Guillermo Martínez
Die Pythagoras-Morde
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Eichborn
Originaltitel: Crímenes imp...
179 downloads
839 Views
657KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Guillermo Martínez
Die Pythagoras-Morde
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Eichborn
Originaltitel: Crímenes imperceptibles © Guillermo Martínez, 2003 Für die deutsche Ausgabe: © Eichborn AG, Frankfurt am Main, Februar 2005 Umschlaggestaltung: Christiane Hahn Lektorat: Tina Kröckel Satz: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda Druck und Bindung: Clausen 8c Bosse, Leck ISBN 3-8218-0950-7 Verlagsverzeichnis schickt gerne: Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, 60329 Frankfurt am Main www.eichborn.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen. Der gewerbliche Weiterverkauf oder gewerbliche Verleih von Büchern, CDs, CD-ROMs, DVDs oder Videos oder anderen Produkten der Eichborn AG bedürfen in jedem Fall der schriftlichen Genehmigung.
Ein junger argentinischer Mathematikstudent geht für ein Semester nach Oxford. Er wohnt bei einer Professorenwitwe und ihrer Enkelin und lebt sich dort gut ein. Eines Tages muss er feststellen, dass seine Vermieterin ermordet wurde. Sein Mentor, Arthur Seldom, versucht, unabhängig von der Polizei und mit seinem mathematischen Sachverstand, den Mord aufzuklären. Der Student agiert als sein Gehilfe, und beide stoßen auf die Spur eines Serienmörders, der unauffällig sein Unwesen treibt. Der 1962 geborene Autor hat in seiner Heimat schon viel veröffentlicht; besonders der vorliegende Roman war dort und in Spanien ein großer Erfolg. Er ist ganz im Stil eines klassischen Krimis geschrieben, überrascht aber durch seine Vielschichtigkeit, die gekonnt gelegten (natürlich) falschen Spuren und die liebevolle Beschreibung von Oxford. Außerdem erfährt man bei diesen „nicht wahrnehmbaren Verbrechen“ (so der Originaltitel) eine Menge über mathematische Probleme.
In Gedenken an meinen Vater
Kapitel Eins
Jetzt, da soviel Zeit vergangen und alles längst vergessen ist, da mich in einer lakonischen Mail aus Schottland die Nachricht von Seldoms Tod ereilt hat, glaube ich das Versprechen, das er mir nie abverlangte, brechen und die Wahrheit über die Ereignisse erzählen zu können, die im Sommer 1993 die englische Presse mit makabren bis sensationslüsternen Titeln füllten, auf die Seldom und ich jedoch, vielleicht aufgrund der mathematischen Konnotation, immer nur als die Reihe oder die Oxfordreihe Bezug nahmen. Die Todesfälle ereigneten sich in der Tat alle innerhalb der Grenzen von Oxfordshire, zu Beginn meines Aufenthaltes in England, und mir kam das zweifelhafte Privileg zuteil, den ersten aus allernächster Nähe zu sehen. Ich war zweiundzwanzig, ein Alter, in dem so gut wie alles noch entschuldbar ist; ich hatte gerade mein Studium an der Universität von Buenos Aires mit einer Arbeit in Algebraischer Topologie abgeschlossen und begab mich zu einem einjährigen Aufenthaltsstipendium nach Oxford, mit dem heimlichen Vorsatz, mich der Logik zu widmen oder jedenfalls das berühmte Seminar von Angus Macintire zu besuchen. Meine künftige Studienbetreuerin, Emily Bronson, hatte die Vorbereitungen für mein Kommen mit skrupulöser Sorgfalt in allen Details getroffen. Sie war Professorin und Fellow des St. Anne’s, aber in den vor meiner Abreise gewechselten Mails hatte sie mir nahegelegt, von der Unterbringung in den eher ungemütlichen Zimmern des Colleges abzusehen und statt dessen, sollte mein Stipendiengeld es erlauben, lieber ein Zimmer mit eigenem Bad, einer kleinen Küche und separatem
Eingang im Haus von Mrs. Eagleton zu mieten, der, wie sie mir versicherte, überaus freundlichen und zurückhaltenden Witwe eines ehemaligen Professors von ihr. Ich überschlug mein Budget, wie immer äußerst optimistisch, und sendete einen Scheck mit der ersten Monatsmiete als Vorauszahlung, die einzige von der Vermieterin geforderte Formalität. Zwei Wochen später fand ich mich im Flugzeug über dem Atlantik wieder, in diesem Zustand der Ungläubigkeit, der mich seit jeher auf allen Reisen befallen hat; wie bei einem Salto ohne Netz erscheint es mir stets eine wesentlich wahrscheinlichere, sogar schlüssigere Hypothese – Occams Rasiermesser hätte Seldom dazu gesagt –, daß irgendein Unfall mich in letzter Minute in meine Ausgangsposition zurück- oder direkt auf den Meeresgrund befördert, als mir vorzustellen, daß ein ganzes Land und die gigantische Maschinerie, die mit jedem Neuanfang verbunden ist, sich tatsächlich vor mir auftun würden. Und dennoch durchbrach das Flugzeug am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr ruhig die Nebelbank, und unzweifelhaft wirklich tauchten die grünen Hügel Englands unter einem plötzlich matteren, oder vielleicht sollte ich sagen schwächeren Licht auf; zumindest kam es mir vor, als würde das Licht, je tiefer wir gingen, an Substanz verlieren, wie gefiltert dünner und kraftloser werden. Meine Studienbetreuerin hatte mir genaueste Angaben gemacht, welchen Bus ich in Heathrow nehmen mußte, um direkt nach Oxford zu gelangen, und sich mehrmals entschuldigt, daß sie mich bei meiner Ankunft nicht persönlich würde empfangen können, da sie die Woche über in London an einem Algebra-Kongreß teilnahm. Das störte mich nicht im geringsten, sondern schien mir geradezu ideal: Ich würde ein paar Tage für mich haben, um mir selbst eine Vorstellung von der Umgebung zu machen und die Stadt zu erkunden, bevor meine Pflichten begannen. Ich hatte nicht viel Gepäck, und als
der Bus schließlich angekommen war, überquerte ich von der Haltestelle aus mit meinen Taschen problemlos den Platz, um mir ein Taxi zu nehmen. Es war Anfang April, aber angesichts des eisigen Windes, gegen den die ziemlich blasse Sonne nicht viel ausrichtete, war ich froh, meinen Mantel angelassen zu haben. Fast alle Besucher des auf dem Platz ausgerichteten Jahrmarktes waren dafür, wie mir auffiel, in kurzen Ärmeln, ebenso wie der pakistanische Taxifahrer, der mir die Tür aufhielt. Ich gab ihm Mrs. Eagletons Adresse und fragte ihn beim Losfahren, ob ihm nicht kalt sei. »Überhaupt nicht; es ist doch Frühling«, entgegnete er und zeigte als unwiderlegbaren Beweis freudig auf die fahle Sonne. Das schwarze Taxi setzte sich feierlich in Bewegung und fuhr auf die Hauptstraße zu. Dort bog es links ab, und ich konnte zu beiden Seiten durch halboffene Holztore und Eisengitter die adretten Gärten und makellosen, glänzenden Rasen der Colleges sehen. Wir kamen an einem kleinen Friedhof mit moosbewachsenen Grabsteinen vorbei, der eine Kirche säumte. Das Taxi fuhr ein Stück die Banbury Road hoch und bog dann in den Cunliffe Close ein, die Adresse, die ich notiert hatte. Die Straße wand sich jetzt durch einen beeindruckenden Park; grünumrankt erhoben sich in ruhiger Eleganz große alte Villen, die unvermittelt an viktorianische Romane denken ließen, an Nachmittagstees, Kricketpartien und Spaziergänge durch den Garten. Wir verfolgten die Hausnummern entlang des Gehwegs, obwohl es mir angesichts des Betrags auf meinem Scheck unwahrscheinlich erschien, daß die Adresse zu einer dieser Villen gehörte. Am Ende der Straße entdeckten wir schließlich eine Reihe wesentlich bescheidenerer, aber immer noch hübscher Häuschen, die mit ihren länglichen Holzbaikonen etwas Sommerliches an sich hatten. Das erste war Mrs. Eagletons Haus. Ich lud meine Taschen aus, stieg die kleine Eingangstreppe hoch und klingelte. Aus
den Publikationsdaten ihrer Doktorarbeit und ihren ersten Artikeln hatte ich geschlossen, daß Emily Bronson mindestens fünfundfünfzig Jahre alt sein mußte, und ich fragte mich, wie alt dann wohl die Witwe eines ehemaligen Professors von ihr war. Als die Tür aufging, blickte ich in das kantige Gesicht und die dunkelblauen Augen eines großen, schlanken Mädchens, das nicht viel älter war als ich und das mir lächelnd die Hand gab. Wir sahen uns an, beide angenehm überrascht, obwohl es mir vorkam, als wiche sie vorsichtshalber ein wenig zurück, nachdem sie ihre Hand befreit hatte, die ich wohl einen Augenblick länger als schicklich festgehalten hatte. Sie nannte ihren Namen, Beth, und versuchte, mit nur mäßigem Erfolg, meinen nachzusprechen, während sie mich in ein freundliches Wohnzimmer mit einem rot-grauen Rautenteppich führte. Aus einem geblümten Sessel streckte Mrs. Eagleton mir mit einem innigen Begrüßungslächeln die Arme entgegen. Sie war eine alte Dame mit blitzenden Augen und lebhaften Bewegungen, deren weißes, flaumiges Haar sorgfältig zu einer eleganten Welle frisiert war. Während wir das Wohnzimmer durchquerten, fiel mein Blick auf den zusammengeklappten Rollstuhl, der hinter dem Sessel lehnte, und die Wolldecke mit dem Schottenmuster, die ihre Beine bedeckte. Ich gab ihr die Hand und spürte die etwas zittrige Zerbrechlichkeit ihrer Finger. Sie hielt meine einen Moment lang herzlich umfaßt und klopfte mit der Linken leicht auf meinen Handrücken, während sie mich nach meiner Reise fragte und ob ich das erste Mal in England sei. Erstaunt sagte sie: »Wir hatten nicht erwartet, daß Sie so jung sein würden, nicht wahr, Beth?« Beth, die an der Tür stehengeblieben war, lächelte stumm; sie hatte einen Schlüssel von der Wand genommen, und nachdem ich auf drei oder vier weitere Fragen geantwortet hatte, schlug sie ruhig vor:
»Großmutter, meinst du nicht, daß wir ihm jetzt sein Zimmer zeigen sollten? Er muß schrecklich müde sein.« »Natürlich«, sagte Mrs. Eagleton. »Beth wird Ihnen alles erklären. Und wenn Sie heute abend noch nichts anderes vorhaben, würden wir uns freuen, Sie zum Essen einzuladen.« Ich ging hinter Beth nach draußen. Die Eingangstreppe setzte sich in einer Spirale nach unten fort und führte auf eine kleine Tür zu. Beth duckte sich ein wenig beim Eintreten, und ich folgte ihr in einen großen, ordentlichen Raum, der trotz des Tiefparterres durch zwei hohe, fast unter der Decke gelegene Fenster ausreichend Licht bekam. Sie begann mir alle Details zu erklären, durchschritt dabei den Raum, öffnete Schubladen, zeigte mir Wandschränke, Geschirr und Handtücher mit herunterdeklamierten Ausführungen, die sie offensichtlich bereits mehrmals wiederholt hatte. Ich begnügte mich damit, das Bett und die Dusche auszuprobieren, und widmete mich in erster Linie ihrer Betrachtung. Sie hatte straffe, wettergegerbte Haut, als wäre sie übermäßig an der frischen Luft, was ihr zwar ein gesundes Aussehen verlieh, gleichzeitig jedoch vorzeitige Falten befürchten ließ. Hatte ich sie zunächst auf dreiundzwanzig oder vierundzwanzig geschätzt, tendierte ich unter diesem Licht eher auf sieben- oder achtundzwanzig. Rätselhaft wirkten vor allem ihre schönen tiefblauen Augen, die im Vergleich zu ihrem restlichen Gesicht seltsam starr wirkten, als spiegele sich aller Ausdruck und Glanz erst wie verzögert in ihnen. Das weite, ländliche Kleid mit dem runden Kragen, das sie trug, gestattete keine großen Rückschlüsse auf ihre Figur; offensichtlich war sie schlank, obwohl ein etwas aufmerksamerer Blick doch einen gewissen Spielraum einräumte und vermuten ließ, daß diese Schlankheit glücklicherweise nicht durchgängig war. Vor allem von hinten war sie durchaus eine Umarmung wert; sie hatte etwas von der Wehrlosigkeit großer Mädchen. Als sie sich umdrehte, sah sie
mir in die Augen und fragte, ich glaube ohne versteckte Ironie, ob ich sonst noch etwas wissen wolle, worauf ich beschämt wegsah und schnell antwortete, alles sei perfekt. Bevor sie ging, stellte ich ihr noch die überaus umständlich formulierte Frage, ob ich mich ihrer Meinung nach wirklich zum Abendessen eingeladen betrachten könne, was sie lachend bejahte; um halb sieben würden sie mich erwarten.
Ich packte die wenigen Dinge aus, die ich mitgebracht hatte, stapelte ein paar Bücher und Kopien meiner Abschlußarbeit auf dem Schreibtisch und brachte meine Kleidung in zwei Schubladen unter. Dann machte ich einen Spaziergang durch die Stadt. Kaum erreichte ich St. Giles, entdeckte ich auch schon das Mathematische Institut, das einzige eckige und häßliche Gebäude. Ich sah zur Eingangstreppe, auf die Drehtür aus Glas, und beschloß, daß ich an diesem ersten Tag noch gut daran vorbeigehen konnte. Ich kaufte mir ein Sandwich und machte ein einsames, leicht verspätetes Picknick am Ufer der Themse, wo ich dem Ruderteam beim Training zuschaute. Ich streifte durch einige Buchhandlungen, blieb stehen, um die Wasserspeier im Giebel eines Theaters zu betrachten, schlenderte hinter einer Gruppe Touristen durch die Arkaden eines Colleges und marschierte dann lange durch den riesigen Universitätspark. In einer baumfreien Zone mähte ein Mann gerade große Rechtecke in den Rasen, und ein zweiter malte mit Kalkfarbe die Linien eines Tennisplatzes auf. Nostalgisch beobachtete ich dieses kleine Schauspiel, und als sie eine Pause einlegten, fragte ich, wann die Netze eingehängt würden. Seit meinem zweiten Studienjahr hatte ich nicht mehr Tennis gespielt, ich hatte auch gar keinen Schläger dabei, nahm mir aber fest vor, einen zu kaufen und jemanden zu finden, mit dem ich wieder anfangen könnte.
Auf dem Rückweg rüstete ich mich in einem Supermarkt mit ein paar Vorräten aus, und schließlich fand ich auch ein Spirituosengeschäft, wo ich auf gut Glück eine Flasche Wein für das Abendessen mitnahm. Als ich zum Cunliffe Close zurückkam, war es kurz nach sechs, aber schon fast völlig dunkel, und in allen Häusern waren die Fenster erleuchtet. Es erstaunte mich, daß nirgends Vorhänge angebracht waren, und ich fragte mich, ob dies einem vielleicht übertriebenen Vertrauen darin zuzuschreiben war, daß die englische Diskretion niemanden so tief sinken lassen würde, seine Mitmenschen auszuspionieren, oder eher der ebenso englischen Überzeugung, daß es im eigenen Privatleben ohnehin nichts gab, das es sich auszuspionieren gelohnt hätte. Es waren auch nirgends Gitter zu sehen, und man hatte den Eindruck, daß viele Türen unverschlossen waren. Ich duschte und rasierte mich, suchte das in der Reisetasche am wenigsten verknitterte Hemd heraus, und pünktlich um halb sieben stieg ich die kleine Treppe hoch und klingelte mit der Weinflasche in der Hand an der Tür. Das Abendessen verlief im Zeichen der lächelnden, wohlerzogenen und etwas nichtssagenden Höflichkeit, an die ich mich im Laufe der Zeit gewöhnen sollte. Beth hatte sich ein wenig zurechtgemacht, ohne jedoch so weit gegangen zu sein, sich zu schminken. Sie trug jetzt eine schwarze Seidenbluse und ihr seitlich gekämmtes Haar umschmiegte verführerisch ihren Hals. Aber all das war ohnehin nicht für mich bestimmt; bald erfuhr ich, daß sie Cello im Kammerorchester des Sheldonian Theatre spielte, des halbrunden Theaters mit den Wasserspeiern im Fries, das ich auf meinem Spaziergang gesehen hatte. An jenem Abend hatten sie eine Generalprobe, und ein gewisser Michael hatte das Glück, sie eine halbe Stunde später abholen zu dürfen. Einen kurzen Moment lang erfüllte unbehagliches Schweigen den Raum, als ich fragte, ob das ihr Freund sei,
wovon ich ausging; die beiden blickten sich an, und als einzige Antwort fragte Mrs. Eagleton mich, ob ich nicht noch ein wenig Kartoffelsalat wolle. Während des restlichen Abendessens war Beth leicht abwesend und zerstreut, und schließlich bestritten Mrs. Eagleton und ich die Unterhaltung so gut wie alleine. Nachdem es schließlich geklingelt hatte und Beth gegangen war, wurde meine Gastgeberin deutlich lebhafter, als wäre eine unsichtbare Spannung aus der Luft gewichen. Sie schenkte sich ein zweites Glas Wein ein, und eine ganze Weile lauschte ich ihren Geschichten aus einem in der Tat bemerkenswertem Leben. Sie hatte zu den zahlreichen Frauen gehört, die während des Krieges nichtsahnend an einem landesweiten Kreuzworträtselwettbewerb teilgenommen hatten, um dann zu erfahren, daß der Preis darin bestand, rekrutiert und in ein vollkommen isoliertes Dorf geschickt zu werden, mit der Mission, Alan Turing und seinem Stab Mathematiker zu helfen, die Nazi-Codes der Chiffriermaschine Enigma zu entschlüsseln. Dort hatte sie Mr. Eagleton kennengelernt. Sie erzählte mir eine Reihe Anekdoten aus der Kriegszeit und ließ sich lange über die berüchtigte Vergiftung Turings aus. Seit sie sich in Oxford niedergelassen hätten, sagte sie, habe sie die Kreuzworträtsel gegen Scrabble eingetauscht, das sie mit einer Gruppe Freundinnen spiele, so oft sie könne. Voller Enthusiasmus fuhr sie mit ihrem Rollstuhl zu einem niedrigen Tischchen im Wohnzimmer und bat mich, ihr zu folgen, die Teller solle ich einfach stehen lassen; Beth würde sich darum kümmern, wenn sie nach Hause käme. Besorgt sah ich, wie sie aus einer Schublade ein Spielbrett zog und es auf dem kleinen Tisch aufschlug. Ich konnte unmöglich nein sagen. Und so verbrachte ich den Rest meines ersten Abends in der Bemühung, englische Worte vor dieser fast schon historischen alten Dame zu bilden, die bei jedem
zweiten oder dritten Spielzug wie ein kleines Mädchen auf juchzte und ihre sieben Buchstaben auf einen Schlag ablegte.
Kapitel Zwei
In den nächsten Tagen stellte ich mich im Mathematischen Institut vor, wo man mir einen Schreibtisch im BesucherArbeitszimmer, eine E-Mail-Adresse und eine Magnetkarte zuwies, mit der ich die Bibliothek auch außerhalb der Öffnungszeiten benutzen konnte. Ich teilte den Raum nur mit einem weiteren Studenten, einem Russen namens Podorow, mit dem ich kaum mehr als einen kurzen Gruß wechselte. Mit eingezogenen Schultern wanderte er von einem Ende des Zimmers zum anderen, beugte sich von Zeit zu Zeit über seinen Schreibtisch, um eine Formel in ein Heft mit festen Deckeln, das an ein Psalmenbuch erinnerte, zu kritzeln, und alle halbe Stunde ging er nach draußen, um eine Zigarette auf dem kleinen gepflasterten Hof unter unserem Fenster zu rauchen. Zu Beginn der folgenden Woche traf ich zum ersten Mal Emily Bronson; sie war sehr klein und hatte ihr glattes, schlohweißes Haar mit Schulmädchenspangen über den Ohren zurückgesteckt. Sie kam auf einem zu großen Fahrrad ins Institut, im Korb ihre Bücher und am Lenkrad ihr Lunchpaket. Sie hatte etwas Nonnenhaftes, Schüchternes an sich, doch mit der Zeit fand ich heraus, daß sie bisweilen einen beißenden Humor an den Tag legen konnte. Trotz ihrer Bescheidenheit schmeichelte es ihr doch, glaube ich, daß meine Arbeit den Titel Die Bronsonschen Räume trug. Bei dieser ersten Begegnung gab sie mir Sonderdrucke ihrer letzten beiden Paper, mit denen ich mich vertraut machen sollte, sowie einige Faltblätter und Pläne von Sehenswürdigkeiten in Oxford, die ich, wie sie sagte, doch besuchen solle, bevor das Semester beginnen und ich nur noch wenig Freizeit haben würde. Sie
fragte mich, ob ich irgend etwas aus meinem Leben in Buenos Aires besonders vermisse, und als ich darauf anspielte, daß ich gern wieder mit dem Tennisspielen anfangen würde, versicherte sie mir mit einem offensichtlich an wesentlich exzentrischere Wünsche gewohnten Lächeln, daß sich dies leicht arrangieren ließe. Zwei Tage später lag in meinem Fach eine Karte mit einer Einladung zu einem Doppel im Club von Marston Ferry Road. Er war nur ein paar Gehminuten vom Cunliffe Close entfernt und hatte Sandplätze. Die Spieler waren John, ein amerikanischer Photograph mit langen Armen, der gut am Netz war; Sammy, ein fast weißblonder kanadischer Biologe, schwungvoll und unermüdlich; und Lorna, eine Krankenschwester irländischer Abstammung aus dem Radcliffe Hospital mit rötlichen Haaren und leuchtendgrünen, betörenden Augen. Zu der Freude, wieder einen Sandplatz zu betreten, kam das unerwartete Vergnügen, mich beim Einschlagen einem Mädchen gegenüberzufinden, das nicht nur rundum hübsch anzusehen war, sondern auch sichere elegante Grundlinienschläge beherrschte und alle meine Bälle flach übers Netz zurückbrachte. Wir spielten drei Sätze, zwischen denen wir die Partner wechselten; Lorna und ich bildeten ein lustiges, fast unschlagbares Team, und so zählte ich während der darauffolgenden Woche die Tage, bis ich wieder auf dem Platz stand, und dann die Spiele bis zum Wechsel, der sie erneut an meine Seite brachte. Fast jeden Morgen traf ich Mrs. Eagleton; manchmal war sie schon früh, wenn ich zum Institut aufbrach, im Garten beschäftigt, und wir unterhielten uns kurz. Dann wieder sah ich sie in der Banbury Road auf dem Weg zum Markt, wenn ich mir in meiner Pause etwas zum Mittagessen kaufte. Ihr elektrischer Rollstuhl glitt wie ein ruhiges Schiff über den Gehweg, und mit einer grazilen Kopfbewegung grüßte sie die
Studenten, die ihr den Weg frei machten. Beth dagegen begegnete ich sehr selten, einmal erst hatte ich wieder mit ihr gesprochen, als ich eines Nachmittags vom Tennisspielen kam. Lorna hatte mir angeboten, mich mit dem Auto am Beginn des Cunliffe Close abzusetzen, und während ich mich von ihr verabschiedete, sah ich, wie Beth, ihr Cello im Arm, gerade aus dem Bus stieg. Ich ging ihr entgegen, um ihr das Instrument bis zum Haus abzunehmen. Es war einer der ersten wirklich warmen Tage, und ich nehme an, mein Gesicht und meine Arme hatten von dem Nachmittag in der Sonne Farbe bekommen. Sie lächelte mir vielsagend zu. »Wie ich sehe, hast du dich schon gut eingelebt. Aber solltest du nicht eigentlich Mathematik studieren, statt Tennis zu spielen und mit irgendwelchen Mädchen im Auto herumzufahren?« »Ich habe die Erlaubnis meiner Professorin«, sagte ich lachend und machte das Zeichen der Absolution. »Ach was, ich mache ja nur Spaß; im Grunde beneide ich dich.« »Mich beneiden? Worum denn?« »Keine Ahnung; du machst einen so freien Eindruck. Du läßt alles zurück, dein Land, dein normales Leben; und zwei Wochen später kommst du mir fröhlich und braungebrannt vom Tennisspielen entgegen.« »Du solltest es auch mal ausprobieren; man muß nur ein Stipendium beantragen.« Sie schüttelte mit einem Anflug von Traurigkeit den Kopf. »Ich habe es schon versucht, aber für mich ist es wohl zu spät. Natürlich würden sie es nie zugeben, aber sie vergeben die Stipendien lieber an jüngere Mädchen. Ich bin fast neunundzwanzig«, sagte sie, als handele es sich um eine Grabinschrift, und mit einem plötzlich bitteren Ton fügte sie
hinzu: »Manchmal würde ich alles darum geben, von hier wegzukommen.« Mein Blick schweifte über die grünen Mistelblätter an den Häusern, die Spitzen der mittelalterlichen Kuppeln, die Zinnen der Türme mit ihren rechteckigen Schießscharten. »Von Oxford wegzukommen? Ich könnte mir kaum einen schöneren Ort vorstellen.« Ein tiefsitzendes Gefühl von Machtlosigkeit schien flüchtig ihren Blick zu verschleiern. »Schön möglich… wenn man sich nicht die ganze Zeit um eine alte, behinderte Frau kümmern und jeden Tag etwas tun müßte, was einem schon lange nichts mehr bedeutet.« »Du spielst nicht gern Cello?« Das fand ich überraschend und interessant. Ich sah sie an, als könnte ich vielleicht für einen kurzen Moment die unbewegliche Oberfläche ihrer Augen durchbrechen und entdecken, was dahinter lag. »Ich hasse es«, sagte sie, und ihre Pupillen verdüsterten sich. »Ich hasse es immer mehr, und es fällt mir immer schwerer, es zu verheimlichen. Manchmal habe ich Angst, daß man es hören könnte, wenn wir spielen, daß der Direktor oder einer meiner Kollegen merken könnte, wie sehr ich jede einzelne Note der Partitur hasse. Aber nach jedem Konzert klatschen die Leute, und niemandem scheint etwas aufgefallen zu sein. Ist das nicht komisch?« »Tja, ich würde sagen, du kannst dich sicher fühlen. Ich glaube nicht, daß Haß eine besondere Vibration hat. In dieser Hinsicht ist die Musik so abstrakt wie die Mathematik: Sie kennt keine moralischen Kategorien. Solange du dich an die Partitur hältst, kann ich mir nicht vorstellen, wie es jemand heraushören sollte.« »Mich an die Partitur halten… mein ganzes Leben habe ich nichts anderes getan«, seufzte sie.
Wir waren an der Haustür angekommen. »Ach, hör gar nicht hin«, sagte sie und griff nach der Türklinke. »Ich hatte heute nur einen schlechten Tag.« »Aber der Tag ist doch noch nicht zu Ende«, sagte ich. »Gibt es nichts, was ich tun könnte, um ihn zu retten?« Sie sah mich mit einem traurigen Lächeln an und nahm das Cello wieder an sich. »Oh you are such a Latin man«, murmelte sie, als sei dies etwas, wovor man sich sorgsam in acht nehmen müsse, aber dennoch ließ sie mich ein letztes Mal in ihre blauen Augen schauen, während sie die Tür schloß.
Zwei weitere Wochen vergingen. Langsam begann der Sommer sich mit milden, langen Abenden anzukündigen. Am ersten Mittwoch im Mai hob ich auf dem Rückweg vom Institut an einem Bankautomaten das Geld für meine Zimmermiete ab. Ich klingelte an Mrs. Eagletons Tür, und während ich darauf wartete, daß man mir öffnen würde, sah ich, wie sich ein großer Mann mit ernstem, konzentriertem Gesichtsausdruck über den kurvigen Gehweg großen Schrittes dem Haus näherte. Ich musterte ihn aus den Augenwinkeln, als er neben mir angelangt war; er hatte eine breite, offene Stirn, kleine, tiefliegende Augen und eine auffällige Narbe am Kinn; er mochte um die fünfundfünfzig sein, verrieten seine Bewegungen auch eine unterdrückte Energie, die ihn jugendlicher wirken ließ. Etwas verlegen warteten wir nebeneinander vor der verschlossenen Tür, bis er das Wort ergriff und mich mit einem tiefen, wohlklingenden schottischen Akzent fragte, ob ich bereits geklingelt habe. Ich bejahte und klingelte ein zweites Mal. Vielleicht sei mein erstes Klingeln zu kurz gewesen, bemerkte ich dazu; bei diesen
Worten entspannte sich sein Gesicht zu einem freundlichen Lächeln, und er fragte mich, ob ich Argentinier sei. »Dann«, sagte er daraufhin in perfektem Spanisch, das kurioserweise den Akzent von Buenos Aires durchklingen ließ, »müssen Sie Emilys Schüler sein.« Überrascht bestätigte ich dies und fragte ihn, wo er Spanisch gelernt habe. Er zog die Augenbrauen hoch, als sinne er einer weit zurückliegenden Vergangenheit nach, und antwortete, das sei schon lange her. »Meine erste Frau kam aus Buenos Aires«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Arthur Seldom.« Wenige Namen hätten zu jener Zeit größere Bewunderung in mir hervorrufen können. Dieser Mann mit den kleinen hellen Augen, der mir gerade die Hand schüttelte, war unter Mathematikern bereits eine Legende. Monatelang hatte ich für ein Seminar sein berühmtestes Theorem studiert: die philosophische Weiterführung der Thesen von Gödel aus den dreißiger Jahren. Er galt als einer der vier Hauptverfechter der Logik, und allein die vielfältigen Titel seiner Arbeiten wiesen darauf hin, daß er einer der wenigen wirklich herausragenden Mathematiker seiner Zeit war; hinter dieser offenen, gelassenen Stirn waren die bedeutendsten Ideen des Jahrhunderts durchdacht und neu geordnet worden. Bei meinem zweiten Streifzug durch die Buchhandlungen der Stadt hatte ich sein letztes Werk gesucht, eine populärwissenschaftliche Abhandlung über logische Reihen, zu meiner Überraschung jedoch erfahren, daß es seit zwei Monaten vergriffen war. Jemand hatte mir gesagt, Seldom sei seit der Veröffentlichung dieses Buches bei keinem Kongreß mehr in Erscheinung getreten, und anscheinend wagte niemand, auch nur eine Vermutung anzustellen, woran er gerade arbeitete. Ich jedenfalls hatte nicht einmal gewußt, daß er in Oxford lebte, und erst recht nicht erwartet, ihm just vor
Mrs. Eagletons Haustür zu begegnen. Ich erzählte ihm, daß ich in einem Seminar ein Referat über sein Theorem gehalten hätte, und er schien erfreut über meine Begeisterung. Dennoch merkte ich, daß ihn offenbar etwas beunruhigte und sein Blick unwillkürlich immer wieder zur Tür wanderte. »Mrs. Eagleton müßte doch eigentlich zu Hause sein«, sagte er, »oder nicht?« »Ich dachte schon«, entgegnete ich, »dort steht ihr elektrischer Rollstuhl. Außer, jemand hat sie im Auto abgeholt…« Offensichtlich besorgt klingelte Seldom noch einmal, trat dann an das auf die Veranda hinausgehende Fenster und versuchte, nach innen zu sehen. »Wissen Sie, ob es noch einen Hintereingang gibt?« fragte er und fügte auf englisch hinzu: »Ich habe Angst, ihr könnte etwas zugestoßen sein.« Aus seinem Gesichtsausdruck schloß ich, daß er wirklich alarmiert war; irgend etwas schien seine Gedanken zu beherrschen und in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. »Wenn Sie meinen«, sagte ich, »können wir es mit der Haustür probieren; ich glaube, tagsüber ist sie nie abgeschlossen.« Seldom griff nach der Klinke, und die Tür öffnete sich widerstandslos. Schweigend traten wir ein; unter unseren Schritten knarrten die Leisten des Holzbodens. Von drinnen hörte man das geheimnisvolle Ticken einer Standuhr wie einen gedämpften Pulsschlag. Wir gingen ins Eßzimmer und hielten neben dem in der Mitte stehenden Tisch inne. Ich machte Seldom ein Zeichen und deutete auf die Chaiselongue neben dem Fenster zum Garten, auf der Mrs. Eagleton lag und tief zu schlafen schien, das Gesicht zur Lehne hin gewandt. Eines der Kissen war auf den Teppich gefallen, als wäre es ihr im Schlaf entglitten. Die weiße Haarwelle war sorgfältig mit einem
feinen Netz bedeckt, und ihre Brille lag auf dem Beistelltisch, neben dem Scrabblebrett. Offensichtlich hatte sie gegen sich selbst gespielt, denn beide Buchstabenständer befanden sich an ihrem Platz. Seldom ging zu ihr, und als er sie leicht an der Schulter berührte, fiel ihr Kopf schwer zur Seite. Im selben Moment sahen wir beide ihre schreckgeweiteten Augen und zwei parallele Blutfäden, die sich von der Nase übers Kinn herabzogen und am Hals zusammenliefen. Unwillkürlich tat ich einen Schritt zurück und unterdrückte einen Schrei. Seldom, der ihren Kopf mit dem Arm abgestützt hatte, rückte ihren Körper so weit wie möglich wieder zurecht und murmelte bestürzt etwas vor sich hin. Er griff nach dem Kissen, und als er es vom Teppich aufhob, wurde darauf ein großer roter, in der Mitte fast schon trockener Fleck sichtbar. Für einen Augenblick blieb er mit herabhängendem Arm stehen, das Kissen in der Hand, gedankenverloren, als ginge er den Verzweigungen einer komplizierten Gleichung nach. Er schien zutiefst verstört. Ich war es schließlich, der vorschlug, die Polizei zu rufen, worauf er mechanisch nickte.
Kapitel Drei
»Wir sollen vor dem Haus auf sie warten«, sagte Seldom lakonisch, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Ohne etwas zu berühren, gingen wir auf die kleine Eingangsveranda hinaus. Seldom lehnte sich gegen das Geländer und drehte sich stumm eine Zigarette. Seine Hände verharrten immer wieder bei einer Papierfalte oder wiederholten unaufhörlich eine Geste, als spiegelten sie Innehalten und Zögern bei der eingehenden Analyse einer Gedankenkette wieder. Seine noch wenige Minuten zuvor spürbare Niedergeschlagenheit war jetzt offenbar dem angestrengten Versuch gewichen, einen Sinn oder eine rationale Erklärung für etwas Unverständliches zu finden. Zwei Streifenwagen hielten geräuschlos vor dem Haus. Ein großer grauhaariger Mann in dunkelblauem Anzug kam auf uns zu, schüttelte uns mit festem Blick kurz die Hand und fragte nach unseren Namen. Er hatte markante Wangenknochen, die sich mit dem Alter auszuhöhlen schienen, und eine ruhige, aber entschiedene und autoritäre Art, als wäre er gewohnt, sich stets des Geschehens zu bemächtigen. »Ich bin Inspektor Petersen«, stellte er sich vor und deutete auf einen Mann in grünem Kittel, der uns im Vorbeigehen zunickte. »Das ist unser Gerichtsmediziner. Bitte kommen Sie doch einen Augenblick mit uns herein; wir haben Ihnen noch die ein oder andere Frage zu stellen.« Der Gerichtsmediziner zog sich ein Paar Gummihandschuhe an und beugte sich über die Chaiselongue; aus der Entfernung sahen wir, daß er einige Minuten lang sorgfältig Mrs.
Eagletons Leichnam untersuchte und Blut- und Hautproben nahm, die er einem seiner Assistenten reichte. Ein Photograph machte ein paar Blitzlichtaufnahmen von dem leblosen Gesicht. »Nun gut«, sagte der Gerichtsmediziner schließlich und winkte uns zu sich. »In welcher Position genau haben Sie sie gefunden?« »Ihr Gesicht war zur Lehne hin gedreht«, sagte Seldom, »und ihr Körper lag seitlich… noch etwas mehr… Die Beine waren ausgestreckt, der rechte Arm angewinkelt. Ja, ich glaube, so war es.« Er sah mich zur Bestätigung an. »Und dieses Kissen da lag auf dem Boden«, ergänzte ich. Petersen nahm das Kissen und zeigte dem Gerichtsmediziner den Blutfleck in der Mitte. »Erinnern Sie sich, wo?« »Auf dem Teppich, auf Höhe des Kopfendes, es sah so aus, als wäre es ihr beim Schlafen heruntergerutscht.« Der Photograph machte zwei oder drei weitere Aufnahmen. »Ich würde sagen«, wandte der Gerichtsmediziner sich an Petersen, »daß jemand die Absicht hatte, sie im Schlaf zu ersticken, ohne Spuren zu hinterlassen. Die betreffende Person hat vorsichtig ein Kissen unter ihrem Kopf weggezogen, ohne dabei das Haarnetz zu verschieben, oder hat das Kissen bereits auf dem Boden vorgefunden. Doch die alte Dame ist aufgewacht, während es auf ihr Gesicht gedrückt wurde, und hat womöglich versucht, sich zu wehren. Da hat der Täter es mit der Angst zu tun bekommen und hat mit der Hand, oder vielleicht sogar mit einem Knie, den Druck verstärkt und dabei, ohne es zu merken, die Nase unter dem Kissen gequetscht. Daher rührt auch das Blut, es ist einfach nur ein wenig Nasenbluten; die Äderchen sind in diesem Alter sehr verletzlich. Als er das Kissen weggezogen hat, sah er sich dann einem blutigen Gesicht gegenüber. Womöglich ist er erneut
erschrocken und hat das Kissen auf den Boden fallen lassen, ohne noch zu versuchen, irgend etwas in Ordnung zu bringen. Vielleicht dachte er sich, daß es ohnehin keinen Unterschied mehr machen würde, und hat so schnell wie möglich das Weite gesucht. Ich würde sagen, der Täter hat zum ersten Mal einen Mord begangen und ist vermutlich Rechtshänder.« Er hielt seine beiden Hände über Mrs. Eagletons Gesicht, um es zu demonstrieren. »Die Position des Kissens auf dem Teppich weist auf diese Drehung hin, was die natürlichste Bewegung für eine Person wäre, die es in der rechten Hand gehalten hat.« »Männlich oder weiblich?« fragte Petersen. »Das ist eine interessante Frage«, sagte der Gerichtsmediziner. »Es könnte ein kräftiger Mann gewesen sein, der sie allein durch den verstärkten Druck seiner Mittelhand verletzt hat, oder aber eine Frau, die sich zu schwach fühlte und ihr gesamtes Körpergewicht eingesetzt hat, um den Druck beizubehalten.« »Todeszeit?« »Zwischen zwei und drei Uhr nachmittags.« Der Gerichtsmediziner sah uns an. »Wann sind Sie gekommen?« Seldom warf mir flüchtig einen fragenden Blick zu. »Um halb fünf.« Dann fügte er zu Petersen gewandt hinzu: »Ich halte es für wahrscheinlich, daß sie gegen drei Uhr ermordet wurde.« Der Inspektor blickte ihn mit aufflackerndem Interesse an. »Ach ja? Woher wollen Sie das wissen?« »Wir beide sind nicht zusammen eingetroffen«, sagte Seldom. »Der Grund für mein Kommen war ein Zettel, eine recht seltsame Nachricht, die ich in meinem Fach im Merton College fand. Leider habe ich ihr zunächst keine große Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich vermute, es wäre ohnehin zu spät gewesen.« »Was stand auf dem Zettel?«
»Nummer eins in der Reihe«, sagte Seldom. »Nur das. In großen Druckbuchstaben. Darunter war Mrs. Eagletons Adresse angegeben und eine Uhrzeit, wie für eine Verabredung: 3 p. m.« »Kann ich ihn sehen? Haben Sie ihn bei sich?« Seldom schüttelte den Kopf. »Als ich ihn aus meinem Fach genommen habe, war es fast fünf nach drei, und ich war spät dran für mein Seminar. Ich habe ihn auf dem Weg in mein Büro gelesen und offen gestanden gedacht, es handele sich wieder einmal um die Botschaft irgendeines Geistesgestörten. Vor einiger Zeit habe ich ein Buch über logische Reihen veröffentlicht und hatte die schlechte Idee, ein Kapitel über Serienmorde einzuschließen. Seitdem erhalte ich alle möglichen Briefe und E-Mails mit irgendwelchen Tatgeständnissen… kurz und gut, im Büro angekommen, habe ich ihn in den Papierkorb geworfen.« »Kann er dort noch sein?« fragte Petersen. »Ich fürchte, nein«, sagte Seldom. »Als ich aus meinem Seminar kam, habe ich mich wieder an die Nachricht erinnert. Die Adresse im Cunliffe Close hatte mich etwas besorgt gestimmt; während ich den Kurs gab, war mir eingefallen, daß Mrs. Eagleton dort lebte, ich war mir aber nicht sicher, ob es sich um dieselbe Hausnummer handelte. Ich wollte den Zettel noch einmal lesen, um die Adresse zu überprüfen, aber inzwischen hatte der Hausmeister mein Büro saubergemacht und den Papierkorb geleert. Deshalb beschloß ich, hierherzukommen.« »Wir können aber auf jeden Fall noch einen Versuch unternehmen«, sagte Petersen und rief einen seiner Männer zu sich. »Wilkie, Sie fahren bitte ins Merton College und sprechen dort mit dem Hausmeister… wie ist sein Name?«
»Brent«, sagte Seldom. »Aber ich fürchte, es wird nichts nutzen; um diese Uhrzeit war normalerweise schon die Müllabfuhr da.« »Wenn der Zettel nicht auftaucht, rufen wir Sie an, damit Sie unserem Zeichner die Schrift beschreiben; für den Moment halten wir das aber geheim. Ich bitte Sie beide um äußerste Diskretion. Erinnern Sie sich an irgendein anderes Detail der Nachricht? Papierart, Tintenfarbe oder sonst etwas Auffälliges?« »Es war schwarze Tinte, ich würde sagen von einem Füllfederhalter. Das Papier hatte Briefformat und war herkömmlich weiß. Die Schrift war groß und deutlich. Die Nachricht lag sorgfältig viermal zusammengefaltet in meinem Fach. Und ja, da war noch ein sonderbares Detail: Unter dem Text befand sich ein säuberlich gezeichneter Kreis. Ein kleiner perfekter Kreis, auch schwarz.« »Ein Kreis«, wiederholte Petersen nachdenklich. »Wie eine Unterschrift? Eine Art Siegel? Oder was sagt Ihnen das?« »Vielleicht hat es mit dem Kapitel über Serienmorde in meinem Buch zu tun«, sagte Seldom. »Dort vertrete ich die These, daß, läßt man Filme und Kriminalromane einmal beiseite, die den – zumindest historisch belegten – Serienmorden zugrundeliegende Logik im allgemeinen sehr rudimentär ist und meist mit der Psychopathologie in Verbindung gebracht werden kann. Die Muster sind äußerst plump, kennzeichnen sich durch Monotonie und Wiederholung, und in ihrer überwältigenden Mehrheit basieren sie auf irgendeiner traumatischen Erfahrung oder einer Kindheitsfixierung. Das heißt, es handelt sich eher um Fälle für eine psychiatrische Analyse als um wirkliche logische Rätsel. Die Schlußfolgerung meines Kapitels besagt, daß ein intellektuell motiviertes, sagen wir rein aus geistigem Profilierdrang begangenes Verbrechen, wie etwa bei
Raskolnikow, oder der Mord als schöne Kunst im Sinne von Thomas de Quincey in der Realität nicht vorzukommen scheint. Außer«, fügte er nicht ganz ernst hinzu, »die Mörder haben sich so geschickt angestellt, daß sie bis heute nicht entdeckt wurden.« »Ich verstehe«, sagte Petersen, »Sie denken, daß jemand, der Ihr Buch gelesen hat, die Herausforderung angenommen haben könnte. Und in diesem Fall wäre der Kreis…« »Vielleicht das erste Symbol einer logischen Reihe«, ergänzte Seldom. »Es wäre eine gute Wahl; der Kreis ist möglicherweise das Symbol, das historisch gesehen die größte Interpretationsvielfalt erlaubt, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mathematik. Er kann so gut wie alles bedeuten. Auf jeden Fall ist es ein schlauer Anfang für eine Reihe; ein derart undeterminierbares Symbol zu Beginn läßt uns fast völlig im dunkeln über die mögliche Fortsetzung.« »Würden Sie sagen, daß es sich bei dem Täter vielleicht um einen Mathematiker handelt?« »Nein, ganz und gar nicht. Zur großen Überraschung meiner Verleger hat mein Buch eben die unterschiedlichste Leserschaft angesprochen. Außerdem können wir noch nicht einmal sagen, ob dieses Symbol tatsächlich als ein Kreis interpretiert werden soll; damit meine ich, daß ich, vermutlich aufgrund meines mathematischen Hintergrundes, unwillkürlich einen Kreis darin gesehen habe. Es kann aber genauso das Symbol für irgend etwas Esoterisches sein oder für eine alte Religion oder für etwas vollkommen anderes. Eine Astrologin hätte womöglich einen Vollmond darin gesehen und ihr Zeichner das Oval eines Gesichts…« »Nun gut«, sagte Petersen. »Kommen wir zunächst einmal wieder auf Mrs. Eagleton zurück. Kannten Sie sie gut?« »Harry Eagleton war mein Tutor, und nach meinem Abschluß war ich gelegentlich zu Zusammenkünften mit anderen
Professoren und zum Abendessen hier eingeladen. Ich war auch mit Johnny, dem Sohn der Eagletons, und seiner Frau Sarah befreundet. Sie starben beide bei einem Unfall, als ihre Tochter Beth noch klein war. Beth wurde dann von ihrer Großmutter aufgezogen. In letzter Zeit habe ich die beiden ziemlich selten gesehen. Ich wußte, daß Mrs. Eagleton seit geraumer Zeit mit einem Krebsleiden kämpfte und mehreren Operationen unterzogen worden war… ich bin ihr ein paar Mal im Radcliffe Krankenhaus begegnet.« »Und dieses Mädchen, Beth – wohnt sie noch immer hier? Wie alt ist sie jetzt?« »Zirka achtundzwanzig, vielleicht auch schon dreißig… Ja, sie haben zusammen hier gewohnt.« »Gut, dann sollten wir so schnell wie möglich mit ihr sprechen, ich würde ihr auch gern ein paar Fragen stellen«, sagte Petersen. »Weiß einer von Ihnen, wo wir sie jetzt finden könnten?« »Sie muß im Sheldonian Theater sein«, sagte ich. »Bei der Orchesterprobe.« »Das liegt auf meinem Rückweg«, sagte Seldom. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich ihr als Freund der Familie die Nachricht gern selbst überbringen. Vielleicht braucht sie auch meine Hilfe bei den Bestattungsformalitäten.« »Natürlich, kein Problem«, sagte Petersen. »Obwohl es mit dem Begräbnis noch etwas dauern wird; wir müssen erst die Autopsie vornehmen. Sagen Sie Miss Beth bitte, daß wir sie hier erwarten. Meine Kollegen werden jetzt die Spurensicherung vornehmen, wir sind etwa noch zwei Stunden beschäftigt. Sie waren es, der uns telephonisch benachrichtigt hat, richtig? Erinnern Sie sich, ob Sie sonst noch etwas berührt haben?« Wir schüttelten beide den Kopf. Petersen rief einen Beamten mit einem kleinen Aufnahmegerät zu sich.
»Gut, dann würde ich Sie nur bitten, Leutnant Sacks kurz Auskunft darüber zu geben, was Sie seit heute mittag getan haben. Reine Routine, dann können Sie gehen. Ich fürchte allerdings, daß ich Sie in den nächsten Tagen noch mit weiteren Fragen belästigen muß.« Seldom gab Sacks zwei oder drei Minuten lang Auskunft, und als ich an die Reihe kam, merkte ich, daß er diskret neben uns wartete, bis ich fertig war. Ich dachte, er wolle sich vielleicht nur noch richtig verabschieden, doch als ich mich umdrehte, bedeutete er mir, gemeinsam mit ihm hinauszugehen.
Kapitel Vier
»Ich dachte, wir könnten das Stück bis zum Theater gemeinsam gehen«, sagte Seldom und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Ich würde gern wissen…« Er zögerte, als suche er nach der treffenden Formulierung. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen und ich konnte den Ausdruck seines im Dunkeln liegenden Gesichts nicht erkennen. »Ich wäre gern sicher«, sagte er schließlich, »daß wir beide dort dasselbe gesehen haben. Ich meine, bevor die Polizei kam, vor allen Hypothesen und Erklärungsversuchen; das erste Bild, das sich uns eröffnete. Ihr Eindruck würde mich interessieren, schließlich waren Sie der einzige, der völlig unvoreingenommen war.« Ich überlegte einen Augenblick und bemühte mich, jede Einzelheit erneut hervorzurufen und zu rekonstruieren; dabei war ich mir durchaus bewußt, daß ich mich so scharfsinnig wie möglich zeigen wollte, um Seldom nicht zu enttäuschen. »Ich glaube«, sagte ich vorsichtig, »daß ich der Erklärung des Gerichtsmediziners in fast allen Punkten beipflichten würde, bis auf ein kleines Detail vielleicht. Er hat gesagt, der Täter habe beim Anblick des Blutes das Kissen fallen gelassen und sich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht, ohne irgend etwas in Ordnung zu bringen…« »Und Sie glauben, das stimmt nicht?« »Möglich, daß er nichts in Ordnung gebracht hat, aber eines hat er doch zumindest getan, bevor er gegangen ist: Er hat Mrs. Eagletons Kopf zur Lehne hin gedreht. So haben wir sie gefunden.«
»Sie haben recht«, pflichtete Seldom mir mit einem langsamen Kopfnicken bei. »Und worauf würde das Ihrer Meinung nach hindeuten?« »Ich weiß nicht; vielleicht hat er Mrs. Eagletons offene Augen nicht ertragen. Wenn es, wie der Gerichtsmediziner sagte, jemand ist, der zum ersten Mal einen Mord begangen hat, wurde ihm vielleicht erst beim Anblick dieser offenen Augen klar, was er getan hat, und er wollte sie auf irgendeine Weise abwenden.« »Würden Sie sagen, daß derjenige Mrs. Eagleton bereits kannte oder daß seine Wahl eher zufällig auf sie fiel?« »Ich glaube nicht, daß es reiner Zufall war. Ich fand interessant, was Sie später gesagt haben… daß Mrs. Eagleton an Krebs litt. Vielleicht wußte das der Täter und damit auch, daß sie ohnehin bald sterben würde. Ich finde, das paßt zu der Idee einer in erster Linie intellektuellen Herausforderung, es könnte bedeuten, daß er sowenig Schaden wie möglich anrichten wollte. Sogar die Art und Weise, die er wählte, um sie zu töten, könnte man, wäre sie nicht aufgewacht, als durchaus gnadenvoll betrachten. Und vielleicht wußte er«, fiel mir dabei ein, »daß Sie Mrs. Eagleton kannten und sich dadurch unvermeidlich persönlich betroffen fühlen würden.« »Das kann sein«, sagte Seldom, »und ich bin Ihrer Meinung, daß der Täter eine möglichst sanfte Todesart gewählt hat. Und eben deshalb habe ich mich während der Ausführungen des Gerichtsmediziners gefragt: Was wäre gewesen, wenn alles nach Plan gegangen wäre und Mrs. Eagleton kein Nasenbluten bekommen hätte?« »Dann hätten nur Sie aufgrund der Nachricht gewußt, daß es sich nicht um einen natürlichen Tod handelte.« »Genau«, sagte Seldom, »die Polizei hätte sich im Prinzip nicht eingeschaltet. Und ich glaube, genau das wollte er: eine fast private Herausforderung.«
»Ja, aber in dem Fall…«, sagte ich zweifelnd, »ist mir nicht klar, wann er die Nachricht an Sie geschrieben hat, ob vor oder nach dem Mord.« »Wahrscheinlich hatte er die Nachricht bereits verfaßt, bevor er sie getötet hat«, sagte Seldom. »Und als ein Teil des Plans schiefgelaufen ist, hat er sich wohl entschlossen, ihn trotzdem weiterzuverfolgen und sie in mein Fach zu legen.« »Was meinen Sie wird er jetzt tun?« »Jetzt, wo die Polizei informiert ist? Ich weiß nicht. Vermutlich wird er versuchen, das nächste Mal vorsichtiger zu sein.« »Das heißt ein Mord, den niemand als solchen erkennt?« »Ja«, sagte Seldom fast für sich. »Ganz genau. Ein Mord, den niemand als Mord erkennt. Ich glaube, das muß es sein: ein unsichtbarer Mord.« Wir verharrten einen Augenblick in Schweigen. Seldom schien in seine Gedanken versunken. Wir waren fast auf der Höhe des Universitätsparks angelangt. Auf der anderen Straßenseite parkte eine große Limousine vor einem Restaurant. Eine Braut stieg aus, eine schwere Schleppe hinter sich herziehend, auf dem Kopf ein apartes Blumengebinde, das sie mit einer Hand im Gleichgewicht zu halten versuchte. Ein kleiner Menschenauflauf mit blitzenden Photoapparaten bildete sich um sie herum. Ich merkte, daß Seldom die Szene gar nicht wahrgenommen hatte; mit starrem Blick wanderte er völlig in sich gekehrt vor sich hin. Dennoch beschloß ich, ihn aus seiner Geistesabwesenheit zu reißen, um ihn zu dem Punkt zu befragen, der mich am meisten beschäftigte. »Um noch einmal darauf zurückzukommen, was Sie dem Inspektor bezüglich des Kreises und der logischen Reihe gesagt haben – glauben Sie nicht, daß es eine Verbindung zwischen diesem Symbol und der Wahl des Opfers oder vielleicht der Todesart geben müßte?«
»Zweifellos«, sagte Seldom etwas zerstreut, als hätte er diese Frage längst durchdacht. »Aber das Problem ist, wie ich Petersen schon sagte, daß wir ja nicht einmal sicher sein können, ob es sich tatsächlich um einen Kreis handelt, und nicht, nehmen wir irgendein Beispiel, um die Schlange der Gnostiker, die sich in den eigenen Schwanz beißt, oder den Großbuchstaben O aus dem Wort ›Omerta‹. Die Schwierigkeit, wenn man nur das erste Zeichen einer Reihe kennt, liegt darin, den Kontext festzulegen, in dem das Symbol gelesen werden muß. Ich meine, ob es unter einem rein graphischen Aspekt, also sagen wir auf syntaktischer Ebene, einzig als Figur betrachtet werden soll oder auf semantischer Ebene durch eines der Bedeutungsattribute, die man ihm zuweisen kann, funktioniert. Es gibt eine ziemlich bekannte Reihe, die ich in meinem Buch einleitend als Beispiel nenne, um diese Ambivalenz zu erläutern… einen Moment…«, sagte er und kramte in seinen Taschen, bis er einen Füller und ein kleines Notizbuch fand. Er riß eine Seite heraus, zeichnete mit dem Notizbuch als Unterlage im Gehen drei Figuren darauf und reichte mir das Blatt zur Ansicht. Wir waren in der Magdalen Street angekommen, und ich konnte die Figuren problemlos im mattgelben Licht der Straßenlaternen entziffern. Die erste war zweifelsfrei ein großes M, die zweite offenbar ein Herz auf einer Linie; die dritte war die Ziffer 8.
»Was ist Ihrer Meinung nach die vierte Figur?« fragte mich Seldom. »M, Herz, Acht…«, sagte ich und versuchte, darin irgendeinen Sinn zu erkennen. Seldom ließ mich amüsiert ein paar Minuten lang überlegen.
»Denken Sie heute abend zu Hause noch ein wenig darüber nach, ich bin sicher, Sie werden auf die Lösung kommen«, sagte er. »Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß es uns geht, als hätte man uns nur das erste Symbol gegeben«, sagte er und hielt mit der Hand das Herz und die Acht auf dem Papier zu. »Wenn Sie nur diese Figur, diesen Buchstaben M gesehen hätten, was hätten Sie vermutlich gefolgert?« »Daß es sich um eine Buchstabenreihe oder um den Anfang eines mit M beginnenden Wortes handelt.« »Genau«, sagte Seldom. »Sie hätten dieses Symbol nicht nur allgemein als Buchstaben, sondern als einen ganz bestimmten Buchstaben, nämlich als ein großes M gedeutet. Sobald Sie nun aber«, fuhr er fort, »das zweite Symbol der Reihe sehen, stehen die Dinge anders, nicht wahr? Sie wissen dann beispielsweise, daß Sie kein Wort erwarten können. Dieses Symbol ist gleichzeitig ziemlich heterogen im Bezug auf das erste, es gehört einer anderen Ordnung an, läßt zum Beispiel an ein französisches Kartenspiel denken. Auf jeden Fall bewirkt es, daß wir bis zu einem gewissen Punkt die anfängliche Bedeutung in Frage stellen, die wir dem ersten Symbol zugewiesen hatten. Wir können immer noch davon ausgehen, daß es sich um einen Buchstaben handelt, aber es erscheint nun nicht mehr so wichtig, daß es genau ein M ist. Und wenn das dritte Symbol ins Spiel kommt, ist unser erster Impuls erneut, alles entsprechend des uns nunmehr Bekannten umzuorganisieren: Interpretieren wir es als die Ziffer Acht, werden wir dazu neigen, uns eine Reihe vorzustellen, die mit einem Buchstaben beginnt, auf den ein Herz folgt, auf das eine Ziffer folgt. Aber beachten Sie, daß wir die ganze Zeit – fast automatisch – von Bedeutungen ausgehen, die wir Zeichnungen zuordnen; im Grunde sind dort zunächst aber nur Linien auf einem Papier. Die Tücke dieser Reihe liegt darin, daß es uns schwerfällt, diese drei Figuren von ihrer
offensichtlichsten, unmittelbaren Interpretation zu lösen. Wenn es Ihnen aber für einen Augenblick gelingt, die Symbole als solches, allein als Figuren zu sehen, werden Sie auf die Konstante kommen, die alle vorangegangenen Bedeutungen aufhebt und Ihnen den Schlüssel zur Fortsetzung gibt.« Wir kamen am erleuchteten Fenster vom The Eagle and Child vorbei. Drinnen drängten sich die Leute an der Bar, lachten lautlos wie in einem Stummfilm und hoben ihre Biergläser hoch. Wir überquerten die Straße und bogen an einem Denkmal vorbei nach links ab. Vor uns tauchte die runde Fassade des Theaters auf. »Sie wollen sagen, daß wir in unserem Fall mindestens ein weiteres Zeichen bräuchten, um den Kontext herzustellen…« »Ja«, sagte Seldom. »Mit dem ersten Zeichen tappen wir noch völlig im dunkeln; wir können nicht einmal eine Aussage über die erste Verzweigung machen, ob das Symbol als ein Strich auf dem Papier betrachtet oder versucht werden soll, ihm irgendeine Bedeutung zuzuweisen. Leider bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.« Er hatte unterdessen die Stufen zum Theater erklommen, und da ich mich nicht entschließen konnte, mich von ihm zu verabschieden, folgte ich ihm ins Foyer. Es war leer, doch konnte man sich von der Musik leiten lassen, die uns freudig und tänzerisch leicht entgegenhallte. Leise stiegen wir die Treppe hinauf und gingen einen mit Läufern ausgelegten Korridor entlang. Seldom öffnete eine der mit gepolsterten Rauten bezogenen Seitentüren, und wir betraten eine Loge, von der aus das kleine Orchester in der Mitte der Bühne zu sehen war. Sie probten gerade eine Art ungarischen Czardas. Klar und kraftvoll tönte die Musik jetzt zu uns hoch. Beth war auf ihrem Stuhl mit angespanntem Körper nach vorne gebeugt, ihr Bogen strich wütend über das Cello. Ich lauschte den schwindelnd entfesselten Noten, die wie Peitschenhiebe durch
die Luft wirbelten, und angesichts des Kontrasts zwischen der fröhlichen Leichtigkeit der Musik und der angestrengten Haltung der Interpreten kam mir in den Sinn, was Beth wenige Tage zuvor gesagt hatte. Ihr Gesicht war völlig verändert in der Konzentration auf die Partitur. Ihre Finger bewegten sich rasant über die Saiten, und sogar von weitem ließ sich eine gewisse Distanz in ihren Augen ausmachen, als wäre nur ein Teil von ihr wirklich dort. Seldom und ich gingen zurück auf den Korridor. Sein Gesichtsausdruck war wieder ernst und reserviert. Ich merkte, daß er nervös war; mechanisch hatte er begonnen, eine neue Zigarette zu drehen, die er dort drinnen nicht würde anzünden können. Ich murmelte etwas zum Abschied, worauf Seldom mir fest die Hand drückte und mir erneut dankte, ihn begleitet zu haben. »Wenn Sie Freitag mittag noch nichts vorhaben«, sagte er, »würde ich Sie gern zum Essen ins Merton einladen; vielleicht fällt uns in der Zwischenzeit noch etwas Neues ein.« »Gern. Freitag paßt mir hervorragend«, sagte ich. Ich ging die Treppe hinunter und trat wieder auf die Straße hinaus. Es war kühl und hatte angefangen zu nieseln. Als ich erneut unter den Lichtern von Magdalen Street angekommen war, holte ich das Blatt heraus, auf das Seldom die drei Figuren gemalt hatte, und schirmte die Zeichnung gegen die Regentropfen ab. Beinahe hätte ich laut gelacht, als ich auf halber Strecke des Weges herausfand, wie einfach die Lösung war.
Kapitel Fünf
Als ich die letzte Kurve des Cunliffe Close hinter mir gelassen hatte und mich dem Hause näherte, sah ich, daß die Streifenwagen noch davor parkten; daneben standen inzwischen ein Krankenwagen und ein blauer Transporter mit dem Logo der Oxford Times. Ein großer schmächtiger Mann mit grauen Locken in der Stirn sprach mich an, als ich die Treppe zu meinem Zimmer hinuntergehen wollte; er hatte ein kleines Aufnahmegerät und ein Notizbuch in der Hand. Ehe er sich vorstellen konnte, beugte Inspektor Petersen sich aus dem Fenster, das auf die Veranda führte, und winkte mich zu sich. »Es wäre mir lieb, wenn Sie Seldom nicht erwähnen würden«, sagte er leise. »Wir haben nur Ihren Namen an die Presse weitergegeben, als hätten Sie alleine den Leichnam gefunden.« Ich nickte und ging wieder zur Treppe. Während ich auf die Fragen antwortete, sah ich ein Taxi an der Straße halten. Beth stieg mit ihrem Cello aus und ging unmittelbar an uns vorbei, ohne uns wahrzunehmen. Sie mußte dem an der Tür postierten Polizisten ihren Namen nennen, um hineingelassen zu werden. Ihre Stimme klang schwach und leicht erstickt. »Das ist also das Mädchen«, sagte der Journalist und schaute auf die Uhr. »Mit ihr muß ich auch noch reden, ich glaube, heute wird es nichts mit Abendessen. Eine letzte Frage: Was hat Petersen Ihnen gesagt, als er Sie gerade zu sich gerufen hat?« Nach einem kurzen Zögern antwortete ich: »Daß man mir morgen vielleicht noch ein paar Fragen stellen wird.«
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen«, sagte er. »Sie stehen nicht unter Verdacht.« Ich lachte. »Und wer steht unter Verdacht?« fragte ich. »Keine Ahnung; ich nehme an, das Mädchen. Das wäre das Logischste, oder nicht? Sie erbt Haus und Geld.« »Ich wußte nicht, daß Mrs. Eagleton wohlhabend war«, sagte ich. »Sie bekam eine Pension für herausragende Verdienste im Krieg. Das ist kein Vermögen, aber für eine alleinstehende Frau…« »Außerdem – war Beth zur Tatzeit nicht schon bei der Probe?« Der Mann blätterte in seinem Notizbuch zurück. »Mal sehen; der Mord geschah zwischen zwei und drei, dem Bericht des Gerichtsmediziners zufolge. Eine Nachbarin ist ihr kurz nach zwei begegnet, als sie zum Sheldonian ging. Ich habe vorhin beim Theater angerufen; pünktlich um halb drei ist sie zur Probe eingetroffen. Aber da sind immer noch diese paar Minuten, bevor sie das Haus verließ. Sie war also zu Hause, kann den Mord begangen haben, und ist die einzige, die davon profitiert.« »Wollen Sie das in Ihrem Artikel so andeuten?« fragte ich, und ich glaube, meine Stimme hörte sich dabei leicht entrüstet an. »Warum nicht? Das ist spannender, als sich einen Dieb aus den Fingern zu saugen und den Hausfrauen nahezulegen, ihre Türen verschlossen zu halten. Jetzt werde ich aber erst mal versuchen, mit ihr zu reden«, sagte er mit einem verschlagenen Lächeln. »Lesen Sie morgen meinen Artikel.« Ich ging in mein Zimmer hinunter, zog mir, ohne Licht zu machen, die Schuhe aus und streckte mich auf dem Bett aus, ein Arm über den Augen. Noch einmal versuchte ich in
Gedanken den Moment durchzugehen, in dem Seldom und ich das Haus betreten hatten, und dabei jede einzelne unserer Bewegungen zu rekonstruieren, doch es wollte mir nichts weiter auffallen; zumindest nichts, was Seldom suchen könnte. Einzig das Herabfallen von Mrs. Eagletons Kopf, ihr verdrehter Hals und ihre schreckgeweiteten Augen drängten sich mir in aller Deutlichkeit auf. Als draußen ein Motor angelassen wurde, zog ich mich am Fenster hoch und schaute hinaus. Ich sah, wie Mrs. Eagletons Leichnam auf einer Bahre hinausgetragen und in den Krankenwagen geschoben wurde. Die beiden Streifenwagen schalteten ihre Scheinwerfer an, und während sie ausparkten, warfen die gelben Lichtkegel fliehende geisterhafte Schatten an die Hauswände. Der Transporter der Oxford Times war schon weggefahren, und als der kleine Konvoi hinter der ersten Kurve verschwunden war, erschien mir die dunkle Stille des Cunliffe Close zum ersten Mal beklemmend. Ich fragte mich, was Beth wohl alleine oben im Haus tat. Dann schaltete ich die Lampe an, und mein Blick fiel auf den Schreibtisch, wo die Artikel von Emily Bronson mit meinen Randnotizen lagen. Ich beschloß, ein wenig weiterzulesen, machte mir einen Kaffee und setzte mich an den Tisch. Über eine Stunde arbeitete ich, ohne wirklich voranzukommen. Es gelang mir auch nicht, diesen kleinen wohltätigen Frieden zu verspüren, diesen einzigartigen intellektuellen Balsam, dieses Trugbild der Ordnung im Chaos, das man mit dem Nachvollziehen der einzelnen Schritte eines Theorems erreicht. Plötzlich war mir, als hörte ich ein gedämpftes Klopfen an der Tür. Ich rückte mit dem Stuhl zurück und wartete einen Augenblick. Das Klopfen wiederholte sich, dieses Mal deutlicher. Ich öffnete die Tür und machte im Dunkeln das verwirrte, etwas beschämte Gesicht von Beth aus. Sie trug einen violetten Morgenrock und war in Pantoffeln, ihr Haar hatte sie nur mit einem Band
zurückgenommen, als hätte sie etwas unvermittelt aus dem Bett gerissen. Nachdem ich sie hereingebeten hatte, blieb sie mit verschränkten Armen und leicht zittrigen Lippen neben der Tür stehen. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten? Nur für heute nacht«, sagte sie mit stockender Stimme. »Ich kann dort oben nicht einschlafen… Könnte ich bis morgen früh hier bleiben?« »Aber natürlich«, sagte ich. »Ich klappe den Sessel aus, und du kannst in meinem Bett schlafen.« Erleichtert dankte sie mir und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Als sie sich etwas benommen umsah, fiel ihr Blick auf die über dem Schreibtisch verteilten Papiere. »Du warst am Arbeiten«, sagte sie, »ich will dich nicht unterbrechen.« »Nein, nein«, sagte ich, »ich wollte gerade eine Pause machen, ich kann mich sowieso nicht konzentrieren. Möchtest du einen Kaffee?« »Ein Tee wäre wunderbar«, antwortete sie. Wir schwiegen, während ich Wasser aufsetzte und nach einer angemessenen Beileidsformel suchte. Doch schließlich ergriff sie zuerst das Wort. »Onkel Arthur hat mir gesagt, daß du sie gefunden hast… wie furchtbar! Ich habe sie auch gesehen, ich mußte den Leichnam identifizieren. Mein Gott«, sagte sie, und ihre Augen verschwammen zu einem glasig bebenden Blau, »niemand hatte sich auch nur die Mühe gemacht, ihr die Augen zu schließen.« Sie wandte den Kopf zur Seite und sah nach oben, wie um ihre Tränen zurückzudrängen. »Es tut mir wirklich sehr leid«, murmelte ich. »Ich weiß, wie du dich fühlen mußt.« »Nein, ich glaube nicht, daß du das weißt«, sagte sie. »Ich glaube, niemand weiß das. Seit langem habe ich auf diesen
Moment gewartet. Seit Jahren. Auch wenn das schrecklich klingt – seit ich wußte, daß sie Krebs hat. Ich habe es mir fast so vorgestellt, wie es schließlich geschah, daß jemand es mir während einer Probe sagen würde. Ich betete, daß es so sein würde, daß ich sie nicht sehen müßte, bevor sie sie mitnehmen würden. Aber der Inspektor hat auf einer Identifizierung bestanden. Sie haben ihr nicht einmal die Augen geschlossen!« wiederholte sie in einem bestürzten Flüstern, als wäre damit eine unerklärliche Ungerechtigkeit begangen worden. »Ich stand neben ihr, aber ich konnte sie nicht ansehen; ich hatte Angst, daß sie mir auf irgendeine Weise immer noch etwas antun könnte, mich packen und nicht mehr loslassen würde. Und ich glaube, es ist ihr gelungen. Sie verdächtigen mich«, sagte sie niedergeschlagen. »Petersen hat mir viele Fragen gestellt, voll geheuchelter Anteilnahme, und dann kam dieser schreckliche Zeitungsmensch und hat nicht einmal versucht, es zu vertuschen. Ich habe ihnen alles gesagt, was ich weiß: daß sie um zwei, als ich ging, neben dem Scrabblebrett eingeschlafen war. Aber ich spüre, daß mir die Kraft fehlt, um mich zu wehren. Ich bin diejenige, die ihr am meisten den Tod wünschte, weitaus mehr, dessen bin ich sicher, als die Person, die sie getötet hat.« Sie schien mit den Nerven am Ende, ihre Hände zitterten unaufhaltsam; als sie meinen Blick bemerkte, versteckte sie sie mit gekreuzten Armen unter den Achseln. »Auf jeden Fall«, sagte ich, während ich ihr die Tasse mit dem Teebeutel reichte, »glaube ich nicht, daß Petersen tatsächlich etwas in der Richtung denkt; sie wissen noch mehr, wollen es aber nicht publik machen. Hat Professor Seldom dir nichts gesagt?« Sie schüttelte den Kopf, und ich bereute, davon angefangen zu haben. Aber dann sah ich in ihre blauen, erwartungsvollen Augen, die sich noch scheuten, einen Hoffnungsschimmer
zuzulassen, und kam zu dem Schluß, daß die südländische Indiskretion zuweilen barmherziger sein konnte als die englische Reserviertheit. »Ich kann dir nicht viel sagen, man hat uns gebeten, es geheimzuhalten. Aber der Täter hat eine Nachricht in Seldoms Fach hinterlassen. Auf dem Zettel stand die Adresse von hier und auch die Zeit: drei Uhr nachmittags.« »Drei Uhr nachmittags«, wiederholte sie langsam, und ein riesiges Gewicht schien langsam von ihr abzufallen. »Um die Zeit war ich schon bei der Probe.« Sie lächelte zaghaft, als wäre das siegreiche Ende einer langen, schweren Schlacht nunmehr absehbar, und trank einen Schluck Tee. Dankbar blickte sie mich über ihre Tasse hinweg an. »Beth…«, sagte ich. Ihre Hand lag jetzt fast neben meiner auf der Stuhllehne, und ich mußte den Impuls unterdrücken, sie zu berühren. »Noch etwas… wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann, bei den Begräbnisformalitäten oder wobei auch immer, mußt du es mir sagen. Bestimmt haben Professor Seldom oder Michael sich schon angeboten, aber…« »Michael?« sagte sie und lachte trocken. »Ich glaube nicht, daß ich großartig auf ihn zählen kann, ihn hat das Ganze ziemlich entsetzt«, und mit einem verächtlichen Unterton, als beschriebe sie eine besonders feige Spezies, fügte sie hinzu: »Er ist verheiratet.« Sie stand auf, und bevor ich sie daran hindern konnte, war sie schon ans Waschbecken neben dem Schreibtisch getreten, um ihre Tasse auszuspülen. »Aber ja, ich nehme an, ich kann mich immer an Onkel Arthur wenden. Das hat auch meine Mutter oft gesagt. Ich glaube, sie war die einzige, die durchschaute, wie die Hexe unter ihrer Maske wirklich war. Sollte ich einmal allein sein und Hilfe brauchen, hat sie immer gesagt, solle ich zu Onkel Arthur gehen. ›Wenn es dir gelingt, ihn von seinen Formeln
loszureißen!‹ waren ihre Worte. Er ist eine Art mathematisches Genie, nicht wahr?« fragte sie mit einem zerstreuten Anflug von Stolz in der Stimme. »Einer von den ganz Großen«, antwortete ich. »Ja, das hat auch meine Mutter gesagt. Wenn ich es jetzt recht überlege, war sie wahrscheinlich heimlich ein wenig verliebt in ihn. Sie fieberte Onkel Arthurs Besuchen förmlich entgegen. Aber jetzt bin ich lieber still, bevor ich dir noch alle meine Geheimnisse erzähle.« »Das wäre amüsant«, sagte ich. »Was ist eine Frau ohne Geheimnisse?« Sie zog das Haarband ab, legte es auf den Nachttisch und strich mit beiden Händen ihre Haare zurück, hob sie ein wenig an und ließ sie dann nach hinten fallen. »Ach, hör gar nicht auf mich«, sagte sie, »das ist nur der Anfang eines alten walisischen Liedes.« Sie trat ans Bett und zog die Decke zurück. Ihre Hände griffen nach dem Kragen ihres Morgenrocks. »Könntest du dich bitte kurz umdrehen«, sagte sie, »ich würde das hier gern ausziehen.« Ich ging mit meiner Tasse zum Waschbecken und ließ das Wasser laufen. Nachdem ich den Hahn wieder zugedreht hatte, blieb ich noch einen Moment mit dem Rücken zu ihr stehen. Ich hörte, wie sie meinen Namen nannte, sich dabei rührend bemühte, aber dennoch über das doppelte L stolperte. Sie lag mittlerweile im Bett, ihre Haare waren verlockend über das Kissen gebreitet. Die Daunendecke ging ihr fast bis zum Hals, aber einen Arm hatte sie draußen gelassen. »Kann ich dich um einen letzten Gefallen bitten? Meine Mutter hat das immer getan, als ich noch klein war. Könntest du mir die Hand halten, bis ich eingeschlafen bin?« »Natürlich«, sagte ich. Ich schaltete die Lampe aus und setzte mich neben sie an den Bettrand. Ein fahler Streifen Mondlicht
fiel durch eines der Oberfenster auf ihren nackten Arm. Ich legte meine Hand in ihre, und unsere Finger umschlangen sich. Ihre Handfläche war warm und trocken. Ich betrachtete die weiche Haut ihres Handrückens und ihre langen Finger mit den kurzen, gepflegten Nägeln, die sich vertrauensvoll in meine schmiegten. Etwas fiel mir dabei auf. Wie beiläufig drehte ich mein Handgelenk, um ihren Daumen von der anderen Seite zu sehen. Da war er, sonderbar dünn und ganz klein, als gehörte er zu einer anderen Hand, einer Kinderhand, zu der Hand eines kleinen Mädchens. Ich merkte, daß sie die Augen geöffnet hatte und mich anblickte. Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber da verstärkte ich den Druck und streichelte mit meinem Daumen über ihren winzigen Kinderdaumen. »Jetzt kennst du mein schlimmstes Geheimnis«, sagte sie. »Ich lutsche nachts immer noch Daumen.«
Kapitel Sechs
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Beth nicht mehr da. Schlaftrunken sah ich auf die sanfte Kuhle, die ihr Körper im Bett hinterlassen hatte, und tastete mit der Hand nach meiner Armbanduhr: Es war zehn. Ich sprang auf, gegen Mittag war ich mit Emily Bronson im Institut verabredet und hatte noch immer nicht ihre Arbeiten gelesen. Es kam mir etwas seltsam vor, als ich meinen Schläger und meine Tennissachen in die Tasche packte. Aber es war Donnerstag, und in dem gewohnten Lauf meiner Welt stand nach wie vor das nachmittägliche Doppel auf dem Programm. Bevor ich ging, warf ich einen enttäuschten Blick auf Schreibtisch und Bett. Ich hätte gehofft, wenigstens einen kleinen Zettel, ein paar Zeilen von Beth vorzufinden, und die Frage drängte sich mir auf, ob die Botschaft nicht eben in diesem Verschwinden ohne jede Nachricht bestand. Es war ein milder, friedlicher Morgen, der den Vortag fern und vage irreal erscheinen ließ. Doch als ich in den Garten hinaustrat, war dort keine Mrs. Eagleton, die sich an ihren Blumenbeeten zu schaffen machte, und die gelben Absperrbänder der Polizei waren noch um die Veranda gespannt. Kurz vor dem Institut kaufte ich an einem der Kioske in der Woodstock Road die Oxford Times und einen Donut. In meinem Arbeitszimmer angekommen, schaltete ich die elektrische Kaffeemaschine an und breitete die Zeitung auf meinem Schreibtisch aus. Die Nachricht eröffnete als große Schlagzeile den Lokalteil: Ehemalige Kriegsheldin ermordet aufgefunden. Darunter befand sich ein Foto von einer jungen, nicht wiederzuerkennenden Mrs. Eagleton und eines von ihrem
Haus, mit der Sicherheitsabsperrung und den Polizeiwagen davor. Im Hauptartikel war zu lesen, daß der Leichnam von dem Untermieter, einem argentinischen Mathematikstudenten, gefunden wurde, und daß die letzte Person, die die Witwe lebend gesehen hatte, ihre einzige Enkeltochter Elizabeth war. In dem Artikel stand nichts, was ich nicht schon gewußt hätte; die in den späten Abendstunden durchgeführte Autopsie hatte offenbar auch nichts Neues zutage gebracht. In einer unsignierten Nebenspalte war von den polizeilichen Ermittlungen die Rede. Sofort erkannte ich hinter dem gewollt unpersönlichen Stil den verschwörerischen Tonfall des Journalisten wieder, der mich befragt hatte. Seinen Zeilen zufolge tendierte die Polizei dazu, trotz der unverschlossenen Haustür einen Fremden als Täter auszuschließen. Nichts sei im Haus berührt oder gestohlen worden. Offensichtlich gäbe es eine Spur, die Inspektor Petersen bislang noch geheimhielte. Der Autor des Artikels habe jedoch Anlaß zur Vermutung, daß diese Spur »Mitglieder aus Mrs. Eagletons engstem Familienkreis« belasten könnte. Und unmittelbar darauf ließ er wissen, daß Beth die einzige direkte Verwandte von Mrs. Eagleton und somit Erbin eines »bescheidenen Vermögens« war. Wie dem auch sei, endete die Spalte, in Erwartung neuer Erkenntnisse schlösse die Oxford Times sich Inspektor Petersens Rat an und empfehle Hausfrauen, die guten alten Zeiten zunächst zu vergessen und ihre Türen stets verschlossen zu halten. Ich blätterte weiter zu den Todesanzeigen und stieß auf eine lange Reihe von Namen, die ihre Trauer zum Ausdruck brachten. Eine Anzeige stammte vom britischen ScrabbleVerband und eine vom Mathematischen Institut, in der auch Emily Bronson und Seldom aufgeführt wurden. Ich trennte die Seite heraus und legte sie in eine Schublade meines Schreibtischs. Dann schenkte ich mir noch eine Tasse Kaffee
ein und vertiefte mich zwei Stunden in die Artikel meiner Professorin. Um eins ging ich in ihr Büro hinunter; über einer auf ihren Büchern ausgebreiteten Papierserviette aß sie gerade ein Sandwich zu Mittag. Sie stieß einen kleinen Freudenschrei aus, als ich die Tür öffnete, wie beim Anblick eines aus gefährlichen Regionen heil zurückgekehrten Abenteurers. Ein paar Minuten lang sprachen wir über das Verbrechen, ich erzählte ihr, was ich wußte, ohne Seldom dabei ins Spiel zu bringen; sie schien wirklich betroffen und etwas besorgt um mich. Sie fragte, ob die Polizei mir sehr zugesetzt habe. Sie könnten sehr unangenehm mit Ausländern werden, sagte sie. Fast hätte sie sich wohl entschuldigt, mir die Untermiete angeraten zu haben. Wir unterhielten uns noch eine Weile über dies und jenes, während sie mit kleinen pickenden Bissen ihr Sandwich fertig aß. »Ich wußte nicht, daß Arthur Seldom in Oxford ist«, bemerkte ich. »Nun ja, ich glaube, er war nie fort von hier«, sagte Emily lächelnd. »Arthur ist wie ich der Meinung, daß früher oder später alle Mathematiker nach Oxford gepilgert kommen. Er hat eine Stelle im Merton. Aber es stimmt, er läßt sich nicht viel blicken. Wo hast du ihn getroffen?« »Ich habe seinen Namen auf der Todesanzeige vom Institut gesehen«, sagte ich vorsichtig. »Ich könnte ein Treffen mit ihm arrangieren, wenn es dich interessiert. Ich glaube, er spricht sehr gut spanisch. Seine erste Frau war Argentinierin«, sagte sie. »Sie arbeitete als Restauratorin im Ashmolean Museum, an dem großen assyrischen Relief.« Unvermittelt unterbrach sie sich, als sei sie versehentlich indiskret gewesen. »Sie… ist gestorben?« mutmaßte ich.
»Ja«, sagte Emily. »Sie ist vor vielen Jahren gestorben. Bei dem Autounfall, bei dem auch Beths Eltern ums Leben kamen; sie waren alle vier im Auto, unzertrennlich wie immer. Sie wollten das Wochenende in Clovelly verbringen. Arthur hat als einziger überlebt.« Sie faltete die Serviette zusammen und warf sie behutsam in den Papierkorb, damit die Krümel nicht herausfielen. Dann trank sie einen kleinen Schluck aus ihrer Wasserflasche und rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht. »Na gut«, sagte sie und richtete ihre blaßblauen Augen auf mich. »Bist du denn überhaupt dazugekommen, die Artikel zu lesen?« Als ich mit meinem Schläger in der Hand das Institut verließ, war es zwei Uhr nachmittags. Zum ersten Mal herrschte eine drückende Hitze, und die Straßen schienen unter der sommerlichen Sonne dahinzudämmern. Vor mir bog langsam und behäbig wie eine Raupe einer der roten Doppeldeckerbusse der Oxford Guide Tours um die Kurve, aus dem deutsche Touristen, mit Schirmmützen und Käppis ausstaffiert, voller Bewunderung auf das rote Gebäude des Keble Colleges zeigten. Im Universitätspark picknickten die Studenten auf dem Rasen. Ein Gefühl von Ungläubigkeit überkam mich, so ungreifbar war Mrs. Eagletons Tod bereits geworden. Unsichtbare Morde, hatte Seldom gesagt. Aber im Grunde schlug ja jedes Verbrechen, jeder Tod kaum ein paar Wogen und löste sich dann bald in Nichts auf. Weniger als vierundzwanzig Stunden waren vergangen. Nichts schien sich verändert zu haben. Ging ich nicht selbst wie jeden Donnerstag Tennis spielen? Als wären heimlich aber doch kleine Veränderungen in Gang gesetzt worden, kam es mir beim Betreten des geschlängelten Weges, der zum Marston führte, ungewohnt still vor. Man hörte einzig in rhythmischen Abständen einen Ball mit weithin hallendem Echo gegen die
Trainingswand schlagen. Die Autos von John und Sammy waren nicht auf dem Parkplatz, aber auf dem Rasen neben dem Gitter zu einem der Plätze stand Lornas roter Volvo. Ich ging um das Gebäude mit den Umkleiden herum und fand sie an der Wand mit konzentriertem Schwung ihre Rückhand trainieren. Noch aus der Entfernung konnte ich die Linie ihrer festen, schlanken Beine unter dem sehr kurzen Rock sehen und wie das T-Shirt bei jeder Körperdrehung über ihren Brüsten spannte. Sie fing den Ball auf, als ich auf sie zukam, leicht schmunzelnd, wie mir schien. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte sie, wischte sich mit der Hand über die Stirn und küßte mir flüchtig die Wange. Mit einem neugierigen Lächeln sah sie mich an, als unterdrücke sie eine Frage oder als wären wir beide Teil einer Verschwörung, ohne recht zu wissen, worum es ging. »Was ist mit John und Sammy?« fragte ich. »Keine Ahnung«, antwortete sie und riß unschuldig ihre großen grünen Augen auf. »Mir hat niemand Bescheid gesagt. Ich dachte schon, ihr drei hättet euch abgesprochen, mich sitzenzulassen!« Ich ging in den Umkleideraum und zog mich rasch um, noch ganz erstaunt über mein Glück. Alle Plätze waren frei; Lorna wartete an der Gittertür auf mich. Ich schob den Riegel auf, und als Lorna an mir vorbeigegangen war, drehte sie sich noch einmal etwas unentschlossen um. Schließlich konnte sie sich offenbar nicht länger zurückhalten und sagte: »Ich habe in der Zeitung das über den Mord gelesen.« In ihren Augen glänzte dabei fast so etwas wie Begeisterung. »Mein Gott, und ich habe sie gekannt«, fügte sie wie überrascht hinzu, oder als hätte das allein der armen Mrs. Eagleton als Schutzschild dienen müssen. »Ich habe auch ihre Enkelin ein paar Mal im Krankenhaus gesehen. Stimmt es, daß du die Leiche gefunden hast?«
Ich nickte und zog meinen Schläger aus der Hülle. »Versprich mir, daß du mir alles ganz genau erzählst«, sagte sie. »Ich mußte versprechen, nichts zu erzählen«, antwortete ich. »Im Ernst? Das macht es noch spannender. Ich wußte, daß da noch mehr dahintersteckt«, rief sie aus. »Es war nicht die Enkelin, stimmt’s? Ich warne dich«, und sie drückte mir einen Finger gegen die Brust, »vor deiner Lieblingsdoppelpartnerin gibt es keine Geheimnisse. Du wirst mir alles haarklein berichten müssen.« Ich lachte und spielte einen Ball übers Netz. In der Stille des ausgestorbenen Clubs begannen wir, lange Grundlinienbälle zu schlagen. Das einzige, was im Tennis ein umstrittenes Match übertrifft, sind vielleicht gerade diese Grundlinienschläge zum Einspielen, bei denen man den Ball so lange wie möglich zu halten versucht. Lornas Returns waren auf Vor- und Rückhand bewundernswert sicher, sie blockte an der Linie und bekam jeden Ball zurück, bis sie genügend Spielraum hatte, um mit einem diagonal geschlagenen Topspin den Gegenangriff zu starten und einen Cross in die Ecke zu plazieren. Wir spielten beide so, daß der andere den Ball mit einem kurzen Sprint erreichen konnte, und erhöhten die Geschwindigkeit bei jedem Schlag ein wenig mehr. Lorna schlug sich tapfer, rannte immer mehr und hinterließ beim Rutschen mit ihren Schuhen lange Streifen im Sand. Nach jedem Ballwechsel positionierte sie sich wieder in der Mitte der Grundlinie, atmete tief durch und zog mit einer anmutigen Geste ihren Pferdeschwanz fest. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und schimmerte auf ihren langen gebräunten Beinen. Schweigend waren wir beide aufs Spiel konzentriert, als würde sich nach und nach etwas ganz Entscheidendes auf dem Platz austragen. Wir zählten nur die Fehlerpunkte. Bei einem besonders langen Ballwechsel, als sie gerade nach einem weit außen plazierten Cross in die Mitte
zurücklaufen wollte, versuchte sie noch, einen gegen den Lauf gespielten Ball auf ihrer Rückhand zu erreichen, doch bei der abrupten Drehung gab ihr Bein nach. Sie rutschte seitlich aus und blieb auf dem Rücken liegen, ihr Schläger ein Stück weit fortgeschleudert. Etwas besorgt ging ich ans Netz vor, aber dort merkte ich, daß sie nicht verletzt, sondern nur erschöpft war. Sie atmete heftig und hatte beide Arme nach hinten ausgestreckt, als fehle ihr die Kraft, wieder aufzustehen. Ich stieg übers Netz und ging neben ihr in die Hocke. Sie sah mich an, und ihre grünen Augen hatten in der Sonne einen seltsamen Glanz, zugleich spöttisch und erwartungsvoll. Als ich ihren Kopf anhob, stützte sie sich auf einem Ellbogen ab und legte mir ebenfalls einen Arm um den Hals. Ihr Mund befand sich unmittelbar vor meinem, und ihr warmer, noch fliegender Atem streifte mich. Ich küßte sie, und langsam ließ sie sich wieder auf den Rücken fallen, zog mich mit sich, während ich sie noch immer küßte. Wir lösten uns für einen Augenblick voneinander und sahen uns mit dem ersten tiefen, glücklichen und leicht überraschten Blick zweier Liebender an. Ich küßte sie wieder, und während ich sie an mich drückte, spürte ich, wie sich ihre Brust gegen meine drückte. Ich glitt mit einer Hand unter ihr T-Shirt, was sie einen Moment geschehen ließ, doch als ich mit der anderen Hand unter ihren Rock fahren wollte, hielt sie mich alarmiert zurück. »Langsam, langsam«, flüsterte sie und sah sich um. »Liebt man sich bei dir zu Hause vielleicht auf dem Tennisplatz?« Sie nahm meine Hand und schob mich mit einem letzten Kuß sanft von sich. »Laß uns zu mir gehen.« Sie stand auf, zog ihr TShirt zurecht und schüttelte den Sand aus ihrem Rock. »Hol deine Sachen, aber dusch dich nicht«, sagte sie leise, »ich warte im Auto auf dich.« Still in sich hinein lächelnd, fuhr sie die Straße entlang, drehte nur gelegentlich den Kopf leicht zur Seite, um mich
anzusehen. An einer Ampel streckte sie die Hand aus und strich mir über die Wange. »Aber dann war das mit John und Sammy…«, fiel mir ein. »Oh nein!« sagte sie lachend, aber ihr Ton war weniger überzeugend als zuvor. »Damit hatte ich nichts zu tun. Glauben Mathematiker vielleicht nicht an den Zufall?« Wir hielten in einer der Nebenstraßen von Summertown. Über eine kleine Treppe mit Läufer gelangten wir in eine Art Mansarde, die Lorna im oberen Teil einer großen viktorianischen Villa bewohnte. Sie sperrte auf, und wir küßten uns erneut im Türrahmen. »Ich verschwinde mal kurz ins Bad, ja?« sagte sie und ging über den Flur auf eine Tür mit geschliffener Glasscheibe zu. Ich blieb in dem kleinen Wohnzimmer stehen und sah mich um. In der kunterbunten, sympathischen Unordnung fiel mein Blick auf Reisephotos, Puppen, Filmplakate und etliche Bücher in einer längst überquellenden Bibliothek. Mit seitlich geneigtem Kopf überflog ich die Titel. Es waren alles Krimis. Ich trat an die Tür zum Schlafzimmer; das Bett war sorgfältig gemacht, eine Tagesdecke fiel auf den Seiten bis zum Boden. Auf dem Nachttisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Ich ging näher, drehte es zu mir herum und erstarrte vor Verblüffung, als ich den Titel und den darüberstehenden Namen las: Es war Seldoms Abhandlung über die logischen Reihen, übersät von energischen Unterstreichungen und unleserlichen Randbemerkungen. Ich hörte, wie die Duschtür aufging, Lorna mit nackten Füßen über den Flur kam und mich rief. Ich legte das Buch wieder an seinen Platz und ging ins Wohnzimmer zurück. »Na«, sagte sie von der Tür aus und zeigte mir, daß sie bereits nichts mehr zu verbergen hatte, »du hast ja immer noch deine Hose an.«
Kapitel Sieben
»Es gibt einen Unterschied zwischen der Wahrheit und dem Teil der Wahrheit, der sich beweisen läßt; das ist in Wirklichkeit ein Folgesatz von Tarski zu Gödels Theorem«, sagte Seldom. »Natürlich wußten Richter, Gerichtsmediziner oder Archäologen das lange vor den Mathematikern. Nehmen wir ein Verbrechen mit nur zwei möglichen Verdächtigen. Jeder von den beiden kennt die ganze entscheidende Wahrheit: ich war es oder ich war es nicht. Doch die Justiz hat keinen direkten Zugang zu dieser Wahrheit und muß einen mühseligen indirekten Weg einschlagen, um Beweise zu sammeln: Verhöre, Alibis, Fingerspuren… Zu oft reichen die gefundenen Hinweise nicht aus, um entweder die Schuld des einen oder die Unschuld des anderen nachzuweisen. Und im Grunde demonstrierte Gödel 1930 mit seinem Unvollständigkeitssatz, daß genau dasselbe in der Mathematik der Fall ist. Der auf Aristoteles und Euklid zurückgehende Mechanismus des Wahrheitsbeweises, die stolze Maschinerie, die von einigen wenigen wahren Aussagen als unwiderlegbare Grundvoraussetzungen ausgeht und sich mit streng logischen Schritten auf die Erkenntnis zubewegt, die axiomatische Methode also, kann bisweilen schlicht genauso unzulänglich sein wie die heiklen Kriterien der Justiz.« Seldom unterbrach sich kurz und nahm eine Papierserviette vom Nebentisch. Ich dachte schon, er wollte eine seiner Formeln darauf schreiben, doch er wischte sich nur rasch über die Mundwinkel und sprach weiter. »Gödel zeigte, daß es selbst auf den elementarsten Ebenen der Arithmetik Aussagen gibt, die mittels Axiomen weder
bewiesen noch widerlegt werden können, die sich außerhalb der Reichweite dieser formalen Verfahren befinden und jedem Beweisversuch entziehen, Aussagen, die kein Richter für wahr oder falsch befinden könnte. Als ich mich das erste Mal mit diesem Theorem beschäftigte, studierte ich noch, Eagleton war damals mein Tutor, und was mich am meisten stutzig machte, nachdem es mir gelungen war, zu verstehen und vor allem zu akzeptieren, was dieser Satz tatsächlich besagte, was mir am kuriosesten erschien, war, daß die Mathematiker so lange perfekt und ohne böse Überraschungen mit einer so drastisch fehlgeleiteten Intuition zurechtgekommen waren. Und nicht nur das, anfangs glaubten alle, daß Gödel derjenige war, der irgendeinen Fehler begangen hatte, und daß in seinem Beweis bald eine Schwachstelle auftauchen würde; Zermelo höchstpersönlich hat alle seine Arbeiten unterbrochen und zwei ganze Jahre mit dem Versuch zugebracht, ihn zu widerlegen. Und so stellte ich mir diese erste Frage: Warum sind die Mathematiker jahrhundertelang über keine dieser unentscheidbaren Aussagen gestolpert, warum stolpern sie immer noch nicht, warum kann die Mathematik selbst nach Gödel, bis zum heutigen Tag, in allen Bereichen weiterhin so ruhig ihren Gang gehen?« Wir waren an dem langen Tisch der Fellows im Merton College allein zurückgeblieben. Vor uns hingen die Bildnisse der berühmten Männer, die einst in dem College studiert hatten. Auf den Bronzeplaketten unter den Portraits hatte ich als mir bekannten Namen nur den von T. S. Eliot entdeckt. Die Kellner räumten um uns herum diskret die Teller der anderen Professoren ab, die bereits zu ihren Seminaren aufgebrochen waren. Seldom rettete sein Wasserglas, ehe es ihm weggenommen wurde, und trank einen großen Schluck, bevor er fortfuhr.
»Zu der Zeit war ich ein recht flammender Kommunist und sehr beeindruckt von einem Satz von Marx, ich glaube aus der Kritik der Politischen Ökonomie, der besagte, daß die Menschheit sich, historisch gesehen, nur die Aufgaben stellt, die sie lösen kann. Eine Zeitlang dachte ich, dies könnte der Keim einer Erklärung sein: daß die Mathematiker in Wirklichkeit vielleicht nur die Fragen formulierten, für die sie, zumindest teilweise, den Beweis liefern konnten. Natürlich nicht, um es sich unbewußt einfacher zu machen, sondern weil die mathematische Intuition – das war meine Hypothese – vielleicht bereits unzertrennlich mit den Methoden der Überprüfung verschmolzen war und auf eine, sagen wir kantische Weise konfrontierte, was entweder beweisbar oder widerlegbar war. Daß die mit den Sprüngen eines Schachpferds vergleichbaren mentalen Vorgänge der Intuition nicht, wie man gemeinhin annimmt, dramatische oder unvorhersehbare Erleuchtungen waren, sondern eher bescheidene Abkürzungen dessen, was letztendlich mit den Schildkrötenschritten eines Beweises stets auch erreicht werden kann. Damals lernte ich Sarah kennen, Beths Mutter. Sarah hatte gerade mit ihrem Physikstudium begonnen; sie war bereits mit Johnny befreundet, dem einzigen Sohn der Eagletons, und wir gingen gemeinsam zum Bowling und Schwimmen. Sarah war es, die mir gegenüber als erste das Prinzip der Ungewißheit in der Quantenphysik erwähnte. Sie wissen natürlich, worauf ich mich beziehe: Die klaren, präzisen Formeln, die physische Phänomene im großen Maßstab wie die Bewegung der Gestirne oder das Zusammenstoßen von Kegeln bestimmen, verlieren in der subatomaren Welt des unendlich Kleinen ihre Gültigkeit, wo alles weitaus komplexer ist, und sogar, wieder einmal, logische Paradoxe auftauchen. Das hat mich eine ganz neue Richtung einschlagen lassen. Der Tag, an dem sie mir vom Heisenberg-
Prinzip erzählte, war, in vielerlei Hinsicht, ein sonderbarer Tag. Ich glaube, es ist der einzige Tag meines Lebens, den ich Stunde für Stunde rekonstruieren könnte. Bereits beim Zuhören kam mir der intuitive Gedanke, wie ein Pferdchensprung, wenn Sie wollen«, sagte er lächelnd, »daß für die Mathematik genau dasselbe Phänomen zutraf und alles im Grunde eine Frage des Maßstabs war. Die unentscheidbaren Aussagen, die Gödel gefunden hatte, mußten einer Art subatomaren Welt infinitesimaler Größen außerhalb der gewöhnlichen mathematischen Sichtweite entsprechen. Dann blieb nur noch, die passende Größenordnung zu definieren. Was ich in erster Linie zeigte, ist, daß ein mathematisches Problem, das sich in derselben ›Größenordnung‹ formulieren läßt wie seine Axiome, sich in der gewohnten Welt der Mathematiker befindet und bewiesen oder widerlegt werden kann. Wenn für seine Formulierung jedoch eine andere Größenordnung herangezogen werden muß, dann läuft es Gefahr, zu jener untergründigen, infinitesimalen, dabei aber überall lauernden Welt dessen zu gehören, was weder beweisbar noch widerlegbar ist. Wie Sie sich vorstellen können, bestand der schwierigste Teil der Arbeit, dreißig Jahre hat er mich gekostet, darin, weiter zu zeigen, daß alle Fragen und Vermutungen, die die Mathematik von Euklid bis heute formuliert hat, sich in Größenordnungen ausdrücken lassen, die den herangezogenen Axiomensystemen entsprechen. Was ich letztendlich bewiesen habe, ist, daß die übliche Mathematik, alle Mathematik, die unsere bemühten Kollegen täglich betreiben, der Ordnung des ›Sichtbaren‹ innerhalb des Makroskopischen angehört.« »Aber ich nehme an, das ist kein Zufall.« Ich versuchte, die Ergebnisse, die ich in meinem Referat aufgezeigt hatte, mit dem gerade Gehörten zu vereinen und sie in das große Bild, das Seldom für mich umriß, einzuordnen.
»Nein, natürlich nicht. Meine Hypothese ist, daß dies mit der von Epoche zu Epoche weitergegebenen und im Kern unveränderten Ästhetik zusammenhängt. Es besteht kein kantischer Zwang, aber doch eine Ästhetik der Schlichtheit und Eleganz, die sich auch auf die Formulierung von Vermutungen auswirkt; die Mathematiker sind der Ansicht, daß die Schönheit eines Theorems nach bestimmten göttlichen Proportionen zwischen der Schlichtheit der Axiome am Ausgangspunkt und der Schlichtheit der erzielten These verlangt. Das Komplizierte, Verstrickte wurde immer dem dazwischen liegenden Weg, dem Beweis zugedacht. Nun ja, und solange diese Ästhetik beibehalten wird, gibt es keinen Grund, warum ›auf natürlichem Wege‹ unentscheidbare Aussagen auftauchen sollten.« Der Kellner war mit einer Kaffeekanne zurückgekommen, doch auch über unseren gefüllten Tassen verharrte Seldom noch einen Augenblick in Schweigen, womöglich unsicher, wie weit ich ihm gefolgt war, oder mit dem unangenehmen Gefühl, zuviel geredet zu haben. »Was mich am meisten beeindruckt hat«, sagte ich, »und worüber ich in Buenos Aires referiert habe, waren offen gestanden die Folgesätze über die philosophischen Systeme, die Sie etwas später veröffentlicht haben.« »Das war im Grunde wesentlich einfacher«, sagte Seldom. »Es ist die mehr oder weniger offensichtliche Erweiterung von Gödels Unvollständigkeitssatz: Jedes philosophische System, das von ersten Ursachen ausgeht, hat notwendigerweise eine begrenzte Reichweite. Glauben Sie mir, es war wesentlich einfacher, alle philosophischen Systeme zu untergraben als diese eine Denkschablone, an die sich die Mathematiker seit ewigen Zeiten geklammert haben. Schlicht und ergreifend, weil sich ein philosophisches System zuviel vornimmt; alles ist im Grunde eine Frage des Gleichgewichts: Sag mir, wieviel du
wissen willst, und ich sage dir, mit wieviel Gewißheit du es wirst behaupten können. Als aber schließlich alles abgeschlossen war und ich nach über dreißig Jahren zurückblickte, kam mir mein ursprünglicher Gedanke, den mir der Satz von Marx eingegeben hatte, gar nicht so abwegig vor. Er war gleichsam in dem Theorem aufgehoben. Die Katze beobachtet die Maus nicht einfach nur; sie beobachtet sie, um sie dann zu fressen. Aber die Katze beobachtet eben auch nicht alle Tiere als mögliche zukünftige Nahrung, sie mag nur Mäuse. Und genauso ist das historische mathematische Denken von einem Kriterium geleitet, doch dieses Kriterium ist im Grunde eine Ästhetik. Das erschien mir eine interessante und unerwartete Substituierung der kantischen Denknotwendigkeit und apriorischen Erkenntnis. Eine weniger rigide und vielleicht nicht so präzise Definition, die aber dennoch – wie mein Theorem zeigte – die nötige Konsistenz hat, um etwas auszusagen und Akzente zu setzen. Sie sehen«, sagte er wie entschuldigend, »es ist nicht so einfach, sich von dieser Ästhetik zu befreien; wir Mathematiker haben immer gern das Gefühl, etwas Sinnvolles auszusagen. Wie dem auch sei, seit dieser Zeit widme ich mich dem Studium dessen, was ich die Ästhetik des Denkens in anderen Disziplinen nenne. Ich begann mit dem mir am einfachsten oder zumindest am greifbarsten erscheinenden Modell: der Logik von Kriminaluntersuchungen. Die Analogie mit dem Gödelschen Theorem fand ich dort geradezu bestechend. Bei jedem Verbrechen gibt es unbezweifelbar einen Wahrheitsbegriff, eine einzige wahre Erklärung unter allen möglichen; dann sind da die materiellen Hinweise, Tatsachen, die unumstößlich oder zumindest, wie Descartes gesagt hätte, über jeden vernünftigen Zweifel erhaben sind; das wären die Axiome. Aber damit bewegen wir uns bereits auf bekanntem Terrain. Worin besteht denn eine Kriminaluntersuchung schon, wenn nicht in unserem
alten Spiel, Spekulationen, mögliche Erklärungen anzustellen, die sich den Tatsachen anpassen, und zu versuchen, sie zu beweisen? Ich begann, systematisch Berichte über reale Verbrechen zu lesen, habe die Aktennotizen von Staatsanwälten an Richter durchgesehen und die Art untersucht, in der die Tatsachen bewertet und eine Verurteilung oder ein Freispruch vor Gericht untermauert wird. Wie schon in meiner Jugend habe ich Hunderte von Krimis verschlungen. Nach und nach sind mir eine Vielzahl interessanter kleiner Eigenarten untergekommen, die Kriminalermittlungen zugrundeliegende Ästhetik. Und auch Fehler, ich meine theoretische Irrtümer in der Kriminalistik, die vielleicht noch wesentlich interessanter waren.« »Irrtümer? Was für Irrtümer?« »Der erste, offensichtlichste ist die Überbewertung der physischen Beweise. Denken wir nur an die gegenwärtige Untersuchung. Sie erinnern sich, daß Petersen einen Beamten losgeschickt hat, um den Zettel zu finden, den ich bekommen habe. Hier tritt wieder der bezeichnende, unüberbrückbare Riß zwischen Wahrem und Beweisbarem zutage. Denn ich habe die Notiz gesehen, aber das ist der Teil der Wahrheit, der ihnen nicht zugänglich ist. Meine Aussage ist für ihre Berichte nicht besonders ausschlaggebend, sie hat nicht dieselbe Beweiskraft wie das Stückchen Papier. Also gut, Wilkie, der Beamte, hat seine Arbeit so gewissenhaft wie möglich verrichtet. Er hat Brent vernommen, ihn mehrmals nach allen Einzelheiten befragt. Brent erinnerte sich bestens an das zusammengefaltete Blatt auf dem Boden meines Papierkorbs, hatte aber selbstverständlich nicht das geringste Interesse verspürt, es zu lesen. Er erinnerte sich auch noch, daß ich ihn gefragt hatte, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, an diesen Zettel zu kommen, und wiederholte, was er mir bereits gesagt hatte: daß er den Papierkorb in einen der fast leeren Müllsäcke entleert und
diesen kurz darauf in den Hof hinausgebracht habe. Eine halbe Stunde, bevor Wilkie zum Merton College kam, war die Müllabfuhr da gewesen. Petersen machte einen weiteren Versuch und beauftragte eine Streife, sie unterwegs anzuhalten. Aber offensichtlich sind diese Wagen mit einer automatischen Müllpresse ausgestattet, und die letzte Hoffnung, den Zettel zu retten, war sprichwörtlich zunichte gemacht worden. Gestern haben sie mich telephonisch gebeten, ihrem Zeichner eine Beschreibung der Schrift zu geben, und ich merkte, daß die Sache an Petersen nagte. Er steht im Ruf, der beste Inspektor zu sein, den wir seit Jahren hatten, und mir war ja Einblick in die vollständigen Untersuchungsprotokolle einiger seiner Fälle gestattet worden. Er ist akribisch, unermüdlich und schonungslos. Aber er ist und bleibt ein Inspektor, das heißt seine Ausbildung gehorchte den üblichen Regeln, seine Gedanken können den Tatsachen vorausgreifen. Und diese funktionieren leider nach dem Prinzip von Occams Rasiermesser: Solange keine gegenteiligen physischen Beweise auftauchen, wird stets die einfache Hypothese den komplizierteren vorgezogen. Das ist der zweite Irrtum. Nicht nur, weil die Wirklichkeit an sich kompliziert zu sein pflegt, sondern vor allem, weil ein tatsächlich intelligenter Mörder, der sein Verbrechen mit einer gewissen Sorgfalt vorbereitet hat, eine für jedermann zugängliche einfache Erklärung bieten wird, wie ein Zauberer aus dem Hintergrund eine Nebelwand aufsteigen läßt. Doch in der mittelmäßigen Logik der Reduktion möglicher Hypothesen überwiegt eine andere Überlegung: Warum etwas annehmen, das so seltsam und anormal anmutet wie ein Mörder mit intellektuellen Motiven, wenn man womöglich naheliegendere Erklärungen zur Hand hat? Ich kann mir geradezu bildhaft vorstellen, wie Petersen einen Rückzug gemacht und seine Hypothesen erneut hinterfragt hat. Ich glaube, er hätte auch
angefangen, mich zu verdächtigen, hätte er sich nicht bereits vergewissert, daß ich an jenem Nachmittag von eins bis drei tatsächlich ein Doktorandenseminar hatte. Ich vermute, er hat auch Ihre Aussage überprüfen lassen.« »Ja. Ich war in der Bodleiana Bibliothek. Gestern haben sie dort nach mir gefragt. Zum Glück konnte die Bibliothekarin sich noch genau an meinen Akzent erinnern.« »Sie haben zur Tatzeit Bücher gewälzt?« Seldom zog ironisch die Augenbrauen hoch. »In dem Fall ist Wissen ja tatsächlich einmal befreiend.« »Glauben Sie, daß Petersen sich dann auf Beth stürzen wird? Gestern nach der Vernehmung war sie in Panik. Sie glaubt, der Inspektor hat es auf sie abgesehen.« Seldom überlegte einen Augenblick. »Nein, ich glaube nicht, daß Petersen so simpel ist. Aber bedenken Sie die Gefahren von Occams Rasiermesser. Nehmen wir kurz einmal an, der Mörder, wo auch immer er sei, beschließt nun, daß ihm das Töten doch nicht zusagt oder daß dem Vergnügen durch das ungewollte Blutvergießen und das Einschreiten der Polizei Abbruch getan wurde, nehmen wir also an, er beschließt aus irgendeinem Grund, von der Bildfläche zu verschwinden. In diesem Fall würde Petersen sich, denke ich, sehr wohl auf sie stürzen. Meines Wissens hat er sie heute morgen noch einmal verhört, aber das kann auch ein Ablenkungsmanöver sein oder eine Taktik, um den Täter herauszufordern, indem sie tun, als wüßten sie tatsächlich nichts von ihm, als wäre es einer der üblichen Fälle, ein Familiendrama, wie es die Zeitung suggeriert.« »Aber Sie glauben nicht wirklich, daß der Täter das Spiel aufgeben wird«, sagte ich. Seldom schien meine Frage ernsthafter abzuwägen, als ich es erwartet hätte.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte er schließlich. »Ich denke nur, er wird versuchen… noch unsichtbarer zu sein, wie wir schon sagten. Haben Sie jetzt etwas vor?« fragte er unvermittelt und sah auf die Wanduhr des Speisesaals. »Ich gehe ins Radcliffe Krankenhaus, die Besuchszeit beginnt dort gerade. Wenn Sie Lust haben, mich zu begleiten, würde ich Ihnen gern jemanden vorstellen.«
Kapitel Acht
Wir gingen durch eine die Rückseite des Colleges säumende Galerie aus steinernen Arkaden nach draußen. Als handelte es sich um eine historische Reliquie, zeigte Seldom mir den Royal Tennis Court aus dem 16. Jahrhundert, auf dem Edward VII einst gespielt hatte und den ich sonst angesichts der ihn umgebenden Mauern wohl eher für einen argentinischen Pelotaplatz gehalten hätte. Dann überquerten wir die Straße und bogen in eine kleine Gasse zwischen den Gebäuden ein, die aussah, als hätte ein langer Schwerthieb den Stein auf wunderbare Weise in seiner ganzen Länge durchtrennt. »Das ist eine Abkürzung«, sagte Seldom. Er ging schnell und ein paar Schritte vor mir, da die Passage zwischen den Hauswänden für zwei zu schmal war. Sie mündete in einem Gehweg längs des Flusses. »Ich hoffe, Krankenhäuser bedrücken Sie nicht«, sagte er. »Das Radcliffe kann bisweilen etwas deprimierend wirken. Es hat sieben Stockwerke. Vielleicht kennen Sie den italienischen Schriftsteller Dino Buzzati; von ihm stammt eine Erzählung mit eben diesem Titel: Das Haus mit den sieben Stockwerken. Er wurde dazu von einem Erlebnis inspiriert, das sich in Oxford zugetragen hat, als er zu einem Vortrag hierherkam; er hat es in einem seiner Reisetagebücher festgehalten. Es war ein sehr heißer Tag, und kurz nachdem er den Saal verlassen hatte, erlitt er eine leichte Ohnmacht. Die Organisatoren bestanden darauf, ihn zur Vorsicht im Radcliffe untersuchen zu lassen. Sie brachten ihn in den siebten Stock, der den leichteren Fällen und allgemeinen Kontrollen vorbehalten ist. Dort wurden die ersten Analysen und Voruntersuchungen durchgeführt. Alles
sei in Ordnung, sagte man ihm, aber um ganz sicherzugehen, würde man ihn noch einiger gezielterer Tests unterziehen. Dafür müsse man ihn einen Stock tiefer bringen, seine Gastgeber würden unterdessen oben auf ihn warten. Man transportierte ihn in einem Rollstuhl, was ihm ein wenig übertrieben vorkam, doch zog er es vor, dies dem britischen Übereifer zuzuschreiben. Im sechsten Stock sah er auf den Gängen und in den Wartezimmern Menschen mit verbrannten Gesichtern und Verbänden, Krankenliegen mit reglosen, verstümmelten Körpern. Ihn selbst bat man, sich für die Röntgenaufnahmen auf einer Liege auszustrecken. Als er sich wieder aufrichten wollte, erklärte ihm der Radiologe, man habe eine kleine Anomalie entdeckt, die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Ernstes bedeute, doch solle er, bis die Resultate aller Untersuchungen eingetroffen wären, lieber flach liegenbleiben. Außerdem kündigte man ihm an, man müsse ihn ein paar weitere Stunden unter Beobachtung behalten und würde ihn dafür in den fünften Stock bringen, wo er ein Zimmer für sich haben könne. Im fünften Stock befanden sich bereits keine Menschen mehr auf dem Korridor, aber einige Türen standen halboffen, und es gelang ihm, einen Blick ins Innere eines der Zimmer zu werfen; alles, was er sah, waren Infusionströpfe, liegende Menschen, Arme mit Schläuchen. Zwei Stunden lang blieb er, inzwischen ziemlich alarmiert, in einem Zimmer allein auf seinem Bett liegen. Schließlich kam eine Krankenschwester mit einer Schere auf einem kleinen Tablett herein. Einer der Ärzte aus dem vierten Stock, Doktor X, der die endgültige Diagnose stellen würde, schicke sie, sie solle ihm vor der Visite eine kleine Tonsur am Hinterkopf machen. Während die Haarsträhnen auf das Tablett fielen, fragte Buzzati, ob der Doktor heraufkommen würde, um ihn zu untersuchen. Die Krankenschwester lächelte, als könne nur ein Ausländer auf eine derartige Idee kommen, und teilte ihm mit,
daß die Ärzte es vorzögen, auf ihrem jeweiligen Stockwerk zu bleiben. Aber sie selbst würde ihn über eine der Rampen hinunterfahren und ihn neben ein Fenster stellen, bis er an der Reihe wäre. Das Gebäude hat eine U-Form, und von dem Fenster im vierten Stock aus konnte Buzzati auf die Rolläden im ersten Stock hinuntersehen, die er in seiner Erzählung beschreibt. Einige wenige waren hochgezogen, die meisten jedoch heruntergelassen. Er fragte die Krankenschwester, für wen der erste Stock bestimmt war, und erhielt die Antwort: Dort unten ist nur der Priester tätig. Buzzati erzählt, daß ihn in jener schrecklichen Stunde, während er auf den Arzt wartete, vor allem eine mathematische Überlegung beschäftigte. Er wurde sich bewußt, daß das vierte Stockwerk exakt in der Mitte der Rückwärtszählung lag, und ein abergläubisches Entsetzen sagte ihm, daß alles verloren wäre, würde er auch nur eine einzige Etage weiter absteigen. Von Zeit zu Zeit vernahm er aus dem unteren Stockwerk etwas, das sich wie gebrochen durch den Aufzugschacht heraufdringende Schreie anhörte, ausgestoßen in einem Delirium aus Schmerzen und Tränen. Er beschloß, sich bis zu seinem letzten Atemzug zu wehren, sollte man ihn mit irgendeiner Ausrede wieder einen Stock tiefer bringen wollen. Schließlich kam der Arzt. Es war nicht der Doktor X, sondern der diensthabende Stationsarzt Doktor Y, der ein wenig italienisch sprach und seine Bücher kannte. Er warf einen raschen Blick auf die Laborergebnisse und die Röntgenaufnahmen und drückte sein Erstaunen darüber aus, daß sein junger Kollege, Doktor X, die Tonsur angeordnet habe; vielleicht, sagte er, habe er an eine präventive Punktion gedacht, die in jedem Fall aber nicht notwendig sei. Alles sei völlig in Ordnung. Er entschuldigte sich und hoffe, sagte er, daß die Schreie, die aus dem unteren Stockwerk zu hören seien, ihn nicht zu sehr erschrocken hätten. Es handele sich um den einzigen Überlebenden eines
Autounfalls. In der dritten Etage ginge es mitunter sehr geräuschvoll zu, sagte er, viele Krankenschwestern würden dort Ohrstöpsel benutzen. Voraussichtlich würde man den armen Menschen jedoch bald in den zweiten Stock verlegen, und es würde wieder Friede einkehren.« Seldom deutete mit dem Kinn auf die Masse dunkler Ziegelsteine, die vor uns aufgetaucht war. Dann fügte er hinzu, als koste es ihn Mühe, den Bericht in demselben ruhigen und sachlichen Ton abzuschließen: »Der Tagebucheintrag stammt vom 27. Juni 1967, zwei Tage nach dem Unfall, in dem ich meine Frau verlor, dem Unfall, in dem auch John und Sarah starben. Der Mann, der im dritten Stock mit dem Tod rang, war ich.«
Kapitel Neun
Schweigend gingen wir die steinernen Eingangsstufen hinauf, betraten die Halle und durchquerten einen langgestreckten Wartesaal; auf den Korridoren begrüßte Seldom nahezu alle Ärzte und Krankenschwestern, die wir kreuzten. »Ich habe fast zwei ganze Jahre hier verbracht«, erklärte er mir. »Und dann mußte ich ein weiteres Jahr lang jede Woche zur Konsultation kommen. Es passiert mir immer noch, daß ich mitten in der Nacht aufwache und denke, ich liege wieder in einem der Krankensäle.« Er zeigte auf eine Ecke, in der die abgenutzten Stufen einer Wendeltreppe aufstiegen. »So kommen wir schneller in den zweiten Stock«, sagte er. Der zweite Stock war ein langer heller Flur, dessen ernste, gesammelte Stille etwas von einer Kathedrale hatte. Unsere Schritte verursachten ein feindliches Echo. Die Böden sahen aus wie frisch gebohnert und glänzten, als würde kaum jemand darüber gehen. »Die Krankenschwestern nennen es das Aquarium oder die vegetarische Abteilung«, sagte Seldom und öffnete die Flügeltür zu einem der Säle. An den Wänden entlang standen zwei Reihen Betten, eng aneinander wie in einem Feldlazarett. In jedem Bett lag ein Körper, von dem nur der an ein Beatmungsgerät angeschlossene Kopf herausschaute. Alle Beatmungsmaschinen gemeinsam verursachten ein tiefes, bedächtiges Gurgeln, das in der Tat an eine Unterwasserwelt denken ließ. Als wir zwischen den beiden Bettreihen hindurchgingen, sah ich, daß neben jedem Kranken ein Beutel für die Ausscheidungen herauslugte. Körper, die auf ihre
beiden Hauptöffnungen reduziert worden sind, dachte ich. Seldom fing meinen Blick auf. »Einmal bin ich nachts aufgewacht«, erzählte er mir leise, »und habe gehört, wie zwei Krankenschwestern, die hier gearbeitet hatten, sich flüsternd über die ›Schmutzfinken‹ unterhielten. Das sind die, die ihren Beutel zweimal täglich vollmachen und ihnen die zusätzliche Arbeit verursachen, ihn nachmittags noch einmal auszuwechseln. Egal, wie ihre tatsächliche Verfassung ist, die ›Schmutzfinken‹ bleiben nie lange hier im Saal. Irgendwie, das können Sie sich ausmalen, schaffen sie es immer, daß ihr Zustand sich verschlechtert und sie verlegt werden müssen. Willkommen im Land von Florence Nightingale. Sie genießen fast absolute Straffreiheit, denn bis hierher dringen die Familien so gut wie nie vor, am Anfang kommen sie vielleicht ein- oder zweimal, und dann sieht man sie nie wieder. Es ist wie eine Lagerhalle, manche sind schon seit Jahren an die Maschinen angeschlossen. Deshalb versuche ich, jeden Nachmittag vorbeizuschauen; seit einiger Zeit hat Frankie sich leider in einen ›Schmutzfinken‹ verwandelt, und ich will vermeiden, daß ihm etwas Merkwürdiges zustößt.« Wir waren neben einem der Betten stehengeblieben. Der Mann oder das, was von dem Mann übrig war, der dort lag, war ein Schädel mit ein paar strähnig über seine Ohren fallenden grauen Haaren und einer senkrecht zu einer Augenbraue verlaufenden, imposant geröteten Ader. Der Körper war unter dem Laken in sich zusammengefallen, das Bett um ihn herum schien viel zu groß, und es sah aus, als fehlten ihm beide Beine. Das dünne weiße Leinen bewegte sich kaum über seiner Brust, und seine Nasenflügel bebten, ohne daß die Glasmaske beschlug. Einer seiner Arme ragte ausgestreckt nach draußen, von einem Kupferring umfaßt, den ich im ersten Moment für einen Pulsmesser hielt. Tatsächlich
handelte es sich um eine Halterung, die den Arm über einem Notizblock fixierte. Auf erfinderische Weise hatte man einen kurzen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger angebracht. Die Hand lag jedoch, mit lang hervorstehenden Fingernägeln, schlaff und leblos auf dem weißen Blatt. »Vielleicht haben Sie von ihm gehört«, sagte Seldom. »Das ist Frank Kaiman, er hat die Arbeiten von Wittgenstein über Regelfolgen und Sprachspiele fortgeführt.« Ich antwortete höflich, daß mir der Name zwar bekannt vorkam, aber nur sehr vage etwas sagte. »Frank war kein professioneller Logiker«, sagte Seldom. »Tatsächlich gehörte er nie zu den Mathematikern mit Artikeln und Kongressen. Unmittelbar nach seinem Abschluß hat er einen Posten in einer großen Firma für Personalconsulting angenommen. Seine Aufgabe bestand darin, Einstellungstests für verschiedene Bereiche zu entwerfen und auszuwerten. Man wies ihm das Gebiet der symbolischen Manipulation und der Intelligenztests zu. Einige Jahre später beauftragte man ihn darüber hinaus mit den ersten Niveaueinschätzungen in höheren Schulen. Sein ganzes Leben hat er damit zugebracht, logische Reihen des Basistypus auszuarbeiten, in der Art, wie ich sie Ihnen gezeigt habe: eine Sequenz von drei Symbolen, für die das darauffolgende vierte gefunden werden muß. Oder eine Zahlenreihe, etwa 2, 4 und 8, die fortgeführt werden soll. Frank war überaus gewissenhaft, geradezu besessen genau. Er ging die Stapel von Prüfungen Blatt für Blatt durch und entdeckte dabei mit der Zeit ein wirklich seltsames Phänomen. Da gab es natürlich die perfekten Resultate, die nur den Schluß zuließen, wie Frank mit wunderbarer Vorsicht bemerkte, daß die Intelligenz des Kandidaten mit den Erwartungen des Prüfers perfekt übereinstimmte. Und dann fand sich, in überwältigender Mehrheit, das, was Frank die Normstichprobe nannte: Prüfungen mit einigen Fehlern, die dem Typ der zu
erwartenden Irrtümer angehörten. Doch es gab noch eine dritte, stets sehr kleine Gruppe, die Franks Aufmerksamkeit besonders auf sich lenkte. Es waren fast perfekte Prüfungen, bei denen alle Lösungen die erwarteten waren, bis auf eine; doch der Unterschied zum Normalfall bestand darin, daß der Fehler bei dieser einen anderen Lösung auf den ersten Blick völlig unsinnig erschien, wie eine blind oder willkürlich gewählte Fortführung, die meilenweit entfernt von dem gewöhnlichen Spektrum der Irrtümer war. Aus reiner Neugierde kam Frank darauf, die Bewerber aus dieser kleinen Gruppe zu bitten, ihre Lösungen zu rechtfertigen, und dies bescherte ihm eine erste Überraschung. Die Antworten, die er als falsch betrachtet hatte, stellten in Wirklichkeit eine andere mögliche, vollkommen korrekte Lösung zur Fortführung dar, nur mit einer wesentlich komplizierteren Erklärung. Das Frappierende dabei war, daß der Verstand dieser Kandidaten die von Frank vorgesehene einfache Lösung einfach übersprungen und in irgendeinem Moment, wie auf einem Trampolin, einen weitaus größeren Satz gemacht hatte. Der Vergleich mit dem Trampolin stammt ebenfalls von Frank; die drei Symbole oder Zahlen auf dem Blatt entsprachen für ihn dem Schwung, den der Springer auf der Matte nimmt; unter diesem Aspekt schien ihm diese Analogie eine erste Erklärung zu bieten: Für eine Intelligenz, die sich mit heftigem Impuls nach vorne katapultiert, ist die fernere Lösung naheliegender als die, die sich unmittelbar vor ihren Füßen befindet. Aber das stellte natürlich die Voraussetzungen seiner fast lebenslangen Arbeit grundsätzlich in Frage. Frank sah sich mit einem Mal verunsichert. Die Lösung seiner Reihen war keineswegs einzigartig; Antworten, die er bis dahin als falsch beurteilt hatte, konnten Alternativlösungen und auf eine gewisse Weise ebenso ›natürlich‹ sein, und er sah nicht einmal mehr, wie er zwischen einer zufälligen Antwort oder einer Fortführung
unterscheiden sollte, die eine außergewöhnliche, zu athletische Intelligenz gewählt haben könnte. Als er an diesen Punkt gelangt war, suchte er mich auf, und ich mußte ihm eine weitere schlechte Nachricht geben.« »Das Wittgensteinsche Paradox des Regelfolgens«, sagte ich. »Genau. Frank hatte in der Praxis, in einem realen Experiment wiederentdeckt, was Wittgenstein theoretisch bereits vor Jahrzehnten demonstriert hat: die Unmöglichkeit, eine unmißverständliche Regel und deren ›natürliche‹ Befolgungen aufzustellen. Die Reihe 2, 4, 8 kann mit der Zahl 16, aber ebensogut mit 10 oder 2007 fortgeführt werden; es läßt sich immer eine Rechtfertigung, eine Regel dafür finden, eine beliebige Zahl als vierte Stelle einzusetzen. Für jede beliebige Zahl, für jede beliebige Fortführung. Dieser Schluß würde Inspektor Petersen nicht besonders gefallen und brachte Frank fast zum Wahnsinn. Er war damals bereits über sechzig, aber er bat mich um die entsprechenden Literaturverweise und hatte den Mut, sich wie ein junger Student in die verlassene Höhle der Arbeiten Wittgensteins zu begeben. Und Sie wissen, was der Abstieg in die wittgensteinsche Dunkelheit bedeutet. An einem gewissen Punkt fühlte er sich am Rande des Abgrunds. Er merkte, daß er nicht einmal mehr dem Einmaleins vertrauen konnte. Doch rettete er sich zu einer Idee, wie ich sie ähnlich damals auch hegte. Mit einem fast fanatischen Glauben klammerte Frank sich an die letzte dem Untergang entronnene Planke: die Statistiken seiner Experimente. Er sagte sich, daß Wittgensteins Schlüsse in gewisser Weise theoretisch waren, einer platonischen Weltsicht entsprangen, die Form, in der reale Personen dachten, sich davon jedoch unterschied. Schließlich kam nur ein äußerst geringer Prozentsatz auf jene atypischen Lösungen. Und so überlegte er sich, daß – waren im Prinzip auch alle Lösungen gleichermaßen wahrscheinlich – möglicherweise ein
bestimmter Faktor in der menschlichen Psyche oder in den Sprachspielen zum Erlernen von Symbolen die große Mehrzahl dazu prädisponierte, zu dem gleichen Punkt zu gelangen, zu der Lösung, die sich dem menschlichen Verstand als die einfachste, schlüssigste oder angenehmste präsentierte. Er dachte letztlich, in etwa wie ich, daß irgendein apriorisches ästhetisches Prinzip am Werk war, das für die endgültige Wahl nur einige wenige Möglichkeiten ausfilterte. Und so setzte er sich zum Ziel, eine abstrakte Definition dessen zu geben, was er den normalen Denkprozeß nannte. Doch schlug er dafür einen höchst sonderbaren Weg ein. Er begann, psychiatrische Kliniken zu besuchen und seine Tests mit lobotomisierten Patienten durchzuführen. Er sammelte Beispiele einzelner Worte und Symbole, die Schlafwandler aufgeschrieben hatten, und nahm an Hypnosesitzungen teil. Und vor allem studierte er den Typ von Symbolen, den Kranke mit zerebralen Verletzungen in fast vegetativem Zustand zu übermitteln versuchen. Was er im Grunde suchte, ist per definitionem so gut wie unmöglich: Er wollte herausfinden, was vom Verstand übrigbleibt, wenn der Verstand sich selbst nicht mehr überwacht. Er glaubte, vielleicht eine Art Motorik oder Spuren zerebraler Aktivität ausmachen zu können, die einer organisch gefurchten Bahn oder einem vom Lernprozeß markierten Pfad entsprächen. Aber ich vermute, daß dabei bereits ein Hang zum Krankhaften eine Rolle spielte, der ihm den Anstoß zu seinen Plänen gab. Kurz zuvor hatte man eine äußerst aggressive Art von Tumor an ihm diagnostiziert, der erst die Beine angreift, weshalb man ihn hier den Holzfällerkrebs nennt, da den Ärzten nichts anderes übrigbleibt, als nach und nach die Gliedmaßen zu amputieren. Ich habe ihn nach der ersten Amputation besucht. Angesichts der Umstände war er recht wohlgemut. Er zeigte mir ein Buch, das ihm sein Arzt geschenkt hatte und in dem Photographien von Schädeln zu
sehen waren, die durch Unfälle, Suizidversuche oder Hiebe mit Baseballschlägern teilweise zerstört worden waren. Sie wurden begleitet von einer ausführlichen klinischen Studie über die Folgen und Interaktionen zerebraler Schäden. Mit geheimnisvoller Miene machte er mich auf eine Seite aufmerksam, die die linke Hemisphäre eines Gehirns zeigte, dessen Parietallappen durch eine Kugel stark beschädigt war. Er bat mich, die Bildunterschrift zu lesen. Der Patient war nach einem versuchten Suizid in einen komatösen Zustand gefallen, doch seine rechte Hand – besagte der Text – fuhr noch monatelang fort, allerhand seltsame Symbole niederzuschreiben. Dann erklärte er mir, daß er im Laufe seiner Krankenhausbesuche eine enge Verbindung zwischen dem Typ der Symbole, den ein Komapatient notiert, und der Zeit seines Lebens ausgeführten Aktivität festgestellt habe. Frankie war ein äußerst zurückhaltender Mensch. Er sagte – und es war das einzige Mal, daß er mir gegenüber etwas Persönliches erwähnte –, er habe leider nie geheiratet; mit einem etwas traurigen Lächeln fügte er hinzu, er habe nicht vieles in seinem Leben getan, seit vierzig Jahren habe er aber logische Symbole zu Papier gebracht und gedeutet. Deshalb sei er sich sicher, daß sich keine bessere Versuchsperson als er selbst für sein Experiment würde finden lassen. Er sei davon überzeugt, daß sich in den Symbolen, die er festhalten würde, auf irgendeine Weise die Kodifizierung jener rationalen Spur oder jenes Substrats, nach dem er suchte, ablesen lassen würde. In jedem Fall würde er nicht darauf warten, bis sie sich das nächste Bein vornehmen würden. Sein einzig wirkliches noch zu lösende Problem bestand im Grunde darin, wie er es anstellen müßte, damit die Kugel keinen exzessiven Schaden anrichtete und die Knochensplitter nicht das motorische Zentrum verletzten. Ich hatte ihn über die Jahre hinweg ins Herz geschlossen, und als ich ihm sagte, daß ich nicht bereit
sei, ihm bei diesem Problem zu helfen, fragte er mich, ob ich, sollte es ihm schließlich gelingen, es alleine zu lösen, zur Stelle sein würde, um die Symbole zu lesen.« Unterdessen sah man, wie die Hand spasmisch zusammenzuckte und den Bleistift umkrampfte, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Starr vor Schreck verfolgte ich, wie der Stift langsam und linkisch über das Blatt schürfte, aber Seldom schien dem keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. »Um diese Zeit fängt er zu schreiben an«, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, seine Stimme zu senken, »das dauert fast die ganze Nacht. Frankie war wirklich ein intelligenter Knabe, und schließlich fand er die Lösung; eine gewöhnliche Pistole, selbst mit kleinem Kaliber, ließ aufgrund der inneren Deflagration zuviel Fehlerspielraum. Er benötigte etwas, das die Stirnwand durchstoßen und sauber bis zum Gehirn gelangen würde, wie eine kleine Harpune. Dieser Teil des Krankenhauses wurde zu der Zeit gerade renoviert, und offensichtlich brachte ihn einer der Arbeiter, mit dem er sich über Werkzeuge unterhielt, auf die Idee. Er verwendete schließlich eine Nagelpistole.« Ich beugte mich leicht vor, um zu versuchen, die wirren Striche zu erkennen, die auf dem Papier auftauchten. »Seine Schrift wird immer unlesbarer«, sagte Seldom. »Aber bis vor einiger Zeit konnte man sie noch einwandfrei entziffern. Im Grunde sind es nur vier Buchstaben, die er wieder und wieder schreibt. Die vier Buchstaben eines Namens. In all diesen Jahren hat Frankie kein einziges logisches Symbol, keine einzige Zahl festgehalten. Das einzige, was Frankie unaufhörlich niederschreibt, ist der Name einer Frau.«
Kapitel Zehn
»Gehen wir kurz auf den Gang, ich will eine Zigarette rauchen«, sagte Seldom. Er hatte das von Frankie beschriebene Blatt herausgerissen und nach einem flüchtigen Blick darauf in den Papierkorb geworfen. Schweigend verließen wir den Saal und gingen über den leeren Korridor, bis wir ein offenes Fenster fanden. Ein Krankenpfleger, der eine Liege vor sich herschob, kam uns langsam entgegen. Als er an uns vorbeiging, sah ich, daß das Laken über das Gesicht des Patienten gezogen war und seinen ganzen Körper wie ein Leichentuch bedeckte. Nur ein Arm schaute heraus; auf einem am Handgelenk befestigten Schild stand der Name. Ich machte eine Zahl darunter aus, die vielleicht die Todesstunde angab. Mit einem raschen Manöver schob der Krankenpfleger die Liege durch eine enge Glastür. »Ist das die Leichenhalle?« fragte ich. »Nein«, sagte Seldom. »Jedes Stockwerk hat so einen Raum. Wenn ein Patient stirbt, wird der Leichnam sofort aus dem Saal entfernt, um das Bett so schnell wie möglich frei zu machen. Der Stationsarzt wird geholt, um das Ableben zu konstatieren, der Totenschein wird ausgestellt, und erst dann wird der Tote in die tatsächliche Leichenhalle des Krankenhauses gebracht, sie befindet sich in einem der Untergeschosse.« Seldom machte eine Kopfbewegung zu Franks Saal hin. »Ich werde noch ein wenig dort bleiben und Frankie Gesellschaft leisten. Es ist ein guter Ort zum Nachdenken, zumindest so gut wie jeder andere auch. Aber Sie möchten sicherlich noch die Röntgenabteilung besuchen«, fügte er lächelnd hinzu, und als er meine Überraschung
bemerkte, funkelten seine Augen, und sein Lächeln wurde breiter. »Oxford ist schließlich doch nur ein Dorf. Meinen Glückwunsch, Lorna ist ein fabelhaftes Mädchen. Ich habe sie während meiner Rekonvaleszenz kennengelernt, sie hat mir etliche Krimis geliehen. Haben Sie schon ihre Bibliothek gesehen?« Er zog mit leicht rätselnder Anerkennung die Augenbrauen hoch. »Mir ist noch nie jemand mit einer derartigen Leidenschaft für Verbrechen begegnet. Dort drüben rechts«, deutete er mir, »müssen Sie den Fahrstuhl in den obersten Stock nehmen.« Der Aufzug fuhr mit einem schwerfälligen pneumatischen Quietschen nach oben. Durch ein Labyrinth von Korridoren folgte ich den Pfeilen zur Röntgenabteilung, bis ich auf einen Warteraum stieß, in dem nur ein Mann saß, dessen etwas wirrer Blick sich über dem Buch auf seinen Knien verlor. Hinter der Scheibe eines Glaskastens sah ich Lorna in ihrer Krankenschwesterntracht über ein Bett gebeugt, als würde sie einem Kind geduldig Instruktionen erteilen. Ich näherte mich der Scheibe, konnte mich aber nicht gleich entschließen, sie zu unterbrechen. Lorna legte gerade einen Teddybären neben das Kopfkissen. Ich sah, daß der Patient in der Tat ein etwa siebenjähriges blasses Mädchen mit erschrockenen, aber tapfer wachen Augen und langen, über das Kopfkissen gebreiteten Locken war. Lorna sagte noch etwas, und das Mädchen umarmte heftig seinen Teddybären. Ich tippte zweimal gegen die Scheibe; Lorna sah in meine Richtung, lachte überrascht und rief etwas aus, das nicht durch die Scheibe drang. Sie zeigte auf eine kleine Seitentür und bedeutete dem Mädchen mit einer imaginären Schlägerbewegung, daß ich Lornas Tennispartner war. Dann öffnete sie kurz die Tür, gab mir einen raschen Kuß und bat mich, einen Augenblick zu warten. Ich trat zurück in den Warteraum. Der Mann hatte sich wieder seinem Buch zugewandt. Ich bemerkte, daß er einen
Dreitagebart und gerötete, übernächtigte Augen hatte. Leicht erstaunt entzifferte ich den Titel des Buches: Von den Pythagoräern bis Jesus. Plötzlich senkte der Mann das Buch, und unsere Blicke trafen sich. »Entschuldigung«, sagte ich, »der Titel hat mich neugierig gemacht. Sind Sie Mathematiker?« »Nein«, entgegnete er, »aber wenn Sie sich von dem Titel angesprochen fühlen, nehme ich an, Sie sind einer.« Ich nickte lächelnd, während der Mann mich mit verunsichernder Starrheit fixierte. »Ich lese mich zurück«, sagte er. »Ich will wissen, wie die Dinge ganz am Anfang einmal waren.« Wieder sah er mich mit seinem leicht fanatischen Blick an. »Das kann einen ziemlich überraschen. Was glauben Sie zum Beispiel, wie viele Sekten, wie viele religiöse Gruppierungen es zu Zeiten Christi gab?« Ich überlegte, daß die Höflichkeit es wohl gebot, mit einer sehr niedrigen Zahl zu antworten. Doch bevor ich etwas entgegnen konnte, fuhr der Mann bereits fort. »Hunderte waren es, Hunderte«, sagte er. »Die Nazarener, die Essener, die Simonianer, die Zeloten. Petrus und seine Apostel waren nur ein winziges Grüppchen, eines unter Hunderten. Die Dinge hätten genausogut ganz anders verlaufen können. Sie waren weder die zahlreichsten noch die einflußreichsten noch die fortschrittlichsten. Aber sie waren gewitzt, sie hatten eine Idee, die sie von den anderen unterschied und sich über sie erheben ließ, ein zentrales Thema, mit dem sie die anderen Gruppen verfolgen und auslöschen und sich schließlich alleine behaupten konnten. Während alle anderen nur von der Wiederauferstehung der Seele redeten, versprachen sie darüber hinaus die Wiederauferstehung des Fleisches. Die Rückkehr ins Leben im eigenen Körper. Eine Idee, die bereits damals absurd klang, als primitiv betrachtet wurde. Christus, der am dritten Tag aus
seinem Grab aufsteht und sich abtasten läßt wie ein Steckfisch. Aber wo war denn unser Christus bitte schön während der vierzig Tage, die seine Rückkehr gedauert hat?« In seiner rauhen Stimme bebte die etwas ungestüme Heftigkeit eines frisch Konvertierten oder Autodidakten. Er hatte sich zu mir vorgebeugt, und der penetrant säuerliche Schweißgeruch seines zerknitterten Hemds stieg mir in die Nase. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, doch konnte man sich nur schwer seinem stechenden Blick entziehen. Wieder deutete ich mit einer Geste das angemessene Unwissen an. »Eben. Sie wissen es nicht, ich weiß es nicht, niemand weiß es. Es ist ein Rätsel. Man erfährt nur, daß er sich hat abtasten lassen und Petrus als seinen Nachfolger auf Erden bestimmt hat. Wie angenehm für Petrus, nicht wahr? Wußten Sie, daß die Toten bis zu diesem Zeitpunkt einfach nur mit einem Leichentuch bedeckt wurden? Die Vorstellung, einen Leichnam zu konservieren, gab es bis dahin selbstverständlich gar nicht. Der Körper wurde letztendlich von den Religionen immer als der schwächste, vergänglichste, für Sünden anfälligste Teil betrachtet. Tja, von diesen Zeiten trennen uns eine Menge Holzsärge, stimmt’s? Eine ganze Welt aus Särgen unter der Welt. In den Außenbezirken jeder Stadt eine weitere unterirdische Stadt aus säuberlich aufgereihten, hübsch verschlossenen Särgen. Aber wir alle wissen doch, was in den Särgen passiert. In den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Rigor mortis beginnt die Dehydratation. Das Blut hört auf, Sauerstoff zu transportieren, die Hornhaut verliert ihre Transparenz, Iris und Pupillen verformen sich, die Haut wird runzlig. Am zweiten Tag beginnt die Verwesung der Eingeweide, und die ersten grünlichen Flecken treten auf. Die inneren Organe haben längst ihre Funktionen verloren, das Gewebe zerfällt. Am dritten Tag schreitet die Zersetzung
rapide voran, die Gase blähen den Bauch auf, und die Glieder werden von einem Marmorgrün befallen. Der Leichnam verströmt eine Mischung aus Kohlendioxid und Sauerstoff, den penetranten Geruch eines Fleischstücks, das man zu lange neben dem Kühlschrank hat liegenlassen; das Festmahl der Leichenfauna und nekrophagen Parasiten beginnt. Jeder einzelne dieser Prozesse bedeutet einen unumkehrbaren Substanzverlust, es gibt keine Möglichkeit, die vitalen Funktionen wiederherzustellen. Am dritten Tag muß Jesus also eine verfaulte Masse gewesen sein, unfähig aufzustehen, stinkend und blind. Das ist die ganze Wahrheit. Aber wen interessiert schon die Wahrheit, stimmt’s? Sie haben gerade meine Tochter gesehen«, sagte er unvermittelt, und er senkte seine Stimme mit einem machtlosen, besorgten Ton. »Sie braucht eine Lungentransplantation. Seit einem Jahr warten wir auf diese Lunge, mittlerweile steht sie auf der Transplantationsliste mit besonderer Priorität. Sie hat nur noch dreißig Tage zu leben. Zweimal gab es eine Chance. Zweimal habe ich gebeten und gebettelt. Aber beide Male handelte es sich um praktizierende Christen, die ihre Kinder christlich beerdigen wollten.« Er sah mich an wie ein gehetztes Tier. »Wissen Sie, daß die britische Rechtsprechung es verbietet, nach dem Selbstmord eines Elternteils die Organe für eine Transplantation an den Kindern zu verwenden? Deshalb«, sagte er und klopfte mit einem Finger auf den Buchdeckel, »ist es manchmal interessant, an den Anfang zurückzugehen. In der Antike dachte man anders über Transplantationen, die Theorie der Pythagoräer über die Migration der Seelen…« Der Mann unterbrach sich und stand auf. Die Tür hatte sich geöffnet und Lorna schob das Krankenbett nach draußen. Das Mädchen schien eingeschlafen zu sein. Der Mann wechselte ein paar Worte mit Lorna und fuhr dann selbst das Bett über den Korridor weg. Mit den Händen in den Taschen und einem
zweideutigen Lächeln auf den Lippen wandte Lorna sich mir zu. Ihr Kittel, ein ausgesprochen dünner Stoff, straffte sich ausnehmend adrett über ihrer Brust. »Was für eine nette Überraschung, dich hier zu sehen.« »Ich wollte dich unbedingt einmal in deiner Schwesterntracht begutachten«, sagte ich. Sie breitete neckend die Arme aus, wie um sich demonstrativ vor mir zu drehen, ließ mich ihr aber nur einen kurzen Kuß geben. »Irgendwas Neues?« fragte sie mit einem neugierigen Flackern in den Augen. »Kein neues Verbrechen«, sagte ich. »Ich habe gerade den zweiten Stock kennengelernt, Seldom hat mich in den Saal von Frank Kaiman mitgenommen.« »Ich habe gesehen, daß Caitlins Vater dich abgefangen hat«, sagte sie. »Vermutlich hat er dir von den Spartanern erzählt oder das Christentum verwünscht. Er ist Witwer, und Caitlin ist seine einzige Tochter. Er hat sich von seiner Arbeit freistellen lassen und bewegt sich seit drei Monaten kaum von hier weg. Er liest alles, was in irgendeiner Form mit Transplantationen zu tun hat. Ich glaube, inzwischen ist er ein bißchen«, dabei bewegte sie ihre Hand vor der Stirn leicht hin und her, »ga-ga.« »Ich wollte übers Wochenende nach London fahren«, sagte ich. »Kommst du mit?« »Dieses Wochenende kann ich nicht, ich habe beide Nächte Dienst. Aber gehen wir kurz in die Cafeteria, dann mache ich dir eine Liste von ein paar Bed and Breakfast und Dingen, die du unbedingt anschauen mußt.« »Ach übrigens«, sagte ich auf dem Weg zum Aufzug, »ich wußte gar nicht, daß Arthur Seldom schon mal bei dir zu Hause war.«
Ich sah sie mit einem Grinsen an, und nach einem kurzen Zögern lächelte auch sie amüsiert. »Er hat nur kurz vorbeigeschaut, um mir sein Buch zu bringen. Ich kann dir auch noch eine Liste von all den Männern machen, die meine Wohnung besser kennen, aber die wäre wesentlich länger.« Nachdem ich wieder in meinem Zimmer im Cunliffe Close war, entdeckte ich unter einem meiner Hefte den Umschlag, den ich für Mrs. Eagleton vorbereitet hatte, und mir wurde bewußt, daß ich Beth seitdem noch nicht das Geld für die Miete gegeben hatte. Ich packte meine Reisetasche für das Wochenende und stieg dann mit dem Geld in der Hand die Eingangstreppe hinauf. Beth rief von drinnen, ich solle eine Minute warten. Als sie die Tür öffnete, sah sie äußerst entspannt und gelassen aus, als hätte sie gerade ein ausgiebiges Bad genommen. Ihre Haare waren naß, sie war barfuß und trug einen langen, sorgsam geschlossenen Frottee-Bademantel. Sie führte mich kurz ins Wohnzimmer. Ich erkannte es kaum wieder. Sie hatte den Teppich, die Möbel und Vorhänge ausgewechselt. Das Haus hatte jetzt eine persönlichere, behaglichere Note, einen gewissen Stil, der einer Einrichtungszeitschrift entlehnt schien, aber gleichzeitig immer noch, wenn auch auf eine ganz andere Weise, schlicht und einladend war. Und hatte sie sich vorgenommen, jede letzte Spur von Mrs. Eagleton verschwinden zu lassen, dann war ihr das, dies war zumindest mein Eindruck, gelungen. Ich teilte ihr mit, daß ich das Wochenende in London verbringen würde, und sie sagte mir, daß sie am darauffolgenden Tag nach dem Begräbnis ebenfalls wegfahren würde, auf eine kleine Orchestertournee nach Exeter und Bath. Plötzlich hörte man aus dem Badezimmer ein heftiges Plätschern, als richtete sich eine kräftige Person in der Wanne auf. Es erschien mir, als würde Beth mit einem Mal schrecklich verlegen, wie auf
frischer Tat ertappt. Vermutlich erinnerte sie sich im selben Moment wie ich an die abfällige Art, mit der sie mir nur achtundvierzig Stunden zuvor von Michael erzählt hatte. Ich nahm den Oxford Tube nach London und brachte zwei Tage damit zu, unter einer milden, freundlichen Sonne wie ein angenehm verirrter Tourist durch die Stadt zu streifen. Am Samstag kaufte ich die Oxford Times, in der ein kleiner Artikel Mrs. Eagletons Beerdigung ankündigte und eine kurze Zusammenfassung der Fakten ohne neue Details vornahm. Am Sonntag war nichts mehr über den Fall zu finden. In Portobello Road erstand ich, an Lorna denkend, ein etwas verstaubtes, aber gut erhaltenes Exemplar der Memoiren von Lucrecia Borgia und nahm abends den letzten Zug zurück nach Oxford. Dementsprechend verschlafen machte ich mich Montag morgen auf den Weg ins Institut. Am Beginn des Cunliffe Close lag ein Tier auf dem Asphalt, das ein Auto wahrscheinlich in der Nacht überfahren hatte. Mein Weg führte unmittelbar daran vorbei. Noch nie zuvor hatte ich ein derartiges Tier gesehen, und ich mußte eine plötzliche Übelkeit unterdrücken. Offenbar handelte es sich um irgendeine riesige Rattenart, mit einem langen dunklen, im Blut schwimmenden Schwanz. Der Kopf war völlig zerquetscht, nur die Schnauze hob sich noch ab, mit weit geöffneten, schweineähnlichen Nasenlöchern. Wo einmal der Bauch gewesen war, wölbte sich wie unter einer zerfetzten Tasche eine unverwechselbare Ausbeulung, die auf ein Junges hindeutete. Unwillkürlich ging ich schneller, versuchte, vor dem zu fliehen, was ich ohnehin schon gesehen hatte, dem tiefen, fast unerklärlichen Entsetzen zu entkommen, das es mir eingeflößt hatte. Den ganzen Weg lang kämpfte ich damit, dieses Bild abzuschütteln. Wie Zuflucht suchend lief ich die Stufen zum Mathematischen Institut hinauf. Als ich gerade die Drehtür aufdrücken wollte, entdeckte ich einen mit Tesafilm an die Glasscheibe geklebten
Zettel. Als erstes sah ich den Fisch, in vertikaler Position, eine Strichzeichnung in schwarzer Tinte, wie ausgehend von zwei aufeinander zugerichteten Klammern skizziert. Darüber stand in ausgeschnittenen Zeitungslettern: Nummer zwei in der Reihe. Radcliffe Hospital, 2.15 p. m.
Kapitel Elf
Im Sekretariat war nur Kim, die neue Assistentin. Durch mein aufgeregtes Winken brachte ich sie dazu, die Kopfhörer ihres Discmans abzusetzen, sich von ihrem Stuhl zu erheben und mich zum Eingang zu begleiten. Sie sah mich befremdet an, als ich sie nach dem auf die Scheibe geklebten Zettel befragte. Ja, den habe sie beim Hineingehen gesehen, ihn aber nicht weiter beachtet, in dem Glauben, es handele sich um irgendeine Benefizaktion zugunsten des Radcliffe, eine Reihe von Bridgepartien vielleicht oder einen Angelausflug. Sie habe die Putzfrau später anweisen wollen, ihn abzumachen und ans Schwarze Brett zu hängen. Wir sahen Kurt, den Nachtwächter, aus seinem Kabuff unter der Treppe kommen, bereits in seiner Jacke und im Begriff, nach Hause zu gehen. Er trat zu uns, als befürchtete er, es gäbe ein Problem. Der Zettel hinge dort seit Sonntag, er habe ihn gesehen, als er am Vorabend eingetroffen sei; er habe ihn nicht abreißen wollen, da er davon ausgegangen sei, jemand habe seine Erlaubnis dazu gegeben, bevor seine Schicht begonnen habe. Ich sagte, wir müßten die Polizei rufen, einer müsse jedoch an der Tür bleiben und aufpassen, daß niemand die Glasscheibe berühre oder den Zettel abnehme; er könne mit dem Mord an Mrs. Eagleton in Verbindung stehen. Ich rannte in mein Büro hoch, wählte das Polizeikommissariat an und bat, dringend mit Petersen oder Sacks verbunden zu werden. Man nahm meinen Namen und die Nummer auf, von der aus ich anrief, und sagte mir, ich solle in der Leitung bleiben, man würde mich durchstellen. Zwei Minuten später hörte ich am anderen Ende die Stimme von Inspektor Petersen. Ohne mich zu unterbrechen, hörte er
mir zu und bat mich zum Schluß nur, ihm zu wiederholen, was der Nachtwächter gesagt hatte. Ich merkte, daß er – wie auch ich – vermutete, der Mord sei bereits begangen worden. Er würde sofort einen Streifenwagen und die Spurensicherung ins Institut schicken, sagte er, er selbst würde ins Radcliffe Krankenhaus fahren, um die Todesfälle vom Sonntag zu überprüfen. In jedem Fall wolle er danach mit mir und, wenn möglich, mit Professor Seldom sprechen. Er fragte mich, ob wir uns um zwei im Institut treffen könnten. Ich sagte ihm, daß Seldom meines Wissens jeden Moment eintreffen müsse; für zehn Uhr war in der Halle ein Vortrag eines seiner Studenten angekündigt. Vielleicht hatte man den Zettel gerade dorthin gehängt, damit er ihn beim Hineingehen sähe, überlegte ich laut. Ja, vielleicht, antwortete Petersen, damit er und etwa hundert weitere Mathematiker ihn sehen. Er schien plötzlich verärgert. Wir sprechen uns dann später, beendete er das Gespräch knapp. Als ich wieder in die Eingangshalle zurückging, sah ich Seldom neben der Drehtür stehen. Er fixierte den Zettel, als könne er den Blick nicht von dem kleinen Fisch lösen. »Denken Sie dasselbe wie ich?« fragte er, als er mich erblickte. »Ich habe Angst, im Krankenhaus anzurufen und nach Frank zu fragen. Obwohl die Uhrzeit keinen Sinn zu machen scheint«, räumte er ein, als sähe er einen Hoffnungsschimmer. »Ich war gestern nachmittag um vier im Krankenhaus, da war Frank noch am Leben.« »Wir können Lorna von meinem Büro aus anrufen«, sagte ich. »Sie hat bis heute mittag Dienst, sie müßte also noch dort sein und kann uns bestimmt schnell mehr sagen.« Seldom war einverstanden. Wir gingen nach oben, und er übernahm den Anruf. Über eine ganze Kette von Vermittlerinnen gelang es ihm schließlich, zu Lorna durchgestellt zu werden. Seldom bat sie vorsichtig, ob sie
vielleicht in den zweiten Stock hinuntergehen könne, um nachzusehen, ob mit Frank alles in Ordnung war. Lorna hakte offensichtlich nach; auch ohne zu verstehen, was sie sagte, konnte ich den neugierig gewordenen Ton ihrer Stimme am anderen Ende der Leitung hören. Seldom sagte ihr nur, daß im Institut eine Nachricht aufgetaucht sei, die ihn etwas beunruhige. Ja, wahrscheinlich habe es mit dem Mord an Mrs. Eagleton zu tun. Sie wechselten noch ein paar Worte; Seldom sagte ihr, daß er sich in meinem Büro befände und sie ihn dort zurückrufen könne, wenn sie unten gewesen sei. Er legte auf, und schweigend warteten wir ab. Seldom drehte sich eine Zigarette, die er am Fenster stehend rauchte. Nach einer Weile wandte er sich um, trat an die Tafel und zeichnete gedankenverloren langsam die beiden Symbole, erst den Kreis, dann den Fisch, den er mit zwei halbrunden Linien skizzierte. Dann senkte er den Kopf und verharrte reglos, die Kreide in der Hand, mit der er nur von Zeit zu Zeit etwas ratlos kleine Striche am Rand der Tafel zog. Es verging fast eine halbe Stunde, bis das Telefon klingelte. Seldom hörte Lorna schweigend, mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck zu. Gelegentlich machte er einsilbige Kommentare. »Ja«, sagte er einmal, »das ist die Uhrzeit, die auf der Nachricht steht.« Als er aufgelegt hatte, drehte er sich zu mir um, und seine Züge entspannten sich für einen Augenblick. »Es war nicht Frank«, sagte er, »sondern sein Bettnachbar. Inspektor Petersen war gerade in der Leichenhalle des Krankenhauses, um zu überprüfen, wer am Sonntag gestorben ist. Es ist ein über neunzigjähriger Mann, gestern um Viertel nach zwei offiziell eines natürlichen Todes gestorben. Offenbar haben weder Krankenschwester noch Stationsarzt einen kleinen Punkt an seinem Arm bemerkt, wie ihn der Stich einer Injektionsnadel hinterläßt. Man wird eine Obduktion
vornehmen, um festzustellen, worum es sich handelt. Aber Sie sehen, ich glaube, wir hatten recht. Ein Verbrechen, das zunächst niemand als solches erkannte. Ein scheinbar natürlicher Tod und nur ein Punkt am Arm, ein winziger, kaum wahrnehmbarer Punkt… Vermutlich wurde die Substanz so gewählt, daß keine Spuren nachzuweisen sind, ich möchte wetten, man wird bei der Autopsie nichts finden. Ein Todesfall, den nur dieser eine Punkt von einem natürlichen Ableben unterscheidet. Ein Punkt, ein Punkt«, wiederholte Seldom leise, als ziehe er damit an einer Vielzahl noch unsichtbarer Fäden. Das Telefon klingelte erneut. Es war Kim, die mir von unten ankündigen wollte, daß ein Polizeiinspektor auf dem Weg in mein Zimmer war. Ich öffnete die Tür; die große hagere Gestalt von Petersen tauchte gerade im Treppenhaus auf. Er war alleine nach oben gekommen, und auf seinem Gesicht zeichnete sich eine unübersehbare Verstimmung ab. Er trat ein, und während er uns begrüßte, fiel sein Blick auf die Tafel mit den beiden von Seldom gezeichneten Figuren. Dann ließ er sich auf einen der Stühle fallen. »Da unten ist ein Auflauf von Mathematikern«, sagte er fast vorwurfsvoll, als wären wir daran nicht ganz unschuldig. »Jeden Moment kann die Presse eintreffen… Wir werden die Sache teilweise lüften müssen, aber ich werde darum bitten, alles über das erste Zeichen der Reihe geheimzuhalten. Soweit es irgend geht, verhindern wir im allgemeinen eine Publikmachung von Kriminalfällen mit Seriencharakter, vor allem der sich wiederholenden Konstanten. Na ja«, sagte er kopfschüttelnd, »ich komme gerade aus dem Radcliffe. Dieses Mal handelt es sich um einen sehr alten Mann, einen gewissen Ernest Clarck. Er lag im Koma, wurde seit Jahren künstlich beatmet. Offensichtlich hatte er keine Angehörigen. Die einzige Verbindung, die wir bisher zu Mrs. Eagleton herstellen
können, ist, daß Clarck ebenfalls im Krieg mobilisiert war. Aber das trifft natürlich auf fast jeden anderen Mann seines Alters zu. Die Krankenschwester hat ihn auf ihrem Rundgang um Viertel nach zwei tot vorgefunden, und das war auch die Uhrzeit, die sie auf seinem Armband notierte, bevor sie ihn aus dem Saal brachte. Alles erschien ihr völlig normal, es gab keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung, nichts, das nicht an seinem Platz gewesen wäre, sie hat ihm den Puls gemessen und ›natürlicher Tod‹ eingetragen, in der Meinung, es mit einem Routinefall zu tun zu haben. Sie kann sich immer noch nicht erklären, wie jemand in den Saal gekommen sein kann, denn die Besuchszeit hatte gerade erst begonnen. Der Stationsarzt der zweiten Etage gab zu, den Leichnam nicht sehr gründlich untersucht zu haben, er kam spät ins Krankenhaus, es war Sonntag, und er wollte möglichst schnell wieder nach Hause. Aber vor allem hatten sie seit Monaten mit Clarcks Ableben gerechnet, es kam ihnen im Grunde viel sonderbarer vor, daß er noch am Leben war. Und so vertraute er der Eintragung der Krankenschwester, übertrug die auf dem Armband notierte Zeit und Ursache des Todes in den Schein und ließ den Toten in die Kühlkammer bringen. Mal sehen, was die Autopsie ergibt. Gerade habe ich den Zettel da unten gesehen. Es wäre wahrscheinlich zuviel erwartet gewesen, noch einmal etwas Handschriftliches zu finden, wo er jetzt weiß, daß wir hinter ihm her sind. Aber das macht es nicht gerade einfacher. Der Typographie nach würde ich sagen, die Buchstaben wurden aus der Oxford Times ausgeschnitten, vielleicht aus den Artikeln, die über Mrs. Eagleton erschienen sind. Aber der Fisch ist mit der Hand gezeichnet.« Petersen wandte sich zu Seldom. »Was hatten Sie für einen Eindruck, als Sie den Zettel angesehen haben? Würden Sie sagen, es handelt sich um dieselbe Person?«
»Wie sollte man das wissen?« sagte Seldom. »Es scheint derselbe Papiertyp zu sein, und Größe und Plazierung der Zeichnung sind auch ähnlich. Beide Male schwarze Tinte… im Prinzip würde ich sagen ja. Aber es gibt noch etwas anderes, das Sie wissen sollten. Ich gehe fast jeden Nachmittag ins Radcliffe, um einen Patienten im zweiten Stock zu besuchen, Frank Kaiman. Clarck war Franks Bettnachbar. Und dann komme ich normalerweise nicht besonders oft ins Institut, aber ausgerechnet heute morgen sollte ich hier sein. Ich würde sagen, es handelt sich um jemanden, der meine Schritte aus nächster Nähe verfolgt und ziemlich genau über mich Bescheid weiß.« »Tatsächlich«, sagte Petersen und zog ein kleines Notizbuch hervor, »waren wir über Ihre Besuche im Radcliffe informiert; Sie verstehen«, fügte er in einem entschuldigenden Tonfall hinzu, »wir mußten uns ein wenig über Sie beide informieren. Mal sehen. Normalerweise machen Sie Ihren Besuch gegen zwei Uhr nachmittags, aber an diesem Sonntag kamen Sie erst nach vier… Woran lag das?« »Ich war zum Mittagessen in Abingdon eingeladen«, sagte Seldom, »und habe den Bus um halb zwei versäumt. Sonntags fahren nachmittags nur zwei Busse, ich mußte bis drei Uhr an der Haltestelle warten.« Seldom kramte in seiner Hosentasche und streckte Petersen kühl ein Busticket entgegen. »Aber nein, das ist doch nicht nötig«, sagte Petersen etwas verlegen. »Ich habe mich nur gefragt…« »Ja, ja, den Gedanken hatte ich auch…«, sagte Seldom. »Normalerweise bin ich der erste und einzige, der diesen Saal während der Besuchszeiten betritt. Wäre ich wie gewohnt gekommen, hätte ich die ganze Zeit neben Clarcks Leichnam gesessen, so war es vermutlich bezweckt. Ich sollte dort sein, wenn sein Ableben auf dem Rundgang bemerkt würde. In gewisser Weise war der Plan aber zu diskret: Die
Krankenschwester übersah den kleinen Einstich im Arm. Und ich kam erst viel später und merkte nicht einmal, daß im Nebenbett ein anderer Patient lag. Für mich war es ein völlig normaler Besuchstag.« »Aber vielleicht sollte der Mord zunächst für einen natürlichen Tod gehalten werden«, warf ich ein. »Vielleicht war es so inszeniert, daß man den Leichnam vor Ihren Augen wegbringen sollte, als handelte es sich um einen der üblichen Sterbefälle. Das heißt, das Verbrechen wäre auch für Sie unsichtbar gewesen. Ich glaube, Sie sollten dem Inspektor erzählen«, wandte ich mich zu Seldom, »was Sie mir vorhin zu ihren diesbezüglichen Überlegungen gesagt haben.« »Aber wir können ja noch nicht sicher sein«, protestierte Seldom im Brustton des Wissenschaftlers, »wir können keine Schlüsse aus nur zwei Fällen ziehen.« »Wie dem auch sei«, sagte Petersen, »ich würde gern hören, was Sie sich überlegt haben.« Seldom schien noch einen Augenblick zu zögern. »In beiden Fällen«, begann er schließlich vorsichtig, als wollte er den Tatsachen nicht vorausgreifen, »waren die Morde so sanft wie nur möglich, wenn das Wort in diesem Zusammenhang angebracht ist. Man hat den Eindruck, daß es nicht wirklich die Morde sind, worauf es ankommt. Es handelt sich um fast schon symbolische Verbrechen. Ich glaube nicht, daß der Mörder wirklich am Töten interessiert ist, sondern vielmehr etwas zeigen möchte. Etwas, das sicherlich mit der Reihe der Figuren zu tun hat, die er unter seine Botschaften setzt, mit dieser von einem Kreis und einem Fisch eingeleiteten Reihe. Die Verbrechen sind nur dazu da, die Aufmerksamkeit auf diese Reihe zu lenken, und die Opfer werden einzig deshalb in meiner nächsten Umgebung gewählt, um mich in das Ganze zu verwickeln. Ich denke, im Grunde befinden wir uns vor einem rein intellektuellen Problem, doch wir werden
dieser Person erst Einhalt gebieten können, wenn wir – wie auch immer – beweisen, daß wir die Bedeutung der Reihe durchschaut haben, das heißt das nächste Symbol, oder Verbrechen, vorhersagen können.« »Ich werde heute nachmittag um ein psychologisches Profil bitten, ich glaube allerdings nicht, daß es bereits viel verraten wird. Aber vielleicht können Sie mir jetzt auf die Frage antworten, die ich Ihnen schon einmal gestellt habe: Glauben Sie, wir haben es mit einem Mathematiker zu tun?« »Ich würde sagen nein«, antwortete Seldom vorsichtig, »zumindest nicht mit einem professionellen Mathematiker. Meiner Ansicht nach handelt es sich eher um jemanden, für den Mathematiker eine Art Maßstab der Intelligenz darstellen und der deshalb versucht, sich direkt mit ihnen zu messen. Eine Art Größenwahnsinnigen auf geistigem Gebiet. Ich denke nicht, daß er für die zweite Nachricht zufällig die Eingangstür des Instituts gewählt hat. Ich könnte mir vorstellen, dahinter verbirgt sich eine weitere an mich adressierte Botschaft: Wenn ich die Herausforderung nicht annehme, wird es irgendein anderer Mathematiker tun. Und wenn wir schon Vermutungen anstellen, so könnte es meiner Meinung nach jemand sein, der bei einer Mathematikprüfung einmal ungerecht benotet wurde oder vielleicht durch einen der Intelligenztests, wie Frank sie sich ausdachte, um eine wichtige Chance in seinem Leben gebracht wurde. Jemand, der aus dem für ihn die Elite der Intelligenz darstellenden Zirkel verbannt wurde, jemand, der Mathematiker gleichzeitig bewundert und verabscheut. Möglicherweise hat er die Reihe als eine Art Rache an seinen Prüfern konzipiert. Jetzt ist er in gewisser Weise der Prüfende.« »Könnte es sich um einen Studenten handeln, den Sie einmal haben durchfallen lassen?« fragte Petersen. Seldom deutete ein Lächeln an.
»Ich lasse schon lange niemanden mehr durchfallen«, sagte er. »Ich habe nur noch Doktoranden, und die sind alle brillant. Tendenziell würde ich eher von jemandem ausgehen, der kein studierter Mathematiker ist, aber das Kapitel über Serienmorde in meinem Buch gelesen und unglücklicherweise befunden hat, daß ich derjenige bin, den es herauszufordern gilt.« »Nun gut«, sagte Petersen, »ich werde mir zunächst einmal eine Auflistung aller mit Kreditkarten getätigten Käufe Ihres Buches in den Buchhandlungen der Stadt vorlegen lassen.« »Ich glaube nicht, daß Ihnen das sehr viel weiterhelfen wird«, sagte Seldom. »Als das Buch erschien, haben meine Verleger einen Vorabdruck eben dieses Kapitels über Serienmorde in der Oxford Times erreicht. Viele dachten, es handele sich um eine neue Art von Kriminalroman. Deshalb war die erste Auflage des Buches auch so schnell vergriffen.« Petersen lehnte sich etwas ratlos nach vorne und studierte einen Moment lang die beiden Figuren auf der Tafel. »Meinen Sie, Sie können mir jetzt mehr darüber sagen?« »Das zweite Symbol der Reihe gibt normalerweise einen Hinweis auf die Lesart der ganzen Folge; ob sie als Darstellung von Objekten oder Fakten einer möglichen realen Welt, also Symbolen im üblichen Sinne, verstanden werden soll oder ohne jede Bedeutungskonnotation, rein auf syntaktischer Ebene funktioniert, wie etwa geometrische Figuren. Das zweite Symbol ist hier wieder sehr schlau eingesetzt, denn der Fisch ist so schematisch gezeichnet, daß er beide Lesarten erlaubt. Die vertikale Lage ist interessant. Es könnte sich um eine Reihe von Figuren handeln, die symmetrisch um die vertikale Achse angelegt sind. Wenn wir den Fisch allerdings tatsächlich als solchen deuten sollen, gibt es selbstverständlich noch viele andere Möglichkeiten.« »Das Aquarium«, bemerkte ich, und als Petersen sich etwas überrascht zu mir umdrehte, nickte Seldom stumm.
»Ja, daran habe ich anfangs auch gedacht. Das ist der Spitzname für den Saal, in dem Clarck im Radcliffe lag«, fügte er hinzu. »Aber das würde bedeuten, daß es sich um jemanden aus dem Krankenhaus handelt, und ich glaube nicht, daß der Täter mit dem Symbol eine so offensichtliche Spur legen wollte. Wie würde sich zudem dann der Kreis mit Mrs. Eagleton in Verbindung bringen lassen?« Seldom ging mit gesenktem Kopf auf und ab. »Nicht zu vernachlässigen ist auch«, fuhr er fort, »was die Botschaften in gewisser Weise implizieren, daß nämlich davon ausgegangen wird, sie seien von Mathematikern zu lösen. Die Symbole müssen also irgendwie mit den im mathematischen Denken auftauchenden Problemstellungen oder Intuitionen in Verbindung zu bringen sein.« »Würden Sie schon eine Hypothese für das dritte Symbol wagen?« fragte Petersen. »Ich habe eine erste Idee«, sagte Seldom. »Aber ich sehe mehrere andere Möglichkeiten der Fortführung, die, sagen wir, ebenso vertretbar sind. Deshalb werden in den Tests mindestens drei Symbole angegeben, bevor nach dem nächsten gefragt wird. Zwei Symbole sind weiterhin sehr ambivalent. Ich würde es lieber noch einmal in Ruhe durchdenken, ich will mich nicht täuschen. Er ist jetzt der Prüfer, und seine Art, uns einen Fehler anzustreichen, besteht in einem weiteren Mord.« »Glauben Sie wirklich, er wird aufhören, wenn wir auf die Lösung kommen?« fragte Petersen skeptisch. Aber die Lösung gibt es eben nicht, dachte ich. Das war es ja, woran man bisweilen am meisten verzweifeln konnte. Plötzlich verstand ich, warum Seldom so daran gelegen war, daß ich Bekanntschaft mit Frank Kaiman und der zweiten Dimension des Problems machte, das ihn beschäftigt hatte. Ich fragte mich, wie er es anstellen würde, um Petersen die sprunghaften Intelligenzen zu erklären, Wittgenstein, die Paradoxe des
Regelfolgens und die Abweichungen von den Normstichproben. Doch Seldom genügte ein einziger Satz: »Er wird aufhören«, sagte er langsam, »wenn es die Lösung ist, die er im Sinn hat.«
Kapitel Zwölf
Petersen erhob sich und drehte eine Runde durchs Zimmer, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Dann nahm er sein Jackett, das er über die Schreibtischkante gelegt hatte, heftete seinen Blick noch einmal auf die Tafel und wischte mit dem Handrücken den Kreis ab. »Denken Sie daran: Das erste Symbol muß soweit wie möglich geheimgehalten werden, ich möchte keinen Nachahmer in Versuchung bringen. Glauben Sie, die Mathematiker dort unten könnten es erraten, nachdem sie nun das zweite kennen?« »Nein, das denke ich nicht«, sagte Seldom. »Außerdem ist es nicht klar genug, als daß sie ausreichendes Interesse verspüren würden, um es zu versuchen. Für einen Mathematiker pflegt das einzige wirklich wichtige Problem das zu sein, womit er sich gerade beschäftigt; möglicherweise bedürfte es mehr als zwei Morde, um sie davon abzulenken.« »Ist das bei Ihnen auch so?« Petersen sah Seldom eindringlich an; ein kühler Vorwurf lag in seiner Frage. »Um ehrlich zu sein, ich bin etwas… enttäuscht«, fuhr er fort, als wählte er seine Worte mit Bedacht. »Natürlich habe ich nicht erwartet, daß Sie mir noch heute eine definitive Antwort geben könnten, aber doch vier oder fünf mögliche Alternativen, Hypothesen, die wir mit der Zeit optimieren oder ausschließen könnten. Arbeitet man so nicht ebenfalls in der Mathematik? Aber vielleicht finden Sie zwei Morde ja auch nicht interessant genug.« »Ich sagte Ihnen ja, ich habe eine erste Idee«, entgegnete Seldom und hielt mit seinen kleinen, hellen Augen dem Blick
des Inspektors stand. »Und ich verspreche Ihnen, mich ihr ganz und gar zu widmen. Ich will nur sicher sein, daß ich mich nicht irre.« »Sie sollten mit der Absicherung nicht bis zum nächsten Mord warten«, sagte Petersen und fügte dann hinzu, als fühle er sich widerwillig verpflichtet, einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen, »aber wenn Sie uns wirklich helfen wollen, würde ich Sie bitten, morgen nach sechs in mein Büro zu kommen; wir werden dann das psychologische Profil vorliegen haben, und ich würde es Ihnen gern vorlesen, vielleicht erinnert es Sie an jemanden. Sie können auch kommen«, sagte er zu mir, während er uns rasch die Hände schüttelte. Nachdem Petersen den Raum verlassen hatte, entstand ein tiefes Schweigen. Seldom ging zum Fenster und drehte sich eine neue Zigarette. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« hob ich schließlich behutsam an. Ich war mir bewußt, daß er mir seine Gedanken wahrscheinlich genausowenig anvertrauen würde, aber ich beschloß, dennoch einen Versuch zu unternehmen. »Bezieht sich Ihre Hypothese auf das nächste Symbol oder den nächsten Mord?« »Ich denke, ich habe eine Idee zur Fortsetzung der Reihe… bezüglich des nächsten Symbols«, sagte Seldom langsam. »Eine Idee, die ohnehin keine Rückschlüsse auf den nächsten Mord zulassen würde.« »Glauben Sie nicht dennoch, daß bereits dieses Symbol Petersen sehr hilfreich sein könnte? Gibt es irgendeinen anderen Grund, aus dem Sie es ihm nicht sagen wollten?« »Kommen Sie, gehen wir in den Park hinunter«, war seine einzige Antwort. »Ein paar Minuten bleiben mir noch bis zum Vortrag meines Studenten, ich will eine Zigarette rauchen.« Am Eingang waren immer noch Polizisten damit beschäftigt, die Spuren zu sichern, und wir mußten eine der Hintertüren
benutzen. Unterwegs kreuzten wir Podorow, der mich flüchtig grüßte und dann Seldom fixierte, als hoffte er vergeblich, von ihm erkannt zu werden. Wir gingen am Physiklabor entlang und betraten den Park über einen der Kiespfade. »Warum sind Sie Mathematiker geworden?« fragte er mich unvermittelt. »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Vielleicht war es einfach nur ein Versehen, ich hatte eigentlich vor, eine humanistische Laufbahn einzuschlagen. Ich vermute, mich zog die Art von Wahrheit an, wie sie in den Theoremen enthalten ist: zeitlos, unsterblich, sich selbst genügend und gleichzeitig absolut demokratisch. Was hat Sie dazu gebracht?« »Daß die Mathematik unschädlich ist«, sagte Seldom. »Daß es eine Welt ist, die mit der Realität nichts zu tun hat. Wissen Sie, als Kind passierten mir einige wirklich erschreckende Dinge, und auch später, im Laufe meines Lebens, wurde ich immer wieder von so etwas wie Zeichen verfolgt… Zeichen, die sich von Zeit zu Zeit zu erkennen gaben, zu häufig und zu schrecklich, um sie zu ignorieren.« » Zeichen? Welcher Art?« »Sagen wir… die Konsequenzen, die jede noch so kleine meiner Handlungen in der realen Welt auslöste. Vermutlich Zufälle, wahrscheinlich einfach nur unglückliche Zufälle, die aber zerstörerisch genug waren, um mich fast völlig zu lähmen. Das letzte dieser Zeichen war der Unfall, bei dem meine Frau und meine beiden besten Freunde ums Leben kamen. Man kann es kaum in Worte fassen, ohne es absurd klingen zu lassen, aber bereits in meiner frühesten Kindheit habe ich festgestellt, daß die Hypothesen, die ich über die Realität anstellte, tatsächlich eintrafen, auf den seltsamsten Wegen und die fürchterlichste Weise wahr wurden; als wären es Warnungen, mich von der Welt, in der wir uns alle bewegen, fernzuhalten. Als Jugendlicher war ich davon
regelrecht verstört. Dann entdeckte ich die Mathematik. Und zum ersten Mal fühlte ich mich auf sicherem Boden. Zum ersten Mal konnte ich eine Hypothese verfolgen so verbissen ich wollte, durch ein Löschen der Tafel oder das Durchstreichen einer fehlerhaften Seite kehrte ich wieder zum Ausgangspunkt zurück, ohne unerwartete Folgen. Es besteht in der Tat eine theoretische Analogie zwischen der Mathematik und der Kriminalistik: Wie Petersen sagte, arbeiten beide mit Hypothesen. Doch stellt man eine Hypothese über die reale Welt an, bringt man unwillkürlich und irreversibel ein aktives Element in sie ein, das stets seine Folgen haben wird. Blickt man in eine Richtung, hört man auf, in die anderen zu schauen, verfolgt man einen möglichen Weg, verfolgt man ihn in der realen Zeit, und dann kann es zu spät sein, es mit einem anderen zu versuchen. Am meisten fürchte ich nicht, mich zu täuschen, wie ich es Petersen sagte. Am meisten fürchte ich das, was mir mein ganzes Leben lang passiert ist: meine Überlegungen könnten sich letztlich bewahrheiten, aber auf eine ganz grauenhafte Art und Weise.« »Aber zu schweigen, sich zu weigern, das Symbol aufzudecken, ist dieses Unterlassen in sich nicht auch schon eine Form der Aktion, die ebenso unkalkulierbare Konsequenzen mit sich bringen könnte?« »Das mag sein, aber für den Augenblick ziehe ich es vor, dieses Risiko einzugehen. Ich kann mich nicht so sehr wie Sie dafür entflammen, Detektiv zu spielen. Und wenn die Mathematik demokratisch ist, dann ist die Fortsetzung der Reihe jedem zugänglich, Ihnen, Petersen selbst, die Elemente dafür sind alle da.« »Aber, nein«, protestierte ich, »was ich meinte, ist, daß es in der Mathematik einen demokratischen Moment gibt, wenn man Zeile für Zeile einen Beweis aufzeigt. Jeder kann den Weg nachvollziehen, wenn er einmal eingeschlagen wurde.
Aber davor gibt es selbstverständlich einen Moment der Erleuchtung, das, was Sie den Pferdchensprung genannt haben… Nur einigen wenigen, manchmal nur einem in Jahrhunderten, gelingt es, zum ersten Mal den richtigen Weg durch die Dunkelheit zu bahnen.« »Guter Versuch«, sagte Seldom, ›»Einem in Jahrhunderten‹ hört sich wirklich dramatisch an. Aber wie auch immer, die Fortsetzung, an die ich denke, ist sehr einfach und bedarf im Grunde keiner speziellen mathematischen Kenntnisse. Wesentlich schwieriger dürfte es sein, die Verbindung zwischen den Symbolen und den Verbrechen herzustellen. Vielleicht ist es wirklich keine schlechte Idee, Ansätze eines psychologischen Profils heranzuziehen. Also«, unterbrach er sich mit einem Blick auf seine Uhr, »ich muß jetzt ins Institut zurück.« Ich würde noch ein wenig durch den Park gehen, sagte ich ihm, und er reichte mir die Karte, die Petersen ihm gegeben hatte. »Hier haben Sie die Adresse des Kommissariats, es ist gleich gegenüber von dem Laden Alice in Wonderland; wir können uns dort morgen um sechs Uhr treffen, wenn Sie möchten.« Ich schlenderte weiter den Weg entlang und blieb dann an einer Gabelung im Schatten der Bäume stehen, um das unbegreifliche Rätsel eines Kricketspiels zu betrachten. Einige Minuten lang schien es mir, als wäre ich Zeuge der Vorbereitungen oder einer Reihe gescheiterter Versuche, das Spiel anzufangen. Bis ich irgendwann den begeisterten Beifall von ein paar Frauen mit großen Hüten vernahm, die an einer Ecke des Spielfelds saßen und Punsch tranken. Offensichtlich hatte ich eine großartige Aktion versäumt, vielleicht hatte die Partie sogar gerade in diesem Moment unmittelbar vor meinen Augen ihren Höhepunkt erreicht, ohne daß ich fähig gewesen wäre, etwas anderes zu sehen als diese enervierende
Bewegungslosigkeit. Ich überquerte eine kleine Brücke zu einem weniger weitläufigen Teil des Parks hin und wanderte auf dem gelblichen Rasen am Fluß entlang. Von Zeit zu Zeit fuhren kleine Boote vorbei, in denen sich Pärchen mit langen Staken im Stechkahnfahren übten. Da war etwas zum Greifen nahe, eine Idee, die mich wie ein unsichtbares Insekt umsummte, eine noch namenlose Intuition, die ich, so kam es mir einen Augenblick lang vor, vielleicht durchschimmern sähe und zu fassen bekäme, wenn ich mich am richtigen Ort befände. Wie es mir häufig in der Mathematik geschah, wußte ich nicht, ob ich weiter insistieren und mich bemühen sollte, sie heraufzubeschwören, oder ob ich sie besser vergaß, in der Hoffnung, sie würde sich von selbst zeigen, sobald ich ihr bewußt den Rücken zukehrte. Es lag etwas in der Ruhe der Landschaft, in dem friedlichen Plätschern der Stangen im Wasser, in dem höflichen Lächeln der Studenten an Bord der Boote, das jegliche Arglist zu verwässern schien. Zumindest war es bestimmt nicht der Ort, stellte ich fest, an dem sich mir der entscheidende Schlüssel zu Morden und Mördern zu erkennen geben würde. Ich nahm eine Abkürzung durch die Bäume und kehrte in mein Büro zurück. Mein russischer Kommilitone war Mittag essen gegangen, und ich beschloß, Lorna anzurufen. In ihrer Stimme schwang freudige Erregung. Ja, sie habe Neuigkeiten, aber erst wolle sie meine erfahren. Nein, Seldom habe ihr nur gesagt, daß eine sonderbare Botschaft auf einer Glasscheibe aufgetaucht sei. Ich mußte ihr berichten, wie ich den Zettel gefunden hatte, das Symbol beschreiben und soweit wie möglich die Unterhaltung mit Petersen rekonstruieren. Lorna stellte mir noch einige weitere Fragen, bevor sie dazu überging, ihren Teil zu erzählen. Man hatte den Leichnam nicht ins polizeiliche Leichenschauhaus gebracht, der Gerichtsmediziner hatte die Obduktion an Ort und Stelle mit
einem Arzt des Krankenhauses vorgenommen. Es war ihr gelungen, dem Arzt beim Mittagessen etwas darüber zu entlocken. Ob das schwierig gewesen sei, fragte ich mit einem Anflug von Eifersucht. Lorna lachte. Nun ja, er habe ihr bereits mehrmals den Platz neben sich angeboten, und dieses Mal habe sie die Einladung eben angenommen. »Sie waren ziemlich verunsichert«, erzählte Lorna. »Was man ihm auch immer gespritzt hat, es hat keinerlei Spuren hinterlassen. Sie haben absolut nichts gefunden, gänzlich unvoreingenommen hätte er wohl ebenfalls einen natürlichen Tod bescheinigt, gestand er mir. Aber gut, eine mögliche Erklärung wäre da noch: es gibt eine relativ neue Substanz, die aus einem mexikanischen Fliegenpilz gewonnen wird, dem. Amanita muscaria, und die man mit den bisherigen Labormethoden noch nicht nachweisen kann. Sie wurde letztes Jahr bei einem medizinischen Kongreß in Boston unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Merkwürdige oder das eigentlich Interessante an der Sache ist, daß diese Droge als ein Geheimnis unter den Gerichtsmedizinern gehandelt wird, offenbar haben sie einen Eid abgelegt, damit nicht einmal ihr Name verbreitet wird. Würde das nicht darauf hindeuten, daß man den Mörder unter den Gerichtsmedizinern suchen müßte?« »Oder unter den Krankenschwestern, die mit ihnen zu Mittag essen«, warf ich ein. »Und den Sekretärinnen, die den Kongreßbericht getippt haben, den Chemikern und Biologen, die die Substanz identifiziert haben, und vermutlich auch der Polizei… ich nehme doch an, sie wurde darüber informiert.« »Wie dem auch sei«, sagte Lorna etwas pikiert, »die Suche reduziert sich jedenfalls erheblich; so etwas findet sich nicht in einem normalen Apothekerschränkchen.« »Das stimmt«, pflichtete ich ihr einlenkend bei. »Gehst du heute abend mit mir essen?«
»Heute abend komme ich spät raus, aber morgen. Um halb sieben in The Eagle and Child?« Ich erinnerte mich an den Termin bei Petersen. »Kann es auch um acht sein? Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, so früh zu Abend zu essen.« Lorna lachte. »Okey dokey, wie der Gaucho befiehlt.«
Kapitel Dreizehn
Eine schmächtige Polizistin, die fast in ihrer Uniform verschwand, führte uns über eine Treppe zu Petersens Büro. Wir betraten einen großen Raum, dessen Wände in einem kräftigen Lachsrosa gestrichen waren und der in seinem fehlenden Zugeständnis an jeglichen Luxus die betonte englische Nüchternheit der Nachkriegszeit ausstrahlte. Vor ein paar metallenen Archivkästen stand ein überraschend einfacher Holzschreibtisch. Durch das Bogenfenster sah man eine Themsebiegung, und die sommerlich klare Luft, die in den letzten Sonnenstrahlen am Ufer ausgestreckten Studenten und das ruhige, goldschimmernde Wasser erinnerten mich an die Gemälde von Roderick O’Conor, die ich in London in der Barbican Gallery gesehen hatte. In seinem Büro, zurückgelehnt in seinem Schreibtischstuhl, machte Petersen einen gelasseneren Eindruck, als wäre seine wachsame Haltung hier nicht ganz so notwendig, oder vielleicht stufte er uns einfach nicht mehr als verdächtig ein und wollte uns zeigen, daß er, wenn er es darauf anlegte, die Maske des Polizisten durchaus mit der üblichen Maske britischer Höflichkeit vertauschen konnte. Er stand auf, um uns zwei Stühle mit hoher Lehne und leicht speckigem Bezug heranzuschieben. Während er zurück hinter den Schreibtisch ging, erhaschte ich einen Blick auf ein Photo in einem silbernen Bilderrahmen; man sah ihn darauf sehr jung, im Profil, wie er gerade ein kleines Mädchen auf einem Pferd stützte. Nach dem, was Seldom mir erzählt hatte, hätte ich erwartet, irgendwelche Dokumentationen oder Zeitungsausschnitte von den Fällen vorzufinden, die er gelöst
hatte, vielleicht Photos an den Wänden, und angesichts dieses völlig anonymen Büros war es schwer zu sagen, ob Petersen vorbildlich bescheiden war oder zu den Personen gehörte, die lieber nichts von sich selbst preisgeben, um alles über die anderen herauszufinden. Er öffnete eine Schublade und holte eine Brille hervor, die er bedächtig mit einem kleinen Flanelltuch putzte, während er seinen Blick über ein paar lose Blätter auf dem Tisch schweifen ließ. »Nun gut«, sagte er, »ich werde Ihnen die wichtigsten Passagen des Berichts vorlesen. Unserer Psychologin zufolge handelt es sich um einen männlichen Täter, um die fünfunddreißig Jahre. Der Bericht nennt ihn Mr. M, ich vermute M für ›Mörder‹. M, heißt es dort, entstammt vermutlich einer Familie aus der unteren Mittelklasse und wuchs in einem kleinen Dorf oder Vorort einer großen Stadt auf. Vielleicht war er Einzelkind, in jedem Fall aber ein Kind, das früh durch irgendeine intellektuelle, für sein Umfeld ungewöhnliche Aktivität auffiel: Schach, Mathematik, Lektüre. Seine Eltern verwechselten diese Frühreife mit einer Art Genie, so daß er während seiner Kindheit von den Spielen und Ritualen Gleichaltriger ferngehalten wurde. Möglicherweise war er Zielscheibe des Spottes, was vielleicht durch irgendeine physische Schwäche, hohe Stimmlage, Brille, Dicklichkeit oder dergleichen, noch akzentuiert wurde. Dieser Spott hat seine Zurückgezogenheit verstärkt und seine ersten Rachephantasien ausgelöst. In diesen Phantasien malt M sich typischerweise aus, wie sein Talent triumphiert und er es mit seinem Erfolg all denen zeigt, die ihn stets erniedrigt haben. Schließlich tritt der Augenblick für die Probe aufs Exempel ein, der Moment, auf den er so viele Jahre gewartet hat. Irgendein besonders wichtiges Examen oder möglicherweise die Aufnahmeprüfung an der Universität in der Disziplin, in der er sich ausgezeichnet hat. Es ist seine große Chance, die Möglichkeit, aus seinem Dorf
herauszukommen und jenes zweite Leben zu beginnen, auf das er sich heimlich, besessen, während seiner ganzen Jugend vorbereitet hat. Doch etwas läuft furchtbar schief, die Prüfer begehen irgendeine Ungerechtigkeit, und M muß geschlagen nach Hause zurückkehren. Das verursacht einen ersten Einschnitt, das sogenannte Ambere-Syndrom, nach dem Schriftsteller, an dem zum ersten Mal diese Art der Zwangsvorstellung studiert wurde.« Petersen holte aus einer Schublade ein dickes PsychiatrieLexikon, in dessen ersten Seiten ein Einmerker steckte. »Es erschien mir von Interesse, diesen ersten Fall nachzuschlagen: Jules Ambere war ein unbekannter, völlig verarmter französischer Schriftsteller, der 1927 das Manuskript seines ersten Romans an den Verlag G. schickte, zu dem Zeitpunkt das bedeutendste Verlagshaus in Frankreich. Er hatte jahrelang, mit geradezu fanatischer Obsession an dem Roman gearbeitet. Sechs Monate später erhält er einen sicherlich sehr höflichen, von einer der Lektorinnen unterzeichneten Brief, den er bis zum Schluß bei sich aufbewahrt. Darin wird ihm Bewunderung für sein Manuskript ausgedrückt, und er wird eingeladen, nach Paris zu reisen, um die Vertragskonditionen zu besprechen. Ambere versetzt seine wenigen Wertgegenstände für die Reisekosten, doch das Treffen nimmt einen schlechten Verlauf. Man führt ihn in ein exklusives Restaurant, seine Kleidung wirkt unpassend, seine Tischmanieren fallen unangenehm auf, er verschluckt sich an einer Fischgräte. Nichts wirklich Gravierendes, doch der Vertrag kommt nicht zustande, und Ambere kehrt gedemütigt in sein Dorf zurück. Er beginnt, den Brief stets bei sich zu tragen, und erzählt seinen Freunden monatelang immer wieder die kurze Episode. Die zweite wiederkehrende Charakteristik ist diese Inkubationsperiode und eine Fixation, die mehrere Jahre andauern kann. Andere Spezialisten sprechen von einem
Syndrom der ›verpaßten Gelegenheit‹, um dieses Element zu betonen: Die ungerechte Behandlung vollzieht sich in einer entscheidenden Situation, an einem Wendepunkt, der das Leben der betreffenden Person drastisch hätte verändern können. Während der Inkubationsperiode kommt die Person wie besessen immer wieder auf diesen einen Moment zurück, ohne an ihr früheres Leben anknüpfen zu können, oder sie adaptiert sich nur äußerlich und beginnt, wütend mörderische Phantasien zu entwickeln. Die Inkubationsperiode findet ein Ende, wenn das eintritt, was die psychiatrische Fachliteratur die ›zweite Gelegenheit‹ nennt, ein Zusammentreffen von Umständen, die jenen ersten Moment teilweise rekonstruieren oder zumindest hinreichende Parallelen ziehen. Viele Autoren stellen hier eine Analogie mit dem Flaschengeist aus Tausendundeine Nacht her. In Amberes Fall zeigt sich diese zweite Gelegenheit besonders deutlich, meist ist das Muster wesentlich verwischter. Dreizehn Jahre nach jener Ablehnung findet eine neu im Verlag G. angestellte Lektorin bei einem Umzug zufällig das Manuskript, und der Schriftsteller wird zum zweiten Mal nach Paris eingeladen. Dieses Mal kleidet Ambere sich tadellos, achtet beim Mittagessen sorgfältig auf seine Umgangsformen, führt die Konversation in einem perfekt leichten, weltgewandten Ton, und als das Dessert serviert wird, stranguliert er die Frau am Tisch, bevor die Kellner auch nur eingreifen können.« Petersen zog eine Augenbraue hoch und legte das Blatt beiseite; er warf einen stummen Blick auf das nächste, legte es dann ebenfalls weg und überflog rasch die ersten Absätze der dritten Seite. »Hier wird es wieder interessant für uns. Die Psychologin versichert, daß wir es nicht mit einem Psychopathen zu tun haben. Das Charakteristische am Verhalten eines Psychopathen ist das Fehlen jeglicher Reue und die
progressive Steigerung der Grausamkeit, die an ein nostalgisches Moment gekoppelt ist: der Suche nach einem berührenden Ereignis. In diesem Fall manifestiert sich dagegen bislang eine gewisse Feinfühligkeit, die Sorge darum, so wenig Schaden wie möglich anzurichten… Die Psychologin scheint dieses Detail – ganz wie Sie«, unterbrach er sich und blickte zu Seldom auf, »besonders faszinierend zu finden. Ihrer Meinung nach war es das Kapitel über Serienmorde in Ihrem Buch, das für M die ›zweite Gelegenheit‹ schuf. Unser Täter lebt neu auf. M sucht gleichzeitig Rache und Bewunderung, die Bewunderung der Gruppe, zu der er immer gehören wollte und aus der er ungerechterweise ausgestoßen wurde. Und hier wagt wenigstens sie eine mögliche Deutung der Symbole. M fühlt sich in seinen megalomanen Anfällen als ein Schöpfer, M will den Dingen einen neuen Namen geben. Er perfektioniert sich und seine Kreation: Die Symbole markieren, wie im Buch des Predigers, die Etappen einer Evolution. Das nächste Zeichen könnte ihrer Ansicht nach ein Vogel sein.« Petersen schob die Blätter zusammen und sah Seldom an. »Stimmt das mit Ihren Überlegungen überein?« »Nicht im Bezug auf das Symbol. Ich glaube nach wie vor, daß der Schlüssel, sollten die Botschaften wirklich an Mathematiker gerichtet sein, auch in irgendeiner Form mathematisch sein müßte. Gibt es in dem Bericht irgendeine Erklärung bezüglich dieser Charakteristik der ›sanften‹ Tode?« »Ja«, sagte Petersen und zog die übersprungene Seite hervor, »es tut mir leid, aber die Psychologin betrachtet die Verbrechen als eine Art, Ihnen den Hof zu machen. Bei M vermischt sich das allgemeine Verlangen nach Rache mit dem wesentlich tieferen Wunsch, der Welt, die Sie repräsentieren, anzugehören, die Bewunderung, sei sie auch mit Schrecken gepaart, derer zu erlangen, die ihn zurückgewiesen haben. Deshalb wählt er eine Form des Tötens, wie sie – wie er
annimmt – ein Mathematiker gutheißen würde, mit einer kleinstmöglichen Anzahl von Elementen, aseptisch, ohne Grausamkeit, fast abstrakt. M versucht auf seine Weise, wie in der ersten Etappe des Verliebens, Ihnen zu gefallen; die Morde sind gleichzeitig Opfergaben. Die Psychologin tendiert zu dem Gedanken, daß M unterdrückte homosexuelle Neigungen hat und allein lebt, sie schließt aber auch nicht aus, daß er geheiratet hat und nach wie vor ein konventionelles Familienleben führt, um diese heimlichen Aktivitäten zu vertuschen. Sie fügt hinzu, daß auf diese erste Etappe der Verführung, sollte er kein Zeichen als Antwort bekommen, eine zweite cholerische Etappe mit wesentlich blutigeren oder gegen Ihnen noch näherstehende Personen gerichtete Verbrechen folgen könnte.« »Na, diese Dame scheint ihn ja fast persönlich zu kennen, fehlt nur noch, daß sie uns sagt, ob er ein Muttermal unter der linken Schulter hat«, rief Seldom aus, und ich war mir nicht sicher, ob sein Ton nur ironisch war oder eine leichte Verärgerung in ihm mitschwang. Ich fragte mich, ob der homosexuelle Bezug ihn brüskiert haben könnte. »Ich fürchte, wir Mathematiker können nur wesentlich bescheidenere Vermutungen anstellen. Aber wie dem auch sei, ich habe noch einmal überdacht, was Sie mir gesagt haben, und vielleicht sollte ich Ihnen meine Idee tatsächlich mitteilen…« Er holte sein Notizbuch aus der Tasche, nahm sich einen Füllfederfederhalter vom Schreibtisch und zog ein paar rasche Striche, die mir verdeckt blieben. Dann riß er die Seite heraus, faltete sie zusammen und reichte sie Petersen. »Hier haben Sie zwei mögliche Fortsetzungen der Reihe.« In seiner Art, das Blatt zu falten, lag etwas Vertrauliches, das Petersen registriert zu haben schien. Er schlug das Papier auf, betrachtete es einen Augenblick schweigend, bevor er es erneut zusammenfaltete und kommentarlos in einer der
Schubladen seines Schreibtischs verschwinden ließ. Vielleicht begnügte Petersen sich fürs erste damit, Seldom in diesem kleinen persönlichen Duell das Symbol entrissen zu haben, und wollte ihn nicht mit weiteren Fragen bedrängen, vielleicht zog er es auch einfach vor, später unter vier Augen mit ihm darüber zu sprechen. Ich überlegte kurz, ob ich hinausgehen und sie alleine lassen sollte, doch statt dessen stand Petersen just in diesem Moment auf und verabschiedete uns mit einem überraschend freundlichen Lächeln. »Haben Sie die Resultate der zweiten Autopsie bekommen?« fragte Seldom ihn, als er uns zur Tür begleitete. »Auch das ist ein interessantes kleines Rätsel«, entgegnete Petersen. »Die Gerichtsmediziner waren anfangs verunsichert; im ganzen Organismus konnten sie keine Spuren irgendeiner bekannten Substanz finden, sie dachten sogar, es handele sich womöglich um eine ganz neue, unsichtbare Droge, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Aber das zumindest glaube ich gelöst zu haben«, sagte er, und zum ersten Mal sah ich in seinem Blick so etwas wie Stolz aufblitzen, »er hält sich vielleicht für sehr schlau, aber manchmal denken wir auch ein wenig nach.«
Kapitel Vierzehn
Schweigend verließen wir das Kommissariat und gingen die St. Aldates bis zum Carfax Tower entlang, ohne ein Wort zu verlieren. »Ich muß Tabak kaufen«, sagte Seldom schließlich. »Begleiten Sie mich zum Covered Market?« Ich nickte, und wir bogen in die High Street ein; ich hatte immer noch keinen Ton gesagt. Seldom schmunzelte. »Sie sind verärgert, weil ich Ihnen das Symbol nicht gezeigt habe. Aber glauben Sie mir, das hat seinen Grund.« »Einen anderen Grund als den, von dem Sie gestern im Park sprachen? Da Sie es Petersen ja nun gezeigt haben, leuchtet mir nicht ein, warum es schlimmere Konsequenzen haben könnte, wenn ich es kenne.« »Es könnte… andere haben«, sagte Seldom, »aber das ist nicht wirklich der Grund. Was ich vermeiden will, ist, daß meine Hypothesen Ihre beeinflussen. So arbeite ich auch mit meinen Doktoranden: Ich versuche, Ihnen nicht mit meinen eigenen Überlegungen vorauszugreifen. Das Wertvollste im Denken eines Mathematikers ist der einsame Moment der ersten Intuition. Auch wenn Sie es nicht glauben, ich habe mehr Vertrauen in Sie als in mich, auf die richtige Idee zu stoßen; Sie waren ganz am Anfang dort, und der Anfang, wie Aristoteles sagen würde, ist die Hälfte des Ganzen. Ich bin mir sicher, daß Ihnen etwas aufgefallen ist, auch wenn Sie noch nicht wissen, worin es besteht, und vor allem sind Sie kein Engländer. In diesem ersten Verbrechen liegt das Muster, dieser Kreis ist wie die Null für die natürlichen Zahlen, ein
Symbol für die höchste Unbestimmbarkeit, das aber gleichzeitig alles bestimmt.« Wir hatten inzwischen den Markt betreten, und Seldom war am Stand einer Inderin stehengeblieben, um sich seine Tabakmischung zusammenzustellen. Die Frau, die sich von einem Schemel erhoben hatte, um ihn zu bedienen, war in ein langes Seidengewand gehüllt und hatte einen smaragdgrünen Punkt auf der Stirn. An ihrem linken Ohr hing ein silberner, in sich geschlungener Ring. Beim aufmerksameren Hinschauen erkannte ich, daß es eine Schlange war, die sich in den Schwanz biß. Da erinnerte ich mich daran, was Seldom über die Uroboros-Schlange der Gnostiker gesagt hatte, und ich konnte nicht umhin, sie auf das Symbol anzusprechen. »Shunyata«, sagte sie und berührte leicht den Kopf der Schlange. »Die Leere und das Ganze. Die Leere jedes Dings für sich, das Ganze, das alles umschließt. Schwierig, sehr schwierig zu verstehen. Die absolute Wirklichkeit, jenseits aller Negationen. Die Ewigkeit, ohne Anfang oder Ende… die Reinkarnation.« Behutsam legte sie die Tabakfasern auf eine Präzisionswaage und unterhielt sich noch ein wenig mit Seldom, während sie ihm das Wechselgeld zurückgab. Dann gingen wir durch das Labyrinth aus Ständen nach draußen, wo wir auf Beth stießen, die unter den Arkaden an einem kleinen Tisch stand und Flugblätter für das Sheldonian Orchester verteilte. Sie hätten ein Benefizkonzert organisiert, erzählte sie uns, und die Musiker wechselten sich ab, um die Eintrittskarten zu verkaufen. Seldom nahm ein Programm in die Hand. »Das Konzert von 1884 in Schloß Blenheim, mit echten Kanonenschlägen und Feuerwerk«, sagte er. »Sie müssen wenigstens einmal ein Konzert mit Feuerwerk gesehen haben, solange Sie in Oxford sind. Erlauben Sie, daß ich Sie einlade.«
Und er holte seine Brieftasche hervor, um die beiden Karten zu bezahlen. Seit meiner Londonreise hatte ich Beth nicht mehr gesprochen, und es war mir, als wiche sie meinem Blick aus, während sie die Coupons heraussuchte und die Platznummern eintrug. Zumindest schien sie sich in meiner Gegenwart unwohl zu fühlen. »Werde ich dich dann endlich einmal spielen sehen?« fragte ich sie. »Ich glaube, es wird mein letztes Konzert sein«, antwortete sie, und ihr Blick kreuzte kurz den von Seldom, als habe sie bislang noch niemandem davon erzählt und wäre sich nicht sicher, ob er es gutheißen würde. »Ich heirate Ende des Monats und werde um eine Beurlaubung bitten… Ich glaube nicht, daß ich danach weiter spielen werde.« »Das ist aber schade«, sagte Seldom. »Daß ich nicht mehr spielen werde oder daß ich heirate?« fragte Beth und lächelte lustlos über ihren eigenen Scherz. »Beides!« sagte ich. Sie lachten offen heraus, als hätte mein Kommentar die Atmosphäre unverhofft entspannt, und als ich sie beide so lachen sah, kam mir Seldoms Bemerkung darüber in den Sinn, daß ich kein Engländer war. Selbst in diesem spontanen Lachen lag eine gewisse Zurückhaltung, als nähmen sie sich eine seltene Freiheit heraus, die sie nicht überbeanspruchen durften, und obwohl Seldom hätte einwenden können, er sei Schotte, waren sie sich in ihrer Gestik, oder besser gesagt in ihrer bedacht sparsamen Gestik unzweifelhaft sehr ähnlich. Wir entfernten uns über die Cornmarket Street, und ich zeigte Seldom an einer Litfaßsäule ein Plakat, das ich bereits am Eingang zur Bodleiana Bibliothek gesehen hatte; es war die Ankündigung eines Themenabends, an dem Inspektor Petersen und ein hiesiger Kriminalautor teilnahmen: Gibt es das
perfekte Verbrechen? Beim Blick auf den Titel der Veranstaltung hielt Seldom einen Augenblick inne. »Glauben Sie, daß das ein Köder von Petersen ist?« fragte er mich. Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen. »Nein, der Themenabend ist seit fast einem Monat angekündigt. Und ich vermute, wenn man ihm eine Falle stellen wollte, wären Sie auch eingeladen.« »Perfekte Verbrechen… Es gibt ein Buch mit diesem Titel, ich habe es konsultiert, als ich versuchte, Analogien zwischen Logik und Kriminalistik herzustellen. Darin werden zahlreiche Fälle abgehandelt, die nie aufgeklärt wurden. Am interessantesten war für mich der eines Arztes, Howard Green, dort wurde das Problem für meine Zwecke am besten umrissen. Mit dem Plan, seine Frau umzubringen, hatte er ein minutiöses, geradezu wissenschaftliches Tagebuch über alle möglichen ihm widrigen Umstände geführt. Es sei nicht schwierig, schlußfolgerte er, einen Mord zu begehen, für den die Polizei keinen definitiven Schuldigen finden würde. Er schlug vierzehn verschiedene Arten vor, manche wirklich äußerst erfinderisch. Wesentlich verzwickter jedoch erschien es ihm, sich für immer von jedem Verdacht zu befreien. Die wahre Gefahr für einen Verbrecher, überlegte er, sei nicht die rückwärtsgerichtete Untersuchung der Tatsachen – mit einer sorgfältigen Vorbereitung ließe sich dieses Problem durch ein Auslöschen oder Verwischen der Spuren stets lösen –, sondern die zukünftigen Fallen, die man ihm stellen könnte. Es gäbe nur eine einzige unverrückbare Wahrheit, notierte er in fast mathematischen Termini; jede Abweichung von ihr sei jederzeit widerlegbar. Bei jedem Verhör wüßte er ja, was er tatsächlich getan hatte, und jedes Alibi, das ihm einfiele, beinhalte unweigerlich ein falsches Element, das mit der ausreichenden Geduld aufgedeckt werden könne. Keine der von ihm in Betracht gezogenen Alternativen überzeugten ihn:
Jemanden für die Tat anzuheuern, einen Selbstmord oder Unfall vorzutäuschen etc. Schließlich kam er zu dem Schluß, daß er der Polizei einen anderen, offensichtlichen und naheliegenden Schuldigen liefern müßte, damit die Untersuchung abgeschlossen würde. Das perfekte Verbrechen, schreibt er, ist nicht das ungelöste, sondern das mit einem falschen Schuldigen gelöste.« »Und tötet er sie schließlich?« »Oh nein, sie tötet ihn. Eines Nachts findet sie das Tagebuch, es kommt zu einer schrecklichen Szene, sie verteidigt sich mit einem Küchenmesser und verletzt ihn tödlich. So gibt sie es zumindest vor Gericht an. Das Geschworenengericht, entsetzt von der Lektüre des Tagebuchs und den Photos von den Blutergüssen in ihrem Gesicht stimmt für Todschlag aus Notwehr und erklärt sie für unschuldig. Tatsächlich ist dieser Mord wegen ihr in das Buch aufgenommen worden; lange nach ihrem Tod haben Graphologiestudenten bewiesen, daß die Schrift in Dr. Greens Tagebuch eine fast perfekte Imitation war, zweifelsfrei aber nicht von ihm stammte. Und sie fanden ein weiteres faszinierendes Detail heraus: Der Mann, den sie wenig später diskret geheiratet hatte, war Kopist von alten Illustrationen und Kunstwerken. Mich würde dabei interessieren, wer von den beiden das Tagebuch inhaltlich verfaßt hat; es ist eine meisterhafte Imitation des wissenschaftlichen Jargons. Sie waren unglaublich waghalsig, denn in dem Tagebuch, das während des Prozesses vorgelesen wurde, stand Zeile für Zeile, was sie tatsächlich getan hatten. Das nennt man mit der Wahrheit lügen, alle Karten auf dem Tisch, wie ein mit leeren Händen vorgeführter Zaubertrick… Apropos: Kennen Sie einen argentinischen Magier namens René Lavand? Seine Aufführung ist wirklich ein ganz unvergeßliches Erlebnis.«
Ich schüttelte den Kopf, der Name kam mir nicht einmal entfernt bekannt vor. »Nein?« sagte Seldom überrascht. »Das müssen Sie unbedingt nachholen. Soweit ich weiß, kommt er demnächst nach Oxford, dann können wir ja gemeinsam hingehen. Erinnern Sie sich an unser Gespräch im Merton College über die Ästhetik des Denkens in den verschiedenen Disziplinen? Mein erstes Modell waren wie gesagt Kriminalermittlungen unter ihrem logischen Aspekt. Das zweite Modell meiner Untersuchungen war die Magie. Aber es freut mich, daß Sie ihn noch nicht kennen«, sagte er mit kindlichem Enthusiasmus, »das gibt mir einen Vorwand, seine Vorstellung noch einmal zu besuchen.« Wir waren vor The Eagle and Child angelangt. Durch eines der Fenster sah ich Lorna. Sie saß mit dem Rücken zu uns, ihr rötliches Haar offen über den Schultern, und drehte zerstreut an einem auf dem Tisch liegenden Bierdeckel. Seldom, der mechanisch seinen Tabak herausgezogen hatte, folgte meinem Blick. »Gehen Sie nur«, sagte er. »Lorna wartet nicht gerne.«
Kapitel Fünfzehn
Es verstrichen fast zwei Wochen, ohne daß ich irgendetwas Neues über den Fall erfuhr. Auch zu Seldom hatte ich in der Zeit keinerlei Kontakt, nur durch eine zufällige Bemerkung von Emily erfuhr ich, daß er sich in Cambridge aufhielt, um ein Seminar über Zahlentheorie mitzuorganisieren. »Andrew Wiles glaubt, er könne Fermats letzten Satz lösen«, hatte Emily amüsiert gesagt, als spräche sie über ein unverbesserliches Kind, »und Arthur ist einer der wenigen, die ihn dabei ernst nehmen.« Es war das erste Mal, daß ich Wiles’ Namen hörte. Auch war mir neu, daß es noch Mathematiker gab, die sich mit Fermats letzter nicht bewiesener These beschäftigten. Nach einer dreihundert Jahre andauernden Polemik, und vor allem nach Kummers Beitrag, war dieser Satz zum Inbegriff des unlösbaren Problems in der Mathematik geworden. Oder zumindest wußte man, daß seine Beweisführung alle bekannten Hilfsmittel überstieg und so komplex war, daß er Leben und Karriere dessen, der sich an ihm zu messen suchte, ohne weiteres aufzehren konnte. Als ich dies Emily sagte, nickte sie, als wäre es auch für sie ein kleines Rätsel. »Und dennoch«, hatte sie hinzugefügt, »Andrew war einer meiner Studenten; sollte es überhaupt möglich sein, eine Lösung zu finden, dann würde ich auch auf ihn setzen.« Ich selbst nahm während dieser Wochen die Einladung zu einem Seminar für Modelltheorie in Leeds an, doch statt den Vorträgen zu folgen, ertappte ich mich in einem fort dabei, wie beschwörend die Symbole für Kreis und Fisch an den Rand meines Heftes zu zeichnen. Ich hatte versucht, zwischen den Zeilen der in den Tagen nach Clarcks Tod erschienenen
Artikel zu lesen, doch auf eine mögliche Verbindung zwischen den beiden Verbrechen wurde, vielleicht auf eine Veranlassung Petersens hin, nur beiläufig angespielt; das Symbol des Fisches wurde zwar erwähnt, aber die Zeitung schien diesbezüglich im dunkeln zu tappen und es eher als eine Art Unterschrift zu betrachten. Ich hatte Lorna gebeten, mir ausführlich über jede Neuigkeit zu berichten, die sie erfuhr, doch was ich dann auf einem handbeschriebenen Blatt erhielt, war kein Bericht, sondern ein Brief, dessen Spezies ich für ausgestorben gehalten oder zumindest nicht mit ihr assoziiert hatte. Lang, zärtlich, überraschend; ein richtiger Liebesbrief. Während irgend jemand vorne über das Experiment des chinesischen Zimmers referierte und ich wieder und wieder Lornas Sätze las, die in einem Überschwang zu Papier gebracht schienen, den sie später offenbar nicht hatte bereuen wollen, überlegte ich, daß das entscheidende Problem jeder Übersetzung von Sprache darin besteht, zu wissen, was die andere Person tatsächlich sagt, sagen will, wenn sie etwa unter der Tür ein Blatt mit so bedeutungsschwerem Inhalt durchschiebt, wie ich es nun in der Hand hielt. In meine Antwort fügte ich die Bitte Qais Ben-al-Mulawahs aus einem seiner Verse an Leila ein: Oh Herr, möge die Liebe zwischen uns sich entsprechen, keiner den anderen hinter sich lassen. Möge unsere Liebe übereinstimmend sein wie die beiden Seiten einer Gleichung. Am Tag des Konzerts kehrte ich nach Oxford zurück. In meinem Fach im Institut lag ein kleiner Plan, auf dem Seldom mir die verschiedenen Möglichkeiten, zu Schloß Blenheim zu kommen, und den Zeitpunkt, an dem wir uns treffen würden, angegeben hatte. Am Abend, ich wollte mich gerade zum Gehen fertig machen, klopfte es an der Tür. Es war Beth, und bei ihrem Anblick verschlug es mir für einen Moment den
Atem. Sie trug ein schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt und fast ellenbogenlange Handschuhe. Ihre Schultern waren ganz entblößt, und ihr hochgestecktes Haar brachte die feste Linie ihres Kinns und ihren langen schlanken Hals zur Geltung. Zum ersten Mal sah ich sie geschminkt, und die Verwandlung hätte überwältigender nicht sein können. Sie lächelte nervös unter meinem Blick. »Michael und ich dachten, wir könnten dich vielleicht im Auto mitnehmen, wenn es dir nichts ausmacht, etwas früher dazusein. Wir wollten gerade aufbrechen.« Ich nahm einen dünnen Baumwollpulli und folgte ihr den Weg am Garten entlang. Ich hatte Michael erst einmal von weitem durch das Fenster meines Zimmers gesehen. Er war gerade dabei, Beths Cello auf dem Rücksitz zu verstauen, und als er sich schließlich umdrehte, sah ich in ein fröhlich harmloses Gesicht mit den rotglänzenden Backen eines Bauern oder munteren Biertrinkers. Er war groß und stämmig, doch in seinen Zügen lag eine gewisse Schlaffheit, die mich an Beths verächtliche Bemerkung denken ließ. Er trug einen etwas faltigen Frack, der über dem Bauch inzwischen nicht mehr schloß. Eine lange blonde Haarsträhne war ihm in die Stirn gefallen, aber ich bemerkte rasch, daß seine Art, sie mit zwei Fingern zurückzustreichen, ein Tick war, den er unablässig wiederholte. Etwas boshaft dachte ich, daß er bald kahl sein würde. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und langsam kurvten wir aus dem Close hinaus. Als wir an der Kreuzung zur Hauptstraße ankamen, erleuchteten die Scheinwerfer das verwesende Tier auf dem Asphalt, das niemand aufgelesen hatte. Michael wich ihm mit einem abrupten Manöver aus und kurbelte das Fenster herunter, um die Reste auf dem großen getrockneten Blutfleck genauer zu betrachten. Sie waren
inzwischen ganz platt gefahren, hatten aber auch in zwei Dimensionen auf monströse Weise ihre Umrisse bewahrt. »Das ist ein Opossum«, sagte er zu Beth. »Es muß vom Baum gefallen sein.« »Es liegt da seit Tagen«, sagte ich. »Ich bin daran vorbeigekommen, kurz nachdem es überfahren wurde. Ich glaube, es hatte ein Junges. Noch nie in meinem Leben habe ich so ein Tier gesehen.« Beth lehnte sich über Michaels Arm und warf ohne große Neugierde einen kurzen Blick darauf. »Das ist so ein rattenähnliches Beuteltier; ich glaube, die gibt es auch im Süden der Vereinigten Staaten. Bestimmt ist das Junge aus dem Beutel gefallen, und die Mutter ist hinterhergesprungen. Ein Opossum tut alles, um seine Jungen zu retten.« »Und niemand wird es wegräumen?« »Nein. Die Müllfahrer sind abergläubisch. Niemand traut sich, ein Opossum anzufassen, man sagt, es bringe Unglück. Aber die Autos werden es nach und nach abfahren.« Michael beschleunigte, um in die Hauptstraße einzubiegen, bevor die Ampel wieder umschaltete, und als er sich in den normalen Verkehr eingereiht hatte, wandte er sich mir zu und stellte mir die üblichen höflichen Fragen. Ich erinnerte mich, daß eine englische Schriftstellerin, womöglich Virginia Woolf, die gesellschaftliche Förmlichkeit ihrer Landsleute mit der Erklärung entschuldigt hat, die scheinbar so triviale einleitende Konversation über das Wetter entspränge vor allem dem Bedürfnis, ein gemeinsames Terrain und eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, bevor man zu tiefgreifenderen Themen überging. Aber ich begann mich langsam zu fragen, ob diese zweite Etappe tatsächlich existierte, ob sich mir irgendwann diese tiefgreifenderen Themen erschließen würden. Ich erkundigte mich bei den beiden, wie sie sich
kennengelernt hatten. Beth antwortete, sie hätten nebeneinander im Orchester gesessen, als erklärte das alles, und tatsächlich schien es, je länger ich sie beobachtete, die einzige Erklärung zu sein. Unmittelbare Nähe, Routine, Wiederholung, die bewährteste Mischung. Es war nicht einmal, wie andere Frauen vielleicht sagen konnten, »der erstbeste, der vorbeikam« gewesen, sondern hatte sich noch unvermeidbarer eingestellt: »Der, der am nächsten saß.« Aber was wußte ich schon. Nein, wirklich wissen konnte ich natürlich nichts, aber ich hatte den starken Verdacht, daß Michaels einzige Anziehung darin bestand, bereits vorher von einer anderen Frau auserkoren worden zu sein. Der Wagen fuhr auf den Autobahnring, und während Michael die Geschwindigkeit beschleunigte und die Werbetafeln an uns vorbeizuckten, hatte ich einige Minuten lang das Gefühl, wieder in die moderne Welt zurückzukehren. In Richtung Woodstock führte eine schmale asphaltierte Allee ab. Die Baumkronen wölbten sich zu einem langen Tunnel, in dem man nur die jeweils nächste Kurve ausmachen konnte. Wir durchquerten das kleine Dorf, legten zweihundert Meter auf einer Nebenstraße zurück, und hinter dem steinernen Bogen einer Toreinfahrt erstreckten sich vor uns in der letzten Abendsonne der weitläufige Park, der See und die majestätischen Umrisse des Schlosses mit den von goldenen Kugeln gekrönten Zinnen und den auf den Balustraden gleichsam wachenden Marmorstatuen. Wir stellten das Auto auf dem Parkplatz am Eingang ab. Beth und Michael trugen ihre Instrumente durch den Garten bis zum Podium, auf dem Stühle und Notenständer für das Orchester bereitgestellt waren. Die noch leeren Stühle für das Publikum waren von einer detailverliebten Hand in perfekten konzentrischen Halbkreisen angeordnet worden. Ich fragte mich, wie lange dieses kleine geometrische Kunstwerk das Eintreffen der Zuhörer wohl
überleben würde und ob noch jemand es würde bewundern können. Ich beschloß, in der verbleibenden halben Stunde einen kleinen Spaziergang durch den Wald und entlang des Sees zu machen. Die Nacht brach an. Ein alter Mann in einer grauen Uniform versuchte, die Pfauen aus den Gärten in ihren Unterschlupf zu treiben. Durch die Bäume sah ich ein paar Pferde auf einer Koppel. Ein Wächter mit zwei Hunden kam mir entgegen und zog grüßend seinen Hut. Als ich das Ufer des Sees erreicht hatte, war es völlig dunkel geworden. Ich sah zum Schloß hinüber; als wäre ein riesiger Lichtschalter betätigt worden, erstrahlte plötzlich die ganze Front in dem heiteren Glanz eines alten Schmuckstücks. Der Widerschein fiel über den See und ließ ihn viel größer erscheinen, als ich gedacht hatte. Ich verwarf die Idee, ihn zu umrunden, und ging denselben Weg zurück. Ein Großteil der Stühle war mittlerweile besetzt, und erstaunt betrachtete ich die vielen Leute, die in kleinen parfümierten, lange Kleidsäume über den Kies schleifenden Karawanen eintrafen. Ich erblickte Seldom, der mir mit seinem Programm aus einer der ersten Reihen winkte. Auch er war überraschend elegant, in Smoking und mit schwarzer Fliege. Wir unterhielten uns einen Moment über das Seminar, das er in Cambridge organisierte, über das Geheimnis um Wiles’ angekündigten Vortrag und ganz kurz über meine Reise nach Leeds. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß zwei Angestellte eilig Stühle aufklappten, um eine zusätzliche Reihe anzufügen. »Ich hätte nicht gedacht, daß so viele Leute kommen würden«, sagte ich. »Doch, doch«, entgegnete Seldom. »Fast ganz Oxford ist hier; schauen Sie dort«, und er deutete mit dem Kopf rechts hinter uns. Etwas unauffälliger drehte ich mich erneut um und machte Petersen aus, neben einer sehr jungen Frau, möglicherweise
dem blonden Mädchen, das ich auf dem Photo gesehen hatte, zirka zwanzig Jahre später. Der Inspektor grüßte uns mit einem kurzen Kopfnicken. »Und da ist noch jemand, dem ich in letzter Zeit überall begegne«, sagte Seldom. »Zwei Reihen hinter uns, der Mann in dem grauen Anzug, der so tut, als läse er das Programm. Erkennen Sie ihn ohne Uniform? Es ist Leutnant Sacks. Petersen scheint der Meinung zu sein, unser Mann könnte das nächste Mal einen direkteren Vorstoß wagen.« »Dann haben Sie ihn also noch einmal gesprochen?« fragte ich. »Nur am Telephon. Er bat mich, so verständlich wie möglich die Erklärung für das dritte Symbol aufzuschreiben, das der Reihe zugrundeliegende Gesetz, wie ich es mir denke. Ich habe ihm die Erläuterung aus Cambridge zugeschickt. Es ist kaum eine halbe Seite, im Gegensatz zu diesem so… phantasievollen Bericht, den er uns vorgelesen hat. Ich glaube, er hat einen Plan, aber sicherlich hegt er noch Zweifel. Es ist doch interessant, wie verlockend sich psychologische Hypothesen erweisen. Selbst falsch oder sogar absurd erscheinen sie immer noch wesentlich attraktiver als eine rein logische Überlegung. Die Menschen verspüren einen natürlichen Widerstand, ein instinktives Mißtrauen gegen logische Schemata. Und spricht auch rational alles dagegen, ist dieser Widerstand, betrachtet man die historische Entwicklung der Logik im menschlichen Gehirn, vielleicht sogar begründet.« Seldom hatte seine Stimme gesenkt. Das Murmeln um uns herum verstummte, und die Lichter erloschen fast gänzlich. Ein mächtiger weißer Schweinwerfer erleuchtete dramatisch die Musiker auf dem Podium. Der Dirigent schlug zweimal kurz gegen seinen Notenständer, machte dem ersten Geiger ein Zeichen, und wir vernahmen die einsamen Klänge der das
Programm einleitenden Sonate, die sich wie in die Nacht aufsteigende Rauchspiralen durch die Stille zogen. Ganz sanft, als würde er zarte Fäden in der Luft vereinen, ließ der Dirigent Beth und Michael, die beiden Windinstrumente, den Pianisten und schließlich den Perkussionisten einsetzen. Ich beobachtete Beth, obwohl ich sie im Grunde auch während meines Gesprächs mit Seldom nicht aus den Augen gelassen hatte. Ich fragte mich, ob sie dort auf der Bühne wohl in wirklicher Übereinstimmung mit Michael war, doch beide schienen völlig eingenommen und konzentriert, jeder folgte seiner Partitur und blätterte zwischendurch rasch die Seiten um. In regelmäßigen Abständen ließ ein heftiger Paukenschlag meinen Blick zum Perkussionisten auffahren. Er war bei weitem das bejahrteste Mitglied des Orchesters, ein großer, vom Alter gebeugter Mann mit weißem, an den Spitzen bereits leicht vergilbtem Schnurrbart, der einmal sein ganzer Stolz gewesen sein mußte. Er machte einen etwas zögernden, zittrigen Eindruck, der mit der donnernden Wucht seiner Paukenschläge kontrastierte, als würde er vor den anderen den Beginn eines Parkinsonschen Leidens vertuschen. Ich bemerkte, daß er nach jedem Schlag seine Hände in den Rücken legte und daß der Dirigent mit einer drolligen Geste seine Einsätze zu dämpfen versuchte. Nach einem majestätischen Crescendo markierte der Dirigent mit einer energischen Bewegung den Schlußakkord, bevor er sich umdrehte und mit einer Neigung des Kopfes den ansteigenden Applaus des Publikums entgegennahm. Ich bat Seldom um das Programm. Das nächste Stück war Cheyenne Spring von Aaron Copland, Nummer drei in der Reihe für Triangel und Orchester. Ich gab Seldom das Programm zurück, der es seinerseits rasch überflog. »Vielleicht kommt jetzt das erste Feuerwerk«, flüsterte er mir zu.
Ich folgte seinem Blick nach oben, zu den Dächern des Schlosses, wo zwischen den Giebelfiguren die Schatten der die Salven vorbereitenden Personen umherhuschten. Eine tiefe Stille trat ein, die Lichter über dem Orchester erloschen, und der Scheinwerferkreis erleuchtete einzig den alten Perkussionisten, der die Triangel wie ein gespenstisches Objekt hochhielt. Wir hörten das feierliche, ferne Klingen, Tropfen gleich, die sich aus dem Eis gefrorener Flüsse lösen. In einem Licht aus Orangetönen, das vielleicht eine Morgendämmerung suggerieren sollte, tauchte der Rest des Orchesters wieder auf. Die Triangel begleitete die Flöten, bis das Klingen aus dem Hauptmotiv verschwand und der Scheinwerfer mit dem Beginn des zweiten Themas zum Klavier schwenkte. Nach und nach stimmten die anderen Instrumente ein, offensichtlich das allmähliche Erwachen sich öffnender Blüten nachempfindend. Dann trieb der Taktstock des Dirigenten die Posaunen plötzlich in den losbrechenden Rhythmus von galoppierenden Wildpferden. Alle Instrumente fügten sich in diese ungezügelte Verfolgungsjagd, bis der Taktstock sich wieder zum Podest des Perkussionisten hin erhob. Der Scheinwerfer richtete sich erneut auf ihn, scheinbar in der Erwartung eines Klingeins, das den Klimax bezeichnen würde, doch in dem fahlen weißen Licht sahen wir nur, daß irgend etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Der alte Mann, noch mit der Triangel in der Hand, schien angestrengt nach Luft zu schnappen. Er ließ die Triangel fallen, die mit einer letzten falschen Note zu Boden schlug, und stieg schwankend von seinem Podest, weiterhin verfolgt von dem Scheinwerfer, als könnte das Auge des Lichttechnikers sich der schrecklichen Faszination der Szene nicht entziehen. Wir sahen, wie er einen Arm in einem stummen Flehen um Hilfe zum Direktor ausstreckte und sich dann mit beiden Händen an den Hals faßte, als versuchte er,
sich gegen einen unsichtbaren Griff zu wehren, der ihn erbarmungslos würgte. Schließlich sank er in die Knie, was einen Chor unterdrückter Schreie auslöste, während die ersten Reihen sich teilweise von ihren Sitzen erhoben. Die Musiker hatten einen Kreis um den alten Mann gebildet und riefen verzweifelt nach einem Arzt. Ein Mann aus unserer Reihe bahnte sich einen Weg zum Podium. Ich stand auf, um ihn vorbeizulassen, und konnte dem Drang nicht widerstehen, ihm zu folgen. Petersen stand bereits auf der Bühne, und ich sah, daß auch Sacks mit seiner Waffe von der Seite auf das Podium gesprungen war. Der Musiker war in einer grotesken Position bäuchlings liegengeblieben, eine Hand immer noch am Hals, das Gesicht bläulichviolett angelaufen, wie ein Meerestier, das aufgegeben hat, nach Luft zu ringen. Der Arzt drehte ihn um, hielt ihm zwei Finger an den Hals, um den Puls zu messen, und schloß ihm die Augen. Petersen, der neben dem Arzt in die Hocke gegangen war, zeigte ihm unauffällig seine Polizeimarke und wechselte ein paar Worte mit ihm. Dann stand er auf und ging zwischen den Musikern hindurch zu dem Podest, suchte den Boden ab und hob schließlich mit einem Taschentuch die Triangel auf, die neben eine Stufe gefallen war. Als ich mich kurz umdrehte, sah ich Seldom in der Menge stehen, die sich hinter mir gebildet hatte. Ich bekam mit, wie Petersen ihm ein Zeichen machte, sich mit ihm bei den mittlerweile leeren Sitzreihen zu treffen; ich wich bis zu Seldom zurück, doch schien er mich gar nicht zu bemerken. Er war ganz in Schweigen versunken und ging mit undurchdringlicher Miene langsam zu unseren Plätzen zurück. Petersen, der das Podium seitlich verlassen hatte, kam ihm vom anderen Ende der Stuhlreihe entgegen. Plötzlich hielt Seldom inne, als hätte etwas an seinem Sitzplatz ihn erstarren lassen. Irgend jemand hatte aus dem Programm zwei Zeilen herausgerissen und die Papierstückchen als Botschaft auf den
Stuhl gelegt. Ich beugte mich darüber und las sie schnell, bevor der Inspektor mich wegdrängen konnte. Auf dem ersten Schnipsel stand »Nummer drei in der Reihe«. Auf dem zweiten das Wort »Triangel«.
Kapitel Sechzehn
Petersen winkte eilig nach Sacks, und der Polizeileutnant, der sich neben dem ausgestreckten Körper in Wachposition gestellt hatte, bahnte sich mit gezückter Marke einen Weg durch die Leute bis zu uns. »Vorerst verläßt niemand das Schloß«, ordnete Petersen an. »Ich will die Namen von allen anwesenden Personen.« Er zog ein Mobiltelephon und ein kleines Notizbuch aus der Tasche und gab ihm beides. »Setzen Sie sich mit dem Parkwächter in Verbindung, und sorgen Sie dafür, daß kein Auto wegfährt. Fordern Sie ein Dutzend Beamten an, um die Aussagen aufzunehmen, ein Streifenwagen soll den See überwachen und zwei weitere die Wege, die durch den Wald zur Straße führen. Nehmen Sie eine genaue Zählung des Publikums vor, und vergleichen Sie diese mit der Anzahl der verkauften Karten und besetzten Plätze. Fragen Sie die Platzanweiser, wie viele Stühle zusätzlich aufgestellt wurden. Außerdem will ich eine Liste des gesamten Schloßpersonals, der Musiker und der mit dem Feuerwerk beauftragten Leute. Und noch etwas«, fügte er hinzu, als Sacks sich schon zurückziehen wollte, »was war Ihre Aufgabe heute abend, Leutnant?« Sacks erbleichte unter Petersens strengem Blick wie ein Student bei einer schwierigen Frage. »Die Personen zu überwachen, die sich Professor Seldom nähern könnten«, antwortete er. »Dann können Sie uns ja vielleicht verraten, wer diese Nachricht auf seinen Stuhl gelegt hat.«
Sacks starrte einen Augenblick auf die beiden Papierschnipsel, und sein Gesicht verfärbte sich. Bestürzt schüttelte er den Kopf. »Ich dachte, jemand wäre tatsächlich dabei, den alten Mann zu erwürgen, von meinem Platz sah es zumindest so aus. Und als Sie Ihre Waffe gezogen haben, bin ich nach vorne gelaufen, um ihm zu helfen.« »Aber er ist nicht stranguliert worden, nicht wahr?« fragte Seldom ruhig. Petersen schien kurz zu zögern, bevor er ihm antwortete. »Offensichtlich war es ein plötzlicher Atemstillstand. Doktor Sanders, der Arzt, der auf die Bühne gekommen ist, hat ihn vor einigen Jahren wegen eines Lungenemphysems operiert und ihm damals eine Lebenserwartung von fünf oder sechs Monaten prognostiziert. Er kann sich kaum erklären, wie er sich immer noch aufrecht halten konnte, seine Atemkapazität war äußerst reduziert. Seinem ersten Eindruck nach handelt es sich um einen natürlichen Tod.« »So, so«, murmelte Seldom, »ein natürlicher Tod… Ist es nicht erstaunlich, wie er sich perfektioniert? Ein natürlicher Tod, natürlich, das logische Extrem, das vollendetste Beispiel für ein unsichtbares Verbrechen.« Petersen hatte seine Brille hervorgeholt und beugte sich erneut über die beiden Papierstreifen. »Mit dem Symbol hatten Sie recht«, sagte er und sah zu Seldom hoch, als sei er sich immer noch nicht sicher, ob er ihn als Verbündeten oder als eine Art Feind betrachten sollte. Ich meinte ihn zu verstehen: In Seldoms Gedankengängen verbarg sich ein dem Inspektor unzugänglicher Faktor, und Petersen war es nicht gewohnt, daß jemand seinen Untersuchungen womöglich vorausgreifen konnte. »Mag sein, aber wie Sie sehen, hilft uns das Symbol auch nicht weiter«, entgegnete Seldom.
»Auf jeden Fall zeigt die Botschaft ein paar auffällige Abweichungen; dieses Mal wird keine Zeit genannt und die Ränder der beiden Streifen sind eingerissen, sie scheinen relativ achtlos oder hastig mit den Fingern aus dem Programm getrennt worden zu sein…« »Oder«, bemerkte Seldom, »das ist eben der Eindruck, den er hinterlassen wollte. Erschien nicht die ganze Inszenierung, mit dem Scheinwerfer und der sich auf den Höhepunkt zu bewegenden Musik wie eine gekonnt magische Show? Das Entscheidende war im Grunde nicht der Tod des Perkussionisten, der wirkliche Trick bestand darin, diese beiden Papierstreifen vor unserer Nase hierherzulegen.« »Aber der Mann da oben auf der Bühne ist tot, das ist kein Trick«, sagte Petersen kühl. »Ja«, stimmte Seldom ihm bei, »gerade darin liegt ja das Außergewöhnliche; die Umkehrung der Routine, der größere Effekt im Dienste des kleineren. Die eigentliche Figur verstehen wir immer noch nicht. Wir können sie jetzt aufzeichnen, ihren Linien folgen, aber wir sehen sie nicht, wir sehen sie immer noch nicht aus seinen Augen.« »Aber wenn Ihre Überlegungen richtig sind, können wir ihn vielleicht aufhalten, indem wir ihm zeigen, daß wir die Fortsetzung der Reihe kennen. Jedenfalls glaube ich, wir sollten es versuchen. Ihm unverzüglich eine Nachricht übermitteln.« »Wenn wir aber nicht wissen, wer es ist«, sagte Seldom, »wie sollen wir ihm dann eine Nachricht zukommen lassen?« »Darüber habe ich nachgedacht, seit ich Ihre Erläuterungen gelesen habe. Ich glaube, ich habe eine Idee, die ich gern noch heute abend mit der Psychologin besprechen würde, ich rufe Sie danach an. Wenn wir ihm zuvorkommen und einen weiteren Mord verhindern wollen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«
Die Sirene eines Krankenwagens kam näher, und auf dem Parkplatz hatte gerade der Transporter der Oxford Times gehalten. Die Seitentür wurde aufgeschoben, ein Photograph stieg aus und hinter ihm der hagere Journalist, der mich im Cunliffe Close interviewt hatte. Petersen nahm die beiden Papierstreifen vorsichtig an den Ecken hoch und steckte sie in seine Jackentasche. »Vorerst handelt es sich um einen natürlichen Tod«, sagte er, »dieser Journalist sollte uns hier möglichst nicht zusammen sehen.« Petersen seufzte und wandte sich der Menge zu, die um die Bühne stand. »Na gut«, sagte er, »dann wollen wir mal alle diese Leute zählen.« »Glauben Sie wirklich, daß er noch hier sein könnte?« fragte Seldom. »Ich glaube, daß wir in jedem der beiden Fälle, ob die Rechnung aufgeht oder ob jemand fehlt, etwas über ihn erfahren können.« Petersen entfernte sich ein paar Schritte, blieb dann bei der blonden Frau stehen, die neben ihm gesessen hatte, und unterhielt sich kurz mit ihr. Wir sahen, wie der Inspektor in unsere Richtung deutete und die Frau nickte. Gleich darauf kam sie mit einem freundlichen Lächeln entschlossen auf uns zu. »Mein Vater hat mir gesagt, daß für eine Weile weder Autos noch Taxen durchgelassen werden. Ich fahre jetzt zurück nach Oxford, ich kann Sie gern irgendwo absetzen.« Wir gingen mit ihr zum Parkplatz und stiegen in einen Wagen mit einem diskreten Polizeiausweis hinter der Windschutzscheibe. Als wir die Auffahrt verließen, kreuzten wir die Streifenwagen, die Petersen angefordert hatte. »Endlich hatte ich es einmal geschafft, meinen Vater zu einem Konzert mitzunehmen«, sagte die Frau mit einem Blick in den Rückspiegel. »Ich dachte, es würde ihn ein wenig von
seiner Arbeit ablenken. Tja, ich nehme an, heute wird er wohl nicht mehr zum Abendessen nach Hause kommen. Mein Gott, wie dieser Mann sich den Hals umklammert hat… Ich kann es immer noch nicht glauben. Mein Vater dachte, man würde ihn erwürgen, fast hätte er in Richtung der Bühne geschossen, aber durch den Lichtkegel, der auf dem Mann lag, hat man ja nichts dahinter gesehen. Er hat mich gefragt, ob er schießen soll.« »Und was hat man von Ihrem Platz aus gesehen?« fragte ich. »Gar nichts! Es ging alles so schnell… Außerdem hatte ich vor allem zum Schloß nach oben geschaut, ich wußte, daß am Ende des Satzes die ersten Feuerwerkskörper gezündet würden, das war mein Teil, ich war ganz darauf konzentriert. Ich werde immer gebeten, das Feuerwerk zu organisieren, wahrscheinlich denken sie, als Tochter eines Polizisten muß ich eine gute Hand für Schießpulver haben.« »Wie viele Leute haben sich auf dem Dach darum gekümmert?« fragte Seldom. »Zwei, mehr braucht man dafür nicht. Es war vielleicht höchstens noch jemand von der Schloßaufsicht oben.« »Wenn ich mich nicht irre«, sagte Seldom, »befand sich der Perkussionist als einziger etwas abseits. Er saß ganz am Ende der Bühne, auf einem erhöhten Absatz, ein wenig getrennt vom Rest des Orchesters. Nur er hätte von hinten angegriffen werden können, ohne daß die anderen Musiker es gemerkt hätten. Jeder kann aus dem Publikum oder vom Palast aus um das Podium herumgegangen sein, als die Lichter ausgingen.« »Aber mein Vater sagt, der Tod wurde durch einen Atemstillstand verursacht. Kann man so etwas von außen verursachen?« »Ich weiß nicht«, sagte Seldom und fügte leise murmelnd hinzu, »ich hoffe ja.« Was hatte Seldom mit diesem ich hoffe ja gemeint? Ich hätte ihn beinahe gefragt, doch da war er schon mit Petersens
Tochter in ein Gespräch über Pferde verwickelt, das dann endgültig und etwas überraschend zu einer Suche nach gemeinsamen schottischen Vorfahren abschweifte. Ich wälzte eine Weile den kleinen rätselhaften Satz in meinem Kopf herum und fragte mich, ob mir vielleicht irgendeine der möglichen Bedeutungen des englischen Ausdrucks I hope so entgangen war. Schließlich kam ich zu dem Schluß, er hatte wohl einfach nur gemeint, daß ein Angriff die einzige vernünftige Hypothese sei und es zum Wohl der allgemeinen Normalität vorzuziehen sei, die Dinge hätten sich so zugetragen. Daß man, war der Tod nicht von außen provoziert, sondern tatsächlich natürlich eingetreten, unweigerlich an Undenkbares denken müßte: unsichtbare Menschen, ZenBogenschützen, übernatürliche Kräfte. Die Mechanismen des Verstands, sich selbst die Dinge zurechtzulegen, sind schon faszinierend; ich überzeugte mich davon, daß es nur das war, was Seldom hatte sagen wollen, und fragte nicht mehr weiter nach, weder, als ich aus dem Auto stieg, noch bei irgendeiner anderen Gelegenheit; und dabei hätte ich, werde ich mir jetzt bewußt, durch jenen leise gemurmelten Satz wie über eine Abkürzung in die Tiefen seiner Gedanken vordringen können. Zu meiner Verteidigung kann ich vielleicht anbringen, daß mich an jenem Abend in Wirklichkeit etwas ganz anderes beschäftigte: Ich wollte mich auf keinen Fall von Seldom verabschieden, bevor er mir das der Reihe zugrundeliegende Gesetz aufgedeckt hätte. Mit dem Symbol der Triangel tappte ich zu meiner Beschämung genauso im dunkeln wie zuvor, und während ich mit halbem Ohr dem Gespräch vorne zuhörte, versuchte ich vergebens, in der Folge von Kreis, Fisch und Triangel einen Sinn zu finden und mir vorzustellen, wie das vierte Symbol aussehen könnte. Ich war entschlossen, Seldom die Lösung zu entreißen, sobald wir aus dem Auto stiegen, und beobachtete etwas besorgt, wie Petersens Tochter ihn
anlächelte. Entzogen sich mir auch einige umgangssprachliche Wendungen, war mir doch nicht entgangen, daß die Unterhaltung einen intimeren Charakter angenommen und sie irgendwann in dem verführerischen Tonfall eines kleinen Mädchens wiederholt hatte, sie müsse wohl tatsächlich allein zu Abend essen. Wir waren über die Banbury Road in Oxford angelangt, und an der Abbiegung zum Cunliffe Close hielt Petersens Tochter an. »Hier mußt du raus, nicht wahr?« fragte sie mit einem reizenden, aber keinen Widerspruch duldenden Lächeln. Ich stieg aus dem Auto, doch bevor sie wieder losfahren konnte, klopfte ich in einem jähen Impuls an das Fenster auf Seldoms Seite. »Bitte«, bat ich ihn leise, aber drängend auf spanisch, »Sie müssen mir noch etwas zur Lösung der Reihe sagen, geben Sie mir nur eine kleine Spur.« Seldom sah mich erstaunt an, aber meine Darstellung war überzeugend gewesen, und er schien sich meiner zu erbarmen. »Was sind wir denn, Sie und ich, was sind wir Mathematiker?« war seine Antwort, und er lächelte sonderbar melancholisch, als kehre ihm eine verloren geglaubte Erinnerung zurück. »Wir sind doch letztlich alle, wie ein Dichter Ihrer Heimat es ausdrückte, Pythagoras’ mühselige Schüler.«
Kapitel Siebzehn
Ich blieb auf dem Gehsteig stehen und schaute dem sich in der Dunkelheit entfernenden Auto nach. In meiner Tasche hatte ich neben meinem Zimmerschlüssel auch den Schlüssel zum Nebeneingang des Instituts und die Magnetkarte, die mir außerhalb der Öffnungszeiten Zugang zur Bibliothek verschaffte. Ich fand, daß es zu früh zum Schlafen war, und wanderte unter den gelben Lichtkegeln bis zum Institut. Die Straßen waren menschenleer; nur auf der Höhe der Observatory Street rührte sich etwas hinter der Fensterscheibe eines Tandoori Restaurants; zwei Angestellte waren dabei, die Stühle auf die Tische zu stellen, und eine Frau in einem Sari zog zum Schließen die Vorhänge zu. Auch St. Giles war völlig verlassen, aber in einigen Büros des Instituts brannte noch Licht, und auf dem Parkplatz standen ein paar Autos. Ich wußte, daß einige Mathematiker nur nachts arbeiteten und andere von Zeit zu Zeit hereinkommen mußten, um ein langsam rechnendes Programm zu überwachen. Ich ging zur Bibliothek hoch; sie war erleuchtet, und als ich eintrat, hörte ich an gedämpften Schritten, daß jemand leise an den Archivkästen beschäftigt war. Ich ging in die Abteilung zur Geschichte der Mathematik und fuhr mit den Fingern über die Titel auf den Buchrücken. Ein Band ragte ein wenig heraus, als wäre er kürzlich erst konsultiert und nachlässig an seinen Platz zurückgestellt worden. Die Bücher standen eng zusammen, und ich mußte beide Hände zur Hilfe nehmen, um ihn herauszuziehen. Die Illustration auf dem Einband zeigte eine in Flammen gehüllte Pyramide aus zehn Punkten. Der Titel – Der Bund der Pythagoräer – befand sich nur knapp außerhalb
der Reichweite des Feuers. Aus der Nähe betrachtet, waren die zehn Punkte in Wirklichkeit kleine tonsurierte Köpfe, wie Mönche aus der Vogelperspektive. Insofern spielten die Flammen vielleicht nicht vage symbolisch auf entzündete Leidenschaften an, sondern konkret auf den schrecklichen Brand, der die Sekte ausgelöscht hatte. Ich ging mit dem Buch zu einem der Arbeitstische und schlug es im Schein der Leselampe auf. Mehr als zwei oder drei Seiten mußte ich nicht darin blättern. Dort war es. Dort war es die ganze Zeit über gewesen, so bedrückend einfach. Die ältesten, elementarsten Begriffe der Mathematik, noch umwoben von ihrem mystischen Gewand. Die Darstellung der Zahlen in der pythagoräischen Lehre als archetypische Prinzipien der göttlichen Ordnung. Der Kreis war die Eins, die Einheit in ihrer Perfektion, die Monade, der Ursprung, aus dem alles hervorgeht, in sich geschlossen und vollkommen. Die Zwei, das Symbol der Dualität, der Gegensätze und Polaritäten, der Abspaltung. Sie wurde aus der Überschneidung zweier Kreislinien gebildet, die in ihrer Mitte die ovale, mandelförmige Figur namens Vesica Pisas einschlossen, die Fischblase. Die Drei, die Triade, galt als die Verbindung zweier Extreme, die Möglichkeit, den Gegensätzen Ordnung und Harmonie zu verleihen. Es war das Prinzip, das Sterbliches und Unsterbliches zu einem Ganzen vereint. Aber gleichzeitig entsprach die Eins dem Punkt, die Zwei der Geraden, die zwei Punkte verband, die Drei dem Dreieck und zugleich der Ebene. Eins, zwei, drei, das war alles, die Reihe bestand einfach nur aus der Aufeinanderfolge der natürlichen Zahlen. Ich blätterte zu dem Symbol um, das die Zahl Vier repräsentierte. Es war die Tetraktys, die Pyramide aus zehn Punkten, die auch auf dem Einband zu sehen war, das Sinnbild, die heilige Figur der Sekte, deren zehn Punkte die Summe aus eins plus zwei plus drei plus vier
waren. Sie repräsentierte die Materie und die vier Elemente. Für die Pythagoräer entfaltete sich die gesamte Mathematik ausgehend von diesem Symbol, das gleichzeitig den dreidimensionalen Raum und die himmlische Sphärenmusik darstellte und in sich den Keim der kombinatorischen Zahlen des Zufalls und der Wachstumsmultiplikation barg, die Fibonacci Jahrhunderte später wiederentdecken sollte. Erneut hörte ich Schritte, dieses Mal in unmittelbarer Nähe. Ich schaute auf und erblickte zu meiner Überraschung Podorow, meinen russischen Zimmerkollegen. Er war hinter dem letzten Archivkasten hervorgetreten, und als er mich an meinem Tisch sitzen sah, näherte er sich mit einem erstaunten Lächeln. Es war seltsam, wie anders er in dieser Umgebung wirkte, so ganz in seinem Element, und mir kam der Gedanke, daß er sich nachts vielleicht als Herr der Bibliothek fühlte. Als er an meinen Tisch trat, sah ich, daß er eine Zigarette in der Hand hielt, mit der er leicht auf die Glasplatte klopfte, bevor er sie anzündete. »Tja«, sagte er, »ich komme um diese Zeit hierher, um in aller Ruhe zu rauchen.« Er sah mich mit einem willkommen heißenden, vielleicht auch leicht ironischen Lächeln an, während er den Buchdeckel umdrehte, um den Titel zu lesen. Er war unrasiert, und in seinen Augen lag ein harter Glanz. »Oh, Der Bund der Pythagoräer… Das hat doch bestimmt etwas mit den Symbolen zu tun, die Sie auf die Tafel im Büro gezeichnet haben? Der Kreis, der Fisch… wenn ich mich recht entsinne, sind das die ersten symbolischen Zahlen der Sekte, nicht wahr?« Er schien seinen Geist anzustrengen und deklamierte, als würde er stolz sein Gedächtnis auf die Probe stellen: »Die dritte ist das Dreieck, die vierte ist die Tetraktys.« Ich starrte ihn entgeistert an. Zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß dieser Mensch, der mich an der Tafel die beiden
Symbole hatte studieren sehen, nie auf den Gedanken gekommen war, es könnte sich um etwas anderes als ein kurioses mathematisches Problem handeln. Dieser Mensch, der offensichtlich nichts von den Verbrechen wußte, hätte die ganze Zeit über nur von seinem Stuhl aufstehen müssen, um die Fortsetzung der Reihe für mich aufzuzeichnen. »Ist das ein Problem, das Arthur Seldom Ihnen gestellt hat?« fragte er. »Ihn habe ich als ersten über diese Symbole sprechen gehört, bei einem Vortrag über Fermats letzten Satz. Sie wissen natürlich, daß das Theorem von Fermat nichts weiter als eine Verallgemeinerung des pythagoräischen Lehrsatzes ist, des am besten gehüteten Geheimnisses der Sekte.« »Wann war das?« fragte ich. »Doch bestimmt nicht vor kurzem.« »Nein, das ist schon einige Jahre her«, sagte er. »So viele Jahre, daß Seldom sich offenbar nicht einmal mehr an mich erinnert. Aber da war er natürlich schon der große Seldom und ich nur ein unbedeutender Doktorand in der kleinen russischen Stadt, wo damals der Kongreß stattfand. Ich habe ihm meine Arbeiten über den Fermatschen Satz gezeigt, ich hatte damals nichts anderes im Kopf, und bat ihn, einen Kontakt zu der Gruppe Zahlentheoretiker in Cambridge herzustellen, doch offensichtlich waren sie alle zu beschäftigt, um meine Arbeiten zu lesen. Das heißt nicht alle«, verbesserte er sich. »Ein Schüler von Seldom las sie, korrigierte mein fehlerhaftes Englisch und veröffentlichte sie unter seinem Namen. Er bekam die Fields-Medaille für den wichtigsten Beitrag des Jahrzehnts zur Lösung des Problems verliehen. Dank dieser Theoreme steht Wiles jetzt kurz vor dem Ziel. Als ich Seldom diesbezüglich schrieb, war seine einzige Antwort, meine Arbeit habe einen Fehler enthalten und sein Schüler habe ihn berichtigt.« Er lachte trocken und blies eine Rauchwolke über
sich in die Luft. »Der einzige Fehler bestand darin«, sagte er, »daß ich kein Engländer war.« In diesem Augenblick hätte ich gern die Macht besessen, mein Gegenüber jäh zum Schweigen zu bringen. Wie schon während des Spaziergangs im Universitätspark spürte ich, daß ich im Begriff war, etwas zu sehen, und daß jenes flüchtige Puzzleteilchen, das mir bereits einmal entkommen war, sich vielleicht erneut einstellen und seinen Platz einnehmen würde, könnte ich nur allein sein. Irgendeine Entschuldigung murmelnd, stand ich auf und füllte rasch die Leihzettel aus, um das Buch mitzunehmen. Ich sehnte mich nur noch danach, draußen zu sein, im Dunkeln, weit weg von allem. Ich lief die Treppe hinunter, doch als ich das Gebäude gerade verlassen wollte, stieß ich mit einer schwarzgekleideten Gestalt zusammen, die vom Parkplatz kam. Es war Seldom, der sich einen Trenchcoat über seinen Smoking gezogen hatte. Da erst merkte ich, daß es draußen zu regnen begonnen hatte. »Wenn Sie jetzt hinausgehen, wird Ihr Buch naß«, sagte er und streckte die Hand nach dem Deckel aus. »Sie haben es also gefunden. Und an Ihrem Gesicht sehe ich, daß Sie noch mehr gefunden haben, ist es nicht so? Deshalb wollte ich, daß Sie selbst die Entdeckung machen.« »Ich habe meinen Bürokollegen Podorow getroffen; er hat mir gesagt, Sie wären sich vor Jahren begegnet.« »Victor Podorow, ja… ich frage mich, was er Ihnen erzählt hat. Ich hatte ihn ganz vergessen, bis Petersen mir die komplette Liste der im Institut arbeitenden Mathematiker gab. Aber erkannt hätte ich ihn wohl ohnehin nicht; ich erinnere mich an ihn als einen etwas verwirrten Knaben mit Spitzbart, der glaubte, einen Beweis für Fermats letzten Satz gefunden zu haben. Erst viel später fiel mir wieder ein, daß ich auf diesem Kongreß über die pythagoräischen Zahlen gesprochen hatte. Dennoch wollte ich Petersen nichts davon sagen; ich habe
mich ihm gegenüber immer etwas schuldig gefühlt, nachdem ich erfahren hatte, daß er einen Selbstmordversuch begangen hat, als einer meiner Schüler die Fields-Medaille bekam.« »Er hätte es doch sowieso nicht sein können«, sagte ich, »oder? Er war ja heute abend hier in der Bibliothek.« »Ich habe nie wirklich geglaubt, er könnte es sein, aber ich wußte, daß er vielleicht als einziger die Reihe sofort fortsetzen könnte.« »Ja«, sagte ich, »Ihr Vortrag war ihm noch sehr präsent.« Wir standen unter dem halbrunden Vordach des Eingangs, und der von Windböen gepeitschte Regen sprühte uns langsam naß. »Lassen Sie uns unter dem Mauersims entlang bis zum Pub gehen«, schlug Seldom vor. Ich folgte ihm, das Buch vor dem Regen schützend. Der Pub schien der einzige noch geöffnete Ort in ganz Oxford zu sein, die Leute drängten sich um die Theke und unterhielten sich mit dröhnendem Gelächter, mit dieser überschwenglichen, leicht aufgesetzten Fröhlichkeit, die Engländer erst nach einigen Gläsern Bier zu erreichen schienen. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch, dessen Holzplatte mit feuchten Rändern übersät war. »Es tut mir leid«, rief die Kellnerin uns von weitem mit einer machtlosen Geste zu, »Sie haben die letzte Runde verpaßt.« »Ich will auch gar nicht lange bleiben«, sagte Seldom zu mir, »aber es würde mich interessieren, was Sie jetzt, da Sie die Reihe kennen, für einen Eindruck haben.« »Es ist wesentlich einfacher, als ein Mathematiker es sich vorgestellt hätte, nicht wahr? Vielleicht liegt darin ja auch ein Geniestreich, aber irgendwie ist es doch enttäuschend. Einfach nur eins, zwei, drei, vier, wie in der symmetrischen Reihe, die Sie mir am ersten Tag gezeigt haben. Aber vielleicht handelt es sich auch gar nicht, wie wir glaubten, um eine Denkaufgabe,
sondern schlicht um eine Art, die Morde zu zählen: der erste, der zweite, der dritte.« »Ja«, sagte Seldom, »und das wäre der schlimmste Fall, denn dann könnte er endlos weitermorden. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, die Symbole sind eine Herausforderung und er wird aufhören, wenn wir ihm zeigen, daß wir eingeweiht sind… Petersen hat mich gerade von seinem Büro aus angerufen. Er hat eine Idee, die es sich vielleicht auszuprobieren lohnt und die offenbar auch die Zustimmung der Psychologin findet. Er wird seine Strategie gegenüber den Zeitungen radikal ändern: Morgen wird auf der ersten Seite der Oxford Times über den dritten Mord berichtet werden, mit einer Zeichnung der Triangel und einem Interview, in dem er auch die ersten beiden Symbole enthüllen wird. Die Fragen werden gezielt so gestellt sein, daß er gänzlich verunsichert von dem Rätsel und überwältigt von der Intelligenz des Mörders erscheint. Der Psychologin zufolge wird das dem Täter das Triumphgefühl verschaffen, nach dem er strebt. In der Donnerstagsausgabe wird dann in derselben Spalte, in der das Kapitel meines Buches über die Serienmorde veröffentlicht wurde, unter meinem Namen die kleine Notiz über die Tetraktys erscheinen, die ich für Petersen geschrieben habe. Das müßte genügen, um ihm zu zeigen, daß zumindest ich im Bilde bin und das Symbol des nächsten Mordes vorhersagen kann. So würde das Ganze auf die Ebene des fast persönlichen Duells verlegt werden, die er ursprünglich gewählt hat.« »Aber nehmen wir an, das funktioniert«, sagte ich etwas erstaunt, »nehmen wir an, daß er mit etwas Glück Ihre Notiz in der Donnerstagsbeilage tatsächlich liest und sie ihm mit noch viel mehr Glück Einhalt gebietet. Wie würde Petersen es dann anstellen, ihn zu erwischen?« »Petersen glaubt, das wäre nur eine Frage der Zeit. Vermutlich vertraut er darauf, daß sich aus der Liste des
Konzerts schließlich ein Name ziehen läßt. Jedenfalls scheint er entschlossen, alles zu versuchen, um einen vierten Mord zu verhindern.« »Interessant ist zumindest, daß wir jetzt gewissermaßen über alle Elemente verfügen, um uns seinen nächsten Schritt auszumalen. Ich meine, wir haben drei Symbole, wie in Franks Reihen, jetzt müßten wir doch eigentlich in der Lage sein, daraus etwas über den vierten Mord zu schließen. Die Tetraktys in Verbindung zu setzen – aber womit? Wir wissen immer noch nichts darüber, in welchem Zusammenhang die Morde mit den Symbolen stehen. Aber ich habe noch einmal darüber nachgedacht, was dieser Arzt, Sanders, gesagt hat, und ich glaube, da haben wir endlich ein sich wiederholendes Element: In allen drei Fällen hatten die Opfer sich in irgendeiner Weise selbst überlebt, ihre Lebenserwartung bereits übertroffen.« »Das stimmt«, pflichtete Seldom mir bei. »Das ist mir gar nicht aufgefallen…« Sein Blick verlor sich einen Augenblick, als fühle er sich plötzlich erschöpft oder als würden die endlosen Verzweigungen des Falls ihn mit einem Mal geradezu erdrücken. »Entschuldigung«, sagte er, offensichtlich unsicher, wie lange er abwesend gewesen war, »aber ich habe ein mulmiges Gefühl. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, die Reihe zu veröffentlichen. Aber vielleicht liegen doch zu viele Tage zwischen morgen und Donnerstag.« Ich habe immer noch ein Exemplar jener Montagsausgabe der Oxford Times, die für einen einzigen Phantomleser so sorgfältig in Szene gesetzt wurde. Wenn ich jetzt das etwas verblichene Photo des zusammengesackten Musikers und die Tuschezeichnungen der Symbole betrachte und die für Petersen vorbereiteten Fragen erneut lese, ist mir, als berühre mich eine kalte Hand aus der Ferne, wird mir der Schauer wieder gegenwärtig, der in Seldoms Stimme mitschwang, als
er in dem Pub gemurmelt hatte, daß vielleicht zu viele Tage zwischen Montag und Donnerstag lägen. Vor allem kann ich beim Anblick der auf dem Papier unverwüstlich weiterbestehenden Hypothesen den Schrecken nachempfinden, den ihr geheimnisvolles Eigenleben in der realen Welt ihm einflößte. Doch an jenem strahlenden Montagmorgen bedrückten mich keinerlei Vorahnungen und ich las mit Begeisterung, in die sich ein wenig Stolz und vermutlich auch eine Spur dummer Eitelkeit mischte, den Bericht, dessen Einzelheiten ich so gut wie alle bereits kannte. Lorna hatte mit größter Aufregung in der Stimme ganz früh bei mir angerufen. Auch sie hatte den Artikel gesehen und wollte unbedingt, ganz unbedingt mit mir zu Mittag essen, damit ich ihr absolut alles erzählte. Sie könne sich, und mir, nicht verzeihen, daß sie am Vorabend nicht mit dort auf dem Konzert gewesen sei. Im Grunde verabscheue sie mich dafür, dafür würde sie sich aber mittags aus dem Krankenhaus stehlen, um mich in dem französischen Café in der Little Clarendon Street zu treffen, ich solle also erst gar nicht auf die Idee kommen, mich mit Emily zu verabreden. Wir trafen uns im Café de Paris, lachten, unterhielten uns über die Morde und aßen Crêpes mit Schinken, unbekümmert und leichtfertig fröhlich wie nur Verliebte es sein können. Ich erzählte Lorna, Petersen habe uns anvertraut, der Perkussionist sei einer sehr schweren Lungenoperation unterzogen worden und sein Arzt habe sich eher überrascht darüber geäußert, daß er nicht schon früher gestorben sei. »Wie in den Fällen von Clarck und Mrs. Eagleton«, fügte ich hinzu und wartete auf ihre Reaktion bezüglich meiner kleinen Theorie. Lorna schwieg einen Moment nachdenklich. »Aber bei Mrs. Eagleton trifft das nicht ganz zu«, sagte sie dann. »Zwei oder drei Tage vor ihrem Tod bin ich ihr im Krankenhaus begegnet, und sie strahlte über das ganze
Gesicht, da die Untersuchungen eine partielle Regression des Tumors ergeben hatten. Der Arzt hatte ihr gerade gesagt, sie könne noch viele Jahre leben.« »Na gut«, wischte ich den Einwand wie ein unbedeutendes Hindernis weg, »aber das war sicher ein Gespräch unter vier Augen zwischen ihrem Arzt und ihr, der Mörder konnte davon ja nichts wissen.« »Du meinst also, er sucht Menschen aus, die länger leben, als sie sollten?« Ihre Miene verdüsterte sich, und sie deutete auf den über der Theke angebrachten Fernseher, der sich in ihrem Blickfeld befand. Ich drehte mich um und sah in das lächelnde Gesicht eines lockenhaarigen Mädchens, unter das in einem nationalen Aufruf eine Telefonnummer eingeblendet war. »Ist das das Mädchen, das ich im Krankenhaus gesehen habe?« frage ich. Sie nickte. »Sie ist inzwischen die erste auf der nationalen Transplantationsliste, ihr bleiben höchstens noch achtundvierzig Stunden.« »Wie geht es ihrem Vater?« fragte ich. Ich erinnerte mich noch lebhaft an seinen wirren Blick. »In den letzten Tagen habe ich ihn nicht gesehen, ich glaube, er mußte wieder zu seiner Arbeit zurück.« Sie streckte ihre Hand über den Tisch nach meiner aus, als wollte sie rasch diese unvorhergesehene dunkle Wolke vertreiben, und winkte der Kellnerin, um noch einen Kaffee zu bestellen. Ich zeichnete ihr auf einer Serviette auf, wo sich der Perkussionist auf dem Podium befunden hatte, und fragte sie, ob sie irgendeine Idee habe, wie man einen Atemstillstand provozieren könnte. Lorna überlegte einen Augenblick, während sie ihren Kaffee umrührte.
»Mir fällt nur eine einzige Möglichkeit ein, die keine Spuren hinterläßt: Eine sehr kräftige Person müßte von hinten hochgeklettert sein und ihm mit den Händen gleichzeitig Mund und Nase zugehalten haben. Man nennt das den Burke-Tod, nach William Burke; vielleicht hast du seine Wachsfigur bei Madame Tussaud’s gesehen. Das war ein schottischer Gastwirt, der sechzehn Reisende auf diese Art getötet hat, um sie an die damaligen Leichensezierer zu verkaufen. Bei einer Person mit sehr reduzierter Lungenkapazität würden ein paar Sekunden genügen, um ein Ersticken hervorzurufen. Ich würde sagen, der Mörder hat ihn so erwürgt, ohne zu wissen, daß der Scheinwerfer sich auf ihn richten würde. Und als der Lichtkegel auf den Perkussionisten fiel, hat er ihn sofort losgelassen, aber der Atemstillstand, und vermutlich auch der Herzstillstand, setzten bereits ein. Was ihr dann gesehen habt, die Hände am Hals, als würde ein Gespenst ihn würgen, ist die typische Reaktion eines Menschen, der keine Luft bekommt.« »Etwas anderes«, sagte ich. »Hast du noch einmal mit deinem Medizinerfreund über Clarcks Autopsie gesprochen? Inspektor Petersen glaubt da wohl eine andere Erklärung zu haben.« »Nein«, antwortete Lorna. »Aber er hat mich schon ein paar Mal zum Abendessen eingeladen. Soll ich annehmen und versuchen, etwas herauszufinden?« Ich lachte. »Nein, schon gut. Ich kann mit dem Rätsel leben.« Lorna sah besorgt auf die Uhr. »Ich muß ins Krankenhaus zurück«, sagte sie, »aber du hast mir immer noch nichts über die Reihe erzählt. Ich hoffe, es ist nicht sehr kompliziert, ich habe keine Ahnung mehr von Mathematik.« »Nein, das Überraschende ist gerade, wie simpel die Lösung war. Die Reihe ist einfach nur eins, zwei, drei, vier… in der
symbolischen Schreibweise, die die Pythagoräer verwendeten.« »Der Bund der Pythagoräer?« fragte Lorna, als riefe das eine vage Erinnerung in ihr hervor. Ich nickte. »Das kam während meiner Ausbildung in Geschichte der Medizin vor. Haben die nicht an die Seelenwanderung geglaubt? Soweit ich mich erinnere, hatten sie eine ziemlich grausame Theorie über geistig Behinderte, die die Spartaner und die Ärzte von Kroton später in die Praxis umgesetzt haben… Die Intelligenz war für sie das höchste Gut, und sie glaubten, geistig Zurückgebliebene wären die Reinkarnation von Menschen, die in ihrem früheren Leben schwere Fehler begangen hatten. Sie warteten ab, bis sie vierzehn Jahre waren, die kritische Schwelle beim Down-Syndrom, und benutzten die darüber hinaus lebenden als Versuchskaninchen für ihre medizinischen Experimente. Sie waren die ersten, die sich an Organtransplantationen versucht haben… Pythagoras selbst hatte einen goldenen Schenkel. Sie waren auch die ersten Vegetarier, aber sie durften keine dicke Bohnen essen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Jetzt muß ich aber wirklich gehen.« Wir verabschiedeten uns vor dem Café; ich mußte ins Institut zurück, um meinen ersten Stipendiumsbericht zu verfassen, und verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, Artikel durchzugehen und Literaturnachweise zu notieren. Um Viertel vor vier ging ich wie jeden Nachmittag in den Gemeinschaftsraum hinunter, wo die Mathematiker sich zum Kaffee trafen. Der Raum war voller als gewöhnlich, als wäre an diesem Tag keiner in seinem Büro geblieben, und ein aufgeregtes Gemurmel schlug mir entgegen. Als ich sie alle so zusammen sah, schüchtern, unordentlich, höflich, kam mir in den Sinn, was Seldom gesagt hatte. Ja, hier waren sie, zweitausendfünfhundert Jahre später, und warteten mit einem
Geldstück in der Hand diszipliniert auf ihre Tasse, die mühseligen Schüler von Pythagoras. Auf einem der Tische lag eine aufgeschlagene Zeitung, und ich dachte mir, daß sie sicherlich alle die Symbolreihe kommentierten oder sich gegenseitig darüber befragten. Aber ich irrte mich. Emily stellte sich in der Schlange neben mich und sagte mit glänzenden Augen, als eröffnete sie mir ein erst wenigen Auserwählten bekanntes Geheimnis: »Offenbar ist es ihm gelungen.« Sie schien es selbst noch kaum zu glauben, und als sie mein fragendes Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Andrew Wiles! Haben Sie es nicht gehört? Er hat um zwei Stunden Verlängerung für seinen Vortrag zur Zahlentheorie in Cambridge gebeten. Er ist dabei, einen Beweis für die Shimura-Taniyama-Vermutung aufzustellen… wenn ihm das gelingt, ist damit Fermats letzter Satz bewiesen. Eine ganze Gruppe Mathematiker will nach Cambridge fahren, um morgen dabei zu sein. Es könnte der wichtigste Tag in der Geschichte der Mathematik werden.« Ich sah, daß Podorow eingetreten war, mürrisch wie immer, und sich nach einem Blick auf die Schlange hinsetzte, um die Zeitung zu lesen. Ich ging zu ihm, meine bis an den Rand gefüllte Tasse und meinen Muffin balancierend. Podorow sah von der Zeitung auf und blickte mit verächtlicher Miene um sich. »Na? Haben Sie sich für den morgigen Ausflug angemeldet? Ich kann Ihnen meinen Photoapparat leihen, wenn Sie möchten«, sagte er. »Es wollen doch bestimmt alle ein hübsches Bildchen von Wiles’ letztem Tafelbild mit dem q. e. d. haben.« »Ich weiß noch nicht, ob ich mitfahre.« »Warum nicht? Es gibt einen kostenlosen Bus, und Cambridge ist sehr nett, britisch eben. Waren Sie schon dort?«
Er blätterte zerstreut um, und sein Blick fiel auf den großen Artikel über die Morde und die Symbolreihe. Er las die ersten zwei oder drei Zeilen und sah mich dann mit einem leicht beunruhigten, argwöhnischen Ausdruck wieder an. »Sie wußten gestern schon davon, stimmt’s? Seit wann passieren diese Morde?« Ich sagte ihm, daß der erste vor fast einem Monat begangen worden sei, die Polizei aber erst jetzt beschlossen habe, die Symbole zu enthüllen. »Und was hat Seldom damit zu tun?« »Die Botschaften nach jedem Mord gehen an ihn. Die zweite Botschaft, das Symbol des Fisches, tauchte eben hier auf, an der Eingangsdrehtür.« »Ach ja, ich erinnere mich an den kleinen Auflauf an dem Morgen. Ich habe die Polizei gesehen, aber ich dachte, jemand hätte ein Fenster eingeschlagen.« Er wandte sich wieder der Zeitung zu und las den Artikel rasch zu Ende. »Aber Seldoms Name erscheint hier nirgends.« »Die Polizei wollte ihn nicht verbreiten, aber die drei Botschaften waren an ihn gerichtet.« Er sah mich wieder an, und seine Miene hatte sich verändert, als belustigte ihn irgend etwas insgeheim. »Jemand spielt also Katz und Maus mit dem großen Seldom. Vielleicht gibt es doch so etwas wie eine göttliche Gerechtigkeit. Einen Mathematiker-Gott natürlich«, sagte er etwas rätselhaft. »Wie stellen Sie sich den vierten Mord vor?« fragte er mich dann. »Ein Tod, der der antiken Feierlichkeit der Tetraktys entspricht…« Er sah sich um, als suche er nach einer Inspiration. »Ich glaube mich zu erinnern, daß Seldom, zumindest damals, ein Bowling-Fan war«, sagte er. »Ein Spiel, das man zu jener Zeit in Rußland kaum kannte. Ich weiß noch, daß er in seinem Vortrag die Punkte der Tetraktys mit der
Aufstellung der Kegel bei Spielbeginn verglich. Und es gibt einen Wurf, der alle Kegel auf einmal umwirft.« »Strike«, sagte ich. »Ja, genau. Ist das nicht ein herrliches Wort?« Und er wiederholte es mit seinem starken russischen Akzent und einem sonderbaren Lächeln, als stelle er sich eine unerbittliche Kugel und rollende Köpfe vor. »Strike!«
Kapitel Neunzehn
Um fünf hatte ich einen ersten Entwurf meines Berichts fertig, und bevor ich das Institut verließ, überprüfte ich noch meine E-Mails im Computerraum. Ich fand eine kurze Nachricht von Seldom vor, in der er mich bat, ihn am Ende seines Seminars im Merton College zu treffen, wenn ich Zeit hätte. Ich beeilte mich, um rechtzeitig dort zu sein, und als ich die Stufen hochstieg, die zu den kleinen Unterrichtssälen führten, sah ich durch die Glastür, daß er ein paar Minuten länger geblieben war und noch mit zwei Studenten ein Problem an der Tafel besprach. Als die Studenten den Saal verließen, winkte er mich hinein, und während er seine Aufzeichnungen in einer Mappe verstaute, deutete er auf den Kreis, der auf die Tafel gezeichnet war. »Wir haben uns gerade die geometrische Metapher von Nikolaus von Kues ins Gedächtnis gerufen: die Wahrheit als Kreis und die menschlichen Versuche, sie zu erreichen, wie eine Aufeinanderfolge darin eingezeichneter Vielecke mit zunehmenden Seitenzahlen, die sich der Kreisform langsam annähern. Das ist eine relativ optimistische Metapher, da die aufeinanderfolgenden Annäherungen die finale Figur zumindest erahnen lassen. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, eine wesentlich entmutigendere Möglichkeit, die meine Schüler noch nicht kennen.« Er zeichnete neben den Kreis rasch eine unregelmäßige Figur mit vielen Spitzen und Einkerbungen. »Nehmen wir für einen Moment an, die Wahrheit hätte die Form, sagen wir einer Insel wie Großbritannien, mit einer von unzähligen Vorsprüngen und
Einbuchtungen durchbrochenen Steilküste. Versucht man sich hier an dem Spiel, sich der Figur mit Vielecken anzunähern, sieht man sich vor dem Mandelbrotschen Paradox. Der Rand entzieht sich unaufhörlich, faltet sich bei jedem neuen Versuch in weitere Vorsprünge und Einbuchtungen, und die menschlichen Versuche, ihn präzise abzustecken, haben schlicht keine Grenzen. Ähnlich könnte auch die Wahrheit sich den menschlichen Annäherungen widersetzen. Woran erinnert Sie das?« »An Gödels Unvollständigkeitssatz? Die Vielecke wären dann Systeme mit mehr und mehr Axiomen, aber ein Teil der Wahrheit befände sich stets außerhalb ihrer Reichweite.« »Ja, vielleicht, in gewisser Weise; aber auch an unseren Fall, an die Schlußfolgerung von Wittgenstein und Frankie: die bekannten Glieder einer Reihe, egal wie viele Glieder, könnten immer unzureichend sein… Woher sollen wir a priori wissen, mit welcher der beiden Figuren wir es zu tun haben, dem Kreis oder der zerklüfteten Insel? Wissen Sie«, unterbrach er sich plötzlich, »mein Vater hatte eine große Bibliothek, in deren Mitte sich ein Schrank mit Büchern befand, die meinem Blick verwehrt waren, er hielt die Tür des Schranks unter Verschluß. Jedes Mal, wenn er diese Tür öffnete, konnte ich nur eine Illustration sehen, die er auf ihre Innenseite geklebt hatte, die Silhouette eines Mannes, der mit einer Hand den Boden berührte und den anderen Arm nach oben streckte. Unter der Illustration stand ein Satz in einer unbekannten Sprache, später fand ich heraus, daß es Deutsch war, und entdeckte auch ein mir geradezu magisch erscheinendes Buch: ein zweisprachiges Lexikon, mit dem mein Vater seinen Unterricht vorbereitete. Ich entzifferte den Satz Wort für Wort. Er war ebenso einfach wie geheimnisvoll: Der Mensch ist nur die Folge seiner Handlungen. Ich hatte einen kindlichen, absoluten Glauben an die Worte und begann, die Menschen wie provisorische,
unvollständige Figuren zu betrachten; skizzierte Figuren, nie ganz und gar greifbar. Wenn der Mensch nur die Folge seiner Handlungen war, wurde mir bewußt, ist er bis zu seinem Tod nie endgültig definiert; eine einzige, vielleicht seine letzte Handlung konnte seine gesamte vorangegangene Existenz auslöschen, im Widerspruch zu seinem gesamten Leben stehen. Und gleichzeitig war es eben vor allem die Folge meiner Handlungen, die mir am meisten Angst einflößte. Der Mensch war also nichts weiter als das, was ich am meisten fürchtete.« Er hielt seine kreidigen Handflächen nach oben. Auch über seine Stirn zog sich ein lustiger weißer Strich, als wäre er sich zerstreut mit der Hand darübergefahren. »Ich wasche mir schnell die Hände, ich bin gleich wieder da«, sagte er. »Gehen Sie doch schon in die Cafeteria vor, hier die Treppe hinunter. Bestellen Sie mir einen Kaffee? Ohne Zucker, bitte.« Ich bestellte zwei Kaffee an der Theke, und Seldom kam rechtzeitig dazu, um seine Tasse an einen etwas abseits stehenden Tisch mit Blick auf den Garten zu tragen. Durch die offene Tür der Cafeteria konnte man den unablässigen Strom von Touristen verfolgen, der sich durch den Eingangskorridor zu den Innenarkaden des Colleges schob. »Ich habe heute morgen mit Inspektor Petersen gesprochen«, sagte Seldom. »Das Zählen hat ihnen wohl gestern ein kleines Problem aufgegeben. Auf der einen Seite hatten sie durch die abgerissenen Streifen der Eintrittskarten die genaue Zahl der in den Gärten von Schloß Blenheim anwesenden Personen, auf der anderen Seite die Anzahl der besetzten Stühle. Die für die Sitzplätze verantwortliche Person ist ausgesprochen gewissenhaft und hat versichert, daß nur die strikt notwendigen Stühle angefügt wurden. Und jetzt kommt das Kuriose: Als sie die beiden Summen verglichen, stellten sie fest, daß mehr
Menschen als Stühle da waren. Drei Personen haben offensichtlich keine Plätze besetzt.« Seldom sah mich an, als erwarte er von mir eine spontane Erklärung dafür. Etwas ratlos überlegte ich kurz. »Ich nehme an, in England werden Konzerte nicht gerade gestürmt«, sagte ich. Seldom lachte auf. »Nein, zumindest nicht Wohltätigkeitskonzerte… Nein, denken Sie nicht weiter nach, es ist wirklich zu dumm. Petersen wollte mich nur hochnehmen, er war heute ausnahmsweise einmal gut gelaunt. Die drei überzähligen Personen waren Querschnittsgelähmte in Rollstühlen. Petersen war ganz glücklich über die Abzählung. Die Liste, die seine Assistenten aufgestellt haben, geht genau auf. Zum ersten Mal hat er das Gefühl, die Verdächtigen eingrenzen zu können. Statt der fünfhunderttausend Bewohner von Oxfordshire muß er sich jetzt nur noch die achthundert vornehmen, die auf dem Konzert waren. Und Petersen glaubt, die Zahl rasch reduzieren zu können.« »Die drei im Rollstuhl«, sagte ich. Seldom quittierte die Bemerkung mit einem Lächeln. »Genau, da wären zunächst die drei Rollstuhlfahrer, dann eine Gruppe Kinder mit dem Down-Syndrom aus einer Sonderschule und mehrere sehr alte Damen, die wohl eher als mögliche Opfer in Frage gekommen wären.« »Glauben Sie, das entscheidende Kriterium ist das Alter?« »Stimmt, Sie haben da ja eine andere Theorie… Personen, die sich auf irgendeine Weise selbst überleben, ihre Lebenserwartung übertreffen. In diesem Fall würde das Alter in der Tat niemanden ausschließen.« »Hat Petersen noch mehr zu dem gestrigen Mord gesagt? Hatte er die Resultate der Autopsie?«
»Ja. Er wollte sichergehen, daß der Musiker vor dem Konzert nichts zu sich genommen hat, das den Atemstillstand hätte hervorrufen können. Und tatsächlich wurde nichts in der Richtung gefunden. Es wurden auch keine Anzeichen von Gewalt oder Abdrücke um seinen Hals festgestellt. Petersen tendiert zu der Annahme, daß der Angreifer das Repertoire gut kannte. Er hat die längste Passage ohne Perkussion gewählt. So konnte er sicher sein, daß der Musiker außerhalb des Scheinwerferlichts bleiben würde. Außerdem schließt er aus, daß es sich um einen anderen Musiker des Orchesters handeln könnte. Hinsichtlich seines Platzes ganz hinten auf dem Podium und der fehlenden Abdrücke um seinen Hals besteht die einzige Möglichkeit darin, daß jemand von hinten zu ihm hochgeklettert ist…« »Und ihm gleichzeitig Mund und Nase zugehalten hat.« Seldom sah mich etwas erstaunt an. »Das hat Lorna mir gesagt.« Er nickte. »Das hätte ich mir denken können; Lorna kennt sich bei Verbrechen wirklich bestens aus, nicht wahr? Der Gerichtsmediziner meint, daß der von dem Schreck provozierte Schock einen unmittelbaren Atemstillstand hervorrufen konnte, noch bevor der Musiker Widerstand zu leisten versuchte. Jemand ist von hinten hinaufgeklettert und hat ihn im Dunkeln angegriffen… Das scheint die einzige vernünftige Möglichkeit zu sein. Aber das war nicht das, was wir gesehen haben.« »Neigen Sie etwa eher zu der Hypothese des Gespensts?« fragte ich. Zu meiner Überraschung schien Seldom meine Frage ernsthaft zu bedenken und beantwortete sie mit einem langsamen, unbestimmten Nicken.
»Ja«, sagte er, »ich glaube, von den beiden Hypothesen ziehe ich für den Augenblick die des Gespensts vor.« Er trank einen Schluck aus seiner Tasse, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Die eifrige Suche nach Erklärungen… sollte Ihre Erinnerungen nicht trüben. Und eben darum habe ich Sie gebeten zu kommen. Ich möchte, daß Sie einen Blick auf das hier werfen.« Er öffnete seine Mappe und holte einen kartonierten Umschlag hervor. »Petersen hat mir diese Photos gezeigt, als ich heute in seinem Büro war, ich bat ihn, sie mir bis morgen zu überlassen, um sie in aller Ruhe anzusehen. Vor allem aber wollte ich sie Ihnen zeigen; es sind die Photos, die bei Mrs. Eagleton gemacht wurden, nach dem ersten Mord, mit dem alles begann. Der Inspektor hat sich mittlerweile auf die anfängliche Fragestellung zurückbesonnen: Welche Verbindung besteht zwischen Mrs. Eagleton und dem Kreis in der Botschaft? Sie wissen, ich bin überzeugt, daß Sie dort noch etwas gesehen haben, etwas, dem Sie bisher keine Bedeutung beigemessen haben, das sich aber irgendwo in den Tiefen Ihres Gedächtnisses versteckt. Ich dachte, die Photos würden Ihnen vielleicht helfen, sich zu erinnern. Hier ist es alles wieder«, sagte er und reichte mir den Umschlag. »Das kleine Wohnzimmer, die Kuckucksuhr, die Chaiselongue, das Scrabblebrett. Wir wissen, daß der Täter bei diesem ersten Verbrechen einen Irrtum beging. Das sollte uns weiterhelfen…« Er ließ seinen erneut leicht abwesenden Blick über die Tische und zum Gang hinaus schweifen. Plötzlich verhärtete sich seine Miene, als hätte er etwas Beunruhigendes gesehen. »Da liegt etwas in meinem Fach«, sagte er. »Das ist seltsam, der Postbote war heute morgen schon da. Ich hoffe, Leutnant
Sacks treibt sich noch irgendwo herum. Warten Sie einen Moment, ich werde kurz nachschauen.« Ich drehte mich in meinem Stuhl um und sah, daß man von Seldoms Platz aus tatsächlich die letzte Reihe eines großen, in die Wand eingelassenen Fächerkastens aus dunklem Holz ausmachen konnte. Dort hatte er also auch die erste Botschaft erhalten. Es wunderte mich, daß alle Korrespondenz im College so offen auf dem Korridor zugänglich war, aber letztendlich waren die Fächer im Mathematischen Institut auch nicht überwacht. Als Seldom zurückkam, zog er gerade ein Buch aus einem Umschlag und lächelte vergnügt, als hätte man ihm eine unerwartete Freude bereitet. »Erinnern Sie sich an den Magier, von dem ich Ihnen erzählte, René Lavand? Er ist heute und morgen in Oxford, hier habe ich Karten für einen der beiden Tage. Wir müßten jedoch heute hingehen, morgen fahre ich nach Cambridge. Gedenken Sie sich dem Mathematiker-Ausflug anzuschließen?« »Nein«, sagte ich, »ich glaube nicht. Morgen hat Lorna ihren freien Tag.« Seldom zog die Augenbrauen hoch. »Die Lösung des wichtigsten Problems der Geschichte der Mathematik gegen ein hübsches Mädchen… und wie immer gewinnt das Mädchen.« »Aber zu der Vorstellung des Magiers heute abend würde ich gern gehen.« »Selbstverständlich«, sagte Seldom mit sonderbarem Nachdruck. »Den müssen Sie unbedingt sehen. Die Vorstellung beginnt um neun. Und jetzt«, fügte er hinzu, als gäbe er mir eine Hausaufgabe auf, »gehen Sie nach Hause und versuchen sich bis dahin auf die Photos zu konzentrieren.«
Kapitel Zwanzig
Als ich in mein Zimmer zurückkam, machte ich mir eine Kanne Kaffee, zog das Bett glatt und verteilte die Photos aus dem Umschlag auf der Überdecke. Bei ihrer Betrachtung mußte ich daran denken, was ich einmal einen figurativen Maler in aller Selbstverständlichkeit hatte konstatieren hören: Ein Photo trägt immer weniger Realität in sich, als eine Malerei einfangen würde. Irgend etwas jedenfalls schien sich auf diesem verschobenen Bild aus überscharfen, tadellosen Aufnahmen, das ich auf meinem Bett angeordnet hatte, endgültig verloren zu haben. Ich versuchte, ihnen eine andere Reihenfolge zu geben, indem ich ein paar untereinander austauschte. Etwas, das ich gesehen habe. Ich machte noch einen Versuch, legte die Photos so, wie ich mich nacheinander an das erinnerte, was ich bei unserem Betreten des Wohnzimmers erblickt hatte. Etwas, das ich gesehen hatte und Seldom nicht. Aber warum nur ich, warum hätte er es nicht auch sehen können? Weil Sie als einziger völlig unvoreingenommen waren, hatte Seldom gesagt. Ja, vielleicht war es wie bei diesen dreidimensionalen Computerbildern, die man gerade überall in London sah und deren Motiv, unsichtbar für ein aufmerksames Auge, erst dann flüchtig hervortrat, wenn man sich nicht mehr darauf konzentrierte. Zunächst hatte ich Seldom gesehen, wie er über den Kiesweg eilig auf mich zugekommen war. Ich hatte kein Bild von dieser Sequenz, dafür erinnerte ich mich jedoch deutlich an unser Gespräch vor der Tür und an den Moment, in dem er mich nach Mrs. Eagleton gefragt hatte. Ich hatte zu dem elektrischen Rollstuhl auf der Veranda gedeutet. Den hatte also auch er gesehen.
Wir waren gemeinsam eingetreten; ich erinnerte mich, wie seine Hand den Knauf gedreht hatte und die Tür leise aufgegangen war. Dann… verwirrte sich alles. Ich erinnerte mich an das Ticken der Wanduhr, war aber nicht sicher, ob ich auf das Zifferblatt geschaut hatte. Das müßte jedenfalls der Reihenfolge nach das erste Photo sein: die Haustür von innen, der Kleiderhaken im Eingang und auf einer Seite die Wanduhr. Dieses Bild, dachte ich, war auch das letzte, das der Mörder beim Verlassen des Hauses gesehen hatte. Ich legte die Aufnahme an ihren Platz zurück und fragte mich, welche als nächstes käme. War mir noch etwas aufgefallen, bevor wir Mrs. Eagleton fanden? Unwillkürlich hatten meine Augen sie in demselben geblümten Sessel gesucht, von dem aus sie mich am ersten Tag begrüßt hatte. Ich hob erneut das Photo hoch, das die beiden kleinen Sessel auf dem Rautenteppich zeigte. Hinter einer der Lehnen blitzte das Chromgestell ihres Rollstuhls hervor. Hatte ich den Rollstuhl hinter der Lehne bemerkt? Nein, ich war mir nicht sicher. Es war zum Verzweifeln, alles entglitt mir plötzlich, mein Gedächtnis fokussierte einzig Mrs. Eagletons auf der Chaiselongue ausgestreckten Körper und ihre offenen Augen, als wäre dieses eine Bild so überbeleuchtet, daß es alles andere in den Schatten stellte. Aber wohl gesehen hatte ich das Scrabblebrett und die beiden Buchstabenständer auf ihrer Seite, als wir uns ihr näherten. Eines der Photos hatte das Brett auf dem Tischchen verewigt. Es war aus nächster Nähe aufgenommen, und wenn man sich ein wenig anstrengte, konnte man alle Worte entziffern. Über die auf dem Brett gelegten Wörter hatten Seldom und ich bereits gesprochen. Keiner von uns beiden glaubte, daß sie irgend etwas Interessantes offenbaren könnten oder sich mit dem Symbol in Verbindung bringen ließen. Auch Inspektor Petersen hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen. Wir waren uns einig, daß das Symbol vor dem Mord und nicht
durch eine spontane Inspiration gewählt worden war. Dennoch betrachtete ich neugierig die beiden Buchstabenständer auf den Photos. Die hatte ich nicht gesehen, dessen war ich mir sicher. Auf einem stand nur ein einziger Buchstabe, ein A. Auf dem anderen waren noch zwei: R und O; das bedeutete zweifellos, daß Mrs. Eagleton zu Ende gespielt hatte, alle Buchstaben in dem Säckchen aufgebraucht hatte, bevor sie eingeschlafen war. Ich versuchte eine Weile, mir englische Wörter auszudenken, die man mit diesen letzten Buchstaben noch auf dem Brett hätte bilden können. Es schien keine zu geben, sonst wäre Mrs. Eagleton, überlegte ich, auch bestimmt darauf gekommen. Warum hatte ich die Buchstabenständer nicht beachtet? Ich versuchte mich an ihre Position auf dem Tisch zu erinnern. An der Seite, an der Seldom mit dem Kissen in der Hand stehengeblieben war. Vielleicht, überlegte ich, sollte ich eben das suchen, was ich nicht gesehen hatte. Ich ging die Aufnahmen noch einmal durch, auf der Suche nach anderen Einzelheiten, die mir entgangen sein konnten, bis ich zur letzten kam, dem nach wie vor erschreckenden Gesicht der leblosen Mrs. Eagleton. Offenbar gab es nichts weiter, was ich nicht gesehen hätte. Drei Dinge waren es also: die Buchstaben auf den Ständern, die Wanduhr im Eingangsflur, der Rollstuhl. Der Rollstuhl… Könnte das nicht die Erklärung für das Symbol sein? Die Triangel für den Musiker, das Aquarium für Clarck und für Mrs. Eagleton… der Kreis – das Rad für Rollstuhl. Oder der Buchstabe O aus dem Wort Omerta, hatte Seldom gesagt. Ja, der Kreis konnte immer noch alles mögliche bedeuten. Aber es war interessant, daß es ausgerechnet ein O auf einem der Buchstabenständer gab. Oder war das überhaupt nicht interessant, sondern nur ein dummer Zufall? Vielleicht hatte Seldom sehr wohl den Buchstaben O auf dem Ständer gesehen und war deshalb auf das Wort Omerta gekommen. Später hatte Seldom noch etwas
gesagt, an dem Tag, an dem wir gemeinsam auf dem Covered Market waren… daß er meinem Blick vertraute, vor allem, weil ich kein Engländer war. Aber worin konnte eine nichtenglische Sichtweise bestehen? Das Rascheln eines Umschlags, den jemand vergeblich unter der Tür durchzuschieben versuchte, ließ mich plötzlich auffahren. Ich öffnete und sah Beth vor mir, die sich mit geröteten Wangen rasch aufrichtete. In der Hand hielt sie noch weitere Umschläge. »Ich dachte, du wärst nicht da«, sagte sie, »sonst hätte ich geklopft.« Ich bat sie herein und hob den Umschlag vom Boden auf. Er enthielt eine Karte mit einer Zeichnung aus Alice hinter den Spiegeln und einer aristokratischen Inschrift, die besagte: Einladung zu einer Nicht-Hochzeit. Ich sah sie mit einem fragenden Lächeln an. »Wir können noch nicht heiraten«, erklärte Beth, »und der Scheidungsprozeß kann sich sehr lange hinziehen… Aber wir wollten trotzdem gern ein Fest geben.« Sie erblickte die hinter mir auf dem Bett ausgebreiteten Aufnahmen. »Photos von deiner Familie?« »Nein, ich habe keine Familie im klassischen Sinn. Es sind die Photos, die von der Polizei nach dem Mord an Mrs. Eagleton gemacht wurden.« Ich dachte mir, daß Beth unzweifelhaft englisch war und ihr Blick so repräsentativ wie jeder andere sein könnte. Mehr noch, Beth war die letzte gewesen, die Mrs. Eagleton lebend gesehen hatte, und vielleicht würde ihr irgendeine Veränderung in der kleinen Szenerie auffallen. Ich machte ihr ein Zeichen näherzutreten, doch sie zögerte mit einem Ausdruck des Schreckens. Schließlich machte sie zwei Schritte auf den Bettrand zu und überflog schnell die Photos, als hätte sie Angst, sich länger bei einem bestimmten aufzuhalten.
»Warum hat man sie dir nach so langer Zeit gegeben? Was glauben sie damit noch herausfinden zu können?« »Sie wollen die Verbindung zwischen dem ersten Symbol und Mrs. Eagleton herstellen. Vielleicht fällt dir irgend etwas auf, wenn du sie jetzt noch einmal anschaust, etwas, das fehlt oder nicht an seinem Platz ist…« »Aber ich habe Inspektor Petersen schon gesagt, daß ich mich nicht mehr erinnern kann, wie alles genau war, als ich wegging. Als ich die Treppe herunterkam, habe ich gesehen, daß sie eingeschlafen war, und bin so leise wie möglich hinausgegangen, ohne mich noch einmal zu ihr umzudrehen. Ich habe das alles schon einmal durchexerziert; nachdem Onkel Arthur mich an dem Nachmittag im Theater benachrichtigt hatte, haben sie mich oben im Wohnzimmer erwartet, der Leichnam lag noch dort.« Als wollte sie ein tiefsitzendes Grauen überwinden, hob sie das Photo hoch, das Mrs. Eagletons Leiche auf der Chaiselongue zeigte. »Das einzige, was ich ihnen sagen konnte«, fuhr sie fort und deutete dabei auf die Aufnahme, »ist, daß die Decke über ihren Füßen fehlte. Nie, auch nicht an den heißesten Tagen, hat sie sich hingelegt, ohne die Decke über ihre Füße zu breiten. Sie wollte nicht, daß man ihre Narben sieht. Wir haben die Decke an dem Tag im ganzen Haus gesucht, aber sie ist nicht aufgetaucht.« »Das stimmt«, sagte ich, verwundert, daß uns das nicht aufgefallen war, »ich habe sie nie ohne die Decke gesehen. Warum wollte der Mörder wohl ihre Narben entblößen? Oder vielleicht hat er die Decke als ein Souvenir mitgenommen und auch von den anderen Verbrechen Erinnerungen aufgehoben.« »Keine Ahnung, ich will wirklich nicht mehr daran denken«, sagte Beth abschließend und wandte sich zur Tür. »Das alles war ein Alptraum für mich… ich wollte, es wäre endlich vorbei. Als Benito mitten im Konzert tot umfiel und Petersen auf der Bühne erschien, wäre ich auch fast gestorben. Das
einzige, woran ich denken konnte, war, daß er irgendwie wieder versuchen würde, mir die Schuld zuzuschieben.« »Nein, er hat sofort ausgeschlossen, daß es jemand aus dem Orchester sein könnte, der Täter muß hochgeklettert sein und ihn von hinten angegriffen haben.« »Wie auch immer«, sagte Beth kopfschüttelnd, »ich hoffe nur, daß sie ihn bald erwischen und alles ein Ende hat.« Sie hatte die Klinke schon in der Hand, als sie sich noch einmal umdrehte. »Selbstverständlich kannst du deine Freundin auf das Fest mitbringen. Das ist doch das Mädchen, mit dem du Tennis gespielt hast, oder?«
Als Beth gegangen war, steckte ich die Photos langsam wieder in den Umschlag. Die Einladungskarte lag aufgeschlagen auf dem Bett. Die Zeichnung zeigte in Wirklichkeit den NichtGeburtstag von Goggelmoggel. Einen seiner dreihundertvierundsechzig Nicht-Geburtstage. Der Logiker in Charles Dodgson wußte, daß man immer überwältigend viel mehr entkräften als bekräftigen kann. Die Decke war eine Alarmbotschaft, winzig und entmutigend. Wieviel mehr steckte in jedem Detail, das es uns nicht wahrzunehmen gelungen war? Vielleicht war es das, was Seldom von mir erwartete: Ich sollte mir vorstellen, was nicht dort war und was wir dennoch hätten sehen müssen. Ich dachte weiter an Beth, während ich etwas zum Umziehen aus der Schublade holte, und wollte gerade duschen gehen, als das Telephon klingelte. Es war Lorna. Sie hatte einen freien Tag bekommen und abends Zeit. Ich fragte sie, ob sie uns zu der Magiershow begleiten wolle. »Aber klar«, sagte sie, »ich habe nicht vor, noch einmal zu versäumen, wenn du irgendwo hingehst. Aber jetzt wo ich
dabei bin, werden wir bestimmt nur dämliche Karnickel aus Zylinderhüten springen sehen.«
Kapitel Einundzwanzig
Als wir im Theater ankamen, gab es keine Karten mehr für die ersten Reihen, aber Seldom bot sich freundlicherweise an, seinen Platz mit Lorna zu tauschen und weiter hinten zu sitzen. Die Bühne lag im Dunkeln, man konnte jedoch einen Tisch erkennen, auf dem sich ein großes Glas Wasser befand, und dahinter einen hohen, zum Publikum ausgerichteten Lehnsessel. Nur leicht abgesetzt war ein Dutzend leerer Stühle in einem den Tisch von hinten und seitlich umgebenden Halbkreis angeordnet. Wir hatten den Saal mit ein paar Minuten Verspätung betreten, und als wir unsere Plätze einnahmen, erloschen bereits die Lichter. Es konnte kaum einen Augenblick dunkel gewesen sein, doch als sich erneut ein Scheinwerfer auf die Bühne richtete, erblickten wir den Magier auf dem Lehnstuhl, als hätte er die ganze Zeit über dort gesessen; mit einer Hand schirmte er sich die Augen ab und spähte ins Publikum. »Licht! Mehr Licht!« rief er, während er aufstand, um den Tisch herum bis vor an den Bühnenrand ging und seinen Blick über uns schweifen ließ, die Hand immer noch über die Stirn geschirmt. Ein grell sezierendes Licht erhellte seine gebeugte Gestalt. Erst jetzt merkte ich überrascht, daß er einarmig war. Der rechte Arm fehlte von der Schulter ab, als wäre er nie dort gewesen. Sein linker Arm erhob sich erneut in einer majestätischen Geste. »Mehr Licht!« wiederholte er. »Ich will, daß Sie alles sehen, niemand soll sagen können, es sei ein Effekt aus Rauch und Schatten gewesen… Selbst wenn Sie dabei auch meine Falten
sehen. Meine sieben Faltentäler. Ja, ich bin sehr alt, nicht wahr? Fast unglaublich alt. Und dennoch war auch ich einmal acht Jahre. Ich war acht Jahre alt, hatte zwei Hände wie Sie alle und wollte die Magie erlernen. Nein, zeigen Sie mir keine Tricks, sagte ich zu meinem Meister. Denn ich wollte keine Tricks können, ich wollte ein Magier sein. Doch mein Meister, der fast so alt war wie ich jetzt, erwiderte: Der erste Schritt besteht darin, die Tricks zu beherrschen.« Er spreizte seine Finger und hielt sie wie einen Fächer vor sein Gesicht. »Ich kann Ihnen versichern, denn inzwischen ist es ohne Bedeutung, daß meine Finger überaus beweglich waren, blitzschnell. Ich hatte großes Talent, und bald reiste ich durch mein ganzes Land, der kleine Gaukler, beinahe so etwas wie ein Jahrmarktswunder. Doch mit zehn Jahren hatte ich einen Unfall. Oder vielleicht war es auch kein Unfall. Als ich aufwachte, lag ich in einem Krankenhausbett und hatte nur noch diese linke Hand. Ich, der ich Magier werden wollte, ich, der ich Rechtshänder war. Doch da kam mein alter Meister, und während meine Eltern untröstlich weinten, sagte er nur: Das ist der zweite Schritt, vielleicht, vielleicht wirst du eines Tages ein Magier sein. Mein Meister starb, niemand hat mir je gesagt, worin der dritte Schritt besteht. Und seitdem frage ich mich jedes Mal, wenn ich eine Bühne betrete, ob dieser Tag wohl gekommen ist. Vielleicht ist es etwas, daß nur Sie entscheiden können. Deshalb bitte ich immer um Licht und bitte Sie, heraufzukommen und genau hinzusehen. Hierher, bitte, kommen Sie«, und einen nach dem anderen veranlaßte er die halbe erste Reihe, auf die Bühne zu steigen und sich um ihn auf die leeren Stühle zu gruppieren. »Näher, noch näher, ich möchte, daß Sie meine Hand überwachen, sich nicht überraschen lassen, denn denken Sie daran, heute will ich keine Tricks vorführen.«
Er streckte die leere Hand über dem Tisch aus, zwischen Zeigefinger und Daumen etwas winziges Weißes haltend, das sich von uns aus nicht erkennen ließ. »Ich komme aus einem Land, das man die Kornkammer der Welt nannte. Geh nicht weg, mein Sohn, sagte meine Mutter, hier wird es dir nie an einem Stück Brot fehlen. Ich ging, ja, ich ging, aber ich trage immer diesen Brotkrumen bei mir.« Er zeigte erneut das weiße Kügelchen zwischen seinen Fingern herum, bevor er es behutsam auf den Tisch legte. Mit einer kreisenden Bewegung breitete er die Handfläche darüber, als wollte er es kneten. »Seltsame Wege gehen doch die Brotkrumen, die Vögel picken sie des Nachts, und schon kann man nicht mehr zurück. Komm wieder, mein Sohn, sagte meine Mutter, hier wird es dir nie an einem Stück Brot fehlen. Doch ich konnte nicht. Seltsame Wege gehen doch die Brotkrumen! Wege, die fortführen, aber nicht zurück.« Die Hand kreiste hypnotisierend über dem Tisch. »Deshalb habe ich nicht alle Brotkrumen auf den Weg gestreut. Und wohin auch immer ich gehe, habe ich immer…«, er hielt die Hand hoch, und wir erblickten darin einen kleinen, perfekt geformten Brotlaib, dessen runde Kanten über seine Handfläche hinausragten, »ein Stück Brot bei mir.« Er drehte sich zur Seite und streckte dem ersten des Halbkreises seine Hand entgegen. »Keine Angst; probieren Sie.« Die Hand richtete sich wie ein Uhrzeiger auf den zweiten Stuhl, und als sie sich öffnete, war erneut eine intakte abgerundete Kante zu sehen. »Es kann auch mal ein größeres Stück sein. Nur zu, versuchen Sie.« Er drehte sich weiter und weiter, bis jeder ein Stück Brot bekommen hatte. »Ja«, sagte er nachdenklich, als er fertig war; er zeigte seine Hand, und der kleine Brotlaib war immer noch ganz. Dann streckte er seine Finger, seine langen Finger, als könnte er ihn
von den Enden her zusammendrücken, und schloß seine Hand langsam zur Faust. Als er sie wieder öffnete, lag darin nur noch das Kügelchen, das er erneut zwischen Zeigefinger und Daumen herumzeigte. »Man soll nicht alle Brotkrumen auf den Weg streuen.« Er stand auf, um den ersten Applaus entgegenzunehmen, und verabschiedete am Bühnenrand die Gruppe, die auf den Stühlen gesessen hatte. In der zweiten Gruppe, die er hinaufbat, waren Lorna und ich. Ich konnte ihn jetzt im Profil sehen, seine gebogene Nase, den pechschwarzen, wie in Tinte getauchten Schnurrbart, das strähnige graue Haar, das sich dem Ausfall widersetzte. Und vor allem die große knochige Hand mit den Altersflecken auf dem Rücken. Er führte sie an das mächtige Wasserglas und trank einen Schluck, bevor er fortfuhr. »Die nächste Nummer nenne ich gern Verlangsamung«, sagte er. Aus der Tasche hatte er ein Kartenspiel gezogen, das er mit seiner einzigen Hand auf faszinierende Weise durchmischte. »Tricks wiederholt man nicht, sagte mein Meister. Aber ich wollte keine Tricks, sondern Magie machen. Kann man einen Akt der Magie wiederholen? Nur sechs Karten«, sagte er und hob sechs Karten einzeln von dem Stapel ab. »Drei rote und drei schwarze. Rot und schwarz, schwarz für die Nacht, rot für das Leben. Wer kann die Farben beherrschen? Wer könnte ihnen eine Ordnung aufzwingen?« Er schnippte die Karten nacheinander aufgedeckt mit dem Daumen auf den Tisch. »Rot, schwarz, rot, schwarz, rot, schwarz.« Die Karten mit den sich abwechselnden Farben bildeten eine Reihe. »Und jetzt passen Sie auf meine Hand auf; ich will es ganz langsam machen.« Er streckte die Hand aus und nahm die Karten so auf, wie sie dort lagen. »Wer könnte ihnen eine Ordnung aufzwingen?« sagte er noch einmal und schnippte sie wieder mit dem Daumen auf den Tisch. »Rot, rot, rot, schwarz,
schwarz, schwarz. Langsamer geht es nicht«, sagte er dann und nahm die Karten wieder auf. »Oder vielleicht doch… vielleicht geht es doch noch langsamer.« Äußerst bedächtig ließ er die Karten erneut mit den sich abwechselnden Farben auf den Tisch fallen. »Rot, schwarz, rot, schwarz, rot, schwarz.« Er drehte sich zu uns, um sicherzugehen, daß uns keine Bewegung entging, streckte seine Hand langsam wie eine Krebsschere nach vorne, darauf bedacht, nur die erste Karte mit den Fingerspitzen zu berühren. Er schob sie mit unendlicher Behutsamkeit zusammen, und als er sie erneut auf den Tisch fallen ließ, hatten die Farben sich wieder zusammengefügt: rot, rot, rot, schwarz, schwarz, schwarz. »Aber dieser junge Mann hier«, sagte er und heftete seinen Blick plötzlich auf mich, »ist immer noch skeptisch; vielleicht hat er einmal irgendein Zauberbuch gelesen und glaubt, der Trick liegt in der Art, wie ich die Karten aufnehme oder sie zusammengleiten lasse. Ja, mit zwei Händen würde ich es so tun… habe ich es auch getan. Aber jetzt habe ich nur noch eine. Und vielleicht habe ich irgendwann gar keine mehr.« Er ließ die Karten wieder eine nach der anderen auf den Tisch fallen. »Rot, schwarz, rot, schwarz, rot, schwarz.« Sein Blick richtete sich erneut bestimmend auf mich. »Nehmen Sie die Karten auf. Und jetzt, ohne daß ich sie berühre, drehen Sie sie einzeln um.« Ich tat, was er sagte, und im Moment des Aufdeckens schienen die Karten sich seinem Willen zu beugen. »Rot, rot, rot, schwarz, schwarz, schwarz.« Als wir unter dem schallenden Applaus zu unseren Plätzen zurückkehrten, meinte ich zu begreifen, warum Seldom so darauf bestanden hatte, daß ich die Vorstellung sehen sollte. Jede der folgenden Nummern war wie diese, ungeheuer einfach und gleichzeitig ungeheuer transparent, als hätte der alte Zauberer tatsächlich einen begnadeten Zustand erreicht, in dem er seine Hände nicht mehr brauchte. Zudem schien es ihn
insgeheim zu amüsieren, gegen jede einzelne der Regeln des Metiers zu verstoßen. Er hatte Tricks wiederholt, hatte während der ganzen Vorstellung Menschen in seinen Rücken gesetzt, hatte Techniken enthüllt, mit denen andere historische Zauberer dasselbe versucht hatten wie er. Einmal drehte ich mich um und sah, daß Seldom dem Schauspiel ganz gebannt folgte, verblüfft und glücklich wie ein Kind, das nicht müde wird, dasselbe Kunststück ein ums andere Mal zu sehen. Ich erinnerte mich, mit welchem Ernst er mir versichert hatte, daß er die Hypothese des Gespensts für den dritten Mord vorziehe, und ich fragte mich, ob er wohl tatsächlich an solche Dinge glauben könnte. Jedenfalls war es schwierig, sich dem Zauber des Magiers zu entziehen; die Kunst jeder einzelnen Nummer bestand eben in diesem Purismus, der keine andere Erklärung als die eine unmögliche zuließ. Es gab keine Pause, und unvermittelt, für mein Empfinden viel zu rasch, kündigte er seine letzte Nummer an. »Sie werden sich gefragt haben«, sagte er, »warum hier ein so großes Glas steht, wenn ich doch nur einen Schluck daraus getrunken habe? In dem übrigen Wasser könnte immer noch ein Fisch schwimmen.« Er holte ein rotes Seidentuch hervor und rieb langsam über das Glas. »Und wenn wir es schön saubermachen«, fuhr er fort, »und uns bunte Steinchen vorstellen, gelingt es uns vielleicht, denken wir an den Käfig von Prévert, einen Fisch einzufangen.« Er zog das Tuch weg, und wir sahen, daß jetzt tatsächlich ein roter Goldfisch hinter der Glasscheibe schwamm und auf dem Boden ein paar bunte Steinchen lagen. »Wir Magier wurden, wie Sie wissen, in vielen Epochen erbittert verfolgt, seit jenem ersten Brand, der unseren ältesten Vorfahren ein Ende bereitete, den pythagoräischen Magiern. Ja, die Mathematik und die Magie haben einen gemeinsamen Ursprung und hüteten lange Zeit dasselbe Geheimnis. Die
brutalste aller Verfolgungen war vielleicht die, die nach dem Duell zwischen Petrus und Simon Magus einsetzte, als die Zauberei von den Christen verboten wurde. Sie fürchteten, daß sonst noch andere Brot und Fische vermehren könnten. So haben die Magier eine Überlebensstrategie entworfen, die noch heute gültig ist: Sie schrieben Bücher mit ihren offensichtlichsten Tricks, die allgemein verbreitet wurden, nahmen absurde Kisten und Spiegel in ihre Darbietungen auf. Und mit der Zeit überzeugten sie alle, daß hinter jeder Zauberei ein Trick steckt, wurden zu Salon-Zauberern, tarnten sich als Jahrmarktskünstler und konnten so vor der Nase ihrer Verfolger ihre eigene Vermehrung von Brot und Fischen heimlich fortführen. Ja, der beständigste und subtilste Trick war der, alle davon zu überzeugen, daß die Magie nicht existiert. Ich selbst habe gerade dieses Tuch hier benutzt, obwohl für die echten Magier das Tuch nicht den Trick versteckt, sondern ein wesentlich älteres Geheimnis. Denken Sie deshalb daran«, sagte er mit einem mephistophelischen Lächeln, »denken Sie immer daran: Die Magie existiert nicht.« Er schnippte mit dem Finger, und ein weiterer Goldfisch schwamm im Wasser. »Die Magie existiert nicht.« Wieder schnippte er mit dem Finger, und ein dritter Fisch schwamm im Wasser. Dann bedeckte er das Glas mit dem Tuch, und als er es wegzog, waren Glas, Steinchen und Fische verschwunden. »Die Magie… existiert nicht.«
Wir saßen im The Eagle and Child, und Seldom und Lorna machten sich darüber lustig, wie lange ich für mein erstes Bier brauchte. »Langsamer geht es nicht… oder vielleicht doch, vielleicht kann man es doch noch langsamer trinken«, sagte Lorna und machte die tiefe rauhe Stimme des Zauberers nach.
Nach der Vorstellung waren wir ein paar Minuten in Lavands Garderobe gewesen, aber Seldom hatte ihn nicht überreden können, uns zu begleiten. »Ach ja, der junge Skeptiker«, hatte er zerstreut bemerkt, als Seldom mich vorgestellt hatte, und als er erfuhr, daß ich Argentinier war, hatte er in einem Spanisch gesagt, von dem er lange keinen Gebrauch mehr gemacht zu haben schien: »Dank der Skeptiker ist die Magie gut geschützt.« Er sei sehr müde, hatte er, wieder ins Englische fallend, erklärt; er mache seine Vorstellungen zwar immer kürzer, aber seine Knochen könne er nicht überlisten. »Wir sprechen uns selbstverständlich noch, bevor ich abreise«, hatte er an der Tür zu Seldom gesagt, »und ich hoffe, du findest in dem Buch, das ich dir geschickt habe, etwas bezüglich der Frage, die du mir gestellt hast.« »Was hast du den Magier gefragt? Welches Buch hat er gemeint?« fragte Lorna ungezwungen neugierig. Das Bier schien bei ihr einen seltsamen Rückfall in alte Vertraulichkeiten zu bewirken, wie ich bereits an dem Lächeln bemerkt hatte, mit dem sie und Seldom angestoßen hatten, und erneut drängte sich mir die Frage auf, wie weit die Freundschaft zwischen den beiden wohl gegangen war. »Es hat mit dem Tod des Musikers zu tun«, antwortete Seldom. »Eine Idee, die ich kurz in Erwägung zog, als ich mich daran erinnerte, wie Mrs. Crafford starb.« »Ach ja«, sagte Lorna begeistert. »Die Sache mit dem Telepathen.« »Das war einer von Petersens berühmtesten Fällen«, klärte Seldom mich auf. »Der Tod von Mrs. Crafford, einer sehr reichen alten Dame, die dem hiesigen spiritistischen Zirkel vorstand. Zu der Zeit wurden hier gerade die Ausscheidungsrunden für die Schachweltmeisterschaften ausgetragen. Ein ziemlich bekannter indischer Telepath war nach Oxford gekommen, und das Ehepaar Crafford hatte eine
private Einladung bei sich gegeben, um ein telepathisches Experiment auf Distanz durchzuführen. Die Villa der Craffords befindet sich in Summertown, nicht weit von dort, wo Sie wohnen. Der Telepath sollte sich an der Folly Bridge postieren, am anderen Ende der Stadt. Die Entfernung war wohl dazu gedacht, irgendeinen lächerlichen Rekord aufzustellen. Mrs. Crafford hatte sich freudig bereit erklärt, die erste Freiwillige zu sein. Der indische Telepath setzte ihr in einem feierlichen Ritual eine Art Helm auf den Kopf, ließ sie in der Mitte des Zimmers auf einem Stuhl sitzen und verließ das Haus in Richtung Brücke. Zur vereinbarten Zeit wurden alle Lichter gelöscht. Der Helm war phosphoreszierend und leuchtete im Dunkeln, so daß das Publikum Mrs. Craffords Gesicht in einem gespenstischen Schein sah. Dreißig Sekunden vergingen, bis plötzlich ein furchtbarer Schrei aufgellte, gefolgt von einem langen Zischen, wie bei gebrutzelten Spiegeleiern. Mr. Crafford machte die Lichter wieder an, und sie fanden die alte Dame tot auf ihrem Stuhl, mit völlig verkohltem Schädel, als hätte der Blitz sie getroffen. Der arme Inder wurde sofort in Gewahrsam genommen, bis es ihm darzulegen gelang, daß der Helm völlig harmlos war, ein Stück Stoff mit ein wenig Leuchtfarbe, allein für den dramatischen Effekt gedacht. Der Mann war ebenso perplex wie alle anderen; er hatte seine Telepathienummer auf Distanz in vielen Ländern und unter den verschiedensten klimatischen Bedingungen durchgeführt, und jener Tag war besonders klar und sonnig gewesen. Petersens Verdacht richtete sich natürlich sofort auf Mr. Crafford. Es war bekannt, daß er eine Affäre mit einer wesentlich jüngeren Frau hatte, doch abgesehen davon schien man kaum etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Allein sich vorzustellen, wie er es angestellt haben könnte, war schon schwierig genug. Petersen begründete seine Theorie gegen ihn auf einem einzigen Indiz: Mrs. Crafford hatte an
jenem Tag ihre ›Galaperücke‹ getragen, die innen mit einem Drahtnetz geknüpft war. Alle hatten gesehen, wie ihr Mann zu ihr getreten war und ihr einen zärtlichen Kuß gegeben hatte, bevor das Licht ausging. Petersen zufolge hatte er in diesem Augenblick ein Kabel gelegt, um ihr einen elektrischen Schlag zu versetzen, und es wieder verschwinden lassen, als er ihr scheinbar zur Hilfe eilte. Das war nicht unmöglich, aber relativ kompliziert, wie sich später bei dem Prozeß herausstellte. Craffords Anwalt hatte dagegen eine andere Erklärung, einfach und auf ihre Art brillant: Betrachtet man den Stadtplan, so befindet sich auf halbem Weg zwischen Folly Bridge und Summertown der Theatersaal The Playhouse, wo die Schachmeisterschaften ausgetragen wurden. Zum Zeitpunkt des Todes waren dort fast hundert Schachspieler in knisternder Konzentration über ihre Bretter gebeugt. Die Verteidigung vertrat die These, daß die von dem Telepathen freigesetzte mentale Energie sich beim Überqueren des Theaters mit der Summe der von den Schachspielern erzeugten Energien jäh multipliziert und so etwas wie einen Wirbelwind über Summertown entfesselt hätte… so in etwa; das hätte ihrer Meinung nach erklärt, warum eine ursprünglich harmlose geistige Schwingung Mrs. Crafford schließlich mit der Wucht eines Blitzes erschlagen konnte. Der Crafford-Prozeß teilte Oxford in zwei Lager. Die Verteidigung rief ein ganzes Kommando von Spiritisten und vorgeblichen Parapsychologen in den Zeugenstand, die erwartungsgemäß die Theorie mit allen möglichen lächerlichen Erklärungen in dem üblichen pseudowissenschaftlichen Jargon unterstützten. Und je abwegiger die Theorien waren, desto geneigter schien das Geschworenengericht – und die ganze Stadt – kurioserweise zu sein, ihnen Glauben zu schenken. Ich hatte damals gerade mit meinen Studien über die Ästhetik des Denkens begonnen und war fasziniert von der Überzeugungskraft, die von einer
ansprechenden Idee ausgehen konnte. Zugegeben, die Geschworenen waren nicht unbedingt in wissenschaftlichem Denken geübt und eher dazu geneigt, Horoskopen, I Ging oder Tarot zu vertrauen als Parapsychologen oder Telepathen mit Skepsis zu begegnen. Doch es war interessant zu beobachten, daß die ganze Stadt die Idee akzeptierte und an sie glauben wollte, nicht von plötzlichem Irrationalismus befallen, sondern aus vorgeblich wissenschaftlichen Beweggründen. In gewisser Weise handelte es sich um eine Schlacht innerhalb des Rationalen, und die Theorie der Schachspieler erwies sich einfach als verlockender, klarer, prägnanter, wie ein Maler sagen würde, als die Theorie des Kabels unter der Perücke. Doch als alles sich schon zugunsten Craffords zu neigen schien, veröffentlichte die Oxford Times einen Leserbrief von einer gewissen Lorna Craig, die sich über alle Maßen für Krimis begeisterte«, sagte Seldom und zeigte mit seinem Krug in Lornas Richtung; beide lächelten wie über einen alten Scherz. »In dem Brief stand einfach, daß eine Kurzgeschichte in einer alten Nummer der Zeitschrift Ellery Queen genau von derselben Idee handelte, nämlich einem Mord per Telepathie aus Distanz, mit dem einzigen Unterschied, daß die geistigen Schwingungen ein Fußballstadion während eines Elfmeters statt einer Schachmeisterschaft durchquerten. Lustigerweise wurde in dieser Geschichte die These einer energetischen Entladung, wie die Verteidigung sie vorbrachte, für wahr und als Lösung des Rätsels befunden, doch – wankelmütig ist der Mensch – kaum erfuhren die Leute, daß Crafford die Idee kopiert haben könnte, wendeten sich alle gegen ihn. Der Anwalt demonstrierte so gut er konnte, daß Crafford alles andere als ein großer Leser war und die Kurzgeschichte nur schwerlich gekannt haben konnte, es half nichts mehr. Die Idee hatte durch die Wiederholung etwas von ihrer Anziehungskraft verloren und klang plötzlich für alle schlicht absurd, wie
etwas, das nur einem Schriftsteller einfallen konnte. Die Geschworenen, von Natur aus fehlbare Menschen, wie Kant sagen würde, verurteilten ihn zu lebenslanger Haft, obwohl keine weiteren Beweise gegen ihn gefunden wurden. Anders gesagt: Das einzige wirkliche Beweisstück in dem ganzen Prozeß war eine phantastische Erzählung, die der arme Crafford nicht einmal gelesen hatte.« »Der arme Crafford hat seine Frau verbrutzelt«, rief Lorna aus. »Sie sehen«, lachte Seldom, »es gab Menschen, die ohne jeden Beweis vollkommen überzeugt waren. Wie auch immer, in der Nacht des Konzerts mußte ich wieder an diesen Fall denken. Sie erinnern sich, das Ersticken des Perkussionisten trat ein, als die Musik ihren Höhepunkt erreichte; ich wollte Lavand fragen, welche Art von Effekten man auf Distanz bewirken kann. Mit den Karten für die Vorstellung hat er mir ein Buch über Hypnose geschickt, aber ich hatte noch keine Zeit, es zu lesen.« Eine Kellnerin trat zu uns, um die Bestellung aufzunehmen. Lorna bedeutete mir ihren Klassiker Fish and Chips auf der Karte und entschuldigte sich für einen Augenblick. Als Seldom fertig bestellt hatte und die Kellnerin gegangen war, gab ich ihm den Umschlag mit den Photos zurück. »Ist es Ihnen gelungen, sich zu erinnern?« fragte Seldom und ergänzte beim Anblick meiner zweifelnden Miene: »Es ist schwierig, nicht wahr? Sich auf den Anfang zurückzubesinnen, als wüßte man noch nichts. Sich von dem zu lösen, was danach kam. Haben Sie irgend etwas gesehen, was Ihnen vorher entgangen war?« »Nur das: Mrs. Eagletons Leichnam hatte, als wir ihn fanden, keine Decke über den Füßen«, sagte ich. Seldom lehnte sich zurück und faßte sich mit der Hand ans Kinn.
»Das… könnte interessant sein«, sagte er. »Ja, jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich, sie hatte immer, zumindest wenn sie das Haus verließ, eine Schottendecke über den Beinen.« »Beth war sich sicher, daß die Decke noch da war, als sie um zwei Uhr die Treppe herunterkam. Danach haben sie sie im ganzen Haus gesucht, aber sie ist nicht aufgetaucht. Petersen hat uns gegenüber nichts davon erwähnt«, fügte ich etwas verärgert hinzu. »Na ja«, antwortete Seldom mit einer Spur Ironie, »er ist der mit dem Fall beauftragte Inspektor von Scotland Yard, vielleicht fühlte er sich nicht unbedingt verpflichtet, uns über jedes Detail zu informieren.« Ich mußte lachen. »Dafür wissen wir mehr als er«, bemerkte ich. »Nur in einer Hinsicht«, räumte Seldom ein. »Sagen wir, uns ist Pythagoras gegenwärtiger als ihm.« Sein Gesicht verdüsterte sich, als hätte etwas in unserer Unterhaltung ihn an seine schlimmsten Befürchtungen erinnert. Er beugte sich vor, wie um mir etwas anzuvertrauen. »Seine Tochter hat mir erzählt, daß er nachts nicht schläft und sie ihn ein paar Mal im Morgengrauen noch wach beim Wälzen von Mathematikbüchern überrascht hat. Heute vormittag hat er mich noch einmal angerufen. Ich glaube, er fürchtet auch, daß Donnerstag zu spät sein könnte.« »Aber übermorgen ist doch schon Donnerstag.« »Übermorgen…«, sagte Seldom nachdenklich. »Das ist ein interessanter Ausdruck. Was über dem Morgen steht, als könnte man die Zeit in getrennten Schichten betrachten… Die Sache ist nur, daß morgen nicht irgendein Tag ist. Eben deswegen rief Petersen mich an. Er will ein paar seiner Leute nach Cambridge schicken.«
»Was passiert morgen in Cambridge?« Lorna war zurückgekommen, drei Bierkrüge balancierend, die sie auf dem Tisch verteilte. »Ich fürchte, dahinter steckt ein Buch, das ich selbst Petersen geliehen habe. Ein Buch mit einer ziemlich phantastischen Version der Geschichte von Fermats letztem Satz. Das ist das älteste ungelöste Problem in der Mathematik«, erklärte er Lorna. »Seit über dreihundert Jahren kämpfen die Mathematiker mit diesem Theorem, und morgen in Cambridge wird es womöglich zum ersten Mal bewiesen werden. Das Buch verfolgt den Ursprung der Hypothese zurück bis zum Satz von Pythagoras, eines der Geheimnisse aus der Frühzeit der Sekte, vor dem Brand, als die Magie, wie Lavand ja sagte, sich noch nicht von der Mathematik gelöst hatte. Die Pythagoräer betrachteten die Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen als das geheime Sinnbild einer Gottheit, das außerhalb der Sekte nicht verbreitet werden durfte. Die Aussagen der Theoreme durften für den täglichen Gebrauch publik gemacht werden, aber niemals ihre Beweisführung, so wie auch Zauberer einen Eid ablegen, nie ihre Tricks zu verraten. Wer dem zuwiderhandelte, wurde mit dem Tod bestraft. Das Buch vertritt die These, daß Fermat einer moderneren, aber ebenso strikten Loge von Pythagoräern angehörte. Er hatte in seiner berühmten Randbemerkung der Arithmetica von Diophantos notiert, er hätte einen Beweis für seine Hypothese, doch weder dieser noch irgendein anderer seiner Beweise konnte nach seinem Tod unter seinen Aufzeichnungen gefunden werden. Ich vermute jedoch, es sind vor allem einige seltsame Todesfälle im Zusammenhang mit dem Satz, die Petersen alarmiert haben. Natürlich sterben in dreihundert Jahren viele Menschen, darunter auch solche, die nah daran waren, einen Beweis zu liefern. Aber der Autor dreht es geschickt so, daß einige dieser Todesfälle tatsächlich
verdächtig erscheinen. Zum Beispiel der Selbstmord von Taniyama vor nicht allzu langer Zeit, mit dem sonderbaren Brief, den er seiner Verlobten hinterließ.« »In diesem Fall wären die Morde…« »Eine Warnung«, sagte Seldom. »Eine Warnung an die Welt der Mathematiker. Die in dem Buch dargestellte Verschwörung erscheint mir, das habe ich Petersen schon gesagt, ein Haufen phantasievoller Unsinn. Aber eine Sache beunruhigt mich dennoch: Andrew Wiles hat die letzten sieben Jahre in völliger Geheimhaltung gearbeitet. Niemand hat eine Ahnung, wie sein Beweis aussehen wird; nicht einmal mich hat er auch nur einen Blick auf irgendeine seiner Aufzeichnungen werfen lassen. Sollte ihm vor seinem Vortrag irgend etwas zustoßen und diese Aufzeichnungen verschwinden, könnten womöglich weitere dreihundert Jahre vergehen, bevor jemand diesen Beweis wiederholt. Das halte ich zwar für unwahrscheinlich, aber ich finde es nicht schlecht, daß Petersen ein paar seiner Leute dorthin schickt. Wenn Andrew etwas passiert«, sagte er, und seine Miene verdüsterte sich wieder, »würde ich mir das nie verzeihen.«
Kapitel Dreiundzwanzig
Am Mittwoch, dem 23. Juni, wachte ich gegen Mittag auf. Aus Lornas kleiner Küche duftete es nach Kaffee und zudem köstlich nach frisch gebackenen Waffeln. Sir Thomas, Lornas Katze, war es gelungen, die Decke fast ganz auf den Boden zu ziehen, und friedlich eingerollt lag er darauf am Fuß des Bettes. Ich ging an ihm vorbei in die Küche und umarmte Lorna. Die Zeitung lag auf dem Tisch, und während Lorna den Kaffee einschenkte, überflog ich sie rasch. Die Reihe der Verbrechen mit den mysteriösen Symbolen, hieß es in der Oxford Times mit unverhohlenem Lokalstolz, war zum Titel von Londons wichtigsten Tageszeitungen geworden. Auf der ersten Seite wurden die Schlagzeilen wiedergegeben, die am Vortag in der landesweiten Presse zu lesen gewesen waren, aber das war alles, Neues gab es in dem Fall offensichtlich nicht. Ich blätterte weiter auf der Suche nach einem Bericht über das Seminar in Cambridge. Nur ein kleiner, zurückhaltender Artikel mit dem Titel Der Moby Dick der Mathematiker zählte die vielen fehlgeschlagenen Versuche auf, Fermats letzten Satz zu beweisen. Am Ende wurde erwähnt, daß in Oxbridge Wetten darüber abgeschlossen würden, was am selben Nachmittag in dem letzten der drei angesetzten Vorträge geschehen würde, sechs zu eins stünden sie, bislang immer noch gegen Wiles. Lorna hatte für ein Uhr einen Tennisplatz reserviert. Wir fuhren im Cunliffe Close vorbei, um meinen Schläger zu holen, und spielten lange und ohne Unterbrechung, einzig konzentriert auf den über das Netz fliegenden Ball in diesem
kleinen, der Zeit enthobenen Rechteck aus Sand. Als wir den Platz verließen, sah ich auf der Clubuhr, daß es fast drei war, und bat Lorna, auf dem Rückweg kurz im Institut vorbeizufahren. Das Gebäude war wie ausgestorben, ich mußte selbst nacheinander die Lichter anmachen, als ich die Treppe hinaufging. Im ebenso leeren Computerraum öffnete ich meine E-Mails. Und dort erwartete mich bereits die kurze Nachricht, die wie eine Losung in die ganze Welt entsendet wurde: Wiles hatte es geschafft! Details über den Abschlußvortrag wurden nicht genannt, es hieß nur, daß der Beweis die Spezialisten überzeugt hatte und in seiner schriftlichen Fassung an die zweihundert Seiten lang sein würde. »Eine gute Nachricht?« fragte Lorna, als ich wieder ins Auto stieg. Ich erzählte es ihr, und vermutlich hörte sie an der Bewunderung in meiner Stimme den sonderbaren, widersprüchlichen Stolz für die Mathematik heraus, der in mir steckte. »Vielleicht wärst du heute nachmittag lieber dort gewesen«, sagte sie und fügte dann schelmisch hinzu: »Womit könnte ich dich wohl trösten?« Wir liebten uns ausgelassen für den Rest des Nachmittags. Um sieben, als es langsam dunkel wurde und wir immer noch in stiller Erschöpfung auf dem Bett lagen, klingelte neben mir das Telephon. Lorna streckte sich über mich, um den Hörer abzuheben. Ich sah, wie ihr Gesicht erst einen erschrockenen, dann einen niedergeschmetterten Ausdruck annahm. Sie machte mir ein Zeichen, den Fernseher anzuschalten, und begann sich mit dem zwischen Ohr und Schulter geklemmten Hörer rasch anzukleiden. »An der Zufahrt nach Oxford hat es einen Unfall gegeben, am sogenannten ›blinden Dreieck‹. Ein Autobus ist über die
Brücke den Abhang hinuntergestürzt. Im Radcliffe werden mehrere Ambulanzen erwartet, sie brauchen mich in der Röntgenabteilung.« Ich schaltete die Kanäle durch, bis ich auf die Lokalnachrichten stieß. Die Kamera folgte einer ins Mikrophon sprechenden Journalistin zu einer Brücke mit eingerissener Seitenabsperrung. Ich drückte mehrere Knöpfe auf der Fernbedienung, aber es gelang mir nicht, ihre Stimme zu aktivieren. »Der Ton funktioniert nicht«, sagte Lorna. Sie war bereits fertig angezogen und holte ihre Krankenschwesterntracht aus dem Schrank. »Weißt du, daß Seldom und eine ganze Gruppe Mathematiker heute nachmittag mit dem Bus aus Cambridge zurückkommen sollten?« sagte ich. Lorna drehte sich wie von einer bösen Vorahnung gepackt um und kam zu mir. »Mein Gott, sie mußten über die Brücke, wenn sie von dort kamen.« Wir starrten fiebrig auf den Bildschirm. Die Kamera zeigte Glasscherben auf der Brücke und die Stelle, wo die Absperrung durchbrochen worden war. Während die Journalistin darauf zuging und nach unten zeigte, sah man durch die Vergrößerung eines Teleobjektivs den Schrotthaufen, der einmal der Bus gewesen war. Die Kamera wackelte, als sie der Journalistin folgte, die sich darangemacht hatte, über die abschüssige Böschung hinunterzusteigen. Ein Teil der Karosserie war an der Stelle liegengeblieben, wo der Bus sich offensichtlich zum ersten Mal überschlagen hatte. Als die Kamera wieder den Abhang hinunterschwenkte, sah man ein paar Notarztwägen, die von unten zu den Bergungsarbeiten gelangt waren. In einer trostlosen Nahaufnahme erschienen die blinden, zersplitterten Fenster des Busses und dann ein
orangefarbenes Stück Karosserie mit einem Symbol, das mir nichts sagte. Lorna drückte meinen Arm. »Es ist ein Schulbus«, sagte sie. »Mein Gott, es sind Kinder! Meinst du…«, flüsterte sie, schreckte aber davor zurück, die Frage auszuformulieren, und mit einem entsetzten Gesichtsausdruck sah sie mich an, als hätte ein Spiel, mit dem wir uns leichtsinnig amüsiert hatten, sich plötzlich in einen realen Alptraum verwandelt. »Ich muß ins Krankenhaus«, sagte sie und gab mir einen flüchtigen Kuß. »Laß die Tür einfach hinter dir zufallen, wenn du gehst.« Benommen schaute ich weiter auf die wechselnden Bilder im Fernseher. Die Kamera hatte den Bus umrundet und richtete sich jetzt auf eines der Fenster, an dem die Bergungsmannschaft zugange war. Einer der Männer war offenbar ins Innere vorgedrungen und versuchte, den Körper eines Kindes herauszuheben. Erst erschienen zwei dünne nackte Beine, die verdreht in der Luft baumelten, bevor die in einer Reihe wie eine Bahre aufgehaltenen Hände sie von unten zu greifen bekamen. Sie steckten in einer kurzen, auf einer Seite blutbefleckten Sporthose und weißglänzenden Turnschuhen. Als der Oberkörper hervorkam, konnte man ein ärmelloses Wettkampftrikot mit einer großen Zahl auf der Brust erkennen. Die Kamera schwenkte wieder auf das Fenster. Zwei große Hände stützten von hinten überaus behutsam den Kopf. Über die Handgelenke sah man dicke, scheinbar unaufhaltsam aus dem Nacken des Kindes quellende Blutstropfen rinnen. Die Kamera richtete sich auf das Gesicht des Kindes, und überrascht erblickte ich unter dem zerdrückten blonden Haarschopf die unverwechselbaren mongoloiden Züge des Down-Syndroms. Dahinter tauchte zum ersten Mal das Gesicht des sich im Bus befindenden Mannes auf. Sein Mund bewegte sich, und offensichtlich wiederholte er verzweifelt zwei Worte, während er seine beiden blutigen Handflächen
nach draußen streckte und bedeutete, daß niemand mehr im Inneren war. Die Kamera folgte der Prozession, die das letzte Kind hinter den Bus brachte. Jemand verwehrte dem Kameramann den Durchgang, doch auch so konnte man für einen Moment die lange Reihe Krankentragen mit den von Leinentüchern bedeckten Körpern sehen. Die Übertragung wurde wieder ins Fernsehstudio geschaltet. Ein Photo von einer Gruppe Kinder auf einem Spielfeld wurde gezeigt. Offenbar handelte es sich um das Basketballteam einer Sonderschule, das von einem Turnier aus Cambridge zurückkam. Rasch aufeinander wurden die Namen der Kinder eingeblendet: fünf offizielle Spieler und fünf Ersatzspieler. Nach dem letzten Namen ließ sich einer lakonischen Bildunterschrift entnehmen, daß alle zehn umgekommen waren. Ein zweites Photo erschien auf dem Bildschirm: das Gesicht eines noch jungen Mannes, das mir vage bekannt vorkam, obwohl der Name unter dem Photo, Ralph Johnson, mir nichts sagte. Es war der Fahrer des Busses, dem es anscheinend gelungen war, vor dem Aufprall nach draußen zu springen, der jedoch noch vor der Ankunft im Krankenhaus ebenfalls gestorben war. Das Gesicht verschwand und statt dessen erfuhr man aus einer Chronik, wie viele Tragödien sich bereits an eben diesem Ort ereignet hatten. Ich schaltete den Fernseher aus, ließ mich mit einem Kopfkissen vor den Augen zurücksinken und versuchte mich zu erinnern, wo ich das Gesicht des Fahrers schon einmal gesehen hatte. Das Photo war womöglich veraltet. Das kurze Kraushaar, die prägnanten Wangenknochen, die tiefliegenden Augen… ich hatte ihn schon einmal gesehen, ganz sicher, aber nicht als Fahrer, sondern woanders… aber wo? Ärgerlich stand ich auf und ging mich lange duschen, bemühte mich unter dem Wasserstrahl, jedes einzelne Gesicht an mir vorbeiziehen zu lassen, das mir in der Stadt bisher begegnet
war. Während ich mich anzog und meine Schuhe im Schlafzimmer holte, rekonstruierte ich das Gesicht, das ich auf dem Bildschirm gesehen hatte, erneut. Die kleinen Krauslocken, der fanatische Blick… da war es; vor Überraschung und angesichts dessen, was diese Tatsache alles implizierte, mußte ich mich aufs Bett setzen, aber ich konnte mich nicht täuschen, so viele Leute kannte ich in Oxford schließlich noch nicht. Ich rief im Krankenhaus an und fragte nach Lorna. Kaum meldete sie sich am anderen Ende der Leitung, fragte ich sie, unwillkürlich die Stimme senkend: »Der Busfahrer… das war Caitlins Vater, oder?« »Ja«, sagte sie nach einem kurzen Moment, und ich merkte, daß auch sie zu einem Wispern übergegangen war. »Ist es das, was ich vermute?« fragte ich. »Ich weiß nicht, aber ich wollte nichts sagen. Eine der Lungen war kompatibel. Caitlin ist gerade in den OP gekommen; sie glauben, sie können sie noch retten.«
Kapitel Vierundzwanzig
»Ich hielt es zunächst für einen Irrtum«, sagte Petersen. »Ich dachte, das eigentliche Ziel wäre Ihr Bus gewesen, der kurz danach kam. Ein paar Mathematiker konnten, glaube ich, den Sturz über den Abhang sogar noch mitverfolgen, nicht wahr?« wandte er sich an Seldom. Wir saßen in einem kleinen Café an der Little Clarendon Street. Petersen hatte uns statt in sein Büro dorthin gebeten, als hätte er etwas gutzumachen oder sich bei uns zu bedanken. Er trug einen sehr strengen schwarzen Anzug, und ich erinnerte mich, daß etwas später der Trauergottesdienst für die zehn Kinder zelebriert würde. Es war das erste Mal, daß ich Seldom nach seiner Rückkehr aus Cambridge sah. Er war ernst und schweigsam, und der Inspektor mußte seine Frage noch einmal wiederholen. »Ja, wir haben gesehen, wie der Bus gegen die Brücke prallte und sich nach unten überschlug. Unser Fahrer hat sofort angehalten, und jemand hat im Radcliffe angerufen. Manche meinen, Schreie vom Abhang unten gehört zu haben. Das Merkwürdige war nur«, sagte Seldom, als erinnerte er sich an einen nicht ganz logischen Alptraum, »als wir die Böschung hinunterschauten, standen dort bereits zwei Notarztwagen.« »Die Krankenwagen waren dort, weil die Nachricht dieses Mal vor und nicht nach dem Verbrechen gegeben wurde. Das machte mich als erstes stutzig. Und sie war nicht an Sie gerichtet, wie die vorangegangenen, sondern direkt an den Notruf des Krankenhauses. Von dort aus wurde ich verständigt, während die Ambulanzen sich auf den Weg machten.«
»Was besagte die Botschaft?« fragte ich. »Nummer vier in der Reihe ist die Tetraktys. Zehn Punkte am blinden Dreieck. Der Anruf wurde glücklicherweise aufgezeichnet. Wir haben noch weitere Aufzeichnungen mit seiner Stimme, und obwohl er versuchte, sie zu verstellen, besteht kein Zweifel. Wir wissen sogar, von wo aus der Anruf getätigt wurde: eine Telephonzelle in einer Tankstelle außerhalb von Cambridge, wo er wahrscheinlich anhielt, um zu tanken. Und hierbei gibt es ein erstes interessantes Detail, auf das Sacks gestoßen ist, als er die Quittungen durchsah: Er hat sehr wenig Benzin getankt, viel weniger als bei der Abfahrt aus Oxford. Das Gutachten des Autobusses ergab, daß der Tank in der Tat fast leer war.« »Er wollte nicht, daß bei dem Sturz ein Brand ausgelöst wird«, sagte Seldom, als vollzöge er gegen seinen Willen einen Gedankengang nach. »Genau«, sagte Petersen. »Ausgehend von unserem vorherigen Schema, dachte ich zunächst, die Tatsache, uns frühzeitig benachrichtigt zu haben, entspränge vielleicht dem unterbewußten Wunsch, festgenommen zu werden, oder wäre Teil seines Spiels, ein Vorsprung, den er uns einräumte. Aber er wollte schlicht sichergehen, daß die Körper nicht verbrannten und die Krankenwagen bereitstanden, damit die Organe so schnell wie möglich ins Krankenhaus kamen. Er wußte, daß bei zehn Körpern die Wahrscheinlichkeit für eine Transplantation hoch war. Ich nehme an, auf seine Weise hat er gewonnen; als wir dahinterkamen, war es bereits zu spät. Die Operation wurde am selben Nachmittag sofort vorgenommen, nachdem die ersten Eltern ihre Zustimmung gegeben hatten, und soweit ich informiert bin, wird das Mädchen überleben. Tatsächlich kam unser Verdacht gegen ihn erst gestern auf, als wir bei einer Routinekontrolle feststellten, daß sein Name auch auf der Liste der Anwesenden
in Schloß Blenheim auftaucht. Er hatte eine andere Gruppe Kinder der Schule hingefahren und sollte auf dem Parkplatz auf sie warten. Er war perfekt plaziert, um die Bühne von hinten zu umrunden, den Perkussionisten zu ersticken und während des Aufruhrs sofort wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren, ohne daß irgendjemand ihn gesehen hätte. Im Radcliffe bestätigten sie uns, daß er Mrs. Eagleton kannte; die Krankenschwestern haben ihn ein paar Mal im Gespräch mit ihr gesehen. Wir wissen auch, daß Mrs. Eagleton Ihr Buch über die logischen Reihen des öfteren im Wartezimmer dabei hatte. Möglicherweise hat sie ihm erzählt, sie kenne Sie persönlich, ohne zu wissen, daß sie sich dadurch in sein erstes Opfer verwandeln würde. Und zu guter Letzt haben wir unter seinen Büchern eines über die Spartaner gefunden, eines über die Pythagoräer und Transplantationen in der Antike und eines über die körperliche Entwicklung mongoloider Kinder; er wollte sich vergewissern, daß ihre Lungen geeignet wären.« »Und wie hat er es bei Clarck angestellt?« wollte ich wissen. »Wirklich beweisen können werde ich es nie, aber meine These sieht so aus: Clarck hat er nicht getötet. Er hat einfach den zweiten Stock überwacht, bis er eine Bahre mit einem Toten aus dem Saal kommen sah, den Seldom besuchte, wie er wußte. Die Leichname bleiben unbewacht in einem kleinen Raum auf demselben Stock manchmal mehrere Stunden lang stehen. Alles, was er tat, war, diesen Raum zu betreten und Clarck mit der leeren Spritze in den Arm zu stechen, um einen sichtbaren Punkt zu hinterlassen und so einen Mord vorzutäuschen. Auf seine Art hat er sich wirklich vorgenommen, so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Ich glaube, um seine Denkweise zu verstehen, müssen wir am Schluß beginnen. Ich meine, bei der Gruppe Kinder mit dem Down-Syndrom. Wahrscheinlich kamen ihm die ersten Gedanken in dieser Richtung, als seiner Tochter zum zweiten
Mal eine Lunge verweigert wurde. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich noch nicht von seiner Arbeit beurlauben lassen und fuhr jeden Tag diese Gruppe Kinder in seinem Bus zur Schule. Er muß begonnen haben, sie wie eine Spenderbank gesunder Lungen zu betrachten, die er jeden Tag von dannen ziehen ließ, während seine Tochter im Sterben lag. Nun ja, wiederholte Gelegenheiten lassen Wunschphantasien entstehen, und daraus entwickeln sich Obsessionen. Vielleicht überlegte er zunächst, nur ein Kind zu töten, doch er wußte, daß es nicht so leicht ist, eine kompatible Lunge zu finden. Ihm war auch bekannt, daß viele Eltern in dieser Schule strenggläubige Katholiken sind; häufig wenden sich Eltern in diesen Fällen der Religion zu, manche glauben sogar, ihre Kinder seien eine Art Engel. Er wollte nicht auf den Zufall setzen und riskieren, daß man ihm erneut eine Transplantation verweigerte, aber er konnte sich auch nicht einfach so mit ihnen von der Straße stürzen; die Eltern hätten ihn sofort verdächtigt und sich einer Lungenspende widersetzt. Alle wußten, daß Johnson wegen seiner Tochter am Rande der Verzweiflung war und daß er sich kurz nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus über die englische Gesetzgebung informiert hatte, da er einen Selbstmord erwog. Kurz und gut, er brauchte jemanden, der sie für ihn tötete. Ich nehme an, in dieser Zwickmühle sah er sich, bis er, vielleicht durch Mrs. Eagleton oder in dem Vorabdruck in der Zeitung, das Kapitel über die Serienmorde aus Ihrem Buch las. Dort stieß er auf die Idee, die er brauchte. Er konzipierte einen Plan, einen ganz einfachen Plan. Wenn er niemanden fände, der die Kinder für ihn tötete, würde er eben einen Mörder erfinden. Einen fiktiven Serienmörder, an den alle glauben würden. Wahrscheinlich hatte er bereits etwas über die Pythagoräer gelesen, so daß es ihm nicht schwerfiel, sich eine Reihe von Symbolen auszudenken, die wie eine Herausforderung an einen Mathematiker erscheinen konnten.
Obwohl das zweite Symbol, der Fisch, vielleicht noch eine zusätzliche private Konnotation hatte: Es ist das Symbol der ersten Christen. Vielleicht wollte er damit ausdrücken, daß er im Begriff war, sich zu rächen. Wir wissen auch, daß das Symbol der Tetraktys ihn ganz besonders faszinierte, er hat es an den Rand fast all seiner Bücher gezeichnet, vielleicht wegen seiner Verbindung mit der Zahl Zehn, dem kompletten Basketballteam, der Anzahl der Kinder, die er zu töten gedachte. Er wählte Mrs. Eagleton als erste der Reihe, da man sich kaum ein leichteres Opfer vorstellen kann: eine alte, gelähmte Frau, die jeden Nachmittag alleine zu Hause war. Vor allem wollte er zunächst die Polizei nicht alarmieren. Das war ein Schlüsselelement seines Plans: Die ersten Morde sollten diskret sein, unsichtbar, so daß wir ihm nicht sofort auf den Fersen wären und er Zeit hätte, bis zum vierten zu kommen. Es genügte ihm, daß eine einzige Person Bescheid wüßte: Sie. Dieser erste Mord mißglückte ihm, aber er war trotzdem schlauer als wir und vermied weitere Fehler. Tja, auf seine Art hat er wohl gewonnen. Sonderbar, aber es fällt mir schwer, ihn zu verurteilen; auch ich habe eine Tochter. Man kann nie wissen, wozu man für ein Kind fähig wäre.« »Glauben Sie, daß er vorhatte, sich zu retten?« fragte Seldom. »Das werden wir wohl nie erfahren«, antwortete Petersen. »Bei der Begutachtung des Busses stellte sich heraus, daß er die Lenkung leicht sabotiert hatte, was ihm im Grunde ein Alibi verschafft hätte. Hatte er andererseits aber wirklich vor zu springen, hätte er es viel früher tun können. Ich glaube, er wollte bis zuletzt am Steuer bleiben, um sicherzugehen, daß der Bus wirklich den Abhang hinunterstürzte. Er entschloß sich erst zum Sprung, als er die Absperrung durchbrochen hatte. Als man ihn bergen konnte, war er bereits bewußtlos,
und er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Nun ja«, sagte der Inspektor mit einem Blick auf die Uhr und winkte dem Kellner, »ich will nicht zu spät zum Gottesdienst kommen. Ich wollte Ihnen nur noch einmal sagen, daß ich Ihre Hilfe wirklich sehr zu schätzen wußte.« Und zum ersten Mal lächelte er Seldom ganz offen an. »Ich habe die Bücher, die Sie mir geliehen haben, soweit ich konnte gelesen, aber die Mathematik war nie meine starke Seite.« Wir standen mit ihm auf und schauten ihm nach, während er auf die St. Giles Kirche zuging, vor der sich bereits zahlreiche Menschen versammelt hatten. Einige Frauen trugen schwarze Schleier, andere ließen sich stützen, als hätten sie Mühe, die wenigen Stufen zum Eingang alleine zu erklimmen. »Gehen Sie zum Institut zurück?« fragte Seldom. »Ja«, antwortete ich. »Eigentlich hätte ich gar nicht weggedurft; ich muß meinen Stipendiumsbericht unbedingt heute noch fertigmachen und wegschicken. Und Sie?« »Ich?« sagte er und sah zum Portal der Kirche; auf einmal machte er einen sehr einsamen und seltsam gebrechlichen Eindruck. »Ich glaube, ich warte hier, bis der Gottesdienst zu Ende ist; ich will den Zug bis zum Friedhof begleiten.«
Kapitel Fünfundzwanzig
Während der darauffolgenden Stunden füllte ich, wie ein müder Hürdenläufer immer häufiger stolpernd, die Reihe lächerlicher Kästchen aus, die der Bericht beinhaltete. Um vier Uhr nachmittags war ich endlich soweit, die Dateien auszudrucken und alle Blätter in einen großen Umschlag zu stecken. Ich ging damit ins Sekretariat hinunter, bat Kim, ihn mit der Nachmittagspost nach Argentinien zu schicken, und verließ das Institut mit einem leicht euphorischen Gefühl der Befreiung. Auf dem Weg zum Cunliffe Close erinnerte ich mich, daß ich Beth noch die zweite Monatsmiete schuldete, und machte einen kleinen Umweg, um Geld am Automaten abzuheben. Ich bemerkte, daß ich dieselben Schritte zurücklegte wie einen Monat zuvor, fast genau zur selben Zeit. Der Nachmittag war ebenso lau, die Straßen genauso ruhig, die Momente schienen sich ineinanderzuschieben, als hätte ich eine letzte Gelegenheit, die Zeit zurückzudrehen bis zu dem Tag, an dem alles begann. Auf dem Rückweg über die Banbury Road ging ich wieder auf der sonnigen Straßenseite entlang, die Ligusterbüsche streifend, um diesen mysteriösen Zusammenfall wiederkehrender Momente ganz auf mich wirken zu lassen. Erst als ich die Biegung des Cunliffe Close erreichte, sah ich den letzten Fetzen Fell des Opossums noch auf dem Asphalt kleben; das war vor einem Monat noch nicht dort gewesen. Ich zwang mich, näher heranzutreten. Autos, Regen und Hunde hatten das ihre getan, Blut war inzwischen keines mehr zu sehen. Blieb nur noch dieses letzte Stückchen mit Haaren gespicktes Leder, das über den Asphalt herausragte wie eine Kruste, kurz bevor man sie abreißt. Ein Opossum tut
alles, um seine Jungen zu retten, hatte Beth gesagt. Hatte ich heute vormittag nicht fast denselben Satz gehört? Ja, von Inspektor Petersen. Man kann nie wissen, wozu man für ein Kind fähig wäre. Ich erstarrte, den Blick auf diesen letzten Fellfetzen geheftet, und lauschte in die Stille. Plötzlich wußte ich es, war mir alles klar. Ich sah, als wäre es die ganze Zeit über unmittelbar vor mir gewesen, was Seldom mich von Anfang an hatte sehen lassen wollen. Er hatte es mir gesagt, fast Wort für Wort, aber ich hatte kein Gehör dafür gehabt. Er hatte es mir auf hundert Arten wiederholt, mir die Photos unter die Nase gehalten, und ich hatte die ganze Zeit nur Ms, Herzen und Achten gesehen. Ich machte kehrt, marschierte die ganze Straße wieder in entgegengesetzter Richtung entlang, von einem einzigen Gedanken beherrscht: Ich mußte Seldom finden. Ich durchquerte den Markt, ging die High Street hoch und nahm die Abkürzung über die King Edward Street, um so schnell wie möglich ins Merton College zu gelangen. Doch Seldom war nicht dort. Etwas ratlos blieb ich einen Augenblick vor dem Informationstisch stehen. Ich fragte, ob er zum Mittagessen zurückgekommen sei, worauf ich die Auskunft bekam, man habe ihn seit dem Vormittag nicht mehr gesehen. Ich überlegte, er könnte vielleicht im Krankenhaus sein und Frank besuchen. Ich hatte ein paar Münzen in der Hosentasche und rief vom College aus Lorna an, die mich zum zweiten Stock durchstellte. Nein, Mr. Kaiman habe den ganzen Tag keinen Besuch gehabt. Ich bat darum, wieder mit Lorna verbunden zu werden. »Fällt dir nichts ein, wo er sonst sein könnte?« Am anderen Ende der Leitung trat ein Schweigen ein, und ich fragte mich, ob Lorna nur nachdachte oder zögerte, etwas zu sagen, das mir die tatsächliche Natur ihrer Beziehung zu Seldom verraten könnte.
»Was für ein Datum haben wir heute?« fragte sie unvermittelt. Es war der 25. Juni. Als ich es Lorna sagte, seufzte sie wie zur Bestätigung. »Das ist der Tag, an dem seine Frau starb, der Tag des Unfalls. Du müßtest ihn im Ashmolean Museum finden.« Ich ging bis zur Magdalen Street zurück und stieg die Treppe zum Museum hoch, das ich noch nicht kannte. Ich durchquerte eine kleine Halle mit Gemäldeportraits, denen das undurchdringliche Gesicht von John Dewey vorstand, und folgte den Pfeilen, die zum großen assyrischen Relief führten. Seldom war der einzige Besucher in dem Raum. Er saß auf einem der Bänkchen vor der Hauptwand. Während ich auf ihn zuging, sah ich, daß das Relief sich wie ein langes, fein gespanntes Pergament aus Stein von einem Ende des Saals bis zum anderen erstreckte. Unwillkürlich verlangsamte ich beim Näherkommen meine Schritte; Seldom schien völlig versunken, die Augen starr und ausdruckslos auf ein Detail im Stein gerichtet, als nähme er schon lange nichts mehr um sich herum wahr. Für einen Moment fragte ich mich, ob ich nicht lieber draußen auf ihn hätte warten sollen. Doch als er sich zu mir umdrehte, schien er über meinen Anblick keineswegs überrascht und sagte nur in demselben jovialen Tonfall wie immer: »Tja, wenn Sie bis hierher gefunden haben, dann wissen Sie es oder glauben es zu wissen, nicht wahr? Setzen Sie sich«, sagte er und deutete auf das Bänkchen neben sich, »nur von hier aus sieht man das ganze Relief.« Ich folgte seiner Aufforderung und wandte mich der Reihe wirrer Darstellungen zu, die ein riesiges Schlachtfeld zu bilden schienen. Die kleinen Figuren hoben sich mit einer bewundernswerten Präzision von dem gelblichen Stein ab. In den unzähligen Kampfszenen schien sich immer wieder ein
einziger Krieger einem ganzen Heer entgegenzustellen. Man erkannte ihn an seinem langen Bart und einem Schwert, das alle anderen überragte. Die unermüdliche Wiederkehr des Kriegers verlieh dem von links nach rechts betrachteten Relief eine gewisse Bewegung. Und beim zweiten Hinsehen erkannte man, daß die aufeinanderfolgenden Positionen einem zeitlichen Verlauf entsprechen konnten und die gefallenen Figuren am Ende des Reliefs wesentlich zahlreicher waren, als hätte der Krieger allein eine ganze Armee besiegt. »König Nissam, der unendliche Krieger«, sagte Seldom mit sonderbarer Betonung. »Mit diesem Namen wurde das Relief König Nissam präsentiert, und es trug ihn noch, als es dreitausend Jahre später ins Britische Museum einging. Doch dahinter verbirgt sich für einen geduldigen Betrachter noch eine andere Geschichte. Meiner Frau gelang es, sie beinahe vollständig zu rekonstruieren, als das Relief hierherkam. Wie Sie auf dem Täfelchen daneben sehen, wurde der Fries bei Hassiri, dem bedeutendsten assyrischen Bildhauer der Zeit, anläßlich des Geburtstags des Königs in Auftrag gegeben. Hassiri hatte einen Sohn, Nimrod, an den er seine Kunst weitergegeben hatte und der mit ihm zusammen arbeitete. Nimrod war dem jungen Mädchen Agartis versprochen. An dem Tag, an dem Vater und Sohn den Stein vorbereiteten, um das Relief zu beginnen, traf König Nissam während der Jagd an einem Fluß auf das Mädchen. Er wollte sie mit Gewalt nehmen, doch Agartis, die den König nicht erkannt hatte, versuchte in den Wald zu fliehen. Der König holte sie mit Leichtigkeit ein, vergewaltigte sie und köpfte sie mit seinem Schwert. Als er in den Palast zurückkam und an den beiden Bildhauern vorbeiritt, sahen Vater und Sohn den Kopf des Mädchens mit den anderen Jagdtrophäen über der Kruppe des Pferdes hängen. Während Hassiri der Mutter des Mädchens die tragische Nachricht überbrachte, meißelte sein Sohn in einem
Akt der Verzweiflung die Gestalt des Königs in den Stein, der einer knienden Frau den Kopf abschlägt. Als Hassiri zurückkam und seinen vor Schmerz wahnsinnigen Sohn dabei vorfand, mit dieser Abbildung sein sicheres Todesurteil in den Stein zu hauen, gebot er ihm Einhalt, schickte ihn nach Hause und blieb alleine angesichts des Dilemmas. Wahrscheinlich wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die Darstellung aus dem Stein zu entfernen. Doch Hassiri war ein Künstler der Antike und glaubte daran, daß jedes Kunstwerk eine geheimnisvolle, von einer göttlichen Hand beschirmte Wahrheit enthielt, die der Mensch nicht zerstören durfte. Möglicherweise wollte er ebenso wie sein Sohn, daß die Menschen in irgendeiner Zukunft erfahren sollten, was geschehen war. Bei Anbruch der Nacht breitete er ein Tuch über die Steinwand und bat, man solle ihn im geheimen, verborgen unter dem Tuch arbeiten lassen, da das Wesen des Werkes, das er in Angriff nähme, sich von all seinen vorangegangenen Arbeiten unterscheide und nur der Blick des Königs ein solches Kunstwerk enthüllen dürfe. Alleine mit dieser ersten Abbildung auf dem Stein stand Hassiri vor demselben Problem wie der General in Chestertons Das Zeichen des zerbrochenen Säbels: Was ist der beste Ort, um ein Sandkorn zu verstecken? Ein Strand natürlich, aber was, wenn es keinen Strand gibt? Was ist der beste Ort, um einen toten Soldaten zu verbergen? Ein Schlachtfeld natürlich, aber was, wenn es kein Schlachtfeld gibt? Ein General kann eine Schlacht auslösen und ein Bildhauer… sie sich ausdenken. König Nissam, der unendliche Krieger, hat niemals einen Krieg geführt; seine Regierungszeit war außerordentlich friedlich, wahrscheinlich hat er in seinem ganzen Leben nur wehrlose Frauen getötet. Aber das Relief, mag ihm das Kriegsmotiv auch etwas seltsam angemutet haben, schmeichelte dem König, und die Idee gefiel ihm, es in seinem Palast auszustellen, um die Nachbarkönige einzuschüchtern.
Nissam, und nach ihm Generationen über Generationen, sahen in dem Fries nur, was der Künstler sie sehen lassen wollte: eine überwältigende Anhäufung von Darstellungen, über die das Auge schnell hinwegschweift, da es die Wiederholung zu bemerken meint, die Regel zu erkennen glaubt, daß jedes Detail das Ganze repräsentiert. Darin besteht die Falle des immer wieder aufgenommenen Motivs der Figur mit dem Schwert. Doch es gibt eine winzige Stelle, einen verborgenen Teil, der allem anderen widerspricht und alles aufhebt, ein Teil, der in sich selbst ein anderes Ganzes darstellt. Ich mußte nicht so lange warten wie Hassiri. Auch ich wollte, daß jemand, wenigstens eine Person, sie entdeckt, die Wahrheit erfährt und über sie urteilt. Ich nehme an, ich sollte mich freuen, daß Sie sie schließlich sahen.« Seldom stand auf und öffnete das Fenster hinter mir, während er sich eine Zigarette drehte. Er sprach im Stehen weiter, als wäre es ihm unmöglich, sich wieder zu setzen. »An jenem ersten Nachmittag, an dem wir uns kennenlernten, hatte ich eine Nachricht bekommen, ja, aber sie stammte nicht von einem Unbekannten, einem Verrückten, sondern leider von jemandem, der mir sehr nahestand. Es war das Geständnis eines Verbrechens und ein verzweifelter Hilferuf. Wie ich es Petersen sagte, lag die Nachricht bereits in meinem Fach, als ich zu meinem Seminar ging, aber ich holte sie erst eine Stunde später auf dem Weg zur Cafeteria heraus und las sie. Ich ging sofort zum Cunliffe Close, wo Sie vor der Haustür standen. Ich dachte immer noch, die Nachricht sei womöglich übertrieben. Ich habe etwas Schreckliches getan, hieß es dort, aber ich hätte mir nie vorstellen können, was wir schließlich vorfanden. Jemanden, den man als kleines Mädchen auf den Arm genommen hat, betrachtet man ein Leben lang als kleines Mädchen. Immer hatte ich sie beschützt. Ich hätte die Polizei nicht verständigen können. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich
vermutlich versucht, die Spuren zu verwischen, hätte das Blut weggeputzt, das Kissen verschwinden lassen. Aber Sie waren dabei, und so mußte ich den Anruf tätigen. Ich hatte einiges über Petersens Fälle gelesen und wußte, sie wäre verloren, sobald er sich der Untersuchung annehmen und auf sie konzentrieren würde. Während wir auf den Streifenwagen warteten, stand ich vor demselben Dilemma wie Hassiri. Wo ein Sandkorn verstecken? Am Strand. Wo eine Figur mit einem Schwert verstecken? Auf einem Schlachtfeld. Und wo ein Verbrechen verstecken? In der Vergangenheit ging es bereits nicht mehr. Die Antwort war einfach, aber fürchterlich: Es blieb nur die Zukunft, nur in einer Reihe von Verbrechen ließ es sich verbergen. Es stimmte, daß ich nach der Veröffentlichung meines Buches alle möglichen Botschaften von geistig Verwirrten erhalten hatte. Ich erinnerte mich vor allem an einen, der versicherte, er würde jedes Mal, wenn sein Busticket eine Primzahl war, einen Obdachlosen umbringen. Es fiel mir nicht schwer, mir einen Mörder auszudenken, der an jedem Tatort wie eine Herausforderung das Symbol einer logischen Reihe hinterließ. Aber natürlich hatte ich nicht vor, die Morde zu begehen. Ich war mir noch nicht sicher, wie ich dieses Problem lösen würde, aber viel Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht. Als der Gerichtsmediziner die Todeszeit zwischen zwei und drei Uhr festlegte, war mir klar, daß man sie sofort festnehmen würde, und so wagte ich den Sprung ins Nichts. Auf dem Zettel, den ich nachmittags in den Papierkorb geworfen hatte, hatte ich eine fehlerhafte Beweisführung notiert, die ich im Nachhinein doch wieder haben wollte; ich war mir sicher, daß Brent sich an diesen Zettel erinnern würde, sollte die Polizei ihn danach fragen. Ich überlegte mir einen kurzen Text, wie eine Verabredung. Vor allem wollte ich ihr ein Alibi verschaffen, das Wichtigste war also die Uhrzeit. Ich wählte drei Uhr nachmittags, dem Gerichtsmediziner zufolge
die äußerste Grenze, da ich wußte, daß sie um diese Zeit bereits bei der Probe war. Als der Inspektor mich fragte, ob die Nachricht irgendein besonderes Detail enthalten habe, erinnerte ich mich, daß ich, während wir beide uns auf spanisch unterhielten, gesehen hatte, daß die Buchstaben auf den Ständern das spanische Wort aro, Ring, bildeten. Sofort dachte ich an den Kreis; das war genau das Symbol, das ich in meinem Buch für den Beginn einer Reihe mit größtmöglicher Unbestimmbarkeit angegeben hatte.« »Aro«, sagte ich. »Das war es also, was ich auf den Photos sehen sollte.« »Ja. Ich habe versucht, es Ihnen auf allen möglichen Wegen zu sagen. Nur Sie als Nicht-Engländer hätten die Buchstaben verbinden und das Wort so lesen können wie ich. Nachdem wir unsere Aussagen gemacht hatten und zum Theater gingen, wollte ich vor allem herausfinden, ob Ihnen das oder irgendein anderes Detail, das ich womöglich übersehen hatte und sie hätte belasten können, aufgefallen war. Sie haben mich auf die Position des gegen die Lehne gedrehten Kopfes aufmerksam gemacht. Später hat sie mir gestanden, daß sie in der Tat den starren Blick der offenen Augen nicht ertragen habe.« »Und warum haben Sie die Decke verschwinden lassen?« »Im Theater bat ich sie, mir alles zu erzählen, wie es der Reihe nach geschehen war. Deshalb hatte ich darauf bestanden, sie persönlich zu benachrichtigen; ich wollte mit ihr sprechen, bevor die Polizei es tat. Ich mußte ihr meinen Plan erklären und feststellen, ob sie noch eine andere Unachtsamkeit begangen hatte. Sie sagte, sie habe ihre Abendhandschuhe angezogen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, daß es aber tatsächlich einen kleinen Kampf gegeben und sie dabei mit ihrem Absatz die Decke eingerissen habe. Sie dachte, die Polizei könnte aus diesem Detail schließen, daß der Täter eine Frau war. Die Decke befand sich noch in ihrer Tasche, und wir
vereinbarten, daß sie sie verschwinden lassen würde. Sie war schrecklich nervös, und ich fürchtete, sie wäre der ersten Begegnung mit Petersen nicht gewachsen. Mir war klar, daß es aus wäre, wenn Petersen sie sich vornehmen würde. Und mir war ebenso klar, daß ich ihm zur Stützung der Serientheorie so schnell wie möglich einen weiteren Mord liefern mußte. Glücklicherweise haben Sie mich bei dieser ersten Unterhaltung auf die mir fehlende Idee gebracht, als wir über unsichtbare Morde sprachen. Morde, die niemand als solche erkennt. Ein wirklich unsichtbarer Mord, wurde mir bewußt, muß nicht einmal ein solcher sein. Ich dachte sofort an Franks Saal. Jede Woche sah ich, wie dort Leichenbahren hinausgeschoben wurden. Ich mußte mir nur eine Spritze beschaffen und, wie Petersen richtig erraten hat, geduldig abwarten, bis der erste Tote in den Raum auf dem Flur geschoben wurde. Es war an einem Sonntag, während Beth auf Tournee war. Perfekt für sie. Ich sah nach, welche Uhrzeit an seinem Handgelenk vermerkt war, um sicherzugehen, daß ich selbst ein Alibi hatte, und hinterließ mit der leeren Nadel einen Einstich im Arm des Toten. Das war das Äußerste, was ich zu tun bereit war. Im Rahmen meiner kleinen Recherche über ungelöste Kriminalfälle hatte ich gelesen, daß die Gerichtsmediziner seit einiger Zeit über die Existenz einer chemischen Substanz spekulierten, die sich in wenigen Stunden spurlos zersetzt. Diese Spekulation genügte mir für meine Zwecke. Außerdem ging man ja davon aus, daß mein Mörder ausreichend gewappnet war, um auch die Polizei herauszufordern. Ich hatte bereits beschlossen, daß das zweite Symbol der Fisch sein würde und die Reihe aus den ersten pythagoräischen Zahlen bestehen sollte. Kaum hatte ich das Krankenhaus verlassen, klebte ich eine ähnliche Nachricht wie die, die ich Petersen beschrieben hatte, an die Drehtür des Instituts. Der Inspektor hat diesen Teil rekonstruiert und hatte
mich, glaube ich, eine Zeitlang unter Verdacht. Seit diesem zweiten Todesfall begann Sacks, mir wie ein Schatten zu folgen.« »Aber bei dem Konzert konnten Sie es nicht gewesen sein. Sie saßen doch die ganze Zeit neben mir!« sagte ich. »Das Konzert… das Konzert war das erste Zeichen für das, was ich am meisten befürchtete. Für den Alptraum, der mich seit meiner Kindheit begleitet. Mein Plan bestand darin, einen Autounfall an genau der Stelle abzuwarten, die Johnson wählte, um sich in die Tiefe zu stürzen. An demselben Ort war mein Unfall gewesen, und es war das einzige, was mir für das dritte Symbol der Reihe, das Dreieck, einfiel. Mit einer nachträglichen Botschaft hätte ich diesen normalen Autounfall als einen Mord deklariert, als absolut perfekten Mord, der keinerlei Spuren hinterlassen hätte. So hatte ich es mir zurechtgelegt, und das wäre das letzte Verbrechen gewesen. Unmittelbar darauf hätte ich die Lösung meiner eigenen Reihe bekanntgegeben. Mein vorgeblicher intellektueller Widersacher hätte sich geschlagen gezeigt und wäre stillschweigend verschwunden oder hätte noch ein paar falsche Fährten hinterlassen, so daß die Polizei noch eine Weile ein Gespenst verfolgt hätte. Aber dann geschah die Sache bei dem Konzert. Da war ein Toter, und ich war auf der Suche nach Toten. Von unserem Platz sah es tatsächlich so aus, als würde ihn jemand erwürgen, man konnte leicht glauben, daß wir Zeugen eines Mordes wären. Aber das Unglaublichste dabei war, daß dieser sterbende Mensch ausgerechnet die Triangel gespielt hatte. Es schien ein Zeichen des Himmels, als hätte mein Plan in einer höheren Sphäre Gnade gefunden und das Schicksal würde meinen Weg ebnen. Ich sagte Ihnen ja, es ist mir nie gelungen, die Zeichen der realen Welt zu deuten. Der Gedanke drängte sich geradezu auf, diesen Tod in meinen Plan einzubinden, und während Sie mit allen anderen zur Bühne
vorliefen, habe ich mich vergewissert, daß niemand mich beobachtete, und die beiden Worte, die ich für die Nachricht brauchte, aus dem Programm herausgetrennt. Dann habe ich sie einfach auf meinen Platz gelegt und bin Ihnen gefolgt. Als der Inspektor uns winkte und ich sah, daß er von der anderen Seite der Stuhlreihe auf uns zukam, blieb ich extra wie vor Erstaunen gelähmt stehen, bevor ich meinen Platz erreichte, damit er selbst die Papierstückchen hochhob. Das war meine kleine Zaubernummer. Natürlich war ich vom Zufall begünstigt, da Petersen höchstpersönlich dort war und alles bezeugen konnte. Der Arzt, der sich auf die Bühne begeben hatte, erklärte, was für mich eindeutig war: Trotz des dramatischen Anscheins hatte es sich um einen natürlichen Atemstillstand gehandelt. Mich selbst hätte es am meisten überrascht, wenn bei der Autopsie etwas anderes herausgekommen wäre. Blieb nur noch das Problem, das ich ja bereits einmal gelöst hatte, aus einem natürlichen Tod einen Mord zu machen und eine überzeugende Hypothese zu suggerieren, damit auch Petersen diesen Todesfall selbstverständlich in die Reihe integrieren würde. Dieses Mal war es schwieriger, da ich mich dem Leichnam nicht nähern und ihm zum Beispiel meine Hände um den Hals drücken konnte. Da erinnerte ich mich an den Fall des Telepathen. Es fiel mir nichts anderes ein, als anzudeuten, daß es sich um einen Fall von Hypnose auf Entfernung gehandelt haben könnte. Mir war jedoch bewußt, daß es so gut wie unmöglich sein würde, Petersen davon zu überzeugen, sollten ihm auch bezüglich des Mordes an Mrs. Crafford eventuelle Zweifel geblieben sein; diese Lösung befand sich nicht, sagen wir es so, innerhalb seiner Denkästhetik, im Rahmen des für ihn Wahrscheinlichen. Es wäre für ihn keine plausible Schlußfolgerung gewesen, wie wir Mathematiker es ausdrücken würden. Aber schließlich erwies sich das alles als
unnötig, da Petersen problemlos eine aus meiner Sicht wesentlich plumpere Hypothese akzeptierte: die eines blitzartigen Angriffs von hinten. Er akzeptierte sie, obwohl er selbst auf dem Konzert gewesen war und dasselbe gesehen hatte wie wir, sprich, daß trotz der Theatralik des Todes sich dort sonst niemand befunden hatte. Er akzeptierte sie aus dem alten, überaus menschlichen Grund: einfach weil er daran glauben wollte. Das Erstaunlichste dabei ist vielleicht die Tatsache, daß Petersen die Möglichkeit, es könnte sich um einen natürlichen Tod handeln, gar nicht in Erwägung zog. Daran merkte ich, daß er, sollte er auch zu irgendeinem Zeitpunkt daran gezweifelt haben, mittlerweile vollkommen überzeugt war, einem Serienmörder auf der Spur zu sein, und daß es ihm ganz einleuchtend erschien, unaufhörlich über Morde zu stolpern, selbst an dem einzigen Abend, an dem er mit seiner Tochter ein Konzert besuchte.« »Denken Sie nicht, daß Johnson den Musiker angegriffen haben könnte, wie Petersen meint?« »Nein, das glaube ich nicht. Das wäre nur aus Petersens Argumentationsperspektive möglich. Das heißt, wenn Johnson auch Mrs. Eagletons und Clarcks Tod geplant hätte. Doch bis zum Abend des Konzerts hätte Johnson nur schwerlich die tatsächliche Verbindung zwischen den ersten beiden Todesfällen herstellen können. Ich glaube, daß Johnson, genau wie ich, an jenem Abend ein falsches Zeichen sah. Vielleicht war er zum Zeitpunkt des Todes nicht einmal anwesend; er sollte ja beim Bus auf die Kinder warten. Aber am nächsten Tag hat er in der Zeitung sicherlich die ganze Geschichte gelesen. Er sah die Symbolreihe, eine Reihe, deren Fortsetzung ihm bekannt war. Er hatte sich mit regelrechtem Fanatismus über die Pythagoräer informiert und bekam wie ich das Gefühl, eine höhere Sphäre ermögliche ihm die Verwirklichung seines Plans. Die Zahl der Kinder des Basketballteams stimmte mit
der Zahl der Tetraktys überein. Seiner Tochter blieben gerade noch achtundvierzig Stunden zu leben. Alles schien ihm zu sagen: Das ist die Gelegenheit, die allerletzte Gelegenheit. Das ist es, was ich Ihnen damals im Park zu erklären versuchte, der Alptraum, der mich von klein auf begleitet hat; die Konsequenzen, die unendlichen Verzweigungen, die Ungeheuer, die von den Träumen der Vernunft hervorgebracht werden. Ich wollte nur verhindern, daß sie ins Gefängnis kommt, und jetzt habe ich elf Tote auf dem Gewissen.« Er schwieg einen Moment, den Blick verloren aus dem Fenster gerichtet. »Die ganze Zeit über waren Sie meine Meßlatte. Ich wußte, wenn es mir gelänge, Sie bezüglich der Reihe zu überzeugen, würde ich auch Petersen überzeugen, und ich wußte auch, daß Sie, sollte mir etwas entgehen, mich möglicherweise rechtzeitig darauf aufmerksam machen würden. Aber gleichzeitig wollte ich gerecht mit Ihnen sein, wenn dieses Wort irgendeinen Sinn macht, Ihnen alle Möglichkeiten geben, die Wahrheit herauszufinden… Wie sind Sie letztendlich darauf gekommen?« fragte er unvermittelt. »Ich erinnerte mich, was Petersen heute morgen gesagt hat, daß man nie wissen kann, wozu man für ein Kind fähig wäre. Als ich Beth und Sie an dem einen Tag zusammen am Covered Market gesehen habe, hatte ich den Eindruck, eine seltsame Beziehung verbände Sie beide. Vor allem machte mich stutzig, daß sie fast Ihre Zustimmung zu der Heirat zu erbitten schien. Und plötzlich fragte ich mich, ob Sie möglicherweise mit einer Reihe Verbrechen eine Person gedeckt haben, die Sie nicht einmal besonders häufig sahen.« »Ja, selbst in ihrer Verzweiflung verstand sie es, an die richtige Tür zu klopfen. Tatsächlich weiß ich nicht und werde es wohl nie erfahren, inwieweit wahr ist, was sie glaubt. Ich weiß nicht, was ihre Mutter ihr über uns beide erzählt hat. Nie
zuvor hat sie mir diesbezüglich irgendeine Anspielung gemacht. Aber vielleicht um sicherzugehen, daß ich ihr helfen würde, hat sie ihre Trumpfkarte ausgespielt.« Er griff in die Innentasche seines Sakkos und hielt mir ein vierfach gefaltetes Blatt entgegen. Ich habe etwas Schreckliches getan, besagte die erste Zeile, in einer erstaunlich kindlichen Handschrift. In der zweiten Zeile, die in äußerster Verzweiflung hinzugefügt schien, stand in großen, jammervollen Buchstaben: Bitte, bitte, ich brauche Deine Hilfe, Papa.
Epilog
Als ich die Museumsstufen hinunterging, war es noch hell, einer jener wohlwollend klaren und langen Sommerabende. Ich schlug den Weg zurück zum Cunliffe Close ein und ließ die goldene Kuppel des Observatoriums hinter mir. Langsam wanderte ich die ansteigende Banbury Road hinauf und fragte mich, was ich mit dem Geständnis, das ich gerade gehört hatte, anstellen sollte. In einigen Häusern gingen die ersten Lichter an, und durch die Fenster sah ich Papiertüten mit Einkäufen, Fernseher, die eingeschaltet wurden, zivilisierte Fragmente des Lebens, das hinter diesen grünumrankten Mauern unbeirrt weiterlief. Auf der Höhe der Rawlinson Road hörte ich es in meinem Rücken zweimal kurz und fröhlich hupen. Ich drehte mich um, in dem Glauben, es sei Lorna, doch statt dessen sah ich ein kleines stahlblaues Cabriolet, offenbar brandneu, aus dem Beth mir zuwinkte. Als ich an die Beifahrertür trat, strich sie mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar, reckte sich zu mir herüber und fragte mit einem strahlenden Lächeln: »Kann ich dich mitnehmen?« Ich vermute, sie nahm einen ungewohnten Ausdruck in meinem Gesicht wahr, denn die Hand, die sie schon ausgestreckt hatte, um mir die Wagentür zu öffnen, hielt auf halber Strecke inne. Mechanisch lobte ich das neue Auto und schaute ihr dann in die Augen, versuchte sie noch einmal mit meinem anfänglichen Blick zu sehen und etwas anderes in ihr zu entdecken. Aber sie war einfach nur glücklicher, unbeschwerter, hübscher. »Stimmt etwas nicht?« fragte sie. »Woher kommst du?« »Von einem Gespräch mit… Arthur Seldom.«
Ihre Augen flackerten für einen winzigen Augenblick alarmiert auf. »Mathematik?« fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Wir haben über die Morde gesprochen. Er hat mir alles erzählt.« Ihre Miene wurde düster, und ihre Hände griffen nach dem Steuer. Ihr ganzer Körper versteifte sich plötzlich. »Alles? Nein, ich glaube nicht, daß er dir alles erzählt hat.« Sie lächelte nervös vor sich hin, und ein alter Groll schien ihre Augen kurz zu überschatten. »Er würde sich nie trauen, dir alles zu erzählen. Aber ich sehe«, sagte sie und wandte sich mit einem argwöhnischen Blick wieder zu mir, »du hast ihm geglaubt. Was wirst du jetzt tun?« »Nichts. Was sollte ich schon tun? Er würde sicherlich auch ins Gefängnis kommen«, sagte ich. Ich blickte sie an, und von allen Fragen lag mir vor allem eine auf der Zunge. Ich beugte mich zu ihr hinunter, bis mein Blick erneut das starre Blau ihrer Augen kreuzte. »Warum hast du es getan?« »Und warum bist du ausgerechnet hierhergekommen?«, setzte sie dagegen. »Denn das war doch nicht nur wegen der Mathematik, oder? Warum hast du dir gerade Oxford ausgesucht?« Ich sah, daß eine kleine Träne sich in ihre Wimpern hängte. »Es war ein Satz von dir. An dem Tag, an dem du mir so fröhlich mit deinem Tennisschläger entgegengekommen bist. Als wir über Stipendien sprachen. Du solltest es auch mal ausprobieren, hast du gesagt. Immer wieder klang es mir in den Ohren: Du solltest es ausprobieren. Ich dachte, sie würde ohnehin bald sterben und ich könnte noch ein ganz neues Leben beginnen. Aber ein paar Tage später bekam sie die Resultate der letzten Analysen; der Krebs hatte sich zurückgebildet, und der Arzt gab ihr noch weitere zehn Jahre. Zehn weitere Jahre an diese alte Hexe gekettet… ich hätte es nicht ertragen.«
Die Träne löste sich und rann über ihre Wange. Sie strich sie mit einer brüsken, leicht beschämten Geste weg und holte ein Taschentuch aus dem Handschuhfach. Dann legte sie die Hände wieder aufs Lenkrad, und mein Blick streifte ihren winzigen Daumen. »Du steigst also nicht ein?« »Nächstes Mal«, sagte ich. »Es ist so ein schöner Abend, ich will noch ein paar Schritte gehen.« Das Auto fuhr los, wurde rasch kleiner, und ich sah es in der Ferne im Cunliffe Close verschwinden. Ich fragte mich, ob das, was Seldom Beth zufolge nie zu erzählen wagen würde, das war, was er mir bereits erzählt hatte, oder ob es noch etwas anderes gab, etwas, vor dessen Vorstellung ich zurückschreckte. Und ich fragte mich, welchen Teil der ganzen Wahrheit ich letztendlich wußte und wie ich meinen zweiten Bericht beginnen würde. Als ich im Cunliffe Close einbog, schaute ich nach unten, doch war bereits nicht mehr zu erkennen, wo das Opossum heruntergefallen war; der letzte Rest Fell war verschwunden, und der Asphalt zu meinen Füßen war wieder sauber, unschuldig und leer, soweit das Auge reichte.
Danksagung
Mein Dank geht an die Stiftung MacDowell, an meine anonymen Wohltäter und an das Ehepaar Putnam für zwei Aufenthalte in der Kolonie MacDowell, diesem Paradies für Künstler, wo ein Großteil dieses Romans verfaßt wurde. Und an das International Writing Program der Universität Iowa für ein zweimonatiges Stipendium, innerhalb dessen ich ihn überarbeiten konnte.
Anhang
Jorge Luis Borges (*Buenos Aires 1899; † Genf 1986), argentinischer Schriftsteller. Das Zitat »Pythagoras’ mühselige Schüler« entstammt dem Gedicht Die zyklische Nacht. Dino Buzzati (*Belluno/Venetien 1906; † Mailand 1972), italienischer Schriftsteller. Bei den erwähnten Reisetagebüchern handelt es sich um fiktive Werke. Pierre de Fermat (* Beaumont, 1607; † Toulouse, 1665), französischer Jurist und Mathematiker. Er hat Beiträge zur Zahlentheorie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Variations- und Differentialrechnung geleistet. Sein bekanntester »letzter Satz« besagt, dass es für a3 + b3 = c3 und für alle höheren Potenzen keine ganzzahlige Lösung gibt, also keine pythagoräischen Tripel in der dritten oder einer höheren Dimension existieren. Seine Berühmtheit erlangte Fermats letzter Satz dadurch, dass Fermat in einer Randbemerkung seines Exemplars der Arithmetik des Diophant (gr. Mathematiker) zwar behauptete, dies bewiesen zu haben, den Beweis aber aus Platzmangel nicht ausführen könne. Erst 1995 gelang es dem britischen Mathematiker Andrew Wiles, den Großen Fermatschen Satz zu beweisen. Leonardo Fibonacci (* Pisa 1170; † nach 1240), gilt als der erste bedeutende Mathematiker des Abendlandes. In seinem Hauptwerk Liber abaci (1202) popularisierte er in Europa die arabischen Ziffern und damit das Dezimalsystem, was gegenüber den bis dahin gebräuchlichen römischen Ziffern
schriftliche Rechenoperationen erheblich vereinfachte. Auch die in den römischen Ziffern fehlende Ziffer Null war für abendländische Vorstellungen etwas vollkommen Neues. Sein Name ist untrennbar mit den Fibonacci-Zahlen verbunden, einer mathematischen Folge von positiven ganzen Zahlen, die er in seinem Rechenbuch anhand des bekannten Beispiels zur Entwicklung einer Kaninchenpopulation vorstellte. Kurt Gödel (* Brunn bzw. Brno/heute Tschechien 1906; † Princeton 1978), österreichischer Mathematiker und einer der bedeutendsten mathematischen Logiker dieses Jahrhunderts, dessen Arbeiten von fast revolutionärer Bedeutung für die theoretische Mathematik waren und der wesentliche Beiträge zur Mengentheorie und zur Allgemeinen Relativitätstheorie leistete. Sein 1930 formuliertes berühmtestes Theorem, der Gödelsche Unvollständigkeitssatz, besagt, daß man in Systemen wie der Arithmetik nicht alle Aussagen beweisen oder widerlegen kann (das heißt, daß »wahr« und »beweisbar« im allgemeinen nicht das gleiche sind). Er beinhaltet weiter, daß ein mathematisches Kalkül seine eigene Widerspruchsfreiheit prinzipiell nicht beweisen kann. Vereinfacht lautet der Satz: Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig. Nikolaus von Kues (* Kues/Mosel 1401; † Todi/Umbrien 1464), Kirchenmann, Kardinal und Universalgelehrter, gilt als der bedeutendste Philosoph und einer der wichtigsten Mathematiker des 15. Jahrhunderts. Wilhelm von Ockham (* Ockham/England um 1285; † München 1349 o. 1350) war als Vertreter der Spätscholastik einer der bedeutenden Philosophen des europäischen
Mittelalters. Der Begriff Ockhams Rasiermesser ist in der Wissenschaft das Sparsamkeitsprinzip. Es besagt, daß von mehreren äquivalenten Theorien die einfachste die beste ist. Diese Regel wurde zwar nach Wilhelm von Ockham benannt, die Idee ist jedoch sehr viel älter. Ockham selbst hat nie ausdrücklich ein solches Prinzip aufgestellt und benannt, sondern es eher implizit in seinen Schriften verwendet. Pythagoras von Samos (6. Jh. v. Chr.) Nachdem er sich auf seinen Reisen durch Mesopotamien und Ägypten alle mathematischen Regeln der damals bekannten Welt angeeignet hatte, wanderte er um 530 nach Kroton in Süditalien aus und gründete dort den Bund der Pythagoräer, dessen Mitglieder auf eine bestimmte, genau festgelegte Lebensweise verpflichtet wurden. Ein Brand, den der aufgebrachte Mob im Haus des Mäzenen Milon legte und bei dem Pythagoras mit vielen seiner Schülern starb, machte dem Geheimbund ein Ende. Bekannt geblieben ist Pythagoras v. a. durch den nach ihm benannten Satz, der aber wohl schon vor ihm babylonischen und ägyptischen Mathematikern, und unabhängig von ihm chinesischen und indischen Mathematikern bekannt gewesen sein dürfte: Bezeichnen a und b die Längen der Katheten und c die Länge der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, so gilt a2 + b2 = c2 John Rogers Searle (* Denver 1932), amerikanischer Philosoph, bekannt v. a. durch seine Arbeiten zur Sprechakttheorie. Im Rahmen der Diskussion zur Künstlichen Intelligenz wurde sein Gedankenexperiment vom Chinesischen Zimmer bekannt, mit dem er sich gegen die These wandte, daß Computer jemals ein dem Menschen ähnliches (Sprach-) Verständnis entwickeln könnten.
Alfred Tarski (* Warschau 1901; † Berkely 1983), polnischer Mathematiker und Logiker. Bereits 1930 entwickelte Tarski eine Formel, die Gödels Unvollständigkeitssatz von 1931 fast entsprach. Seine Arbeiten umfassten neue Ansätze in Algebra und Geometrie sowie in der Algebraisierung von Logik und Metamathematik. Seine Arbeiten wirken insbesondere in der Modelltheorie und in der analytischen Sprachphilosophie bis heute nach. Alan Turing (* London 1912; † Wilmslow 1954), britischer Mathematiker und Kryptoanalytiker. Er gilt heute als einer der einflußreichsten Theoretiker der frühen Computerentwicklung und Informatik. Die von ihm entwickelte Turingmaschine ist die Grundlage der theoretischen Informatik. Während des Zweiten Weltkriegs war er maßgeblich an der Entschlüsselung der mit der Enigma verschlüsselten deutschen Funksprüche beteiligt. Turing, dessen Karriere durch eine Anklage wegen Homosexualität vernichtet wurde, starb an einer CyanidVergiftung, offensichtlich von einem vergifteten Apfel, den man halbaufgegessen neben ihm auffand. Es wird angenommen, daß es sich um Selbstmord handelte, was seine Familie allerdings bestreitet. Ludwig Wittgenstein (* Wien 1889; † Cambridge 1951), einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, unter dessen Einfluß die sprachanalytische Philosophie entstand. Darüber hinaus hat er die Logik und die Philosophie der Logik befruchtet. Laut Wittgenstein ist die Logik der Schlüssel zu aller Erkenntnis – sowie zu deren Grenzen. Sein Frühwerk, der Tractatus logico-philosophicus schließt mit dem viel zitierten Satz: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man
schweigen.« Denn: »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.« Das Regelfolgen ist für Wittgenstein eine Praxis bzw. eine Technik, die wir angelernt bekommen. Wir folgen Regeln ohne Gründe, ohne Nachdenken, spontan. Es gibt deswegen auch keine Rechtfertigung dafür, daß wir einer bestimmten Regel folgen und einer anderen nicht. Das Sprachspiel meint einen Komplex aus Sprechen und Handeln in einer Situation. Verständlich werden Wörter nicht allein aus der gesprochenen oder geschriebenen Sprachstruktur, sondern aus dem Ensemble von Situation, Handlungs- und Sprechabsicht, den außersprachlichen Äußerungen wie Gestik und Mimik sowie den situativen Tätigkeiten. Sich in einer bestimmten Situation angemessen und verständlich äußern zu können heißt, die Regeln eines Sprachspiels anwenden zu können.