend. "Ich komme ja schon!" Copyright 2001 by readersplanet
Er schaltete Licht an und stieg mißmutig die Treppe hinunter. Wenn die Person dort draußen keinen triftigen Grund für diesen Auftritt hatte, konnte sie etwas erleben. Jones knipste auch im Erdgeschoß Licht an, und als er die Tür einen Spalt breit öffnete, stieß jemand kraftvoll seinen Fuß dagegen. Die Tür knallte gegen Jones' Schulter. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Er schrie auf und taumelte zurück. "Ja sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?", rief er empört. Im nächsten Moment starrte er entsetzt auf die Pistole, die auf ihn gerichtet war. "Um Himmels willen...!, flüsterte er. "Maul halten!", herrschte ihn Dave Corbino an. Er packte den Puppenmacher und setzte ihm die Waffe unter den Wangenknochen. Jones erstarrte vor Angst. Oben auf der Treppe erschien Sally, im Schlafrock, mit zerzaustem Haar. "Anthony, was ist..." Corbino schickte eine Kugel zu ihr hinauf. Sally Jones ergriff kreischend die Flucht. Corbino hatte nicht auf sie gezielt. Er wollte sie nur verscheuchen. "Sind Sie wahnsinnig?", schrie der Puppenmacher außer sich vor Entsetzen. "Sie schießen auf meine Frau?" "Verdammt, ja, und damit du Bescheid weißt, Opa: Mich kratzt es nicht im geringsten, euch beide umzulegen. Verstehen wir uns?" Anthony Jones wurde kreidebleich. "Was - was wollen Sie? Ich habe kein Geld im Haus." "Aber Klunker, 'ne ganze Menge Klunker", sagte Corbino. "Und die will ich haben." "Klunker? Da muß sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt haben. Ich habe nur diesen goldenen Ehering. Sie werden ihn mir doch nicht... Ich kriege ihn nicht mehr ab..." "Du kannst deinen Ehering behalten. Wo sind Danny Carradines Puppen? "Was wollen Sie denn damit?" "Carradine hat sie dir gegeben, damit du sie reparierst und wieder in Schuß bringst. Du kannst dir die Arbeit sparen. Ich nehme sie mit. Wo sind sie? Los! Zeig sie mir!" Der Puppenmacher wankte in die Werkstatt und wies auf die Puppen, die dem Bauchredner gehörten. "Hast du sie schon geöffnet?", fragte Corbino. "Danny sagte, es hätte damit keine Eile, ich könne mir Zeit lassen. Die Europatournee dauert zwei Monate." Dave Corbino raffte die fünf Puppen zusammen und klemmte sie sich unter den linken Arm. "Was um alles in der Welt wollen Sie mit den Puppen? Die sind nicht aus Juwelen oder Gold", sagte Anthony Jones heiser. "Das weiß ich, aber sie haben eine goldene Seele, und die gehört jetzt mir", sagte Corbino grinsend. Nach dieser Antwort war der Puppenmacher davon überzeugt, es mit einem Geisteskranken zu tun zu haben.
* Als Corbino aus dem Haus stürmte, traf Jo Walker ein. Der Killer hetzte zu seinem Wagen und warf die Puppen hinein. Er stieg noch nicht ein, sondern ging hinter der offenen Wagentür in Deckung, und als Jo aus dem Mercedes sprang, eröffnete der Verbrecher das Feuer auf ihn. Im Haus schrie Sally Jones um Hilfe und nach der Polizei, während sich Kommissar X und der Killer ein heißes Kugelduell lieferten. Corbino wurde immer zorniger, weil es ihm nicht Copyright 2001 by readersplanet
gelang, Jo Walker auszuschalten. Der Bastard kostete ihn Zeit, hielt ihn auf, aber er wollte sich nicht aufhalten lassen. Seiner Ansicht nach waren die Polizisten zwar lahme Schnecken, aber irgendwann würden sie doch hier eintreffen und Walkers Feuerkraft verstärken. Es war klüger, sich zu verdrücken, bevor es hier brenzlig wurde. Noch einmal davonlaufen! Durchzuckte es den Killer. Aber diesmal war es keine Niederlage, sondern ein taktisch richtiger Rückzug. Er hatte, was er wollte. Die Juwelen gehörten ihm. Wenn Walker ihm jetzt auch noch so sehr zusetzte, so war er doch der Verlierer, weil es ihm weder gelungen war, die Juwelen wiederzubeschaffen, noch ihn, Corbino, zu überwältigen. Das genügte dem Killer. Er konnte Walker zwar nicht abknallen, fühlte sich aber dennoch als großer Sieger, denn in seinem Besitz befand sich eine Beute, die fast 400.000 Dollar wert war. Corbino stellte das Feuer ein und sprang in den Wagen. Eine Staubfontäne schoß nach hinten weg, als er losraste. Jo nahm die Verfolgung auf. Wohin der Killer auch rasen würde, Jo würde hinter ihm sein. Corbino würde es nicht gelingen, ihn abzuhängen. Irgendwann würde der Killer stehenbleiben müssen, und dann würden sie den Kampf fortsetzen und beenden. Im Moment kämpften sie am Volant. Die beiden Fahrzeuge waren ungefähr gleich stark und gleich schnell. Mit einer ausgefeilteren, routinierteren Fahrtechnik gelang es Kommissar X Stück um Stück aufzuholen. Das ließ den Killer nervös werden. Corbino unternahm alles, um seinen Verfolger loszuwerden. Er feuerte sogar auf den Mercedes, doch Jo zog seinen Wagen in den toten Winkel, und die Kugeln gingen weit daneben. Ein Fahrzeug raste ihnen entgegen - mit Rotlicht und Sirene, aber kein Streifenwagen. Das Polizeiauto stellte sich plötzlich quer, und der Fahrer, ein Koloß, sprang heraus. Captain Tom P. Rowland! Sein Dienstwagen versperrte die Straße. Er hielt einen Revolver in beiden Händen und wartete. Statt Gas wegzunehmen, trat Corbino das Pedal bis zum Anschlag durch. Jo Walker begann zu bremsen. Er war davon überzeugt, daß Corbino ausgespielt hatte. Es gab keine Chance mehr für Dave Corbino! Doch der Killer versuchte es mit der Brechstange. Ein Vorbeikommen an Captain Rowlands Wagen war nur möglich, wenn Corbino das Fahrzeug zur Seite rammte, und genau das hatte er vor. Mit starren Zügen und verkniffenem Mund hielt er auf Toms Wagen zu. Er bereitete sich auf die Aufprallwucht vor, die groß genug sein würde, um das Hindernis zur Seite zu befördern. Jo Walker bremste stärker, und Captain Rowland eröffnete das Feuer. Er jagte vier Kugeln durch den Lauf. Der heranrasende Wagen geriet geringfügig vom Kurs ab, krachte gegen das Heck des Polizeifahrzeugs, stellte sich auf und fuhr auf zwei Rädern. Corbino bemühte sich verzweifelt, den Wagen wieder mit allen vier Räder auf die Straße zu bringen. Es gelang ihm nicht. Er hatte nicht mehr die Kraft dazu, denn er war verletzt. Einen Lidschlag später verlor er vollends die Herrschaft über sein Auto. Es drehte sich und überschlug sich. Die Tür auf der Fahrerseite platzte auf, und Corbino schien von einer riesigen unsichtbaren Faust herausgerissen zu werden. Er landete hart auf der Straße, und der Wagen wälzte sich auf ihn. Sein eigener Wagen erdrückte ihn, und um ihn herum lagen die aufgeplatzten Puppen des Bauchredners. Glitzerndes Geschmeide hing aus ihren Köpfen und Bäuchen. Copyright 2001 by readersplanet
Juwelen - Dave Corbino war bereit gewesen, alles zu tun, um sie zu besitzen, und er hatte diese verteufelte Gier mit dem Leben bezahlt.
* Jo hielt dem Freund wortlos die Pall-Mall-Packung hin. Sie rauchten. "Das hat er nun davon", sagte der Captain grimmig. "Ich werde Kerle wie Corbino nie verstehen. Sie schwingen sich selbst zum Herrn über Leben und Tod auf und morden eiskalt für Geld. Zumeist kennen sie ihre Opfer überhaupt nicht. Die Leute, die sie umbringen, haben ihnen nie etwas getan. Sie richten ihre Waffe auf jeden, wenn sie dafür bezahlt werden. Was ist das für eine Moral, Jo?" "Eine ganz miese", erwiderte Kommissar X. "Und bei uns im Police Center sitzt ein Junge, der darauf brennt, in Corbinos Fußstapfen zu treten. Ein Vertreter der nächsten Killergeneration." "Wes Morton." Jo nickte. "Vielleicht rüttelt es ihn wach, wenn du ihm zeigst, wie sein Idol endete. Manchmal tut ein Schock wahre Wunder. Sobald die Abzüge des Polizeifotografen fertig sind, zeig sie dem Jungen. Wenn er nur ein bißchen Grips im Schädel hat, wird er begreifen, daß er den falschen Weg eingeschlagen hat, und er wird umkehren." "Oder er redet sich trotzig ein, daß ihm so etwas nicht passiert." "Dann wird er eines Tages enden wie Corbino", sagte Jo. Ein Patrol Car traf ein, wenig später ein zweiter. Als Tom Rowlands Kollegen aufkreuzten, räumte Kommissar X das Feld, und die Mühlen der Polizei fingen an zu mahlen. Als Jo zu Hause eintraf, rief April Bondy an. "Ich kann nicht schlafen, solange ich nicht weiß, wie die Sache ausging", sagte sie. "Es ist vorbei", sagte Jo müde. "Corbino wird niemanden mehr für Geld ins Jenseits schicken. Er befindet sich nun selbst dort. Leider ist diese Spezies damit nicht ausgestorben. Corbinos wird es immer geben. Es ist ja so leicht, einen ahnungslosen Menschen umzubringen und dafür viel Geld zu kassieren. Man muß nur skrupellos genug sein." "Solange es Männer wie dich gibt, werden die Corbinos nicht überhandnehmen", sagte April. "Das beruhigt mich." "Geh zu Bett. Wir sehen uns morgen, aber nicht zu früh." "Ich komme um zehn." "Okay", sagte Jo und legte auf. Aprils Kaffee weckte Viertel nach zehn seine Lebensgeister. Um elf Uhr traf er im Police Center ein, um seine Aussage abzufassen. Nachdem er das Protokoll unterschrieben hatte, wies er auf die Fotos, die auf Tom Rowlands Schreibtisch lagen. Schonungslose Dokumente waren das, die kalt und nüchtern veranschaulichten, welches Ende man nahm, wenn man Dave Corbino nacheiferte. "Warst du damit schon bei Wes Morton?", erkundigte sich Kommissar X. "Hast du ihm diese Aufnahmen gezeigt?" "Das war gleich das erste, was ich heute morgen tat", sagte der Captain. "Und? Wie hat er's aufgenommen?" "Nach außen hin mit stoischer Gelassenheit. Aber er konnte mich nicht täuschen. Ich sah ihm an, daß er innerlich zusammenbrach. Für Wes Morton stürzte eine Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er war zutiefst erschüttert. Den Mann, der für ihn der Inbegriff all dessen war, was er einmal erreichen wollte, tot auf der Straße liegen zu sehen, ging ihm gehörig an die Nieren. Er wird umdenken. Er hat begriffen, daß das, was Corbino getan hat, daß das Leben, das Corbino geführt hat, nicht so erstrebenswert ist, wie es noch bis vor kurzem für ihn aussah. Ich glaube, er ist froh, es nicht geschafft zu haben, dich zu töten." Copyright 2001 by readersplanet
Jo lachte trocken. "Was glaubst du, wie froh ich erst darüber bin." "Lädst du einen armen Polizeibeamten zum Essen ein?", fragte der Captain. "Würde ich tun, aber zum Glück gibt es keine armen Polizeibeamten. Ihr bezieht alle ein fürstliches Gehalt." "Von wegen..." "Ihr werdet entsprechend eurer Leistung entlohnt." "Du meinst das hoffentlich nicht so, wie ich es aufgefaßt habe, denn das würde unsere Freundschaft beträchtlich trüben." "Bist du sehr hungrig?", fragte Jo vorsichtig. "Aber nein." "Na schön, gehen wir", sagte Jo, aber diesen Entschluß bereute er wenig später, denn der Captain futterte die Speisekarte rauf und runter. "Wer für zwei arbeitet, der muß auch für zwei essen", bemerkte er zwischen Haupt- und Nachspeise. "Das leuchtet mir ein", entgegnete Jo Walker. "Aber wieso baggerst du gleich für die ganze Abteilung?" Er kehrte mit Tom nach zwei Stunden ins Police Center zurück und übernahm die Juwelen. Um fünfzehn Uhr betrat er mit Joanna McIntire das Krankenhaus. Der Juwelier lag nicht mehr auf der Intensivstation. Als Joanna die Tür zu seinem Krankenzimmer öffnete, setzte Neil McIntire die Brille mit den dicken Gläsern auf und lächelte ihr erfreut entgegen. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, und er erzählte, daß die Ärzte mit dem Fortschritt seiner Genesung zufrieden seien. "Das freut mich", sagte Joanna glücklich. "Dann darf ich dich wohl bald mit nach Hause nehmen." "Das wird noch einige Zeit dauern", sagte der Juwelier. "Du weißt, ich war in letzter Zeit gesundheitlich nicht so ganz auf der Höhe. Die Ärzte wollen das auch gleich in Ordnung bringen." Joanna lächelte. "Ich erhalte einen funkelnagelneuen Vater zurück. Hoffentlich erkenne ich dich noch wieder, wenn sie dich entlassen." "Ich werde mich zu erkennen geben", sagte der Juwelier erheitert. Er schaute an seiner Tochter vorbei und musterte Kommissar X. Joanna fiel es auf. "Oh, Dad, ich möchte dir Mister Walker vorstellen. Ich bat ihn, die Verbrecher zu jagen, die dich beraubt hatten, und die Juwelen wiederzubeschaffen. Er hat den Fall innerhalb kurzer Zeit zum Abschluß gebracht und mir die Juwelen heute übergeben - Mister Walker, das ist mein Vater." Jo reichte dem Juwelier die Hand. "Ich freue mich, daß Sie wieder wohl auf sind, Mister McIntire." Der Juwelier lachte ihn an. "Und ich bedanke mich für Ihre ausgezeichnete Arbeit, Mister Walker." ENDE
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