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Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 19 82 / 83 Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 19 82 / 83 Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: Le gouvernement de soi et des autres Cours au College de France (19 82 - I 9 83) © Editions du Seuil und Editions Gallimard 2008 Diese Ausgabe wurde unter der Leitung von Fran~ois Ewald und Alessandro Fontana von Frederic Gros herausgegeben Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur Centre National du Livre und der Maison des Sciences de I'Homme, Paris
Inhalt
Vorwort Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar 1983, erste Stunde)
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Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar 1983, zweite Stunde)
43
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, erste Stunde)
· .,
.....
63
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, zweite Stunde) .,
.....
87
· .......
104
Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, erste Stunde) Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, zweite Stunde) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 200 9 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgend einer Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany Erste Auflage 2009 ISBN 978-3-518-58537-5 I
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Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, erste Stunde) Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, zweite Stunde) Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar 1983, erste Stunde)
....... 13 1 ........ 149 .......
173
· .. , ....
194
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar 1983, zweite Stunde)
221
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, erste Stunde)
23 8
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, zweite Stunde)
266
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, erste Stunde)
Vorwort .......
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, zweite Stunde) Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, erste Stunde)
28 3 3 11
.......
3 27
Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, zweite Stunde)
359
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1983, erste Stunde) ..........
375
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1983, zweite Stunde) .........
4°7
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde) ..........
4 24
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, zweite Stunde) .........
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Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen .........
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Literaturverzeichnis ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ausführliches Inhaltsverzeichnis ................
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Michel Foucault hat am College de France von Januar 1971 bis zu seinem Tod im Juni 1984 gelehrt, mit Ausnahme des Jahres 1977, seinem Sabbatjahr. Sein Lehrstuhl trug den Titel: »Geschichte der Denksysteme«. Dieser wurde am 30. November 1969 auf Vorschlag von Jules Vuillemin von der Generalversammlung der Professoren des College de France an Stelle des Lehrstuhls der »Geschichte des philosophischen Denkens« eingerichtet, den Jean Hippolyte bis zu seinem Tod innehatte. Dieselbe Versammlung wählte Michel Foucault am 12. April 1970 zum Lehrstuhlinhaber. 1 Er war 43 Jahre alt. Michel Foucault hielt seine Antrittsvorlesung am 2. Dezember 1970 .2 Der Unterricht am College de France gehorcht besonderen Regeln: Die Professoren sind verpflichtet, pro Jahr 26 Unterrichtsstunden abzuleisten (davon kann höchstens die Hälfte in Form von Seminarsitzungen abgegolten werden).3 Sie müssen jedes Jahr ein neuartiges Forschungsvorhaben vorstellen, wodurch sie gezwungen werden sollen, jeweils einen neuen Unterrichtsinhalt zu bieten. Es gibt keine Anwesenheitspflicht für die Vorlesungen und Seminare; sie setzen weder ein Aufnahmeverfahren noch ein Diplom voraus. Und der Professor stellt auch keines aus. 4 In der Terminologie des College de France 1 Michel Foucault hatte für seine Kandidatur ein Plädoyer unter folgender Formel abgefaßt: »Man müßte die Geschichte der Denksysteme unternehmen« (»Titre et Travaux«, in: Dits et Ecrits, 1954-1988, hg. v. Daniel Defert und Fran<;:ois Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Paris 1994, Bd. I, 1964-1969, S. 842-846, bes. S. 846; dt. »Titel und Arbeiten«, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Bd.I, 1954-1969, Frankfurt/Main 2001, S. 1069-1°75, bes. S. 1074f.). 2 In der Editions Gallimard im März 1971 unter dem Titel L'Ordre du discours (Die Ordnung des Diskurses) publiziert. 3 Was Michel Foucault bis Anfang der 80er Jahre machte. 4 Im Rahmen des College de France. 7
heißt das: Die Professoren haben keine Studenten, sondern Hörer. Die Vorlesungen von Michel Foucault fanden immer mittwochs statt, von Anfang Januar bis Ende März. Die zahlreiche Hörerschaft aus Studenten, Dozenten, Forschern und Neugierigen, darunter zahlreiche Ausländer, füllte zwei Amphitheater im College de France. Michel Foucault hat sich häufig über die Distanz zwischen sich und seinem Publikum und über den mangelnden Austausch beschwert, die diese Form der Vorlesung mit sich brachte. 5 Er träumte von Seminaren als dem Ort echter gemeinsamer Arbeit. Er machte dazu verschiedene Anläufe. In den letzten Jahren widmete er gegen Ende ?einer Vorlesungen immer eine gewisse Zeit dem Beantworten von Hörerfragen. Ein Journalist des Nouvel Observateur, Gerard Petitjean, gab die Atmosphäre 1975 mit folgenden Worten wieder: »Wenn Foucault die Arena betritt, eiligen Schritts vorwärtspreschend, wie jemand, der zu einem Kopfsprung ins Wasser ansetzt, steigt er über die Sitzenden hinweg, um zu seinem Pult zu gelangen, schiebt die Tonbänder beiseite, um seine Papiere abzulegen, zieht sein Jackett aus, schaltet die Lampe an und legt los, mit hundert Stundenkilometern. Mit fester und durchdringender Stimme, die von Lautsprechern übertragen wird, als einzigem Zugeständnis an die Modernität eines mit nur einer Lampe erhellten Saals, die ihren Schein zum Stuck hochwirft. Auf dreihundert Sitzplätze pferchen sich fünfhundert Leute, saugen noch den letzten Freiraum auf ... Keinerlei rhetorische Zugeständnisse. Alles transparent und unglaublich effizient. Nicht das kleinste Zugeständnis an die Improvisation. Fou5 Michel Foucault verlegte 1976 in der - vergeblichen - Hoffnung, die Hörerschaft zu reduzieren, den Vorlesungsbeginn von 17 Uhr 45 am späten Nachmittag auf 9 Uhr morgens. V gl. den Anfang der ersten Vorlesung (am 7.Januar 1976) von »Il faut defendre la societe«. Cours au College de France (1975-76), unter der Leitung von Franc;ois Ewald und Alessandro Fontana hrsg. von Mauro Bertani und Alessandro Fontana, Paris 1997 [dt. von M. Ott: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975-76), Frankfurt/Main 1999].
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cault hat pro Jahr zwölf Stunden, um in öffentlichem Vortrag den Sinn seiner Forschung des zu Ende gehenden Jahres zu erklären. Daher drängt er alles maximal zusammen und füllt die Randspalten, wie jene Korrespondenten, die noch immer allerhand zu sagen haben, wenn sie längst am Fuß der Seite angekommen sind. 19 Uhr 15. Foucault hält inne. Die Studenten stürzen zu seinem Pult. Nicht um mit ihm zu sprechen, sondern um die Kassettenrekorder abzuschalten. Niemand fragt etwas. In dem Tohuwabohu ist Foucault allein.« Und Foucault dazu: »Man müßte über das von mir Vorgestellte diskutieren. Manchmal, wenn die Vorlesung nicht gut war, würde ein Weniges genügen, eine Frage, um alles zurechtzurücken. Aber diese Frage kommt nie. In Frankreich macht die Gruppenbindung jede wirkliche Diskussion unmöglich. Und da es keine Rückkoppelung gibt, wird die Vorlesung theatralisch. Ich habe zu den anwesenden Personen eine Beziehung wie ein Schauspieler oder Akrobat. Und wenn ich aufhöre zu sprechen, die Empfindung totaler Einsamkeit.«6 Michel Foucault ging seinen Unterricht wie ein Forscher an: Erkundungen für ein zukünftiges Buch, auch Rodungen für zu problematisierende Felder, die sich wie Einladungen an werdende Forscher anhörten. Auf diese Weise verdoppeln die Vorlesungen im College nicht die veröffentlichten Bücher. Sie nehmen diese nicht skizzenartig vorweg, auch wenn die Themen der Vorlesungen und Bücher die gleichen sind. Sie haben ihren eigenen Status und ergeben sich aus dem Einsatz eines bestimmten Diskurses im Gesamt der von Michel Foucault erstellten »philosophischen Akten«. Er breitet darin insbesondere das Programm einer Genealogie der Beziehungen von Wissen und Macht aus, im Hinblick auf welche er seine Arbeit - im Gegensatz zu der einer Archäologie der Diskursformationen, die sie bisher angeleitet hatte - reflektieren wird. 7 6 Gerard Petitjean, »Les Grands Pretres de l'Universite franc;aise«, Le Nouvel Observateur, 7· April 1975. 7 Vgl. insb. »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Bd.II, 1970-1975, Frankfurt/Main 2002, S. 166-191.
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Die Vorlesungen hatten auch ihre Funktion innerhalb des Zeitgeschehens. Der Hörer, der ihnen folgte, wurde nicht nur von der Erzählung, die Woche für Woche weitergestrickt wurde, eingenommen; er wurde nicht nur durch die Stringenz des Vortrags verführt; er fand darin auch eine Erhellung der Tagesereignisse. Die Kunst Michel Foucaults bestand in der Durchquerung des Aktuellen mittels der Geschichte. Er konnte von Nietzsche und Aristoteles sprechen, von psychiatrischen Gutachten des 19. Jahrhunderts oder der christlichen Pastoral, der Hörer bezog daraus immer Einsichten in gegenwärtige und zeitgenössische Ereignisse. Michel Foucaults Stärke lag bei diesen Vorlesungen in dieser subtilen Verbindung von Gelehrsamkeit, persönlichem Engagement und einer Arbeit am Erelgms. Die in den 70er Jahren entwickelten und perfektionierten Kassettenrekorder haben das Pult von Michel Foucault in Windeseile erobert. Auf diese Weise wurden die Vorlesungen (und gewisse Seminare) aufbewahrt. Diese Ausgabe hat das öffentlich vorgetragene Wort von Michel Foucault zum Referenten. Sie bietet dessen möglichst wortgetreue Nachschrift. 8 Wir hätten es gerne als solches wiedergegeben. Aber die Umwandlung des Mündlichen ins Schriftliche verlangt den Eingriff des Herausgebers: Zumindest eine Zeichensetzung muß eingeführt und das Ganze in Paragraphen unterteilt werden. Das Prinzip war indes, so nah wie möglich an der tatsächlich vorgetragenen Vorlesung zu bleiben. Wenn es unabdingbar erschien, wurden Wiederaufnahmen und Wiederholungen weggelassen; unvollendete Sätze wurden zu Ende geführt und unrichtige Konstruktionen berichtigt. Auslassungspunkte zeigen an, daß die Aufzeichnung unverständlich ist. Wenn der Satz unverständlich ist, haben wir in ek-
kigen Klammern das vermutete Fehlende eingefügt oder ergänzt. Ein Sternchen am Fuß der Seite gibt die signifikanten Abweichungen der Aufzeichnungen Michel Foucaults vom Vorgetragenen wieder. Die Zitate wurden überprüft und die verwendeten Textbezüge angegeben. Der kritische Apparat beschränkt sich darauf, dunkle Punkte zu erhellen, gewisse Anspielungen zu erläutern und kritische Punkte zu präzisieren. Um die Lektüre zu erleichtern, wurde jeder Vorlesung eine Zusammenfassung vorangestellt, die die Schwerpunkte der Ausführungen angibt. Dem Vorlesungstext folgt deren Zusammenfassung, wie sie im Jahresbericht des College de France abgedruckt wurde. Michel Foucault redigierte sie im allgemeinen im Juni, also einige Zeit nach Beendigung der Vorlesung. Für ihn war das eine gute Gelegenheit, im nachhinein deren Intention und Ziele herauszuarbeiten. Sie ist deren beste Präsentation. Jeder Band wird mit einer »Situierung« abgerundet, für die der Herausgeber verantwortlich zeichnet: Darin sollen dem Leser Hinweise zum biographischen, ideologischen und politischen Kontext geliefert, die Vorlesung in das veröffentlichte Werk eingeordnet und Hinweise hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb des verwendeten Korpus gegeben werden, um sie leichter verständlich zu machen und Mißverständnisse zu vermeiden, die sich aus dem Vergessen der Umstände, unter welchen jede der Vorlesungen erarbeitet und gehalten wurde, ergeben könnten. Die Vorlesung des Jahres 1982/83 wird von Frederic Gros herausgegeben.
8 Insbesondere sind die von Gerard Burlet und Jacques Lagrange erstellten Tonbandaufnahmen verwendet worden, die auch beim College de France und beim IMEC (Institut Memoires de l'Edition contemporaine) deponiert sind.
Mit dieser Ausgabe der Vorlesungen des College de France wird eine neue Seite des »Werks« von Michel Foucault publiziert. Es geht im eigentlichen Sinn nicht um Unveröffentlichtes, da diese Ausgabe das öffentlich von Michel Foucault vorgetragene Wort wiedergibt und die Textstütze, auf die er zurückgriff und die unter Umständen sehr ausgefeilt war, vernachlässigt. Daniel
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Defert, der die Aufzeichnungen von Michel Foucault besitzt, hat den Herausgebern Einsichtnahme in sie gewährt. Wir sind ihm dafür zu großem Dank verpflichtet.
Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar 1983, erste Stunde)
Diese Ausgabe der Vorlesungen am College de France wurde von den Erben Michel Foucaults autorisiert, die der großen Nachfrage in Frankreich wie anderswo entgegenzukommen suchten. Und das unter unbestreitbar ernsthaften Voraussetzungen. Die Herausgeber suchten dem Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, zu entsprechen.
Methodische Bemerkungen. - Studium des Kanttextes: "Was ist Aufklärung?" - Veräffentlichungsbedingungen: die Zeitschriften. - Die Begegnung zwischen der christlichen Aufklärung und der jüdischen Haskala: die Gewissensfreiheit. - Philosophie und Gegen'Wart. - Das Problem der Revolution. - Die beiden kritischen Nachkommenschaften.
Franr;ois Ewald und Alessandro Fontana
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Als erstes möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich für Ihre treue Anwesenheit empfänglich bin. Ich möchte Ihnen auch sagen, daß die Veranstaltung einer solchen Vorlesung immer etwas schwierig ist, weil Rückmeldungen und Diskussionen nicht vorgesehen sind und weil man auch nicht weiß, ob das, was man zu sagen hat, bei denen, die mit einer Arbeit beschäftigt sind, auf Widerhall stößt, ob es ihnen Möglichkeiten des Nachdenkens und der Arbeit eröffnet. Andererseits wissen Sie auch, daß man in dieser Institution, in der die Dienstvorschriften äußerst liberal sind, nicht berechtigt ist, ein geschlossenes Seminar zu veranstalten, das bloß einigen Hörern vorbehalten wäre. So etwas werde ich also dieses Jahr nicht tun. Was mir jedoch vorschwebt, und zwar nicht so sehr für Sie, sondern eher aus egoistischen Gründen für mich, ist die Möglichkeit, außerhalb der Vorlesung und in diesem Sinne Off-Broadway diejenigen von Ihnen zu treffen, die möglicherweise über die Gegenstände diskutieren könnten, die ich dieses Jahr behandle oder die ich früher an einem anderen Ort behandelt habe. Bevor wir jedoch diese kleine Gruppe einrichten oder zumindest jene kleinen informellen und außerhalb der Vorlesung und der eigentlichen Institution stattfindenden Treffen veranstalten können, wäre es vielleicht gut, noch ein bis zwei Sitzungen abzuwarten. Entweder nächste Woche oder in vierzehn Tagen werde ich Ihnen Zeit und Ort vorschlagen. Bedauerlicherweise kann ich diesen Vorschlag nicht allen machen, weil wir uns sonst in derselben Situation wie jetzt befänden. Aber diejenigen unter Ihnen, die mit einer konkreten Arbeit im akademischen Rahmen I3
befaßt sind und die gerne Möglichkeiten zur Diskussion hätten, möchte ich noch einmal fragen, ob wir uns an einem Ort treffen sollen, den ich Ihnen vorschlagen werde. Ich möchte abermals betonen, daß damit das Publikum in seinem weitesten Umfang nicht ausgeschlossen werden soll. Vielmehr hat es, wie jeder französische Staatsbürger, ein unbedingtes Recht darauf, aus dem Unterricht, der hier stattfindet, Nutzen zu ziehen. Die diesjährige Vorlesung wird wohl etwas zerfahren und zersplittert sein. Ich möchte gerne bestimmte Themen wieder aufnehmen, die mir im Laufe der letzten Jahre - ich würde sogar sagen der letzten zehn oder auch zwölf Jahre, die ich hier gelehrt habe - begegnet sind und die ich zur Sprache gebracht habe. Zum Zwecke der allgemeinen Orientierung möchte ich Sie bloß an einige davon erinnern. Dabei will ich nicht behaupten, daß es sich um Themen oder Prinzipien handelt, sondern um einige Anhaltspunkte, die mich bei meiner Arbeit geleitet haben. In dem umfassenden Projekt, das unter dem Zeichen, wenn nicht gar unter der Überschrift einer »Geschichte des Denkens« 1 steht, sah ich mein Problem darin, etwas zu tun, das sich ein bißchen von dem unterscheidet, was die meisten Ideengeschichtler völlig zu Recht praktizieren. Jedenfalls wollte ich mich durch zwei Methoden absetzen, die beide übrigens ebenfalls völlig legitim sind. Zunächst wollte ich mich abgrenzen gegen das, was man Mentalitätsgeschichte nennen könnte und was tatsächlich auch so genannt wird. Diese Geschichte erstreckt sich, schematisch betrachtet, von der Verhaltensanalyse bis zu den Äußerungen, die dieses Verhalten begleiten. Diese Äußerungen können dem Verhalten vorhergehen, sie können ihm nachfolgen, es übersetzen, es vorschreiben, es verstellen, es rechtfertigen usw. Andererseits wollte ich mich auch von dem absetzen, was man eine Geschichte der Vorstellungen oder der Vorstellungssysteme nennen könnte, d. h. eine Geschichte, die zwei Ziele haben könnte bzw. tatsächlich haben sollte. Das eine wäre die Analyse der Vorstellungsfunktionen. Unter »Analyse
der Vorstellungsfunktionen« verstehe ich die Analyse der Rolle, die diese Vorstellungen spielen können, und zwar entweder im Hinblick auf das vorgestellte Objekt oder im Hinblick auf das vorstellende Subjekt - sagen wir, eine Art Ideologieanalyse. Der andere Pol einer möglichen Analyse der Vorstellungen scheint mir dann in der Analyse der Vorstellungswerte eines Vorstellungssystems zu bestehen, d. h. in der Analyse der Vorstellungen in Abhängigkeit von einer Erkenntnis - d. h. eines Erkenntnisinhalts oder einer Regel, einer Erkenntnisform -, betrachtet als Wahrheitskriterium oder zumindest als Anhaltspunkt für die Wahrheit, auf die hin man den Vorstellungswert dieses oder jenes Gedankensystems, verstanden als System von Vorstellungen eines bestimmten Gegenstands, bestimmen kann. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten also, zwischen diesen beiden Themen (der Mentalitätsgeschichte und der Vorstellungsgeschichte), habe ich versucht, eine Geschichte des Denkens zu schreiben. Und mit »Denken« meinte ich eine Analyse dessen, was man die Brennpunkte der Erfahrung nennen könnte, an denen sich die einen gegenüber den anderen artikulieren: An erster Stelle stehen hier die Formen eines möglichen Wissens; zweitens die normativen Verhaltensmatrizen der Individuen; und schließlich virtuelle Existenzmodi für mögliche Subjekte. Diese drei Elemente - Formen des möglichen Wissens, normative Verhaltens matrizen, virtuelle Existenzmodi möglicher Subjekte -, das sind die drei Dinge oder vielmehr ist es die Gliederung dieser drei Dinge, die man »Brennpunkte der Erfahrung« nennen kann. Jedenfalls habe ich vor langer Zeit versucht, aus dieser Perspektive so etwas wie den Wahnsinn zu analysieren,2 wobei ich den Wahnsinn überhaupt nicht als einen Gegenstand betrachtete, der sich im Laufe der Geschichte nicht verändert und an den sich eine Reihe von Vorstellungssystemen mit variablen Vorstellungsfunktionen und -werten geheftet hätten. Diese Geschichte des Wahnsinns war für mich auch keine Weise, die Einstellung zu untersuchen, die man über die Jahrhunderte hinweg zum Wahnsinn hatte. Vielmehr ging es um den Ver-
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such, den Wahnsinn als Erfahrung innerhalb unserer Kultur zu untersuchen, den Wahnsinn als einen Ausgangspunkt zu erfassen, von dem aus sich eine Reihe mehr oder minder heterogener Erkenntnisse bildete, deren Entwicklungsformen zu untersuchen waren: der Wahnsinn als Wissensmatrix, als Matrix von Erkenntnissen, die dem eigentlich medizinischen Typus, aber auch einem spezifisch psychiatrischen, psychologischen, soziologischen usw. Typus zugehören können. Zweitens war der Wahnsinn, insofern er selbst eine Form des Wissens ist, auch eine Gesamtheit von Normen, die den Wahnsinn als Phänomen der Abweichung innerhalb einer Gesellschaft und außerdem als Verhaltensnormen von Individuen im Verhältnis zu diesem Phänomen als auch im Verhältnis zum Wahnsinnigen selbst zu bestimmen erlaubten, und zwar sowohl im Hinblick auf das Verhalten der normalen Individuen als auch der Ärzte, des psychiatrischen Personals usw. Schließlich drittens: die Untersuchung des Wahnsinns, insofern die Erfahrung des Wahnsinns die Verfassung eines bestimmten Seins modus des normalen Subjekts gegenüber und im Verhältnis zu einem wahnsinnigen Subjekt bestimmt. Diese drei Aspekte, diese drei Dimensionen der Erfahrung des Wahnsinns (als Form des Wissens, als Verhaltensmatrix, als Verfassung von Seinsmodi des Subjekts) habe ich mehr oder minder erfolgreich und wirksam versucht, miteinander zu verbinden. Man könnte sagen, daß die Arbeit, die ich im Anschluß daran unternommen habe, in einer schrittweisen Untersuchung jeder dieser drei Achsen bestand, um herauszufinden, welche Form die Ausarbeitung der Methoden und der Analysebegriffe annehmen sollte, wenn man diese Dinge, diese Achsen untersuchen will, und zwar erstens als Dimensionen einer Erfahrung und zweitens, insofern sie miteinander verbunden werden sollten. Die Untersuchung der Achse der Bildung von Erkenntnissen habe ich zunächst im Hinblick auf die empirischen Wissenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts, wie z.B. die Naturgeschichte, die allgemeine Grammatik, die Ökonomie usw. zu
unternehmen versucht. Diese Wissenschaften waren für mich nur ein Beispiel für die Analyse der Bildung von Erkenntnissen. 3 Und hier hatte ich den Eindruck, daß, wenn man die Erfahrung tatsächlich als Matrix für die Bildung von Erkenntnissen untersuchen wollte, man nicht die Entwicklung oder den Fortschritt des Wissens analysieren, sondern herausfinden mußte, was die Diskurspraktiken waren, welche Matrizen möglicher Erkenntnisse konstituieren konnten. In diesen Diskurspraktiken mußte man die Regeln, das Spiel des Wahren und des Falschen und, in groben Zügen, die Formen der Veridiktion untersuchen. Alles in allem ging es darum, die Achse der Geschichte des Wissens in Richtung auf die Analyse der Erkenntnisse und der Diskurspraktiken zu verschieben, die die Matrix dieser Erkenntnisse organisieren und ausmachen, und diese Diskurspraktiken als geregelte Formen der Veridiktion zu untersuchen. Diese Verschiebung von der Erkenntnis zum Wissen, vom Wissen zu den Diskurspraktiken und zu den Regeln der Veridiktion habe ich eine gewisse Zeit zu beschreiben versucht. Zweitens ging es anschließend darum, die normativen Matrizen des Verhaltens zu analysieren. Und hier bestand die Verschiebung nicht in der Untersuchung der Macht mit einem großen »M«, nicht einmal in der Analyse der Machtinstitutionen oder der allgemeinen und institutionellen Formen der Herrschaft, sondern darin, die Techniken und Verfahren zu studieren, durch die man das Verhalten der anderen zu steuern versucht. Ich habe also versucht, die Frage nach der Verhaltensnorm zunächst in Begriffen der Macht, und zwar der ausgeübten Macht, zu stellen und dann diese ausgeübte Macht als einen Bereich von Regierungsverfahren zu analysieren. Auch hier bestand die Verschiebung in Folgendem: im Übergang von der Analyse der Norm zur Analyse der Machtausübung; und im Übergang von der Analyse der Machtausübung zu den Verfahren der Gouvernementalität. Hier habe ich dann das Beispiel der Kriminalität und der Disziplinierungsmaßnahmen behandelt. 4
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Schließlich ging es drittens darum, die Achse der Verfassung des Seinsmodus des Subjekts zu untersuchen. Und hier bestand die Verschiebung darin, daß es mir schien, man müsse die verschiedenen Formen analysieren, durch die das Individuum dazu gelangt, sich selbst als Subjekt zu konstituieren, anstatt sich auf eine Theorie des Subjekts zu beziehen. Indem ich das Beispiel des Sexualverhaltens und der Geschichte der Sexualmoral herausgriff,5 habe ich versucht zu verstehen, wie und aufgrund welcher konkreten Formen des Selbstverhältnisses das Individuum dazu gebracht wurde, sich als moralisches Subjekt seines Sexualverhaltens zu konstituieren. Mit anderen Worten, auch hier ging es darum, eine Verschiebung zu bewerkstelligen, und zwar von der Frage nach dem Subjekt zur Analyse der Formen der Subjektivierung, und diese Formen der Subjektivierung anhand der Techniken und Technologien des Selbstverhältnisses oder, wenn Sie so wollen, anhand dessen zu untersuchen, was man die Pragmatik des Selbst nennen könnte. Die Ersetzung der Geschichte der Wissensformen durch die historische Analyse der Formen der Veridiktion, die Ersetzung der Geschichte der Herrschaft durch die historische Analyse der Verfahren der Gouvernementalität, die Ersetzung derTheorie des Subjekts oder die Geschichte der Subjektivität durch die historische Analyse der Pragmatik des Selbst und der Formen, die diese angenommen hat, das sind die verschiedenen Zugangswege, auf denen ich versucht habe, die Möglichkeit einer Geschichte dessen näher zu bestimmen, was man »Erfahrungen« nennen könnte. Erfahrung des Wahnsinns, Erfahrung der Krankheit, Erfahrung der Kriminalität und Erfahrung der Sexualität, das sind Brennpunkte von Erfahrungen, die, so scheint mir, in unserer Kultur wichtig sind. Das ist also, wenn Sie so wollen, der Weg, den ich zu verfolgen versucht habe und den ich Ihnen ehrlicherweise zu rekonstruieren hatte, und sei es nur, um Rechenschaft abzulegen. Aber das haben Sie bereits gewußt.':· ':. Das Manuskript enthält hier eine Ausführung, die Foucault in seine mündliche Vorlesung nicht aufnimmt:
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,> Welchen Sinn soll man diesem Unternehmen beimessen? Es sind vor allem seine >negativen< oder negativistischen Aspekte, die auf den ersten Blick auffallen. Ein historisierender Negativismus, da es darum geht, eine Theorie der Erkenntnis, der Macht oder des Subjekts durch die Analyse bestimmter historischer Praktiken zu ersetzen. Ein nominalistischer Negativismus, da es darum geht, Universalien wie den Wahnsinn, das Verbrechen und die Sexualität durch die Analyse von Erfahrungen zu ersetzen, die singuläre historische Formen darstellen. Ein Negativismus mit nihilistischer Tendenz, wenn man darunter eine Reflexionsform versteht, die, anstatt Wertsysteme durch bestimmte Praktiken zu indizieren, die jene zu messen gestatten, diese Wertsysteme in das Spiel von willkürlichen Praktiken einordnet, auch wenn diese verstehbar sind. Gegenüber diesen Einwänden oder, streng genommen, >Vorwürfen< muß man eine fest entschlossene Einstellung bewahren. Denn es handelt sich um ,Vorwürfe<, d.h. um solche Einwände, denen gegenüber man, wenn man sich gegen sie verteidigt, fatalerweise das zugibt, was sie behaupten. Unter diesen verschiedenen Einwänden oder Vorwürfen nimmt man eine Art von stillschweigenden Vertrag über die theoretische Entscheidung an, einen Vertrag, in dem der Historizismus, der Nominalismus und der Nihilismus von vornherein disqualifiziert sind: Niemand wagt es, sich als Vertreter einer solchen Position zu erklären, und die Falle besteht gerade darin, daß man nichts anderes tun kann, als eine Herausforderung abzuwehren, d. h. einzuwilligen ... Es fällt jedoch auf, daß Historizismus, Nominalismus und Nihilismus natürlich schon immer als Einwände vorgebracht wurden und vor allem, daß die Form des Diskurses derart ist, daß man nicht einmal die Belege dafür geprüft hat. 1. Zur Frage des Historizismus: Was waren die Auswirkungen und was könnten die Auswirkungen der historischen Analyse im Bereich des historischen Denkens sein? 2. Zur Frage des Nominalismus: Was waren die Auswirkungen dieser nominalistischen Kritik auf die Untersuchung der Kulturen, des Wissens, der Institutionen, der politischen Strukturen? 3. Zur Frage des Nihilismus: Was waren die Auswirkungen des Nihilismus, und was könnten sie im Hinblick auf die Annahme und die Umwandlung von Wertsystemen sein? Auf die Einwände, die die Disqualifiziertheit des Nihilismus/Nominalismus/Historizismus behaupten, müßte man mit einer historizistischnominalistisch-nihilistischen Analyse dieser Strömung antworten. Und damit meine ich: diese Form des Denkens nicht in ihrer universellen Systematizität aufzubauen und sie in Begriffen der Wahrheit oder des moralischen Werts zu rechtfertigen, sondern herauszufinden versuchen, wie sich dieses kritische Spiel, diese Form des Denkens herausbilden und entwickeln konnte. Für dieses Jahr steht eine solche Untersuchung auiSer Frage. Es geht nur darum, den allgemeinen Horizont abzustecken.«
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Nachdem ich diese drei Dimensionen ein wenig erforscht hatte, stellte sich natürlich im Laufe jeder dieser Untersuchungen - die ich übrigens etwas willkürlich systematisiere, weil ich sie im nachhinein glätte - heraus, daß ich eine Reihe von Dingen beiseite gelassen hatte, die mir aber gleichwohl interessant zu sein schienen und möglicherweise neue Probleme aufwarfen. Dieses Jahr möchte ich nun Wege, die ich schon erkundet habe, erneut begehen und eine Reihe von Punkten wiederaufnehmen: beispielsweise das, was ich Ihnen letztes Jahr im Hinblick auf die parrhesia, den wahren Diskurs im Rahmen der Politik, gesagt habe. Mir scheint, daß diese Untersuchung einerseits das Problem der Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen in den Blick stellte und genauer erkennen ließ, dann aber auch die Genese, die Genealogie, wenn schon nicht des politischen Diskurses im allgemeinen, dessen wesentlicher Gegenstand die Regierung durch den Fürsten ist, so doch zumindest einer bestimmten Form des politischen Diskurses, der die Regierung des Fürsten zum Gegenstand hätte, die Regierung der Seele des Fürsten durch den Ratgeber, den Philosophen, den Pädagogen, der mit der Bildung seiner Seele betraut ist. Der wahre Diskurs, der an den Fürsten und an seine Seele gerichtete Diskurs der Wahrheit: das wird eines meiner ersten Themen sein. Ich möchte auch die Dinge wiederaufnehmen, die ich vor zwei oder drei Jahren über die Regierungskunst im 16. Jahrhundert gesagt habe. 6 Ich weiß noch nicht genau, was ich tun werde, aber ich möchte jene Dossiers wiederaufnehmen, die offen geblieben sind. Ich sage »Dossiers«, das ist ein etwas hochtrabender Ausdruck für diese Fährten, die ich einfach gekreuzt und überquert und die ich nur in schwachen Umrissen dargestellt habe. Ich möchte diese Woche nicht eigentlich mit einem Exkurs, sondern mit einer kleinen Inschrift beginnen. Ich möchte einen Text als Inschrift untersuchen, der sich vielleicht nicht genau innerhalb des Koordinatensystems befindet, auf das ich mich die meiste Zeit im Laufe dieses Jahres beziehen werde. Dennoch scheint er mir auf genaue Weise und in knappen Begriffen 20
eines der wichtigen Probleme zu formulieren und hervorzuheben, über das ich sprechen möchte, nämlich genau diese Beziehung zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen. Andererseits scheint mir, daß er nicht einfach nur von diesem Thema handelt, sondern es außerdem auf eine solche Weise tut, daß ich - ohne größere bzw. mit ein bißchen Eitelkeit - daran anknüpfen kann. Für mich ist dieser Text so etwas wie ein Wappen, ein Fetisch. Ich habe Ihnen schon mehrmals davon erzählt und möchte ihn heute etwas genauer ansehen. Dieser Text hat, wenn Sie so wollen, einerseits eine Beziehung zu dem, worüber ich spreche, und es wäre mir lieb, wenn andererseits die Art und Weise, wie ich über ihn spreche, auch eine bestimmte Beziehung zu ihm hätte. Dieser Text ist selbstverständlich der von Kant, »Was ist Aufklärung?« \'7ie Sie wissen, wurde dieser Text im September 1784 von Kant geschrieben und in der Berlinischen Monatsschrift vom Dezember 1784 veröffentlicht. In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst ganz kurz die Daten und Bedingungen seiner Veröffentlichung festhalten. An der Tatsache, daß Kant einen Text wie diesen in einer Zeitschrift veröffentlicht, ist überhaupt nichts Außergewöhnliches. Sie wissen, daß ein großer Teil seiner theoretischen Aktivität darin bestand, in einer Reihe von Zeitschriften Aufsätze, Rezensionen und Repliken zu veröffentlichen. In dieser Berlinischen Monatsschrift hatte er gerade im Monat zuvor, im November 1784, einen Text veröffentlicht, der nach weiterer Ausarbeitung zur» Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« wurde. 7 Im Jahr darauf, I 78 5, veröffentlicht er in derselben Zeitschrift seine »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse«;8 1786 veröffentlicht er außerdem den »Mutmaßlichen Anfang der Menschheitsgeschichte«.9 Im übrigen schreibt er auch in anderen Zeitschrifren: in der Allgemeinen Literaturzeitung eine Rezension des Buchs von Herder;lO im TeutschenMerkur 1788 den Text »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie«ll usw. Den Ort der Veröffentlichung, d. h. eine Zeitschrift, muß man 21
aus folgendem Grund im Gedächtnis behalten. Wie Sie sehen werden, beinhaltet dieser Text über die Aufklärung als zentralen Begriff oder als Begriffsgefüge den Begriff der Öffentlichkeit, des Publikums. Unter diesem Begriff des Publikums versteht er erstens die konkrete, institutionelle oder zumindest instituierte Beziehung zwischen dem Schriftsteller (dem sachkundigen Schriftsteller, den man im Französischen mit »savant« übersetzt, dem Gelehrten, dem gebildeten Menschen) und dem Leser (der Leser im Sinne irgendeines Individuums). Die Funktion dieser Beziehung zwischen Leser und Schriftsteller, die Analyse dieses Verhältnisses - die Bedingungen, unter denen diese Beziehung instituiert und entwickelt werden kann und soll - wird die wesentliche Leitlinie seiner Analyse der Aufklärung bilden. In einem bestimmten Sinne ist die Aufklärung - ihr Begriff und die Weise, wie er ihn analysiert nichts anderes als das Explizieren dieser Beziehung zwischen dem Gelehrten (dem gebildeten Menschen, dem schreibenden Wissenschaftler) und dem Leser. Nun ist es ganz offensichtlich, daß in dieser Beziehung zwischen dem Schriftsteller ... »es ist offensichtlich«, nein, es ist nicht offensichtlich. Das Interessante ist, daß diese Beziehung zwischen dem Schriftsteller und dem Leser - auf den Inhalt dieser Beziehung werde ich später zurückkommen, ich möchte hier nur seine Bedeutung hervorheben - im 18. Jahrhundert offenkundig nicht so sehr über die Universität lief, und auch nicht so sehr über das Medium des Buches, sondern viel eher über jene Ausdrucksformen, die zugleich Formen intellektueller Gemeinschaften waren und in Zeitschriften und Gesellschaften oder in Akademien bestanden, die diese Zeitschriften veröffentlichten. Es sind diese Gesellschaften, diese Akademien und auch diese Zeitschriften, die auf konkrete Weise die Beziehung zwischen der Kompetenz und dem Lesen in der freien und universellen Form der Verbreitung des geschriebenen Diskurses herstellen. Folglich stellen diese Zeitschriften, Gesellschaften und Akademien diejenige Instanz dar - welche, historisch betrachtet, im 18. J ahrhundert so wichtig war und welcher Kant so große Bedeutung
Oiuch innerhalb seines Textes beimißt -, die jenem Begriff des Publikums entspricht. Das Publikum war selbstverständlich nicht das Hochschulpublikum, das sich erst im Laufe des I 9. Jahrhunderts mit der Neubildung der Universitäten konstituiert. Dieses Publikum ist offenbar auch nicht diejenige Art von Publikum, an die man denkt, wenn man soziologische Untersuchungen der Medien in der Gegenwart anstellt. Das Publikum ist eine Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die durch die Existenz jener Institutionen, nämlich der wissenschaftlichen Gesellschaften, der Akademien, der Zeitschriften begründet und gestaltet wurde und sich innerhalb dieses Rahmens be':\~egt. Einer der relevanten Punkte des Textes und der Grund, wOirum es mir wichtig war zu erwähnen, daß er in einer solchen Zeitschrift veröffentlicht wurde, daß er ein Teil dieser Art von \~eröffentlichung war, besteht darin, daß er den Begriff des Publikums, an das sich die Veröffentlichung richtet, ins Zentrum seiner Analyse stellt. Das war der erste Grund, weshalb ich den Kontext, diese Frage des Ortes und des Datums des Textes, Ilervorgehoben habe. Der zweite Grund, warum mir Ort und Datum so wichtig ":aren, besteht natürlich darin, daß Mendelssohn auf dieselbe Frage »Was ist Aufklärung?« in derselben Zeitschrift, in derselben Berlinischen Monatsschrift, im September 1784 geantwortet hatte. Aber tatsächlich hatte Kant, dessen Antwort erst :m Dezember veröffentlicht wurde, keine Gelegenheit, Mendelssohns Antwort, die im September erschienen war, als Kant gerade seinen eigenen Text zum Abschluß brachte, zu lesen. \,\'ir haben also zwei Antworten auf dieselbe Frage, zwei gleichzeitige oder zeitlich kaum verschobene Antworten, von denen jedoch weder der eine noch der andere etwas wußte. Die Begegnung dieser beiden Texte von Mendelssohn und von Kant ist natürlich von Interesse. Nicht deshalb, weil gerade in diesem Augenblick oder aus diesem Grund, nämlich um gerade auf diese Frage zu antworten, die berühmte Begegnung, die :n der Kulturgeschichte Europas so wichtig war, zwischen der ?hilosophischen Aufklärung oder der Aufklärung des christ-
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lichen Milieus und der Haskala 12 (der jüdischen Aufklärung) stattfand. Sie wissen, daß man die Begegnung zwischen der christlichen oder teilweise reformierten und der jüdischen Aufklärung der Bequemlichkeit halber auf gut dreißig Jahre zuvor, auf etwa 1750, sagen wir auf die Jahre 1754-55, datieren kann, nämlich als Mendelssohn Lessing trifft. Mendelssohns Philosophische Gespräche stammen aus dem Jahr 1755,13 also aus einer Zeit dreißig Jahre vor dieser zweifachen Antwort auf die Frage nach der Aufklärung. Vor kurzem ist eine Übersetzung von Mendelssohns Jerusalem erschienen, deren Vorwort überaus interessant ist. 14 Es gibt einen Text, an den ich mehr zur Unterhaltung erinnere und der sehr interessant im Hinblick darauf ist, die Wirkung des Erstaunens und - man kann nicht wirklich sagen, des Skandals - der Verblüffung zu verstehen und einigermaßen einzuschätzen, als jemand in Gestalt eines kleinen, buckligen Juden in die deutsche Kulturwelt, in das deutsche Publikum, wie ich es zuvor charakterisiert habe, eindrang. Es handelt sich um einen Brief von Johann Wilhelm Gleim, der schreibt: »Der Autor der Philosophischen Gespräche [der doch mit Moses unterzeichnet hatte und von dem man sich fragte, ob so etwas wirklich von einem Juden geschrieben werden konnte und ob es nicht entweder Lessing selbst oder jemand anders gewesen sei, und Gleim bestätigt; M. E] ist ein wirklicher Jude, ein Jude der sich ohne Lehrer ein sehr ausgedehntes Wissen in den Wissenschaften angeeignet hat.«15 Wir haben hier also einen Satz, der zum Ausdruck bringt, daß er unmöglich aufgrund seiner jüdischen Bildung all dieses Wissen erwerben konnte, sondern daß das nur ohne einen Lehrer möglich war, d. h. durch eine Verschiebung im Verhältnis zu seinem eigenen Ursprung und seiner Kultur und durch eine Art von Eingliederung, von unbefleckter Geburt, in die Universalität der Kultur. Und doch hat dieser Jude, ,>der sich ohne Lehrer ein sehr ausgedehntes Wissen in allen Wissenschaften angeeignet hat«, »von Jugend auf seinen Lebensunterhalt in einem jüdischen Geschäft verdient«. Dieser Text stammt also aus dem Jahre 1755 und markiert das Eindringen oder vielmehr die 24
Begegnung, die Vereinigung der jüdischen und der, sagen wir, christlichen Aufklärung. Es handelt sich um eine vorsichtige Hochzeit, wie man sieht, bei der der jüdische Partner, obwohl er als einer gekennzeichnet wird, der seinen Lebensunterhalt in einem jüdischen Geschäft verdient, nur unter der Bedingung 2_kzeptiert und anerkannt werden kann, daß er ohne Lehrer sich ein sehr ausgedehntes Wissen in allen Wissenschaften ang:eeignet hat. Lassen wir diese Begegnung von 1755 beiseite. Ich komme nun zum Jahr 1784 und zu jenen beiden Texten über die Aufklä::-ung von Mendelssohn und Kant. Mir scheint, daß die Bedeu['..mg dieser beiden Texte jedenfalls darauf beruht, daß beide, 50wohl Kant als auch Mendelssohn, auf sehr deutliche Weise r.icht nur die Möglichkeit, nicht nur das Recht, sondern die -:\' ol:\vendigkeit einer absoluten Freiheit aufwerfen, und zwar :-.ich! nur des Gewissens, sondern des Ausdrucks in Bezug auf egliche Ausübung der Religion, die als notwendig privat aufwurde. In einem Text, der diesen Monaten von Septemc'er bis Dezember 1784 vorangeht, in denen sie ihre beiden -:=-exre über die Aufklärung veröffentlichen, schrieb Kant an ~,!:eD.delssohn gerade mit Bezug auf Jerusalem, das soeben er~:hienen war, und sagte ihm: »Sie haben Ihre Religion mit ei["e;TI solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen gedie man ihr gar nicht zugetraut hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kann. Sie haben zugleich die Not7;endigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreiheit zu jeder 3,digion so gründlich und hell vorgetragen, daß auch endlich .::e Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie al_es. was das Gewissen belästigen und drücken kann, von der ihr:gen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung ce:- ",-esentlichen Religionspuncte vereinigen muß«;16 Kant r:rhtet also sein Lob an Mendelssohn, weil Mendelssohn sehr ;G~ gezeigt und betont hat, daß der Gebrauch seiner eigenen 3~eEgion nur ein privater Gebrauch sein könne, daß er in keiner -:;::-eise einen Bekehrungseifer - Kant geht zwar in diesem Text r_:cht darauf ein, aber für Mendelssohn ist dieser Punkt von 25
überragender Bedeutung - oder eine Autorität gegenüber jener privaten Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft ausüben könne. Diese Einstellung des jüdischen Denkens gegenüber der jüdischen Religion, auf jeden Fall aber diese Einstellung des Denkens eines Juden gegenüber seiner eigenen Religion soll, so Kant, der Einstellung nützen, die jeder Christ gegenüber seiner eigenen Religion haben sollte. Der dritte Grund, aus dem mir dieser Text interessant zu sein scheint, und zwar unabhängig von Überlegungen darüber, was das Publikum sein mag, und unabhängig von dem Aufeinandertreffen von christlicher und jüdischer Aufklärung innerhalb der Öffentlichkeit, liegt darin, daß ich den Eindruck habe und das möchte ich nun besonders betonen -, daß in diesem Text ein neuer Typ von Frage im Bereich der philosophischen Reflexion auftaucht. Gewiß ist es nicht der erste Text in der Geschichte der Philosophie noch auch der erste Text Kants, der eine Frage zur Geschichte oder die Frage nach der Geschichte selbst thematisiert. Wenn wir uns nur an Kant halten, so wissen Sie sehr wohl, daß man bei ihm Texte findet, die die Frage nach dem Ursprung an die Geschichte richten, beispielsweise der Text über die Vermutungen, die Hypothesen zur Menschheitsgeschichte;17 oder auch bis zu einem gewissen Grad der Text über die Bestimmung des Rassenbegriffs. 18 Andere Texte stellen an die Geschichte keine Ursprungsfrage, sondern eine Frage nach dem Abschluß, nach dem Punkt der Vollendung, so z.B. im selben Jahr 1784 »Die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«.19 Wieder andere stellen die Frage nach der inneren Zweckhaftigkeit, die die geschichtlichen Prozesse bestimmt - den Geschichtsprozeß in seiner inneren Struktur und seiner stetigen Zweckhaftigkeit -, wie z. B. der Text, der dem Gebrauch teleologischer Prinzipien gewidmet ist. 20 Die Frage nach dem Beginn, die Frage nach der Vollendung und die Frage nach der Zweckhaftigkeit und der Teleologie durchziehen Kants Analysen der Geschichte. Von den erwähnten Texten scheint sich mir der Text über die Aufklärung sehr zu unterscheiden, denn er stellt keine dieser Fra26
gen, zumindest nicht direkt. Ganz gewiß nicht die Frage nach dem Ursprung, aber auch nicht, wie Sie trotz allem Anschein sehen werden, die Frage nach dem Abschluß, nach dem Punkt der Vollendung. Und die Frage nach der Teleologie, die dem Geschichtsprozeß selbst innewohnt, wird nur relativ unauffällig und beinahe beiläufig gestellt. Streng genommen, werden Sie sehen, daß er selbst dieser Frage aus dem Wege geht. Im Grunde, so scheint mir, ist die Frage, die zum ersten Mal in Kants Texten auftaucht - ich sage nicht, daß sie nur ein einziges Mal auftaucht, denn wir werden später einem anderen Beispiel begegnen -, die Frage nach der Gegenwart, nach der Aktualität. Es ist die Frage: Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses »Jetzt«, in dem wir uns befinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreibe? Natürlich finden wir in der philosophischen Reflexion nicht zum ersten Mal Bezüge auf die Gegenwart, auf die Gegenwart als bestimmte geschichtliche Situation, die für die philosophische Reflexion wertvoll sein kann. Immerhin, als Descartes zu Beginn des Discours de la methode über seine eigene Laufbahn und die Gesamtheit seiner philosophischen Entscheidungen berichtet, die er zugleich für sich selbst sowie für die Philosophie getroffen hat, bezieht er sich ganz ausdrücklich auf etwas, das als historische Situation im Bereich der Erkenntnis, der Wissenschaften, der Institution des Wissens selbst in seiner eigenen Zeit betrachtet werden kann. Stellen wir jedoch fest, daß es sich bei dieser Art von Bezügen immer darum handelt- dasselbe könnte man beispielsweise auch bei Leibniz finden -, in dieser Konstellation, die als gegenwärtig bezeichnet wird, ein Motiv für eine philosophische Entscheidung zu entdecken. Weder bei Descartes noch, denke ich, bei Leibniz, werden Sie eine Frage ,'on folgender Art finden: Was ist diese Gegenwart eigentlich, der ich angehöre? Nun scheint mir jedoch die Frage, auf die ~1endelssohn geantwortet hat und auf die Kant antwortet - auf die er übrigens antworten muß, weil man es von ihm verlangt: es handelt sich um eine öffentlich gestellte Frage -, eine andere zu sein. Sie besteht nicht einfach in folgendem: Wodurch ließe 27
sich in der gegenwärtigen Situation diese oder jene philosophische Entscheidung bestimmen? Die Frage zielt darauf ab, was diese Gegenwart eigentlich ist. Sie zielt zunächst auf die Bestimmung eines bestimmten Bestandteils der Gegenwart ab, der unter allen anderen erkannt, unterschieden und entziffert werden soll. Was ist in der Gegenwart eigentlich ein sinnvoller Gegenstand für die philosophische Reflexion? Zweitens geht es in der Frage und in der Antwort, die Kant zu geben versucht, darum zu zeigen, inwiefern dieser Bestandteil Träger oder Ausdruck eines Prozesses ist, eines Prozesses, der das Denken, die Erkenntnis und die Philosophie betrifft. Schließlich geht es drittens innerhalb dieser Reflexion auf diesen Bestandteil der Gegenwart, der Träger eines Prozesses oder sein Ausdruck ist, darum zu zeigen, wodurch und wie derjenige, der als Denker, als Gelehrter oder als Philosoph spricht, selbst zu diesem Prozeß gehört. Aber die Situation ist noch komplexer. Er muß nicht nur zeigen, inwiefern er diesem Prozeß zugehört, sondern welche Rolle er als Teil dieses Prozesses, als Gelehrter, Philosoph oder Denker in diesem Prozeß zu spielen hat, in dem er sich zugleich als Bestandteil und als Handelnder vorfindet. Kurz, mir scheint, daß in Kants Text die Frage nach der Gegenwart als philosophischem Ereignis erscheint, dem der Philosoph, der darüber spricht, zugehört. Wenn man also die Philosophie als eine Form von Diskurspraxis auffassen will, die ihre eigene Geschichte hat, mit diesem Spiel zwischen der Frage »Was ist Aufklärung?« und der Antwort, die Kant geben wird, dann scheint mir, daß man sieht, wie die Philosophie - und ich glaube, daß ich nicht zu sehr übertreibe, wenn ich sage, daß das zum ersten Mal geschieht - zum Erscheinungsort ihrer eigenen Diskursgegenwart wird, einer Gegenwart, die sie als Ereignis befragt, als Ereignis, dessen philosophischen Sinn, Wert und Einzigartigkeit sie aussprechen und in dem sie zugleich ihre eigene Existenzberechtigung und die Grundlage dessen, was sie sagt, finden soll. In diesem Sinne versteht man, daß die philosophische Praxis oder vielmehr der Philosoph, der seinen phi-
Die Philosophie als Erscheinungsort einer Gegenwart, die Philosophie als Fragen nach dem philosophischen Sinn der Gegenwart, zu der sie selbst gehört, die Philosophie als Befragung dieses »wir«, dem der Philosoph zugehört und gegenüber welchem er sich verorten muß, das, scheint mir, zeichnet die Philosophie als Diskurs der Moderne, als Diskurs über die Moderne aus. Ich würde die Dinge folgendermaßen darstellen. Natürlich tritt die Frage nach der Moderne in der europäischen Kultur mit diesem Text nicht zum ersten Mal auf. Sie wissen zur Genüge, wie zumindest seit dem 16. Jahrhundert - lassen wir den Rest beiseite -, durch das ganze 17. Jahrhundert hindurch und auch zu Beginn des 18.Jahrhunderts die Frage nach der :'v1oderne gestellt wurde. Wenn man sich sehr schematisch ausdrücken möchte, ist die Frage nach der Moderne in der klassischen Kultur in einer Ausrichtung gestellt worden, die ich als Längsschnitt bezeichnen würde. Die Frage nach der Moderne ,v-urde im Sinne einer Polarität gestellt, als Frage nach der Polarität zwischen Antike und Moderne. Die Frage nach der Moderne stellte sich also entweder im Sinne einer Autorität, die anerkannt oder abgelehnt werden sollte (welche Autorität soll
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losophischen Diskurs hält, es nicht vermeiden kann, die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu dieser Gegenwart zu stellen. Das bedeutet, daß sich für ihn nicht mehr bloß oder überhaupt nicht mehr die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu einer Lehre oder zu einer Tradition stellt, auch nicht mehr die Frage nach seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft im allgemeinen, sondern die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu einer Gegenwart, wenn sie so wollen, seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten »wir«, zu einem »wir«, das sich in einem mehr oder weniger weiten Sinne auf ein charakteristisches kulturelles Ganzes seiner eigenen Gegenwart bezieht. Dieses »wir« ist es, das für den Philosophen zum Gegenstand seiner eigenen Reflexion werden muß oder schon wird. Gerade dadurch wird bestätigt, daß es unmöglich ist, darauf zu verzichten, daß der Philosoph seine einzigartige Zugehörigkeit zu diesem »wir« befragt.
akzeptiert, welches Vorbild befolgt werden? usw.) oder in Form einer vergleichenden Wertung, die übrigens mit der ersten Frage einhergeht: Sind die Alten den Modernen überlegen? Befinden wir uns in einer Periode der Dekadenz usw. ? Mir scheint, daß sich die Frage nach der Moderne in dieser Polarität der Antike und Moderne mit der Frage nach der anzuerkennenden Autorität und der Frage nach der Wertung oder der zu vergleichenden Werte gestellt hat. Mit Kant aber kommt eine neue Weise zum Vorschein, diese Frage nach der Moderne zu stellen - ich glaube, daß man das in diesem Text über die Aufklärung ganz deutlich sieht -, nämlich nicht im Längsschnitt unserer Beziehung zu den Alten, sondern in etwas, was man eine sagittale oder vertikale Beziehung des Diskurses zu seiner eigenen Gegenwart nennen könnte. Der Diskurs soll seine eigene Gegenwart berücksichtigen, um erstens seinen eigentlichen Ort zu finden, zweitens dessen Sinn zu besti~men, drittens die Wirkungsweise zu bezeichnen und anzugeben, die er in dieser Gegenwart realisiert. Was ist meine Gegenwart? Was ist der Sinn dieser Gegenwart? Und worauf beruht die Tatsache, daß ich von dieser Gegenwart spreche? Darin besteht, wie mir scheint, diese neue Frage nach der Moderne. Das ist alles sehr schematisch. Es handelt sich, ich wiederhole es, um eine Fährte, die man etwas näher erforschen müßte. Mir scheint, daß man versuchen sollte, eine Genealogie zu schreiben, und zwar nicht so sehr des Begriffs der Moderne, sondern der Moderne als Frage. Selbst wenn ich Kants Text als Ausgangspunkt für das Auftauchen dieser Frage nehme, sollte es jedenfalls klar sein, daß er selbst Teil eines breiten und wichtigen historischen Prozesses ist, dessen Ausmaß man gerade bestimmen sollte. Außerdem finde ich, daß eine der interessanten Achsen für die Untersuchung des r8.Jahrhunderts im allgemeinen, aber insbesondere für das, was man die Aufklärung nennt, in der Tatsache besteht, daß die Aufklärung sich selbst Aufklärung genannt hat. Das heißt, daß wir es mit einem zweifellos sehr einzigartigen kulturellen Prozeß zu tun haben, der sich sofort auf eine bestimmte Weise seiner selbst bewußt ge3°
worden ist, indem er sich diesen Namen gegeben hat, indem er sich im Verhältnis zu seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und seiner Zukunft bestimmt und indem er mit diesem Namen der Aufklärung den Prozeß bezeichnet, ja mehr noch als den Prozeß die Operationen, die diese Bewegung in ihrer eigenen Gegenwart vornehmen soll. Ist die Aufklärung nicht die erste Epoche, die sich selbst einen Namen gibt und die, anstatt sich bloß selbst als Periode der Dekadenz, des Wohlstands oder des Glanzes usw. zu charakterisieren - was eine alte Gewohnheit, eine alte Tradition war -, sich nach einem bestimmten Ereignis benennt, dem der Aufklärung, das einer allgemeinen Geschichte des Denkens, der Vernunft und des Wissens untersteht und in welchem die Aufklärung selbst gerade ihre eigentliche Rolle spielen soll? Die Aufklärung ist eine Periode, die sich selbst bezeichnet, eine Periode, die ihren eigenen Wahlspruch, ihre eigene Satzung formuliert und die sagt, was sie selbst zu tun hat, und zwar sowohl im Hinblick auf die allgemeine Geschichte des Denkens, der Vernunft und des Wissens als auch im Hinblick auf ihre Gegenwart und die Formen der Erkenntnis, des Wissens, der Unwissenheit, der Täuschung, für die Institutionen usw., innerhalb deren sie ihre geschichtliche Verankerung zu erkennen weiß. Aufklärung, das ist ein Name, eine Satzung, ein Wahlspruch. Und genau das werden wir in diesem Text »Was ist Aufklärung?« zu sehen bekommen. Schließlich besteht der vierte Grund, weshalb ich diesen Text hervorheben möchte (Sie können ihn als einen Hauptorientierungspunkt auffassen), darin, daß diese Fragestellung Kants bezüglich der Aufklärung - die doch dem allgemeinen Kontext der Aufklärung selbst zugehört, d. h. zu einem kulturellen Prozeß, der sich selbst bezeichnet, der sagt, was er selbst ist und was seine Ziele sind - nicht auf das r 8. Jahrhundert oder gar auf den Prozeß der Aufklärung beschränkt geblieben ist. In dieser Frage nach der Aufklärung läßt sich eine der ersten Manifestationen einer gewissen Art zu philosophieren erkennen, die seit zwei Jahrhunderten auf eine lange Geschichte zurückblickt. Immerhin scheint es mir, daß es eine der wichtigen und 3I
wesentlichen Funktionen der sogenannten »modernen« Philosophie ist - deren Beginn und Entwicklung man auf das äußerste Ende des 18. Jahrhunderts, auf das 19· Jahrhundert datieren kann -, sich auf ihre eigene Gegenwart hin zu befragen. Man könnte die ganze Entwicklungslinie dieser Frage nach der Philosophie verfolgen, indem man die Frage nach ihrer eigenen Gegenwart im Laufe des 19. Jahrhunderts und im Ausgang vom Ende des 18. Jahrhunderts stellt. Das Einzige, worauf ich jetzt aufmerksam machen möchte, ist, daß Kant diese Frage, die er 1784 behandelt, eine Frage, die ihm von außen gestellt wurde, nicht vergessen hat. Kant hat sie nicht vergessen. Er wird sie erneut stellen und sie im Hinblick auf ein anderes Ereignis erneut zu beantworten versuchen, das ebenfalls eines dieser, wenn Sie so wollen, selbstbezüglichen Ereignisse war und sich immer wieder selbst zum Gegenstand einer Frage gemacht hat. Dieses Ereignis ist natürlich die Revolution, die Französische Revolution. 1798 wird Kant gewissermaßen eine Fortsetzung des Textes von 1784 schreiben. 17 84 stellte er die Frage oder versuchte, auf die ihm gestellte Frage zu antworten: Was ist diese Aufklärung, der wir angehören? 179 8 antwortet er auf eine Frage, die er sich selbst stellt. Eigentlich antwortet er auf eine Frage, die ihm natürlich die Gegenwart stellte, die ihm aber auch zumindest seit 1794 die ganze philosophische Diskussion in Deutschland stellte. Und diese andere Frage war: Was ist die Revolution? Sie wissen, daß Fichte 1794 über die Französische Revolution geschrieben hatteY 1798 schreibt Kant einen kleinen, kurzen 22 Text über die Revolution, der zum Streit der Fakultäten gehört - was eigentlich eine Sammlung von drei Abhandlungen über die Beziehungen zwischen den verschiedenen Fakultäten ist, die die Universität bilden. Die zweite Abhandlung des Streits der Fakultäten - das darf nicht vergessen werden - betrifft die Beziehungen zwischen der Fakultät der Philosophie und der Rechtsfakultät. Kant sieht das Wesentliche dieser konfliktträchtigen Beziehungen zwischen der Philosophie und der Rechtswissenschaft genau im Umkreis der Frage: ,>Gibt es ei32
nen stetigen Fortschritt für das Menschengeschlecht ?« Bezüglich dieser Frage, die also für ihn die wesentliche Frage nach den Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft ist, stellt er folgende Überlegung an. Im Abschnitt 5 seiner Abhandlung sagt er: Wenn man die Frage beantworten will: »Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei ?«, muß man natürlich bestimmen, ob ein solcher Fortschritt überhaupt möglich ist und was seine Ursache sein könnte. Wenn man aber, so Kant, einmal festgestellt hat, daß es eine Ursache eines möglichen Fortschritts gibt, kann man nur herausfinden, ob diese Ursache auch tatsächlich wirkt, indem man ein bestimmtes Ereignis freilegt, das beweist, daß die Ursache auch wirklich am Werke ist. Kant meint also, daß die Zuweisung einer Ursache immer nur mögliche Wirkungen bestimmen kann oder genauer: nur die Möglichkeit von Wirkungen. Die Wirklichkeit einer Wirkung kann nur dann erwiesen werden, wenn man ein Ereignis isoliert, ein Ereignis, das man mit einer Ursache verknüpfen kann. Man kann also auf diese Frage durch ein Verfahren antworten, das die Umkehrung des Verfahrens ist, mit dem man die teleologische Struktur der Geschichte analysiert. Man soll also nicht dem teleologischen Gerüst folgen, das den Fortschritt ermöglicht, sondern innerhalb der Geschichte ein Ereignis isolieren, ein Ereignis, das, so Kant, den Wert eines Zeichens haben wird. Ein Zeichen wovon? Ein Zeichen der Existenz einer Ursache,23 einer dauernden Ursache, die durch die gesamte Geschichte hindurch die Menschen auf dem Weg des Fortschritts geleitet hat. Eine stetige Ursache, von der man zeigen muß, daß sie früher wirksam war, daß sie jetzt wirkt und in Zukunft wirken wird. Das Ereignis, das uns folglich eine Entscheidung darüber gestatten könnte, ob es einen Fortschritt gibt, wird ein Zeichen sein, ein Zeichen, sagt Kant, »rememorativum, demonstrativum, prognosticon«,24 d. h. ein Zeichen, das uns zeigt, daß es immer schon so war (das Erinnerungszeichen); ein Zeichen, daß der Fortschritt sich gegenwärtig ereignet (das Hinweiszeichen); das Prognosezeichen schließlich, das uns mit33
teilt, daß es ständig so weitergehen wird. Und so können wir sicher sein, daß die Ursache, die den Fortschritt ermöglicht, nicht nur zu einer bestimmten Zeit gewirkt hat, sondern in einer Tendenz gründet und eine allgemeine Tendenz der gesamten Menschheit gewährleistet, in die Richtung des Fortschritts zu marschieren. Deshalb stellt sich folgende Frage: Gibt es um uns herum ein Ereignis, das ein Erinnerungs-, Hinweis- und Prognosezeichen eines ständigen Fortschritts sein könnte, der die ganze Menschheit mit sich reißt? Was ich Ihnen bereits gesagt habe, läßt die Antwort Kants zwar erraten. Ich möchte Ihnen aber doch die Passage vorlesen, in der er die Revolution als Zeichen dieses Ereignisses einführt. Am Anfang des Abschnitts 6 sagt er folgendes: »Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein, oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie, gleich als durch Zauberei, alte glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von allem dem.«25 Zwei Dinge sind an diesem Text zu bemerken. Zuerst spielt er natürlich, wenn Sie so wollen, auf die Analyseformen an, auf Bezüge, die traditionellerweise in dieser Debatte hergestellt wurden, um zu entscheiden, ob die menschliche Gattung einen Fortschritt gemacht hat oder nicht. Im Klartext: Der Umsturz von Kaiserreichen, die großen Katastrophen, durch die die am besten eingerichteten Staaten verschwinden, alle diese Schicksalswendungen, wodurch das, was groß war, klein wird und umgekehrt. All das weist er zurück, zugleich aber sagt er: Seid auf der Hut, wir dürfen das Erinnerungs-, Hinweis- und Prognosezeichen des Fortschritts nicht in den großen Ereignissen suchen, sondern in den Ereignissen, die gleichsam unmerklich sind. Das bedeutet, daß man unsere eigene Gegenwart nicht auf ihre Bedeutungswerte untersuchen kann, ohne eine Hermeneutik oder eine Entzifferungsmethode zu bemühen, die es gestattet, dem anscheinend Bedeutungs- und Wertlosen die wichtige Bedeutung und den hohen Wert zuzuschreiben, wo34
nach wir suchen. Was ist nun aber dieses Ereignis, das kein großes Ereignis ist? Nun, es ist die Revolution. Endlich, die Revolution ... Man kann jedenfalls nicht sagen, daß die Revolution kein lautstarkes, sich aufdrängendes Ereignis ist. Ist sie nicht gerade ein Ereignis der Umwälzung, die das Große klein macht und das Kleine groß und die die scheinbar stabilsten Strukturen der Gesellschaft und der Staaten abschafft und verschlingt? Es ist jedoch nicht die Revolution an sich, so Kant, die die Bedeutungsfunktion erfüllt. Was sie erfüllt und was das Ereignis konstituiert, das einen Erinnerungs-, Hinweis- und Prognosewert hat, ist nicht das revolutionäre Drama selbst, nicht die revolutionären Heldentaten, nicht die revolutionäre Gebärde. Was diese Bedeutungsfunktion ausübt, ist die Art und Weise, wie die Revolution als Schauspiel erscheint, die Art und Weise, wie sie rings herum von den Zuschauern aufgenommen wird, die nicht an ihr teilnehmen, die sie aber betrachten, die dabei sind und die sich zum Guten oder Schlechten von ihr mitreißen lassen. Nicht die revolutionäre Gebärde macht den Fortschritt aus. Es ist nicht nur so, daß die revolutionäre Gebärde nicht den Fortschritt konstituiert, sondern daß, wenn die Revolution noch einmal wiederholt werden sollte, man sie nicht wiederholen würde. Hier gibt es nun einen hochinteressanten Text: »Die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen [es handelt sich also um die Französische Revolution; M.F.], mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde.«26 [... ] Erstens ist also der revolutionäre Prozeß selbst nicht wichtig. Es liegt wenig daran, ob er zum Erfolg führt oder scheitert. Das hat nichts mit dem Fortschritt zu tun oder zumindest mit dem Zeichen des Fortschritts, nach dem wir suchen. Das Scheitern oder der Erfolg der Revolution sind keine Zeichen des Fortschritts oder Zeichen dafür, daß es keinen Fortschritt gibt. Mehr noch, wenn jemand, der die Re35
volution kennt und weiß, wie sie abläuft, die Möglichkeit hätte, sie sowohl in ihrem Wesen zu erkennen als auch sie erfolgreich abzuschließen, nun, dann würde dieser Mensch sie nicht veranstalten, da er ihren notwendigen Preis berechnet hat. Die Revolution und was sich in ihr ereignet, ist also nicht von Bedeutung. Mehr noch, die Veranstaltung der Revolution sollte besser unterlassen werden. Was dagegen jedoch wichtig ist, was eine Bedeutungsfunktion erfüllt und was das Zeichen des Fortschritts ausmacht, ist, daß es um die Revolution herum, so Kant, »eine Teilnehmung dem Wunsche nach [gibt], die nahe an Enthusiasm grenzt"Y Was also an der Revolution von Bedeutung ist, das ist nicht die Revolution selbst, die ohnehin ein großes Durcheinander ist, sondern was in den Köpfen der Leute geschieht, die die Revolution nicht veranstalten oder die zumindest nicht deren Hauptakteure sind. Es ist die Beziehung, die sie selbst zu dieser Revolution haben, die sie nicht machen oder an der sie zumindest nicht wesentlich beteiligt sind. Von Bedeutung ist die Begeisterung für die Revolution. Aber wofür ist diese Begeisterung für die Revolution nach Kant ein Zeichen? Sie ist erstens ein Zeichen dafür, daß alle Menschen der Auffassung sind, daß sie ein Recht haben, sich diejenige politische Verfassung zu geben, die ihnen angemessen ist und die sie wollen. Zweitens ist sie ein Zeichen dafür, daß die Menschen sich eine politische Verfassung geben wollen, die aufgrund ihrer eigenen Grundsätze jeglichen Angriffskrieg vermeidet. 28 Genau das ist es nun, diese Bewegung auf eine solche Situation hin, in der die Menschen sich die politische Verfassung geben können, die sie wollen, und außerdem eine solche, die jeden Angriffskrieg verhindert, dieser Wille ist es, der für Kant, in diesem Text, durch die Begeisterung für die Revolution angezeigt wird. Und es ist wohlbekannt, daß diese beiden Elemente (die von den Menschen nach freiem Ermessen gewählte politische Verfassung und eine Verfassung, die den Krieg vermeidet) den Prozeß der Aufklärung selbst ausmachen, d. h. daß die Revolution eigentlich den Prozeß der Aufklärung selbst vollendet und weiter36
führt. In diesem Sinne sind auch sowohl die Aufklärung als auch die Revolution Ereignisse, die man nicht mehr vergessen kann: »Nun behaupte ich, dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen unserer Tage, die Erreichung dieses Zwecks und hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können", 29 d. h. sie wird einen solchen Zustand erreichen, daß die Menschen sich die Verfassung geben können, die sie wollen, und eine Verfassung, die Angriffskriege verhindern wird. Die in die Zukunft weisenden Zeichen unserer Epoche zeigen uns also, daß der Mensch dieses Ziel erreichen wird und daß zugleich seine Fortschritte von nun an nicht mehr in Frage gestellt werden. »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte. Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde, wenn die Revolution, oder Reform, der Verfassung eines Volkes gegen das Ende doch fehlschlüge, oder nachdem diese einige Zeit gewähret hätte, doch wiederum alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde (wie Politiker jetzt \\Oahrsagern), so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. - Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflusse nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern, bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu \Viederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollIe; da dann, bei einer für das Menschengeschlecht so wichtigen .-'l.ngelegenheit, endlich doch zu irgend einer Zeit die beabsich:igte Verfassung diejenige Festigkeit erreichen muß, welche die 37
Belehrung durch öftere Erfahrung in den Gemütern aller zu bewirken nicht ermangeln würde.«30 Ich glaube, daß dieser Text äußerst interessant ist, und zwar natürlich nicht nur innerhalb der Ökonomie des Kantschen Denkens, sondern in seiner Rolle als Vorhersage, als Prophezeiung über den Sinn und Wert, den nicht die Revolution als solche haben wird, die ohnehin Gefahr läuft, am Wegesrand liegenzubleiben, sondern die Revolution als Ereignis, als eine Art von Ereignis, dessen Inhalt selbst unwichtig ist, dessen Existenz in der Vergangenheit jedoch ein dauerndes Wirkungsvermögen begründet und für die zukünftige Geschichte die Garantie des Nichtvergessens und der Kontinuität einer Bewegung in Richtung des Fortschritts gibt. Ich wollte diesen Text Kants über die Aufklärung nur für Sie einordnen. In der folgenden Stunde werden wir versuchen, ihn ein wenig genauer zu lesen. Ich wollte diesen Text aber doch für Sie im Hinblick auf den Kontext einordnen, in dem er steht, im Hinblick auf seine Beziehung zum Publikum, seine Beziehung zur Aufklärung im Sinne Mendelssohns, im Hinblick auf die Art von Fragen, die er stellt, und die Tatsache, daß er gewissermaßen am Ursprung, am Ausgangspunkt einer ganzen Dynastie philosophischer Fragen steht. Denn mir scheint, daß diese beiden Fragen (Was ist die Aufklärung? und Was ist die Revolution ?), welche die beiden Formen sind, in denen Kant die Frage nach seiner eigenen Gegenwart gestellt hat, nicht aufgehört haben, wenn schon nicht die ganze moderne Philosophie seit dem 19. Jahrhundert, so doch zumindest einen Großteil dieser Philosophie zu beunruhigen. Immerhin hat die Aufklärung, und zwar sowohl als einzigartiges Ereignis, das die europäische Moderne eingeleitet hat, als auch als permanenter Prozeß, der sich in der Geschichte der Vernunft, in der Entwicklung und Einsetzung von Formen der Rationalität und Technik, in der Autonomie und Autorität des Wissens manifestiert und ausprägt, dies alles, diese Frage nach der Aufklärung - wenn Sie so wollen: nach der Vernunft und dem Gebrauch der Vernunft als historischem Problem - hat, so scheint
mir, das ganze philosophische Denken seit Kant bis heute durchdrungen. Die andere Gegenwart, der Kant begegnete, die Revolution - die Revolution sowohl als Ereignis, als Bruch und Umwälzung in der Geschichte, als Scheitern, und zwar als gleichsam notwendiges Scheitern, das aber zugleich einen Wert hat, und zwar einen operativen Wert für die Geschichte und den Fortschritt der Menschheit - ist ebenfalls eine große Frage der Philosophie. Und ich bin geneigt zu sagen, daß Kant im Grunde diese beiden Traditionen begründet hat, die beiden großen kritischen Traditionen, in die sich die moderne Philosophie aufgeteilt hat. Ich verweise darauf, daß Kant in seinem großen kritischen Werk - dem der drei Kritiken und insbesondere in der ersten Kritik - diese Tradition der kritischen Philosophie gesetzt und begründet hat, die die Frage nach den Bedingungen stellt, unter denen eine wahre Erkenntnis möglich ist. Und von da an kann man sagen, daß ein ganzer Teil der modernen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert sich als Analytik der Wahrheit dargestellt und entwickelt hat. Es ist diese Form der Philosophie, die man heute in der angelsächsischen analytischen Philosophie wiederfindet. Innerhalb der modernen und zeitgenössischen Philosophie gibt es jedoch eine andere Art von Frage, eine andere Weise der kritischen Fragestellung, nämlich die, die man gerade in der Frage nach der Aufklärung oder in dem Text über die Revolution entstehen sieht. Diese andere kritische Tradition stellt nicht die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine wahre Erkenntnis möglich ist. Sie ist eine Tradition, die folgende Fragen stellt: Was ist die Gegenwart? Was ist das gegenwärtige Feld unserer Erlebnisse? Was ist das gegenwärtige Feld möglicher Erlebnisse? Hier handelt es sich nicht um eine Analytik der Wahrheit, sondern um etwas, das man eine Ontologie der Gegenwart nennen könnte, eine Ontologie der Aktualität, eine Ontologie der Moderne, eine Ontologie unserer selbst. :\1ir scheint, daß die philosophische Entscheidung, mit der wir gegenwärtig konfrontiert sind, folgende ist. Entweder muß man
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sich für eine kritische Philosophie entscheiden, die sich als analytische Philosophie der Wahrheit im allgemeinen darstellt, oder für ein kritisches Denken, das die Form einer Ontologie unserer selbst annimmt, eine Ontologie der Gegenwart. Diese Form der Philosophie, von Hegel bis zur Frankfurter Schule über Nietzsche, Max Weber usw., hat eine Form der Reflexion begründet, der ich mich natürlich, in dem Maße, wie ich es vermag, anschließe.::Das war's. Wenn Sie wollen, werden wir fünf Minuten Pause machen, und dann werde ich zu einer gewissenhafteren Lektüre dieses Textes über die Aufklärung übergehen, dessen Umfeld ich zu skizzieren versucht habe.
Anmerkungen I »Am 30. [November I969J beschließt die Professorenversammlung des College de France, Jean Hyppolites Lehrstuhl für die Geschichte des philosophischen Denkens in einen Lehrstuhl für die Geschichte der Gedankensysteme umzuwandeln« (D. Defert, »Chronologie«, in: M. Foucault, Dits et Ecrits, 1954-1988, hg. v.D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Paris 1994, Bd. I, S. 3 5; dt. »Zeittafel«, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Bd. I, Frankfurt/M. 2001, S. 52). Zur Problematisierung einer »Geschichte des Denkens« vgl. insbesondere »Preface a l'Histoire de la sexualitri«, a. a. 0., Bd. IV, Nr.340, S. 579-580; dt. "Vorwort zu Sexualität und Wahrheit«, a. a. 0., Bd. 4, Nr. 340, S. 7°9-71 I. 2 M. Foucault, Histoire de la folie CI l'dge classique, Paris 1961; dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1978. 3 M. Foucault, Les Mots et les Choses, Paris 1966; dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971. 4 M. Foucault, Surveiller et Punir, Paris 1975; dt. Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976. Zur Gouvernementalität vgl. M. Foucault, Securitri, Territoire, Population, hg. v. M. Senellart, Paris 2004; dt. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/M. 2004. 5 V gl. die Bände II und III der Histoire de la sexualite (L'Usage des plaisirs, Le Souci de soi), Paris 1984; dt. Sexualität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste, Die Sorge um sich), Frankfurt/M. 1986. ". Mit Bezug auf Kant und sein Büchlein spricht das Manuskript von einem »Verankerungspunkt einer bestimmten Reflexionsform, der sich die Analysen anschließen, die ich unternehmen möchte«.
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6 Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, a. a. O. 7 1. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt/M. 1964, S.31-50. 8 Ebd., S.63-82 (erschienen im November 1785). 9 Ebd., S. 83-102 (erschienen im Januar 1786). 10 1. Kant, »Rezension zu Johann Gottfried Herders ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«<, ebd., S. 781-806 (veröffentlicht im Januar 1785 in der Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung). I I 1. Kant, Werke, Abhandlungen nach I781, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 157184 (erschienen im Januar/Februar 1788). 12 Zu dieser Strömung vgl. M. Pelli, The Age of Haskala: Studies in Hebrew Literature of the Enlightenment in Germany, Leyden 1979; G. Scholem, Fidelite et Utopie. Essais sur le judai"sme contemporain, übers. v. B. Dupuy, Paris 1978; A. Altmann, Moses Mendelssohn: A Biographical Study, London 1973; D. Boure!, »Les reserves de Mendelssohn. Rousseau, Voltaire et le juif de Berlin«, in: Revue internationale de philosophie, 1978, Bd. 24-125, S. 309-326. "3 Moses Mende!ssohn, Philosophische Gespräche, Berlin 1755· !..f :'v1oses Mendelssohn,ferusalem ou Pouvoir religieux et Judai"sme, übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen v. D. Bourel, mit einem Vorwort von E. Levinas, Paris 1982; dt.Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, hg. v. M. Albrecht, Hamburg 20°5. "5 Es handelt sich um einen Brief vom 12. Februar 1756, der an Johann Peter Uz adressiert ist. Eine vollständigere Fassung lautet: »Der Autor der philosophischen Gespräche und des kleinen Werkes über die Empfindungen ist kein eingebildeter Jude, sondern ein ganz wirklicher, noch sehr jung und von einer bemerkenswerten Geistesgröße. Er ist ohne Lehrer sehr weit in den Wissenschaften fortgeschritten, betreibt in seinen Mußestunden Algebra, wie wir Dichtung betreiben, und hat sein Brot seit seiner Jugendzeit in einem jüdischen Unternehmen verdient. Das zumindest sagt mir Herr Lessing über ihn. Sein Name ist :'v1oses. Maupertuis hat über ihn gescherzt, indem er sagte, daß es ihm zu einem großen Manne an nichts anderem als ein bißchen Vorhaut fehle« (zitiert in: D. Bourel, Moses Mendelssohn. La naissance du judai"sme moderne, Paris 2004, S. 109). ,61. Kant, Kants Briefwechsel, Bd. I, Brief vom 16. August 1783, Berlin und Leipzig, 1969, S.347. I::- Vgl. oben, Anm.9. IS Vgl. oben, Anm. 8. "9 V gl. oben, Anm-72::: Vgl. oben, Anm. I I. .:.I J. G. Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, Hamburg 1973. .:..: Foucault verwendet hier die Übersetzung von S. Piobetta (in: Kant, La Philosophie de l'histoire, Paris 1972, S. 163-179, dt. Der Streit der Fa-
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kultäten, in: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt/M. 1964,5.351-368). »Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise ... '< (Ebd. 5.357) Ebd., 5·357· Ebd. A.a.O., 5.358. Ebd. Ebd. A.a.O., 5·36I. A.a.O., 5.361-362.
Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar 1983, zweite Stunde)
Die Idee der Unmündigkeit: weder natürliche Ohnmacht noch Beraubung von Rechten durch eine Autorität. - Der Ausgang aus dem Zustand der Unmündigkeit und die Ausübung kritischer Tätigkeit. - Der Schatten der drei Kritiken. - Die Schwierigkeit der Emanzipation: Faulheit und Feigheit; angekündigtes Scheitern der Befreier. - Die Triebfedern des Zustands der Unmündigkeit: Überlagerung von Ausübung und Abwesenheit vernünftigen Denkens; Verwechslung von privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft. - Die problematischen Wendungen am Ende von Kants Text.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zu diesem Text über die Aufklärung möchte ich nun mit einer genaueren Untersuchung zumindest einiger wichtiger Passagen beginnen. Ein guter Teil des Textes bezieht sich sehr eingehend auf die Probleme der Gesetzgebung, und zwar der Religionsgesetzgebung, die sich in Preußen zu jener Zeit, d. h. um 1784, stellten, die ich aber beiseite lassen werde. Nicht weil sie nicht interessant oder nicht von Bedeutung wären, sondern weil wir hier ein Gebiet von Einzelheiten und historischer Präzisierung betreten würden, das ich, offen gestanden, nicht beherrsche. Wir werden darauf also nicht eingehen. Statt dessen werde ich mich an eine Reihe von anderen, theoretischen Punkten halten. Lesen wir also den Text, zumindest den ersten Absatz: »Was ist Aufklärung? [das war also die Frage, und die Antwort ist: Die Aufklärung ist - M. E] Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« 1 An dieser Stelle präzisiert Kant die beiden Bestandteile seiner Definition. Erstens bedeutet Unmündigkeit: »das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Die Unmündigkeit ist selbstverschuldet, da »die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner [des eigenen Verstandes; M.E] ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«2 Das ist also der Inhalt des ersten _-\bsatzes. 42
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Ich möchte mich zunächst beim ersten Wort aufhalten, das uns in der Definition der Aufklärung begegnet. Dieses erste Wort ist »Ausgang«. Darüber möchte ich eine Reihe von Bemerkungen machen. Sehr schematisch können wir sagen, daß in den philosophischen Spekulationen über die Geschichte - und im 18. Jahrhundert waren sie wahrhaft zahlreich - der gegenwärtige Augenblick gewöhnlich auf drei mögliche Weisen bezeichnet wurde. Entweder, indem man angab, in welchem Weltalter man sich gegenwärtig befand, ein bestimmtes Weltalter, das sich von den anderen durch irgendein eigentümliches Merkmal unterschied oder das sich durch ein bestimmtes dramatisches Ereignis auszeichnete. Gehört man beispielsweise einem Zeitalter der Dekadenz an oder nicht r:· Zweitens konnte die Bezeichnung der Gegenwart durch den Bezug auf ein mehr oder weniger bevorstehendes Ereignis erfolgen, dessen Vorzeichen man sehen konnte: ein Zustand des ewigen Friedens, wie früher das Reich der letzten Tage oder das dritte Weltalter. Oder aber man konnte die Gegenwart als einen Augenblick des Übergangs definieren, aber eines Übergangs, durch den man in einen stabilen, dauernden und vollendeten Zustand eintrat. Einen solchen Augenblick beschrieb beispielsweise Vico im letzten Kapitel der Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Das Kapitel trägt die Überschrift »Beschreibung der alten und neuen Völkerwelt, entworfen nach dem Plan der Prinzipien dieser Wissenschaft«.3 Er erinnert in diesem letzten Kapitel an das, was er als den allgemeinen Weg jeder Gesellschaft charakterisiert hatte: Aristokratie, dann Freiheit des Volkes, dann Monarchie. Zu Beginn dieses Kapitels erinnert er daran, wie Karthago, Capua, Numantia nicht in der Lage waren, diesen Weg zu Ende zu gehen. Allein Rom hätte es geschafft, und zwar zunächst durch einen Staat, in dem die Aristokratie herrschte, dann die Freiheit der Republik bis zu Augustus und schließlich eine Monarchie, die fortbestand, solange es möglich war, den inneren und äußeren Ur". Im Manuskript zitiert Foucault hier als Beispiel für diese Möglichkeit den Staatsmann Platons.
sachen zu widerstehen, die einen solchen Staat zerstören. Nun stehen wir heute, sagt Vico, an der Schwelle dieses Systems einer stabilen Monarchie, die genauso lange bestehen wird, wie innere und äußere Ursachen sie nicht zerstören. »Gegenwärtig scheint eine vollkommene Humanität über alle Nationen verbreitet, indem wenige große Monarchen diese Welt der Völker beherrschen«;4 und er beschreibt Europa als eine Art von zusammengesetzter Figur, bei der es aristokratische Regierungen im Norden, Volks regierungen in den Schweizer Kantonen und den Niederlanden und schließlich ein paar große Monarchien gebe, die das Vorbild des Staates bilden, auf den wir zustreben. »Doch überall strahlt das christliche Europa von solcher Humanität, daß es im Überfluß alle Güter besitzt, die das menschliche Leben beglücken können, nicht weniger in Bezug auf das Behagen des Körpers als in Bezug auf die Ergötzungen des Geistes und des Gemüts.«5 Nun muß man sich darüber im klaren sein, daß das, was Kant als die Zeit der Aufklärung bezeichnet, weder etwas ist, dem man zugehört, noch etwas, das bevorsteht oder das man schon erreicht hätte. Es ist nicht einmal ein Übergang von einem Zustand in einen anderen, was übrigens, genau genommen, immer wieder mehr oder weniger darauf hinausliefe, eine Zugehörigkeit, ein Bevorstehen oder etwas Erreichtes zu charakterisieren. Kant bestimmt die Gegenwart bloß als Ausgang, als eine Bewegung, durch die man sich von etwas befreit, ohne daß etwas darüber gesagt wäre, woraufhin man sich bewegt. Zweite Bemerkung: Dieser Ausgang ist der Ausgang, so Kant, des Menschen aus dem Zustand der Unmündigkeit heraus. ::-';un stellt sich auch hier ein Problem, das in der Frage besteht: \'7as ist dieser Mensch, der der Akteur des Ausgangs ist? Mit 8.,.'1deren Worten, handelt es sich um einen aktiven oder um einen passiven Prozeß? Wenn es in dem Text »der Ausgang des ~lenschen« heißt, kann das bedeuten, daß der Mensch sich durch einen Akt der Entscheidung dem Zustand, in dem er sich befand, tatsächlich entreißt. Es kann aber auch bedeuten, daß er in einem Prozeß befangen ist, der ihn mit sich führt und der
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ihn von innen nach außen trägt, von einem Zustand in einen anderen. Und dann muß man sich natürlich die Frage stellen, was dieser Mensch ist, der einen solchen Ausgang unternimmt. Soll man darunter die Menschheit als Gattung verstehen? Soll man die menschliche Gesellschaft als universelles Element auffassen, innerhalb dessen sich die Vernunft der verschiedenen Individuen begegnet? Handelt es sich um bestimmte menschliche Gesellschaften, die Träger dieser Werte sind? Oder handelt es sich um Individuen, um welche Individuen usw. ? Der Text spricht bloß vom »Ausgang des Menschen«. Die dritte Bemerkung und die dritte Fragestellung beziehen sich schließlich auf das Ende des Absatzes. Denn einerseits, wenn man den Anfang des Absatzes und den Anfang der Bestimmung betrachtet, wird die Aufklärung charakterisiert als »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Und man hat den Eindruck, wenn man diesen Anfang liest, daß Kant hier eine Bewegung meint, eine Bewegung des Ausgangs, eine Befreiung, die sich gerade vollzieht und die eben das bedeutsame Element unserer Gegenwart ausmacht. Nun erscheint aber am Ende des Absatzes eine ganz andere Art von Diskurs. Es handelt sich nicht mehr um einen beschreibenden Diskurs, sondern um einen vorschreibenden. Kant beschreibt nicht mehr, was sich ereignet, sondern er sagt: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung«. Nun, wenn ich sage, daß das eine Vorschrift ist, dann ist es doch in Wirklichkeit etwas komplizierter. Er verwendet das Wort »Wahlspruch«, was Motto oder Wappen bedeutet. Der Wahlspruch ist eigentlich eine Maxime, ein Gebot, eine Anordnung, die gegeben wird, und zwar den anderen und sich selbst. Zugleich ist er aber - und in diesem Sinne ist das Gebot des Wahlspruchs ein Motto und ein Wappen - etwas, wodurch man sich identifiziert und das erlaubt, sich von den anderen zu unterscheiden. Der Gebrauch einer Maxime als Gebot ist also zugleich eine Aufforderung und ein Unterscheidungszeichen. Was Kant meinen könnte, wenn er von der Aufklärung als »Ausgang des Men-
schen aus seiner Unmündigkeit« spricht, erscheint durch das alles, wie Sie sehen, weder sehr leicht noch sehr klar. Das sind also einige Überblicksfragen. Versuchen wir nun, ein wenig mehr in den Text hineinzukommen und zu sehen, wie diese Beschreibung zugleich eine Vorschrift sein kann; was dieser Mensch ist, der den Ausgang vollziehen soll; und worin der Ausgang besteht, da das die drei Fragen waren, denen wir eben begegnet sind. Der erste Punkt, den wir aufhellen müssen: Was versteht Kant unter diesem Zustand der Unmündigkeit, von dem er spricht und von dem er sagt, daß der Mensch dabei sei, aus ihm herauszutreten, und von dem er ebenfalls sagt, daß der Mensch aus ihm heraustreten muß, da er den Menschen auffordert, aus ihm herauszutreten? Erstens darf dieser Zustand der Unmündigkeit nicht mit einer natürlichen Ohnmacht verwechselt werden. Er ist nicht so etwas wie die Kindheit des Menschen. Weiter unten im Text gebraucht er einen Ausdruck, den die französischen Übersetzer (es gibt zwei französische Übersetzungen 6 ) nicht sehr gut wiedergegeben haben. Es handelt sich um das deutsche Wort »Gängelwagen«, das jene kleinen Wagen bezeichnet, die man im r8.Jahrhundert verwendete - um die Kinder abzusichern, setzte man sie in eine Art von Trapez mit Rädern, das ihnen das Laufen ermöglichte. Er sagt, daß sich die Menschen derzeit in einer Art von Gängelwagen befinden (es handelt sich keineswegs um den Schlitten [brancardJ oder das Laufgitter [parc]/ von dem die Übersetzungen sprechen), was wohl nahelegt, daß der Mensch sich gegenwärtig noch im Zustand der Kindheit befindet. Kant sagt jedoch zu Beginn des zweiten Absatzes, daß dieser Zustand der Unmündigkeit, in dem der Mensch sich befindet, tatsächlich insofern kein Zustand natürlicher Ohnmacht ist, als die Menschen völlig in der Lage sind, sich selbst zu steuern. Dazu sind sie im Prinzip voll und ganz fähig, und es ist nur ein bestimmter Faktor - den man bestimmen muß: ein Fehler, ein Mangel oder ein Wille bzw. eine bestimmte Form des Willens -, der dafür verantwortlich ist, daß sie eben faktisch nicht dazu in der Lage sind. Verwech-
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seln wir also diesen Zustand der Unmündigkeit nicht mit dem, was manche Philosophen als Zustand der natürlichen Kindheit einer Menschheit bezeichnet haben, die noch nicht die Mittel und Möglichkeiten ihrer Selbstbestimmung erworben hat. Zweitens, wenn es bei diesem Begriff der Unmündigkeit nicht um eine natürliche Ohnmacht geht, handelt es sich dann wohl um einen juristischen oder politisch-juristischen Begriff, der sich auf die Tatsache bezieht, daß die Menschen derzeit der legitimen Ausübung ihrer Rechte aufgrund irgendeines Umstandes beraubt sind oder daß sie absichtlich auf ihre Rechte in einem ursprünglichen Gründungsakt verzichtet haben oder daß man sie dieser Rechte durch irgendeine List oder durch Gewalt beraubt hat? Aber auch hier muß bemerkt werden, daß das nicht die Dinge sind, von denen Kant spricht. Er sagt es übrigens selbst ausdrücklich: Wenn die Menschen sich in diesem Zustand der Unmündigkeit befinden, wenn sie sich der Leitung anderer unterstellen, dann nicht deshalb, weil die anderen die Macht erobert hätten, und auch nicht, weil man ihnen diese Macht in einem grundlegenden Abkommen verliehen hätte. Der Grund der Unmündigkeit liegt darin, daß die Menschen nicht imstande sind, sich selbst zu führen oder es nicht wollen und daß andere entgegenkommenderweise sich erboten haben, sie unter ihre Führung zu stellen. 8 Er bezieht sich auf einen Akt oder vielmehr eine Einstellung, auf eine Verhaltensweise, eine Form des Willens, die allgemein und dauerhaft ist und die noch nicht gleich ein Recht schafft, sondern bloß eine Art von faktischem Zustand, in dem manche durch Gefälligkeit und in gewissem Sinne durch eine Bereitwilligkeit, die einen leichten Hauch von List und Schläue hat, einfach die Führung der anderen übernommen haben. Was aber noch deutlicher zeigt, daß es sich nicht um die Beraubung eines Rechts handelt, daß es in keiner Weise um den Zustand juristischer Unmündigkeit geht, in dem die Menschen unfähig wären und der Fähigkeit beraubt, die Macht, die ihnen gehört, zu nutzen, sind die Beispiele, die Kant für diesen Zustand der Unmündigkeit gibt: »Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat«, »einen Seelsorger, der 48
für mich Gewissen (moralisches Gewissen) hat«, »einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt«, so »brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.«9 Und das illustriert für Kant den Zustand der Unmündigkeit. Ein Buch als einen Ersatz für den Verstand zu nehmen, einen Seelsorger als Ersatz für das Gewissen zu mehmen, einen Arzt zu nehmen, der die Diät vorschreibt, das charakterisiert, illustriert und manifestiert auf konkrete Weise, was es heißt, sich in einem Zustand der Unmündigkeit zu befinden. Sie sehen deutlich, daß es sich überhaupt nicht um eine natürliche Abhängigkeit handelt, und auch nicht um eine Situation, in der das Individuum sich seiner Rechte durch irgendeine (juristische oder politische) Enteignung beraubt sähe. Sie sehen auch, daß es nicht einmal um eine Form von Autorität geht, die Kant selbst als illegitim ansehen würde. Er hat es nie als illegitim betrachtet, daß es Bücher gibt oder daß man welche liest. Er würde auch zweifellos nicht gemeint haben, es illegitim sei, einen Seelsorger zu haben, und auch nicht, an einen Arzt zu wenden. Aber worin besteht dann der Zustand der Abhängigkeit? In der Art und Weise, wie das Indi\'iduum diese drei Autoritäten gegenüber sich selbst ins Spiel :,ringt: die des Buches, die des Seelsorgers und die des Arztes; :n der Art und Weise, wie das Individuum seinen eigenen Vers:and durch das Buch ersetzt, welches es an die Stelle seines eigenen Verstandes treten läßt. Es ist die Art und Weise, wie es das moralische Gewissen eines Seelsorgers, der ihm sagt, was es zu tun hat, an die Stelle seines eigenen Gewissens setzt. Und schließlich ist es eine bestimmte Art und Weise, sich des eigenen technischen Wissens für das eigene Leben zu bedienen, :'urch die es das Wissen eines Arztes an die Stelle dessen setzt, "':';2.S es selbst über sein eigenes Leben wissen, entscheiden und ·.·orhersagen kann. glaube nun, daß es keine Überinterpretation des Textes ::arstellt, wenn man meint, hinter diesen drei Beispielen, die -'.:1scheinend äußerst schlicht und gewöhnlich sind (das Buch, iö'r Seelsorger, der Arzt), die drei Kritiken wiederzufinden. Einerseits wird die Frage nach dem Verstand gestellt; im zweiten 49
Beispiel die Frage nach dem Seelsorger, das ist das Problem des moralischen Gewissens; und in der Frage nach dem Arzt sehen Sie zumindest eines der Kernstücke, die später den charakteristischen Bereich der Kritik der Urteilskraft bilden werden. Drei konkrete Beispiele, drei Beispiele ohne den gewöhnlich strahlenden philosophischen, juristischen oder politischen Status, nämlich das Buch, der Seelsorger und der Arzt. Aber es sind die drei Kritiken. Mir scheint, daß man diese Analyse der Unmündigkeit mit Blick auf die drei Kritiken lesen muß, die in dem Text untergründig und implizit vorhanden sind. Und dann sehen Sie auch, wie das kritische Unternehmen und der Prozeß der Aufklärung sich gegenseitig ergänzen, aufeinander angewiesen sind und sich aufeinander berufen. Was ist denn in der Tat die Kritik der reinen Vernunft, wenn nicht das, was uns lehrt, von unserem Verstand einen rechtmäßigen Gebrauch zu machen. Wenn aber von unserem Verstand in den Grenzen Gebrauch gemacht werden soll, die von der Analytik der Vernunft aufgezeigt werden, dann müssen wir auch konkret, persönlich und individuell von unserem Verstand einen selbstbestimmten Gebrauch machen, ohne uns auf die Autorität eines Buches zu beziehen. Diese beiden Seiten - die Seite der Kritik und die der Aufklärung, sozusagen der Frage nach dem Verstand (seinen Verstand nur innerhalb der rechtmäßigen Grenzen zu gebrauchen, aber einen selbständigen Gebrauch von unserem Verstand zu machen) - diese beiden Notwendigkeiten, Verpflichtungen, Prinzipien entsprechen einander, und zwar nicht nur in Form einer Komplementarität (überschreiten Sie die Grenzen nicht, sondern gebrauchen Sie Ihren Verstand auf selbständige Weise), sondern auch insofern, als man sich gerade deshalb auf eine Autorität beruft, weil man die rechtmäßigen Grenzen der Vernunft überschreitet, eine Autorität, die uns gerade in den Zustand der Unmündigkeit versetzen wird. Die kritischen Grenzen zu überschreiten und sich der Autorität eines anderen zu unterstellen, das sind die beiden Seiten dessen, wogegen Kant sich in der Kritik erhebt, dasjenige, von dem der Prozeß der Aufklärung selbst uns befreien 5°
soll. Die kritische Reflexion und die Analyse der Aufklärung oder vielmehr die Einfügung der Kritik in den geschichtlichen Prozeß der Aufklärung wird hier zumindest andeutungsweise bezeichnet. Dasselbe könnte man über das zweite Beispiel, das des Seelsorgers, das des Gewissens sagen. Die Kritik der praktischen Vernunft lehrt uns, daß wir unsere Pflicht nicht von unserem späteren Schicksal abhängig machen dürfen. Zugleich sollen wir einsehen, daß wir unser eigenes Gewissen gebrauchen sollen, :Im unser Verhalten zu bestimmen. Auch hier fällt die Komplementarität auf: Wenn wir unsere Pflicht nicht von der reinen Form des Imperativs, sondern von dem abhängig machen, was ,,;ir für unser späteres Schicksal halten, vertrauen wir in diesem Augenblick die Bestimmung unseres Verhaltens nicht uns selbst an, worin die Mündigkeit bestehen würde, sondern ei'lem Seelsorger, einem Seelsorger, der uns in manchen Fällen 'l:itzlich sein kann, der aber nicht das Prinzip unseres Willens sein darf. Zu einem solchen Prinzip wird er jedoch, wenn wir ':ersuchen, unser moralisches Verhalten auf das zu gründen, "'·2.S unser späteres Schicksal sein mag. Man sieht also, wie sich deutliche, wenn auch unaufdringliche Weise die Beziehung zv,-ischen der Begrenzung, die wir in der kritischen Reflexion '.:.ben sollen, und der Verselbständigung durch den Prozeß der ,.\..:Ifklärung abzeichnet. Der Ausgang aus der Unmündigkeit :::nd die Ausübung der kritischen Aktivität sind, glaube ich, zwei miteinander verbundene Operationen, deren Verbindung ::1 diesen drei Beispielen oder zumindest in den ersten beiden erscheint. !):ese Beziehung der Zusammengehörigkeit zwischen der Kri::k und der Aufklärung - eine implizite Beziehung - wird zwar ,~icht formuliert. Ich habe jedoch den Eindruck, daß man die irkungen und gleichsam den Widerhall durch den ganzen Text hindurch finden kann. Wenn Kant nachdrücklich betont, - der Zustand der Unmündigkeit seinen Grund nicht in ansondern im jeweiligen Menschen selbst hat, haben wir :-c:er, so scheint mir, einen Widerhall, etwas, das gleichsam in 5I
empirischen Begriffen dem entspricht, was die Kritik zu analysieren versuchte, als sie darauf abzielte, nicht die überkommenen, eingewurzelten und geglaubten Irrtümer zu widerlegen, sondern zu zeigen, wie und aus welchen Gründen notwendigerweise die Trugbilder entstehen, die wir uns machen. Ebenso, wenn Kant in seinem Text über die Aufklärung sagt, daß die Menschen ihren eigenen Zustand der Unmündigkeit selbst verschuldet haben - bis zu einem solchen Grad, daß, wenn man sie befreite und sie irgendwie auf autoritäre Weise aus ihrem Gängelwagen (dem Wagen, der sie wie die Kinder leitet) herausholte, sie in diesem Fall Angst hätten hinzufallen. Sie wären nicht in der Lage zu gehen und selbst die leichtesten Gräben zu überschreiten. Sie würden hinfallen. Mir scheint, daß wir hier so etwas wie das symmetrische und umgekehrte Bild des berühmten Fluges der Vernunft haben, die, indem sie über ihre Grenzen hinausgeht, nicht einmal mehr weiß, daß kein Luftdruck sie mehr stützen kann. Jedenfalls ist das System von Echos zwischen der Kritik und dieser Analyse der Aktualität der Aufklärung in dem Text ziemlich deutlich. Unaufdringlich zwar, aber deutlich. Wie dem auch sei, so können wir doch zumindest von diesen Beziehungen zwischen der Kritik und der Aufklärung, von diesem Anfang des Textes ausgehend, ganz allgemein als erstes festhalten, daß die Unmündigkeit, aus der die Aufklärung uns herausführen soll, sich durch eine Beziehung zwischen dem Gebrauch, den wir von unserer eigenen Vernunft machen oder machen könnten, und der Leitung der anderen bestimmt. Der Zustand der Unmündigkeit wird gerade durch diese Beziehung, diese verdorbene Beziehung zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen charakterisiert. Zweitens, woher rührt diese Überlagerung der Leitung der anderen über den Gebrauch, den wir von unserem eigenen Verstand oder Gewissen usw. machen könnten und sollten? Sie geht nicht auf die Gewalt einer Autorität zurück, sondern hat ihren Ursprung nur in uns selbst, in einem bestimmten Verhältnis zu uns selbst. Und dieses Verhältnis zu uns selbst charakterisiert 52
Kant durch Ausdrücke, die dem Register der Moral entlehnt sind. Er spricht von »Faulheit« und »Feigheit«.l0 Ich glaube, daß er damit - man sollte darauf näher eingehen - nicht moralische Schwächen im Blick hat, sondern eine Art von Mangel im Verhältnis der Autonomie zu sich selbst. Die Faulheit und die Feigheit sind dasjenige, weshalb wir uns nicht selbst zu der Entscheidung, der Kraft und dem Mut durchringen, mit uns selbst jene Beziehung der Autonomie zu unterhalten, die uns erlaubt, uns unserer Vernunft und unserer Moral zu bedienen. Folglich besteht das Ziel der Aufklärung gerade in der Neuverteilung der Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen. Wie sieht diese Neuverteilung, die bereits eingesetzt hat, nach Kant aus? Wie vollzieht sie sich, und wie soll sie sich vollziehen - da wir es ja zugleich mit einer Beschreibung und einer Vorschrift zu tun haben? _\n dieser Stelle nimmt nun der Text eine sehr seltsame Wendung. Erstens stellt Kant fest, daß die Individuen aus sich selbst nicht imstande sind, aus ihrem Zustand der Unmündigkeit herauszutreten. Warum sind sie dazu nicht imstande? Genau aus denselben Gründen, die schon angegeben wurden und die erklären, warum man sich im Zustand der Unmündigkeit befindet und warum die Menschen diesen Zustand selbst verschuldet haben. Nämlich weil sie feige und faul sind, weil es ihre eigene Angst ist. Ich wiederhole, selbst wenn sie von ihren Fesseln befreit werden, selbst wenn sie von dem befreit werden, was sie hindert, selbst wenn sie von dieser Autorität berreit werden, würden sie nicht die Entscheidung auf sich nehmen, auf ihren eigenen Beinen zu gehen, und würden hinfallen, nicht weil die Hindernisse zu groß wären, sondern weil sie _\ngst hätten. Wir befinden uns im Zustand der Unmündig:.:::eit, weil wir feige und faul sind, und wir können diesen Zustand gerade deshalb nicht verlassen, weil wir feige und faul sind. ~as ist dann die zweite Hypothese, die von Kant erwähnt v.-ird: Wenn die Menschen nicht in der Lage sind, von sich aus :;-Lren Zustand der Unmündigkeit zu verlassen, gibt es dann In53
dividuen, die aufgrund ihrer Autorität, durch ihre Einwirkung auf die anderen in der Lage sind, sie aus dem Zustand der Unmündigkeit zu befreien? Kant spricht von Individuen, die selbst denken, d. h. die als einzelne dieser Faulheit und Feigheit wirklich entkommen konnten und die, da sie selbständig denken, die Autorität gegenüber den anderen übernehmen würden, die diese gerade fordern. Es handelt sich also um jene Leute, die sich entgegenkommenderweise - sagte Kant weiter oben ironisch - der Leitung der anderen annehmen. l l Während sie sich aber der Leitung der anderen annehmen, indem sie sich auf ihre eigene Autonomie stützen, entschließen sich manche dieser Leute, die sich ihres eigenen Werts und »des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken«,12 bewußt sind, die Rolle von Befreiern gegenüber den anderen zu spielen. Sie denken also selbst und stützen sich auf diese Autonomie, um gegenüber den anderen die Autorität zu übernehmen. Aber dieser Autorität gegenüber den anderen bedienen sie sich auf solche Weise, daß das Bewußtsein ihres eigenen Werts gewissermaßen ausströmt und zur Feststellung und Behauptung des Willens jedes Menschen wird, es ihnen gleichzutun, d. h. selbst zu denken. Nun sind jedoch diese Individuen, so Kant, die sich wie geistige oder politische Führer der anderen verhalten, in Wirklichkeit nicht in der Lage, die Menschheit aus der Unmündigkeit herauszuführen. Warum sind sie dazu nicht in der Lage? Gerade deshalb, weil sie damit begonnen haben, die anderen ihrer eigenen Autorität zu unterstellen, so daß diese anderen, da sie an das Joch gewöhnt sind, die Freiheit und Befreiung, die man ihnen zuteil werden läßt, nicht ertragen. Sie zwingen und nötigen jene, die sie befreien wollen, weil sie sich selbst befreit haben, sich diesem Joch zu unterwerfen, das sie aus Feigheit und Faulheit akzeptieren, diesem Joch, das sie als von einem anderen ausgehend akzeptiert haben und dem sie ihn nun unterwerfen wollen. Folglich ist es ein Gesetz aller Revolutionen - das wurde 1784 geschrieben -, daß diejenigen, die sie vom Zaun brechen, notwendigerweise unter das Joch jener fallen, die sie befreien wollten. 54
Da es also nicht die Menschen selbst sind, da es nicht ein Teil der Menschen ist, der diesen Prozeß der Umwandlung, des Ausgangs aus dem Zustand der Unmündigkeit in einen Zustand der Mündigkeit ausführt, nun, sagt Kant, um zu sehen, wie die Aufklärung, die Befreiung, der Ausgang aus der Unmündigkeit zu bewerkstelligen seien, muß man genau zusehen, was den Zustand der Unmündigkeit ausmacht. Und er sagt, daß der Zustand der Unmündigkeit sich durch die Bildung zweier nicht zusammenpassender und unrechtmäßiger Paarungen auszeichnet: erstens die Paarung zwischen dem Gehorsam und der Abwesenheit vernünftigen Denkens; zweitens die Paarung oder zumindest die Vermischung zweier Dinge, die yoneinander unterschieden werden müssen: das Private und das Öffentliche. Zunächst zum ersten Paar, das in folgendem besteht. In den Gesellschaften, die wir kennen, räumt man ein - das wollen die Regierenden zumindest glauben machen, aber dieser Glaube wird auch von der Feigheit und der Faulheit der Regierten geteilt -, daß es nur da Gehorsam geben kann, wo es an vernünftigem Denken fehlt. Und Kant gibt drei Beispiele dafür anY das Beispiel der Offiziere, die zu ihren Soldaten sagen: Räson:liert nicht, sondern gehorcht; das Beispiel des Geistlichen, der zu den Gläubigen sagt: Räsonniert nicht, sondern glaubt; das Beispiel des Finanzbeamten, der sagt: Räsonniert nicht, sondern bezahlt. Das verwendete Wort ist Räsonnieren, das in den Kritiken, wie Sie wissen, aber vor allem in der Kritik der reinen 1"ernunft den besonderen Sinn von »Vernünfteln«14 hat, das hier jedoch im Sinne von »seine Fähigkeit zu vernünftigem Denken zu gebrauchen« zu verstehen ist. In dieser Struktur des Zustands der Unmündigkeit haben wir also diese Zusammengehörigkeit des Gehorsams und der Abwesenheit des Räson~7ieTens - des Gebrauchs der Fähigkeit zu vernünftigem Denken. Tatsächlich gibt es, so Kant, nur ein einziges Wesen in der - er sagt nicht, welches - nur einen einzigen» Herrn in der \'';"elt«,15 der imstande wäre zu sagen: Räsonniert, so viel ihr aber gehorcht. Natürlich stellt sich die Frage, wer dieser 55
Herr ist, dieser einzige Herr in der Welt, der sagt: Räsonniert so viel ihr wollt, aber gehorcht. Ist es Gott, ist es die Vernunft selbst, ist es der König von Preußen? Sie werden sehen, daß es gewiß nicht der erste, teilweise die zweite und vor allem der dritte ist. Das zweite Paar, das den Zustand der Unmündigkeit charakterisiert, ist das Paar, das von den beiden Bereichen des Privaten und des Öffentlichen gebildet wird, des Privaten und des Publikums (jenes berüchtigten Publikums, von dem wir vorhin sprachen). Aber hier muß man große Vorsicht walten lassen. Wenn Kant das Private vom Öffentlichen unterscheidet, hat er keinesfalls oder zumindest nicht in erster Linie zwei Handlungsbereiche im Auge, von denen der eine aus einer Reihe von Gründen öffentlich, während der andere aus entgegengesetzten Gründen privat wäre. Das, worauf er die Bezeichnung »privat« anwendet, ist nicht ein Bereich von Dingen, sondern ein gewisser Gebrauch, und zwar ein Gebrauch von Fähigkeiten, über die wir verfügen. Und was er »öffentlich« nennt, ist weniger ein genau bestimmter Bereich von Dingen oder Tätigkeiten, sondern eine bestimmte Art und Weise, von unseren Fähigkeiten Gebrauch zu machen und sie zur Anwendung zu bringen. Worin besteht der private Gebrauch dieser Fähigkeiten? In bezug worauf machen wir Gebrauch von den Fähigkeiten, den Kant den privaten Gebrauch nennt? Nun, in unserer beruflichen Tätigkeit, in unserer öffentlichen Tätigkeit, wenn wir Beamte sind, wenn wir Bestandteile einer Gesellschaft oder Regierung sind, deren Prinzipien und Ziele die des kollektiven Wohls sind. Mit anderen Worten - und hier gibt es einen kleinen Trick oder eine kleine Abweichung gegenüber der sonstigen Verwendung derselben Wörter -, was er das Private nennt, ist im Grunde das, was wir den öffentlichen oder zumindest den beruflichen Bereich nennen würden. Und warum nennt er diesen Bereich privat? Einfach aus folgendem Grund. Was sind wir eigentlich in allen diesen Tätigkeitsformen, bei dem Gebrauch, den wir von unseren Fähigkeiten als Beamte machen, 56
wenn wir einer Institution oder einer politischen Körperschaft angehören? Wir sind bloß, so Kant, »Teile einer Maschine«.16 \\;'ir sind Teile einer Maschine, die sich an einem bestimmten Ort befinden und eine bestimmte Rolle spielen, während es andere Teile der Maschine gibt, die andere Rollen zu spielen haben. In diesem Sinne fungieren wir nicht als universelles Subjekt, sondern als Individuum. Und wir müssen einen genau bestimmten Gebrauch von unserer Fähigkeit innerhalb eines Ganzen machen, das selbst eine globale und kollektive Funktion erfüllt. Darin besteht der private Gebrauch. '\'fas ist nun aber der öffentliche Gebrauch? Das ist gerade der Gebrauch, den wir von unserem Verstand und unseren Fähigkeiten machen, insofern wir uns auf einen universellen Standpunkt stellen, insofern wir als universelles Subjekt gelten können. Nun ist jedoch klar, daß keine politische Tätigkeit, keine \,-erwaltungstätigkeit, keine Form ökonomischer Praxis uns in ,iiese Lage des universellen Subjekts versetzt. Unter welchen Bedingungen konstituieren wir uns selbst dann als universelles S'Jbjekt? Nun, genau dann, wenn wir uns als vernünftiges Suban die Gesamtheit der vernünftigen Wesen richten. Bloß in dieser Tätigkeit, die gerade und schlechthin die des Schriftstel:ers ist, der sich an den Leser wendet, in diesem Augenblick be§:egnen wir einer Dimension des Öffentlichen, die zugleich die Dimension des Universellen ist. Oder vielmehr begegnen wir einer Dimension des Universellen, und der Gebrauch, den wir in dieser Situation von unserem Verstand machen, kann und muß ein öffentlicher Gebrauch sein. Folglich können wir jetzt sehen, worin die Unmündigkeit beseeht und worin der Ausgang aus der Unmündigkeit bestehen ",-ird. Unmündigkeit liegt immer dann vor, wenn man das Prinzio des Gehorsams - der mit dem Nicht-Gebrauch der Verdurcheinander gebracht wird - nicht nur dem privaten Gebrauch, sondern auch dem öffentlichen Gebrauch unseres "erstandes überlagert. Wenn Gehorchen mit dem Nicht-Ge::lrauch der Vernunft verwechselt wird und wenn man durch diese Verwechslung des Gehorchens und des Nicht-Gebrauchs 57
der Vernunft das unterdrückt, was der öffentliche und universelle Gebrauch unseres Verstandes sein sollte, dann liegt Unmündigkeit vor. Dagegen liegt Mündigkeit vor, wenn gewissermaßen die richtige Gliederung zwischen diesen beiden Paaren wiederhergestellt wird: Wenn der vom Gebrauch der Vernunft wohl getrennte Gehorsam gänzlich und unbedingt für den Privatgebrauch gilt (d. h. wenn wir als Staatsbürger, als Beamte, als Soldaten, als Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft usw. gehorchen) und wenn andererseits der Gebrauch der Vernunft sich in der Dimension des Universellen abspielt, d. h. in der Öffnung auf ein Publikum, demgegenüber keinerlei Pflicht besteht oder vielmehr keinerlei Beziehung des Gehorsams oder der Autorität. In der Unmündigkeit gehorcht man in jedem Fall, sei es im privaten oder im öffentlichen Gebrauch, und folglich räsonniert man nicht. In der Mündigkeit entkoppelt man den Gebrauch der Vernunft und den Gehorsam. Man macht den Gehorsam im Privatgebrauch und die totale und unbedingte Freiheit des Räsonnierens im öffentlichen Gebrauch geltend. Sie sehen, daß wir hier die Definition der Aufklärung haben. Und Sie sehen, daß die Aufklärung, Kant sagt es selbst, das genaue Gegenteil der »Toleranz« istY Was ist denn eigentlich die Toleranz? Die Toleranz ist gerade das, was das Räsonnieren, die Diskussion, die Freiheit zu denken in ihrer öffentlichen Form ausschließt, und diese Freiheit nur im persönlichen, privaten und verborgenen Gebrauch akzeptiert bzw. toleriert. Die Aufklärung wird dagegen der Freiheit die Dimension der größten Öffentlichkeit in Form des Universellen geben und den Gehorsam nur in jener Privatrolle, d. h. jener Sonderrolle aufrechterhalten, die innerhalb des Gesellschaftskörpers bestimmt ist. Darin soll also der Prozeß der Aufklärung, der Neuverteilung der Regierung des Selbst und der anderen, bestehen. Wie soll sich aber diese Operation vollziehen, was soll ihr Akteur sein? An dieser Stelle wendet sich der Text um, und zwar derart, daß bis zu einem gewissen Punkt der größte Teil der Prinzipien, auf denen seine Analyse aufgebaut war, in Frage gestellt wird, was 58
bis zu einem gewissen Grad den möglichen Ort des Textes über die Revolution bezeichnet. Wie vollzieht sich also nach Kant der Ausgang? Vollzieht er sich überhaupt schon? Und wo stehen wir mit ihm? Welches ist in diesem Prozeß des Ausgangs der Punkt der Gegenwart? Auf diese Frage gibt Kant eine vollkommen tautologische Antwort und drückt eigentlich nichts weiter als die Frage aus. Er sagt: Wir sind »unterwegs zur Aufklärung«.18 Der deutsche Text sagt sehr genau: Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung. Auf die Frage: »Was ist die Aufklärung und wo stehen wir in diesem Prozeß der Aufklärung?« begnügt er sich damit, als Antwort zu geben: Wir befinden uns in einem Zeitalter der Aufklärung. Gm jedoch dieser Frage einen solchen Inhalt zu geben, bringt Kant eine Reihe von heterogenen Elementen ins Spiel, die abermals die Grundanordnung seiner Analyse in Frage stellen. Erstens sagt er: Es gibt gegenwärtig Zeichen, die diesen Prozeß der Befreiung ankündigen, und diese Zeichen deuten darauf daß »Hindernisse«19 im Wege stehen, die bisher dem Gebrauch der Vernunft durch den Menschen entgegenstanden. Nun wissen wir aber, daß es keine Hindernisse für den Gebrauch der Vernunft durch den Menschen gibt, da es der :\Iensch selbst ist, der durch seine Feigheit und Faulheit keinen Gebrauch von seiner Vernunft macht. Hier also macht Kant ::un das Bestehen von Hindernissen geltend. Zweitens, nachdem er ziemlich ausführlich gesagt und gezeigt hat, daß es kei:::en individuellen Akteur oder individuelle Akteure dieser Be=::-eiung geben kann, bringt er ausgerechnet den König von Preußen ins Spiel. Er bringt Friedrich von Preußen ins Spiel, ';0n dem er sagt - und in dieser Hinsicht ist Friedrich von Preuein Akteur, der Akteur der Aufklärung selbst -, daß er in Rdigionsfragen keine Vorschriften gemacht hat. Das gilt auch den Bereich der Wissenschaften und Künste,20 aber, sagt der ein besonderes Problem mit der Religionsgesetzge:".ll1g zu bereinigen hat, im Bereich der Wissenschaften und :~:inste werden dadurch nur wenige Probleme aufgeworfen, :.::::d es ist relativ einfach. Im Bereich der Religion also, wo viel 59
mehr Gefahren lauern, hat Friedrich von Preußen im Gegensatz zu seinem Nachfolger keine Vorschriften gemacht. Andererseits hat er aber die »öffentliche Ruhe« seines Staats durch eine starke und »wohldisziplinierte«21 Armee gesichert. In dieser völligen Freiheit, die Diskussion über die Religion zu führen, begleitet von der Einrichtung einer starken Armee, die die öffentliche Ruhe sichert, haben wir durch die Entscheidung Friedrichs von Preußen und seine Art zu regieren genau jene Justierung zwischen einer Regierung des Selbst, die sich in der Form des Universellen vollzieht (als öffentliche Diskussion, öffentliches Räsonnieren und öffentlicher Gebrauch des Verstandes), und andererseits dem Gehorsam, zu dem alle diejenigen gezwungen sind, die einer bestimmten Gesellschaft, einem bestimmten Staat, einer bestimmten Verwaltung angehören. Friedrich von Preußen ist das Antlitz der Aufklärung selbst, ihr wesentlicher Akteur, der, wie es sich gehört, das Spiel zwischen Gehorsam und Privatgebrauch, Universalität und öffentlichem Gebrauch neu verteilt. Schließlich - und an dieser Stelle endet Kants Text - erwähnt er nach der Rolle Friedrichs von Preußen als Akteur der Aufklärung eine Art von Bündnis, welches das, was er gerade gesagt hat, auf eine dritte Weise in Frage stellt. Er hat es dadurch in Frage gestellt, daß er sagte, Hindernisse würden sich einstellen. Er hat seine eigene Analyse in Frage gestellt, indem er Friedrich von Preußen die Rolle eines einzelnen spielen ließ. Und nun in der Schlußfolgerung stellt er die genaue Aufteilung zwischen dem, was zur öffentlichen Diskussion und zum selbständigen Gebrauch des Verstands einerseits und zum Gehorsam und Privatgebrauch andererseits gehört, in Frage. Er erwähnt, was er für die wohltuenden Wirkungen jener Öffnung einer öffentlichen Dimension für den Gebrauch der Vernunft hält. Und er sagt - in einer Textstelle, die übrigens recht dunkel ist, die man aber so interpretieren kann -, daß gerade dadurch, daß man die Freiheit des öffentlichen Denkens so weit wie möglich anwachsen läßt, und dadurch, daß man diese freie und selbständige Dimension des Universellen für den Gebrauch des Verstandes eröffnet, dieser 60
-",·stand mehr oder weniger klar und eindeutig beweisen wird, die Notwendigkeit zu gehorchen sich in der Ordnung der ~:':rgerlichen Gesellschaft aufdrängt. 22 Je mehr Freiheit man <:e:n Denken lassen wird, umso sicherer kann man sein, daß der Geist des Volkes zum Gehorsam gebildet wird. Auf diese Weis:: zeichnet sich eine Übertragung des politischen Nutzens des ~feien Vernunftgebrauchs auf den Bereich des privaten GehorS2:nS ab. :Jiese drei Lösungen oder vielmehr drei Definitionen des Prozesses der Aufklärung verschieben sich offensichtlich, wie Sie und widersprechen bis zu einem gewissen Grad dem G2.Ilzen der Analyse, das sie in Frage stellen. Das Unbehagen, Kant offenbar verspürt hat, den König von Preußen als den _~~Ieur der Aufklärung auftreten zu lassen, erklärt zweifellos T..l:n Teil die Tatsache, daß das Agens der Aufklärung, der Proze~: der Aufklärung selbst, in dem Text, von dem ich in der :eczren Stunde gesprochen habe - der Text von 1798 -, auf die ~t::';olution übertragen wird. Oder genauer, nicht wirklich auf ~t Revolution, sondern auf jenes allgemeine Phänomen, das ;:,.'::2 u:n die Revolution herum abspielt und in der revolutionäre:: Begeisterung besteht. Die revolutionäre Begeisterung als der Aufklärung, das ist in dem Text von 1798 der Ersatz >::er der Nachfolger dessen, was der König von Preußen in Z.:::n Text von 1784 war. ~ören wir heute an dieser Stelle auf. In den folgenden Stunden -;;;erde ich dann das Problem der Regierung des Selbst und der .z.:::.ieren in einem ganz anderen Größenmaßstab, mit ganz an2::ren historischen Anhaltspunkten und ganz anderen Doku:::-:emen wieder aufnehmen. An dieser Stelle wollte ich Ihnen ::..lf andeuten, wie diese Art von Problematik, die die Analyse ::==- Gegenwart betrifft, in der Geschichte der modernen Philo, '::?2ie von Kant eingeführt werden konnte.
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Anmerkungen »Qu' est-ce que les Lumieres ?«, in: Kant, La Philosophie de l'histoire, übers. v. S. Piobetta, a. a. 0., S.46; dt. »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ?«, in: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg. v. Wilhe!m Weischedel, Frankfurt! M. 1964, S. 53. 2 Ebd. 3 G. B. Vico, Principes de la philosophie de l'histoire, übers. v.J. Michelet, Paris 1963; dt. Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers. und ein gel. v. Erich Auerbach, Berlin 1965. (Vico schreibt »verbreitet« anstatt »sich verbreiten«). 4 A.a.O., S·4 16. 5 A.a.O., S·4 19· 6 Außer derjenigen von S. Piobetta, die er für diese Vorlesung verwendet, konnte Foucault die Übersetzung von J. Barni zu Rate ziehen (in: Elements de mlitaphysique de la doctrine du droit, Paris 18 55). 7 Übers. v. S. Piobetta, Kant, »Qu'est-ce que les Lumieres ?«, a. a. 0., I
Vorlesung 2 (Sitzung vom I2.Januar I983, erste Stunde)
.''/erhodische Rückbesinnung. - Bestimmung des Untersuchungsgegenc'r::nds des Jahres. - Parrhesia und Kultur des Selbst. - Galens Traktat über c:c Leidenschaften. - Die parrhesia: Schwierigkeiten der Begriffsbestim"::mg; bibliographische Anhaltspunkte. - Ein dauerhafter, vielschichtiger, n:ehrdeutiger Begriff - Platon vor dem Tyrannen von Syrakus: eine beic-:;;ielhafte Szene der parrhesia. - Ödipus' Echo. - Parrhesia versus Beweis/ :. ·rnerricht/Diskussion. - Das Element des Risikos.
S·47· Kant, a. a. 0., S. 53. Ebd. Ebd. »Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht gütigst auf sich genommen haben« (A. a. 0., S. 53). 12 A.a.O., S. 54. 13 A.a.O., S. 55· 14 In der Kritik der reinen Vernunft kommt das Wort »Räsonnieren« nicht vor. Dagegen hat dieser Begriff den Sinn von »Vernünfte!n« bei Hege!, insbesondere in der Phänomenologie des Geistes: »Das andere, das Räsonniren, hingegen ist die Freyheit von dem Inhalt, und die Eitelkeit über ihn« (G. W. F. Hege!, Gesammelte Werke, Bd. 9, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980, S.41). 15 A.a.0"S·55· 16A.a.0.,S·5 6. 17 A.a.O., S.60. 18 A.a.O., S. 59. 19 Ebd. 20 A.a.O., S.60. 21 A.a.O., S.6r. 22 »Räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!« (a.a.O., S. 55).
Letztes Mal habe ich Sie kurz daran erinnert, worin das allge,neine Projekt besteht, nämlich in dem Versuch einer Analyse dessen, was man die Brennpunkte oder Matrizen der Erfah:-ung nennen könnte, wie etwa der Wahnsinn, die Kriminalität, die Sexualität. Diese sollten dann entsprechend der Korrelation der drei Achsen untersucht werden, die diese Erfahrungen 2.usmachen, nämlich der Achse der Bildung von Erkenntnissen, der Achse der Normativität von Verhaltensweisen und schließlich der Achse der Konstitution von Seinsmodi des Sub:ektS. Ich hatte auch schon versucht, Ihnen zu zeigen, welches die theoretischen Verschiebungen waren, die eine solche Ana~:-se implizierte, sobald man damit beginnt, die Bildung von Erkenntnissen, die Normativität von Verhaltensweisen und die Seinsmodi des Subjekts in ihrer Korrelation zu untersu:nen. Mir scheint nämlich, daß die Analyse der Bildung von Erkenntnissen, sobald man versucht, sie in dieser Perspektive darzustellen, nicht auf dieselbe Weise wie die Geschichte der issensentwicklung durchgeführt werden darf, sondern im Ausgang von und aus der Perspektive der Analyse von Diskurs praktiken und der Geschichte von Formen der Veridiktion. Dieser Übergang, diese Verschiebung der Wissensentwick:ung zur Analyse der Formen der Veridiktion bildete eine erste cheoretische Verschiebung, die zu leisten war. Die zweite zu ;eistende theoretische Verschiebung besteht darin, sich bei der _-\nalyse der Normativität von Verhaltensweisen von einer all-
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gemeinen Theorie der Macht oder von Erklärungen durch die Herrschaft im allgemeinen zu befreien und zu versuchen, die Geschichte und Analyse der Verfahren und Techniken der Gouvernementalität zur Geltung zu bringen. Schließlich besteht die dritte Verschiebung, die geleistet werden soll, im Übergang von einer Theorie des Subjekts, auf deren Grundlage man versuchen könnte, die verschiedenen Seinsmodi der Subjektivität freizulegen, zur Analyse der Modalitäten und Techniken der Selbstbeziehung oder auch zur Geschichte jener Pragmatik des Subjekts in ihren verschiedenen Formen, für die ich Ihnen letztes Jahr einige Beispiele zu geben versucht habe. Es geht also um folgendes: die Analyse der Formen der Veridiktion; die Analyse der Verfahren der Gouvernementalität; die Analyse der Pragmatik des Subjekts und der Techniken des Selbst. Das sind die drei Verschiebungen, die ich skizziert habe. Ich habe Ihnen auch schon angedeutet, daß ich dieses Jahr einige der Fragen wiederaufnehmen wollte, die auf diesem Weg in der Schwebe gelassen wurden, indem ich gerade einige Aspekte, einige Fragen hervorheben möchte, die die Korrelation der drei Achsen besser kennzeichnen. Ich hatte mich abwechselnd vor allem der Untersuchung jeder dieser drei Achsen gewidmet: der Achse der Bildung von Erkenntnissen und der Praktiken der Veridiktion; der Achse der Normativität von Verhaltensweisen und der Technik der Macht; schließlich der Achse der Konstitution der Seinsmodi des Subjekts auf der Grundlage von Praktiken des Selbst. Ich möchte nun versuchen zu sehen, wie man deren Korrelation feststellen kann bzw. wie sie entsteht, und einige Punkte, Elemente, Begriffe und Praktiken zu erfassen versuchen, die diese Korrelation kennzeichnen, und zeigen, wie sie eigentlich entstehen kann. Mit der Fragestellung nach der Regierung des Selbst und der anderen möchte ich versuchen herauszufinden, wie das Wahrsprechen, die Verpflichtung und die Möglichkeit des Wahrsprechens in den Verfahren der Regierung zeigen können, wie das Individuum sich in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen als Subjekt konstituiert. Das Wahrsprechen in den Verfahren der Re-
gierung und die Konstitution eines Individuums als Subjekt für sich selbst und für die anderen: darüber möchte ich dieses Jahr sprechen. Die Vorlesung wird dieses Jahr also wohl etwas unzusammenhängend werden. Jedenfalls möchte ich einige Aspekte dieses allgemeinen Problems untersuchen, indem ich mich auf einige besondere Begriffe und Praktiken beziehe. Der erste Bereich, die erste Akte, die ich öffnen möchte, ist dieienige, die uns letztes Jahr bei der Leitung des Gewissens und bei den Praktiken des Selbst in der Antike des I. und 2. J ahrhunderts unserer Zeitrechnung begegnet ist. Sie erinnern sich, wir hatten jenen recht interessanten Begriff der parrhesia 1 ken:J.engelernt [... ':J Eine der ursprünglichen Bedeutungen des griechischen Wortes parrhesia ist »alles sagen«. Man übersetzt :5 ,jedoch viel öfter mit Freimut, Redefreiheit usw. Dieser Begriff der parrhesia, der für die Praktiken der Gewissensleitung große Bedeutung hatte, war, Sie erinnern sich, ein reichhaltiger, mehrdeutiger und schwieriger Begriff, insofern er insbesonde::-e eine Tugend bezeichnete, eine Qualität (es gibt Menschen, iie die Fähigkeit der parrhesia haben, und andere, die sie nicht 2aben); sie ist auch eine Aufgabe (vor allem in einer bestimm:w Reihe von Fällen und Situationen muß man die Fähigkeit zur parrhesia in der Tat beweisen können); und schließlich ist sie eine Technik, ein Verfahren: Es gibt Menschen, die sich der !-'?Thesia zu bedienen wissen, und andere, die es nicht können. \\-elchen Auftrag hat nun derjenige Mensch, den diese Tugend, _-\dgabe und Technik unter anderem und vor allem charakteris:eren sollen? Nun, die anderen zu leiten, und zwar insbeson2ere die anderen in ihrem Bemühen und ihrem Versuch zu lei:en, eine angemessene Beziehung zu sich selbst herzustellen. anderen Worten, die parrhesia ist eine Tugend, eine Aufgaoe und eine Technik, die man bei demjenigen findet, der das Gewissen der anderen leitet und ihnen hilft, eine Beziehung zu selbst herzustellen. Sie erinnern sich, daß wir letztes Jahr gesehen haben, wie in der Antike, von der klassischen Epoche
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" :\1. E: Soll ich es vielleicht an die Tafel schreiben? (Man hört Kreidege~~usche.)
bis in die Spätantike und insbesondere in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, eine gewisse Kultur des Selbst entwickelt wurde, die zu jener Zeit ein solches Ausmaß angenommen hat, daß man von einem wahrhaft goldenen Zeitalter der Selbstkultur sprechen konnte. 2 In dieser Selbstkultur, in dieser Selbstbeziehung konnte man die Entwicklung einer ganzen Technik und Kunst erkennen, die man lernen und ausüben kann. Wir hatten gesehen, daß diese Kunst des Selbst eine Beziehung zum anderen erfordert. Mit anderen Worten: Man kann sich nicht mit sich selbst befassen, sich um sich selbst sorgen, ohne eine Beziehung zu einem anderen zu haben. Die Rolle dieses anderen besteht nun aber gerade darin, das Wahre zu sagen, das ganze Wahre zu sagen oder zumindest das ganze nötige Wahre zu sagen, und zwar es in einer bestimmten Form zu sagen, die die parrhesia ist, die wieder mit Freimut übersetzt wird. Sie erinnern sich vielleicht im Zusammenhang dieser allgemeinen Thematik besonders an einen bestimmten Text, bei dem wir etwas verweilt haben: den Text Galens im Traktat über die Leidenschaften,3 der sehr interessant ist und in dem wir zunächst der alten, ehemaligen, der traditionellen Thematik oder vielmehr der doppelten Thematik der Sorge um sich selbst und der Selbsterkenntnis begegnet sind: der Verpflichtung jedes Individuums, sich um sich selbst zu sorgen, die unmittelbar mit der Selbsterkenntnis als notwendiger Bedingung verknüpft ist. Was uns auf die Fährte von etwas Interessantem gebracht hat, nämlich das berühmte und für uns so grundlegende Prinzip des gnoti seauton (der Selbsterkenntnis), beruht auf und ist zugleich ein Bestandteil des im Grunde allgemeinsten Prinzips, sich um sich selbst zu sorgen. 4 In diesem Text Galens haben wir auch die Vorstellung gefunden, daß die Beschäftigung mit sich selbst nur auf eine kontinuierliche und beständige Weise erfolgen kann. Nicht wie in Platons Alkibiades nur zu der Zeit, wo der Jüngling ins öffentliche Leben eintritt und die Verantwortung für die Stadt übernimmt, sondern vielmehr sein ganzes Leben hindurch, von seiher Jugend an bis zur Vollendung 66
5fines Alters soll sich der Mensch um sich selbst kümmern. 5 Im 5fiben Text Galens hatten wir also gesehen, daß die Sorge um 5:.::h selbst, die mühselig und kontinuierlich während des ganz;:n Lebens entwickelt und geübt werden soll, nicht ohne die :..:-rreilstätigkeit der anderen geschehen kann. Diejenigen, die das Urteil der anderen bei ihrer Meinungsbildung über sich verzichten wollen, sinken, so Galen, oft herab. Dieser Gdanke wird in einem ganz anderen Zusammenhang in der :~,-"-istlichen Spiritualität sehr häufig wieder aufgenommen: e,~e, die auf die Leitung der anderen verzichten, fallen wie das _2ub im Herbst, 6 wird die christliche Spiritualität sagen. Nun, G2.:en sagte schon: Wenn man das Urteil der anderen bei der }'~finungsbildung über sich selbst nicht berücksichtigt, fällt :::'2.n oft hin. Dagegen täuschen sich, so Galen, jene nur selten, :" ~ c;,~h bei der Feststellung ihres eigenen Werts den anderen 2=:','frrraut haben. =::c-~ Ausgang von diesem Prinzip sagte Galen, daß man sich i::::'srverständlich an jemand anderen wenden solle, um sich ::: dff Meinungsbildung über sich selbst und bei der Herstel,.::::g eines angemessenen Selbstverhältnisses zu helfen. Es ist notwendig, sich an jemand anderen zu wenden. Wer sollte :,:,::: "ber dieser andere sein? Hier lag eine der Überraschungen ':::5 Textes, denn Galen, Sie erinnern sich, stellte diesen ande::~.. an den man sich wenden soll, nicht als einen Techniker ,': - sei es als einen Techniker für die Heilung des Körpers :Zf': als einen Techniker für die Heilung der Seelen, einen Arzt :,:::e, Philosophen. Nein, nach Galens Text ging es darum, sich :n =::len Mann Zu wenden, von dem vorausgesetzt wird, daß er =:;enug sei, einen hinreichend guten Ruf habe und darüber ,~,:,naus mit einer bestimmten Eigenschaft ausgestattet sei. Und :,=5f Eigenschaft war die parrhesia, der Freimut. Ein Mann n jahren, ein Mann mit gutem Ruf und ein Mann der par':':",: Das waren die drei Kriterien, die notwendig und hin'c::::end sind, um denjenigen zu charakterisieren, den man um ein Selbstverhältnis zu sich herzustellen, Wir hae.lso eine ganze Struktur, ein ganzes Paket von wichtigen 7
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Begriffen und Themen: die Sorge um sich selbst, die Selbsterkenntnis, die Kunst und die Übung des Selbst, die Beziehung zum anderen, die Regierung durch den anderen und das Wahrsprechen, die Pflicht zum Wahrsprechen seitens des anderen. Mit dem Begriff der parrhesia haben wir, wie Sie sehen, einen Begriff, der sich an der Kreuzung der Pflicht zum Wahrsprechen, der Verfahren und Techniken der Gouvernementalität und der Herstellung eines Selbstverhältnisses befindet. Das Wahrsprechen des anderen als wesentlicher Bestandteil der Regierung, die er über uns ausübt, ist eine der wesentlichen Bedingungen dafür, daß wir die angemessene Beziehung zu uns selbst bilden können, die uns Tugend und Glück verleihen wird. Das war also die allgemeine Thematik, die wir bei Galen im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wiederfanden. Diese Thematik will ich nun als Ausgangspunkt nehmen, indem ich gleich bemerke, daß der Begriff der parrhesia, den wir in diesem Text und in ähnlichen Texten, die der individuellen Leitung des Gewissens gewidmet sind, angetroffen haben, sehr weit über den Gebrauch und den Sinn hinausgeht, der auf diese Weise aufgefunden wurde. Wir können feststellen, daß dieser Begriff etwas Spinnenartiges hat, das, wie man zugeben muß, sehr wenig untersucht wurde. Zunächst weil es, obwohl die Alten sich selbst oft auf ihn beziehen (wir werden eine ganze Reihe von Texten kennenlernen, wo von dieser parrhesia die Rede ist, und die Texte, die ich verwenden werde, sind natürlich bei weitem nicht erschöpfend), dennoch keine oder jedenfalls nur wenig direkte Überlegungen zu diesem Begriff der parrhesia gibt. Der Begriff wird zwar verwendet und erwähnt, aber er wird nicht unmittelbar zum Gegenstand einer Reflexion und als solcher thematisiert. Es gibt praktisch unter den Texten, die uns bleiben, nur einen einzigen - welcher überdies noch Fragmentcharakter hat -, der tatsächlich eine der parrhesia gewidmete Abhandlung ist. Diese Abhandlung ist die des wichtigsten Epikuräers der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Es ist die Abhandlung von Philodernos, von der 68
Bruchstücke erhalten sind, die veröffentlicht wurden und die Sie, übrigens unübersetzt, in der Sammlung von Teubner 7 finden können. Darüber hinaus sind wir nicht im Besitz einer direkten Reflexion der Alten selbst auf diesen Begriff der parrhesia. Andererseits handelt es sich um einen Begriff, der sich nicht auf identifizierbare und fest umschriebene Weise in dieses oder jenes Begriffssystem oder in eine philosophische Lehre eingliedert. Die parrhesia ist ein Thema, das von einem System zum nächsten, von einer Lehre zur nächsten läuft, so daß es sehr schwierig ist, ihren Sinn genau zu bestimmen und ihre genaue Ökonomie auszumachen. Zum Begriff der parrhesia gibt es noch eine bibliographische Frage. Außer dem Text von Philodernos gibt es kaum etwas, jedenfalls kenne ich kaum etwas anderes als erstens einen Aufsatz in der Realencyclopädie (von Pauly/Wissowa),8 der der .,parrhesia« gewidmet ist und der schon vor langer Zeit von Philippson9 geschrieben wurde, I938/39, also kurz vor dem Krieg. Zweitens ein wichtiges Buch, das von Scarpat in Italien geschrieben wurde und aus dem Jahre I964 stammt. 1O Darin finden Sie eine interessante und sorgfältige historische Darstellung des Begriffs der parrhesia mit einer sehr sonderbaren Auslassung aller Bedeutungen, Werte und Gebrauchsweisen, die gerade die individuelle Leitung betreffen. Alles, was den policisehen Gebrauch des Begriffs angeht, aber auch seinen religiösen Gebrauch, ist gute Arbeit. Dagegen ist das Werk völlig :;ickenhaft im Hinblick auf die Leitung des individuellen Ge-;;,-issens. Schließlich finden Sie in den Akten des 8. Kongresses ier Guillaume-Bude-Gesellschaft von I968 einen französis.::hen Aufsatz, der sich auf Philodemos und seine Abhandlung über die parrhesia bezieht und der von Marcello Gigante geschrieben wurde. 11 "as es von meinem Standpunkt aus verdient, das Interesse an iiesem Begriff der parrhesia zu bewahren, besteht zunächst ::i:: werde auf sehr elementare Dinge hinweisen - in der langen Geschichte des Begriffs, in seinem sehr ausgedehnten Ge:-:-auch die ganze Antike hindurch, denn Sie finden schon einen 69
gefestigten und bestimmten Gebrauch dieses Begriffs - wir kommen darauf heute und das nächste Mal noch in weiteren Einzelheiten zurück - in den großen klassischen Texten von Platon oder Euripides und dann in einer Reihe von anderen Texten (Isokrates, Demosthenes, Polybios, Philodemos, Plutarch, Markus Aurelius, Maximus von Tyra, Lukian usw.); Sie finden den Begriff dann ganz am Ende der Antike in der christlichen Spiritualität wieder, beispielsweise beim heiligen Johannes Chrysostomos in den Briefen an Olympias,12 im Brief aus dem Exil 13 oder der Abhandlung über die Vorsehung;14 auch bei Dorotheus von Gaza 15 findet man eine sehr wichtige, sehr reichhaltige und bis zu einem gewissen Grad auch neue Verwendung des Begriffs der parrhesia. In den lateinischen Texten finden Sie, obwohl die Übersetzung des Ausdrucks parrhesia etwas schwankt und nicht völlig einheitlich ist, ganz eindeutig das Thema. Sie finden es bei Seneca,16 natürlich auch bei den Historikern, aber auch bei den Theoretikern der Rhetorik wie QuintilianY Man findet dann eine ganze Reihe von Übersetzungen durch Wörter wie licentia, libertas, oratio libera usw. Der Begriff hat also eine große historische Tiefe. Zweitens gibt es eine Vielzahl von Registern, in denen sie den Begriff finden, weil man ihn sehr deutlich und wohl bestimmt in der Praxis der individuellen Leitung antrifft, aber auch im Bereich der Politik. Auch dort hat er eine Vielzahl von interessanten Bedeutungen, die sich von der Athenischen Demokratie bis zum Römischen Reich beträchtlich wandeln werden. Außerdem - das wird eines der Themen sein, die ich in den kommenden Vorlesungen behandeln werde - wird der Begriff auf der Grenze dessen verwendet, was man die individuelle Leitung und den Bereich des Politischen nennen könnte, und zwar genau im Zusammenhang mit dem Problem der Seele des Fürsten: Wie soll die Seele des Fürsten geleitet werden, und was ist die Form des wahren Diskurses, der zum einen dafür notwendig ist, daß der Fürst als Individuum zu sich selbst ein angemessenes Verhältnis herstellt, das seine Tugendhaftigkeit garantiert, zum anderen aber auch dafür, daß durch diese Un7°
:enveisung aus dem Fürsten ein moralisch vollwertiges IndiviJ:mm wird, ein Regierender, der sich nicht nur um sich selbst :.;:ümmert und für sich verantwortlich ist, sondern auch für die mderen? Was ist also die Art von Diskurs, die den Effekt hätte, der Fürst sich um sich selbst kümmern und sorgen könnte, aber auch um die, die er regiert? Wie soll der Fürst regiert werso daß er sich selbst und die anderen regieren kann? Das ;SI einer der Punkte, die ich hervorheben möchte. Sie finden Jen Begriff auch im Bereich der religiösen Erfahrung und The::r:atik, wo dieser Begriff der parrhesia eine sehr sonderbare und ;=:teressante Veränderung, Verschiebung und schließlich eine :cahezu vollständige Umkehrung von einem Pol zum anderen e:fährt, da wir am Anfang die Bedeutung der Pflicht des Leh~e~s haben, dem Schüler die ganze notwendige Wahrheit zu sagen, während wir ihn dann mit der Bedeutung wiederfinden, , der Schüler die Möglichkeit haben soll, dem Lehrer alles über sich selbst zu sagen. Wir haben also einen Übergang von e::cem Sinn dieses Begriffs, der auf die Pflicht des Lehrers abdem Schüler das Wahre zu sagen, zu der Pflicht des Schü:er5, dem Lehrer zu sagen, wie es wirklich um ihn selbst 5teht. !:::n dritter Grund, der schließlich für die Reichhaltigkeit dieses 3egriffs verantwortlich ist, liegt darin, daß, was auch immer die ::-e,:hr allgemeine und beständige Wertschätzung gewesen sein :::ag (ich habe Ihnen gesagt, daß es sich um eine Tugend, eine ,:esondere Qualität handelt), doch eine große Mehrdeutigkeit ~::r: den Begriff herum herrscht. Die Wertschätzung der par~;:2sia war also weder völlig beständig noch völlig einheitlich. :r werden beispielsweise sehen, daß die kynische parrhesia, _er kynische Freimut weit davon entfernt ist, ein völlig eindeu::ser Begriff und Wert zu sein. Und in der christlichen Spiritua_~::I selbst werden wir sehen, daß die parrhesia auch sehr wohl .:,,:: Sinn von Indiskretion haben kann, einer Indiskretion, bei ':c:::- man von sich selbst schwatzt. :i:cs alles mag Ihnen zugleich abstrakt, ungenau, skizzenhaft _::d schwankend erscheinen. Versuchen wir also, etwas vor7I
wärtszukommen und ein wenig genauer zu sein. Hier möchte ich jedoch nicht Schritt für Schritt auf die Geschichte des Begriffs eingehen. Ich werde einen durchschnittlichen Text, einen durchschnittlichen Fall, ein durchschnittliches Beispiel einer parrhesia nehmen, das sich in der Geschichte genau auf halbem Wege zwischen dem klassischen Zeitalter und der großen christlichen Spiritualität des 4. und 5· Jahrhunderts befindet, wo wir innerhalb eines Bereichs von einerseits traditioneller, andererseits aber nicht genau abgegrenzter Philosophie das Spiel des Begriffs der parrhesia betrachten können. Ich kann Ihnen auch gleich sagen, daß es ein Text von Plutarch ist, einem durchschnittlichen Autor in jeder Hinsicht, dem ich das Beispiel der parrhesia entnehmen werde. Nun gibt es eine große Anzahl von Texten Plutarchs (worauf wir übrigens zurückkommen werden), die diesem Begriff der parrhesia gewidmet sind oder ihn vielmehr verwenden, da er, wie gesagt, nur selten eigens reflektiert wird. Diesen Text Plutarchs finden Sie in den Griechischen Heldenleben, im »Leben des Dion«, Abschnitt V, 960a. Sie wissen ungefähr, wer Dion ist: Er ist der Bruder von Aristomache. Sie wissen aber wahrscheinlich nicht, wer Aristomaehe war. Aristomache war eine der beiden offiziellen Frauen von Dionysios, dem Tyrannen von Syrakus. Dionysios hatte zwei Frauen. Eine davon war Aristomache, und der jüngere Bruder von Aristomache hieß Dion. Und dieser Dion - der im Leben von Syrakus, und zwar für Dionysios den Älteren, vor allem aber für Dionysios den Jüngeren eine beträchtliche Bedeutung haben wird - wird der Schüler, Briefpartner, Bürge, und Gastgeber Platons sein, als Platon nach Sizilien kommt. Über ihn läuft die wirkliche Beziehung Platons zum politischen Leben von Syrakus und zur Tyrannei des Dionysios. In diesem Text, der Dion gewidmet ist, erinnert Plutarch daran, daß Dion, der jüngere Bruder Aristomaches, ein begabter junger Mann mit vorzüglichen Eigenschaften war: Seelengröße, Mut und der Fähigkeit zu lernen. 18 Dennoch wurde er, da er als junger Mann am Hofe eines Tyrannen wie Dionysios lebte, allmählich an die Angst, die »Dienstbarkeit« und die Vergnügun72
gen gewöhnt. Und deshalb war er »voller Vorurteile«, d. h. daß Beschaffenheit seines Wesens selbst zwar nicht angegriffen "',"ar - hier haben wir einen offensichtlichen Bezug auf stoische <:der stoizistische Themen -, daß sich jedoch eine Reihe falscher Meinungen in seiner Seele bis zu jenem Tag abgelagert hatten, als der Zufall - eine wohlwollende »Gottheit« sagt Plutarch 19 - Platon der Küste Siziliens zuführte. Dion lernt 2.150 Platon kennen, unterzieht sich seinem Unterricht und z:eht Nutzen aus den Vorlesungen, die sein Lehrer ihm erteilt. In diesem Augenblick erscheint seine wahre und gute Natur ''-on neuem und, sagt er - hier nähern wir uns dem Kern der Sache -, »in seiner jugendlichen Arglosigkeit« hoffte Dion, daß ::)ionysios (sein Onkel, der Tyrann) »unter dem Einfluß derselben Vorlesungen«, die er selbst empfangen hatte, »dieselben Gefühle« wie er selbst empfinden würde und »sich leicht für Gute gewinnen ließe. Er bemühte sich daher und brachte es ::ndlich wirklich dahin, daß dieser sich die Muße nahm und ~ersönlich mit Platon zusammenkam und diesen hörte.«2o Auf ::er Bühne befinden sich jetzt Platon, Dion und Dionysios. ··Bei dieser Zusammenkunft nun wurden teils die Fragen nach 2er Tugend des Mannes überhaupt, ganz besonders aber die ::ach der Mannhaftigkeit erörtert. Wie nun Platon darlegte, daß :der andere eher als ein Tyrann mannhaft sei und hierauf, zur Gerechtigkeit gewandt, zeigte, daß das Leben der Gerechten g:ücklich, das der Ungerechten dagegen elend sei [es handelte sich also um eine Vorlesung über die Tugend und die verschie::enen Bestandteile der Tugend, um ihre verschiedenen For::1en: Mannhaftigkeit, Gerechtigkeit; M. F.], so war der Tyrann ::oen so unzufrieden über die Worte [bezüglich der Tatsache, das Leben der Gerechten glücklich sei und das der Unge:-::chten elend], die er gegen sich gerichtet glaubte, als er sich ;iDer die Anwesenden ärgerte, welche den Mann mit Bewunde:-_mg hörten und von dem, was er sagte, bezaubert waren. Endaber fuhr er zornig auf und fragte ihn, in was für Absicht er ::ach Sizilien gekommen sei. Platon erwiderte: um einen guten 2.1ann zu suchen. >Bei den Göttern<, fiel ihm jener in das Wort, 73
>und einen solchen hast du offenbar noch nicht gefunden.< Dion und seine Freunde glaubten, daß sein Zorn hiermit aufs Höchste gestiegen sei, und suchten den Platon, welcher [selbst] drängte, auf einer Triere zu entsenden, welche den Spartiaken Pollis nach Griechenland [zurück] bringen sollte; Dionysios aber drang insgeheim in den Pollis, am liebsten zwar den Mann unterwegs zu töten, wo nicht, ihn jedenfalls zu verkaufen; denn er werde davon keinen Schaden haben, sondern durch seine Gerechtigkeit ebenso glücklich sein, auch wenn er Sklave werde. Daher soll denn Pollis den Platon nach Aegina gebracht und hier ans Land gesetzt haben. Aegina war nämlich mit Athen im Krieg begriffen und ein Volks beschluß vorhanden, daß jeder Athener, der auf der Insel getroffen würde, verkauft werden solle. Gleichwohl verlor Dion deshalb bei Dionysios nicht an Achtung und Vertrauen, sondern diente ihm bei den wichtigsten Gesandtschaften und erntete unter anderem, als er zu den Karthagern geschickt wurde, vorzügliche Bewunderung ein: Ja, er ertrug seine Freimütigkeit, da er allein seine Gedanken ohne Scheu zu äußern wagte, wie z. B. seine Rüge in Betreff des Gelon [Gelon war ein Syrakuser, der vor Dionysios die Macht ausübte; M. E]. Da nämlich, wie es scheint, die Herrschaft Gelons durchgehechelt wurde und Dionysios äußerte, Gelon sei selber ein Gelächter Siziliens gewesen [das ist ein Wortspiel: Im Griechischen heißt lachen gelan und folglich Gelon: Gelan/gelan; Dionysios machte also einen albernen Witz über Gelons Namen, als er sagte, daß er das Gelächter Siziliens gewesen sei], so taten die anderen, als ob sie den Witz bewunderten, Dion aber sagte voll Entrüstung: Und doch verdankst du deine Herrschaft nur dem Vertrauen, das Gelon erworben hat; du dagegen wirst schuld sein, daß man keinem anderen wieder traut! [Und Plutarch kommentiert diese parrhesiastische Erklärung von Dion an Dionysios; M. E] Und in der Tat bietet eine Stadt unter der Alleinherrschaft des Gelon offenbar den schönsten, unter der des Dionysios dagegen den häßlichsten Anblick dar.«21 Nun, ich glaube, daß wir hier eine exemplarische Szene für das haben, was die parrhesia sein soll. 74
En :'vfann erhebt sich vor einem Tyrannen und sagt ihm die ahrheit. Y~Ir müssen die Dinge aber noch genauer betrachten. Sie sehen zunächst, daß die Szene gewissermaßen in zwei Teile geteilt ist. Zwei Individuen realisieren abwechselnd die parrhesia. Zu:-:achst ist da Platon. Platon sagt die Wahrheit, indem er seine klassische und berühmte Vorlesung über das Wesen der Tugend, des Mutes, der Gerechtigkeit, das Verhältnis von Ger=chtigkeit und Glück hält. Er sagt das Wahre. Er sagt es in sei[_=r Vorlesung und auch in jener lebhaften Replik, die er an .Dionysios richtet, als dieser, durch Platons Vorlesungen gef=:zt, ihn fragt, zu welchem Zweck er nach Sizilien gekommen :5:: Ich bin gekommen, um einen Ehrenmann zu suchen (worfe:, er zu verstehen gibt, daß Dionysios nicht dieser Ehren:::ann ist). Sie sehen, daß der Begriff der parrhesia nicht in bezug auf Platon verwendet wird, auch wenn wir uns in einer Art Urszene der parrhesia befinden. Dann erscheint nach dem -"tb gang Platons und dessen Bestrafung das zweite Element der Sz=ne - oder vielmehr deren Fortsetzung -, nämlich Dion, :>enüler von Platon, als derjenige, der trotz dieser so offensicht::enen und spektakulären Bestrafung und Züchtigung nichts:::cswweniger weiterhin das Wahre sagt. Er sagt das Wahre und r-=findet sich gegenüber Dionysios in einer etwas anderen Sircation als Platon. Er ist nicht der Lehrer, der unterrichtet. Er :Ot derjenige, der an der Seite von Dionysios, als sein Höfling, 5-::::1 Angehöriger, sein Schwager, es auf sich nimmt, ihm die ahrheit zu sagen, ihm Ratschläge zu geben und ihn letztend__ e:1 zurechtzuweisen, wenn der Tyrann etwas Falsches oder -~::1angebrachtes sagt. Mit Bezug auf Dion wird der Begriff der --.:.n-hesia nun tatsächlich verwendet: Dion ist an der Seite von ::Yonysios und nach der großen Vorlesung Platons derjenige, C=f "on der parrhesia Gebrauch macht. Er ist der Parrhesiastii::c:-, der Wahrsprechende. Dion, der Wahrsprechende.':.:Ylanuskript setzt die Analyse dieser Szene auf folgende Weise fort: ·.:3ie Szene hat zwei Bestandteile: einen philosophischen Bestandteil, :cer die Seelen unterrichtet und ihnen die Wahrheit sagt; einen politi-
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Ich möchte - da mir diese Idee letztlich sehr spät eingefallen ist (genauer gesagt, früh, nämlich heute morgen) - diese Szene mit einer anderen Szene vergleichen, in der die Verteilung der Personen ziemlich ähnlich ist, da es sich sowohl um einen Tyrannen als auch um den Bruder seiner Frau handelt, sowie um denjenigen, der die Wahrheit sagt. Ich weiß nicht, bis zu welchem Punkt man sich die genauere Analyse der strukturellen Analogie zwischen den beiden Szenen ersparen kann. Sie kennen diese Szene schon, wo der Schwager des Tyrannen diesem die Wahrheit sagt, der Tyrann diese Wahrheit nicht hören will und seinem Schwager sagt: Wenn du mir wirklich die Wahrheit sagen willst, dann jedenfalls nicht aus guten Gründen, sondern weil du meine Stellung einnehmen willst. Worauf der Schwager antwortet: Aber nein, sei dir nur erst über meinen Fall im klaren, bedenke zunächst folgendes. »Ob du meinst, daß wohl mit Ängsten jemand lieber herrschen will als bei geruhigem Schlaf, wenn er dieselbe Macht doch hat. Nun bin ich weder selbst von solcher Art, daß ich möchte eher König sein als Königliches tun, noch irgendj emand sonst, wenn er vernünftig denkt. Denn jetzt empfang ich alles ohne Furcht von dir; doch herrscht' ich selbst, so müßt ich vieles ungern tun. Wie sollte das Königtum mir köstlicher als sorgenfreie Macht, als Rang und Geltung sein? So weit verstieg ich mich in der Torheit nicht, um mehr zu wünschen als die Würde, die auch nützt. Jetzt freu' ich mich an allen, jeder grüßt mich jetzt; jetzt rufen, die nach dir verlangen, mich heraus; denn ob es ihnen glückt, das hängt ganz hiervon ab. Wie sollt ich denn nach jenem greifen, dies verschmähn? Schlecht werden kann ein Sinn, der rechtlich denkt, wohl nicht. Doch weder bin ich ein Verehrer jenes Geistes, noch wagt' ich es, mit andren solches je zu tun. «22 Er sagt also: Du hast nichts zu fürchten. Du wirfst mir vor, daß ich nach deiner Stellung trachte, wenn ich sage, daß du die Wahrheit suchen sollst. Deine Stellung interessiert mich aber keineswegs. sehen Bestandteil mit dem Herrscher inmitten des Hofes; diese beiden Bestandteile verbinden sich in der traditionellen Diskussion über Tyrannei/Glück/Gerechtigkeit«. 76
Ich fühle mich wohl an meinem Platz, da ich in dieser privile;lerten Lage bin, einer der ersten der Stadt und an deiner Seite zu sein. Ich übe keine Macht, sondern nur Autorität aus, die nerkömmliche Autorität. Was nun dich betrifft, so magst du zunächst nach Pytho gehen und fragen, ob ich dir das Orakel ;:enau berichtet habe. Suche selbst nach der Wahrheit. Ich habe sie dir gesagt, als ich von Pytho kam. Du glaubst mir nicht, also selbst dorthin. Das ist selbstverständlich Kreon, der sich C.:l Ödipus wendet. Hier haben wir bis zu einem gewissen Grad '-,-nd auf gleiche Weise diese typische Situation, das Beispiel ei:ces Tyrannen, der die Macht ausübt, den die Ausübung der :,iacht blind macht und an dessen Seite sich jemand befindet, :1er zufällig sein Schwager ist (der Bruder seiner Frau) und der iie Wahrheit sagt. Er sagt die Wahrheit, und der Tyrann hört ~ll1 eben nicht zu. Diese Ödipussche Szene finden wir also ::::v:a auf dieselbe Weise in Plutarchs Text entwickelt. -ersuchen wir nun diese parrhesia, von der in Plutarchs Text d,:e Rede ist, genauer zu bestimmen. Wie wird sie charakteri5:ert? Ich werde die Dinge vielleicht etwas breittreten. Sie werien mir aber verzeihen, da ich beabsichtige, sie so klar wie :::::äglich darzustellen. Wenn es darum geht, das Wesen der par",~esia zu definieren, muß man vorsichtig sein und Schritt für vorgehen. Weshalb kann Plutarch sagen, daß Dion die -:-zrrhesia praktiziert? Er praktiziert die parrhesia, wie übrigens ?:awn auch, selbst wenn das von Platon nicht behauptet wird. die parrhesia besteht zunächst in der Tatsache, daß man ':~e Wahrheit sagt. Gerade darin unterscheidet sich Dion von Höflingen, die Dionysios umgeben, daß die Höflinge lawenn Dionysios einen albernen Witz macht, und so tun, a:s ob sie es für geistreich hielten, nicht weil es stimmt, sondern sie Schmeichler sind. Der Parrhesiastiker ist derjenige, der Wahrheit sagt und der sich folglich von jeder möglichen oder Schmeichelei absetzt. parrhesiazesthai heißt, das che zu sagen. Es ist jedoch klar, daß die Weise, wie die -:l~Lhrheit gesagt wird, nicht beliebig ist. Es ist beispielsweise :e.:cr, daß, wenn Platon in einem seiner Dialoge sagte, daß das 77
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nen? Beginnen wir damit, rasch eine Reihe von Hypothesen auszuschließen. Wir können zunächst schematisch festhalten, daß die Weisen des Wahrsprechens gewöhnlich entweder anhand der Struktur der Rede oder anhand des Zwecks der Rede oder, wenn Sie so wollen, anhand der Wirkungen, die der Zweck der Rede auf die Struktur ausübt, bestimmt werden. In diesen Fällen analysiert man die Rede anhand ihrer Strategie. Die verschiedenen Weisen des Wahrsprechens erscheinen dann als ebenso viele Formen entweder einer Beweis-, einer Überredungs-, einer Lehr- oder einer Diskussionsstrategie. Gehört die parrhesia zu einer dieser Strategien? Ist sie eine Weise des Beweisens, des Überredens, des Lehrens, des Diskutierens? Wir werden jede dieser Fragen kurz behandeln. Es ist klar, daß die parrhesia keine Beweisstrategie ist. Sie ist
Weise, einen Beweis zu liefern. In Plutarchs Text, in dem es eine ganze Reihe von Beispielen für parrhesia gibt, sieht man ..:las sehr gut. Platon ist natürlich mit einer Demonstration beschäftigt, wenn er seine große Theorie über das Wesen der Tusend, das Wesen der Gerechtigkeit und des Mutes usw. aufIn diesem Beweis übt er jedoch keine parrhesia aus. Seine _·\mwort auf Dionysios ist dagegen ein Fall von parrhesia. Was :::un Dion selbst angeht, so gibt er keinen Beweis, sondern bes"ügt sich damit, Meinungen kundzutun, Aphorismen auszusprechen, ohne irgendwelche Beweise zu entwickeln. Die par";]esia kann also Bestandteile eines Beweises verwenden. Und 2.ls Galilei seine Dialoge schrieb, zeigte er ein Beispiel von par";)esia in einem Text mit Beweischarakter. Aber weder der Bec.-eis noch die rationale Struktur der Rede sind für die parrhesia wesentlich. Zweitens, ist die parrhesia eine Strategie der Überredung? Ge:lört sie zur rhetorischen Kunst? Hier liegen die Dinge natür:ich etwas komplizierter, weil einerseits, wie wir sehen werden, .:Ee parrhesia als Technik, als Verfahren, als Art und Weise, die Dinge zu sagen, tatsächlich die Mittel der Rhetorik verwen..:len kann und oft auch muß; andererseits findet die parrhesia ..:ler Freimut, die Wahrhaftigkeit) in bestimmten Rhetorik2.bhandlungen einen Platz, und zwar als recht paradoxe und .::1erkwürdige Stilfigur. Aber wenn Quintilian - im 2. Kapitel ~es IX. Buches, Absatz 27 - der parrhesia (der Wahrhaftigkeit, .~em Freimut) unter dem, was er Denkfiguren nennt (wir wer~en auf alle diese Dinge zurückkommen), einen Platz anweist, er diese Denkfigur als die nüchternste aller Figuren dar. as ist nüchterner, sagt er, als die wahre libertas ?23 Die parrhe,-:,r ist, vom Standpunkt Quintilians aus betrachtet, zwar eine Denkfigur, aber eher im Sinne des Nullpunkts der Rhetorik, an :::em die Denkfigur darin besteht, überhaupt keine Figur zu be::UIzen. Dennoch gibt es, wie Sie sehen, zwischen der parrhesia Rhetorik eine ganze Menge von Fragen, ein ganzes Netz Wechselwirkungen, Nachbarschaftsbeziehungen, Verzah::U:1gen usw., die man entwirren müßte. Allgemein läßt sich je-
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Leben der Gerechten glücklich und das der Ungerechten unglücklich ist - und er hat es weiß Gott oft gesagt -, das nicht notwendigerweise ein Fall vonparrhesia war. Nur in dieser Situation und diesem bestimmten Zusammenhang handelt es sich um einen Fall von parrhesia. Oder wenn Dion zu Dionysios sagt: Gelon flößte der Stadt Vertrauen ein, und die Stadt war glücklich; aber du flößt der Stadt kein Vertrauen mehr ein, und deshalb ist die Stadt unglücklich, dann liegt parrhesia vor. Wenn aber Plutarch selbst im folgenden Satz diesen Gedanken aufnimmt und sagt: Tatsächlich bot die von Gelon regierte Stadt den schönsten und die von Dionysios regierte Stadt den schrecklichsten Anblick, dann nimmt er eben nur das wieder auf, was Dion sagte. Er wiederholt es, übt aber selbst keine parrhesia aus. Man kann also sagen, daß die parrhesia eine bestimmte Weise des Wahrsprechens ist. Was für die parrhesia entscheidend ist, das ist nicht der Wahrheitsgehalt selbst. Die parrhesia ist eine bestimmte Weise, die Wahrheit zu sagen. Aber was heißt das: eine »Weise, die Wahrheit zu sagen«? Und wie lassen sich die verschiedenen möglichen Weisen, die Wahrheit zu sagen, analysieren? Wo sollen wir jene Weise, die Wahrheit zu sagen, die für die parrhesia charakteristisch ist, einord-
doch sagen, daß die parrhesia innerhalb des Bereichs der Rhetorik nicht einfach als rhetorisches Element definiert werden kann. Einerseits weil, wie wir gesehen haben, die parrhesia wesentlich und grundsätzlich als Wahrsprechen charakterisiert ist, während die Rhetorik eine Weise, Kunst oder Technik ist, die Bestandteile der Rede so anzuordnen, daß sie überredet. üb diese Rede jedoch das Wahre sagt oder nicht, ist für die Rhetorik nicht wesentlich. Andererseits kann die parrhesia ganz verschiedene Formen annehmen, da sie sowohl in Platons langer Rede als auch in den kurzen Aphorismen oder Repliken Dions vorkommt. Die parrhesia hat keine bestimmte rhetorische Form. Und vor allem geht es bei der parrhesia nicht so sehr um die Überredung oder jedenfalls nicht notwendig um Überredung. Gewiß, wenn Platon Dionysios die Leviten liest, versucht er schon, ihn zu überreden. Wenn Dion dem Dionysios seine Meinung sagt, dann doch mit dem Ziel, daß dieser sie befolgt. In dieser Hinsicht entspricht die parrhesia wie die Rhetorik dem Willen zu überreden. Sie kann sich auf Verfahren der Rhetorik berufen, und manchmal muß sie es. Das ist aber nicht zwangsläufig der Sinn und Zweck der parrhesia. Es ist klar, daß, wenn Platon Dionysios antwortet: Ich bin gekommen, auf Sizilien einen Ehrenmann zu finden, und unterstellt, daß er keinen gefunden hat, es hier so etwas wie eine Herausforderung, Ironie, Beleidigung, Kritik gibt. Es geht nicht um Überredung. Ebenso, wenn Dion gegenüber Dionysios geltend macht, daß seine Regierung schlecht ist, während die Gelons gut war, handelt es sich um ein Urteil, eine Meinung, und nicht um den Versuch, ihn zu überreden. Die parrhesia ist also, glaube ich, nicht vom Standpunkt der Rhetorik aus zu klassifizieren oder zu verstehen. Sie ist ebenfalls keine Weise zu lehren, keine Pädagogik. Denn obwohl sich die parrhesia zwar immer an jemanden wendet, dem man die Wahrheit sagen will, geht es nicht zwangsläufig darum, ihn etwas zu lehren. Man kann ihn zwar etwas lehren. Platon wollte das tun. In den Szenen, die ich gerade erwähnt habe, gibt es jedoch eine Schroffheit, etwas Gewalttätiges, eiSo
nen rauhen Aspekt der parrhesia, der sich völlig von einem pädagogischen Verfahren unterscheidet. Der Parrhesiastiker, derjenige, der in dieser Form Wahres sagt, wirft die Wahrheit seinem Gesprächspartner an den Kopf, ohne daß jene der Pädagogik eigentümliche Gangart zu finden wäre, die vom Bekannten zum Unbekannten übergeht, vom Einfachen zum Komplexen, vom Teil zum Ganzen. Man kann sogar sagen, daß es in der parrhesia bis zu einem gewissen Grad etwas gibt, was zumindest einigen Verfahrensweisen der Pädagogik entgegengesetzt ist. Insbesondere gibt es nichts - das ist ein wichtiger Punkt, auf den wir zurückkommen müssen -, was weiter entfernt wäre von der berühmten sokratischen oder sokratischplatonischen Ironie als die parrhesia. Worum geht es bei dieser sokratischen Ironie? Nun, es handelt sich um ein Spiel, bei dem der Lehrer vorgibt, nicht zu wissen, und den Schüler dazu führt, das zu formulieren, was er nicht zu wissen meinte. Als 'V:äre sie eine wahrhafte Anti-Ironie, schlägt bei der parrhesia dagegen derjenige, der die Wahrheit sagt, diese Wahrheit seinem Gesprächspartner ins Gesicht. Diese Wahrheit ist so heftig, so schroff und wird auf so einschneidende und endgültige \Veise gesagt, daß der gegenüberstehende andere nur noch schweigen kann oder vor Wut erstickt oder Zuflucht zu einem ganz anderen Register nimmt, was im Falle von Dionysios in bezug auf Platon in einem Mordversuch besteht. Weit davon entfernt, daß derjenige, an den man sich wendet, durch die Iro2ie in sich selbst die Wahrheit entdeckt, die er nicht zu wissen :neinte, wird er hier mit einer Wahrheit konfrontiert, die er nicht akzeptieren kann, die er aber auch unmöglich zurückweisen kann und die ihn zur Ungerechtigkeit, Maßlosigkeit, zum Wahnsinn, zur Blindheit führt ... Wir haben hier eine '0: "irkung, die gerade nicht nur anti-ironisch, sondern sogar 2Ilti-pädagogisch ist. Jie vierte Frage: Ist die parrhesia nicht eine bestimmte Weise zu diskutieren? Sie entspringt weder dem Beweis noch der ~~etorik, noch der Pädagogik. Könnte man vielleicht sagen, ~ .,? sie der Eristik entspringt ?24 Ist sie nicht eine bestimmte
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Weise, einem Gegner die Stirn zu bieten? Gibt es in der parrhesia nicht eine agonistische Struktur zwischen zwei Personen, die sich gegenüberstehen und die jeweils in einen Kampf um die Wahrheit eintreten? In einem gewissen Sinne nähern wir uns, glaube ich, schon viel mehr dem Stellenwert der parrhesia, wenn wir ihre agonistische Struktur hervorheben. Ich meine jedoch nicht, daß die parrhesia Teil einer Diskussionskunst ist, insofern die Kunst der Diskussion gestattet, dem, was man für wahr hält, zum Sieg zu verhelfen. Tatsächlich handelt es sich auch bei den beiden Figuren, die wir hier sehen - im Falle Platons angesichts des Dionysios oder im Falle Dions angesichts desselben Dionysios -, nicht so sehr um eine Diskussion, in der eine der Reden versuchte, die andere zu bezwingen. Auf der einen Seite steht ein Gesprächspartner, der die Wahrheit sagt und der im Grunde darauf aus ist, die Wahrheit so schnell wie möglich, so laut wie möglich und so klar wie möglich zu sagen; gegenüber steht der andere, der nicht antwortet oder mit etwas anderem als einer Rede antwortet. Wenn wir diese bedeutsame Episode zwischen Dionysios und Platon nochmals betrachten, sehen Sie, was sich ereignet. Einerseits ist Platon der Lehrende. Dionysios ist weder überredet noch belehrt, noch in der Diskussion besiegt. Am Ende des Unterrichts ersetzt Dionysios die Sprache (die Formulierung des Wahren durch die Sprache) durch einen Sieg, der nicht der Sieg des logos, nicht der Sieg der Rede ist, sondern der Sieg der Gewalt, der reinen Gewalt, denn Dionysios läßt Platon als Sklaven in Aegina verkaufen. Fassen wir zusammen (es hat etwas lange gedauert, aber ich glaube, daß es notwendig war, dies alles etwas auseinanderzulegen). Wir können sagen, daß die parrhesia eine bestimmte Weise ist, die Wahrheit zu sagen, und es ist wichtig zu wissen, um welche Weise es sich handelt. Sie entspringt weder der Eristik und der Kunst der Diskussion noch der Pädagogik und der Kunst des Unterrichts noch der Rhetorik und der Kunst der Überredung noch etwa der Kunst des Beweisens. Man kann das Wesen der parrhesia auch nicht finden, glaube ich, man kann es nicht isolieren, nicht erfassen in der Analyse der inne82
~==: Formen der Rede oder in den Wirkungen, die diese Rede
- =rzielen beabsichtigt. Sie begegnet einem nicht in dem, was Diskursstrategien nennen könnte. Worin besteht sie also, -:venn nicht in der Rede selbst und in ihren Strukturen? Wenn .::-'2n die parrhesia nicht im Zweck der Rede auffinden kann, wo :c3.nn man sie dann verorten ? betrachten wir noch einmal die Szene oder die beiden Sz=nen der parrhesia, indem wir versuchen, ihre wesentlichen 3=standteile herauszuheben. Platon und Dion sind Menschen, ie=:en die parrhesia zukommt, die in sehr verschiedenen For:-:-=n Gebrauch von ihr machen - in Form von Vorlesungen, :"c?horismen, Repliken, Meinungen, Urteilen. Was aber auch ::::::er die Formen seien, in denen diese Wahrheit ausgespro..: . -:=n wird, was auch immer die Formen seien, die von dieser _t_:n-hesia verwendet werden, wenn man auf sie zurückgreift, ~';::-I es parrhesia immer dann, wenn das Wahrsprechen sich -..:=::er solchen Bedingungen vollzieht, daß die Tatsache, daß ~_;m die Wahrheit sagt, und die Tatsache, daß sie ausgesprochen ---;..:rde, kostspielige Konsequenzen für diejenigen, die die gesagt haben, nach sich ziehen wird, kann oder muß. anderen Worten, ich glaube, daß, wenn man das Wesen der - -z'Thesia bestimmen will, dann weder in bezug auf die innere S:ruktur noch in bezug auf den Zweck, den der wahre Diskurs _e:: Hinblick auf den Gesprächspartner zu erreichen sucht, son2=:11 in bezug auf den Sprecher oder vielmehr in bezug auf das das das Wahrsprechen für den Sprecher mit sich bringt. =:;= parrhesia ist von der Wirkung aus zu bestimmen, die sein eigenes Wahrsprechen auf den Sprecher haben kann, von der 5_'.2..:kwirkung aus, die das Wahrsprechen auf den Sprecher aufder Wirkung ausübt, die es auf den Gesprächspartner ::t. ),Ilit anderen Worten, das Sagen der Wahrheit in Gegenvon Dionysios, dem Tyrannen, der in Zorn gerät, stellt für 2::=:jenigen, der die Wahrheit sagt, ein gewisses Risiko dar. Es -:-:r:gt eine Gefahr hervor, eine Gefahr, bei der es um die Exi::::=:z des Sprechers selbst geht. Genau dieser Umstand ist für 2_= ,-:;arrhesia wesentlich. Die parrhesia ist also in der Bezie::-'2n
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hung des Sprechers zu der Tatsache zu lokalisieren, daß er die Wahrheit sagt, und zu den Folgen, die sich daraus ergeben, daß er die Wahrheit gesagt hat. Platon und Dion üben in diesen Szenen das parrhesiazesthai, die parrhesia aus, und zwar insofern sie einerseits wirklich die Wahrheit sagen und sich andererseits eben dadurch den Folgen aussetzen, die im Zahlen des Preises für das Sagen der Wahrheit bestehen. Offensichtlich ist es nicht irgendein Preis, den sie zu zahlen bereit sind, wobei sie diese Bereitschaft durch das Wahrsprechen bestätigen: Dieser Preis ist der Tod. Wir haben hier - gerade deshalb halte ich diese Szene für eine U rszene, die für die parrhesia beispielhaft istden Punkt, an dem die Subjekte absichtlich die Wahrheit sagen und absichtlich und ausdrücklich akzeptieren, daß dieses Sagen der Wahrheit ihre eigene Existenz kosten könnte. Die Parrhesiastiker sind jene, die im Grenzfall den Tod um des Sagens der Wahrheit willen akzeptieren. Oder genauer, die Parrhesiastiker sind jene, die das Sagen der Wahrheit zu einem unbestimmten Preis auf sich nehmen, der im Grenzfall ihr Tod sein kann. Nun, darin scheint mir der Kern des Wesens der parrhesia zu bestehen. Ich hätte es natürlich vorgezogen, daß wir uns nicht bei dieser etwas pathetischen Formulierung der Beziehung zwischen dem Wahrsprechen und dem Risiko des Todes aufhalten, aber schließlich ist es genau das, was wir jetzt etwas aufklären müssen. Ich bin also in Verlegenheit. In dem, was ich meine, gibt es doch immerhin - ohne daß man wie Pierre Bellemare eine Werbeseite einschieben muß25 - einen natürlichen Höhepunkt. Wenn Sie wollen, machen wir nun fünf Minuten Pause und fahren dann fort. Denn ohne Pause besteht die Gefahr, daß ich noch eine halbe oder dreiviertel Stunde weitermache, und das ist vielleicht ein bißchen ermüdend. Wir treffen uns also in fünf Minuten wieder.
Anmerkungen die Vorlesung vom 10. März 1982, in: L'Hermeneutique du sujet. au College de France, 1981-1982, hg. V. F. Gros, Paris 2001, S. 355-394; dt. Hermeneutik des Subjekts, übers. v. U. Bokelmann, .?rankfurt/M. 2004, S.453-50I. ~ Ygl. die Vorlesung vom 3. Februar I982, a.a.O., S.228- 23I. ~ Galen, Traite des passions de tame et ses erreurs, übers. v. R. van der :::;5t, Paris I9I4. ZU Foucaults Analyse dieses Textes, vgl. Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S.482-487. -" Cber die Beziehung zwischen »Selbstsorge« und "Selbsterkenntnis« die Vorlesungen im Januar I982 (in: Hermeneutik des Subjekts). , L Der diese Ausweitung der Sorge um sich selbst auf die Gesamtheit des Lebens vgl. die Vorlesung vom 20. Januar 1982 (a. a. 0.). : Die Metapher des Laubs geht auf Jesaja (64) zurück: »Wie Laub sind ,,:ir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind.« - Philodemos, Peri parrhesias, hg. v. A. Olivieri, Leipzig I9I4. ZU einer _\nalyse dieses Textes vgl. Hermeneutik des Subjekts, S.473-475. '. P:tulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (Stuttgart I 894- I980) ist ein grundlegendes deutsches enzyklopädisches '\\·örterbuch. Manchmal wird sie mit PW, d.h. Pauly-Wissowa, dem "'amen der ersten Herausgeber, abgekürzt. Davon gibt es zwei hand:ichere Neuausgaben: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Stuttgart, 5 Bde., I9 64- I 975; Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart =996-2002. In der vollständigen Bibliographie der Schriften von Robert Philippson findet man nichts Derartiges (in: R. Philippson, Studien zu Epikur :md den Epikureern, Hildesheim I983, S. 339-3 52). Es ist jedoch wahrscheinlich, daß Foucault sich hier auf den Artikel "Philodernos« bezieht (PW 19, 2, I938, 2444-2482), wo von der Abhandlung des Philodernos über die parrhesia die Rede ist. .: G. Scarpat, Parrhesia. Storie deI termine et delle sue traduzioni in Lati',,0, Brescia 1964. .. :\1. Gigante, "Philodeme et la liberte de parole«, in: Association GuilL1ume Bude, Actes du VlIJe congres, Paris 5.-10. April 1968, Paris I97 0 . \'gl. die Analyse dieses Textes in: Hermeneutik des Subjekts, S.473-'-77· :.: Johannes Chrysostomos, Lettres CI Olympias, eingeleitet, übersetzt und :nit Anmerkungen versehen von A.-M. Malingrey, Paris 1947; dt. Kern der Briefe des heiligen Chrysostomos an die heilige Olympias, Köln =84 2 .
]ohannes Chrysostomos, Lettre d'exil, eingeleitet, übersetzt und mit .\nmerkungen versehen von A.-M. Malingrey, Paris I964 (Über den Sinn des Vertrauens: 3-55 S. 72, I6-5 I S. I38, 17-9 S. I4 0 ). :.:. Johannes Chrysostomos, Sur la Providence de Dieu, eingeleitet, über84
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setzt und mit Anmerkungen versehen von A.-M. Malingrey, Paris 196 I. Malingrey zufolge (Anm. 2, S. 66-67) hat der Begriff den dreifaehen Sinn einer vertrauenden Zuversicht (XI-I2, S.67), einer Redefreiheit dessen, der das Wort Gottes überbringt (XIV-6, S. 2°5) oder einer mutigen Zuversicht angesichts von Verfolgungen (XIX - I I, S. 241, XXIV-I, S. 272). CEuvres spirituelles par Dorothee de Gaza, Einleitung, griechischer Text, Übersetzung und Anmerkungen v. L. Regnault undJ. de Preville, Paris 1963. Die parrhesia hat entweder den Sinn der vertrauenden Zuversicht (I6I3B, S. 112 oder I66IC, S. 226) oder der schuldhaften Unverschämtheit (1665 A-D, S.235-236). Zu einer Analyse der »libertas« bei Seneca vgl. Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 487-493. Zur Definition der parrhesia (libertas) durch Quintilian vgl. unten, Anm.23· Plutarch, Vergleichende Lebensbeschreibungen, »Dion«, Kap. 4, übers. v. J. F. C. Campe, Stuttgart 1859, S. 2676. '>[... ] vielmehr führte den Platon eine Gottheit, welche, wie es scheint, den Syrakusern von fern her die Freiheit anbahnen und den Sturz der Tyrannenherrschaft vorbereiten wollte, aus Italien nach Syrakus [... }< (ebd.). Ebd. A.a.0.,S.2678. Sophokles, König Oidipus, S. 584-602, übers. v. Wilhe1m Willige, Düsseldorf/Zürich 1999, S. 45· Quintilian, Ausbildung des Redners, Buch VII-XII, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988: "Das gleiche soll auch von der freimütigen Rede gelten, die Cornificius ,Freiheit< nennt, die Griechen ,Parrhesie<; denn was ist weniger angenommene Figur als die echte Freiheit (der Rede) (quid enim minus figuratum quam vera libertas)?« (S.28I). Darunter versteht man die Kunst der Kontroverse und des Streitgesprächs (vom griechischen eris: Streit, Zank; die Göttin Eris ist die Göttin der Zwietracht), die insbesondere von der Schule von Megara (5. bis 6. Jahrhundert) entwickelt wurde. In einem berühmten Text (Kap. 2 der sophistischen Widerlegungen) unterscheidet AristoteIes didaktische, dialektische, kritische und eristische Argumente (die als Argumente definiert werden, welche zu ihrer Konklusion im Ausgang von Prämissen gelangen, die nur scheinbar wahrscheinlich sind). Anspielung auf eine berühmte Fernsehsendung der Zeit (»Es war einmal«), in der P. Bellemare auf dem Fernsehsender TFI sein Publikum fesselte, indem er atemberaubende Geschichten erzählte und an der spannendsten Stelle der Erzählung immer eine Werbeseite einschob.
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, zweite Stunde)
.' '-'e; :;,';izible
Momente der parrhesiastischen Aussage gegenüber der perforAussage: Eröffnung eines unbestimmten Risikos/öffentlicher Aus:.€ einer persönlichen Überzeugung/Einsatz des freien Mutes. - Dis. "':':'l'agmatik und -dramatik. - Die klassische Verwendung des Begriffs ?c.rrhesia: Demokratie (Polybios) und Staatsbürgerschaft (Euripides). '~..c:::·en
-_"' ~ zu versuchen, die allgemeine und etwas unsichere Formel, _. . e :ch Ihnen eben vorgeschlagen habe - indem ich als Grenz:::.:.: die Situation des Parrhesiasten betrachtet habe, der das (·rt ergreift, gegenüber dem Tyrannen die Wahrheit sagt und Leben riskiert - weiter aufzuklären, werde ich zur besse:::l Orientierung (das ist inzwischen zur Eselsbrücke gewor_::l, aber vielleicht ist es doch bequem) als Gegenbeispiel, als .:.~s5ageform, die der parrhesia genau entgegengesetzt ist, das :=:::~en, was man nun schon seit Jahren die performativen ."-~ssagen nennt. 1 Sie wissen sehr wohl, daß man für eine per.. :;:native Aussage einen bestimmten Kontext braucht, der ::.=ll.r oder weniger streng institutionalisiert ist, eine Person, :::' den erforderlichen Status besitzt oder sich in einer wohl de,:o:erten Situation befindet. Wenn diese Bedingungen für eine : ::-formative Aussage erfüllt sind, kann eine Person diese Aus;:gc äußern. Die Aussage ist insofern performativ, als die Äu>c:-,.:ng selbst den geäußerten Inhalt hervorbringt.':' Sie kennen ::5 erzbanale Beispiel: Der Vorsitzende der Sitzung setzt sich sagt: »Die Sitzung ist eröffnet.« Die Äußerung »Die Sit::::g ist eröffnet« ist entgegen ihrem Anschein keine Behaup:_:lg. Sie ist weder wahr noch falsch. Es ist einfach so, und dar.:: kommt es an, daß die Äußerung »Die Sitzung ist eröffnet« ::r::h sich selbst den Sachverhalt herstellt, daß die Sitzung er: ::::et ist. Oder auch, wenn jemand in einem viel weniger ins ti-.::::::malisierten Kontext, der jedoch eine Reihe von Riten und :::':5 ~1anuskript präzisiert: "Das Performativum vollzieht sich in einer
die sicherstellt, daß das Sagen das Gesagte verwirklicht. 86
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eine wohl definierte Situation beinhaltet, sagt: »Ich entschuldige mich«, dann hat er sich tatsächlich entschuldigt, und die Äußerung »Ich entschuldige mich« bringt den ausgesagten Inhalt hervor, nämlich daß sich eine gewisse Person bei einer anderen entschuldigt hat. Betrachten wir nun erneut im Ausgang von diesem Beispiel die verschiedenen Bestandteile der parrhesia, dieser Äußerung einer Wahrheit, und vor allem die Szene, in der sich die parrhesia vollzieht. Mit dem Text Plutarchs befinden wir uns - hier haben wir bis zu einem gewissen Grad einen Bestandteil, den die parrhesia mit den performativen Aussagen teilt - in einer sehr typisierten, sehr bekannten, sehr institutionalisierten Situation: der des Herrschers. Der Text zeigt das ganz gut: Der Herrscher ist da, umgeben von seinen Höflingen. Der Philosoph hat gerade seine Vorlesung gehalten, die Höflinge spenden Beifall. Die andere Szene, die in diesem Text ebenfalls gegenwärtig ist, ist ganz ähnlich und unterscheidet sich kaum: Wieder ist es der Tyrann Dionysios inmitten seines Hofes. Die Höflinge sind da, lachen über Dionysios' Witze, und jemand, nämlich Dion, erhebt sich und ergreift das Wort. Der Herrscher, die Höflinge, derjenige, der die Wahrheit sagt: eine klassische Szene (das war auch, wie Sie sich erinnern, die Szene des Ödipus). Es gibt jedoch einen Unterschied von größter Bedeutung. In einer performativen Äußerung sind die Bestandteile der Situation derart, daß sich, wenn die Äußerung vollzogen wird, eine Wirkung einstellt. Diese Wirkung ist im voraus bekannt, von vornherein geregelt. Es handelt sich um eine kodierte Wirkung, in der gerade der performative Charakter der Äußerung besteht. Während im Gegensatz dazu bei der parrhesia dasjenige, was die parrhesia ausmacht, darin besteht, daß die Einführung oder der Einbruch der wahren Rede eine offene Situation bestimmt oder vielmehr die Situation öffnet und eine Reihe von Wirkungen ermöglicht, die gerade nicht bekannt sind, und zwar gleichgültig, was der gewöhnliche, vertraute, gleichsam institutionalisierte Charakter der Situation ist, in der sie sich vollzieht. Die parrhesia bringt keine kodierte Wirkung hervor,
,.:·.:-,c·ern eröffnet ein unbestimmtes Risiko. Und dieses unbe__ ::-_.'11te Risiko ist offenbar von den Bestandteilen der Situa_:::: abhängig. Wenn man sich in einer Situation wie dieser ist das Risiko gewissermaßen äußerst offen, da der =_:a::-akter, die unbegrenzte Form der Macht des Tyrannen, das _:.c:-schwengliche Temperament Dionysios', die Leidenschafdie ihn beseelen, all das zu den schlimmsten Wirkungen _:':-en und anscheinend in der Tat zu dem Willen führen kann, ::::::::enigen, der die Wahrheit gesagt hat, sterben zu lassen. Sie ,<:::::::1 jedoch, selbst wenn es sich nicht um eine so extreme Si:.~::ion wie diese handelt, selbst wenn es nicht um einen Tyrangeht, der die Macht über Leben und Tod desjenigen hat, ::c=- spricht, was für die Aussage der parrhesia charakteristisch ._ 7;a5 gerade die Äußerung der Wahrheit in Form der parrhe:':llIer den anderen Aussageformen und den anderen Äuße-_=-_§:en der Wahrheit zu etwas absolut Einzigartigem macht, :::S:eht darin, daß in der parrhesia ein Risiko eröffnet wird. In :f:: Schritten eines Beweises, der sich unter neutralen Umstän:.::: ;-ollzieht, gibt es keine parrhesia, obwohl es sich um eine ~; ..l:;erung der Wahrheit handelt, weil derjenige, der die Wahrdiese Weise zum Ausdruck bringt, keinerlei Risiko ein: ,,:,-=. Das Aussprechen der Wahrheit eröffnet keinerlei Risiko, man es nur als einen Bestandteil eines Beweisvorgangs ::::r:chtet. Aber sobald das Aussprechen der Wahrheit, sei es ~_:-. innerhalb - denken Sie etwa an Galilei - oder auch außer.e.: eines Beweisvorgangs, ein plötzlich hereinbrechendes Er:g.:-.is darstellt, das für das sprechende Subjekt ein gar nicht :c:::- nur wenig bestimmtes Risiko eröffnet, können wir sagen, - parrhesia vorliegt. In einem gewissen Sinne ist die parrhe:Iso das Gegenteil des Performativen, wo die Äußerung von .::7::5 in Abhängigkeit von einem allgemeinen Code und von :::e:TI institutionellen Umfeld, in dem die performative Äuße~.l::§: hervorgebracht wird, ein völlig bestimmtes Ereignis herHier haben wir im Gegensatz dazu ein Wahrsprechen, ?lötzlich hereinbrechendes Wahrsprechen, ein Wahrspre.::::, das einen Bruch darstellt und ein Risiko eröffnet: Mög-
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lichkeit, Bereich von Gefahren oder zumindest ein unbestimmtes Ergebnis. Das ist das erste Merkmal. Zweitens - immer noch im Vergleich mit der performativen Äußerung - wissen Sie auch, daß bei einer performativen Äußerung der Status des Subjekts der Äußerung eine wichtige Rolle spielt. Wer die Sitzung durch die bloße Tatsache eröffnet, daß er »Die Sitzung ist eröffnet« sagt, muß auch die notwendige Autorität haben und der Vorsitzende der Sitzung sein. Wer »Ich entschuldige mich« sagt, vollzieht nur dann eine performative Äußerung, wenn er sich tatsächlich in einer solchen Situation befindet, daß er sich entschuldigen kann oder muß, vorausgesetzt daß er seinen Gesprächspartner beleidigt hat oder sich in dieser oder jener Lage ihm gegenüber befindet. Wer »Ich taufe dich« sagt, muß auch den Status haben, der zu taufen gestattet, d. h. zumindest Christ sein usw. Aber auch wenn dieser Status für den Vollzug einer performativen Äußerung unverzichtbar ist, kommt es für den Charakter der performativen Äußerung nicht darauf an, ob es eine gewissermaßen persönliche Beziehung zwischen dem Sprecher und der Äußerung selbst gibt. Mit anderen Worten und völlig empirisch gesprochen, für den Christen, der »Ich taufe dich« sagt, indem er bestimmte Gesten macht, kommt es nicht darauf an, ob er an Gott oder an den Teufel glaubt. Sobald er diese Geste wirklich vollzogen und diese Worte unter den erforderlichen Bedingungen wirklich ausgesprochen hat, hat er de facto die Taufe vollzogen, und die Äußerung ist performativ. Für den Vorsitzenden, der »Ich eröffne die Sitzung« sagt, kommt es nicht darauf an, ob die Sitzung ihn anödet oder ob er döst. Er hat gesagt »Die Sitzung ist eröffnet«. Dasselbe gilt für die Entschuldigung: Was »Ich entschuldige mich« zu etwas Performativem macht, liegt keineswegs darin, daß das Subjekt aufrichtig ist, wenn es sagt »Ich entschuldige mich«. Vielmehr ist es die bloße Tatsache, daß es diesen Satz geäußert hat, auch wenn es zu sich selbst sagt: Ich warte auf dich an der Wegbiegung, und dann sollst du sehen. Dagegen ist bei der parrhesia und in ihrem Wesen eine solche Gleichgültigkeit nicht nur unmöglich, 9°
':::iern die parrhesia ist immer eine Art des Aussprechens der :::rheit auf zwei Ebenen: die erste Ebene ist die der Äuße-_r.; der Wahrheit selbst (hier sagt man wie bei einem perfor~:iven Akt, was der Fall ist, und damit basta); dann gibt es ce::e zweite Ebene des parrhesiastischen Akts, der parrhesiasti=.'::en Außerung, die in der Behauptung besteht, daß man die " . . die man sagt, auch wirklich selbst für wirklich wahr - ~:. Ich sage die Wahrheit und denke auch selbst wirklich, daß c:e Wahrheit ist, und ich denke wirklich, daß ich die Wahre:: sage, wenn ich sie sage. Diese Zweiteilung oder Verdopp-=-; der Äußerung der Wahrheit durch die Äußerung der 2::-uheit der Tatsache, daß ich diese Wahrheit denke und daß =.'"-. indem ich sie denke, sie sage, ist für den parrhesiastischen :-::: unverzichtbar. In Plutarchs Text, den ich als Beispiel ge- -::::::en habe, werden diese beiden Ebenen nicht ausdrücklich _:::erschieden, was übrigens meistens der Fall ist, und die -,--eire Ebene (die Ebene der Behauptung, die sich auf die Be~c.:2ptung bezieht) bleibt sehr oft implizit. Dennoch sieht man .::::r deutlich, wenn man die Bestandteile der Szene betrachtet, 2:: Sir die parrhesia konstitutiv ist, daß es in diesen Bestandteietwas gibt, das diese Behauptung bezüglich der Behaup:=-; anzeigt. Und das ist im Wesentlichen der öffentliche Cha-:~:er dieser Behauptung, und zwar nicht bloß ihr öffentlicher ::::::rakter, sondern die Tatsache, daß diese parrhesia sich hier_.c.s ist nicht immer der Fall- in Gestalt einer Szene vollzieht, : ..:: folgendes beinhaltet: den Tyrannen, ihm gegenüber den ~t,echer, der sich erhoben hat oder der seine Vorlesung hält _ni der die Wahrheit sagt; und dann gibt es im Umfeld die :::::dinge, deren Einstellung sich mit dem jeweiligen Zeit- :..:n~r, der Situation, dem Sprecher usw. ändert. Dieses feier_.ce Ritual des Wahrsprechens, in dem das Subjekt das, was es sich im Gesagten zu eigen macht, indem es die Wahrheit _essen, was es denkt, in der Äußerung des Gesagten bestätigt, -:: durch diese Szene, diese Art von Lanzenstechen, diese :"'~:rausforderung dargestellt. Mit anderen Worten, ich glaube, " es innerhalb der parrhesiastischen Äußerung etwas gibt, 91
das man ein Bündnis nennen könnte: das Bündnis des Subjekts, das mit sich selbst spricht. Dieses Bündnis weist nun selbst wieder zwei Ebenen auf: die Ebene des Äußerungsakts und dann die Ebene, die implizit oder explizit sein kann, durch die das Subjekt sich an den Inhalt der gerade gemachten Äußerung bindet, aber auch an die Äußerung selbst. In diesem Sinne handelt es sich um ein doppeltes Bündnis. Einerseits sagt das Subjekt in der parrhesia: Dies ist die Wahrheit. Es sagt, daß es diese Wahrheit wirklich denkt, und dadurch bindet es sich an die Äußerung und an ihren Inhalt. Es schließt aber auch dadurch ein Bündnis, daß es sagt: Ich bin der, der diese Wahrheit gesagt hat; ich binde mich also an die Äußerung und trage das Risiko all ihrer Folgen. Die parrhesia beinhaltet also die Äußerung der Wahrheit und außerdem über diese Äußerung hinaus ein implizites Element, das man das parrhesiastische Bündnis des Subjekts mit sich selbst nennen könnte, durch das es sich sowohl an den Inhalt der Äußerung als auch an den Äußerungsakt selbst bindet: Ich bin der, der dies gesagt hat. In diesem Lanzenstechen, dieser Herausforderung, dieser großen Szene, in der sich ein Mann vor dem Tyrannen erhebt und vor den Augen und Ohren des ganzen Hofes die Wahrheit sagt, manifestiert sich dieses Bündnis. Der dritte Unterschied zwischen der performativen und der parrhesiastischen Äußerung: Eine performative Äußerung erfordert, daß der Sprecher einen Status hat, der ihm, wenn er seine Äußerung vollzieht, gestattet, das Gesagte zu verwirklichen; um wirklich die Sitzung zu eröffnen, muß er Vorsitzender sein; um zu sagen »ich verzeihe dir« und damit »ich verzeihe dir« eine performative Äußerung ist, muß der Sprecher eine Beleidigung erfahren haben. Dagegen ist das, was eine parrhesiastische Äußerung charakterisiert, nicht die Tatsache, daß das sprechende Subjekt diesen oder jenen Status hat. Es kann ein Philosoph sein, es kann der Schwager des Tyrannen sein, ein Höfling oder irgendjemand anderes. Der Status ist also nicht das, was wichtig und notwendig ist. Was die parrhesiastische Äußerung auszeichnet, liegt gerade darin, daß unabhängig vom 92
Status und von allem, was die Situation kodieren oder bestimmen könnte, der Parrhesiastiker derjenige ist, der seine eigene Freiheit eines sprechenden Individuums geltend macht. Wenn schließlich Platon aufgrund seines Status seine eigene Philoso?hie lehren sollte - was man von ihm erwartet hat -, so war er doch völlig frei, auf Dionysios' Frage nicht zu antworten: Ich :;:lin nach Sizilien gekommen, um einen Ehrenmann zu finden :md - implizit - ich habe ihn nicht gefunden). Diese Antwort -;;:ar gewissermaßen eine Zugabe zu Platons Statusfunktion als I...ehrender. Auf dieselbe Weise sollte Dion als Höfling, Schwager des Tyrannen usw. Dionysios gute Ansichten und gute Ratschläge geben, damit dieser anständig regieren kann. Schließ, lag es nur in seiner Freiheit zu sagen oder nicht zu sagen: Gelon regierte, war es gut; und nun, da du regierst, befindet die Stadt in einem verheerenden Zustand. Während die ?ertormative Äußerung ein bestimmtes Spiel definiert, in dem ier Status des Sprechers und die Situation, in der er sich befin.ieI, genau vorschreiben, was er sagen kann und soll, existiert iie parrhesia nur, wenn es eine Freiheit in der Äußerung der 'iX'ahrheit gibt, eine Freiheit der Handlung, bei der das Subjekt 2:e Wahrheit sagt, aber auch eine Freiheit des Bündnisses, das das sprechende Subjekt sich an das Gesagte und die }:cuGerung der Wahrheit bindet. Und in diesem Sinne findet mm im Zentrum der parrhesia nicht den sozialen und institu::onellen Status des Subjekts, sondern seinen Mut. :):e parrhesia - und hier fasse ich zusammen und bitte Sie zu .::::schuldigen, daß ich so langsam war und auf der Stelle trat .s: also eine bestimmte Art zu sprechen. Genauer, eine Art, die aIrrheit zu sagen. Drittens eine solche Art, die Wahrheit zu '.lgen, daß man für sich selbst durch die Tatsache, daß man die :k~rheit sagt, ein Risiko eröffnet. Viertens ist die parrhesia ::::e Weise, dieses mit dem Wahrsprechen verbundene Risiko cu eröffnen, indem man sich selbst gewissermaßen beim Spre::::en als Partner seiner selbst konstituiert, indem man sich an C:e: geäußerte Wahrheit und an die Äußerung der Wahrheit :::::det. Schließlich ist die parrhesia eine Weise, sich in der geäu93
ßerten Wahrheit an sich selbst zu binden, sich frei und in Gestalt einer mutigen Handlung an sich selbst zu binden. Die parrhesia ist der freie Mut, durch den man sich selbst in der Handlung des Wahrsprechens bindet. Die parrhesia ist auch die Ethik des Wahrsprechens, insofern es sich dabei um einen riskanten und freien Akt handelt. In diesem Sinne kann man für den Begriff der parrhesia, der in seinem auf die Leitung des Gewissens beschränkten Gebrauch mit »Freimut« wiedergegeben wurde, als Übersetzung den Begriff der »Wahrhaftigkeit« vorschlagen. Der Parrhesiastiker, der von der parrhesia Gebrauch macht, ist der wahrhaftige Mensch, d. h. derjenige, der den Mut besitzt, das Aussprechen der Wahrheit zu riskieren, und der dieses Aussprechen der Wahrheit in einem Bündnis mit sich selbst riskiert, und zwar gerade insofern er der Verkünder der Wahrheit ist. Er ist der Wahrhaftige. Mir scheint (vielleicht können wir hierauf zurückkommen, ich weiß nicht, ob die Zeit reichen wird), daß die Nietzschesche Wahrhaftigkeit eine gewisse Weise ist, diesen Begriff, dessen entfernter Ursprung auf den Begriff der parrhesia (des Wahrsprechens) zurückgeht, im Sinne eines Risikos für denjenigen aufzufassen, der die Wahrheit ausspricht, als Risiko, das von dem, der sie ausspricht, akzeptiert wird. Verzeihen Sie alle diese Verzögerungen. Es ging darum, die Frage nach der parrhesia in den dreifachen Kontext zu stellen, in dem ich sie untersuchen möchte. Erstens sehen Sie, daß, wenn man diese Definition der parrhesia annimmt, eine grundlegende philosophische Frage auftaucht. Man sieht jedenfalls, daß die parrhesia eine philosophische Frage ins Spiel bringt, die nicht mehr und nicht weniger ist als die entstehende Verbindung zwischen der Freiheit und der Wahrheit. Es handelt sich nicht um die wohlbekannte Frage, bis zu welchem Grad die Wahrheit die Ausübung der Freiheit begrenzt oder einschränkt, sondern gewissermaßen um die umgekehrte Frage: Wie und inwiefern ist die Verpflichtung zur Wahrheit - das »sich der Wahrheit verpflichten«, das »sich durch die Wahrheit verpflichten und durch das Wahrsprechen« - selbst eine Aus-
_:JUng von Freiheit, und zwar eine gefährliche Ausübung? Indaß man sich der Wahrheit verpflichtet verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, sich durch die Wahr.-.eir yerpflichtet, durch den Inhalt dessen, was man sagt, und :'::-ch die Tatsache, daß man es sagt), in Wirklichkeit die Aus.::.mg, und zwar die höchste Ausübung der Freiheit? Vor dem :-::.c,tergrund dieser Frage muß, glaube ich, jegliche Untersu::':mg der parrhesia entwickelt werden. Zv:,'eitens geht es um einen engeren methodologischen Zusam:::errhang, der mehr mit der Analyse zu tun hat und den ich =",:'' x schematisch folgendermaßen zusammenfassen möchte. ';C::n.n man die allgemeine Definition der parrhesia im Ausgang '::: Plutarchs Beispiel annimmt, sieht man, daß die parrhesia eine bestimmte Weise des Sprechens ist, die die Eigenhat, daß das Gesagte und der Akt der Äußerung »Rückv;"::-kungen« auf das Subjekt haben werden, die jedoch nicht in :;",sralt einer Konsequenz auftreten. Bezüglich dieses Punktes ich vielleicht nicht klar genug, aber die parrhesia ereignete nicht deshalb, weil Dionysios Platon für das, was er gesagt -:;':" de facto töten wollte. Die parrhesia existiert von dem Au::en.blick an, in dem Platon das Risiko akzeptiert, verbannt, ge'~:et, verkauft usw. zu werden, wenn er die Wahrheit sagt. Die ·.;·,~,.hesia ist also dasjenige, wodurch sich das Subjekt selbst an _,.: Aussage, an die Äußerung und an die Konsequenzen dieser .lc:.:ssage und dieser Äußerung bindet. Nun, wenn das das Weder parrhesia ist, sehen Sie, daß wir hier möglicherweise ':::'c:: ganze Schicht von möglichen Analysen bezüglich der ::-kung eines Diskurses haben. Die Probleme und die Unter<:r::idung zwischen der Analyse der Sprache und der sprach'::'en Tatsachen und der Diskursanalyse sind ihnen wohlbe':,l:'-,"1t. Was ist das, was man die Diskurspragmatik nennt oder .r:-indest so nennen könnte? Nun, es ist die Analyse dessen, irr der tatsächlichen Situation eines Sprechers den Sinn und :,e:-: Wert der Aussage beeinflußt und verändert. In diesem Sin- :oeruht die Analyse oder die Bestimmung von so etwas wie c.::e:- performativen Aussage eben auf einer Diskurspragmatik.
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~~~eiern ist die Tatsache,
Die Situation und das sprechende Subjekt sind so beschaffen, daß die Aussage »Die Sitzung ist eröffnet« einen bestimmten Wert und einen bestimmten Sinn hat, die nicht dieselben sind, wenn die Situation eine andere und wenn das sprechende Subjekt ein anderes ist. Wenn ein Journalist in der Ecke eines Raumes sagt »Die Sitzung ist eröffnet«, stellt er fest, daß die Sitzung gerade eröffnet wurde. Wenn der Vorsitzende der Sitzung sagt »Die Sitzung ist eröffnet«, weiß man sehr wohl, daß die Aussage weder denselben Wert noch denselben Sinn hat. In diesem Falle ist es eine performative Aussage, die die Sitzung tatsächlich eröffnet. All das ist bekannt. Sie sehen, daß die Analyse der Diskurspragmatik die Analyse der Bestandteile und Mechanismen ist, durch die die Situation, in der sich der Sprecher befindet, den Wert oder den Sinn des Diskurses ändert. Daß der Diskurs seinen Sinn in Abhängigkeit von dieser Situation und der Diskurspragmatik ändert, entspricht folgender Frage: Wodurch ändern oder beeinflussen die Situation oder der Status des sprechenden Subjekts den Sinn und den Wert der Aussage? Mit der parrhesia erscheint eine ganze Familie von Diskurstatsachen, die davon völlig verschieden sind, die nahezu die Umkehrung oder das Spiegelbild dessen sind, was man Diskurspragmatik nennt. Bei der parrhesia handelt es sich in der Tat um eine ganze Reihe von Diskurstatsachen, bei denen es nicht die wirkliche Situation des Sprechers ist, die den Wert der Aussage beeinflussen oder modifizieren. Bei der parrhesia beeinflussen die Aussage und der Akt der Äußerung zugleich auf die eine oder andere Weise die Seinsweise des Subjekts und machen ganz einfach - wenn wir die Dinge in ihrer allgemeinsten und neutralsten Gestalt betrachten -, daß der Sprecher das Gesagte wirklich gesagt hat und daß er sich durch eine mehr oder weniger explizite Handlung an die Tatsache bindet, daß er es gesagt hat. Diese Rückwirkung, die darin besteht, daß das Ereignis der Äußerung die Seinsweise des Subjekts beeinflußt oder daß das Subjekt, indem es das Ereignis der Äußerung hervorbringt, seine Seinsweise als sprechendes Subjekt modifiziert oder be96
oder zumindest bestimmt und präzisiert, zeichnet, glau:" ich, einen anderen Typ von Diskurstatsachen aus, die sich ::: denen der Pragmatik völlig unterscheiden. Was man die <:::J,amatik« des Diskurses nennen könnte, wenn man alles Pa:::etische von diesem Wort abstreift, ist die Analyse dieser Dis::.-.:rstatsachen, die zeigt, wie das Ereignis der Äußerung selbst :'25 Sein des Sprechers beeinflussen kann. Augenscheinlich ist '::e parrhesia ganz genau das, was man einen Aspekt und eine ? xm der Dramatik des wahren Diskurses nennen könnte. Es bei der parrhesia um die Art und Weise, wie man sich, in.:,,::: man das Wahre behauptet und im Akt dieser Behauptung '_~:DSt als derjenige konstituiert, der wahr gesprochen hat und .:,,;- sich in demjenigen und als derjenige anerkennt, der wahr ~::5prochen hat. Die Analyse der parrhesia ist die Analyse diese, Dramatik des wahren Diskurses, die das Bündnis des spre:::enden Subjekts mit sich selbst im Akt des Wahrsprechens :-..:., Erscheinung bringt. Ich glaube, daß man auf diese Weise c:ne ganze Analyse der Dramatik und der verschiedenen For:nen der Dramatik des wahren Diskurses unternehmen könnte: ::::, Prophet, der Weissager, der Philosoph, der Wissenschaftler. alle, was auch ihre sozialen Bestimmungen sein mögen, die _S:,::I1 Status festlegen, bringen eine bestimmte Dramatik des 2.h,en Diskurses ins Spiel, d. h. sie besitzen eine bestimmte lc-'C, sich als Subjekte an die Wahrheit dessen zu binden, was sie '2.;en. Es ist klar, daß sie sich nicht auf dieselbe Weise an die 2.:1.rheit dessen binden, was sie sagen, wenn sie als Weissager, 2..5 Prophet, als Philosoph oder als Wissenschaftler innerhalb c:.::er wissenschaftlichen Institution sprechen. Die sehr ver.:hi"dene Art der Bindung des Subjekts an die Äußerung des ·Ca:.'1ren würde, glaube ich> das Feld für mögliche Untersu:.r:-":':1gen bezüglich der Dramatik des wahren Diskurses eröff-
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Die Situation und das sprechende Subjekt sind so beschaffen, daß die Aussage »Die Sitzung ist eröffnet« einen bestimmten Wert und einen bestimmten Sinn hat, die nicht dieselben sind, wenn die Situation eine andere und wenn das sprechende Subjekt ein anderes ist. Wenn ein Journalist in der Ecke eines Raumes sagt »Die Sitzung ist eröffnet«, stellt er fest, daß die Sitzung gerade eröffnet wurde. Wenn der Vorsitzende der Sitzung sagt »Die Sitzung ist eröffnet«, weiß man sehr wohl, daß die Aussage weder denselben Wert noch denselben Sinn hat. In diesem Falle ist es eine performative Aussage, die die Sitzung tatsächlich eröffnet. All das ist bekannt. Sie sehen, daß die Analyse der Diskurspragmatik die Analyse der Bestandteile und Mechanismen ist, durch die die Situation, in der sich der Sprecher befindet, den Wert oder den Sinn des Diskurses ändert. Daß der Diskurs seinen Sinn in Abhängigkeit von dieser Situation und der Diskurspragmatik ändert, entspricht folgender Frage: Wodurch ändern oder beeinflussen die Situation oder der Status des sprechenden Subjekts den Sinn und den Wert der Aussage? Mit der parrhesia erscheint eine ganze Familie von Diskurstatsachen, die davon völlig verschieden sind, die nahezu die Umkehrung oder das Spiegelbild dessen sind, was man Diskurspragmatik nennt. Bei der parrhesia handelt es sich in der Tat um eine ganze Reihe von Diskurstatsachen, bei denen es nicht die wirkliche Situation des Sprechers ist, die den Wert der Aussage beeinflussen oder modifizieren. Bei der parrhesia beeinflussen die Aussage und der Akt der Äußerung zugleich auf die eine oder andere Weise die Seinsweise des Subjekts und machen ganz einfach - wenn wir die Dinge in ihrer allgemeinsten und neutralsten Gestalt betrachten -, daß der Sprecher das Gesagte wirklich gesagt hat und daß er sich durch eine mehr oder weniger explizite Handlung an die Tatsache bindet, daß er es gesagt hat. Diese Rückwirkung, die darin besteht, daß das Ereignis der Äußerung die Seinsweise des Subjekts beeinflußt oder daß das Subjekt, indem es das Ereignis der Äußerung hervorbringt, seine Seinsweise als sprechendes Subjekt modifiziert oder be96
stätigt oder zumindest bestimmt und präzisiert, zeichnet, glaube ich, einen anderen Typ von Diskurstatsachen aus, die sich yon denen der Pragmatik völlig unterscheiden. Was man die "Dramatik« des Diskurses nennen könnte, wenn man alles Pathetische von diesem Wort abstreift, ist die Analyse dieser Diskurstatsachen, die zeigt, wie das Ereignis der Äußerung selbst das Sein des Sprechers beeinflussen kann. Augenscheinlich ist die parrhesia ganz genau das, was man einen Aspekt und eine Form der Dramatik des wahren Diskurses nennen könnte. Es geht bei der parrhesia um die Art und Weise, wie man sich, indem man das Wahre behauptet und im Akt dieser Behauptung selbst als derjenige konstituiert, der wahr gesprochen hat und der sich in demjenigen und als derjenige anerkennt, der wahr gesprochen hat. Die Analyse der parrhesia ist die Analyse dieser Dramatik des wahren Diskurses, die das Bündnis des sprechenden Subjekts mit sich selbst im Akt des Wahrsprechens zur Erscheinung bringt. Ich glaube, daß man auf diese Weise eine ganze Analyse der Dramatik und der verschiedenen Formen der Dramatik des wahren Diskurses unternehmen könnte: der Prophet, der Weissager, der Philosoph, der Wissenschaftler. Sie alle, was auch ihre sozialen Bestimmungen sein mögen, die ihren Status festlegen, bringen eine bestimmte Dramatik des wahren Diskurses ins Spiel, d. h. sie besitzen eine bestimmte Art, sich als Subjekte an die Wahrheit dessen zu binden, was sie sagen. Es ist klar, daß sie sich nicht auf dieselbe Weise an die Wahrheit dessen binden, was sie sagen, wenn sie als Weissager, als Prophet, als Philosoph oder als Wissenschaftler innerhalb einer wissenschaftlichen Institution sprechen. Die sehr verschiedene Art der Bindung des Subjekts an die Äußerung des Wahren würde, glaube ich, das Feld für mögliche Untersuchungen bezüglich der Dramatik des wahren Diskurses eröffnen. Nun komme ich also zu den Dingen, die ich dieses Jahr behandeln möchte. Wenn wir als allgemeinen Hintergrund die philosophische Frage nach der Beziehung zwischen der Verpflichtung der Wahrheit und der Ausübung der Wahrheit nehmen 97
und als methodologischen Gesichtspunkt das, was man die allgemeine Dramatik des wahren Diskurses nennen könnte, dann möchte ich gerne sehen, ob man nicht von diesem zweifachen (philosophischen und methodologischen) Gesichtspunkt aus die Geschichte, die Genealogie usw. des politischen Diskurses schreiben könnte. Gibt es eine politische Dramatik des wahren Diskurses, und was könnten die verschiedenen Formen, die verschiedenen Strukturen der Dramatik des politischen Diskurses sein? Mit anderen Worten, wenn jemand sich in der Stadt oder im Angesicht des Tyrannen erhebt oder wenn der Höfling sich an denjenigen wendet, der die Macht ausübt, oder wenn der Politiker auf die Tribüne tritt und sagt: »Ich sage euch die Wahrheit«, welchen Typus von Diskursdramatik realisiert er dann? Was ich dieses Jahr tun möchte, ist also eine Geschichte des Diskurses der Gouvernementalität zu entwickeln, die jene Dramatik des wahren Diskurses zum Leitfaden nehmen wird und die versucht, einige der großen Formen der Dramatik des wahren Diskurses zu bestimmen. Als Ausgangspunkt möchte ich eben die Art und Weise nehmen, wie sich hier dieser Begriff der parrhesia bildet: Wie läßt sich in der Antike die Bildung einer bestimmten Dramatik des wahren Diskurses im Bereich der Politik ausmachen, nämlich im Diskurs des Ratgebers? Wie gelangte man von einer parrhesia, die, wie Sie gleich oder das nächste Mal sehen werden, den öffentlichen Redner charakterisiert, zu einer Vorstellung der parrhesia, die die Dramatik des Ratgebers auszeichnet, der an der Seite des Fürsten das Wort ergreift und ihm sagt, was er tun soll? Das werden die ersten Figuren sein, die ich untersuchen möchte. Zweitens möchte ich die Figur dessen untersuchen, die ich etwas schematisch - alle diese Ausdrücke sind offensichtlich recht willkürlich - die Dramatik des Ministers nennen will, d. h. jene neue Dramatik des wahren Diskurses im Bereich der Politik, die um das 16. Jahrhundert erscheint, als die Regierungskunst Gestalt anzunehmen, autonom zu werden und ihre eigene Technik entsprechend dem Wesen des Staates zu bestimmen beginnt. Was ist der wahre Diskurs, mit dem sich der 98
»Minister«':' an den Monarchen wendet, und zwar im Namen von etwas, das sich Staatsräson nennt, und in Entsprechung zu einer bestimmten Form des \Vissens, nämlich des Staatswissens ? Drittens könnte man, obwohl ich nicht weiß, ob ich dazu Zeit haben werde, eine dritte Figur der Dramatik des wahren Diskurses im Bereich der Politik auftauchen sehen, nämlich die Figur des »Kritikers«: Was ist der kritische Diskurs, der sich im Bereich der Politik bildet, im 18. Jahrhundert jedenfalls einen gewissen Status annimmt und sich das ganze I 9. und 20. J ahrhundert hindurch fortsetzt? Schließlich könnte man natürlich noch eine vierte große Figur in der Dramatik des wahren Diskurses im Bereich der Politik ausmachen, nämlich die Figur des Revolutionärs. Wer ist der, der sich inmitten einer Gesellschaft erhebt und sagt: Ich sage die Wahrheit, und zwar sage ich die Wahrheit im Namen der Revolution, die ich und die wir gemeinsam veranstalten werden? Das ist ungefähr der allgemeine Rahmen der Untersuchungen für dieses Jahr. Ich bin also gleichzeitig zu spät und zu früh. Zu spät im Hinblick auf das, was ich vorhatte, und zu früh, wenn ich an dieser Stelle hätte aufhören wollen. [... ,:-,:-] Die erste Reihe von Untersuchungen oder die ersten Betrachtungen richten ,,- Foucault präzisiert: in Anführungszeichen ".,,- M. F. fügt hinzu: Bevor ich mit dieser Geschichte der parrhesia und der ersten Figur, der des Ratgebers, beginne, möchte ich zwar nicht eine Frage, aber doch eine Sache wiederaufnehmen, die ich letztes Mal angeschnitten hatte. Es handelt sich um die Möglichkeit, falls Sie es wünschen, sich mit denjenigen unter ihnen zu treffen, die Forschungen betreiben. Ich möchte noch einmal betonen, daß es nicht darum geht, die anderen auszuschließen, sondern darum, Fragen zu stellen und Arbeitsverhältnisse zu haben, die sich von den Verhältnissen eines Spektakels innerhalb der Vorlesung unterscheiden. Ich bin mir nicht sicher, könnten diejenigen von Ihnen, die mit einer Arbeit beschäftigt sind und die wünschen, daß man ihre Arbeit diskutiert oder die mich bezüglich meiner Ausführungen, aber im Hinblick auf ihre eigene Arbeit fragen wollen, nächsten Mittwoch um viertel vor zwölf kommen? Wir würden uns eine halbe Stunde für den Kaffee nehmen, und dann werde ich versuchen, den Hörsaal neben diesem hier zu reservieren, d. h. Hörsaal 3, glaube ich. Wir würden uns einfach so treffen, zwanzig, dreißig, jedenfalls in kleiner Zahl ... In Ordnung, wollen Sie, daß wir das tun?
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sie:0. auf die Art und Weise, wie sich diese Persönlichkeit gebilCet hat, d.h. diese Art von Diskursdramatik, die Dion in Plutarehs Text veranschaulicht. Die Szene, auf die ich mich bezogen habe, stammt aus dem 4. Jahrhundert (sie wurde jedoch yon Piutarch zu Beginn des 2. nachchristlichen Jahrhunderts geschrieben). Man sieht darin die Figur des Ratgebers des Fürsten, der sich, an seiner Seite und ihm nahestehend und sogar mit ihm durch ein Verwandtschaftsverhältnis verbunden, erund ihm die Wahrheit sagt. Und zwar sagt er die Wahrheit in einem Diskursmodus, den Plutarch ausdrücklich parrhesia nennt. Ich habe versucht, Ihnen eine Art von allgemeinem Überblick über den Begriff und die Arten von Problemen zu geben, die er aufwerfen kann. Aber schließlich darf man doch nicht vergessen, daß, wenn man die diachrone Geschichte des Begriffs der parrhesia betrachtet, dieser Begriff in den klassischen Texten, in den Texten des 4. Jahrhunderts, den Sinn hat, den Plutarch ihm gibt und in dem er ihn im Hinblick auf Dion verwendet. Der Gebrauch des Wortes parrhesia in den klassischen Texten ist etwas komplexer und recht verschieden davon. Ich möchte Ihnen heute und dann das nächste Mal einige dieser Verwendungsweisen angeben. Erstens, während die parrhesia in Plutarchs Text - übrigens in Entsprechung zu dem, was ich Ihnen gesagt habe, als ich versuchte, den Begriff zu erläutern - an eine Tugend gebunden zu sein scheint, an eine persönliche Qualität, an den Mut (der Mut in der Freiheit des Wahrsprechens), beinhaltet das Wort parrhesia, wie es in der klassischen Epoche verwendet wird, zumindest nicht in erster Linie und wesentlich diese Dimension des persönlichen Mutes, sondern bezieht sich vielmehr auf zweierlei: einerseits auf eine bestimmte politische Struktur, die das Gemeinwesen auszeichnet; und zweitens auf den sozialen und politischen Status bestimmter Personen innerhalb dieses Gemeinwesens. Erstens, die parrhesia als politische Struktur. Hierzu nur eine Quellenangabe, die übrigens nicht aus dem 4. Jahrhundert stammt, da sie sich auf Polybios bezieht, die aber das Problem 100
einigermaßen lokalisiert. In Polybios' Text (Buch II, Kap. 3 6, Abschnitt 6) wird die Herrschaft der Achäer durch drei große Merkmale beschrieben. Er sagt, daß es bei den Achäern Gemeinden gibt, in denen man folgendes findet: demokratia (die Demokratie); zweitens, isegoria; drittens, parrhesia. 2 Demokratia bedeutet die Beteiligung, nicht aller, sondern des ganzen demos, d. h. aU derer, die als Bürger und folglich als Mitglieder des demos gelten können, welche an der Macht teilhaben solIsegoria bezieht sich auf die Struktur der Gleichheit, nach cer Recht und Pflicht, Freiheit und Verpflichtung dasselbe oder gleich sind, und zwar auch hier für alle, die dem demos angehören und die folglich den Status des Bürgers haben. Das dritte Merkmal dieser Staaten ist schließlich die Tatsache, daß man in ihnen die parrhesia antrifft. Man findet dort die parrhesia, d.h. die Freiheit der Bürger, das Wort zu ergreifen, und zwar im Bereich der Politik, der sowohl abstrakt (die politische Aktivität) als auch sehr konkret aufgefaßt wurde: das Recht, in der Versammlung, und zwar der vereinigten Versammlung, sich zu erheben, zu sprechen, die Wahrheit zu sagen, oder vorzugeben, daß man die Wahrheit sagt, und zu behaupten, daß man sie sagt, auch wenn man kein besonderes Amt bekleidet, auch wenn man kein Magistrat ist. Das ist die parrhesia: eine 'Oolitische Struktur. Dann gibt es eine ganze Reihe anderer Verwendungsweisen des \'17ortes parrhesia, die sich weniger auf jene allgemeine Struktur Gemeinwesens als vielmehr auf den Status der Individuen beziehen, wie dies recht deutlich in mehreren Texten von Euripides zum Vorschein kommt. Erstens findet man in der Tragödie Ion, bei den Versen 668-675, folgenden Text: »Find ich die ).1utter nicht, die mich geboren, leb ich nur halb. Ist mir ein 'X·unsch verstattet, so wär' es der, daß aus Athen sie stammte ~ die Frau, die mich gebar und die ich suche, M. F.J. Dann könnt' ich frei von meiner Abkunft reden rhos moi genetai "2etrothen parrhesia: damit die parrhesia von meiner Mutter :0.errühre; M. F.J. Mischt in ein reines Volk der Fremde sich, mag nach dem Recht er Bürger sein, sein Mund erwirbt nie 101
ganz der freien Rede Stolz [ouk echei parrhesian: Er hat die parrhesia nicht; M.F.].«3 Was ist das nun für ein Text, und was läßt sich in ihm erkennen? Es geht um jemanden, der auf der Suche nach seiner Abstammung ist, der seine Mutter nicht kennt und der dann wissen will, welchem Gemeinwesen und welcher Gemeinschaft er angehört. Warum will er das wissen? Er will es gerade deshalb wissen, um zu erfahren, ob er das Recht, zu sprechen, hat. Und da er sich in Athen befindet und nach dieser Frau sucht, hofft er, daß die Mutter, die er schließlich entdecken wird, Athenerin sei, also dieser Gemeinschaft angehört, diesem demos usw., und daß er entsprechend seiner Herkunft selbst das Recht hat, frei zu sprechen, d. h. die parrhesia auszuüben. Denn, so sagt er, in einer »unbefleckten« Stadt, d.h. in einer Stadt, in der man die Traditionen bewahrt hat, in der die politeia (die Verfassung) weder durch Tyrannei noch durch Despotismus geändert wurde, auch nicht durch die übermäßige Eingliederung von Leuten, die keine echten Bürger sind, nun, in einer Stadt, die unbefleckt geblieben ist und in der die politeia das blieb, was sie sein sollte, haben nur die Bürger die parrhesia. Sie sehen, daß außer diesem allgemeinen Thema, das die Suche nach der mütterlichen Herkunft dieser einzigartigen Persönlichkeit bildet, und das Recht, zu sprechen, an die Zugehörigkeit zum demos bindet, zwei Dinge festgehalten zu werden verdienen. Erstens wird das Recht zu sprechen, die parrhesia, hier augenscheinlich durch die Mutter übertragen. Zweitens sehen Sie auch, daß gegenüber den Bürgern, die das Recht zu sprechen haben, der Status des Fremden festgelegt ist und in Erscheinung tritt, dessen Sprache die eines Leibeigenen ist, wenn die Stadt wirklich unbefleckt ist. Im griechischen Text heißt es ausdrücklich: to ge stoma doulon (sein Mund ist der eines Sklaven). Das bedeutet, daß das Recht zu sprechen, die Einschränkung der Freiheit des politischen Diskurses total ist. Er hat die Freiheit des politischen Diskurses eben nicht, er hat keine parrhesia. Wir haben also die Zugehörigkeit zu einem demos; parrhesia als Recht zu sprechen, das mütterlicherseits vererbt wird; und schließlich den Ausschluß I02
der Nichtbürger, deren Sprache die der Leibeigenen ist. Das kommt in diesem Text zum Vorschein. Ich möchte gerne an dieser Stelle aufhören, obwohl ich noch nicht ganz fertig bin. Ich spüre jedoch sehr deutlich, daß, wenn ich mit dem Vergleich zwischen diesen und anderen Texten von Euripides beginne ... Wir werden also nächstes Mal weitermachen, danke.
Anmerkungen = VgL die folgenden beiden wichtigen Quellenangaben: J. L. Austin, Zur
Theorie der Sprechakte, übers. und bearb. v. Eike von Savigny, 2. AufL, Stuttgart 2002 (H ow To Da Things with Words, Oxford 1962); J. Searle, Sprechakte, übers. v. R. und R. Wiggershaus, 7. AufL, Frankfurt/M. I997 (Speech Aas: An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 19 69)·
:: "Eine reinere, von echterem Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung, der Meinungsfreiheit, kurz, einer wahren Demokratie wird man nicht leicht finden, als sie bei den Achaeern besteht« :Polybios, Geschichte, Zweites Buch, 38, eingeL und übenr. von H. Drexler, Zürich und Stuttgart 196I, S'149). " Ion, 671- 675, in: Euripides, Tragödien, übers. v. Hans von Arnim, mit einer Einführung und Erläuterungen v. Bernhard Zimmermann, Zürich und München 1990, S. 263.
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Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, erste Stunde)
Die Person Ions in der Mythologie und Geschichte Athens. - Der politische Kontext von Euripides' Tragödie: der Friede des Nikias. - Geschichte der Geburt Ions. - Alethurgisches Schema der Tragödie. - Strukturvergleich zwischen Ion und König Ödipus. - Die Abenteuer des Wahrsprechens in Ion: die doppelte Halblüge.
Heute möchte ich die Untersuchung des Begriffs der parrhesia fortsetzen. Es handelt sich um einen Begriff, der in erster Näherung einen recht großen Bereich abzudecken scheint, da der Ausdruck sich einerseits darauf bezieht, »alles zu sagen«, andererseits auf das »Wahrsprechen« und drittens auf den »Freimut«. Alles sagen, Wahrsprechen, freimütig sprechen: Das sind die drei Achsen des Begriffs. Sie erinnern sich, daß ich diesen Begriff in dem besonderen Zusammenhang der Gewissensleitung erwähnt hatte. Dieses Jahr möchte ich ihn im weiteren Kontext der Regierung des Selbst und der anderen untersuchen. Während der letzten Vorlesung hatte ich versucht, einige Aspekte des Begriffs der parrhesia etwas zu umreißen, und zwar in dem Sinne, in dem er in einem gewissermaßen durchschnittlichen Text, nämlich dem von Plutarch, vorkommt, der das parrhesiastische Aufeinandertreffen von zunächst Platon und dann von Dion mit dem Tyrannen Dionysios inszeniert. Von dieser ersten Skizze ausgehend, möchte ich nun weiter zurückgehen und der Geschichte bzw. den verschiedenen Schichten in der Geschichte des Begriffs der parrhesia in mehr Einzelheiten zu folgen versuchen, und zwar im wesentlichen vom Gesichtspunkt seiner politischen Bedeutungen aus. Unter den wichtigsten klassischen Texten zum Begriff der parrhesia findet man einige bei Euripides, und zwar insbesondere in vier seiner Stükke: Ion, Die Phoinikierinnen, Hippolytos und Die Bakchen. Letztes Mal habe ich sehr kurz von dem Text gesprochen, den man in Ion findet und in dem die Hauptperson, Ion, erklärt, I04
daß er ein starkes Bedürfnis habe, zu wissen, wer seine Mutter sei, da er sie nicht kenne. Er hat nicht nur ein Bedürfnis zu wissen, wer sie ist, sondern er hätte gerne, daß sie Athenerin sei, um von seiner Mutter her (metrothen) das Recht zu erhalten, frei zu sprechen, d. h. die parrhesia zu erhalten. Denn: »Mischt in ein reines Volk der Fremde sich, mag nach dem Recht er Bürger sein, sein Mund erwirbt nie ganz der freien Rede Stolz [sein Mund wird Sklave bleiben: stoma doulon; M.F.].«l Das war der Text, auf den ich Sie letztes Mal hingewiesen habe. Zu diesem Text lässt sich gewiß einiges sagen. In der BudeAusgabe von Euripides sagt Gregoire, der Autor der Einleiwng - die übrigens sehr interessant und meines Erachtens historisch nicht nur sehr akkurat, sondern auch sehr gut belegt ist, da ich trotz des Alters der Ausgabe (sie stammt aus dem Jahr 1925 oder 1930) feststellen konnte, daß die Literaturhistoriker nur wenig an dem ändern, was als historische Tatsache gilt -: Ion ist also ein junger Mann, sehr prächtig, sehr lobenswert und sehr ehrenhaft, der eine »echte Inbrunst« und »zartes Empfinden« zeigt. Er hat einen »impulsiven Erkenntnisdrang«, die »freudige Tätigkeit der Jugend« und »er legt Wert auf seinen Freimut im Reden«.2 Nun, mir scheint, daß dieses Problem des Freimuts etwas anders gelagert ist und andere Dimensionen aufweist als die psychologischen, auf die Gregoire in seiner Einleitung hinweist. Wenn ich mich für diesen Text L,lteressiere, dann deshalb, weil er gerade in der Mitte oder besser am Ende des ersten Drittels einer Tragödie steht, von der man wohl behaupten kann, daß sie gänzlich der parrhesia gev:idmet ist oder zumindest durch und durch vom Thema der parrhesia (des Alles-Sagens, des Wahrsprechens und des Freimuts) beherrscht wird. Betrachten wir ein wenig die Geschichte, die als Hintergrund der Tragödie fungiert. Ion ist eine Person, die keiner der großen mythischen Einheiten des griechischen Erbes angehört und die keinen Platz in einer der bekannten kulturellen Praktiken hat. Er ist ein Zuspätgekommener, eine künstliche Person, I05
die zunächst sehr diskret in den wissenschaftlichen Genealogien aufgetreten zu sein scheint, die vor allem ab dem 7· J ahrhundert verwendet und im 5. Jahrhundert häufig wiederbelebt wurden. Bei diesen wissenschaftlichen Genealogien ging es darum, die politische und moralische Autorität einiger großer Familiengruppen zu begründen und zu rechtfertigen. Es ging auch darum, einem Gemeinwesen Vorfahren zu geben, die Rechte dieses Gemeinwesens einzufordern, eine bestimmte Politik zu rechtfertigen usw. In diesen politischen, künstlichen und verspäteten Genealogien erscheint Ion (ich möchte fast sagen: wie sein Name schon sagt) als Vorfahre der Ionier. Man hat also den Namen Ions geschaffen, um den Ioniern, die schon lange mit diesem Namen benannt wurden, einen Vorfahren zu geben. So erklärt Herodot, daß die Ionier, als sie auf dem Peloponnes wohnten - d. h. in demjenigen Teil, der Achäa des Peloponnes hieß - sich nicht Ionier, sondern Pelasgier nannten. Aber zur Zeit des Ion, Sohn des Xuthos, nahmen sie den Namen der Ionier an. 3 Ion ist also der namengebende Held der Ionier, er ist ihr gemeinsamer Vorfahr. Das ist, wenn Sie so wollen, das allgemeine Thema der Genealogien, die sich auf Ion beziehen. Ich lasse die verschiedenen Versionen und aufeinanderfolgenden Entwicklungen dieser Genealogie beiseite und möchte nur auf folgendes hinweisen: Ion, der Vorfahr der Ionier, hatte seinen Ort also zuerst in Achäa. Je mehr aber die Macht Athens anwuchs, je stärker der Widerstreit zwischen Sparta und Athen wurde, je mehr Athen auch die Führerschaft über Ionien beanspruchte und tatsächlich auch ausübte, in dem Maße war Athen auch immer mehr geneigt, sich als das Gemeinwesen der Ionier darzustellen und Ion als einen Athener zu betrachten, oder zumindest als einen der Hauptakreure der Geschichte Athens. Man sieht dann Ion allmählich von Achäa nach Athen auswandern, wo e~ nach manchen Versionen der Legende als Einwanderer ankommt, aber als wichtiger, entscheidender Einwanderer, da man ihm die erste große Revolution oder Reform der Athener Verfassung zuschreibt. Auf ihn soll folgende Ver106
änderung zurückgehen: Nach der ersten Gründung Athens soll eine Art von Neugründung stattgefunden haben oder zumindest eine innere N euorganisierung Athens, die das Athener Volk in vier Stämme aufgeteilt haben soll. Diese vier urzeitlichen Stämme sollen den Ursprung Athens und seiner politischen Organisation gebildet haben. Das ist übrigens die Version, die man bei Aristoteles in der Verfassung der Athener findet, wo er die elf Revolutionen oder die elf großen Umbildungen des Athenischen Staats aufzählt. In der ersten davon gründet Ion die vier Stämme. 4 Aber Ion erscheint bei Aristoteles als einer, der von Achäa kommt, nach Athen einwandert und Athen neu organisiert. Man sieht nur zu gut, welche Art yon Problemen und Verlegenheiten eine solche Legende zu einer Zeit hervorrufen konnte, wo Athen für sich selbst Aurochthonie beanspruchte, d. h. die Tatsache, daß die Bewohner A.. thens im Unterschied zu so vielen anderen Griechen nicht '·on anderswo hergekommen, sondern aus ihrem eigenen Bohervorgegangen seien. Zu der Zeit also, da die Athener sich "'on den anderen Griechen unterscheiden wollen, indem sie iiese ursprüngliche Autochthonie behaupten, in dem Augen:JEck, da sie den Anspruch erheben, die politische Herrschaft -iber die ionische Welt auszuüben, wie kann man da zugeben, ::lag ein eingewanderter Ionier Athen reformiert haben soll? Hieraus ergibt sich die Tendenz, die beständige Neigung dieser ;anzen Legende, Ion so eng wie möglich in die Geschichte Arhens einzubinden. Im Rahmen dieser Bewegung, dieser Tenienz zur Bearbeitung der Legende hat Euripides' Tragödie ih::-"n Ort, außerdem auch eine Tragödie, die von Sophokles geschrieben wurde und verlorengegangen ist, nämlich Kreusa, u21d die kurze Zeit vor Euripides' Ion geschrieben worden zu 5 sein scheint. Wahrscheinlich schon in Sophokles' Tragödie, :"'ötimmt aber in Euripides' Ion wird mit der Bearbeitung der ::"egende versucht, Ion eine angemessene Bedeutung zu verlei::en. Das heißt, daß der entscheidende Punkt dieser tragischen 3earbeitung der Legende folgender sein wird: Wie läßt sich =C::'21S Rolle als Vorfahr und Gründer gegenüber allen Ioniern 1°7
':. Das Manuskript enthält folgenden Schluß: "Kurz, die ganze Bevölkerung Griechenlands hat eine Wurzel in Athen.«
Y. ehr. geschrieben wurde, sehr wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte, und sicherlich während jener kurzen Zeit, die man den Frieden des Nikias nennt, am Ende des ersten Teils des Peloponnesischen Krieges, in dem sich Spartaner und Athener gegenüberstanden. Sie wissen, daß der Sieg nach mehreren Schicksalswenden im Grunde eher an Athen ging. Jedenralls wurde der Frieden des Nikias unter Umständen besiegelt, als die Macht Athens noch nicht angegriffen war (die Katastrophe von Sizilien ereignete sich erst nach dem Bruch des Friedens des Nikias). Die Macht Athens ist nicht beeinträch:igt, vor allem ist sein Reich unberührt geblieben, und Athen yersucht, von dieser Waffenruhe zu profitieren, um seine Bündnisse zu stärken, um seine Vormachtstellung zu behaup[en und vor allem, um eine Art von Bündnis mit den Ioniern herzustellen, die Ionier unter der Führung Athens zu vereinen. Die Vereinigung der Ionier ist seit geraumer Zeit einer der wesentlichen Bestandteile der Strategie Athens. Sie ist es gewiß mehr als je zuvor während des Friedens des Nikias, als der Widerstreit mit Sparta noch nicht beendet ist, sondern sich erst in seiner Anfangsphase befindet. Man muß auch jene Tatsache ber'jcksichtigen, die eine wichtige Rolle in dem Stück spielen wird, nämlich daß Delphi - die Angehörigen der Amphiktyonie Delphis, die ganze panhellenistische Bewegung, die sich ,"or dem ersten Teil des Peloponnesischen Krieges und vor dem Frieden des Nikias um Delphi drehte - Sparta viel stärker zugeneigt war als Athen. Während des ganzen ersten Teils des Peloponnesischen Krieges hatte es eine recht heftige Feindschaft des delphischen Zentrums gegenüber Athen gegeben. Der Friede des Nikias stellte nun eine Art von Kompromiß, von Beschwichtigung zwischen Delphi und Athen dar. Delphi hatte mit Sparta sympathisiert, und der Friede des Nikias - das ist einer seiner Bestandteile - stellt eine Art von Versöhnung zwischen Athen und Delphi dar. Im Ausgang von dieser legendären Rahmenhandlung und dieser konkreten politischen Strategie wird Euripides sein Stück aufbauen. Als Handlung yerwendet er folgendes Schema, das übrigens zu Beginn des
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bewahren, wenn zugleich die Geschichte Ions in Athen selbst eingebunden und verwurzelt sein soll und wenn Ion im Gegensatz zur ursprünglichen Form der Legende zu jemandem gemacht werden soll, der ursprünglich aus Athen stammt? Man muß Ion in Athen einbinden und ihm zugleich seine Rolle als Vorfahr aller Ionier bewahren. Dieser Umschwung, der die Herkunft Ions nach Athen verlegt und ihn zum Vorfahren aller Ionier macht, wird von Euripides vollständig und bis zu den äußersten Grenzen vollzogen, denn Euripides wird eine Handlung erfinden, in der Ion ganz und gar Athener, oder genauer, von athenischem und göttlichem Blut sein wird. Er wird nämlich mütterlicherseits aus Kreusa und väterlicherseits aus ApolIon hervorgehen. Er wird also Athener sein. Durch seine vier Söhne wird Ion zum Ursprung der vier urzeitlichen athenischen Stämme werden. Durch seine vier Söhne wird er zum Vorfahren aller Ionier. Andererseits wird man ihm Achaios und Doros als Halbbrüder geben, die auf Kreusa, seine Mutter, und auf Xuthos zurückgehen. Achaios ist, wie sein Name schon ankündigt, der Vorfahr der Achäer, und Doros, wie man an seinem Namen ebenfalls erkennt, der Vorfahr der Dorer. So sind also Ionier, Achäer und Dorer aufgrund der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Ion, Kreusa, Xuthos usw. miteinander verwandt, d. h. aufgrund von Personen, die sich in Athen selbst befinden.':Diese Bearbeitung des Gerüsts der Legende Ions, diese Umbildung eines Einwanderers in einen Einheimischen, diese Art von genealogischem Imperialismus, der zum Ergebnis hat, daß schließlich alle Griechen (Achäer, Dorer, Ionier) von derselben Quelle abstammen, all dies - sowie eine Reihe weiterer, verstreuter Hinweise im Text - hat den Historikern, und insbesondere Gregoire, ermöglicht, das Stück genau zu datieren_ Das Datum, das von Gregoire vorgeschlagen wurde, ist bis heute beibehalten worden. Man nimmt an, daß das Stück 4 18
Stücks von Hermes erläutert wird, und zwar nach einem Verfahren, das man in vielen Stücken von Euripides wiederfindet, und überhaupt in vielen Tragödien: Eine Person, manchmal ein Gott - offenbar ist es Hermes -, betritt die Bühne, erklärt, an welchem Punkt der Handlung man sich befindet, und erinnert an den Hintergrund der Legende, auf dem das Stück beruht. Euripides läßt Hermes nun folgendes sagen: 6 Erechtheus - seiner Herkunft nach Athener, auf Athenischem Boden geboren und folglich Garant jener Autochtonie, auf die die Athener so großen Wert legen - hat eine Tochter namens Kreusa, die also ihrer Abstammung nach auch Athenerin ist, da sie durch ihren Vater eine Verbindung mit dem Boden Athens hat, auf dem jener geboren wurde. Kreusa wird als junges Mädchen von ApolIon verführt. Sie wird von ihm verführt und in den Grotten der Akropolis begattet, d. h. in nächster Nähe des Tempels und des heiligen Ortes, der dem Kult der Athene vorbehalten war. Sie wird von ApolIon auf den Hängen der Akropolis verführt und gebiert einen Sohn, den sie, aus Scham und um ihre Schande zu verbergen, aussetzen und verlassen wird. Dieser Sohn verschwindet nun, ohne Spuren zu hinterlassen. Tatsächlich hat Hermes den Sohn, der aus der Liebschaft seines Bruders ApolIon und Kreusa geboren wurde, entführt. Hermes entführt ihn auf Geheiß ApolIons und bringt ihn in seiner Wiege nach Delphi, wo er unter der Fürsorge von Hermes abgesetzt wird. Als die Priesterin ApolIons, Pythia, das Kind sieht und, obwohl sie doch Pythia ist, nicht weiß, daß es sich um das Kind ApolIons handelt, hält sie es für ein Findelkind, nimmt es auf, ernährt es und macht aus ihm einen Tempeldiener. Nun ist also der Sohn ApolIons und Kreusas ein bescheidener Diener geworden, der die Schwelle des Tempels fegen wird. Dieser Sohn ist Ion. Während dieser Zeit wurde Kreusa, von der niemand in ihrer Umgebung weiß, daß sie von ApolIon verführt worden war und einen Sohn von ihm hatte, von ihrem Vater Erechtheus mit Xuthos vermählt. Xuthos ist aber ein Fremder. Er wurde nicht in Athen geboren, sondern kommt aus Achäa,
d. h. aus einem Teil des Peloponnes. Aber Erechtheus hat ihn für Kreusa zum Gemahl bestimmt. Denn im Verlauf eines Eroberungskriegs von Euböa hat Xuthos der Armee Athens geholfen, und damit Erechtheus. Als Belohnung für diese Hilfe erhält Xuthos Kreusa und ihre Mitgift. Das ist also die Situa;:ion, die Euripides erfindet oder von Hermes zu Beginn des Stückes erfinden läßt. Ich möchte nun einen Augenblick innehalten, bevor ich mit der Analyse der verschiedenen Elemente des Stücks und deren \X"irkungsweise beginne. Sie sehen sofort, worum es in dem Stück gehen wird: um die Entdeckung einer Wahrheit, der \\'ahrheit der Geburt Ions. In dem Stück wird es darum gehen, daß dieser namenlose Diener'des Tempels ApolIons sich nicht als namenloses Kind, das in Delphi gefunden wurde, herausstellen wird, sondern als jemand, der aufgrund dessen, daß er in Athen gezeugt und geboren wurde, nach Athen zurückkehren ;.md dort die historische und politische Mission der Neubildung des Staats vollenden kann, ja besser noch: der Gründung iener langen Dynastie von Ioniern. Die Offenbarung der Wahrheit über die Geburt Ions ist eine dramatische RahmenhandIung, die man in vielen anderen griechischen Theaterstücken findet. Wenn der Text erhalten geblieben wäre, würde man sie beispielsweise auch in einem anderen Stück von Euripides finden, nämlich in Alexandros,l worin erzählt wird, wie Hekuba und Priamos, Herrscher von Troja, beschließen, ihren Sohn zu yerlassen, ihn aussetzen und glauben, daß er verschwunden sei, nachdem sie durch eine Prophezeiung erfahren, daß Paris oder _\lexandros in Gefahr stand, die Katastrophe von Troja auszulösen. Und dann treffen sie ihn eines Tages wieder. Die Identität und die Herkunft von Alexandros-Paris werden offenbart. Woraufhin dann die Katastrophen Trojas stattfinden können. Das ist also ein bekanntes Schema. Bemerkenswert ist jedoch, daß dieses Zutagetreten der Wahrheit, dieses Ans-Lieht-Kommen der Wahrheit über die Herkunft sich erstens an einem bestimmten Ort ereignet. Es ereignet sich tatsächlich nicht in Athen, sondern in Delphi, da Ion sich in Delphi befindet, ver-
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borgen unter der Gestalt eines Tempeldieners. Die Offenbarung der Wahrheit ereignet sich in Delphi, wo, wie jeder weiß, das Wahre gesagt wird. Das Wahre wird in Form eines Orakels gesagt, in jener Form, von der Sie wissen, daß sie zwar immer zurückhaltend, rätselhaft, schwer zu verstehen ist, in der aber doch unweigerlich gesagt wird, was ist und sein wird. Der verborgene Gott, der Gott, der, wie Heraklit sagt, nur durch Zeichen spricht, 8 dieser Gott wohnt eben in Delphi und in Delphi, genauer, ganz in der Nähe des Tempels, noch genauer, auf dem Vorplatz des Tempels wird diese Wahrheit ausgesprochen. Durch die Macht des Orakels? Sie werden sehen, daß das nicht der Fall ist. Aber ganz nahe beim Orakel, in unmittelbarer Nähe des Orakels, vor dem Orakel und in gewissem Sinne gegen das Orakel. Jedenfalls sind wir am entscheidenden Ort des orakelhaften Wahrsprechens in der griechischen Kultur. Zweitens werden Sie bemerken, daß diese Alethurgie, diese Entdekkung der Wahrheit, dieses Hervorbringen der Wahrheit sich nur dann ereignen kann, wenn die beiden Partner jener Vereinigung, die geheim und verborgen blieb - Kreusa, die Frau, ApoHon, der Vater und Gott -, die Wahrheit über ihre geheime Vereinigung sagen. Sie müssen sagen, was sie getan haben, und zwar müssen sie es ihrem Sprößling sagen. Die Vereinigung der Frau und des Gottes, die Zeugung und die Geburt des Kindes, die Aussetzung durch die Mutter, die Entführung durch ApolIon, all das ist den Personen nicht bekannt und all das muß gesagt werden. Drittens muß die Entdeckung der Wahrheit Ion auch dazu führen, die Stadt Athen, wo er gezeugt und geboren wurde, zu reintegrieren, und ihm gestatten, in Athen ein grundlegendes politisches Recht auszuüben: das Recht, zu sprechen, vom Gemeinwesen zu sprechen, eine Sprache der Wahrheit und der Vernunft an das Gemeinwesen zu richten, worin gerade eine wesentliche Stütze der politeia, der politischen Struktur, der Verfassung Athens bestehen wird. Deshalb wird sich das Stück von dem Ort, an dem der Gott durch die orakelhafte und rätselhafte Rede das Wahre sagt - nämlich Delphi - zu der politischen Bühne bewegen, auf der das Ober-
naupt mit vollem Recht seinen Freimut im Reden auf der Grundlage einer Verfassung gebraucht, die die Verfassung des Zogos selbst ist - und das ist Athen. Dieser Übergang von dem Ort, an dem orakelhaft die Wahrheit gesagt wird, zu der politischen Bühne, auf der die vernünftige Sprache der Regierung stanfindet, kann sich nur dann vollziehen, wenn der Gott und Frau, der Mann und die Frau, der Vater und die Mutter im Eingeständnis ihrer Tat die Wahrheit über die Geburt ihres 1 )onnes sagen. Diese Reihe des dreimaligen Wahrsprechens - das des Orakels, c:as des Eingeständnisses und das des politischen Diskurses im Verlauf des Stückes erzählt. Es handelt sich um die Be~ründung des wahren Diskurses im Gemeinwesen durch eine zweifache Operation oder eine zweifache Bezugnahme auf die Rede des Orakels - die, wie Sie sehen werden, eine sehr rätselnahe und doppeldeutige Rolle zu spielen hat - und auf jene Rede des Eingeständnisses des Vaters und der Mutter, des Got:es und der Frau. Diese Reihe bildet meines Erachtens den Leitfaden des Stückes. Insofern es sich um eine Tragödie des 'ahrsprechens handelt, um ein Drama des Wahrsprechens, um :::ne Dramatik des wahren Diskurses, über die ich letztes Mal ~esprochen habe und die mir der Rahmen zu sein scheint, in::erhalb dessen man das Wesen der parrhesia verstehen kann, ist ::as Stück Ion seine herausragendste Darstellung und Entwick,:mg. Ion ist eigentlich die dramatische Darstellung der Grund:;;.ge des politischen Wahrsprechens im Bereich der Athener 'erfassung und der Machtausübung in Athen. Das ist der erste Aspekt. Der zweite Punkt, bei dem ich innehalten möchte, bevor ich mit ,::er Lektüre von Ion beginne, besteht in folgendem: Wie Sie 3enen, weist das Stück offenbar eine Reihe von Analogien zu '.·iden anderen von Euripides' Theaterstücken auf. Außerdem ;oheint mir, daß es eine Reihe von recht genauen Analogien zu ::nem anderen Stück enthält, das nicht von Euripides, sondern ~'Jn Sophokles stammt. Ich meine, daß man sich dieser Nähe ::-edienen kann, um etwas genauer zu analysieren, wie die Dinge
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im Ion vor sich gehen und wie die Wahrheit gesagt wird. [ ... ,:.] In Sophokles' Stück, das ich mit dem Stück von Euripides vergleichen möchte, geht es natürlich ebenfalls um den Gott von Delphi, der die Wahrheit sagt und sie verbirgt. Es geht darin auch um die Eltern, die ihre Kinder aussetzen, um ein Kind, das verschwindet, für tot gehalten wird und wieder auftaucht. Ich muß Ihnen nicht sagen, daß das Stück, an das Ion erinnert, und zwar zwangsläufig, wie mir scheint, Ödipus ist. Ödipus ist gleichfalls ein Stück des Wahrsprechens, der Enthüllung der Wahrheit, der Dramaturgie des Wahrsprechens oder, wenn Sie so wollen, der Alethurgie. Ich glaube, daß man leicht viele gemeinsame Elemente zwischen Ödipus und Ion feststellen könnte. Beispielsweise Elemente einer unmittelbaren Symmetrie. Es gibt eine kleine Szene, die ziemlich unauffällig ist ... Ich möchte nicht überinterpretieren, aber schließlich sieht man im Ion schon sehr bald, fast zu Beginn, die erste Begegnung Ions mit der Person, die in gutem Glauben meint, sein Vater zu sein, nämlich Xuthos. Sie begegnen sich, und hier gibt es nun eine recht zweideutige Szene. Ich wiederhole, daß man sie gewiß nicht überinterpretieren darf, aber eine Reihe von Anhaltspunkten lassen vermuten, daß Xuthos, der in gutem Glauben seinen Sohn in der Person Ions zu begrüßen meint, sich auf ihn stürzt, ihn umarmt und ihn mit väterlichen Liebkosungen überhäuft. Ion erwehrt sich mit der augenscheinlichen Scham eines jungen Mannes, der sich von einem bärtigen Herrn bestürmt fühlt, und sagt ihm: Bist du bei Sinnen (eu phroneis), 9 sei vernünftig. Und als Xuthos in väterlichem Eifer weiterhin seine Zuneigung zeigt, wird Ion zornig und droht, ihn zu töten. Ich glaube, man kann hier einen Anklang an die berühmte Szene von LaYos und Ödipus erkennen, die, wie Sie wissen, in vie" M. E: Ich habe den Eindruck, daß es ein Geräusch im Mikrofon gibt, nein, ein Pfeifen? - Das muß einer dieser Apparate sein, der nicht funktioniert. - Meine Güte, wie soll man herausfinden, welcher ... Stört Sie das sehr, nicht zu übermäßig? Gut, es ist vorbei. 114
c:':?, Versionen (nicht in der von Sophokles, aber auf jeden Fall ::2 anderen) eine Verführungsszene ist. 1O Als LaYos den jungen Ödipus, der auf dem Weg vorüberging, verführen wollte, rea;i"rte Ödipus damit, daß er LaYos tötete. Wir haben also dieses :::,ement. _"'-r:dere Elemente scheinen jedoch viel überzeugender zu sein, ::2sbesondere Elemente, bei denen die Symmetrie umgekehrt 5:' Tatsächlich lebt Ion, ohne zu wissen, wer er ist, im Tempel -"'-pollons. Das heißt, er lebt bei seinem Vater, ohne es zu wis':':r:, so wie Ödipus bei einer Frau lebte, die seine Gattin war, "··;:>n der er aber nicht wußte, daß sie seine Mutter war. Zweitens :,e:-:en wir hier eine absolut explizite Szene, in der aus verschie:C:::len Gründen und nac,h einigen Schicksalswendungen, die ..:h Ihnen erzählen oder zusammenfassen werde, Ion zu einem .: :':stimmten Zeitpunkt seine Mutter töten will, ohne natürlich :::.: wissen, daß sie seine Mutter ist. Hier haben wir, glaube ich, ::::': genaue Nachbildung des Mordes an LaYos durch Ödipus, :::c::ses Mal jedoch auf die Mutter bezogen. :.:h meine auch, daß man zwischen den beiden Stücken im :-::nblick auf den Mechanismus der Suche nach der Wahrheit, =::': sich gewissermaßen Stück für Stück vollzieht, Analogien ;csT.5tellen kann. Sie erinnern sich, daß im ersten Teil von Ödi.: die Wahrheit des Mordes an LaYos entdeckt wird. Im ;:".-citen Teil wird dann die Wahrheit über die Geburt von Ödi:-.25 entdeckt. Die Entdeckung des Mordes an LaYos kann selbst in zwei Teile gegliedert werden, insofern wir zum einen =:= Erzählung von Ödipus haben, der erzählt, wie er einen Un::''' ..;:annten auf der Straße getötet hat, und andererseits die Eraus der wir erfahren, daß dieser Unbekannte nur _2.205 sein kann. Dasselbe gilt für die Geburt. Die Wahrheit ;. :h:-eitet stückweise vorwärts. Sie werden sehen, daß die Wahr.~=:: auch hier stückweise fortschreitet und daß wir zunächst 2... c yäterliche und dann die mütterliche Hälfte haben, bis die -:;:öamtheit dieser Elemente das Ganze der Wahrheit aus-
_22ht.
:'::-. auch wenn es viele gemeinsame Elemente und Analogien II5
sowohl in den Episoden als auch in der Struktur des Stückes gibt, scheint mir doch ein Unterschied, ich würde sogar sagen: ein Gegensatz, zu bestehen zwischen der Dramaturgie des Wahrsprechens in Ödipus und der Dramaturgie des Wahrsprechens in Ion. In Ödipus wird das Wahrsprechen durch Ödipus selbst vollzogen. Es ist Ödipus, der die Wahrheit wissen will. Als Herrscher und um den Frieden und das Glück in seine Stadt zurückzubringen, muß er die Wahrheit wissen. Als was offenbart sich diese Wahrheit? Nun, zunächst stellt sich heraus, daß er seinen eigenen Vater vernichtet hat, daß er also gewissermaßen ein Loch in die Herrschaft, die über dem Gemeinwesen und in Lalos' Palast selbst ausgeübt wurde, geschlagen hat. Dann hat er sich selbst in diese leere Stelle hineingestürzt, indem er seine Mutter geheiratet und die Macht übernommen hat. Es ist die Entdeckung dieser Tatsache, die ihn schließlich dazu führt, vom Gemeinwesen ausgeschlossen zu werden und sich selbst auszuschließen. Er sagt es selbst am Ende des Stücks: »Mich - das sei nie verlangt von unsrer Vaterstadt, daß sie als lebenden Bewohner dulde mich!«12 Wegen der Entdekkung dieser Wahrheit, deren Auffindung er initiiert hat, wird er die Stadt also verlassen müssen. Es bleibt ihm künftig nur noch, in der Nacht seiner Blindheit durch die Welt zu irren, da er sich die Augen ausgestochen hat. Was bleibt ihm nun zur Orientierung auf dieser Erde, die er obdachlos und heimatlos durchstreifen wird? Am Ende des Stückes sagt er auch das ganz klar: Nur die Stimmen seiner Töchter werden ihn leiten. Seine eigene Stimme hört er in der Luft wehen, ohne sie verorten zu können, ohne zu wissen, wo er ist, ohne zu wissen, wo diese Stimme ist. Durch diese Irrfahrt, die nur vom Wechselspiel der Stimmen zwischen Vater und Töchtern geleitet wird, wird Ödipus auf der griechischen Erde herumkommen, bis er den endgültigen Ort seiner Ruhe findet, nämlich in Athen. 13 Im Gegensatz dazu haben wir bei Ion einen Prozeß der Wahrheitsfindung, wo man einerseits und zunächst erkennt, daß nicht Ion selbst die Wahrheit sucht, sondern seine Eltern. II6
Zweitens besteht die Wahrheit, die Ion entdecken wird oder die vielmehr über Ion entdeckt wird, selbstverständlich über.::aupt nicht darin, daß er seinen Vater getötet hat. Er wird entiecken, daß er gewissermaßen zwei Väter hat, und am Ende des Stückes steht er mit zwei Vätern da: eine Art von legalem ~ater, der bis zum Schluß glaubt, daß er der wirkliche Vater sei, ;::~'TIlich Xuthos; und dann ein zweiter Vater. Dieser zweite Va:er ist Apollon. Apollon, der durch seine wirkliche Vaterschaft S"lsichtlich Ions gewährleistet, daß er ganz und gar in Athen ;ezeugt wurde. Gerade aufgrund dieser doppelten Vaterschaft ',"on Xuthos und Apollon kann Ion, ganz im Gegensatz zu Ödipus, in sein Vaterland zurückkehren, sich dort niederlassen :.:nd alle seine Rechte wieqererlangen. Dank dieser solcherma. wiedergefundenen fundamentalen Bindung, dank dieser '~~:edereingliederung in die Erde von Athen wird er das legiti:TIe Recht der Rede, d. h. die Macht in Athen ausüben können. 3:e sehen also, daß diese beiden Prozesse der Alethurgie bezügder Geburt, der Entdeckung der Wahrheit über die Geburt :.:-, der Tat verschieden sind und genau zum entgegengesetzten ,::,gebnis führen. Der eine hatte einen Vater weniger und mußte schließlich seine Heimat verlassen und heimatlos umherir::-en, geleitet durch eine Stimme. Der andere entdeckt dagegen, • er zwei Väter hat, und wird dank dieser zweifachen Vaterseine Rede, seine Rede eines Mannes, der Befehle erteilt, ::: das Land einbringen, auf das er ein Anrecht hat. Das ist, -:;'"enn Sie so wollen, der Rahmen des Stückes. =:h möchte Ihnen nun ein wenig zeigen, wie sich dieser Prozeß deS Wahrsprechens und der Enthüllung der Wahrheit durch ':::e wrschiedenen Verfahren des Wahrsprechens abspielt, und ::0.~ar vor dem Hintergrund von Ereignissen, die ich Ihnen in '::c:nnerung gerufen habe und auf die Hermes ganz am Anfang '::cS Stückes hinweist, nämlich: die geheime Geburt Ions, die • ?2tere Heirat von Kreusa und Xuthos, die Tatsache, daß Ion .:TI c:erborgenen als Diener des Gottes in Delphi lebt, ohne daß ::::and seine Identität kennt, und schließlich die Tatsache, daß !~eusa und Xuthos am Anfang des Stückes noch nicht ihre II7
beiden Söhne haben, die ihnen erst nach den Episoden des Stückes geboren werden und um die es berechtigterweise in den letzten Versen geht, nämlich Achaios und Doros. 14 Sie sind also ohne Nachkommen, und genau deshalb begeben sie siChXuthos als eingewanderter Kriegsherr, der Kreusa geheiratet hat, und Kreusa als von Erechtheus abstammmend - von Athen nach Delphi, um den Gott aufzusuchen und ihn zu fragen, ob sie nicht doch einmal Nachkommen haben werden, die die zugleich historische und territoriale Kontinuität gewährleisten könnten, die von Erechtheus begründet wurde, als er, geboren auf attischer Erde, den Stadtstaat Athens gegründet hat. Das ist also der erste Punkt: Kreusa und Xuthos suchen den Gott auf. Sie suchen ihn auf, weil sie keine Kinder haben und diese Kontinuität herstellen wollen. Tatsächlich sehen wir jedoch, daß die Befragung für beide Ratsuchenden nicht dieselbe ist. Einerseits fragt Xuthos Apollon um Rat. Er befragt ihn nach den üblichen Regeln, um herauszufinden, ob er wirklich keine Nachkommen haben wird. Das ist die Befragung des Orakels. Kreusa kommt anscheinend ebenfalls, um dieselbe Frage zu stellen: Werde ich keine Nachkommen haben? Aber in Wirklichkeit stellt sie zugleich eine andere Frage. Denn sie weiß, daß sie ein Kind hatte. Und sie weiß, daß dieses Kind von Apollon war. Sie stellt also folgende Frage: Was ist nun aus dem Sohn geworden, den du mir gegeben hast, den du mit mir gezeugt hast und den ich ausgesetzt habe? Lebt er noch, oder ist er tot? Während jedoch die erste Befragung, die von Xuthos, zugleich eine gewöhnliche und öffentliche Frage ist - es ist die Frage eines gewöhnlichen Ratsuchenden -, ist Kreusas Frage (Was hast du mit dem Sohn gemacht, den du mir geschenkt hast?) eine private Frage einer Frau an einen Mann oder vielmehr einer Frau an einen Gott. Da sie wegen dieser zweifachen Frage nach Delphi kommen der offiziellen und der geheimen Frage -, da sie diese zweifache Frage stellen, begegnen Kreusa und Xuthos, als sie sich vor dem Tempel des Apollon einfinden, dem jungen Mann, der rr8
Lorbeerzweige in den Händen hält, mit denen er die Schwelle ies Tempels fegt, und der reinigendes Wasser vergießt, weil er, "';':ie er sagt, das Recht hat, es zu vergießen, da er immer seine K.euschheit bewahrt hat. Natürlich kennt Ion seine wirkliche Identität nicht und kann deshalb auch seine Eltern nicht erken::en, jedenfalls nicht mehr, als seine Eltern ihn erkennen kön::-len. Wir haben also drei Unwissende, die jeweils die Antwort :mi ihre Frage vor ihren Augen haben: Xuthos sucht einen Er:en, und in Wirklichkeit steht dieser vor ihm, ohne daß er es Kreusa sucht einen Sohn, den Sohn, den sie hatte, und iieser steht ebenfalls vor ihr; was Ion betrifft, so beklagt er - übrigens ohne großen Nachdruck - darüber, daß er ein :':lsgesetztes Kind ist, keine Heimat hat, weder Vater noch :\iutter. Nun stehen seine Mutter vor ihm und sein Vater, seine ::,eiden Väter: Xuthos, der sein legaler Vater werden wird, und i,mn neben ihm, hinter ihm, sein wirklicher Vater, der Gott. ":;Cir haben es also mit folgendem zu tun: einerseits im Hinter;rJnd mit dem Tempel des Gottes, der alles weiß und der die ahrheit als Antwort auf die Fragen, die man ihm stellt, sagen :-::uß; und dann im Vordergrund mit dem Publikum, mit dem ,!cillphitheater, das von Hermes am Anfang des Stückes über d:e ganze Wahrheit der Sache in Kenntnis gesetzt wurde. Zwi,:::hen diesen beiden wissenden Instanzen nun - dem Publi,=:lill, das von dem Gott Hermes in Kenntnis gesetzt wurde, .:-:=d Apollon, der natürlich ebenfalls weiß -, zwischen diesen ::,eiden Instanzen der Wahrheit bleiben die drei Personen un7::ssend. Sie erkennen einander nicht, und das ganze Stück 7',-:rd gerade in der Enthüllung der Wahrheit für diese drei Per:J:len auf dem Bühnenraum bestehen. Es handelt sich also um :':e .\lethurgie der Wahrheit. :.s wird nun die Triebfeder des Dramas sein? Nun, sie wird :erade in der Schwierigkeit bestehen, die Wahrheit zu sagen, ,,-esentlichen Verschweigen einer Tatsache. Worauf beruht :::eses wesentliche Verschweigen? Es beruht auf zwei Dingen, _:li gerade darin liegt die Bedeutung und das Interesse dieses -=-;~eaterstücks Ion, glaube ich. Einerseits gibt es den strukturel119
len, wesentlichen, fundamentalen und beständigen Grund, der dafür verantwortlich ist, daß, wenn die Menschen die Götter befragen, diese durch nichts gezwungen sind, ihnen so zu antworten, daß die Antwort klar ist. Im Gegenteil ist es ein Merkmal des orakelhaften Wahrsprechens, daß die Menschen die Antwort verstehen oder nicht verstehen können. Jedenfalls wird der Gott niemals von den Menschen gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Seine Antwort ist mehrdeutig, und es steht ihm immer frei, sie zu geben, wenn er will. In der Klarheit der Äußerung selbst gibt es also ein Verschweigen. Es gibt auch ein Verschweigen in der dem Gott vorbehaltenen Freiheit, zu sprechen oder nicht zu sprechen. Das gehört zum gemeinsamen Bestand. Es ist der gemeinsame und beständige Zug jedes orakelhaften Spiels von Fragen und Antworten. Auf dieses wesentliche Verschweigen, das der orakelhaften Struktur alles Wahrsprechens durch die Götter, und insbesondere durch den Gott von Delphi, eigentümlich ist, spielt der Text häufig an. Beispielsweise sagt Ion in den Versen 374ff. zu Kreusa: »Was Phoibos bergen will, wird er's enthüllen?« »Denn Trotz und Überhebung wär' es doch, wenn wir durch Vogelflug und Blut der Schafe die Götter zwingen wollten, kundzutun, was zu verbergen sie entschlossen sind.«15 Das ist der Hinweis auf die Tatsache, daß es dem Gott immer freisteht zu schweigen, wenn er will. An anderer Stelle sagt dann Ion zu Xuthos, der ihm eine Antwort des Gottes überbringt: Du hast dich getäuscht, als du über das Rätsel nachgedacht hast. 16 Die Antwort ist ein Rätsel, und deshalb kann man sich immer täuschen. All dies bezieht sich also auf bekannte Elemente. Es gibt jedoch in dem Stück einen besonderen und für die Handlung eigentümlichen Grund, der dafür verantwortlich ist, daß die Verschwiegenheit des Gottes gewissermaßen durch eine andere Klausel besiegelt wird. Denn wenn der Gott schweigt, dann offenbar nicht bloß deshalb, weil es ihm freisteht, nicht zu sprechen, nicht bloß deshalb, weil es zur Antwort des Orakels gehört, ein Rätsel zu sein und nur durch Zeichen zu sprechen, wie Heraklit sagte. 17 Es ist ganz einfach so, daß Apollon, I20
er Kreusa gewaltsam beiwohnte und sie dann an den Hän~en der Akropolis im Stich ließ, sich eines Vergehens schuldig ~emacht hat. Er hat Schuld auf sich geladen. Die Schuld des
Gottes ist ein Thema, dem man durch das ganze Stück hindurch begegnet, vom Anfang bis zum Schluß. Als Ion erfährtlasse die Einzelheiten der Handlung im Augenblick beiseice -, daß Apollon ein Mädchen verführt und dann im Stich gel3-SSen hat, weiß er noch überhaupt nicht, daß es sich um seine ~\'futter handelt. Er weiß nicht, daß es Kreusa war. Er hört einvon dieser Verführung, und er selbst, Ion, der doch der :::-eue und auch der keusche Diener des Gottes ist, empört sich sagt: »Tadel verdient der Gott, Mitleid die Frau.«18 In demselben Dialog, als er mit Kr.eusa spricht, hören wir folgendes. Ion fragt: »Was Phoibos bergen will, wird er's enthüllen ?«19 K::-eusa antwortet: »Sein Seheramt verpflichtet ihn dazu.«2o Ion ':""'idert: »Er schämt der Tat sich. Frag' ihn lieber nicht.« K,eusa: »Und wenn sich jene Frau zu Tode grämt?«21 Ion ",ommt zu dem Schluß: »Den Spruch wird niemand einzuho:::n wagen. Denn wenn im eig'nen Haus so bloßgestellt, Phoi:05 dafür den Künder büßen ließe, wär's zu verwundern? :'\ein! Laß ab davon.«22 Sie spüren die Erschütterung der beiden Sätze und folglich das Problem, das aufgeworfen wird. .,l,"pollon war ungerecht (adikos), er hat sich eines Vergehens 5.:huldig gemacht. Und er weigert sich »dikaios« (»zu Recht«),23 zu sprechen und sich selbst als den Schuldigen anzuzeigen. Des. .. kann die Antwort nicht von dem Gott kommen, und zwar ::-icht wegen der Struktur des Wahrsprechens des Orakels, sonweil es nötig wäre, daß der Gott, der etwas Schlechtes ge::li'1 hat, eingesteht, daß er etwas Schlechtes getan hat, und die Scham über seine schlechte Handlung überwindet. Diese Scham, die der Gott über sein schlechtes Handeln empfindet, :0'1: einer der Leitfäden des Stückes. Ganz am Ende, wenn die .ouethurgie sich vollendet, wenn die ganze Wahrheit gesagt sein -;;'ird - wird sie dann von dem Gott gesagt, von Apollon, von dem, der doch dem Text zufolge allen Griechen die Wahrheit schuldet? Keineswegs. Die Gottheit, die am Ende die Wahrheit UI
sagen wird, ist jemand, der über dem Tempel Apollons erscheint, ihn überragt und übertrifft - und zwar natürlich aus politischen Gründen, aber auch aus Gründen, die damit zu tun haben, was ich Ihnen gerade erläutere -, nämlich Athene. Athene, die Göttin Athens, wird die ganze Geschichte in der Wahrheit verankern. Sie wird durch ihren eigenen Diskurs der Wahrheit die politische Struktur Athens begründen. Sie wird eingreifen und die Wahrheit sagen, die der Gott Apollon nicht sagen konnte, und sie erklärt im übrigen, warum sie es ist, die erscheint, und nicht der Gott. Sie sagt: Apollon will sich eurem Anblick nicht persönlich aussetzen, denn er fürchtet sich vor den öffentlichen Vorwürfen über das Vorgefallene und schickt mich, euch zu verkünden, daß ... 24 Die gesamte Funktion des Wahrsprechens, die zugleich grundlegend und prophetisch ist, wird durch Athene sichergestellt, weil es abermals aus politischen Gründen Athene sein muß, aber auch deshalb, weil der Gott nicht selbst die Wahrheit sagen kann. Mir scheint, daß wir hier einen der wesentlichen und charakteristischen Züge der Tragödie Ion haben: das Wahr sprechen eines Gottes, der zu den Menschen spricht und ihnen gemäß der Funktion des Orakels offenbart, was ist und sein wird, dieses Wahrsprechen muß im Fall von Ion auch das Wahrsprechen des Gottes über sich selbst und seine Vergehen sein. Das Schweigen des Orakels ist zugleich das Zögern, etwas einzugestehen. Und diese Überlagerung des Rätsels des Orakels mit der Schwierigkeit, ein Eingeständnis zu machen, des Wahrsprechens des Orakels mit dem Wahrsprechen des Eingeständnisses, eine Überlagerung, die sich in dem Gott und in der Rede des Gottes vollzieht, ist eine der wesentlichen Triebfedern des Stückes. Wie wird nun die Wahrheit ihren Weg finden, wie wird das Wahrsprechen angestellt, und wie begründet es zugleich die Möglichkeit einer politischen Struktur, innerhalb deren man auf die Weise der parrhesia Wahres sagen kann, wo man es doch mit einer Situation zu tun hat, in der derjenige, der wahrsprechen soll, derjenige, dessen Funktion es ist, die Wahrheit zu sagen, derjenige, den man um des Wahrsprechens willen I22
aufsucht, nicht die Wahrheit sagen kann, weil diese Wahrheit ein Eingeständnis seiner Schuld wäre? Nun, das Wahrsprechen 'TI.uß durch die Menschen geschehen. Die Menschen müssen kommen, die Wahrheit aufstöbern und das Wahrsprechen aus-eben. In dieser Schwäche des Gottes, die Wahrheit zu sagen, :n diesem doppelten Verschweigen des Orakels und des Eing:eständnisses, werden nun die Menschen versuchen, mit der 'X'ahrheit zurechtzukommen. Wie stellen sie es an, das dop:::dte Siegel des orakelhaften Rätsels und der Scham vor dem Eingeständnis zu sprengen? Ich glaube, daß man das Stück zusammenfassen, zumindest aber seine wesentlichen Bestandnennen kann, wenn man sagt, daß es zwei große Momente cibt. Das erste Moment könnt~ man das Moment der doppelten ~alblüge nennen. Denn es ist gerade auch einer der wesent.2chen Punkte dieses Stücks - man sollte darauf zurückkomTen -, daß im Unterschied zu dem, was in Ödipus geschieht, Wahrheit hier nicht gesagt wird, ohne daß sie eine Dimensi~n mit sich führte, eine zweifache Täuschung, die zugleich ihre norwendige Begleitung, ihre Voraussetzung und ihr vorausge7:orfener Schatten ist. Es gibt kein Wahrsprechen ohne Täu,:hungen. Sehen wir jedenfalls zu, wie das geschieht. Der erste wird also von zwei Halblügen gebildet: erstens der Halbder Mutter und anschließend der Halblüge des Vaters, 2enn wie in Ödipus werden die Dinge nach und nach in Gang ;:bracht. Erstens seitens Kreusas. Kreusa, die Frau, und Xu:::05, der Mann, kommen also nach Delphi. Xuthos will fragen, : J er einen Sohn haben wird. Kreusa will dagegen fragen, was ::::,",5 ihrem Sohn geworden ist. Kreusa erscheint als erste auf der ':;,'ihne und begegnet als erste jenem jungen Mann, der mit Lor:;:erzweigen die Schwelle des Tempels fegt. Sie begegnet die':'TI. jungen Mann und sagt ihm, daß sie den Gott aufsuchen -zochte. Ion fragt sie, worum es bei der Befragung denn gehe, ~:er natürlich wagt sie nicht, Ion die Wahrheit auf seine Frage .- sagen. Sie wagt nicht, ihm zu sagen: Ich habe mich eines Vermit dem Gott schuldig gemacht und will ihn nun fra12
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gen, was er aus meinem Sohn gemacht hat. Sie wird also eine Halbwahrheit oder eine Halblüge sagen. Sie wird sagen, was jeder an ihrer Stelle sagen würde: Nun, ich hatte eine Schwester, die sich eines Vergehens mit einem Gott schuldig gemacht hat. 25 Sie hat einen Sohn von diesem Gott bekommen und möchte gerne wissen, was aus ihrem Sohn geworden ist. An dieser Stelle sagt Ion - der übrigens guten Glaubens das, was Kreusa ihm sagt, für wahr hält (aber offenbar spielt es keine Rolle, ob es Kreusa oder die Schwester ist, denn für Ion ist die Antwort jedenfalls klar, oder vielmehr ist das Nicht-Antworten des Gottes notwendig) - zu ihr: Da sich der Gott eines Vergehens schuldig gemacht hat, eines Vergehens mit deiner Schwester, brauchst du nichts zu fürchten, denn er wird nicht sprechen. Die Menschen können den Gott nicht wider seinen Willen zum Sprechen zwingen. Und da er sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, da er adikos war, wird er jetzt dikaios (zu Recht) schweigen. 26 Die Tatsache, daß er eine Ungerechtigkeit begangen hat, berechtigt ihn nun, zu schweigen. Also wird er nicht sprechen. Aber während oder nach diesem Dialog zwischen Ion und Kreusa stellt Xuthos seine viel direktere, viel einfachere und viel klarere Frage: Werde ich einen Sohn haben? Während nun Kreusa nur die halbe Wahrheit Ion, den sie befragt, anvertraut, wird der Gott Xuthos, der eine aufrichtige und klare Frage an den Gott richtet, mit einer Halbwahrheit antworten. Das heißt, daß weder der Vater noch die Mutter, weder Kreusa noch ApolIon, wagen, die Wahrheit zu sagen, sondern nur Halbwahrheiten und Halblügen sagen werden. [... ] Auf Xuthos' Frage »Werde ich einen Sohn haben ?« antwortet Apollon: Nichts einfacher als das. Wenn du aus dem Tempel heraustrittst, wird der erste, der dir entgegenkommt (ion: natürlich ein WortspieF), dein Sohn sein. Erkenne ihn als deinen Sohn an. Und als Xuthos den Tempel verläßt, begegnet er dem Jungen, dessen Aufgabe es natürlich ist, dem Gott zu dienen, und der deshalb immer in der Nähe des Tempels ist, den er bewachen soll. Dieser junge Mann ist Ion. An dieser Stelle ereignet sich jene Sze12 4
:::c, in der sich Xuthos auf Ion stürzt, ihn umarmt und zu ihm s",gr: Du bist mein Sohn. Und Ion, der etwas beunruhigt ist, erw:dert: Hoho, halte an dich, sonst werde ich dich töten. Tatsi,:hlich war die Unwahrheit oder die Halblüge, die der Gott l:lssprach, nicht bloß die Verweigerung eines Eingeständnis5c5. Oder vielmehr drückte sich die Verweigerung eines Einges:iIl.dnisses in der normalen bzw. gewöhnlichen Mehrdeutig"~ei: des Orakels aus; der Gott sagte zu Xuthos: Ich gebe dir ·,.:'Dron«,28 ich gebe dir den Jungen, dem du beim Verlassen des ~empels begegnen wirst, als Geschenk. Als Geschenk geben :cdcutet nicht genau: Das wird dein Sohn sein, aber er versteht, , das, was ihm als Geschenk gegeben wird, sein wirklicher S,:.h,l sein wird, da er ja gekommen ist, um einen Sohn zu su~::cn.
=:;":lrch diesen Hinweis des Gottes, der zu Xuthos sagt: Der ers:::. dem du begegnen wirst, wird dein Sohn sein, ist Ion nun .~so mit einem Vater versehen. Denn auch wenn er sich nur wi=c:v.'illig von diesem bärtigen Herrn umarmen läßt, als dieser ::.: ihm sagt: Aber weißt du, der Gott hat mir diese Antwort geund mir gesagt, daß ich den Jungen, dem ich beim Ver-'..Ssen des Tempels begegnen werde, als doron bekommen wer:c. ist Ion offensichtlich gezwungen, sich zu verneigen und ein Te2ig zögernd anzuerkennen: Ja, das ist mein Vater. Aufgrund :':: Halbwahrheit oder der Halblüge des Gottes hat Ion nun eine Familie oder zumindest einen Vater. Die Familie, die '~:::: auf diese Weise zuteil wird, empfängt er jedoch durch ei~::::: \Vidersinn, ich würde fast sagen, seinem wirklichen Vater .:v:ider, da er ja wirklich glaubt-und Xuthos glaubt es auch-, ::;:::; sie Vater und Sohn sind, während es doch in Wirklichkeit ::-;z,-:schen Xuthos und Ion keine Verwandtschaftsbeziehung ;~::. Die wirkliche Verwandtschaftsbeziehung besteht zwic.::::en Kreusa und Ion, aber diese Beziehung tritt nicht in Er,:::,:,ein.ung. Auf die verklausulierte Frage der wirklichen Mutdie vorgab, nicht die Mutter, sondern die Schwester der \~::;:::er zu sein, antwortete der Gott, indem er die Antwort, die ::em Menschen gibt, verklausuliert: Er gibt ihm einen fal12
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sehen Sohn. Schließlich könnte die ganze Geschichte hier enden, da Ion nun nach Athen zurückkehren kann. Xuthos ist nicht wirklich sein Vater, kann ihm aber als Vater dienen. Außerdem kann er mit Kreusa zusammenleben, von der er nicht weiß, daß sie seine Mutter ist. Aber die Dinge könnten sich arrangieren lassen. Vereinfacht gesagt, sind wir der Wahrheit so nahe, daß die Sache sich so entwickeln könnte. Übrigens versteht Xuthos das Ganze genau auf diese Weise. Er ist mit dieser Lösung, die er wirklich für gut hält, völlig zufrieden. Zu Ion sagt er: Jetzt sind die Dinge klar. Du bist nicht mehr jenes verlassene Kind, für das du dich hieltest. Ich wollte einen Sohn haben, und nun habe ich ihn. »Verlaß des Gottes Boden, wo du Fremdling bist, und, gleichgesinnt dem Vater, eile nach Athen [koinophron patri29 - hier haben wir wie in Ödipus und in allen diesen Tragödien den doppeldeutigen Ausdruck: in vollem Einvernehmen mit deinem Vater. Xuthos glaubt, daß er selbst der Vater sei, tatsächlich besteht das Einvernehmen jedoch mit Apollon oder sollte zumindest mit ihm bestehen; M. F.], wo dein der stolze Herrscherstab des Vaters harrt und großer Reichtum. Wenn dir eins von zwein gebricht: Nie wirst du doch unedel, wirst nicht arm genannt, nein, edel wirst du heißen und an Schätzen reich. 30 Das Problem scheint also gelöst zu sein. Ion hat Eltern gefunden - immerhin einen Vater. Xuthos hat einen Sohn gefunden und schlägt ihm vor, nach Athen zurückzukommen und jene berühmte Macht auszuüben, die eine gewisse Kontinuität in Bezug auf die Gründungsdynastie von Athen sicherstellen soll - natürlich nur eine gewisse Kontinuität, da die Situation, wie Sie sehen, nur näherungsweise stimmt. Um sie zu akzeptieren, darf man nicht zu genau hinsehen. Man darf nicht so genau hinsehen ... und eben das tut Xuthos, der nicht so genau auf diese Wahrheit bzw. diese Halblüge schaut, die er guten Glaubens von dem Gott empfing und die er für die volle Wahrheit hält. Er sieht jedenfalls nicht genau hin, denn, als er zu Ion sagt: Ich bin dein Vater, du bist mein Sohn, erwidert Ion: Nun aber, aus welcher Vereinigung könnte ich denn dein Sohn sein ?31
:\us der Vereinigung mit Kreusa? Nein, nein, sagt Xuthos, :-licht mit Kreusa. Aber wer hat mich geboren, da du mich nicht sanz all eine gemacht hast? An dieser Stelle antwortet Xuthos: döre, beunruhige dich nicht zu sehr. Vor allem brauchst du 3:eine schändliche Geburt zu fürchten, denn ich, Xuthos, bin Sohn oder Nachkomme von Zeus, und von dieser Seite aus bist du geadelt. Was deine Mutter angeht ... Weißt du, ich habe Jusendsünden begangen, bevor ich heiratete, jugendliche Wahn:aren. Da aber Ion aus Gründen, die Sie rasch verstehen werden, dennoch genau wissen will, wer seine Mutter ist, von wem sie abstammt, welches ihre Herkunft, ihr Adel, ihr Ursprungs2nd ist, insistiert er und sagt: Aber wie ist es möglich, daß ich :--jer in Delphi bin, wenn du mich in deinem jugendlichen \X'ahn gezeugt hast? Und hier beruft sich Xuthos auf einen .-i.denthalt, den er während der Bacchusfeiern in Delphi getä:igt hat. Er habe sich damals mit den Mänaden des Gottes in Einer Art von Hierogamie vereinigt, die der wirklichen Hierosamie zwischen ApolIon und Kreusa entspricht, aber auf die 'X'eise der Täuschung und der Lüge. Die Lösung, die Xuthos ':orschlägt, besteht also in folgendem: Nun gut, ich habe mit ei::,"er der Mänaden des Gottes während einer rituellen Feier und ::1 Trunkenheit ein Kind gezeugt. Diese Erklärung, die vom Gesichtspunkt der Wahrheit nur sehr annähernd richtig ist, ist ";om Gesichtspunkt des Rechts eine Katastrophe. Aus wel-.::hem Grund ist sie vom Gesichtspunkt des Rechts aus katas:rophal? Nun, ganz einfach deshalb, weil Xuthos aus Achäa s.ommt, ist er ein Fremder in Athen. Er wurde in Athen nur als "erbündeter aufgenommen, und als Lohn für seinen Beistand -.2nd seine Hilfe, die er Erechtheus zuteil werden ließ, hat man :hm Kreusa gegeben. Wenn er also mit einem Sohn zurück~,ehrt, und zwar mit einem Sohn, der mit irgendeinem Mäd:hen gezeugt wurde, auch wenn sie eine Mänade des Gottes sei, s.ann der Sohn, der von einem nicht-athenischen Vater und ei:-~er nicht-athenischen Mutter abstammt, in keinem Fall jene Gründungsfunktion in der Stadt ausüben, die doch genau die Rolle und Berufung Ions ist. Er kann diese Funktion nicht aus-
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üben, und Xuthos' Annäherung an die Wahrheit drückt sich tatsächlich durch eine Art von juristischem Verbot oder juristischer Unmöglichkeit aus. Ion wird sich selbst darüber klar, daß das nicht funktionieren kann und daß die Abstammung von Xuthos und einem fremden Mädchen ihm nicht erlauben wird, seine Macht zu begründen. Genau in diesem Augenblick macht er jene berühmte Erklärung, von der ich gesprochen habe und in der er sagt: Ich kann aber nicht nach Athen zurückkehren, wenn ich nicht weiß, von welcher Mutter ich abstamme. Ich kann von dir die Macht, die du mir anbietest, nicht empfangen. Ich kann mich nicht auf den Thron setzen und das Szepter annehmen. Ich kann nicht das Wort ergreifen und die befehlende Rede ausüben, wenn ich nicht weiß, wer meine Mutter ist. 32 Diesen Text und die Erklärung von Xuthos möchte ich nachher etwas genauer betrachten. [... ::.]
::. M. E: Wenn Sie wollen, machen wir fünf Minuten Pause. Ich möchte Ihnen etwas sagen. Letztes Jahr zur Zeit der Ereignisse in Polen hatte das College de France die glückliche Idee, eine Reihe polnischer Professoren zu Vorträgen hierher einzuladen. Die einen befanden sich in einer Lage von Unfreiheit, die anderen waren eher Außenseiter. Auf diese Einladungen haben mehrere Professoren nicht geantwortet, aber es gab eine positive Antwort. Einer dieser Professoren konnte hierherkommen und hat seine Vorlesungen letzten Montag begonnen. Seine Vorlesung, seine Vortragsreihe bezieht sich auf die Geschichte des polnischen N ationalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert. U nglücklicherweise - das ist meine Schuld, es gibt auch Dinge zu organisieren, die gar nicht von der Verwaltung des College herkommen, sondern mit verschiedenen Umständen zu tun haben, die Sie sich vorstellen könnenist das nun etwas überstürzt. Er hat seine Vorlesung begonnnen. Aber ich glaube, daß es nicht sehr schlimm ist, wenn Sie die erste verpaßt haben. Wenn sie dieses Thema interessiert, sein Name ist M. Kieniewicz und seine Vorlesung über den polnischen Nationalismus findet montags um zehn Uhr morgens statt. Gut. Also, in zehn Minuten komme ich zurück, und wir machen weiter. 128
Anmerkungen Euripides, Ion, 671-675, a.a.O., S.63. Der junge Tempeldiener hat die echte Inbrunst seines Berufs, ein zartes und eifersüchtiges Empfinden für den Gott, der ihn nährt, einen impulsiven Erkenntnisdrang, die freudige Tätigkeit seiner Jugend [... ]. Er ist Athener, ohne es zu wissen, und legt als solcher vor allem Wert auf seinen Freimut im Reden« (»Einleitung« zu Ion von H. Gregoire, in: Euripide, Tragedies, Bd. III, Paris 1976, S. 177-17 8). 3 "Solange die Ionier auf der Peloponnes wohnten in dem Land, das jetzt Achaia heißt, und ehe Danaos und Xuthos in die Peloponnes kamen, hießen sie, wie die Hellenen sagen, Küsten-Pelasger, nach Ion, Xuthos Sohn, aber dann Ionier« (Herodot, Geschichten und Geschichte, VII, 94, Zürich und München 1983, S. 176, zitiert von H. Gregoire in seiner »Einleitung«, a.a.O., S. 56). -4 »Es war dies die elfte Verfassungsänderung. Die erste war am Anfang die Einwanderung Ions und seiner Mitkolonisten. Damals fand die Einteilung in die vier Stämme statt, und es wurden die Stammeskönige bestellt« (Aristoteles, Staat der Athener, XLI, 2, übers. und eingel. v. Olof Gigon, Zürich 1955, S. 367). 5 Vgl. zu diesem Punkt die Einleitung zu Ion von H. Gregoire, a. a. 0., S.161- 163· 6 Euripides, Ion, Verse 1-81, a.a.O., S.243- 245. - Vgl. zu dieser Tragödie, von der man nur Fragmente gefunden hat, die vollständige Einleitung von F. Jouan und H. Van Looy, in: Euripide, CEuvres, Bd. VIII: Fragments, lore partie, Paris 1998, S. 39-5 8. »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und birgt nichts, sondern er bedeutet.« In: Die Fragmente der Vorsokratiker, B XCIII, hg. v. W. Kranz, übers. v. H. Diels, 17.Aufl., Hildesheim u. a. 1974, S. 87. 9 "Eu phroneis men (bist du bei Sinnen)« (Euripides, Ion, Vers po, a.a.O., S.258). :c: Zu den verschiedenen Versionen des berühmtesten Vatermords und allgemeiner zu der Person des LalOS vgl. T. Gantz, Early Greek Myth. A Guide to Literature and Artistic Sources, Baltimore 1993, S. 4 88 -494. : I Foucault hatte schon viele Male eine Analyse von Ödipus vorgetragen: :97 1 (unveröffentlichte Vorlesung am College de France, »Der Wille zum Wissen«), 1972 (unveröffentlichter Vortrag in Buffalo über »Das Wissen Ödipus' «), 1973 (Vorträge in Brasilien über »Die Wahrheit und die juristischen Formen«, in: Dits et Ecrits, Bd. 2, Nr. 139, S.686-7 06 ), im Januar 1980 (unveröffentlichte Vorlesung am College de France, "Die Regierung der Lebenden«) und im Mai 1981 (unveröffentlichte Yorlesungsreihe mit dem Titel "Übles tun, Wahres sagen. Funktionen des Schuldbekenntnisses«). Er ist schon sehr früh sensibel für die Struktur »der stückweisen Verschachtelung«. I
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12 Sophokles, König Oidipus, Vers 1450, a.a. 0., S. 97· 13 Sophokles, Ödipus aufKolonos, Verse 84-93, übers. v. W. Schadewaldt, Frankfurt 1996, S. 15· 14 »Doch auch von Xuthos wirst Du Söhne haben, den Doros> der in aller Mund den Namen der Dorer bringt, und den das Küstenland der Pelopsinsel bis nach Rhion hin beherrschenden Achaios> dessen Name der Landschaft und dem Volke bleiben wird« (Euripides, Ion, Verse 159 01593, a. a. 0.> S. 289). 15 A.a.O., Verse 365 und 373-377, S. 253- 2 54. 16 »Dessen Rätselwort du mißverstandest« (ebd., Vers 533> S.25 8). 17 Vgl. oben, Anm. 8. 18 Euripides, Ion, Vers 355, a.a.O., S.253· 19 Ebd., Vers 365, S.253· 20 Ebd., Vers 366. 21 Ebd., Vers 368. 22 Ebd., Verse 369-372. 23 Ebd., Vers 370. Um die Ungerechtigkeit Apollons zu bezeichnen, verwendet Ion tatsächlich das Adjektiv kakos (»Denn wenn, im eig'nen Haus so bloßgestellt (kakos phaneis) Phoibos [Apollon] dafür den Künder büßen ließe, wär's zu verwundern? (dikaios), ebd., Verse 37037 2 ). 24 Ebd., Verse 1557-1559, S.288. 25 Ebd., Vers 338, S. 253 (Kreusa spricht lediglich von einer Freundin: "Sie sagt mir, Phoibos habe sie verführt.«) 26 Vgl. oben, Anm.23· 27 »Dom on ton exionti tou theoU« (beim Heraustreten aus dem göttlichen Tempel) (Euripides, Ion, Vers 535, a.a.O., S.259)· Ausdrückliches Wortspiel im Vers 802 (Xuthos' Sohn, sagt der Chor, heißt »Ion«, weil er ihm als erster begegnet ist, ebd., S. 267) und im Vers 83 I (»Nachträglich hat er dann den schönen Namen für ihn erdacht, hat Ion ihn genannt, weil unterwegs er ihm begegnet ist [Ion, ionti dethen hoti synenteto}<, ebd., S.268). 28 Ebd., Verse 536-537, S. 259· 29 Ebd., Vers 577, S. 26r. 30 Ebd., Vers 578-580. 3 I Das ganze Gespräch spielt sich in den Versen 540- 560 des Stückes ab (ebd., S. 259-260). 32 Ebd., Verse 669-676, S. 263.
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Vorlesung 3 (Sitzung vom 19· Januar 1983, zweite Stunde)
fon: Nichts, Sohn des Nichts. - Drei Kategorien von Staatsbürgern. - Folgen des politischen Eindringens von Ion: privater Haß und öffentliche Ty;c;;.nnei. - Auf der Suche nach einer Mutter. - Die parrhesia, nicht zurück.~·ihrbar auf die effektive Ausübung der Macht und auf die Statussituation eies Staatsbürgers. - Das agonistische Spiel des Wahrsprechens: frei und ris:Cant. - Historischer Kontext: die Auseinandersetzung zwischen Kleon und .\"ikias. - Kreusas Zorn.
Beginnen wir wieder mit der Lektüre des Textes. [... ';.] Im Zusammenhang mit Ion und seiner Geburt haben wir Kreusa gesehen, die die Wahrheit ein wenig verschob, indem sie vorgab, daß ihre Schwester von ApolIon verführt wurde; dem Gott, der aus Scham nicht die wahre Antwort geben wollte und Xutnos einen Sohn bezeichnet hat, der in Wirklichkeit gar nicht seiner ist; und Xuthos, der sich gewissermaßen aus Nachlässigkeit mit Wahrheiten begnügt, die zwar wahrscheinlich, aber :--,icht wirklich überprüft sind. Und genau dieses Spiel von Halblügen, Halbwahrheiten und Annäherungen lehnt Ion ab. Ion weigert sich, er will die Wahrheit. Er will die Wahrheit, "i,,-eil er ein Recht begründen will- wie die ganze Tirade zeigt, ":lei der wir nun etwas verweilen werden. Er will sein Recht, sein politisches Recht in Athen begründen. Er will das Recht haben, dort zu sprechen, alles zu sagen, Wahres zu sagen und " :\1. E: Ich möchte Sie daran erinnern, was ich Ihnen letztes Mal gesagt nabe: Diejenigen unter Ihnen, die Studenten sind, d. h. die einen Studiengang belegen und mit einer akademischen Arbeit beschäftigt sind, sei es die Vorbereitung auf die Licence, die Doktorarbeit usw., und die aus dem einen oder anderen Grund ein wenig über ihre Arbeit, über die Vorlesung sprechen und Fragen stellen wollen, können sich also nachher mit mir treffen, wenn Sie wollen, gegen viertel vor zwölf in Hörsaal 5, der geöffnet sein wird. Wir werden versuchen, ein kleines Treffen zur ersten K.ontaktaufnahme zu veranstalten, damit wir jenseits der Alethurgie der Yorlesung Fragen und Antworten austauschen und dem Ganzen den :neatralischen Charakter etwas nehmen können. Kommen wir also zum Tneater und zu Ion zurück.
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seinen Freimut im Reden zu gebrauchen. Um seine parrhesia zu begründen, ist er darauf angewiesen, daß schließlich die Wahrheit gesagt wird, eine Wahrheit, die dieses Recht begründen könnte. Deshalb sagt Ion, nachdem Xuthos ihn warmherzig umarmt und ihn mehr oder weniger davon überzeugt hat, daß er im Grunde mehr oder weniger sein Sohn ist: Ja, aber das geht nicht. »Ganz anders zeigt sich die Gestalt der Dinge, solang' sie fern, anders von nah' geschaut [»von nah' «: ich glaube, man muß das in einer ganz örtlichen Bedeutung verstehen: in Athen; von Delphi aus gesehen, kann man im Prinzip sagen, daß ich dein Sohn bin und daß ich zurückkehren werde, um dort die Macht auszuüben, aber in Athen ist das anders; M. F.J. Ich segne freudig mein Geschick, das mich in dir den Vater heute finden ließ; doch höre mein Bedenken!«! Anschließend wird es gerade um diesen Ort selbst gehen, an dem die Macht ausgeübt werden soll, nämlich Athen. »Man sagt, die stolze Stadt Athen sei von dem erdentsproßnen Urgeschlecht, dem niemals eingewanderten, bewohnt. Da dräng' ich nun mich ein, zwiefach bemakelt, als Bastard eines Zugewanderten: Wenn so belastet ich im Dunkel lebte, würd' ich als Nichts, Sohn des Nichts gelten. Greif ich dagegen nach des Staates Steuer voll Ehrbegier, so werd' ich von den Schwachen gehaßt (den Überleg'nen liebt man nicht); von jenen, die, an Geist und Gaben reich, fern den Geschäften in der Stille leben, für einen Narr'n gehalten, weil ich nicht im schreckensvollen Staat mich still verhalte. Wenn ich die Redner gar und Volksberater an Ansehn übertreffe, werd' ich bald von Richterstimmen mich belagert sehn. Denn das, mein Vater, ist der Lauf der Welt, daß, die im Staate Macht und Ansehn haben, im Mitbewerber stets den Feind erblicken. Auch trät als Fremder ich ins fremde Haus, wo deine kinderlose Frau den Schmerz, den sie bisher mit dir gemeinsam trug, nun, jeder Hoffnung bar, für sich allein, in Bitterkeit des Herzens tragen müßte. Ich zweifle nicht, daß sie mich hassen würde [...}<.2 Ich werde auf diese Passage zurückkommen. Ich möchte gerne den ersten Teil des Textes und der Erwiderung noch einmalle132
sen. Was kann man den Erwiderungen, die Ion seinem Quasi\'ater, seinem Pseudovater gegenüber macht, entnehmen? ErSIens, sagt er, ist Athen autochthon. Das ist der alte Anspruch A.thens: Im Unterschied zu den anderen griechischen Völkern haben die Athener schon immer auf Attika gewohnt, sie sind auf dieser Erde geboren, und Erechtheus, der ebenfalls auf Athener Erde geboren wurde, ist der Gewährsmann dafür. Zweitens ist Athen nicht nur autochthon, sondern Athen ist rrei von jeder Vermischung mit Fremden. Das bezieht sich auch auf ein wichtiges Thema, das man bei Euripides wiederrindet, beispielsweise in einem Fragment eines verlorengegang:enen Stücks mit dem Titel Erechtheus. In den anderen Städ:en, sagt Euripides, lebt man wie eine Spielfigur, die man im Stäbchenspiel oder im Tricktrack verschiebt; ständig werden :1eue Elemente eingeführt wie ein schlecht befestigter Dübel in einem Holzstück. 3 Das bezieht sich tatsächlich auf eine ganz :·;:onkrete Gesetzgebung. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts, seit ..:. 50 -4 5I v. Chr., erkannte ein Gesetz, das für Athen charakteristisch war und das man in den meisten anderen griechischen Sradtstaaten nicht findet, das Recht der Staatsbürgerschaft für Kinder nicht an, die von einem athenischen Vater und einer :::icht-athenischen Mutter abstammen. 4 Mit anderen Worten, seit der Mitte des 5. Jahrhunderts war die doppelte Athener Abstammung erforderlich. Diese äußerst strenge Gesetzge:Jung, die, wie gesagt, für Athen typisch war, hatte zum Ziel, starken Anstieg der Staatsbürger zu verhindern. Natür.:ch bewirkte sie auch, daß die Zahl der Staatsbürger geringer -;-'7.1rde. In der zweiten Hälfte des Peloponnesischen Krieges, ;erade als Athen, das von der Pest, dem Krieg und den Nieder:2gen geschwächt war, Staatsbürger gebraucht hätte, kommt :114.11. auf diese Gesetzgebung zurück. Aber zu der Zeit, als Eu::pides Ion schreibt, im Jahre 418, ist man noch nicht in dieser ::"'age, und das Gesetz ist weiterhin in Kraft. Entsprechend ei:1effi üblichen Verfahren der Bearbeitung von Legenden macht :1:;L11 sogar geltend, daß dieses Gesetz sehr alt ist, während es in irklichkeit erst vor kurzem verabschiedet wurde. Hier er133
wartet man von Ion, daß er sich auf eine ganz ursprüngliche Athener Tradition beruft und sagt: Athen ist frei von jeder Vermischung mit Fremden, d. h., jeder Bürger kann nur Eltern haben, die selbst athenische Staatsbürger sind. Er sagt nun: »Da dräng' ich nun mich ein, zwiefach bemakelt, als Bastard eines Zugewanderten.«5 Er ist also nicht einmal Sohn eines Atheners und einer Fremden. Er ist der Sohn eines Nicht-Atheners, Xuthos, und eines dahergelaufenen Mädchens. Also: »Wenn so belastet ich im Dunkel lebte, würd' ich als Nichts, Sohn des Nichts gelten.«6 Nichts, niemandes Sohn: Er würde ein Nichts sein. Hier beginnt eine zweite Entwicklung. Die Übersetzung wird hier, glaube ich, nicht ganz dem Text gerecht und gibt ihn nicht klar wieder, obwohl seine begriffliche Struktur doch relativ deutlich ist. Er sagt: Wenn ich in den ersten Rang aufsteigen will (eis to proton zygon: zum ersten Rang)? - beachten Sie, daß es nicht darum geht, die Macht eines Tyrannen, eines Monarchen, eines Alleinherrschers auszuüben; im ersten Rang sein bedeutet, zu jenen wenigen zu gehören, die den ersten Rang der Stadt bilden - werde ich es mit drei Kategorien von Staatsbürgern zu tun haben (hier stelle ich die Dinge nur schematisch dar, aber der Text ist auf diese Weise konstruiert). Der Text sagt: »So werd' ich von den Schwachen gehaßt (den Überleg' nen liebt man nicht); von jenen, die, an Geist und Gaben reich, fern den Geschäften in der Stille leben, für einen Narr'n gehalten, weil ich nicht im schreckensvollen Staat mich still verhalte. Wenn ich Redner gar und Volksberater an Ansehn übertreffe [... J«.8 Es ist also von drei Kategorien von Staatsbürgern die Rede. In einem anderen Text von Euripides, Die SchutzJlehenden, ist auch von drei Kategorien von Bürgern die Rede: den Reichen, den Armen und den Mittleren. 9 Wir haben ebenfalls eine Unterscheidung in drei Begriffe, die jedoch völlig verschieden ist. Denn es handelt sich um drei Kategorien von Bürgern, die nicht nach ihrem Reichtum angeordnet sind, sondern danach, was Ion für sein Ziel oder sein hypothetisches Ziel erklärt: dem ersten Rang der Stadt anzugehören. Mit Bezug auf die Verteilung der Macht, der Autorität, dem tatsächlichen
i:influß in der Stadt gibt es drei Kategorien von Bürgern. Man :::uß sich also folgendes klarmachen: Es handelt sich hier nicht :.:::: drei rechtliche Kategorien von Bürgern, die nicht densel:,,,n Status der Wahlberechtigung hätten. Wir befinden uns in 2er Athener Demokratie. Sondern es geht um die effektive 'erteilung der politischen Autorität, der Ausübung der Macht :::'inerhalb und inmitten dieser Masse oder dieser Gesamtheit, :':e von den rechtmäßigen Bürgern gebildet wird. Diejenigen, 2;e keine Rechte haben, weil sie entweder Sklaven oder Misch::nge oder Fremde sind, werden nicht einmal erwähnt. Nein, . sind unter den Staatsbürgern, und unter diesen gibt es drei
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:~ategorien.
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men adynaton: 10 der Bereich jener, die adynaton sind ,ohnmächtig«). Ich glaube, daß man diesen Text durch einen l::'ideren Text erhellen muß, der sich ebenfalls in Die SchutzJle~',"nden befindet und in dem es um Bürger geht, die fähig und :;ompetent sind, die selbst und durch ihre Reichtümer etwas die Stadt ausrichten können. 11 Die erste Kategorie, die Ion .-:ier erwähnt, besteht aus jenen, die nicht einmal diese Fähig::c:r haben, diese Macht, etwas selbst oder durch ihren Reichr:.:m für die Stadt auszurichten. Das heißt: Sie selbst haben :::cht einmal die Mittel, sich Waffen und eine Rüstung zu kau:"n, um am Krieg teilzunehmen. Sie gehören auch nicht zu de:-.en, die der Stadt Reichtümer verschaffen oder sie wohlhabend :-::;.chen. Diese unfähige Menge, diese Masse von Bürgern, die :::: juristischen Sinne vollwertige Bürger sind, die jedoch nicht c:cses »Mehr« haben, das die politische Autorität auszeich::'i:"c, kann gegenüber jemandem wie Ion, der als Eindringling ::c.mmt und durch seine uneheliche Herkunft gebrandmarkt .S:, nur Neid und Wut empfinden. Diese Leute verabscheuen :2enfalls immer die Stärksten, wer immer sie auch sein mögen. sagt Ion, werde ich einer allgemeinen Feindseiligkeit der ,~)hnmächtigen oder jener, die keine politische Autorität in un5crem Land besitzen, ausgesetzt sein. Ich werde aufgrund meir.tr Herkunft auf ihre Feindschaft stoßen, eine Feindschaft, die 7:"gen meiner Herkunft nur um so stärker sein wird.
Die zweite Kategorie von Bürgern - das ist nun sehr interessant - sind die Leute, die chrestoi und dynamenoi sind. Dynamenoi,12 das sind diejenigen, die etwas können, denen ihre Herkunft, ihr Status, ihr Reichtum die Mittel verschafft, Macht auszuüben. Chrestoi, das sind die »guten Leute«, diejenigen, die moralisch schätzenswert sind. Im Grunde ist es die Elite. Diesen Ausdruck chrestoi verwendet nämlich Xenophon oder vielmehr der Pseudo-Xenophon im Staat der Athener, um die Elite zu bezeichnen. 13 Nun, unter diesen Leuten, den dynamenoi und chrestoi, gibt es welche, die zugleich sophoi sind (die weise sind). Und diese »sigosin kai ou speudosin eis ta pragmata«:14 Sie schweigen und kümmern sich nicht um ta pragmata (die Angelegenheiten des Staates). Wir haben also diese zweite Kategorie der Bürger, die zu den Guten und Fähigen gehören, zu denjenigen, die Reichtum, edle Geburt, Status haben, deren Weisheit jedoch dafür verantwortlich ist, daß sie sich nicht um die Politik kümmern. Sich nicht um Politik zu kümmern, sich nicht um die Angelegenheiten des Staates zu kümmern, bedeutet auch zu schweigen. Wie werden diese nun reagieren, wenn sie sehen, daß ein unehelicher Eindringling versucht, in den obersten Rang zu drängen? Nun, sie werden das ganz einfach lächerlich finden. Sie werden es lächerlich finden, daß dieser uneheliche Eindringling sich in der Stadt nicht einfach ruhig verhält (hesychazein).15 Hier haben wir also ganz deutlich ein philosophisches Thema bezüglich jener Form der Zugehörigkeit zu einem Staat, die darin besteht, gleichgültig ob man reich, fähig, von edler Geburt usw. ist, ein sOphOS 16 zu sein, ein Weiser zu sein, der sich nicht um die Angelegenheiten des Staates kümmert und der die hesychia, die Ruhe, bewahrt und sich dem Müßiggang widmet, dem, was die Lateiner otium nennen werden. Die dritte Kategorie von Bürgern besteht ebenfalls aus reichen und fähigen, eben aus guten Leuten. Aber im Gegensatz zu den sophoi (den Weisen), die schweigen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, handelt es sich hier um Leute, die »logo te chromenon te tei polei«, 17 d. h. die die Politik und die
'ernunft handhaben (chromenon vom Verb chrestai: sich einer S:.che bedienen, ausüben, sich kümmern um; und zwar sowohl '~::n den logos als auch um die polis: sie handhaben also logos ~::ld polis; und sie repräsentieren natürlich die politische Auto:-i:at). Sie sehen, daß diese dritte Kategorie von Bürgern Wort i'::'r Wort der vorhergehenden Kategorie entgegengesetzt ist, )~wohl sie auch zu den guten Leuten gehören. Es gibt die Ka:::gorie von guten Leuten, die schweigen und sich nicht um die ::r-,zgmata kümmern, und es gibt die Kategorie von Leuten, die ;:~h des logos bedienen, sich um ihn kümmern, ihn handhaben ~::d üben (d. h. sie schweigen nicht, sondern sie sprechen). 0asselbe gilt für die polis (sie kümmern sich um die Angelegen::eiten der Stadt). Der Gegensatz besteht hier, glaube ich, Wort 2': r Wort. Der Text sagt im übrigen, daß diese Leute die Stadt :::.ben, sie besitzen die Stadt und kontrollieren sie, und man 2:-ingt ihnen Ehrungen entgegen. Deshalb würde man Gefahr .'::lien, als Rivale mit ihnen zusammenzustoßen: Sie ertragen es sagt er, daß man mit ihnen konkurriert, und durch ihr ')rum versuchen sie jene, die ihren Argwohn erregen, zu ver~2:eilen oder auszuschließen. ::-:. der Stadt und im Hinblick auf diese drei Kategorien von ? ::::sonen, die, wie gesagt, drei Kategorien rechtmäßiger Bür:;ef darstellen - die Armen ohne Macht; und unter den Mächti::::-:., diejenigen, die schweigen und sich nicht um die Angele:::::heiten der Stadt kümmern, und die, die sowohl den logos als ;:~ch die polis handhaben -, ist Ion auf jeden Fall als Eindring:::g, Fremder und uneheliches Kind überflüssig. Welche Fol.:e:: ergeben sich nun hieraus? Die Antwort steht in dem Text, ~=:: ich Ihnen vorzulesen begann. 18 Selbst in dem Haus, in dem wohnen wird (d. h. im Haushalt von Xuthos und Kreusa), --:,-:rd er überflüssig sein, da er der uneheliche Sohn eines frem.:e:: Vaters ist. Kreusa, die einerseits als Tochter von Erech~:cus Athenerin von Geburt ist und andererseits rechtmäßige G.:ttin, wird ihn nicht ertragen. Es wird also Haß im Haus der ':-:errscher geben, im Haus des Königs, des Monarchen und sei-,e::- Gattin, auf jeden Fall in diesem Haus, dessen Harmonie
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und gutes Einvernehmen für die Harmonie der Stadt selbst absolut unverzichtbar ist. Entweder wird Xuthos die Partei seines unehelichen Sohnes gegen seine Frau ergreifen, was der Zerstörung des Hausfriedens gleichkäme; oder er wird die Partei seiner Frau gegen seinen Sohn ergreifen und wird dann Ion verraten. Auf jeden Fall ist Ion im Hinblick auf diese Struktur des Haushalts des Oberhaupts, dessen Harmonie für das öffentliche Wohl und den Frieden der ganzen Stadt unverzichtbar ist, einer zuviel. Andererseits ist er auch auf der öffentlichen Bühne einer zuviel. Denn er wird nur - das erscheint am Ende des Textes - eine einzige Macht ausüben können, nämlich die der Tyrannei, da er von außen kommt und sich mit seiner unrechtmäßigen Herkunft durch Gewalt aufzwängt. Er würde wie jene Tyrannen sein, die sich von außen den griechischen Stadtstaaten aufdrängten und unter dem Schutz von Zeus standen. Nun ist es zufällig so, daß Xuthos ein Nachkomme von Zeus ist, die Bezüge zur Macht des Tyrannen sind also recht deutlich. Ion kann nur als Tyrann kommen und herrschen. Nun ist aber die Existenz des Tyrannen, sagt er, eine verachtenswerte Existenz, und er will auf keinen Fall ein solches Leben führen. 19 Er zieht es vor, bei dem Gott zu bleiben, wo er ein ruhiges und friedliches Leben führen wird. Deshalb sagt Ion, nachdem er die Vaterschaft akzeptiert hat, die Xuthos ihm andeutete, am Ende: Nein, ich will aus den genannten Gründen schließlich doch nicht nach Athen gehen. An dieser Stelle insistiert Xuthos und macht geltend, daß man sich noch arrangieren könne (bei Xuthos befinden wir uns immer in der Welt des Arrangements). Er sagt: Das ist ganz einfach, wir werden nicht gleich sagen, daß du mein Sohn bist, noch auch mein Erbe, und auch nicht, daß ich dir die Macht abtreten werde, sondern wir werden das alles ganz behutsam und schrittweise tun. Wir werden die Gelegenheit, den Augenblick wählen, da wir es Kreusa mitteilen, so daß sie es ohne Kummer und ohne Schwierigkeit akzeptieren kann. Und dieses Arrangement wird von Ion akzeptiert. 20 Er akzeptiert es, indem er zustimmt, mit Xuthos an einem Gastmahl teilzunehmen, bei 13 8
'::em man dem Gott für seine Offenbarung, die tatsächlich eine ~:J.genhafte Offenbarung ist, danken wird. Anschließend wird
:::lan nach Athen fahren und die Gegenwart Ions im Heim von Kreusa und Xuthos allmählich durchsetzen. Ion akzeptiert, aber nicht, ohne folgendes hinzuzufügen, was in dem Text ent:-:alten ist, den ich Ihnen erläutern wollte: Ich werde also gehen, aber das Schicksal (tyche) hat mir noch nicht alles gegeben. 21 Er :sr damit einverstanden, nach Athen zu gehen; aber »find ich ;ene nicht, die mich gebar, was ist mir dann das Leben? [abio~on hemin: es ist uns unmöglich zu leben; M. E] Wenn ich wüns:hen darf, sei meine Mutter Bürgerin aus Attika, daß ich als :neiner Mutter Sohn frei reden mag. Denn dringt zu Bürgern echten Stamms ein Fremder ein, so mag er Bürger heißen, doch ','erstummt sein Mund als eines Knechtes, frei zu reden wagt er :eicht.,,22 Er wird die parrhesia nicht haben: ouk echei parrhesi23 ,:12. Warum ist ihm die parrhesia so wichtig? Warum bringt '::as Fehlen der parrhesia die von Xuthos konstruierte annäl:ernde Verknüpfung zum Scheitern? Warum ist Ion in dem .-\ugenblick, da er diese annähernde Verknüpfung akzeptiert, :eicht zufrieden und will noch wissen, wer seine Mutter ist, um :.ie parrhesia zu erlangen? Mir scheint, daß man in diesem ~\langel der parrhesia, der sich auf diese Weise manifestiert und ::er Ion so stört, ein [... ,:,] erkennen kann. ~,lan sieht sehr gut, daß die parrhesia nicht mit der Ausübung ::er Macht zu verwechseln ist. Denn Xuthos besitzt diese ~'lacht, die Autorität über die Stadt, die Hoheitsgewalt - eine noheitsgewalt von monarchischem oder tyrannischem Ty::us -, und ist völlig bereit, sie auf seinen Sohn zu übertragen. großartige Herkunft, die bis auf Zeus zurückgeht, die '/;irkliche Macht, die er in Athen ausübt, die Reichtümer, die er :.ngesammelt hat, all dies genügt nicht und würde nicht ausrei:hen, um Ion die parrhesia zu geben. Es geht also nicht um die .-\usübung der Macht selbst.':":' Aber man sieht auch, daß es " unverständlich. Das Manuskript präzisiert: »Die parrhesia ist nicht die Sprache des Befehlens; sie ist nicht die Sprache, die die anderen unterjocht.« 139
ebenfalls nicht um den einfachen Status des Staatsbürgers geht. Gewiß, aufgrund der athenischen Gesetzgebung - der von 45 I, deren Gültigkeit aber bereits anerkannt wird - kann er kein Staatsbürger sein, weil er nicht von einer athenischen Mutter abstammt. Das Interessante in diesem Text ist jedoch, daß er gerade sagt: Selbst wenn das Gesetz aus jemandem einen Staatsbürger macht, selbst wenn er also nach dem Gesetz Bürger ist, hat er darum noch nicht die parrhesia. Mit anderen Worten, die parrhesia kann er weder von seinem Vater erhalten, der ihm die Macht gibt, noch vom Gesetz, wenn ein solches existierte, das ihm den Status eines Bürgers verleihen würde. Er verlangt diese parrhesia von seiner Mutter. Heißt das, daß wir es hier mit dem Überbleibsel oder dem Ausdruck eines matriarchalischen Rechts zu tun haben? Ich glaube, daß das gewiß nicht der Fall ist. Man muß sich nämlich daran erinnern, worin die besondere Situation Ions besteht. Er hat einen Vater, der auf athenischem Boden angenommen wurde, der jedoch ursprünglich kein Grieche ist. Zweitens weiß er nicht, wer seine Mutter ist. Und drittens will er Macht ausüben, er will im ersten Rang des Stadtstaats sein. Die Macht eines Tyrannen könnte er von seinem Vater erhalten, aber diese Macht genügt ihm nicht für das, was er zu tun beabsichtigt. Er beabsichtigt nämlich, in den obersten Rang des Stadtstaats einzutreten. Und um im ersten Rang des Stadtstaats sein zu können - oder vielmehr: in Verbindung mit diesem ersten Rang im Stadtstaat - braucht er die parrhesia. Diese parrhesia ist also etwas anderes als der einfache Status des Bürgers. Sie ist auch nicht mit der Macht eines Tyrannen gegeben. Was ist sie dann? Nun, ich glaube, daß die parrhesia gewissermaßen ein Sprechen ist, das über dem Status des Bürgers liegt und das sich von der einfachen Ausübung der Macht unterscheidet. Es handelt sich um ein Sprechen, das die Macht innerhalb der Stadt ausübt, aber natürlich unter Umständen, die nichts mit einer Tyrannei zu tun haben, d. h. indem man den anderen die Freiheit der Rede läßt, die Freiheit derer, die ebenfalls im ersten Rang sein wollen und diesen Zustand auch durch diese Art von agoI4°
::,::'srischem Spiel, das für das politische Leben in Griechenland vor allem in Athen charakteristisch ist, erreichen können. 2, ist also ein von oben kommendes Sprechen, das aber die :::-ciheit anderer Reden gewährt und das die Freiheit jener bedie zu gehorchen haben, zumindest insofern sie nur dann ;chorchen müssen, wenn sie überzeugt werden können. ;)ie Ausübung einer Rede, die jene überzeugt, denen man beund die die Freiheit den anderen, die auch befehlen wol_ec., in einem agonistischen Spiel läßt, das ist, glaube ich, für die ~_n'hesia entscheidend, und zwar mit allen Folgen, die mit ei::em solchen Kampf und einer solchen Situation verbunden Erstens der Möglichkeit, daß die Rede, die man hält, nicht ::jerzeugt und sich die Menge gegen einen wendet. Oder dass :::e Rede der anderen, der man neben der eigenen einen Platz ::::räumt, den Sieg über die eigene Rede davonträgt. Das ist das ~ülitische Risiko der Rede, die den anderen Reden einen freien ::-:atz einräumt und sich zur Aufgabe macht, nicht die anderen :em eigenen Willen zu unterwerfen, sondern sie zu überzeu;en. Das macht das eigentliche Feld der parrhesia aus. Was ist -:-':TI die Verwirklichung dieser parrhesia innerhalb der Stadt ,,::deres als das, was vorhin gesagt wurde, nämlich den logos ~nd die polis zu handhaben, sich um sie zu kümmern? Die par's-esia besteht in der Verwirklichung des logos in der polis -10im Sinne der wahren, vernünftigen, überzeugenden Rede, '::c mit anderen Reden konfrontiert werden kann und die nur ,,-.:igrund ihrer Wahrheit und ihrer Überzeugungswirkung an :::;ewicht gewinnt -, in der Verwirklichung der wahren, ver::::irrftigen, agonistischen Rede, in der diskussionsbezogenen im Bereich der polis. Diese parrhesia kann, wie gesagt, durch die effektive Ausübung einer tyrannischen Macht durch den einfachen Status des Bürgers gegeben wer':::21.
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kann dann überhaupt diese parrhesia geben? An dieser macht Euripides, wenn schon nicht seine Lösung, so zumindest seinen Vorschlag geltend. Er sagt: Sie muß von ::e::- Mutter kommen. Aber, wie gesagt, es geht überhaupt nicht I4 I
um irgendein matriarchalisches Recht, sondern um die Situation Ions, der bis jetzt als nicht in Athen geboren gilt, obwohl er einen hervorragenden Vater hat, da er von Zeus abstammt, und obwohl dieser Vater äußerst mächtig ist, da er die Macht in Athen ausübt. Nur die Zugehörigkeit zur Erde, die Autochthonie, die Verwurzelung im Boden, die historische Kontinuität auf der Grundlage eines Territoriums, nur dies kann die parrhesia verleihen. Mit anderen Worten, die Frage nach der parrhesia entspricht einem historischen Problem, einem äußerst konkreten politischen Problem zu der Zeit, als Euripides Ion schreibt. Wir befinden uns im demokratischen Athen, wo Perikles zehn Jahre zuvor starb, in diesem demokratischen Athen, wo das ganze Volk das Wahlrecht hatte und zugleich die Besten und der Beste (Perikles) die politische Autorität und Macht ausübten. In diesem post-perikleischen Athen stellt sich die Frage, wer im Rahmen der rechtmäßigen Bürgerschaft tatsächlich die Macht ausübt. Vorausgesetzt, daß das Gesetz für alle gleich ist (das Prinzip der isonomia), vorausgesetzt, daß jeder das Recht hat zu wählen und seine Meinung zu sagen (isegoria), wer hat dann das Recht der parrhesia, d. h. sich zu erheben, das Wort zu ergreifen und zu versuchen, das Volk zu überzeugen, zu versuchen, gegen die Rivalen zu gewinnen mit dem Risiko allerdings, dabei das Recht zu verlieren, in Athen zu leben, wie es geschieht, wenn ein politisches Oberhaupt verbannt wird, oder gar das eigene Leben zu verlieren? Wer soll überhaupt dieses Risiko der politischen Rede mit der damit verbundenen Autorität tragen? Darum gingen die Auseinandersetzungen in Athen zu jener Zeit zwischen Kleon, dem Demokraten, Demagogen usw., der behauptete, daß jeder diese parrhesia haben sollte, und der Bewegung mit aristokratischer Tendenz um Nikias, der meinte, daß die parrhesia einer bestimmten Elite vorbehalten sein sollte. Während der großen Krise, die die zweite Hälfte des Peloponnesischen Krieges in Athen einleitete, wurden verschiedene Lösungen probiert. Zu der Zeit, da Euripides schreibt, hat die Krise noch nicht wirklich begonnen, aber die Frage stellt sich. Eben um diese Zeit 14 2
Sildet sich in Athen eine Reihe von neuen Verfassungsprojek:en heraus. Euripides will im Ion keineswegs eine VerfassungsLösung vorschlagen, um zu bestimmen, wer die parrhesia ausüben soll. Aber man sieht sehr wohl, in welchem Kontext er die Frage nach der parrhesia formuliert: Wenn, wie der Text hier sehr deutlich zeigt, die parrhesia nicht als gewalttätige und ty,annische Macht ererbt werden kann, dann folgt sie auch nicht ·einfach aus dem puren Status des Bürgers, dann muß sie etwas sein, was nur einigen vorbehalten ist und was man nicht ein:ach so erlangen kann. Euripides' Vorschlag besteht nun darin, :laß die Zugehörigkeit zur Erde, die Autochthonie, die historische Verwurzelung in einem Territorium dem Individuum die _-\usübung der parrhesia gewährt. '\\'as ich hier über den unmittelbaren politischen Zusammenhang dieses Problems und Themas der parrhesia im Ion sage, habe ich nicht aus dem abgeleitet, was ich vorhin gesagt habe, z..:s ich den grundlegenden Charakter dieser Tragödie als Tragöals Drama des Wahrsprechens und als eine Art von grund:egender Darstellung des Wahrsprechens ansprach. Ich glaube, iaß dieses Stück in Wirklichkeit eine unmittelbare Reaktion ein konkretes politisches Problem war und daß es gleichzeitig das griechische Drama über die politische Geschichte des \~\~-ahrsprechens, über die legendenhafte und wahre Begründung <:e5 Wahrsprechens im Reiche des Politischen ist. Die Tatsache, das Wesentliche, das Grundlegende der Geschichte über feinen und dünnen Faden der Ereignisse verläuft, ist etwas, zu dem man sich durchringen oder vielmehr, dem man entschlossen ins Auge sehen muß. Die Geschichte, und zwar das \;Cesentliche der Geschichte, verläuft durch ein Nadelöhr. In iiesem eher unbedeutenden Verfassungskonfliktder Ausübung 2er Macht in Athen wird das große Drama des Ion als Drama 2cr Formulierung des Wahren und der Begründung des politischen Wahrsprechens mit Bezug auf das Wahrsprechen des Orakels entworfen. Wie gestaltet sich der Übergang vom ';;';'ahrsprechen des Orakels zum politischen Wahrsprechen ? ~as wird im zweiten Teil des Stückes noch klarer zur DarstelI43
lung kommen. Da ist der Gott, der Wahres sagen sollte. Ich habe Ihnen gezeigt, warum und wie er sich weigerte, die Wahrheit zu sagen. Wie wird nun über die annähernde Wahrheit, die Xuthos Ion angetragen hat und der gegenüber Ion sich so zögernd verhielt, hinausgegangen? Wie wird das Geheimnis überwunden, das der Gott wegen seiner orakelhaften Mehrdeutigkeit und auch wegen der Scham aufrechterhält, sein Vergehen einzugestehen? Nun, wir müssen uns hier an die Menschen wenden, denn der Gott wird stumm bleiben, er wird mehrdeutig und verschämt bleiben. Die Menschen werden dagegen die Strecke zum Wahrsprechen zurücklegen, zum Wahrsprechen über die Geburt Ions, der schließlich sein Recht, in der Stadt Wahres zu sagen, begründen kann. Wie geschieht das? Ich will versuchen, mich etwas zu beeilen. Zumindest werde ich mit der Analyse dieses zweiten Teils beginnen. Genau wie in Ödipus sich die Wahrheit nach und nach offenbarte, werden wir hier Versatzstücke haben oder vielmehr zwei Gruppen von Versatzstücken. Wir hatten eine erste Gruppe, als wir sahen, wie Kreusa ihre ausweichende Frage stellte, wie Xuthos seine naive Frage stellte und wie der Gott eine ausweichende Antwort gab. Das ist der erste Punkt. Nun ist Ion praktisch damit einverstanden, dieses Spiel der ausweichenden Wahrheit oder der Halblüge zu spielen. Er hat es teilweise akzeptiert, aber er ist nicht ganz zufrieden. Es bleibt ihm noch jener Rest, nämlich die Notwendigkeit, die parrhesia zu begründen, was ihm noch nicht gelang. Die letzte Strecke wird auch hier in zwei Schritten überwunden. Einerseits durch die Frau und andererseits durch das Wahrsprechen - Sie werden sehen, wie widerstrebend und voller Anspielungen - des Gottes. Erstens, seitens der Frau. Damit die Geburt Ions sich in ihrer Wahrheit offenbart, müssen die beiden Partner, die Ion gezeugt haben, nämlich Kreusa und Apollon, die Wahrheit sagen. Folgendes geschieht nun auf Kreusas Seite: Ion, der eher unwillig Xuthos' Lösung akzeptiert hat, entschließt sich, mit ihm an jenem Dankesfestmahl teilzunehmen. Er verläßt also die Bühne, aber nicht ohne dem Chor Schweigen anempfohlen zu haben, 144
zwar in ihrer Übereinkunft festgelegt wurde, daß Ion einnach Athen zurückkehren soll, die Wahrheit aber nach ~:::d nach gesagt werden wird und da es sich herausstellen wird, Ion tatsächlich Xuthos' Erbe ist, all dies, um Kreusa nicht ='..2 \'erletzen. Es müssen also alle über das, was man für die hält, schweigen, und deshalb wird dem Chor emp,:n.len zu schweigen, Woraus setzt sich aber der Chor zusam:-:ce::? Nun, aus Kreusas Dienerinnen, aus jenen, die Kreusa _-\then bis nach Delphi zu ihrer Befragung des Orakels be;:eiIet haben. Der Chor, der natürlich auf Kreusas Seite steht, ,:,,: nichts Dringenderes zu tun, als Kreusa, sobald sie auf die zurückkehrt, zu sagen: Höre, was geschehen ist. Man es dir nicht sagen, aber Xuthos hat einen Sohn gefunden. ::J:cser Sohn ist offensichtlich nicht deiner. Er wurde von Xu:.-,(:)5 gezeugt, und Xuthos wird ihn bei dir einführen und wird , =::suchen, ihn dir aufzudrängen. Daraufhin macht Kreusa naeine Szene. Sie gerät in Wut, in eine Raserei, in der sie ihrem Pädagogen begleitet wird, dem Greis, mit dem sie n=..::h Delphi kam und der, wie der Text sagt,24 der Pädagoge der von Erechtheus ist. Warum gerät sie in Wut? An dieser - man muß das betonen, obwohl es im Hinblick auf un,',:,en Zweck eher randständig ist, es überschneidet sich aber :-:c:: Dingen, die bereits gesagt wurden - handelt es sich keines""EgS um eine gefühlsbetonte oder sexuelle Wut: Mein Gatte :.=: mich betrogen. Es ist die Wut einer Frau, die als Erbin einer :;Eschlechterfolge und als Gattin eines Mannes einen Sohn ih-:5 ::-hnnes kommen sieht, der sich im Haus niederlassen wird _nd einerseits als Erbe natürlich Macht in diesem Haus aus_,::oEn wird, vor allem aber sie ihrer Rolle als Hausherrin und \)~:1tter und ihrer Rolle als Stamm der Geschlechterfolge ent,)~"iden wird. Als Folge davon wird sie, da sie ihre Rechte einhat, ein einsames, elendes und hilfloses Leben führen, ='25 ist es, was bei ihr die Wut hervorruft, und in dieser Wut 7,·::d sie folgendes sagen, was, wie ich meine, wesentlich ist: Da ::-.:~n Ehemann mir gegen meinen Willen und, ohne es mir zu : "gEn, einen Sohn aufdrängen will, der nicht einmal von mir ..2"
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stammt, und mich demütigt, bin ich das Opfer seiner Ungerechtigkeit. Weshalb bin ich dieses Opfer? Weil Apollon, weil der Gott ihm diesen Sohn bezeichnet hat - denn Kreusa glaubt in diesem Augenblick immer noch wie Xuthos, daß der so bezeichnete Ion der natürliche Sohn von Xuthos sei. Mein Mann drängt mir auf den Hinweis des Gottes einen Sohn auf, der nicht meiner ist, auf den Hinweis des Gottes, der mir selbst einen Sohn gemacht hat, den ich nicht wiederfinden kann. Nun werde ich von zwei Ungerechtigkeiten bedrängt: der Ungerechtigkeit des Ehemanns, der, obwohl er ein Fremder ist, einen Sohn nach Athen bringt, der nicht einmal Athener ist, der aber dort die Macht ausüben und mich meines Status als Tochter, als Erbin, als Erbtochter von Erechtheus berauben wird; andererseits geschieht das alles wegen eines Gottes, dessen Opfer ich war, da er mich im Stich läßt, nachdem er mir ein Kind gemacht hat. Und in dieser Wut wird Kreusa sprechen, und zwar in einer Szene, die, streng genommen, eine Doppelszene ist, die Szene eines Eingeständnisses, das sich nach zwei Registern vollzieht: das blasphemische Eingeständnis, das anklagende und gegen Apollon gerichtete Eingeständnis; und andererseits das gewissermaßen menschliche Eingeständnis, das Eingeständnis, das sich in einem Dialog mit dem Pädagogen mühselig und Wort für Wort entringt. Dieses doppelte Eingeständnis wird eines der wesentlichen Elemente des Stückes sein. Um vom Schweigen des Gottes des Orakels, der sich zu sprechen weigert, zum wahren Diskurs überzugehen, der für Ion die Möglichkeit begründen wird, die parrhesia in Athen zu handhaben, wird die notwendige Entdeckung der Wahrheit durch ein einzigartiges Moment hindurchgehen, das in seiner Struktur, in seiner Funktion, in seiner Organisation, in seiner Diskurspraxis vom Orakel und vom politischen Diskurs ganz verschieden ist. Dieses vermittelnde, notwendige und zweischneidige Element des Eingeständnisses ist jene Szene, in der Kreusa zu dem Gott, oder eher öffentlich, spricht, den Gott öffentlich an das Vergehen erinnert, das sie zusammen begangen haben: ein öffent14 6
:iehes Eingeständnis; und indem sie sich an den Pädagogen ':':endet, gesteht sie ihm halblaut das Vergehen ein, das sie be;;angen hat. Dieses doppelte Eingeständnis wird mit seinen bei::en Teilen den Angelpunkt des Stückes bilden. Darüber werde ;eh leider erst nächstes Mal sprechen, da mir heute die Zeit .. gereicht hat, fertig zu werden. [... ,:.]
Anmerkungen : Euripides, Ion, Verse 585-588, in: Tragödien, a.a.O., S.261. : Ebd., Verse 586-6rr, S.261-262. "Die anderen Städte werden wie Spielsteine auf einem Brett von Elementen gebildet, die ursprünglich eingeführt worden sind. Wer sich, von einer fremden Stadt kommend, in einer anderen Stadt niederläßt, ist wie ein erbärmlicher Dübel, der in einen Balken eingetrieben wurde; dem ::\amen nach ist er Bürger, in Wirklichkeit aber ist er keiner« (in: Euripides, CEuvres, Bd. VIII -2, Fragments, übers. v. E J ouan und H. Van Looy, Paris 2000, »Erechthee«, 14, Verse 9-14, S. 119). Foucault stütZt sich hier 2uf die Übersetzung des Fragments, die von H. Gregoire vorgeschlagen '0,urde, in Ion, a.a.O., Anm. I, S.208. " _"'-uf einen Vorschlag von Perikles hin stimmt der Rat im Jahr 45 1 über ::in Dekret ab, das die Zugangs bedingungen zur athenischen Staatsbür,;erschaft beschränkt (Aristoteles, Staat der Athener, 42). Vorher genügte es, einen athenischen Vater zu haben. In Zukunft muß man einen freien :rhenischen Vater und eine freie athenische Mutter haben, um vollgültiStaatsbürger zu sein. Nach den schweren militärischen Niederlagen ;m Jahr 411 stürzt ein erster Staatsstreich (der sogenannte Staatsstreich ier Vierhundert, hoi tetrakosioi) die demokratische Regierung und beschränkt die Körperschaft der Staatsbürger auf die Reichsten. . E'Jripides, Ion, Vers 592, a. a. 0., S. 261. , Ebd., Vers 594. - ··Greif ich dagegen nach des Staates Steuer (en d'es to proton poleos hor;'7.eteis zygon)« (ebd., Vers 595). Ebd., Verse 597-602. ::5 handelt sich um die Verse 238 bis 245: »Drei Arten Bürger gibt es ja: ciie Reichen sind niemandem nütze, trachten immer nur nach mehr. Der _"'-rme, dem des Lebens Unterhalt gebricht, ist ungestüm und schnödem ::\eide zugewandt, schnellt herber Zunge Stacheln auf Vermögende, von
'\1. E: Ich werde zeigen, wie all das miteinander verknüpft ist. Für die, ci;e wollen, wir treffen uns gleich um Viertel vor zwölf.
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böser Führer trügerischem Wort getäuscht. Doch der in beider Mitte steht, beschirmt die Stadt, die Ordnung wahrend, die das Volk sich gab« (Euripides, Die Schutzflehenden, in: Sämtliche Tragödien, Bd. II, Stuttgart 1958, S. 378; Kritikern zufolge wurden diese Verse nachträglich eingefügt). 10 Euripides, Ion, Vers 596, a. a. 0., S. 261 ("die Schwachen«). 11 In der langen politischen Tirade des Theseus erscheint die Bedeutung der Besten (aristoi) auf negative Weise, wenn er geltend macht, daß der Tyrann sie haßt, während ein Stadtstaat, in dem das Volk regiert, sie bevorzugt (Die Schutzflehenden, Verse 44 2-44 6, S. 38 5)· 12 »Hosoi de chrestoi dynamenoi te (zugleich gut und fähig)« (Euripides, Ion, Vers 598, a.a.O., S.261). 13 "Was man nun den Athenern in bezug auf ihre Verfassung vorwirft, daß sie sich für diese Form der Verfassung entschieden haben, so billige ich das freilich nicht, und zwar deshalb nicht, weil sie sich durch diese Entscheidung zugleich dafür entschieden haben, daß die Schufte besser daran sind als die Rechtschaffenen (chrestous) [.. .]. Wenn manche (und besonders unsere anwesenden Gäste) es verwunderlich finden, daß die Athener überall, zu Hause und in den Bundesstädten, den Schuften und armen und den gemeinen Leuten das Übergewicht geben über die Rechtschaffenen (chrestois) [.. .]. Denn wenn die Rechtschaffenen (chrestoi) allein redeten und ratschlagten, so wäre das freilich für ihres gleichen und für sie selbst ein guter Zustand, für die niedem Stände aber kein guter Zustand« ([Pseudo-]Xenophon, Der Staat der Athener, Kap. 1, § 1,4 und 6, übers. v. H. Müller-Strübing, Philologus, Zeitschrift für das klassische Altertum, 1880, SuppL Bd. IV, Heft 1, S. 155- 157)' 14 Euripides, Ion, Vers 599, a.a.O., 15 Ebd. (»ouch hesychazein en polei phobou plea«: nicht still bleiben im schreckensvollen Staat, Vers 601). 16 Ebd., Vers 598 (»ontes sophoi«). 17 Ebd., Vers 602. 18 Ebd., Verse 607-647, S. 261-262. 19 »Mit Unrecht wird der Fürstenstand (tyrannidos) gepriesen: Schön ist die Front, im Innern der Gemächer wohnt Kummer" (ebd., Verse 621622, S. 262). 20 Ebd., Verse 650-667, S. 26 3. 21 Ebd. Vers 678, S. 26 3. 22 Ebd. Verse 669-675, S. 26 3. 23 Ebd., Vers 675· 24 Ebd., Verse 725-726, S. 26 5.
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Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, erste Stunde)
,"CT7:setzung und Schluß des Vergleichs z'wischen Ion und Ödipus: Die ':C:::lhrheit geht nicht aus einer Untersuchung hervor, sondern aus dem Aufc':,;:mderprallen der Leidenschaften, - Die Herrschaft von Trugbildern und Leidenschaft. - Der Aufschrei des Eingeständnisses und der Anklage. -;. Dumezils Analysen zu"Apollon, - Erneute Betrachtung der auf Ion an;e~'andten Kategorien Dumezils. - Tragische Modulation des Themas der 5:imme. - Tragische Modulation des Themas des Goldes. "'~'Cenn
Sie einverstanden sind, werden wir die Lektüre von Ion :orrsetzen, und zwar in der folgenden Richtung: Wir können diese Tragödie als eine Tragödie des Wahrsprechens, der pary/)esia, der Begründung des Freimuts im Reden lesen. Sie erzä.hlt die Geschichte jenes verborgenen Sohnes, der aus der ';erborgenen Liebschaft zwischen Kreusa und ApolIon her\'orgegangen ist. Er wurde verlassen und ausgesetzt. Er verschwand, wurde für tot gehalten, und seine Mutter, die nun ','on ihrem rechtmäßigen Ehemann Xuthos begleitet wird, er.::undigt sich bei ApolIon von Delphi nach ihm. In dem Augenals sie sich, von Xuthos begleitet, bei ApolIon nach ihrem erkundigt oder danach, was wohl aus diesem verschwun:::"nen Sohn geworden ist, steht er plötzlich vor ihr. Er steht :::war vor ihr in Gestalt eines Tempeldieners, aber sie weiß daß es ihr Sohn ist. Auch er selbst weiß nicht, daß er sei:Ce .\1utter vor sich hat, da er seine eigene Identität nicht kennt. =hs ist also die Geschichte, eine Geschichte, die, wie Sie sehen, ;:2rke Züge der Geschichte des Ödipus trägt, wie die des aus,~esetzten, verlorenen Sohnes, der dann seinen Erzeugern oder ;einer Erzeugerin gegenübersteht, ohne zu wissen, wer sie ist. -:)iese Geschichte gleicht der des Ödipus bis auf einen Unter::hied - ich hatte versucht, diesen Punkt hervorzuheben, Sie ~r:nnern sich -, nämlich daß Ödipus, da er entdeckte, wer er 7:'2r, aus seiner Heimat vertrieben wurde, während die Situati:'r, im Falle Ions genau umgekehrt ist, weil er wissen muß, wer I49
er ist, um als Herrscher nach Hause zu kommen und dort die grundlegenden Rechte des Redens auszuüben. Ab dem Zeitpunkt, da er entdeckt haben wird, wer er ist, wird er heimkehren können. Die Ödipusgeschichte bildet also zwar eine Matrix, hat jedoch eine genau umgekehrte Bedeutung, Polarität oder Richtung. Ich bin mir im klaren darüber, daß, wenn ich Ihnen diese Geschichte des jungen Mannes erzähle, der nur um den Preis Zugang zum Wahren und zum Wahrsprechen hat, daß er das Geheimnis seiner Herkunft lüftet, man die Auffassung vertreten kann, daß wir es hier mit einer Invariante zu tun haben: Der Zugang zur Wahrheit führt für das Kind über das Rätsel seiner Herkunft. Es ist jedoch klar, daß mein Interesse an diesem Stück Ion nicht darin besteht, eine solche Invariante freizulegen (um sprechen zu können, braucht man immer eine Mutter). Im Gegenteil geht es mir darum, zu versuchen zu verstehen, welches die ganz besonderen Bestimmungen sind, die in diesem Stück von Euripides>:-, und man kann sagen im klassischen Athen, durch ein bestimmtes Prinzip vorgenommen wurden, ein Prinzip der juristischen, politischen und religiösen Ordnung, nämlich daß das Recht und die Pflicht des Wahrsprechens - Recht und Pflicht, die für die Ausübung der Macht wesentlich sind - nur unter zwei Bedingungen begründet werden können: Einerseits muß eine Genealogie enthüllt und zur Sprache gebracht werden, und zwar im doppelten Sinn der historischen Kontinuität und der Zugehörigkeit zu einem Territorium; andererseits muß dieses Wahrsprechen der Genealogie, dieses In-die-Wahrheit-treten der Genealogie in einem bestimmten Verhältnis zu der von dem Gott geäußerten Wahrheit stehen, auf die Gefahr hin, daß diese Wahrheit ihm gewaltsam entrissen würde. Das Stück erzählt dieses Entreißen der Wahrheit und der Genealogie, und ich möchte auf die Stelle der Handlung zurückkommen, wo wir letztes Mal angelangt waren. Sie erinnern sich ':. Foucault sagt hier »Euridipe«
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2n das, was geschah: Xuthos und Kreusa waren gekommen, ::m den Gott Apollon zu befragen. Kreusa hatte ihrerseits ::eutlich gesagt, wonach sie suchte. Ihr Anliegen war nicht daselbe wie das von Xuthos. Sie hatte jene Halblüge erfunden, nämlich daß sie im Namen ihrer Schwester komme, um zu fra,:en, was aus dem unehelichen Sohn ihrer Schwester geworden "",·ar. Eine Halblüge, um die Wahrheit zu erfahren. Währenddessen hatte Xuthos, der seine eigene Befragung unternahm, den Gott gefragt, ob er nicht eines Tages einen Nachkommen ha::en werde. Der Gott hatte ihm mit folgender Halbwahrheit ,:eantwortet, die nahezu symmetrisch zur halb falschen Frage ~eusas ist, indem er zu Xuthos sagte: Ich werde dir den ersten ,:eben, dem du begegnen wirst. Der erste, dem Xuthos begegnet, als er aus dem Tempel heraustritt, ist natürlich Ion. Der Gott hatte also eine Antwort gegeben, die nur zu einem gerin,:en Teil wahr war. Er hatte Xuthos und Kreusa zwar jemanden ;egeben, der ihnen als Sohn dienen könnte, aber schließlich ,";ar das Wahrsprechen des Gottes doch zumindest ungenau . .\lan kann sagen, daß der Gott, streng genommen, eine unehe.:che Lösung vorgeschlagen hatte. Nun leidet diese uneheliche _ösung - Ion als Sohn von Kreusa und ApoHon, den Apollon :äIschlicherweise als unehelichen Sohn von Xuthos darstellt 2ber offensichtlich an einem Mangel, da, falls Ion wirklich Xuthos' Sohn ist, er die altüberlieferten Rechte der Ausübung ier politischen Macht nicht genießen kann, weil Xuthos in irklichkeit ein Zugewanderter in Athen ist und nur aufgrund t:nes Sieges, zu dem er den Athenern verholfen hat, und auf;rund der Heirat mit Kreusa, die man ihm als Belohnung gab, ::: den athenischen Staat eingegliedert wurde. Ion ist sich dessen völlig bewußt. Als Xuthos ihn erkennt oder ihn als seinen zu erkennen glaubt, gibt sich Ion, wie Sie sich erinnern, ,::hr zurückhaltend, sehr zögerlich und sagt: Wenn ich jedoch ;:';5 Xuthos' unehelicher Sohn nach Athen zurückkehre, werde ~h entweder überhaupt nichts sein (»Nichts, Sohn des Nichts«) :der ein Tyrann. Jedenfalls kann er unter diesen Umständen :"::cht jenes Mehr genießen, das ihm gestatten würde, im ersten I51
Rang zu stehen (»proton zygon«), und das in der Ausübung der Macht über die Stadt besteht, indem er sich der vernünftigen und wahren Rede bedient. Diese gemeinsame Handhabung des logos und der polis, die Regierung der polis durch den logos kann ihm nicht rechtmäßig zukommen. Damit die parrhesia, damit die Handhabung der Stadt und der vernünftigen und wahren Rede ihm zukomme, müssen wir also einen Schritt über die uneheliche und trügerische Lösung hinausgehen, die das Orakel zunächst nahegelegt hat. Wir müssen einen weiteren Schritt machen und zum endgültigen Grund der Wahrheit vordringen. Diesen zweiten Teil möchte ich heute analysieren. Der zweite Teil des Stückes ist genauso komplex, bewegt (»voller Lärm und Raserei«), genauso von Leidenschaften durchdrungen und von Wendepunkten skandiert, wie der erste Teil im Gegensatz dazu ruhig, hieratisch, einfach und etwas sophokleisch war. Vergleichen wir an dieser Stelle noch einmal Ion und König Ödipus. In König Ödipus gibt nicht das Orakel, wie Sie wissen, das Geheimnis der Herkunft preis. Das Orakel hat Ödipus nur etwas gepeinigt: Einerseits sind da die sehr alten prophetischen Worte, die der Gott ausgesprochen hat und denen sowohl Ödipus als auch seine Eltern entkommen wollten; und dann gibt es die gegenwärtigen Zeichen, die der Gott gesandt hat, nämlich zum einen offenbar die Pest und zum anderen die Antwort, die Kreon gegeben wird. Zwischen diesen beiden Gesamtheiten von Formeln, Sentenzen, Dekreten und Zeichen, die der Gott geschickt hat, bleibt nichts anderes übrig, als Ödipus zu befragen und daß er sich selbst befragt. Angestachelt durch diese verschiedenen Zeichen, die der Gott in der Vergangenheit ausgesandt hat und die er jetzt noch aussendet, entschließt sich Ödipus, die Untersuchung selbst zu leiten. Sie erinnern sich, daß der ganze Text von Sophokles sehr deutlich zeigt, mit welcher Verbissenheit Ödipus entscheidet, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, wie hoch der Preis auch sei, den er zu zahlen habe. Der Text sagt es von Anfang an. Im Ion dagegen, und trotz der genannten Analogien in der Anlage, wird der Prozeß 152
Cer Entschleierung der Wahrheit, das Verfahren der Alethurgie ~einen Hauptakteur haben. Er wird keinen zentralen Akteur ","ie im Ödipus haben. In Wirklichkeit wird die Wahrheit gevr.-issermaßen gegen den Willen der beteiligten Personen ans .. kommen. Gegen den Willen des Gottes und der anderen Personen. Zumindest sind es nicht so sehr die Personen, die die \'~"ahrheit ans Licht zu bringen versuchen - bei dieser Wahr:-:eirsarbeit gibt es keinen Architekten -, sondern es ist das Aufe:nanderprallen der Leidenschaften verschiedener Personen, ".md zwar im wesentlichen das Aufeinanderprallen der Leidens,;:haften Kreusas und Ions, die miteinander insofern zusammenstoßen, als sie sich nicht erkannt haben und glauben, daß ,ie füreinander Feinde sind. Dieses Aufeinanderprallen der Leidenschaften bringt in einem bestimmten Augenblick die Wahrheit ans Licht, ohne Architekten, ohne den Willen, diese c·:';-ahrheit zu suchen, ohne daß jemand die Untersuchung in iie Hand nimmt und sie zum Ziel führt. Einer der großen Un:erschiede zwischen Ion und König Ödipus besteht in der Beziehung zwischen aletheia und pathos (zwischen Wahrheit und Leidenschaft). Im Falle von Ödipus unternimmt es Ödipus selbst, mit seinen eigenen Händen und seiner eigenen Macht, ::Lach der Wahrheit zu suchen. Als er sie schließlich findet, fällt ::,r dem Schlag des Schicksals anheim, und deshalb erscheint s::,ine ganze Existenz als pathos (Leiden, Leidenschaft). Im Falle von Ion haben wir dagegen eine Anzahl von Personen, iie aufgrund ihrer Leidenschaften aufeinanderstoßen. Aus d::,m Aufeinanderprallen, aus dem Blitzstrahl dieser Leidens,;:haften entsteht gewissermaßen, ohne daß sie es ausdrücklich ,,-aUen, zwischen ihnen die Wahrheit; eine Wahrheit, die gerade die völlige Besänftigung dieser Leidenschaften herbeiführen 7':lrd.
Sehen wir nun aber zu, wie sich diese Alethurgie vollzieht. Ich glaube, daß man zwei große Momente erkennen kann. Denken ,:,,-ir hier noch einmal an Ödipus. Sie wissen, daß in Ödipus, als ::,s nicht um die Entdeckung des Verbrechens, sondern um die Entdeckung der Herkunft von Ödipus ging, einerseits der Die153
ner aus Korinth kommen und sagen mußte, daß Ödipus tatsächlich nicht in Korinth geboren wurde, sondern daß er ihn von jemand anderem empfangen habe, von jemand, der aus Theben stammte. Im zweiten Teil, genauer im zweiten Teil des zweiten Teils sagte der alte Diener des Kitheron, der alte Thebaner: Nun ja, ich habe Ödipus aus den Händen Jokastes empfangen, und deshalb ist es wohl Ödipus. Wir haben also zwei Hälften. Ebenso werden wir auch im Ion zwei Hälften haben. Eine Hälfte der Herkunft wird von Kreusa ausgesprochen werden, die sagt: Ja, ich hatte ein Kind, bevor ich Xuthos heiratete. Ich hatte ein Kind mit Apollon, der mich verführt hat und das auf den Hängen der Akropolis geboren wurde. Anschließend wird noch eine zweite Hälfte benötigt, um die Wahrheit zu vervollständigen, nämlich daß ApolIon dieses Kind, das auf den Hängen der Akropolis geboren wurde, entführt hat oder von Hermes entführen ließ, es nach Delphi gebracht und dort zu seinem Diener gemacht hat. In diesem Augenblick ist es wirklich Ion. Die zwei Hälften der Wahrheit verklammern sich miteinander, und wir haben jene berühmten zwei Hälften der Tessera, die das symbolon bilden, von dem in König Ödipus die Rede war. 1 Betrachten wir die erste Hälfte, die Hälfte Kreusas. Wie wird Kreusa dazu gebracht, jene Wahrheit zu sagen, die sie am Anfang des Stückes nicht zu äußern gewagt hatte, als sie einen Umweg um die Wahrheit machte und sagte: Ich komme im Namen meiner Schwester, die eine kleine Affäre und einen Sohn hatte, den ich hier für sie wiederfinden möchte? Wie wird sie dazu gebracht zu sagen: Ja, ich hatte einen Sohn? Ich glaube, letztes Mal sind wir ungefähr bis zu dieser Stelle gekommen. Der Mechanismus, der Kreusa dazu bringen wird, ihren Sohn wiederzuerkennen, ist folgender: Sie erinnern sich, daß Xuthos, als er seinen Sohn Ion erkannte oder erkannt zu haben glaubte, mit diesem übereingekommen war, daß er nach Athen zurückkehren solle, ohne die ganze Wahrheit zu sagen. Und um Kreusa nicht zu verletzen, hatten sie beschlossen, zu verstehen zu geben, daß Ion, nun ja, "einfach so«, als Diener und 154
Gefährte von Xuthos mitkäme. Allmählich würde man dann sagen: Nun, Ion ist wirklich der Sohn Xuthos'. Diese Lüge, die 2.US den allerbesten Motiven erdacht wurde, war vor dem Chor geplant worden, der also die ganze Unterhaltung mitangehört hatte und dem Xuthos nahelegt: Sagt vor allem Kreusa nichts javon. Unser Geheimnis muß wohlgehütet werden. Nun besteht der Chor aber aus Kreusas Dienerinnen, d. h. aus Athenerinnen, aus Frauen des Gynäceums, Frauen, zu deren Status '.md Rolle es gehört, zu bewahren. Als Hüterinnen des Ortes jer Frauen, als Hüterinnen der Geburten, auch als Hüterinnen :hrer Sitten stehen diese Frauen aufgrund ihres Status' auf der Seite Kreusas und auf der Seite jener Abstammungslinie, die bis Erechtheus zurückgehen muß, jene athenische und au:ochthone Abstammungslinie. Deshalb ist es offensichtlich, daß die Dienerinnen Kreusas nichts dringender zu tun haben, :ds Kreusa die Wahrheit zu sagen und sie zu warnen: Sieh' dich ':or, der junge Mann, den man nach Athen bringen wird, soll dir als Xuthos' Sohn aufgedrängt werden. Du wirst bei dir also einen fremden Stiefsohn haben, der dir von deinem Ehemann 2ufgedrängt wird. Und genau das geschieht auch: Sobald Kreu5a die Bühne betritt, nachdem Xuthos abgegangen war, warnt ier Chor Kreusa entgegen dem Xuthos gemachten Verspre~hen und enthüllt ihr, was Xuthos eigentlich vom Orakel des Gottes erfahren hat, d. h. jene Pseudowahrheit, daß Xuthos eir,en Sohn gefunden hat und daß dieser Sohn jener junge Mann, .:!er Tempeldiener, ist, den man zu Beginn des Stückes gesehen ~,at. Kreusa nimmt diese Offenbarung des Chors natürlich für ::lare Münze und gerät in Raserei. Warum gerät sie in Raserei 2nd Verzweiflung? Nun, weil sie an einem isolierten Wohnsitz :2nd in Einsamkeit wird leben müssen. Sie wird das Opfer der :::rniedrigung sein, die in jeder adligen griechischen Familie die '..:nfruchtbare Frau brandmarkt, einer Erniedrigung, die durch .ire Tatsache verstärkt wird, daß nicht nur sie, Kreusa, steril ist, sondern ihr Mann jemanden bringt, den man ihr als Sohn ihres ~\lannes aufzwingen will. Kreusa ist umso mehr erzürnt, als der .:ire Pädagoge, der sie begleitet und der als Erzieher der Kinder 155
von Erechtheus ebenfalls die Abstammungslinie bewahrt und über sie wacht, der Nachricht, die der Chor überbracht hat, seine eigene Interpretation hinzufügt, eine boshafte und tückische Interpretation. Denn der Alte unterläßt es nicht zu sagen: Das ist ja alles ganz nett. Nun, da Xuthos einen Sohn mitbringen wird, gibt er vor, daß das Orakel ihm diesen Sohn bezeichnet hat. Er wird sogar zu verstehen geben, daß er diesen Sohn früher gezeugt haben muß - Sie erinnern sich an die Mänaden des Tempels, den er in jungen Jahren besucht hat -, aber in Wirklichkeit wird das nichts weiter als eine Komödie sein. Weißt du, sagt der alte Pädagoge zu Kreusa, was wirklich geschah? Nun, Xuthos hat einfach mit einer Sklavin ein Kind gezeugt. Er schämt sich, hat den Jungen nach Delphi geschickt und dann dich unter dem Vorwand, das Orakel befragen zu wollen, nach Delphi gebracht. 2 Aber er wollte überhaupt nicht das Orakel befragen, sondern seinen Sohn wiederbekommen und dich glauben machen, daß das Orakel ihn bezeichnet hat, während er ganz einfach gekommen ist, um seinen kleinen Bastard zu suchen, den er einer Dienerin in einem Winkel des Hauses gemacht hatte. All das, sagt der Alte, ist nicht schön, und du kannst es nicht akzeptieren! An dieser Stelle werden wir nun die wahre Rede Kreusas, ihr Eingeständnis hören. Sie sehen jedoch zunächst, daß man den Höhepunkt - oder den Tiefpunkt - der Leidenschaft erreicht hat. Kreusa befindet sich in der schlimmsten aller möglichen Situationen, die sich für eine adlige Griechin von hoher Geburt ergeben kann, die die Abstammungslinie ihrer Vorfahren fortzusetzen hat: Sie hat keine Nachkommen, und ihr Mann zwingt ihr den Nachkommen einer Sklavin auf. Das ist eine absolute Erniedrigung. Andererseits muß man jedoch sehen, daß, wenn wir am Tiefpunkt der Leiden angelangt sind, wir gleichfalls am Tiefpunkt aller Trugbilder und Lügen stehen, die sich um Kreusa verdichtet haben und schließlich zu ihrer wahren Rede führen werden. Die wahre Rede wird gegenüber dem Hintergrund dieser Trugbilder und gewissermaßen in der Unrast dieser Trugbilder erstrahlen. Weshalb Trugbilder? Nun, 15 6
ws einer ganzen Reihe von Gründen. Zuerst hatte der Chor Xuthos versprochen, Kreusa zu belügen und die scheinbare 'aterschaft zu verschweigen, an die Xuthos glaubte, da der Gott, wie er meinte, sie ihm offenbart hatte. Der Chor bricht sein Versprechen, indem er preisgibt, was Xuthos gesagt hat, indem er offenbart, was der Gott gesagt hat, als er anscheinend "ine Vaterschaft offenbart, die der Chor im besten Glauben für ,,"ahr hält. Es gibt nur eine Unannehmlichkeit, nur ein ProSlem, nämlich daß das, was der Chor, indem er sein Verspre:hen bricht, Kreusa als Wahrheit präsentiert, in Wirklichkeit eine Lüge ist. Aber der Chor weiß das nicht. Zweitens erfährt Kreusa die Neuigkeit, daß Xuthos' Sohn ihrem Haus aufgez\\'Ungen werden soll. Sie glaubt, daß dieser Sohn der ihres :,fannes und nicht ihr eigener ist. Als sie sich entschließt, diesen a"ufgezwungenen Sohn abzulehnen, ist sie sich nicht darüber :rn klaren, daß sie, als wäre es für sie eine Demütigung und die l;nterwerfung unter den Zugewanderten, den Sohn ablehnt, ier doch die Freude und der Stolz der Mutter sein sollte, weil er der Sohn eines Gottes ist. Sie täuscht sich also völlig über ias, was sich gerade ereignet. Ihr Zorn ist anscheinend begrüniet, und sie muß sich tatsächlich gedemütigt fühlen. Aber alle iiese Gefühle und Leidenschaften beruhen auf dem Irrtum, in itm sie gefangen ist. Was den Pädagogen betrifft - der seine Geschichte erzählt, als er sagt: Weißt du, Xuthos hat einer Skla'o"in ein Kind gemacht usw. -, so glaubt er, daß er die Wahrheit sagt, zumindest eine Art von wahrscheinlicher Wahrheit, die "\\"ahrheit des Skeptikers, die man allen denjenigen entgegen::alten kann, die naiverweise an Orakel glauben. Sehr oft, sagt 'er - jedenfalls liegt das seiner Erklärung zugrunde -, ist das, -;;"2S man das Orakel nennt, nichts anderes als ein kleines, billi;es Mittel der Menschen, die, da sie an diese oder jene Wahrheit g:lauben machen wollen, sich von den Göttern sagen lassen, 7,"aS sie die anderen glauben machen wollen. Sie sehen, daß der ?ädagoge, indem er dies sagt und dieses skeptische Argument its gesunden Menschenverstandes dem sogenannten Orakel ::es Gottes, dem Xuthos geglaubt hat, gegenüberstellt, sich ei157
nerseits völlig irrt, da das überhaupt nicht die Wahrheit der Geschichte ist, andererseits aber der Wahrheit der Geschichte ganz nahekommt, weil es ja tatsächlich jemanden gibt, der die anderen täuschen und eine so und so beschaffene Geschichte arrangieren wollte, während sie in Wirklichkeit genau umgekehrt ist. Der, der das getan hat, ist der Gott selbst. Und die schäbige, kleine, schamhafte Lüge, die der Pädagoge Xuthos zuweist, wer ist denn für diese schäbige, kleine, schamhafte Lüge verantwortlich? Natürlich Apollon! Apollon hat sich, aus Scham und weil er das Kind, das er Kreusa gemacht hat, nicht offenbaren wollte, einfallen lassen, es einem anderen unterzuschieben. Sie sehen also, daß sich der Pädagoge in einem bestimmten Sinne völlig täuscht und daß er, indem er sich täuscht, der Wahrheit ganz nahe kommt. Wir befinden uns jedenfalls sowohl seitens des Chores als auch seitens Kreusas und des Pädagogen in einer Welt von Halbwahrheiten und Trugbildern. In diesem Augenblick, auf dem Höhepunkt der Täuschung und der Demütigung, wird nun Kreusa die Wahrheit erstrahlen lassen. Man muß jedoch sehen, daß sie die Wahrheit nicht deshalb erstrahlen läßt, um ihrem eigenen Recht zum Sieg zu verhelfen, um die Geburt eines glorreichen Sohnes zu enthüllen. Sie tut es nur aus Scham, Demütigung und Zorn. Kreusa wird die Wahrheit keineswegs zu dem Zwecke sagen, die Situation zu ihren Gunsten zu wenden, denn in dem Zustand, in dem sie sich befindet, und an dem Punkt, den die Handlung mittlerweile erreicht hat, kann sie nicht wissen, daß sich ihre Lage zu ihren Gunsten wenden wird. Da sie aber durch alles, was bisher geschah, schon völlig gedemütigt ist, wird Kreusa ihrer Demütigung noch eine weitere hinzufügen. Ich bin nicht nur unfruchtbar, sagt sie, habe nicht nur keinen Sohn von Xuthos bekommen und Xuthos zwingt mir nicht nur einen Sohn auf, der nicht meiner ist, sondern darüber hinaus habe ich mich vor der Hochzeit mit Xuthos eines Vergehens schuldig gemacht, und dieses Vergehen werde ich nun aussprechen. Dieses Eingeständnis Kreusas, jedenfalls der erste Teil von Kreusas Einge-
;:indnis - denn wie Sie sehen werden, gibt es zwei Teile -, diese :":-5te Form des Eingeständnisses wird durch folgende Zeilen z.::gekündigt: »Entschwand nicht die Hoffnung, die lang' ich ~tn.egt, es erblühe mir doch vielleicht noch ein Glück, wenn ,,:tiner erführe von meinem Fehl und von der Geburt des Kin':'es ? Nein. Nein! Dem Sternenpalaste des Zeus, der Göttin, die ?,"ohnt auf der Burg von Athen, und dem heil' gen Gestade, von ?:uten bespült des tritonischen Sees, nicht länger verhehl' ich's, i3.mit mein Herz von der Bürde befreit und erleichtert sich - Die Träne rinnt mir die Wange hinab und es krampft s:::h schmerzend im Busen das Herz, das sie beide betrogen, :cer 2vlensch und der Gott. Ich kann es beweisen: sie handeln an ~ir als undankbare Verräter!«3 Es ist also eine Rede über die :0emütigung, die Tränen, eine Rede in Tränen, eine Rede über ':'.:;.5 Vergehen, in der gerade die Ungerechtigkeit der anderen zur Sprache kommen muß (wir werden gleich darauf zurück"::'Immen). Aber, wie gesagt, wenn man die Ungerechtigkeit der 3.2deren zur Sprache bringt, dann keineswegs zu dem Zweck, ':'ie Situation zu seinen Gunsten zu wenden, sondern um in gec.-issem Sinne alle Übel und alle Ungerechtigkeiten, deren Op:er man war, auf sich zu ziehen und die Umstehenden daran zu :"mnern. _":.n dieser Stelle beginnt nun das erste Eingeständnis Kreusas. :. _.':-J Sie spricht zu Apollon und sagt ihm folgendes: »Dich Gott, der das siebenfach tönende Spiel der Leier beherrscht, ':'ie gebildet aus Horn, dem seelenlosen, ertönen läßt der Musen melodische Lieder, dich, Sohn der Leto, klag ich an. Die Sonne soll es hören. Du kamst im Strahlenschimmer der Lok~sen, als ich in des Kleides Bausch die Blätter des Safrans ?tJückte, goldhelle Gewänder zu färben. An den zarten Gelen-
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:\LF.: Diese Stelle habe ich für Sie kopieren und austeilen lassen, wenn Sie also die Blätter nicht allzusehr für sich selbst in Anspruch nehmen \\-ürden ... Damit es nicht wie in der Grundschule zugeht, wo bloß die guten Schüler der ersten Reihe ein Recht auf die Wahrheit haben. Lassen Sie also die Blätter herumgehen, das wäre nett. Wenn Sie wollen, werden ",-ir nun den Text, wo Kreusa spricht, gemeinsam lesen.
ken der Hände mich fassend, zum Bett in der Höhle fortschlepptest du mich, die >Mutter, hilf! Hilf, Mutter!< schrie und weinte. Ein Gott liebesstark, von Scham nicht berührt, willfahrtest du der K ypris. Und ich gebar ein Knäblein, das ich, bang vor dem Zorne der Mutter, hintrug zu deinem Bette, wo du mich armes Mädchen verführt, der Tor die Törin. Weh mir! Nun ist er verschollen, von gierigen Vögeln zerrissen, mein Sohn und auch der deine, indessen du zur Zither die frommen Lieder singest. Erscheine, Sohn der Leto, der Losorakel spendet von gold'nem Seherthrone am Erdmittelpunkt, daß ich ins Ohr dir schreie: Hei, ungetreuer Buhle! Was sol1's, daß meinem Gatten, der nichts dir, nichts zu Gefallen getan, den Sohn du, den Erben bescherest, dieweil auf Nimmerwiedersehen mein Sohn und der deine, von Vögeln geraubt, aus den Wickeln und Windeln der Mutter verschwand. Nun haßt dich der delische Lorbeerhain und die grünende Palme, die Zeugin war, als dem herrlichen Sohn, Zeus' Liebesfrucht, das Leben Leto schenkte.«4 Ich möchte nun diesen Text ein wenig erläutern. Ich möchte zunächst auf die Art und Weise eingehen, in der sich Kreusa an Apollon wendet, da Kreusas Eingeständnis sich an denjenigen richtet, der weiß, der besser als irgendein anderer weiß, da ja Apollon selbst sie verführt hat und der Vater des Kindes ist. Sie richtet also eine Wahrheit an Apollon, die dieser genau kennt. Wie und warum wendet sie sich mit dieser Wahrheit an ihn? Oder vielmehr, wenn man wissen will, warum sie sich mit ihr an ihn wendet, muß man wissen, wie sie sich mit ihr an ihn wendet - wie sie sich an ihn wendet, wie sie ihn anspricht, anruft und nennt. Es gibt zwei Passagen in dem Text, die Anrufungen Apollons selbst sind. Ganz zu Beginn: »Dich, Gott, der das siebenfach tönende Spiel der Leier beherrscht, die gebildet aus Horn, dem seelenlosen, ertönen läßt, der Musen melodische Lieder, Dich, Sohn der Leto, klag ich an. Die Sonne soll es hören. Du kamst im Strahlenschimmer der Lokken.« Und im Vers 906, zu Beginn des letzten Drittels dieser Anrufung, sagt sie zu ihm: »[I]ndessen du zur Zither die frommen Lieder singest. Erscheine, Sohn der Leto, der Losorakel
5?endet von gold'nem Seherthrone am Erdmittelpunkt.« Sie ;::Den, daß Apollon in diesen beiden Passagen auf dieselbe Wei3:: angerufen wird: Er ist einerseits der singende Gott, der Gott :::r Leier; zweitens ist er der goldene Gott, der gleißende Gott, 2::r Gott mit den goldenen Haaren; und schließlich ist er - das ==-scheint erst bei der zweiten Anrufung - derjenige, der im :\Iinelpunkt der Erde den Menschen die Orakel spendet und ~;e Wahrheit sagen muß. Der Gott als Sänger, der goldene Gott, der Gott der Wahrheit. _lw dieser Stelle möchte ich mich auf die Studien beziehen, die Georges Dumezil zu Apo11on durchgeführt hat, und zwar ins:cesondere auf jene in dem Buch mit dem Titel Apollon sonore. 5 =:, der zweiten dieser Studien untersucht Dumezil einen Hymnus auf Apollon, einen alten Hymnus, viel älter als Euripides, t~!.en homerischen Hymnus auf Apollon, dessen erster Teil dem Apollon von Delphi, sondern dem Apollon von De.Ces gewidmet ist. In diesem Hymnus auf den Apollon von De.es wird der Gott zum Zeitpunkt seiner Geburt folgenderma:'::=n dargestellt. Als er gerade erst geboren wurde und noch ein ;l,."lZ kleines Baby ist, spricht er schon und sagt: »>Man gebe "ir meine Leier und meinen gewundenen Bogen. Ich werde in :::einen Orakeln auch die unfehlbaren Absichten des Zeus of:;;nbaren.< Bei diesen Worten setzte er sich auf den breiten Stra::.:::n der Erde in Bewegung, der Bogenschütze Phoibos mit den engfräulichen Haaren. Alle Unsterblichen bewunderten ihn end ganz Delos [Delos: die Insel, auf der er geboren wurde, die :::,de seiner Geburt; M. E] bedeckte sich mit Gold, als sie den 5::;roß des Zeus und der Leto betrachtete, [... ] sie blühte wie ::ie Baumkrone eines Berges, wenn sein Wald in Blüte steht.«6 =:, seinem Kommentar zu diesem apollinischen Hymnus be::'erkt Dumezil, daß der Gott und sein Status sich durch drei :Jinge auszeichnen. Erstens verlangt der Gott nach seiner Leier seinem Bogen. Zweitens zeichnet er sich als derjenige aus, :::r den Willen Zeus' durch das Orakel offenbart: Er sagt das l,.hre. Und drittens, kaum beginnt er auf der Erde von Delos :ce gehen, als diese Erde sich mit einem goldenen Mantel be-
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deckt und der Wald erblüht. Diese drei Merkmale des Gottes beziehen sich, Dumezil zufolge, auf die drei indo-europäischen Funktionen der Mythologie, die er untersucht. Erstens, das Gold muß auf die Funktion der Befruchtung, auf den Reichtum bezogen werden. Der Bogen des Gottes stellt die Funktion des Kriegers dar. Was die anderen beiden Elemente (die Leier und das Orakel) betrifft, so stellen sie gemeinsam die magisch-politische Funktion dar oder, wie Dumezil sagt, die Verwaltung des Heiligen. Reichtum und Fruchtbarkeit, das ist das Gold; die Funktion des Kriegers, das ist der Bogen; die Verwaltung des Heiligen, das sind die Leier und das Orakel. An dieser Stelle erklärt Dumezil, daß das Sagen der Wahrheit und das Singen (die Kopplung von Orakel und Leier) zwei komplementäre Funktionen sind, und zwar in dem Sinne, daß das Orakel die Form der Stimme ist, die Wahres sagt und durch die sich der Gott an die Menschen wendet, während der Gesang dagegen dasjenige ist, wodurch sich die Menschen an die Götter wenden, um das Lob der Götter zu singen. Das Orakel und der Gesang verhalten sich also komplementär wie zwei Richtungen im Austausch zwischen Menschen und Göttern. In dieser Verwaltung des Heiligen, in diesem Spiel des Heiligen, das sich zwischen den Menschen und Göttern vollzieht, sagt der Gott durch das Orakel Wahres, und der Mensch dankt den Göttern durch den Gesang. Daher rührt die Kopplung von Gesang und Orakel. Das ist das erste Element, das man in Dumezils Analyse findet. Zweitens führt Dumezil diese Genealogie Apollons oder zumindest der Funktionen Apollons in der Studie, die der gerade genannten vorangeht - in der ersten Studie der Sammlung7 auf ein Thema zurück, das man in der vedischen Literatur findet, und zwar insbesondere auf einen bestimmten Hymnus des zehnten Buches des Veda - ich habe diesen Text selbst nicht gelesen -, in dem die Fähigkeiten der Stimme besungen werden. Dumezil will nun zeigen, daß Apollon gewissermaßen die mit den Normen und Regeln der griechischen Mythologie übereinstimmende Version einer alten, zugleich göttlich und ab-
strakten Entität ist, die man im Veda findet und die die Stimme seibst ist. Apollon ist der Gott der Stimme, und in diesem vedischen Hymnus sieht man oder hört man vielmehr die Stimme, die sich selbst in ihren drei Funktionen erklärt: Durch mich, sagt die Stimme im vedischen Hymnus, ernährt sich der Mensch; zweitens, wen ich liebe, sagt sie, wer es auch sei, den mache ich stark (die magisch-politische Funktion); drittens, ich spanne Bogen, damit der Pfeil den Feind des Brahmanen tötet, ich i;.ämpfe den Kampf für die Menschen (die Funktion des Kriegers).8 Das dritte Element, das ich den Analysen Dumezils entnehme, ist schließlich folgendes: Von diesen drei Funktionen, die die alte indo-europäische Struktur aufwies und die in der apollinischen Mythologie, in der Mythologie des Phoibos, gewissermaßen moduliert wird, ist die dritte Funktion, nämlich die der Fruchtbarkeit, am brüchigsten, und zwar aus einer Reihe von Gründen, die Dumezil erklärt (vielleicht ist es im Augenblick nicht nötig, darauf einzugehen). Dumezil zeigt nun, daß diese dritte Funktion des Gottes, der die Erde gedeihen läßt und den Wald zum Blühen bringt, sehr bald verschwindet. Die Seite, :ler Aspekt oder die Funktion der Fruchtbarkeit wird bei ApolIon und in dessen Umgebung nur noch in den Riten des Ge-· schenks, des Naturaliengeschenks oder des Metallgeschenks, des Goldgeschenks erscheinen, das dem Gott von Delos oder dem Gott von Delphi dargebracht wird. Diese apollinische Funktion wird sich eher im Austausch von Gold oder im Geschenk von Gold als in einer natürlichen Befruchtung der Erde ;nanifestieren. Dumezil bemerkt, daß Apollon für die natürliche Befruchtung nicht der richtige Gewährsmann ist, denn tatsächlich ist er - das ist eine Konstante in allen apollinischen :\Iythen - eher der Gott der Liebe zwischen Männern als der Liebe zwischen Männern und Frauen. Es ist eine Tatsache, daß er sehr wenige Kinder hat, zumindest was die mythologischen _'\kten Apollons angeht. Ion ist eine seltene Ausnahme, was bis zu einem gewissen Grad die Vorsicht oder vielmehr das Schweigen erklären mag, das er an den Tag legt, wenn es darum
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geht, sich als Vater Ions zu bekennen. Übrigens sagt Ion, als Kreusa ganz zu Beginn des Stückes das Kind erwähnt, das ihre Schwester von Apollon gehabt haben soll: Von einer Frau? Das würde mich wundern!9 Apollon ist also nicht der Gott der Befruchtung, der Fruchtbarkeit, aber gerade um dieses Problem der Geburt und der Fruchtbarkeit wird sich die Gesamtstruktur drehen. Es ist klar, daß die apollinische Struktur, von der Dumezil in Apollon sonore spricht, gegenwärtig ist. Sie ist zunächst in Form der ersten Funktion, der magisch-politischen, der Funktion der Verwaltung des Heiligen gegenwärtig, denn Kreusa und Xuthos wenden sich in der Tat an den Gott des Orakels, an den Gott, der die Wahrheit sagt. Zweitens finden wir auch die dritte Funktion wieder, weil es die Sache der Fruchtbarkeit und der Geburt ist, die die beiden Ratsuchenden vor das Orakel führt. Es ist, wenn Sie so wollen, die Konfrontation der orakelhaften Funktion des Wahrsprechens mit der Funktion der Befruchtung, die das Zentrum des Stückes bildet. Die zweite Funktion, die Funktion des Kriegers, erscheint in dem Stück aus einer Reihe von Gründen nur sehr spärlich und sehr diskret. Aus zeitgeschichtlichen politischen Gründen, da Delphi in dieser Friedensperiode, dieser Zeit des Waffenstillstands im Peloponnesischen Krieg, die Rolle des Friedensstifters spielt, und andererseits, weil in der Handlung selbst die beiden Funktionen I und 3 (Wahrsprechen und Befruchtung) die wichtigsten sind. Die kriegerische Funktion erscheint in einigen Begriffen, einigen Wörtern und einigen Situationen (am Anfang des Stückes erscheint Ion als Bogenträger, als Träger jenes Bogens, der eben ein Zeichen der kriegerischen Funktion ApolIons ist; und dann gibt es die Episoden, von denen ich gleich sprechen werde, in denen Ion die Frau verfolgt, von der er nicht weiß, daß sie seine Mutter ist, und die er töten will). Was das Stück jedoch ausmacht, was ihm Biß verleiht, sind im wesentlichen die Funktionen I und 3: das Wahrsprechen und die Befruchtung. Zweitens und immer noch auf der Linie dessen, was Dumezil gesagt hat, ist die dritte Funktion, die Funktion
der Befruchtung, am problematischsten. Im Grunde ist sie es, die das Problem aufwirft. In gewisser Weise bildet das Unbehagen Apollons über seine eigene Fruchtbarkeit und seine eigene Vaterschaft die Triebfeder des Stückes. Drittens schließlich ist es klar, daß man das ganze Stück hindurch auf das Problem der Stimme stößt. Dieses Thema der Stimme, das Dumezil zufolge den Hintergrund der apollinischen Mythologie ausmacht, ist das gaIlze Stück hindurch absolut grundlegend. Im Hinblick auf diese Stimme, von der der vedische Hymnus sagte, daß man ihr vertrauen kann, und die die Stimme des Gottes ist, fragt Euripides, ob man ihr vertrauen kann oder ob mcht die Menschen, die Sterblichen - im vorliegenden Fall die Frau gegen die schweigende Stimme des Gottes, der seine eige:1e Vaterschaft nicht anerkennt -, ihre eigene Stimme erheben soll. Gewiß moduliert die Tragödie dieses Thema, diese Struk::ur, die leicht zu erkennen ist und sich vollkommen in die apol:inische Mythologie eingliedern läßt. Alles, was ich Ihnen hier gesagt habe, ist gewissermaßen das Gerüst des Mythos. Nun geht es darum zu sehen, worin die Ökonomie des tragischen Prozesses besteht, die Ökonomie der tragischen Entwicklung. I"1ier kann man erkennen, daß diese verschiedenen Themen, die ich gerade anhand des von Dumezil vorgeschlagenen Rasters ::rwähnt habe, moduliert werden: eine tragische Modulation :rrnhischer Themen. Erstens, die tragische Modulation des Themas des Gesangs ::nd des Orakels. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß in den von Dumezil erwähnten alten Strukturen das Orakel dasjenige ist, was die Götter zu den Menschen sagen. Es ist der wahre Dis.<:Urs, den die Götter an die Menschen durch die Vermittlung Apollons richten. Was den Gesang betrifft, die Leier, so ist das iie Art und Weise, wie sich die Menschen ihrerseits an die Göt:er wenden, da Apollon der Gott der Leier und des Gesangs ist, :risofern er die Menschen den Gesang gelehrt und ihnen den Gebrauch der Leier beigebracht hat. Hier verhalten sich, wie 5:e sehen, die Dinge jedoch nicht ganz so, und diese Aufteilung Lv.·ischen dem Wahrsprechen des Gottes und dem Gesang der
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Dankbarkeit der Menschen findet nicht statt. Im Gegenteil, es ist offensichtlich, daß der Gesang und das Orakel in dem gesamten Stück auf derselben Seite stehen. Der Gott ist zwar der Gott des Orakels, aber eines reichlich schweigsamen Orakels. Er ist auch der Gott des Gesangs, und dieser Gesang ist ebenfalls auf gewisse Weise abgewandelt. Sein Stellenwert und seine Bedeutung sind verändert: Es ist nicht der Gesang der Dankbarkeit der Menschen gegenüber den Göttern. In diesem Gesang besingen nicht die Menschen den Gott, sondern es ist der Gott, der für sich selbst singt, gleichgültig gegenüber den Menschen, gleichgültig gegenüber dem Unglück der Menschen, das er selbst hervorgerufen hat. Es ist viel eher der Gesang der U ngebundenheit des Gottes als der Gesang der Dankbarkeit der Menschen. Gesang und Orakel gehen also zusammen, und ihre Verbindung ist auch verständlich, da das Orakel, das sich seiner eigenen Ungerechtigkeit bewußt ist, nicht wagt, die Dinge ganz auszusprechen. Es bedeckt sich, es bekleidet sich gewissermaßen mit diesem Gesang der Gleichgültigkeit gegenüber der Sorge der Menschen. In dem Text, den ich Ihnen vorhin vorlas, wird von den Menschen angesichts des singenden Orakels, angesichts dieses gleichgültigen Gesangs und dieses schweigsamen Orakels, kein Gesang mehr ausgehen; der ist auf die Seite der Götter und in die Gleichgültigkeit umgeschwenkt. Was wird sich nun seitens der Menschen erheben? Nicht der Gesang, sondern der Aufschrei: der Aufschrei gegen das Orakel, das sich weigert, die Wahrheit zu sagen, gegen den Gesang des Gottes, der Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit zum Ausdruck bringt, erhebt sich eine Stimme. Noch eine Stimme. Sie sehen, es handelt sich immer um die Stimme, aber um die Stimme der Frau, die gegen den fröhlichen Gesang den Aufschrei des Schmerzes und der Anklage erheben wird und die gegen das Schweigen des Orakels dazu übergehen wird, die Wahrheit auf brutale und öffentliche Weise auszusprechen. Gegen den Gesang stehen nun Tränen; gegen das schweigsame Orakel das Aussprechen der Wahrheit selbst, der schonungslosen Wahrheit. Diese Konfrontation, diese Verschiebung, die r66
den Effekt hat, daß der Gesang nicht mehr zum Bereich des ?-"lenschlichen, sondern zu dem des Göttlichen gehört und daß sich seitens der Menschen ein Aufschrei erhebt, und zwar gegen den Gesang und das Orakel des Gottes, erscheint nun ganz ahne weiteres im Text selbst. Leider erscheint das deutlicher im griechischen als im französischen Text. Aber lesen wir den französischen Text noch einmal, und Sie werden sehen, was geschieht: »Dich, Gott, der das siebenfach tönende Spiel der Leier beherrscht, die gebildet aus Horn, dem seelenlosen, ertönen läßt der Musen melodische Lieder.« Der Gott ist der Gott des Gesangs. »Dich, Sohn der Leto, klag' ich an.« Hier müssen wir uns an den griechischen Text wenden. Wir haben also den Gott des Gesangs, der angerufen wird, und zwar von der anklagenden Frau. Es geht nicht um den Gott des Orakels. Anscheinend geht es nicht um ihn. Denn, wenn sie den griechischen Text anschauen, so lautet dieser: »Soi momphan, 0 Lathous pai, pros rad'augan audaso«.!O Audaso: ich werde hinausschreien. Pros :ad'augan: gegen dieses Licht, dieses Strahlen. Es ist das Strahlen des Gottes, der der Gott der Sonne, des Tages usw. ist. Gegen und im Angesicht von: tad'augan, diesem Strahlen, das deines ist und das hier ist, das das Licht des Tages ist, aber auch das Licht des Gottes, der dort im Tempel gegenwärtig ist. Audaso: ich werde hinausschreien. Was werde ich hinausschreien ? Die Ergänzung steht im vorangehenden Vers, nämlich mom;;han: den Vorwurf. Das Wort momphan ist bis auf einen Buchstaben mit omphan identisch, was »Orakel« bedeutet. »Soi momphan, 0 Lathous pai« zu dir, oh Sohn der Leto, momphan der Vorwurf, was man aber beinahe als Orakel verstehen kann -, das werde ich dir entgegenhalten und im Angesicht deines Lichtes hinausschreien. Es gibt hier eine Art von Alliteratiansspiel zwischen Vorwurf und Orakel, welches darauf hindeutet, daß gerade an der Stelle, an der das Orakel nichts sagt, wo es schweigt und sich zurückzieht, die Frau ihren Vorwurf dem Gott des Gesangs und dem Orakel, das sich entzieht und nicht sprechen mag, entgegenschleudert. Da, wo es keine omphe gibt, schreit die Frau ihre momphe heraus.!! Das wird, r67
denke ich, durch den Text und diese Passage recht deutlich nahegelegt. Und diese Konfrontation/Ersetzung des Aufschreis der Frau mit dem schweigenden Orakel findet man in der zweiten Anrufung wieder, von der ich vorhin gesprochen habe, in der dritten Strophe, im dritten Teil, als sie sagt: »Und du, du spielst die Leier und singst bloß deine Lobgesänge! Dich rufe ich an, Sohn der Leto, der du auf deinem Thron aus Gold im Mittelpunkt der Erde sitzest und Orakel spendest: Der Schrei, den ich ausstoße, möge dein Ohr erreichen!« Hier gibt es nun etwas, das ich Ihnen nicht erklären kann, denn ich habe niemanden finden können, der hinreichend kompetent ist, um mir einen Hinweis zu geben. Es handelt sich um das griechische Verb, das im Französischen übersetzt wird durch: »Orakel spendest.«12 Beachten Sie, daß wir hier »omphan« (das Wort »Orakel«) haben, das in der ersten Anrufung nicht ausgesprochen wurde und das wie eine Art von Echo gegenüber momphan wirkt, was weiter oben verwendet wurde. Das Orakel wird nun »gespendet«. Das griechische Verb, das hier verwendet wird, ist jedoch »kleroo«, was »auslosen« bedeutet. Nun weiß ich nicht, ob dieses Verb hier im strengen und nachdrücklichen Sinn aufgefaßt werden soll, mit einer starken Bedeutung von: In Wirklichkeit spendest du deine Orakel auf völlig beliebige Weise. Als ob man sie als Lose zöge, sagen sie nicht die Wahrheit. Sie sind, wie wir sagen würden, zufalls bedingt; oder ob es sich um einen technischen Begriff handelt, der bedeutet: Die Orakel gehen aus dem Mund des Gottes hervor, ohne daß wir Menschen genau wissen, woher sie kommen, was sie jedoch nicht daran hindert, die Wahrheit zu sagen. Ich werde mich weiterhin bei sachverständigen Leuten erkundigen, und wenn ich eine Antwort habe, werde ich sie Ihnen sagen. Ich hätte natürlich gern, daß die erste Möglichkeit zutrifft, d. h. daß das Orakel durch den zufalls bedingten Charakter seiner Verkündung in gewisser Weise disqualifiziert und annulliert wird: Es sagt nicht das Wahre, sondern wird wie ein Los zufällig gezogen. Selbst wenn man dem Wort klerois den Sinn zu-
\\,-eist: Du spendest Orakel, bleibt doch die Frage, was die Frau iiesem Orakel entgegensetzen wird. Ihren eigenen Schrei. Diese Umkehrung, die darin besteht, daß, anstelle des Gottes, der zu den Menschen sprechen sollte, die Menschen sich statt dessen an die Gottheit, an den Gott wenden, zeichnet sich im Vers SEC ab. »Eis hous audan karyxo«: ich werde schreien, ich werde 2usrufen, ich werde mich an dich wenden und deinen Ohren :::leine Klage verkünden. Hier wird der Gott, der der sprechende Gott sein sollte, der Gott, der der Gott des Mundes sein sollte, zum Gott des Ohres, dem man sich zuwendet. Das Verb ist ,>keryxo«; »keryx« ist der Herold, die feierliche und rituelle -erkündigung, durch die man jemanden juristisch zu einer Erklärung auffordert. Der Gott des Orakels wird also durch den Aufschrei der Frau juristisch zu einer Erklärung aufgefordert. Zuvor hatte man das Orakel und die Gesänge, das Orakel, iurch das der Gott zu den Menschen spricht, den Gesang, durch den die Menschen zu den Göttern sprechen. Nun ist al:eS umgekehrt. Jedenfalls wechselt der Gesang auf die Seite des Gottes und wird zum Gesang der Gleichgültigkeit; und seitens der Menschen entwickelt sich die Rede zu etwas, das die Ober:-:'and über das Orakel gewinnt. In dem Augenblick, wo er schweigt, wo er nicht spricht, richtet man einen Aufschrei an einen wohl berechneten, rituellen Schrei: den Schrei der Beschwerde, den Schrei der Anschuldigung. Auf diese Weise \\.-ird das erste allgemeine Thema der Stimme in diesem Text :::loduliert. Die zweite Modulation ist die Modulation des Themas des Goldes. Apollon ist doch der Gott des Goldes, und die Gegenwart des Goldes drängt sich im Text auf. Sie kehrt jedenfalls :mmer wieder: »Du kamst zu mir im Strahlenschimmer dei"er goldenen Locken«; und etwas weiter, am Ende des Textes: »dich rufe ich, Sohn der Leto, der du auf deinem goldenen Thron sitzest im Mittelpunkt der Erde und Orakel spendest.« In der ersten Anrufung finden wir also das Thema des Goldes ;anz deutlich ausgedrückt, aber, wie Sie sehen, auch hier durch eine Modulation. Der Gott erscheint als der goldene Gott: der
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funkelnde Gott, der Gott mit goldenem Haar, der die Welt erhellt und der in diesem Licht und in diesem Strahlen das junge Mädchen verführen wird. Betrachten und lesen wir nun, was über dieses junge Mädchen gesagt wird und wie Kreusa sich selbst in dem Augenblick beschreibt, als sie verführt wird. »Du kamst zu mir [sagt sie zu dem Gott; M. E] im Strahlenschimmer deiner goldenen Locken, während ich in die Falten meines Kleides Safranblüten pflückte, Blüten, die wie Gold schimmern, um damit Girlanden zu flechten.«!3 Das junge Mädchen steht gleichfalls im Zeichen des Goldes. Ihre Position ist zu der des Gottes symmetrisch, oder vielmehr steht sie in kontinuierlichem Austausch mit dem Gott. Der Gott verklärt sie, aber sie trägt ebenfalls das Zeichen des Goldes. Sie hält goldene Blüten in ihren Händen, die sie dem Gott darbringen soll und will. Das Gold ist hier in der Tat jenes Vehikel der Opfergabe, von dem ich sprach und das Dumezil analysiert hatte. Man sieht jedoch, daß sich diesem Thema der Opfergabe des Goldes - dem Thema der Kommunikation zwischen Menschen und Göttern, das zugleich in der Großzügigkeit des Gottes, der die Welt erhellt, aber auch in der Opfergabe der Menschen in Form der Blüte besteht - ein anderer Sinn der Opfergabe und des Austauschs überlagert: der Austausch zwischen dem Gott, der das junge Mädchen verführt, und diesem Mädchen, das bereit ist, seinen Körper darzubringen, und das, wie sie sagt, ihre »weißen Handgelenke« 14 dem Gott darbietet, der sie ruft. In diesem Licht, diesem Strahlen, dieser Weiße, diesem Gold des Gottes der Blüten und in der Weiße des Körpers der Frauen vollzieht sich ein anderer Austausch als der, der bloß durch das Thema des Goldes angedeutet wurde. Dieser Austausch der Liebe und der sexuellen Vereinigung wird - das erhellt aus der nächsten Strophe - sich nicht im Licht des Tages und im Schimmern des Sonnenlichts ereignen, sondern in der Finsternis der Höhle. Sie gehen in eine Höhle, sagt sie: »Mich fassend, zum Bett in der Höhle fortschlepptest du mich.« Die Finsternis bedeckt die Schamlosigkeit des Aktes: >>Von Scham nicht berührt, willfahrtest du der K ypris, und ich gebar ein Knäblein, das ich, bang 17°
,"or dem Zorne der Mutter, hintrug zu deinem Bette, wo du mich armes Mädchen verführt, der Tor die Törin. Weh mir !«!5 Es wird also genau angegeben - offenbar sind weder Chronologie noch Schicksalswendungen von Bedeutung -, daß die Verführung in einer Höhle stattfindet und daß in genau derselben Höhle so und soviel Zeit später Ion geboren wird. In jener Höhle, jener Nacht und Finsternis wird auch das Kind ausgesetzt, wird es entführt und verschwinden und, wie Kreusa glaubt, als Folge davon sterben. Es wird also nicht in den Genuß jenes Tageslichts kommen, jenes Schimmerns der Sonne, das sie selbst genossen hat oder wodurch sie zumindest verführt wurde. Auf diesem Weg durch die Nacht, durch die ungerechte Vereinigung und durch die Geburt, auf die das Verschwinden und der Tod folgen, wird nun das Thema des Goldes gewissermaßen gebrochen werden. Tatsächlich ist in der dritten Strophe, als das Thema des Goldes wieder auftaucht »Erscheine, Sohn der Leto, der Losorakel spendet von gold':::lern Seherthrone am Erdmittelpunkt«), das Gold nicht mehr ~enes Element der Kommunikation, das vom Göttlichen zum :\lenschlichen übergeht, vom Gott mit dem schimmernden Haar zum jungen Mädchen, das ihm goldene Blüten darbietet. Das Gold ist nur noch der Verweis auf den Gott. Es ist der Thron, auf dem er sitzt und von dem aus er in seiner Allmacht :,errscht, während ihm gegenüber - ihm, dem Gott der Sonne, dem Gott, der über der Erde, der in Delphi thront und der im:ner und überall auf dem goldenen Thron sitzt - eine Frau seeht, eine unheilvolle, verfluchte, unfruchtbare Frau, die ihr ~ind verloren hat und die gegen ihn aufschreit. Dieses Mal ist das Gold jenes des Gottes, und gegenüber gibt es nur diese ;';'leine schwarze Silhouette. Auf diese Weise wird das Gold :noduliert. Das dritte Thema ist das der Fruchtbarkeit ... Wenn Sie einver)randen sind, machen wir eine kleine Pause und nehmen das 2.n5chließend wieder auf.
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Anmerkungen I "Als Fremder steh ich vor dem neuen Spruch wie vor der alten Tat, und fände nie als spät erkorner Bürger eurer Stadt ganz ohne Zeichen die verborgne Spur (ouk echon ti symbolon)« (Sophokles, König Oidipus, übers. und mit einem Nachwort versehen v. Ernst Buschor, Stuttgart 19 80, S.I2- I 3. Zwei zusammenpassende Hälften einer zerbrochenen Keramik dienten als Erkennungszeichen (symballein: zusammenfügen). Die gesamte Analyse, die Foucault in seiner Vorlesung am College de France vom 16. Januar 1980 durchführt, beruht darauf, die dramatische Struktur von Sophokles' Tragödie als eine geregelte Anpassung von Veridiktionen zu verstehen. Vgl. unten, Anm. I I. 2 Euripides, Ion, Verse 815-821, in: Tragödien, Zürich und München 1990, S. 267-268. 3 Ebd., Verse 866-880, S. 26 9. 4 Ebd., Verse 881-922., S. 26 9- 27°. 5 G. Dumezil, Apollon sonore et autres essais. Vingt-cinq esquisses de mythologie, Paris 1982. 6 Ebd., S. 26-27. 7 »Vac«, ebd., S.I3- 24· 8 Ebd., S. I5-16. 9 Euripides, Ion, Verse 339 und 34 1, a.a.O., S.253· 10 Ebd., Verse 885-886, S. 26 9. 11 Ompha und mompha sind die dorischen Formen von omphe und momphe. 12 »Omphan klerois« (Euripides, Ion, Vers 9°8, a.a.O., S.270). 13 Ebd., Verse 887-890, S. 26 9. 14 Ebd., Vers 89I. 15 Ebd., Verse 895-900 .
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Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 198}, zweite Stunde)
Tragische Modulation des Themas der Fruchtbarkeit. - Die parrhesia als Verwünschung: das öffentliche Anprangern der Ungerechtigkeit des Mäch:igen durch den Schwachen. - Kreusas zweites Eingeständnis: die Stimme des Bekenntnisses. - Letzte Schicksalswendungen: vom Mordplan zum Ersc.heinen Athenes.
Wir werden also die Untersuchung der Umwandlung, der tragischen Modulation des Themas der Fruchtbarkeit fortsetzen. Ich glaube, daß man beachten sollte, daß während des ganzen Textes, den wir vorhin lasen, Apollon immer als Sohn der Leto angerufen wird. Daran ist überhaupt nichts Außergewähn:iches, es entspricht vollkommen dem Anrufungsritual. Diese Anrufung dient jedoch in diesem Text gewissermaßen als gestrichelte Linie für einen Leitfaden, der zu den letzten Zeilen Versen des Textes führen wird, als Kreusa, die immer noch gegen Apollon gewandt ist, zu ihm sagt: »Nun haßt dich der delische Lorbeerhain und die grünende Palme, die Zeugin war, als dem herrlichen Sohn, Zeus' Liebesfrucht, das Leben Leto schenkte.«! In dieser Geschichte der Befruchtung und in der Zurückhaltung Apollons, seinen Sohn Ion anzuerkennen, gibt eS nämlich etwas, das Kreusa nur als ungerecht empfinden kann. Sie wissen, daß in der Apollon-Legende Apollon der Sohn Letos ist. Leto ist eine Frau, die von Zeus verführt wurde und die sich auf die Insel Delos geflüchtet hat, um zu gebären, um alleine zu gebären. Auf dieser Insel Delos wurden die beiden unehelichen Kinder Apollon und Artemis geboren. Apolion ist also genau wie Ion der uneheliche Sohn der Liebschaft zwischen einer Sterblichen und einem Gott. Genau wie Ion ymrde Apollon allein und verlassen geboren. Und genau wie die Mutter Apollons, wie Leto, hat Kreusa das Kind all eine und von allen verlassen zur Welt gebracht. Dieses Thema erscheint durch die verschiedenen Anrufungen des Sohnes der Leto hindurch und bricht am Ende in jener Verwünschung I73
hervor, in der der Lorbeer von Delphi und die Palme von Delos miteinander verglichen werden und in der Kreusa die Geburt Apollons als »erhabene Niederkunft« erwähnt, die sie leicht der schändlichen Niederkunft entgegenstellen kann, die die Geburt Ions war. Diese Rede, die sie dem Ohr des Gottes, der hätte sprechen sollen, entgegenschleudert, dieser Vorwurf, den sie feierlich wie ein Herold hinausschreit und gleichsam einrammt, dieser Vorwurf (momphe), der an die Stelle des Orakels (omphe) tritt, das nicht gesprochen hat, nun diese Rede, diese kreischende Rede, die sich gegen den Gott wendet und seinem Ohr entgegengeschleudert wird, ist die feierliche Verkündigung - deshalb der Bezug auf den Herold (keryx) - einer begangenen Ungerechtigkeit, einer Ungerechtigkeit im strengen Sinn des Wortes, im juristischen und philosophischen Sinn des Begriffs »Ungerechtigkeit«, denn es handelt sich um ein Verhältnis, das nicht beibehalten wurde. Die Homologie der beiden Geburten, der Apollons und der Ions, ergibt, daß Kreusa sich im Grunde gegenüber Leto in einer symmetrischen Position befindet. Und Apollon, der Vater Ions, ist ebenfalls in einer symmetrischen Position gegenüber Ion. Apollon und Ion sind beide unehelicher Herkunft. Kreusa, die in gewissem Sinne die eingeheiratete Schwiegertochter Letos bzw. die Liebhaberin ihres Sohnes ist, befindet sich in der gleichen Lage wie Leto selbst. Sie sehen also: Es gibt eine Analogie zwischen Leto und Kreusa (Kreusa hat eine Beziehung zu Apollon, die derjenigen ähnlich ist, die Leto zu Zeus hatte; und Ion entsteht aus ihrer Vereinigung, wie Apollon selbst entstand). Diese Homologie, dieses Verhältnis, das im Text betont wird, ist genau das, was Apollon nicht respektieren wollte. Denn er, der aus der Liebe zwischen einer Sterblichen und einem Gott entstand, der aus dieser Liebe als uneheliches Kind hervorging und zum Gott des Lichts wurde, war schon immer der Nutznießer eines Strahlens, das gewissermaßen zu seinem Wesen gehört. Er steht dem Leben der Sterblichen vor, er befruchtet die Erde mit seinem Feuer und soll allen die Wahrheit sagen. Dagegen ist Ion, der genau auf dieselbe Weise geboren wurde und sich im 174
Verhältnis zu Apollon in einer absolut symmetrischen Position befindet, dem Unglück, der Finsternis, dem Tode geweiht und die Beute der Vögel (das Thema der Vögel taucht hier auf, wir begegnen ihm später wieder, die Vögel sind aber Apollons Vögel). Apollon hat ihn also verlassen. Apollon hat ihn untergehen lassen. Vielleicht hat er gar seine Vögel geschickt, um ihn sterben zu lassen. Schlimmer noch - das wird am Ende des Textes angedeutet, wenn sie sagt: »Was soll's, daß meinem Gatten, der nichts dir, nichts zu Gefallen getan, den Sohn du, den Erben bescherest«2 - darüber hinaus drängt er jetzt auch noch der unglücklichen Kreusa durch ein Orakel, das er gespendet hat, einen Sohn auf, der nicht ihr eigener ist. Die ganze Ordnung der Proportionen wird hier auf den Kopf gestellt. In dieser Ungerechtigkeit, die noch einmal vollkommen bestimmt wird und im Text im Vergleich der beiden Geburten zum Ausdruck kommt, in dieser Ungerechtigkeit, die als Nichtrespektieren der Symmetrie und als das durcheinandergebrachte und von dem Gott verkannte Verhältnis bestimmt wird, besteht das Eingeständnis Kreusas. Dieser Sprechakt nun, durch den man die Ungerechtigkeit einem Mächtigen gegenüber verkündet, der diese Ungerechtigkeit beging, während man selbst schwach, verlassen und ohnmächtig ist, diese Anschuldigung wegen einer Ungerechtigkeit, die dem Mächtigen durch den Schwachen entgegengeschleudert wird, ist ein Sprechakt, eine Art von gesprochener Inter,"ention, die in der griechischen Gesellschaft, aber auch in einer Reihe anderer Gesellschaften gängig oder zumindest vollkommen ritualisiert ist. Der Arme, der Unglückliche, der Schwache, derjenige, der nichts als seine Tränen hat - Sie erinnern sich, mit welchem Nachdruck Kreusa in dem Augenblick, als sie mit ihrem Eingeständnis beginnt, sagt, daß sie nichts anderes als ihre Tränen besitzt - nun, was kann der Arme, der Unglückliche, der Schwache tun, wenn er das Opfer der Ungerechtigkeit geworden ist? Es bleibt ihm nur eines: sich gegen den Mächtigen zu wenden. Öffentlich, vor allen, im Antlitz des Tages, im Antlitz jenes Lichts, das sie erhellt, wendet er 175
sich an den Mächtigen und sagt ihm, was dessen Ungerechtigkeit war. In diesem Diskurs über die Ungerechtigkeit, die von dem Schwachen gegenüber dem Mächtigen verkündet wird, gibt es eine gewisse Weise, sein eigenes Recht zur Geltung zu bringen, auch eine Weise, den Allmächtigen herauszufordern und ihn gewissermaßen in ein Lanzenstechen mit der Wahrheit über seine Ungerechtigkeit zu verstricken. Dieser rituelle Akt, dieser rituelle Sprechakt des Schwachen, der die Wahrheit über die Ungerechtigkeit des Starken sagt, dieser rituelle Akt des Schwachen, der eine Anschuldigung im Namen seiner eigenen Gerechtigkeit gegen den Starken erhebt, der diese Ungerechtigkeit begangen hat, ist ein Akt, der vergleichbar ist mit einer Reihe anderer ritueller Akte, die nicht notwendigerweise sprachliche Rituale sind. Sie wissen, daß es beispielsweise in Indien das Ritual des Hungerstreiks gibt. Der Hungerstreik ist der rituelle Akt, durch den derjenige, der nichts vermag, gegenüber demjenigen, der alles vermag, geltend macht, daß er, der nichts vermag, Opfer einer Ungerechtigkeit seitens des Mächtigen wurde. Bestimmte Formen des Selbstmords in Japan haben ebenfalls diesen Wert und diese Bedeutung. Es handelt sich um eine Art von agonistischem Diskurs. Das einzige Kampfmittel für den, der zugleich Opfer einer Ungerechtigkeit und völlig schwach ist, besteht in einem agonistischen Diskurs, der jedoch um diese ungleiche Struktur herum gebildet ist. Dieser Diskurs über die Ungerechtigkeit, der die Ungerechtigkeit des Starken im Munde des Schwachen geltend macht, hat nun einen Namen. Oder vielmehr wird er einen Namen erhalten, den man in etwas späteren Texten findet. In keinem der klassischen Texte, in keinem der Texte aus dieser Periode (Platon, Euripides usw.) findet man dieses Wort in dieser Bedeutung. Man findet es jedoch später in den Abhandlungen über die Rhetorik der hellenistischen und römischen Periode. Der Diskurs, durch den der Schwache trotz seiner Schwäche das Risiko auf sich nimmt, dem Starken die Ungerechtigkeit vorzuwerfen, die dieser begangen hat, wird nun gerade parrhesia genannt. In einem Text, der von Schlier zitiert wird - ich habe 17 6
natürlich nicht selbst nach ihm gesucht; ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß es in der Bibliographie, die ich Ihnen zuvor gegeben habe, einen Artikel gibt, der der parrhesia gewidmet ist, und zwar in Kittels Theologischem Wörterbuch, ein Artikel, der sich wie alle Artikel des Theologischen Wörterbuchs auf die Bibel, auf das Alte und vor allem auf das Neue Testament bezieht -, dort finden Sie einige Hinweise auf die klassischen griechischen oder die hellenistischen Verwendungen. 3 In diesem Artikel über die parrhesia zitiert Schlier einen Papyrus von Oxyrhynchus (in dem die Gesellschaft, die Praxis und das griechische Recht in Ägypten festgehalten wurden),4 worin gesagt wird, daß man im Fall der Unterdrückung durch Vorgesetzte den Präfekten aufsuchen und zu ihm meta parrhesias 5 sprechen soll. Der Schwache, Opfer der Unterdrückung durch den Starken, soll mit parrhesia sprechen. In diesem Text, der den Titel Rhetorik an Herennius trägt, wird die licentia, die lateinische Übersetzung von parrhesia, als etwas bestimmt, das darin besteht, daß sich jemand an Personen wendet, die er fürchten und 6 ehren soll. Indem er zugunsten seines eigenen Rechts spricht, wirft er den Leuten, die er fürchten und ehren sollte, ein Vergehen vor, das diese mächtigen Personen begangen haben. Die parrhesia besteht also in folgendem: Es gibt einen Mächtigen, der sich eines Vergehens schuldig gemacht hat; dieses Vergehen stellt eine Ungerechtigkeit für einen Schwachen dar, der keine :Vlacht hat, der kein Mittel zur Vergeltung hat, der nicht wirklich kämpfen kann, der sich nicht rächen kann und sich in einer zutiefst ungleichen Situation befindet. Was bleibt ihm also zu tun übrig? Nur eines: das Wort zu ergreifen und sich auf sein eigenes Risiko und eigene Gefahr vor dem zu erheben, der das Unrecht begangen hat, und zu sprechen. Dann wird seine Rede parrhesia genannt. Andere Rhetoriker, Theoretiker der Rhetorik, geben eine ziemlich ähnliche Begriffsbestimmung. Wie gesagt, in den klassischen Texten findet man diese Art von Diskurs nicht, der als parrhesia gilt. Dennoch ist es sehr schwer, in diesem Text, in dieser Verwünschung Kreusas gegenüber Apollon, nicht das zu erkennen, was genau zum Be177
reich der parrhesia gehört, umso mehr als Kreusa im Vers 252 von Ion, ganz zu Beginn, als sie zum ersten Mal erscheint, folgendes sagt (sie hat Ion, den sie noch nicht wiedererkannt hat, gerade berichtet, daß sie Apollon um Rat ersuchen will): »0 Jammerlos der Frau'n! 0 dreiste Taten der Götter! [Sätze, die sich für sie offenbar auf das beziehen, was ihr zugestoßen ist und was Ion nicht verstehen kann, weil er noch nichts von dem weiß, was geschehen ist; und Kreusa - was gewissermaßen das Zeichen, das Motto des Stückes ist und wodurch alle Reden gekennzeichnet sind, die sie anschließend halten wird, insbesondere die große, auf ApolIon gerichtete Verwünschung - sagt: (M. E)] Wer verschafft uns unser Recht, wenn die Gebieter selbst uns frevelnd kränken !«7 Nun, wenn die Gebieter uns frevelnd kränken und man Gerechtigkeit einfordern soll, was kann man da tun? Man kann genau das tun, was Kreusa tut, was sie das ganze Stück hindurch tut und was sie gerade in der Passage tut, die wir erläutern, nämlich die parrhesia walten lassen. Diese Art von Diskurs, der noch nicht parrhesia genannt wird, was erst später geschieht, antwortet eigens auf die Frage, die Kreusa in dem Moment stellt, als sie die Bühne betritt: »Wer verschafft uns unser Recht, wenn die Gebieter selbst uns frevelnd kränken ?« Ich glaube, daß wir in diesem Diskurs der Verwünschung ein Beispiel dafür haben, was parrhesia genannt werden wird. Das ist mir aus mehreren Gründen wichtig. Der erste besteht natürlich darin, daß eine ganze Alethurgie nötig ist, eine ganze Reihe von Verfahrensweisen und Prozessen, die die Wahrheit enthüllen, damit jene Wahrheit ausgesprochen werden kann, nach der von Beginn des Stückes an gesucht wird, jene Wahrheit, die Ion schließlich gestatten wird, das Rederecht zu erlangen, die parrhesia - die parrhesia im politischen Sinn des Begriffs, parrhesia verstanden als das Recht des Stärksten, den Staat durch seine Rede vernünftig zu führen -, damit also Ion dieses Recht erlangt, dieses Recht, das im Text parrhesia genannt wird. Unter diesen Verfahren erscheint die Rede des gegenüber der Ungerechtigkeit ohnmächtigen Opfers, das sich gegen den Mächti17 8
gen wendet und das mit parrhesia spricht, an erster Stelle und \,-ird das Zentrum des Stückes bilden. Das Mehr an Macht, das Ion braucht, damit er den Staat ordentlich leiten kann, ist nicht der Gott, nicht die Autorität des Gottes, nicht die Wahrheit des Orakels, wodurch dieses Mehr begründet werden könnte. '~ras diesem Mehr durch das Aufeinanderprallen der Leidenschaften zur Erscheinung verhilft, wird jener Diskurs der \'Cahrheit sein, jener Diskurs der parrhesia in einem anderen Sinn, in dem es sich um beinahe eine umgekehrte Art von Diskurs handelt: den des Schwächsten, der sich an den Stärksten wendet. Damit der Stärkste vernünftig regieren kann, :nuß der Schwächste zum Stärksten sprechen - das ist jedender Leitfaden des Stückes - und ihn mit seinen wahren Reden herausfordern. Das ist der Grund, warum es mir wichtig war, denn wir haben 2ier eine grundlegende Mehrdeutigkeit. Diese liegt nicht in dem Wort parrhesia, das hier nicht verwendet wird, sondern es handelt sich um zwei Formen der Rede, die sich gegenüberstehen oder vielmehr tief miteinander verbunden sind: der vernünftige Diskurs, durch den die Menschen regiert werden, und der Diskurs des Schwachen, der dem Starken seine Ungerechrigkeit vorwirft. Diese Kopplung ist sehr wichtig, weil wir ihr :nsofern wiederbegegnen werden, als sie eine vollständige Ma;:rix des politischen Diskurses bildet."· Als sich in der Kaiserzeit das Problem der Regierung, und zwar nicht nur der Stadt, sondern des ganzen Reiches stellte, als diese Regierung in den Händen eines Souveräns liegen sollte, dessen Weisheit ein absolut grundlegender Bestandteil des politischen Handelns sein sollte, brauchte er, der allmächtig ist, im Grunde einen logos, eine Ver;-:unft, eine vernünftige Art und Weise, die Dinge zu sagen und zu denken. Um jedoch seine Rede abzustützen und ihr einen iesten Grund zu geben, braucht er als Führer und Garant die Das Manuskript fügt hinzu: »Wir haben hier auch eine vollständige Ma:rix des philosophischen Diskurses: Der jeder Macht beraubte Mensch äußert dem Tyrannen gegenüber mit Nachdruck, worin die Ungerech::igkeit besteht; der Kyniker.« 179
Rede eines anderen, eines anderen, der notwendigerweise der Schwächste oder zumindest schwächer als er selbst sein sollte und der die Gefahr auf sich nehmen sollte, sich gegen ihn zu wenden und ihm, wenn es nötig sei, zu sagen, welche U ngerechtigkeit er begangen hat. Der Diskurs des Schwachen, der die Ungerechtigkeit des Starken zur Sprache bringt, ist eine notwendige Bedingung, damit der Starke die Menschen nach dem Diskurs der menschlichen Vernunft regieren kann. Diese Kopplung - die den politischen Diskurs erst viel später, im Kaiserreich, strukturiert - zeichnet sich in dieser Passage, im Spiel von Kreusas Eingeständnis ab, das in der Form der Verwünschung, der Anschuldigung erscheint und eine notwendige Bedingung für die Begründung von Ions Recht ist. Soviel zum ersten Eingeständnis Kreusas. Tatsächlich gibt sich Kreusa jedoch - ich hatte letztes Mal damit begonnen, es Ihnen vorzulesen, es war jedoch etwas ungeordnet und schematischmit der Anschuldigung des Gottes zufrieden. Kurze Zeit nach dieser Anschuldigung wird sie ein zweites Mal dieselbe Geschichte erzählen. Denn, ohne daß es dafür einen offensichtlichen Grund in der dramatischen Organisation der Szene und ihrer Wendungen gäbe, nachdem sie den Göttern eine Wahrheit gesagt hat, die jedermann völlig versteht: Du hast mir einen Sohn gemacht; an jenem Ort hast du uns verlassen; ich habe meinen Sohn ausgesetzt, er ist tot, er ist verschwunden, und nun tust du nichts anderes, als weiter zu singen und den Schimmer deines Goldes, deines Ruhmes und deines Lichts zu verbreiten - jedermann kann das verstehen, man braucht keine weitere Erklärung -, nachdem sie dies also gesagt hat, wendet sich Kreusa an den Pädagogen an ihrer Seite und beginnt von neuern. Sie beginnt von neuem in einer ganz anderen Form, die nicht mehr der Gesang der Verwünschung oder die Form des Verhörs ist. Auch nicht das Eingeständnis des Schwachen gegenüber dem Starken in Form der verkündeten Ungerechtigkeit des Starken, sondern ein Spiel von Fragen und Antworten, das ich Ihnen kurz vorlesen möchte. Kreusa: »Ich schäme mich und muß es doch bekennen. [Sie beginnt zu sprechen, aber I80
neue Eingeständnis beginnt hier ebenfalls wie das vorhe:-ige der Anschuldigung gegenüber dem Gott mit: Ich schäme ::lich; das Sprechen muß also das Hindernis der Scham über""inden; M. F] - Pädagoge: Tu's! mit den Meinen teil' ich treu ien Schmerz. - Kreusa: So höre denn! Kennst du des Kekropsberges nördliche Grotte, die man Makrai nennt? - Pädadoge: I:h kenne sie - nah' bei des Pan Altar. - Kreusa: Dort hab' ich s:hweren Kampf gekämpft. - Pädagoge: Mit wem? Die Tränen :;:ommen mir ins Auge. - Kreusa: Dort hat Apollos Liebe mich bezwungen. - Pädagoge: Das also war's, was damals ich be::lerkt! - Kreusa: Was? Wenn du recht vermutest, sag' ich iir's. - Pädagoge: Geheime Krankheit schuf dir bittre Pein. _ :E\.reusa: Die Krankheit war's, die ich jetzt offenbare. - Pädagoge: Gelang es dir zu bergen, was geschehn ? - Kreusa: Ein Kind gebar ich! Hör' es mit Geduld. - Pädagoge: Wo? Sprich! Wer s:and dir bei? Littst du allein? - Kreusa: Allein! Wo mich Apoll bezwungen. - Pädagoge: Das Kind - wo ist's ? Du bist ::licht kinderlos! - Kreusa: Tot, Alter, tot! den Tieren preisge;:eben.«8 \i;'as auch immer ihr historisches Schicksal gewesen sein mag _ ias begreiflicherweise lang sein wird -, werde ich mich bei dieser Form des Eingeständnisses viel kürzer aufhalten als bei der '.-orangehenden. Ich möchte nur folgendes bemerken: Wie Sie sehen, wird dieses Bekenntnis dem Alten gegenüber von den Tränen des Pädagogen begleitet, die ständig vorkommen und :::rwähnt werden. Während der Gott, an den man sich für die große Anschuldigung gerichtet hat, stumm bleibt und weitersingt, hört der Alte, dem man sich anvertraut, nicht auf, zu seufzen und zu weinen (»0 Tochter, blick ich dir ins Angeergreift mich's; außer mir gerat ich ganz.«, »Tu's! mit den :\l:einen teil' ich treu den Schmerz.«, »Mit wem? Die Tränen ~ommen mir uns Auge.«9 und Kreusa, die sich an den Pädagosen wendet: »Warum verhüllst du dein Gesicht? du weinst?Pädagoge: Trifft doch, was dich trifft, deinen Vater mit.«lO). Zweitens vollzieht sich dieses Bekenntnis, wie Sie sehen, in ganz anderer Form als die große Anschuldigung gegen das I
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Schweigen Apollons. Es ist ein Spiel von Fragen und Antworten, Vers für Vers. Auf eine Frage des Alten folgt eine Antwort Kreusas - mit einem Moment der Beugung -, was zugleich bedeutsam, interessant und schön ist und was, wie Sie wissen, in den Bekenntnissen der Phaidra sein Ebenbild hat. Das ist der Augenblick, als Kreusa, die schon begonnen hat, zu sprechen und auf die Fragen des Alten zu antworten, sagt: »Dort hab' ich schweren Kampf gekämpft. - Pädagoge: Mit wem? Die Tränen kommen mir ins Auge. - Kreusa: Dort hat Apollos Liebe mich bezwungen. - Pädagoge: Das also war's, was damals ich bemerkt!« Wir kommen zum Kern des Geständnisses. Der Alte hat nicht verstanden oder hat geheuchelt, nicht zu verstehen, was sie sagte: »mit Apollon«. Sie beginnt also von neuem: Ich war mit Apollon vereinigt. »Pädagoge: Das also war's, was damals ich bemerkt! - Was? Wenn du recht vermutest, sag' ich dir's.«ll Im Augenblick des Geständnisses verlangt sie also von dem, der sie befragt und dem sie antworten soll, Antwort zu geben. Sie selbst sagt mit einem Zeichen des Kopfes oder mit einem Wort: Ja, das ist es, »du sprachst es aus, nicht ich!«12 Dieses Bühnenspiel, diese Beugung im System des Eingeständnisses, wo derjenige, dem gegenüber man das Eingeständnis macht, den Kerninhalt des Eingeständnisses sagen soll, finden wir sowohl im Hippolytos 13 als auch im Ion. Die dritte Bemerkung ist folgende: Während des ganzen Dialoges zwischen dem Alten und Kreusa ist das, was in Frage steht, nicht wie in der großen Verwünschung Apollons die Ungerechtigkeit des Gottes. Von der Ungerechtigkeit des Gottes ist überhaupt nicht die Rede, sondern im Gegenteil von dem Fehltritt Kreusas. Immer wieder sagt sie: Ich habe einen Fehler gemacht, und ich schäme mich, ich habe einen furchtbaren Kampf gekämpft, »Die Krankheit war's, die ich jetzt offenbare.«14 Das Eingeständnis des Fehltritts wird also direkt als Fehltritt derjenigen, die spricht, und überhaupt nicht als Ungerechtigkeit dessen, an den man sich wendet, dargestellt. Dieses Eingeständnis des Fehltritts ist jedoch auch zugleich mit der Behauptung des Unglücks verbunden. Der begangene Fehltritt wird als Unglück
::ehauptet. Eine Anklage gegen Apollon gibt es in dieser ganZe!l Folge von Erwiderungen Kreusas nicht. Es ist der Alte, der ','O!l Zeit zu Zeit sagt, daß Apollon ungerecht ist. Der Vertraute '::1d nicht die, die ihn ins Vertrauen zieht, nennt Apollon .Apollon ho kakos« (Apollon der Böse, der Schlechte, der Tük,~sche ).15 Es ist auch der Alte, der, zu Kreusa gewandt, sagt: Du co'arst zweifellos schuldig, aber der Gott mehr noch als du. 16 wollte Ihnen die Eingeständnisse Phaidras in Euripides' Hippolytos vorlesen, um Ihnen die Analogie der beiden For:::::n zu zeigen - ich habe den Text vergessen, das ist aber nicht s::hlimm, denn Sie können ihn selbst lesen. 17 Übrigens ist Raci::::$ Text eine fast lineare Übersetzung des Textes von EuripiTedenfalls haben wir hier zwei Weisen, dieselbe Wahrheit einzT.:gestehen, von denen die eine überhaupt nicht die Funktion zar, die andere zu ergänzen, da sie genau dasselbe sagen, und :as, was als Verwünschung den Göttern gesagt wurde, nur wörtlich wiederholt wird. Es ist klar, daß bei diesem doppelten ~ingeständnis die Notwendigkeit auf dem Spiel steht, nach eizem bestimmten Modus des Wahrsprechens, dem Modus der ;_'ngerechtigkeit - der Ungerechtigkeit, deren Opfer man ist '.:.:1d die man gegen denjenigen einwendet, der dafür verantc:ortlich ist - einen anderen Typ von Eingeständnis erscheinen Z:l lassen, bei dem man im Gegensatz zum ersten sowohl sein tigenes Vergehen als auch das Unglück dieses Vergehens auf seine eigenen Schultern nimmt. Man vertraut sich dann nicht iem an, der mächtiger ist als man selbst, und dem man Vorwür::0:: zu machen hätte, sondern demjenigen, dem man beichtet, iemjenigen, der uns führt und hilft. Der Diskurs der Verwün5Dhung und der Diskurs des Geständnisses: Diese beiden For:::en der parrhesia werden sich anschließend in der Geschichte ','aneinander trennen. Hier sehen wir gewissermaßen ihre Ur:ormen. Da wir uns beeilen und mit dem Ion fertigwerden müssen, :::öchte ich jetzt eine schnellere Gangart einschlagen, um mit iem Ende des Stückes abzuschließen. Wir haben hier also mit
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Kreusas doppeltem Eingeständnis - dem Eingeständnis als Verwünschung und dem Geständnis als Anvertrauen, dem Eingeständnis als Zornes gesang und dem Geständnis als Dialog mit dem Pädagogen - eine Hälfte der Wahrheit. Nichts weiter als eine Hälfte der Wahrheit, denn wir wissen jetzt, daß Kreusa einen Sohn hatte, einen unehelichen Sohn von ApolIon, der verscholl. Wir wissen aber noch nicht, daß es Ion ist. Das Ende des Stückes wird nun der Aufgabe gewidmet sein, diese Halbwahrheit, die durch Kreusa zur Sprache kam, gewissermaßen angesichts der Wirklichkeit, die wir vor uns sehen, die Kreusa vor sich sieht und die sie nicht erkennt, nämlich diesen jungen Mann, der sich Ion nennt und der ihr Sohn ist, zu vervollständigen. Kreusa hat ihre ganze Wahrheit gesagt, aber wer wird die andere Hälfte der Wahrheit sagen können, nämlich daß dieser Sohn nicht tot ist, daß er nach Delphi geführt wurde und daß er in Delphi Diener des Gottes ist? Kreusa kann es nicht, denn sie kennt sie nicht. Und im Ion gibt es nichts Vergleichbares wie im Ödipus, nämlich den Diener des Kitheron, der im Grunde alles wußte und der wegen dieses Wissens solche Angst bekam, daß er sich in die Wälder geflüchtet und versteckt hat. Am Tag, als man ihn auf die Bühne bringt, wird er es jedoch sagen können. Hier gibt es kein Subjekt, das Inhaber der ganzen Wahrheit wäre. Oder vielmehr gibt es natürlich eines, nämlich ApolIon. ApolIon ist in einer ähnlichen Situation wie der Hirte des Kitheron im Ödipus. Er weiß alles, und deshalb muß man ihm das letzte Stückchen Wahrheit entreißen. Durch ihn und nur durch ihn sollten sich die Wahrheit, die Kreusa zweimal gesagt hat, und die Gegenwart Ions zusammenfügen können und folglich auch seine Thronbesteigung ermöglichen, und zwar nicht mehr als mutmaßlicher Sohn von Xuthos, sondern als wirklicher Sohn von Kreusa und ApolIon. Obwohl Apollon und nur er allein diese Verbindung herstellen kann - denn kein Mensch ist im Besitz dieser Wahrheit -, werden wir sehen, daß man weder zu sehr auf die Götter vertrauen soll noch auf die Funktion des Wahrsprechens, das die Eigenart wenigstens eines von ihnen, und zwar von Apollon, ist. Auch
:-:ier sind es die Menschen, ist es die Leidenschaft der Men,chen, die das Prinzip, der Antrieb, die Kraft sein wird, die die Schwierigkeit des Wahrsprechens beiseite schieben und die Scham der Menschen, Wahres zu sagen, und die Zurückhal::.:ng des Gottes, ein klares Orakel zu verkünden, überwinden v;ird. Der Antrieb dieses neuen Fortschritts, dieses letzten Fortschritts zur Wahrheit, wird noch einmal die Leidenschaft sein, noch einmal der Zorn, der Zorn Kreusas, dem der Zorn Ions antworten wird. Was wird Kreusa denn nun tun, nachdem sie die Wahrheit gesagt hat oder zumindest jene Hälfte der 1X"ahrheit, die alles ist, was sie von der Wahrheit kennt? Die Si::.:ation dieser Halbwahrheit kann durch keinen weiteren Umschwung aus sich selbst heraus bewegt werden. Sie ist gewissermaßen eine blockierte Wahrheit: Ja, sie hatte ein Kind, das :edoch verschwunden ist. Wie soll man aber wissen können, daß es sich um Ion handelt? An dieser Stelle geschieht ein Umschwung, der ebenfalls mit dem vergleichbar ist, den man in Phaidra findet. Der Vertraute das Gegenstück zu unserer abscheulichen Oinone), jener beriichtigte, etwas lasterhafte Pädagoge - der gerade unangeneh:ne Gerüchte über Xuthos verbreitet hatte und dem sich Kreusa, wie wir sahen, anvertraut -, sagt zu Kreusa: Da du so von dem Gott getäuscht wurdest, der dich mißbraucht, dir ein E.ind gemacht hat und es sterben ließ, mußt du dich rächen. Im seiben Atemzug fügt er hinzu: Brenne also den Tempel Apol:ons nieder (Rache).19 Worauf Kreusa in einem einzigen Vers erwidert: Ach, ich habe auch so schon genug Ärger, ich brauche nicht noch mehr. Der zweite Rat: Töte also deinen Mann. 20 Sie antwortet: Weißt du, wir haben uns früher geliebt. Und wegen dieser Gewogenheit, dieser Zuneigung will ich das nicht :un, er war ein guter Mann. Der dritte Rat des Pädagogen: Dann töte ganz einfach Ion, du kannst ihn doch niedermetzeln ~assen.21 Worauf sie sagt: Das Eisen gefällt mir nicht als Waffe. - Dann vergifte ihn (Mord der Frau).22 Sie nimmt den Rat an und schlägt vor, mit der Ausführung des Mordes zu warten, bis er in Athen ist. Da sagt der Pädagoge: Es ist nutzlos zu warten,
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bis er in Athen ist, denn dann würden alle wissen, daß du es in deinem eigenen Haus getan hast. 23 Es ist besser, ihn gleich zu vergiften. Darauf sagt sie: Sehr gut, das ist in der Tat besser. Dann findet sie in ihrer Handtasche zwei Tropfen Gift [Gelächter in der Zuhörerschaft}. Nun, ich scherze, das ist etwas geschmacklos, zugegeben ... Wir müssen die Sache jedoch schematisch darstellen, weil hier sehr interessante und bedeutsame mythische Elemente ins Spiel kommen: Das Gift, das sie aus ihrer Tasche zieht, ist aus dem Blut der Gorgo gemacht, jener Gorgo, mit deren Hilfe Minerva Athen verteidigt hat. Wir sind also mitten in der athenischen Mythologie, wobei es wichtig wäre, diese zu analysieren. Aber das ist jetzt nicht mein Problem. Jedenfalls verläßt der Pädagoge die Szene mit diesem Gift und wird wieder bei dem Festmahl auftauchen, das Xuthos darbringt, um zu feiern, was er für das Wiedersehen mit seinem Sohn hält. Der Pädagoge begibt sich dorthin und schüttet in den Kelch Ions einen Tropfen von dem Gift, das ihn töten soll. Und hier geschieht nun etwas: Einer der Diener, die die Teilnehmer des Festmahls umringen, macht eine gotteslästerliche Geste, die nicht weiter beschrieben wird, die jedoch von Ion - gerade weil Ion Apollon nahe ist und die Regeln und Riten des Tempels kennt - als schlechtes Vorzeichen gedeutet wird. Deshalb soll der Wein, der für das große Trankopfer in die Kelche gegossen wurde, auf den Boden geschüttet werden, weil es ein schlechtes Vorzeichen ist: Man darf das Trankopfer nach diesem schlechten Vorzeichen nicht vollziehen. Hier haben wir also ein Eingreifen, wenn auch nur ein minimales Eingreifen des Gottes: Er hat es einfach veranlaßt, daß ein bestimmtes Zeichen gemacht werde, ein nicht-rituelles Zeichen, das im Gegensatz zum Ritus steht, ihn unterbricht und zum Ergebnis hat, daß der Wein auf den Boden geschüttet wird. Die Tauben Apollons - auch hier haben wir ein kleines Element, das auf den Gott hinweist - kommen, um zu trinken und sich an dem verschütteten Wein zu berauschen. Alle Tauben sind entzückt außer derjenigen natürlich, die von dem getrunken hat, was aus der Schale Ions zu Boden floß und vergiftet war r86
die Taube stirbt. Sie stirbt, und sofort wird man sich dessen bev:ußt, daß Ions Kelch vergiftet war. Es ist nicht schwer herauszufinden, daß der Alte, der hinter Ion steht, das Gift in seinen helch geschüttet hat. So wird also der Alte entlarvt. Das ist ein typisch euripideischer Umschwung, der für uns insofern interessant ist, als man sieht, in welcher Form und nach v:elcher Art von Ökonomie der Gott eingreift. Er greift keir::eswegs dadurch ein, daß er die Wahrheit sagt; es ist nicht einrnal sein Orakel, sondern einfach das Spiel der Zeichen, das Spiel der quasi-natürlichen Zeichen (der Tod einer Taube), das "'on den Menschen gedeutet und das schließlich den Mord ver':lindern wird. Ion, der nun entdeckt, daß man ihn vergiften v:ollte, der entdeckt, daß der, der ihn vergiften wollte, der Päd2goge und mittelbar Kreusa ist, bringt seine Beschwerde vor iie Honoratioren, die beschließen, daß Kreusa gesteinigt werien solJ.24 Hier beginnt eine neue Szene (die Vergiftungs szene sieht man nicht auf dem Theater, sie wird bloß anschließend ";on einem Boten erzählt. Das spielt jedoch keine Rolle.): Kreu52 wird von Ion und jenen verfolgt, die an ihr Rache nehmen ",·ollen. Hier ereignen sich nun [... ] die letzten Szenen. Kreusa :'<:tritt die Bühne, verfolgt von Ion [... ] - die Szene stellt nicht :::cur den Tempel, sondern auch den Altar des Gottes dar -, sie b:ann nur noch eines tun, um dem Zorn Ions zu entkommen, r::ämlich sich auf den Altar des Gottes flüchten, ihn umarmen ::nd die rituelle Handlung vollziehen, durch die sogar die Ver::;:echer für ihre Feinde unangreifbar werden. Niemand kann sie mehr berühren. Dieses Umarmen des Altars durch Kreusa :-:at natürlich eine Reihe von einander überlagerten Bedeutun;en. Es ist die rituelle Handlung, durch die man sein Leben ret:~r. Indem sie aber den Altar des Gottes umarmt, schließt sie iie Arme um den Altar desjenigen, der ihr Liebhaber war, und '-'-'1üpft an diese frühere Umarmung, die zu Ions Geburt führte, ":':ieder an, nimmt sie wieder auf und stellt sie wieder her. Um iiesen Altar herum kreist, mit einem Schwert bewaffnet, der 20rnentbrannte Ion, der Kreusa töten will. Da er jedoch ein ::)iener des Gottes ist und die Riten und Gesetze respektiert, r87
weiß er sehr wohl, daß er sie nicht berühren kann, solange sie auf dem Altar ist. Hier ist die Situation erneut blockiert. Die eine ist unberührbar; der andere will sie nicht berühren. Ion belagert gewissermaßen den Altar. Es gibt hier also eine neue Intervention des Gottes. Aber Sie sehen auch, wie ökonomisch und geringfügig sie ist. In diesem Moment, als die Situation völlig blockiert ist, öffnen sich die Tore des Tempels, und Pythia kommt herein, sie, die hätte die Wahrheit sagen sollen, deren Funktion immer darin besteht, die Wahrheit zu sagen. Sie kommt wortlos und trägt in ihren Händen nur einen Korb, den Korb von Ions Geburt. Sie sagt: Sieh her, seht her; mehr sagt sie nicht. In diesem Moment sagt Ion zu ihr: Aber warum hast du mir nicht früher den Korb gezeigt, in dem ich nach Delphi gebracht wurde? Weil der Gott es mir verboten hat, sagt Pythia. Kreusa, die sich vorbeugt, um zu sehen, was das für ein Korb ist, erkennt sofort, daß es derjenige ist, in dem sie Ion ausgesetzt hat. Sie erkennt eine Reihe von rituellen Gegenständen auch in seinem Innern, unter denen sich folgende befinden: das Halsband mit Schlangen, das man den athenischen Kindern umhängte, um sie zu beschützen, und das sich auf die Schlangen des Erechtheus bezog, d. h. auf die berühmte Dynastie, aus der Kreusa selbst hervorgegangen ist - eine Bestätigung der Kontinuität also -; der grüne Zweig der Athene; und drittens eine Webearbeit, die sie mit eigenen Händen begonnen hatte und die unvollendet blieb. Angesichts dieses Gegenstands sagt Kreusa: Das ist so wertvoll wie ein OrakeP5 Hier bemerkt man nun, daß die Entdeckung der Wahrheit sich vollzieht, ohne daß Pythia gesprochen hat. Die Pythia ist stumm. Es ist nur ein Gegenstand, ein Gegenstand, der mit Ions Geburt zu tun hat. Es gibt göttliche Zeichen: Zeichen der Tradition des Erechtheus, das Zeichen Athenes. Und dann ein spezifisch menschlicher Gegenstand. ApolIon hat streng genommen keine Spur hinterlassen. Von allen diesen Zeichen, von denen zwei göttlichen Ursprungs sind und das dritte einfach die Arbeit einer Frau ist, hebt Kreusa letzteres hervor und sagt: Das ist so wertvoll wie ein Orakel. Anstelle des stummen Orakels des 188
Gottes muß man die Arbeit der Menschen, die Stimme der :,Ienschen, die Hand der Menschen anrufen, damit die Wahr:reit ans Licht kommt. Nun hat Ion endlich eine Mutter. Er er':;.ennt sie, und dann ist alles zu Ende. In Wirklichkeit ist jedoch noch nicht alles zu Ende. Es gibt hier noch eine Reihe von Schubladen, und die Schwierigkeit, die ganze Wahrheit als eine ununterbrochene Kette darzustellen, ist um vieles größer, als man glaubt. Es gibt noch eine Menge ':;.leiner Zweifel, die hervortreten, eine Menge kleiner Lücken, die man schließen muß, weil Ion jetzt eine Mutter hat. Er glaubte in der Person von Xuthos einen Vater empfangen zu :raben. Alles sollte sich arrangieren lassen. Übrigens glaubt er, daß es arrangiert ist, und sagt zu Kreusa: Nun wohl, du bist meine Mutter. Und da Xuthos mein Vater ist (siehe den ersten Teil des Stückes), habe ich Mutter und Vater. Also können wir gehen. Nur stimmt das eben nicht, denn Ion ist nicht Xuthos' Sohn. Daraufhin sagt ihm Kreusa, die die Wahrheit sagen will, denn die ganze Wahrheit soll ans Licht kommen: Höre, nein, das stimmt nicht. In Wirklichkeit bist du nicht sein Sohn, sondern der Sohn Apollons. Und dies, sagt sie, ist viel besser, denn dadurch sind deine Rechte in Athen viel besser begründet, als yon einem Zugewanderten wie Xuthos abzustammen. Nur findet Ion das sehr dubios, weshalb er sagt: Wenn du mir erzählst, daß ein Gott dir ein Kind gemacht hat, könnte es dann in Wirklichkeit nicht so sein, daß du dich von einem Sklaven in einem Winkel des Hauses hast schwängern lassen26 - der gleiche Zweifel, der gegenüber Xuthos erhoben wurde. Was beweist mir, daß ich wirklich ApolIons Sohn bin? Es gibt also eine Diskussion, und Ion läßt sich beinahe überzeugen, aber nicht ohne daß sie ihm sagt (was ein wesentlicher Bestandteil des Stückes ist): »Ich reime mir die Sache so zusammen: Fürsorglich bringt Apoll dich in ein edles Geschlecht und Haus.«27 Folgendes, sagt Kreusa, ist also geschehen: Phoibos fand es leichter, dich über Xuthos in ein edles Haus zu bringen. Und Ion antwortet: »So leicht kann ich mich nicht zufriedengeben. Ins Haus Apolls geh' ich und frag' ihn selbst, ob mich ein 18 9
Mensch erzeugt hat oder er.«28 Die Beteuerungen seiner Mutter, das, was sie ihm über seine göttliche Herkunft gesagt hat, genügen ihm nicht. Er kann sich mit einer »so dürftigen Untersuchung« nicht zufriedengeben, er braucht die letzte Wahrheit, die ihm versichern wird, daß er von Apollon und Kreusa abstammt, und nicht von Kreusa und Xuthos oder von Kreusa und einem Sklaven oder sonst irgendwem. Er muß die Wahrheit wissen, und er ist im Begriff, den Tempel zu betreten, um schließlich den Gott zu befragen, der seit dem Beginn des Stükkes ununterbrochen schwieg. In dem Augenblick, da er als Sohn Apollons, er als Priester oder zumindest Tempeldiener Apollons, er, der von den Göttern als Gebieter in Athen inthronisiert werden soll, im Begriff steht, diesen Zug zu machen, um diesem Gott, von dem am Anfang des Stückes gesagt wird, daß er allen Griechen die Wahrheit sagen muß, endlich die Wahrheit zu entreißen, ereignet sich eine weitere Wendung. Die mechane29 kommt auf die Bühne herab - und man sieht ... Wen? Apollon? Keineswegs, man sieht Athene erscheinen, die sich mit ihrem Streitwagen auf dem Tempel Apollons niederläßt und ihre Autorität derjenigen des Gottes überlagert, der nicht sprechen wollte. Sie wird nun die Rede über die Wahrheit und das Recht halten, die Rede über die Wahrheit der Herkunft Ions und über das Recht Ions, jetzt die Macht in Athen auszuüben. Athene hält also eine große Rede, eine athenisch-apollinische Rede oder zumindest eine Rede, in der die apollinische Vorhersage genannt werden wird. 30 Athene sagt: Folgendes wird geschehen. Du wirst nach Athen zurückkehren, du wirst König von Athen sein, du wirst vier Stämme gründen, und aus diesen vier Stämmen werden alle Ionier hervorgehen. Dann wirst du Halbbrüder von Xuthos und Kreusa haben, von denen der eine, Doros, das Volk der Dorer begründen wird, von denen der andere, Achaios, das Geschlecht der Achäer begründen wird. Eine prophetische Rede, aber auch eine Rede, die, insofern sie von Athene, der Göttin der Stadt und der Vernunft, gehalten wird, das Recht in der Stadt grundlegt. Das Wahrsprechen des Gottes, zu dem der 19°
Gott selbst nicht in der Lage war, übernimmt nun die Gründungsgöttin der Stadt, die denkende Göttin, die überlegende Göttin, die Göttin des logos und nicht mehr des Orakels. Sie sagt diese Wahrheit, und mit dieser Wahrheit wird sich der ganze Schleier über dem Geschehenen lüften. Wird auch das Recht begründet? Noch nicht, es gibt zunächst noch etwas anderes. Was macht man mit dem Problem der zwei Väter, vor dem Ion jetzt steht - des wirklichen und göttlichen Vaters Apollon und des scheinbaren Vaters Xuthos ? An dieser Stelle gibt die Göttin folgenden Rat: Sagen wir Xuthos nichts; er mag weiterhin glauben, daß er der Vater dieses Sohnes sei. Du wirst nach Athen zurückkehren, und Xuthos wird überzeugt sein, daß du sein Sohn bist. Er wird dir die Macht eines Tyrannen geben, eines Tyrannen, weil Xuthos als Zugewanderter und Sproß des Zeus über diese Stadt nur eine gewisse Macht ausüben kann, nämlich die des tyrannos. Du wirst mit ihm zusammen zurückkehren und dich auf den Thron setzen, den Thron des Tyrannen, so der Text. 31 Und dann wirst du die athenischen Stämme gründen, d. h. daß die Demokratie oder vielmehr die politische Organisation Athens sich aufgrund deiner erechtheischen und apollinischen Herkunft entfalten wird, aber unter dem Deckmantel der Abstammung von Xuthos, deren Trugbild wir eine Zeit lang herrschen lassen werden. Auf diese Weise spielt sich also das ganze Stück ab: vom Schweigen des wahrsprechenden Orakels aufgrund des Vergehens des Gottes; über den Aufschrei des menschlichen Wahrsprechens (Aufschrei der Verwünschung oder Aufschrei des Eingeständnisses, des Vertrauens); bis hin zur Verkündung - das ist der dritte Schritt, das dritte Moment - nicht durch den Gott des Orakels, sondern durch den vernünftigen Gott, eines Wahrsprechens, das einerseits zwar über der Wahrheit einer teilweise Täuschung herrschen läßt, aber um den Preis dieser Täuschung selbst jene Ordnung begründet, in der die befehlende Rede eine Rede der Wahrheit und der Gerechtigkeit sein kann, eine freie Rede, eine parrhesia. Damit sind wir am Ende von Ion angelangt.
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Anmerkungen Euripides, Ion, Verse 918-921, in: Tragödien, München und Zürich 1990, S. 270. 2 Ebd., Verse 913-915. 3 H. Schlier, »Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel, Hg., Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart, 1949-1979, S. 869884· 4 Was "Papyrus von Oxyrhynchus« genannt wird, umfaßt eine Gesamtheit von alten griechischen Papyri, die aus der hellenistischen Periode stammen und ab 1896 in der ägyptischen Stadt Oxyrhynchos bei Ausgrabungen gefunden wurden. Die Universität Oxford hat schon siebzig Bände publiziert, etwa vierzig sind aber noch herauszugeben. 5 Papyrus von Oxyrhynchos, VIII, 1100, 15, zitiert von Schlier, "Parrhesia, parrhesiazomai«, a. a. 0., S. 871. 6 »Eine Freimütigkeit liegt vor, wenn wir vor denen, die wir scheuen oder fürchten müßten, dennoch etwas für unser Recht sagen, wodurch wir den Eindruck erwecken, wir würden sie oder diejenigen, die sie lieben, für irgendeinen Irrtum zu Recht tadeln ... " ([ Anonym], Rhetorica ad Herennium, Buch IV, §48, hg. v. Theodor Nüsslein, München und Zürich, 1994, S. 269-27°. 7 Euripides, Ion, Verse 252-254, a. a. 0., S. 250. 8 Ebd., Verse 934-948, S. 27I. 9 Ebd., Verse 92 5, 935 und 940. IO Ebd., Verse 967-968, S.272. 11 Ebd., Verse 941-943, S.27I. 12 Vgl. unten, Anm. 17 und 18. 13 Vgl. unten, Anm. 17. 14 Euripides, Ion, Vers 945, a.a.O., S.27I. 15 Ebd., Vers 9)2. 16 Ebd., Vers 960. 17 »Amme: Ist's möglich, Kind, du bist verliebt? In wen? - Phaidra: Wie nenn ich ihn den Sohn der Amazone? - Amme: Hippolytos ? - Phaidra: Du sprachst es aus, nicht ich !« (Euripides, Hippolytos, Verse 35°-3)2, in: Tragödien, München und Zürich 1990, S.120). 18 Es handelt sich um die dritte Szene des ersten Akts. "Phaidra: Den die Skytin getragen. Du kennst ihn, den lang' ich von mir verbannt. - Oinone: Hippolytos ? Götter! - Phaidra: Du hast ihn genannt« (Racine, Dramatische Dichtungen, Geistliche Gesänge, Darmstadt u.a. 1956, S.147)· 19 Euripides, Ion, Vers 974, a. a. 0., S. 222. 20 Ebd., Vers 976. 21 Ebd., Vers 978. 22 Tatsächlich hat Kreusa die Idee des Vergiftens (ebd., Vers 985, S. 272). 23 Ebd., Vers 1024. I
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24 Ebd., Vers 1112, S. 276 (man beachte, daß im Vers 1222 auch davon die Rede ist, sie von einem Fels zu stürzen). 25 Tatsächlich spricht Ion diese Worte (»So sieht das Tuch aus, das im Korb ich finde ... Es ist wahr wie ein Orakel.« Ebd., Vers 14 24, S.239)· 26 Ebd., Vers 1472, S. 86 (Ion ist weniger präzise und spricht nur von einer unehelichen Herkunft). 27 Ebd., Verse 1539-1540, S.288. 23 Ebd., Verse 1546- 1548. 29 Eine mechane bez.eichnet im Griechischen eine Theatermaschinerie, die am häufigsten zur Erscheinung der Götter verwendet wird. 58 Euripides, Ion, Verse 1575-1588, a. a. 0., S. 28 9. 3 1 "Nimm deinen Sohn mit dir in Kekrops Land und setze dort ihn auf den Thron, Kreusa, als König (thronous tyrannikous)« (ebd., Verse 1571-1572, S. 289).
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(Sitzung vom
2.
Vorlesung 5 Februar 1983, erste Stunde)
Erinnerung an Polybios' Text. - Rückkehr zu Ion: göttliches und menschliches Wahrsprechen. - Die drei Formen der parrhesia: politisch-statusbezogen; gerichtlich; moralisch. - Die politische parrhesia: ihre Beziehung zttr Demokratie; ihre Verankerttng in einer agonistischen Strttktur. - Rückkehr Ztt Polybios' Text: das Verhältnis isegoria/parrhesia. - Politeia und dynasteia: die Attffassttng der Politik als Erfahrung. - Die parrhesia bei Euripides: Die Phoinikerinnen; Hippolytos; die Bakchen; Orestes. - Orestes' Prozeß·
Ich möchte mit der Wiederholung einer Reihe von Dingen beginnen, die ich die letzten Male in bezug auf Ion und den Begriff der parrhesia gesagt habe, da mehrere von Ihnen mir Fragen gestellt oder bemerkt haben, daß das, was im Laufe der Lektüre von Ion im Hinblick auf die Struktur und die Bedeutung des Begriffs der parrhesia herausgearbeitet wurde, vielleicht nicht völlig klar war. Wenn ich so lange von diesem Text Euripides' gesprochen habe, dann um eine Frage zu beantworten, die in einem Text von Polybios gestellt wird, den ich Ihnen ganz am Anfang der Vorlesung zitiert habe und der bekannt, berühmt und für den Begriff der parrhesia nahezu kanonisch ist. Es handelt sich um jenen Text von Polybios (im 2. Buch, Kapitel 38),1 wo er bei der Besprechung des Wesens und der Form der Regierung der Achäer sagt, daß die Achäer sich unter den Griechen dadurch auszeichneten, daß ihre Verfassung isegoria (etwa: Gleichheit der Rede, gleiches Recht, Reden zu halten), parrhesia und allgemein alethine demokratia beinhaltet. Das bedeutet, daß Polybios' Text zwei Begriffe ins Spiel bringt, deren Sinn wir untersuchen müssen und die er auf die Demokratie im Allgemeinen bezog. Polybios' Definition und Charakterisierung der Regierung der Achäer ist aus folgenden Gründen interessant. Zunächst, weil die Demokratie im allgemeinen von ihm nur durch diese beiden Elemente, diese beiden Begriffe (isegoria und parrhesia) bestimmt wird; im Anschluß daran müssen wir versuchen, einerseits herauszufinden, was 194
die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen und der Gesamtheit demokratischer Abläufe ist, und andererseits, worin der Unterschied zwischen der isegoria (Gleichheit der Rede, gleiches Recht, Reden zu halten) und der parrhesia besteht, die wir untersuchen werden. Es ist bekannt, daß die morphologische Definition der Demokratie in den theoretischen Schriften Platons, Aristoteles' usw. relativ leicht zu gewinnen ist, zumindest durch die Entgegensetzung und Unterscheidung von der Monarchie, der Aristokratie und der Oligarchie. Es handelt sich um die Regierung des demos, d. h. der Gesamtheit der Bürger. Andererseits wissen Sie, daß, auch wenn diese morphologische Definition der Demokratie relativ einfach ist, die Bestimmung dessen, worin die Demokratie besteht - ihre Charaktere, ihre notwendigen Bestandteile für ein gutes Funktionieren, ihre Qualitäten - in den griechischen Texten viel weniger fixiert ist. Im allgemeinen bringt man zur Charakterisierung der inneren und funktionalen Bestandteile der Demokratie eine Reihe von Begriffen ins Spiel, wie z. B. den der eleutheria (der Freiheit), der sich auf die nationale Unabhängigkeit, auf die Unabhängigkeit eines Stadtstaats von der Beherrschung durch einen anderen bezieht; eleutheria bezieht sich auch auf die innere Freiheit, d. h. auf die Tatsache, daß die Macht nicht auf despotische oder tyrannische \Veise in der Hand eines einzigen Herrschers liegt. Die Bürger sind frei. Das ist eine Bestimmung. Sie wissen, daß die Demokratie sich auch durch die Existenz eines nomos auszeichnet, d. h. durch die Tatsache, daß die Regel des politischen Spiels -:.md der Machtausübung sich im Rahmen von so etwas wie Gesetzen, Traditionen, einer Verfassung, einem Grundprinzip "Jsw. vollzieht. Man bezieht die Demokratie auch auf die isono,",-;ja, oder vielmehr macht man die isonomia zu einem Merkmal Demokratie. Insbesondere rühmt sich die athenische De:nokratie damit, die isonomia zu praktizieren, d. h. allgemein gesprochen, die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Das andere ~,Ierkmal, das erwähnt wird, ist jene isegoria, d. h. aus etymologischer Sicht: die Gleichheit der Rede, die jedem Individuum 195
zustehende Möglichkeit, vorausgesetzt, es gehört zum demos, zu den Bürgern, die Zugang zur Rede haben, wobei »Rede« in verschiedenerlei Sinn zu verstehen ist. Es kann sich um die gerichtliche Rede handeln, wenn man vor einem Gericht spricht, sei es um anzuklagen oder um sich zu verteidigen; es kann auch das Recht sein, seine Meinung kundzutun, sei es im Hinblick auf eine Entscheidung oder aber bei der Wahl der Herrscher; die isegoria ist schließlich das Recht, das Wort zu ergreifen, seine Meinung im Verlauf einer Diskussion oder einer Debatte zu äußern. Wenn das die isegoria ist, was ist dann die parrhesia? Was ist das für ein Begriff, der sich auf das Ergreifen des Wortes bezieht? Wie kommt es, daß Polybios, der die Demokratie im allgemeinen, die wahrhafte Demokratie, so knapp wie möglich charakterisieren wollte, ihr nur zwei Merkmale zuspricht, die offenbar beide das Problem der Rede (isegoria und parrhesia) berühren? Warum benutzt er diese beiden Begriffe, die sich so ähnlich sind und anscheinend nur schwer voneinander unterschieden werden können? Was ist der Unterschied zwischen dem verfassungsmäßigen Recht eines jeden, das Wort zu ergreifen, und jener parrhesia, die ein Zusatz zu diesem verfassungsmäßigen Recht ist und die das zweite wichtige Merkmal ist, durch das man die Demokratie charakterisieren kann? Was haben diese beiden Begriffe mit der Demokratie zu tun, wie soll man sie im Hinblick auf den politischen Gebrauch der Rede unterscheiden? Diese Dinge möchte ich heute gerne aufklären. Es wird bestimmt etwas langwierig werden, aber ich glaube, daß die Dinge wichtig genug sind, um auf sie etwas näher einzugehen. Ich glaube nämlich, daß der Text des Ion, obwohl es ein ganz literarischer und dramatischer Text ist, eine Reihe von Elementen zum theoretischen Gehalt des Begriffs der parrhesia beisteuern kann. In einem gewissen Sinn sagt Ion in seinem dramatischen Ablauf mehr als die kurze und rätselhafte Formel des Polybios. Ich werde nun zweierlei tun: einerseits den Weg, den wir mit der Lektüre von Ion zurückgelegt haben, noch ein19 6
sal etwas systematisieren; und dann gleichzeitig eine Reihe \'on Markierungssteinen setzen, um das Feld dieses Begriffs et?Co'as festzulegen, um es einzugrenzen. Wir konnten in diesem StÜck, das als Tragödie des Wahrsprechens betrachtet werden ~ann, einen zentralen Kern oder Leitfaden ausmachen. Der =-eitfaden ist sehr einfach, ich gehe kurz darauf ein. Ion, der ;unge Mann, der ein verkannter Nachkomme der alten Erech:heischen Dynastie Attikas und Athens ist, ein Nachkomme ','on Erechtheus, der in den Grotten der Akropolis geboren "-urde, von jenem Geschlecht des Erechtheus, in dem sich schon die Götter, die Erde, die Menschen vermischten, und Ion, der verkannte und verbannte Ureinwohner, kann und will ?,:lch nur dann nach Athen zurückkehren, um dort die mit sei:cer Abstammung verbundene Macht auszuüben, wenn er ein oestimmtes Recht innehat. Dieses Recht und diese Macht sind an einen bestimmten Status gebunden, der von seiner Geburt abhängt. Das Recht, die Macht und der Status führen zu oder sünden in einem bestimmten Element, das ganz wichtig ist und ausdrücklich erwähnt wird, nämlich in der parrhesia: die Freiheit, das Wort zu ergreifen und darin den Freimut im Red.en auszuüben. Das ist der Leitfaden des Stückes. :\un habe ich versucht, Ihnen zu zeigen, daß - da die dramatische Triebfeder des Stückes in der Frage bestand, wie Ion als ',"erbannter Ureinwohner zurückkehren und auf seiner eigenen Erde das Recht zu sprechen in Form der freimütigen Rede erlangen kann - diese parrhesia nicht deshalb erlangt wird, weil der Held irgend eine Großtat begeht, diese oder jene Prüfung besteht oder einen Sieg erringt. Nicht einmal ein Urteil, das Streirigkeiten schlichtet und Rechte austeilt, wird Ion schließlich auf ien Thron bringen. Dadurch wird der Held seine parrhesia ::icht erlangen, sondern durch eine Reihe von Manifestationen ier Wahrheit, eine Reihe von Operationen und Verfahren, iurch die die Wahrheit gesagt wird. Allgemein betrachtet, zeichnen sich diese Verfahren durch folgende Eigenschaft aus: Der Aufschrei der Menschen, der dem schweigsamen Gott die Rede entreißt, mußte die Macht des Sprechens begründen. 197
Um diesen allgemeinen Kern des Stückes herum wird sich nun der dramatische Ablauf als Aufeinanderfolge dieser verschiedenen Rituale der Wahrheit, der Veridiktion anordnen, die schließlich notwendig sind, damit Ion in seine Heimat zurückkehren und sein Recht zu sprechen erlangen kann. Es handelt sich bei diesen verschiedenen Elementen der Veridiktion, wie Sie sich erinnern, in der Tat nicht um eine Entdeckung der Wahrheit durch Nachforschung und Untersuchung wie in König Ödipus. Vielmehr geht es um schwierige, kostspielige Sprechakte, die, trotz der Scham, durch die Lebhaftigkeit der Leidenschaften mühsam hervorgebracht werden, und zwar unter solchen Umständen, daß das Wahrsprechen immer von seinem Doppelgänger wie von einem Schatten begleitet wird: Lügen, Verblendungen, Täuschungen der Personen. Schematisch gesehen, lassen sich vier große Episoden oder vier große Formen dieser Veridiktionen erkennen, die Ion Schritt für Schritt aus seinem anonymen Exil in Delphi in seine gewissermaßen sprechende Heimat Athen bringen werden. Diese vier Elemente der Veridiktion sind folgende. Erstens haben wir die Veridiktion des Gottes, des Gottes von Delphi, des Gottes des Orakels. Eine Veridiktion, die, wie Sie sich erinnern, blockiert ist, verhindert durch den Fehltritt Apollons, durch die Ungerechtigkeit, die er begangen hat und auch durch die Scham, die er empfindet, diese Ungerechtigkeit eingestehen zu müssen. Das Orakel kann sich jedoch nicht schämen. Oder besser, wegen der Tatsache, daß der Gott des Orakels sich schämt, wird das Orakel nicht sprechen, es wird schweigen, mit der Ausnahme jedoch, daß es erstens Xuthos eine verklausulierte Antwort gibt und anschließend auf dem Weg Ions und Kreusas, dem Weg der menschlichen Leidenschaften und ihrem Treiben, eine Reihe von Zeichen ausstreut, die der Wahrheit gestatten, ans Licht zu kommen. Wir haben also eine blockierte und verhinderte Veridiktion der Götter. Zweitens haben wir die erste Veridiktion Kreusas in Form einer heftigen Verwünschung, die an den Gott gerichtet ist. Es ist die Verwünschung des Schwachen, der die Gerechtigkeit auf 19 8
seiner Seite hat und der dem Mächtigen seine Ungerechtig;';'eit vorwirft. Diese erste Veridiktion vollzieht sich in der Verzweiflung, der Verzweiflung Kreusas, die sie daran hindert zu ,,::-kennen, daß Ion ihr Sohn ist. In dieser Verblendung geschieht die erste Veridiktion Kreusas. Die zweite Veridiktion ~reusas ist nicht mehr die Veridiktion der Verwünschung, sondern die Veridiktion des Eingeständnisses, das Eingeständnis gegenüber einem Vertrauten in einem Vertrauensverhältnis, das jedoch selbst durch die Tatsache geplagt, verbogen und verfälscht ist, daß der Vertraute Kreusa allmählich von ihrer Verzweiflung zum Zorn führt und vom Zorn zur Absicht, Ion zu :ören, den sie nicht als ihren Sohn erkennt. Aus diesem Vorhaben, ihren eigenen Sohn zu töten, wird nun schrittweise die 'i:\'ahrheit geboren. Schließlich die vierte, endgültige und tri'3mphierende Veridiktion, die eine Weihe vollzieht. Es ist die Yeridiktion der Götter, die Veridiktion Athenes und Apollons, l:l der die Macht der Vorhersage von Apollon auf Athene übergeht und in der die Zukunft Athens aus dem Mund Athenes ?rophezeit und als eine Art von großem Pmzeß erklärt wird, der sich von der Tyrannenmacht, die Ion von seinem Vater eriält, bis zur Organisation von Athen in vier Stämmen und bis zu einer Art von Elternschaftsvorrecht erstreckt, das die Stadt zunächst über die Ionier, dann aber auch über die Achäer und Dorer ausüben kann. All dies soll natürlich vor dem Hintergrund der Täuschung geschehen, die Xuthos und die anderen v:eiterhin glauben läßt, daß Ion nicht ApolIons, sondern Xu;:hos' Sohn ist. :\"un wird aber (vielleicht ist es diese Stelle, wo das, was ich Ihnen letztes Mal gesagt habe, nicht ganz klar war) keine dieser ·:ier Veridiktionen - weder die der Götter, Apollons oder _'ithenes, noch die beiden menschlichen Veridiktionen Kreu,as, die Verwünschung und das Eingeständnis - im Text als parrhesia bezeichnet. Nur das wird, wie gesagt, parrhesia ge::lannt, wonach Ion sein Bestreben richtet oder was zumindest Sr ihn eine Bedingung für seine Rückkehr nach Athen darstellt. Nur dies, dieses politische Recht, in seiner Stadt den 199
Freimut im Reden auszuüben, wird parrhesia genannt. Keine der anderen Veridiktionen wird als parrhesia bezeichnet. Was ich Ihnen letztes Mal andeuten wollte, besteht einfach darin, daß die bei den Veridiktionen Kreusas (die Veridiktion der Verwünschung und die Veridiktion des Eingeständnisses), die Euripides nicht parrhesia nennt, erst später mit diesem Begriff bezeichnet werden. Die Verwünschung des Starken durch den Schwachen, wobei der Schwache seine Gerechtigkeit gegen den Starken, der ihn unterdrückt, einfordert, wird später parrhesia genannt werden, wie man auch jene vertrauensvolle Öffnung des Herzens parrhesia nennen wird, durch die man seine Fehler demjenigen eingesteht, der in der Lage ist, einen zu leiten. In diesem Text jedoch wird das Wort parrhesia nur jenem Recht vorbehalten, das schließlich von Ion erlangt wird. Zusammenfassend läßt sich also folgendes sagen: Einerseits ist keiner der Götter Inhaber der parrhesia. Weder das so schweigsame Orakel Apollons noch das verkündende Sprechen Athenes am Ende des Stücks gehören dem Bereich der parrhesia an, und niemals werden die Götter in der griechischen Literatur mit parrhesia ausgestattet. Die parrhesia ist eine menschliche Praxis, sie ist ein menschliches Recht, ein menschliches Risiko. Zweitens stellt uns der Text des Ion drei Praktiken des Wahrsprechens vor. Eine davon wird von Euripides selbst in diesem Text parrhesia genannt. Wir können sie die politische oder politisch-statusbezogene parrhesia nennen: Das ist das berühmte Statusvorrecht, das an die Geburt geknüpft ist und in einer bestimmten Art und Weise besteht, die Macht durch die Rede und das Wahrsprechen auszuüben. Das ist die politische parrhesia. Dann haben wir eine zweite Praxis, die an eine Situation der Ungerechtigkeit gebunden ist. Weit davon entfernt, das durch den Mächtigen über die Mitbürger ausgeübte Recht auf ihre Führung zu sein, ist es im Gegenteil der Schrei des Ohnmächtigen gegen denjenigen, der seine Gewalt mißbraucht. Dies wird in diesem Text noch nicht parrhesia genannt, sondern erst später. Man könnte es die gerichtliche parrhesia nennen. Schließlich findet man in dem Text eine dritte Praxis des 200
'i';:-ahrsprechens, die darin ebenfalls nicht als parrhesia bezeich:::ct wird, sondern erst später. Diese Praxis könnte man die ::loralische parrhesia nennen. Sie besteht darin, den Fehler einn.gestehen, der das Gewissen belastet, und zwar demjenigen :einzugestehen, der einen leiten und einem helfen kann, aus der \~erzweiflung oder dem Gefühl herauszukommen, das man :::em eigenen Fehler gegenüber hat. Das ist die moralische par:r.hesia. Ich glaube also, daß wir in diesem großen Ritual der ver,~hiedenen Arten des Wahrsprechens, das das Grundgerüst des slL'1Zen Stückes bildet, einerseits die Vorstellung erkennen :=önnen, die ausdrücklich politische parrhesia genannt wird, :.:nd andererseits die beiden Schemata oder Skizzen von Praktiken der Wahrheit, die man später parrhesia nennt: die gericht;';che und die moralische parrhesia. Diese Bemerkungen soll:en, wenn auch nur schematisch, aufklären, was man in dem Sr'ick über die parrhesia findet. Ich möchte jedoch noch auf die ~,ditische parrhesia eingehen, da sie ja im Zentrum des Stückes seeht - die beiden anderen (die gerichtliche und die moralische) iienen nur als Mittel und werden nicht einmal parrhesia ge:::annt. Kommen wir also auf das, was auf dem Spiel steht, auf ias Zentrum des Stückes zurück, auf jene politische parrhesia, .iie Ion braucht, um nach Athen zurückzukehren. Worum geht es dabei? Erstens glaube ich, daß die parrhesia, die Ion so dringend bereötigt und die für seine Rückkehr notwendig ist, zunächst eine ciete Verbindung zur Demokratie hat. Man kann sagen, daß es eine Art von Zirkularität zwischen Demokratie und parrhesia sibt, denn zu welchem Zweck will Ion nach Athen zurückkeh:-en, wenn es sein Schicksal ist, das zu tun? Nun, er soll die Um-v.-andlung vollziehen, mit der sein Name verbunden sein wird, d. h. die Gliederung von Athen in vier Stämme gemäß jener Yedassungsform, die den verschiedenen Einwohnern Athens ias Recht verleihen wird, ihre Meinung über Probleme zu äu~ :;ern, die die Stadt betreffen, und die Führer zu wählen. Damit Ion nach Athen zurückkehren und die Demokratie begründen kann, braucht er die parrhesia. Die parrhesia wird folglich in 201
der Person Ions die Grundlage der Demokratie selbst sein, zumindest aber ihr Ursprungs- oder Ankerpunkt. Damit die Demokratie möglich ist, muß es parrhesia geben. Aber umgekehrt ist die parrhesia, wie Sie wissen - und der Text von Polybios, den ich vorhin zitiert habe, zeigt das auch -, einer der charakteristischen Züge der Demokratie. Sie ist eine der wesentlichen Dimensionen der Demokratie. Das bedeutet aber, daß die Demokratie notwendig ist, damit die parrhesia möglich wird. Für die Demokratie ist die parrhesia notwendig, und für die parrhesia ist die Demokratie notwendig. Wir haben hier eine wesentliche Zirkularität, und in diese Zirkularität möchte ich nun eintreten und versuchen, die Beziehungen zu erhellen, die zwischen der parrhesia und der Demokratie bestehen, d. h. ganz einfach, das Problem des Wahrsprechens in der Demokratie in Angriff zu nehmen. Zunächst muß das begriffliche Feld - immer noch in diesem Stück Ion, seien Sie beruhigt, ich werde bald damit fertig sein-, mit dem dieser Begriff verknüpft ist, etwas in Erinnerung gebracht werden. Sie erinnern sich, daß Ions große Tirade mit folgender Behauptung endete: Wie dem auch sei, ich möchte jedenfalls nach Athen zurückkehren, aber nicht, ohne zu wissen, wer meine Mutter ist. Ich muß wissen, wer meine Mutter ist, weil ich in Athen keine parrhesia haben werde, wenn ich das nicht weiß. In dieser großen Tirade, die wir vor zwei Wochen erläutert haben, war jene Notwendigkeit, jenes Bedürfnis Ions nach der parrhesia an eine Reihe von Dingen gebunden. Erstens an den Willen Ions, im ersten Rang unter den Bürgern zu sein. Er verwendet den Ausdruck »proton zygon«, was »erster Rang« bedeutet. 2 Unter »erstem Rang« muß man, wie gesagt, nicht verstehen, der erste vor allen anderen zu sein, sondern eher: in der kleinen Gruppe von Leuten zu sein, die die erste Reihe der Bürger ausmachen. Es ist, glaube ich, wichtig, das Bild einer Reihe von Soldaten an vorderster Front im Gedächtnis zu behalten. Es handelt sich um eine Gesamtheit von Individuen, die im ersten Rang stehen. Wenn er die parrhesia haben will, dann deshalb, um in diesem »ersten Rang« zu sein. 202
Zweitens war der Wille, die parrhesia zu erlangen, in dieser Ti-ade mit einer sehr interessanten Klassifikation der Bürger ver.:lmden, die in einem anderen von Euripides'3 Stücken nicht in .\bhängigkeit vom Reichtum, sondern in Abhängigkeit vom Problem der dynamis (von der Gewalt, von der ausgeübten ~\Iacht, der Machtausübung) vorgenommen wurde. Er unters:hied drei Kategorien von Bürgern: die adynatoi (die, die kei:lt Macht haben, die keine Macht ausüben und die, kurz gesagt, die Leute des Volkes sind); zweitens diejenigen, die hinrei:r:end vermögend und von hinreichend edler Herkunft sind, lEIl sich um die Angelegenheiten des Staats zu kümmern, die aber tatsächlich nicht darum kümmern; und dann drittens diejenigen, die sich wirklich um den Staat kümmern. 4 Die er5~en sind also die Ohnmächtigen. Die zweiten sind die sophoi die Weisen). Und die anderen, nun, das sind die Mächtigen, die 5::h um den Staat kümmern. Es ist klar, daß die parrhesia diese d.,itte Kategorie betrifft, da einerseits jene, die unfähig und ohn:-:lächtig sind, das Wort nicht ergreifen dürfen; über diejenigen, die sich nicht um die Angelegenheiten des Staats kümmern, sagt der Text ganz deutlich, daß sie schweigen. Und wenn sie schwei;tn, dann gebrauchen sie auch die parrhesia nicht. Die parrhe5:" betrifft also jene, die sich um den Staat kümmern. Drittens warf der Gebrauch der parrhesia in demselben Text :·rtensichtlich eine Reihe von Problemen auf oder setzte viel.-:1ehr denjenigen, der sich auf die parrhesia stützte, einer Reihe -:on Risiken und Gefahren aus, nämlich dem Haß der Leute aus d::m Volk, dem Haß der adynatoi (der Ohnmächtigen); dann dem Gelächter der sophoi (der Weisen); und schließlich der Ri';alität und Eifersucht jener, die sich um den Staat kümmern. ~'lan kann also sagen, daß die parrhesia eine bestimmte Posi::on bestimmter Personen in der Stadt charakterisiert, eine Posieion, die nicht einfach durch die Bürgerschaft oder durch den 5:arus festgelegt ist. Vielmehr zeichnet sie sich durch eine Dy"'.2mik, eine dynamis aus, durch eine bestimmte Überlegenheit, ::e auch im Ehrgeiz und in dem Bemühen besteht, eine solche Position zu erreichen, in der man die anderen lenken kann. 2°3
Diese Überlegenheit ist keinesfalls mit der des Tyrannen identisch, welcher gewissermaßen die Macht ohne Rivalen ausübt, auch wenn er Feinde hat. Die Überlegenheit, die mit der parrhesia verbunden ist, ist eine Überlegenheit, die man mit anderen teilt, aber in Form der Konkurrenz, der Rivalität, des Konflikts, des Lanzenstechens. Es ist eine agonistische Struktur. Ich glaube, daß die parrhesia viel eher als an einen Status an eine Dynamik und einen Kampf oder Konflikt geknüpft ist, auch wenn sie einen bestimmten Status impliziert. Die parrhesia hat also eine dynamische und eine agonistische Struktur. Wir sehen nun aber, daß die parrhesia in diesem agonistischen Feld, in diesem dynamischen Prozeß, durch den ein Individuum gewissermaßen innerhalb des Staats seinen Ort wechselt, um dort den ersten Rang einzunehmen, in diesem andauernden Lanzenstechen mit seinesgleichen, in diesem Prozeß, in dem sich der Vorrang der ersten Bürger innerhalb eines agonistischen Feldes behauptet, überall in diesem Text ausdrücklich mit einer Art von Aktivität verknüpft ist, die folgendermaßen bezeichnet wird: polei kai logo chrestai. 5 Polei chrestai bedeutet, sich um die Stadt zu kümmern, ihre Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Logo chrestai bedeutet, sich der Rede zu bedienen, aber der vernünftigen und wahren Rede. Ich glaube also, daß man dies alles so zusammenfassen kann, daß die parrhesia viel weniger einen Status, eine statische Position, ein klassifikatorisches Merkmal bestimmter Individuen in der Stadt charakterisiert als eine Dynamik, eine Bewegung, die jenseits der reinen und bloßen Zugehörigkeit zur Körperschaft der Bürger das Individuum in eine Position der Überlegenheit versetzt, in der es sich um die Stadt mittels der Ausübung des wahren Diskurses kümmern kann. In einer Stellung der Überlegenheit, wo man sich in ständiger Reibung mit den anderen befindet, Wahres zu sagen, um die Stadt zu regieren, das ist, glaube ich, mit dem Spiel der parrhesia verbunden. Kommen wir nun auf Polybios' Text zurück, zu diesem Text, der die Demokratie durch isegoria und parrhesia charakterisierte. Mir scheint, daß das, was ich Ihnen etwas zu ausführ-
_:(;h in bezug auf Ion in Erinnerung gerufen habe und was das SV"jck explizit über die parrhesia sagt, gestatten wird, die sehr :::::erkwürdige Aneinanderreihung von isegoria und parrhesia 25 grundlegende Merkmale der wahren Demokratie aus der von Polybios zu erklären. Was ist die isegoria ? Sie ist das ;:techt zu sprechen, das statusbezogene Recht zu sprechen. Sie :,esteht darin, daß jeder in Abhängigkeit von der Verfassung ier Stadt (ihrer politeia) das Recht hat, seine Meinung abzuge:cen, wie gesagt, entweder, um sich vor Gericht zu verteidigen, ~,der durch die Wahl oder eventuell dadurch, daß er das Wort ",greift. Dieses Recht, zu sprechen, ist für die Bürgerschaft ~:onstitutiv, und außerdem ist es einer der Bestandteile der Stadtverfassung. Andererseits ist parrhesia sowohl mit der po'-:teia (mit der Verfassung der Stadt) als auch mit der isegoria ',-e,bunden. Es ist klar, daß es keine parrhesia geben kann, wenn ':ieses Bürgerrecht nicht existiert, das Wort zu ergreifen, die ~\leinung durch die Stimmabgabe auszudrücken, vor Gericht als Zeuge aufzutreten usw. Damit parrhesia möglich ist, muß es also diese politeia geben, die jedem das gleiche Recht zu spre:hen verleiht (die isegoria). Aber die parrhesia ist etwas ande:res. Sie ist nicht einfach das verfassungsmäßige Recht, das Wort zu ergreifen. Sie ist ein Element, das innerhalb des notwendi;en Rahmens der demokratischen politeia den Individuen ge"artet, einen gewissen Einfluß aufeinander auszuüben, indem sie allen das Recht zu sprechen verleiht. Sie ermöglicht besrimmten Individuen, unter den ersten zu sein und, indem sie - . an die anderen wenden, ihnen zu sagen, was sie denken, 'J,-as sie für wahr halten, was sie wirklich für wahr halten - das ist iie Bedeutung von chrestai logo - und dadurch, daß sie das Wah,e sagen, das Volk durch gute Ratschläge zu überzeugen, um auf iiese Weise die Stadt zu leiten und sich um sie zu kümmern. Die isegoria legt nur den verfassungsmäßigen und institutionellen Rahmen fest, in dem die parrhesia als freie und daher :::::utige Handlung von einigen auftritt, die sich hervortun, das 'I);'ort ergreifen, die anderen zu überzeugen und zu leiten versu:hen, und zwar mit allen Risiken, die das mit sich bringt.
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Wenn ich nun lange auf dieses Spiel der parrhesia eingegangen bin und diesen Text des Ion etwas schleppend gelesen habe, dann deshalb, weil man darin recht deutlich die Art und Weise erkennt, wie sich zwei Gruppen von Problemen trennen, unterscheiden und miteinander verbinden. Erstens die Gruppe von Problemen, die man Probleme der politeia nennen kann: der Verfassung, des Rahmens, der den Status der Bürger, ihre Rechte, die Art und Weise ihrer Entscheidungsfindung, die Wahl ihres Herrschers usw. festlegt. Zweitens die Gruppe von Problemen, die man Probleme der dynasteia nennen könnte, um sie von denen der politeia zu unterscheiden. Das griechische Wort dynasteia bezeichnet die Macht, die Ausübung der Macht - später nimmt es den Sinn der Oligarchie an. Sie werden leicht einsehen, warum. Aber nehmen wir das Wort in seinem allgemeinsten Sinn: Es handelt sich im Grunde um die Ausübung der Macht oder um das Spiel, durch das die Macht in einer Demokratie tatsächlich ausgeübt wird. Die Probleme der politeia sind die Probleme der Verfassung. Ich würde sagen, daß die Probleme der dynasteia die Probleme des politischen Spiels sind, d. h. der Bildung, Ausübung, Begrenzung, auch der Garantie des Einflusses, der von bestimmten Bürgern auf andere ausgeübt wird. 6 Die dynasteia ist auch die Gesamtheit der Probleme der Verfahrensweisen und Techniken, durch die diese Macht ausgeübt wird (in der griechischen bzw. athenischen Demokratie sind das im wesentlichen: die Rede, die wahre Rede, die wahre Rede, die überzeugt). Schließlich ist das Problem der dynasteia die Frage, was der Politiker in seinem Wesen, in seiner eigentlichen Person, in seinen Eigenschaften, in seiner Beziehung zu sich selbst und zu den anderen, in seiner Moral, in seinem ethos ist. Die dynasteia ist das Problem des politischen Spiels, seiner Regeln, seiner Instrumente, des Individuums, das es ausübt. Es ist das Problem der Politik - ich möchte sagen als Erfahrung, d. h. der Politik, verstanden als eine bestimmte Praxis, die bestimmte Regeln befolgen muß, welche auf gewisse Weise die Wahrheit anzeigen, und die seitens desjenigen, der dieses Spiel spielt, eine bestimmte 206
:Cl::-m der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen erfor:,=:L.
scheint, daß um diesen Begriff der parrhesia ein ganzes :dd politischer Probleme entsteht oder daß mit diesem Begriff z::mindest Probleme verbunden sind, die sich von den Proble::'en der Verfassung, des Gesetzes, also der Organisation der S:adt unterscheiden. Es gibt diese Probleme der Verfassung der S:3,dt, die Probleme der politeia. Sie haben ihre eigene Form, sie e:-fordern eine bestimmte Art von Analyse, und sie befinden 5:ch am Ursprung einer Erscheinungsform politischer Reflexidarüber, was das Gesetz ist, was die Organisation einer Gesdlschaft ist und was der Staat sein soll. Zweitens sind die Pro:-.eme der dynasteia, die Probleme der Macht im strengen Sinn, ::;:-obleme der Politik, und nichts erscheint mir gefährlicher als e:ler berüchtigte Übergang von der Politik zum Politischen ::,it sächlichem Artikel (»das« Politische), der mir in vielen zeitgenössischen Analysen 7 dazu zu dienen scheint, das Pro:-:em und die Gesamtheit der besonderen Probleme zu verdek",eil, nämlich die Probleme der Politik, der dynasteia, der Aus-::;::-,ung des politischen Spiels, und zwar des politischen Spiels 225 Erfahrungsfeld mit seinen Regeln und seiner Normativität, 2.:5 Erfahrung, insofern dieses politische Spiel an das Wahrspre:J:::en geknüpft ist und insofern es seitens derjenigen, die es be::-eiben, eine bestimmte Beziehung zu sich selbst und zu den 2.:lderen erfordert. Das ist die Politik, und mir scheint, daß das ?:-oblem der Politik (ihrer Rationalität, ihrer Beziehung Zur 'ahrheit, der Person, die sie ausübt) im Umfeld der Frage ::;.ch der parrhesia entsteht. Außerdem können wir sagen, daß ::'0 parrhesia eigentlich ein Begriff ist, der eine vermittelnde f/,olle zwischen der politeia und der dynasteia spielt, zwischen .:em Problem des Gesetzes und der Verfassung sowie dem Prociem des politischen Spiels. Die Stellung der parrhesia wird :urch die politeia festgelegt und garantiert. Die parrhesia, das ahrsprechen des Politikers, gewährleistet aber auch das ange::",essene Spiel der Politik. In dieser Vermittlungsrolle scheint ::",ir die Bedeutung der parrhesia zu bestehen. Jedenfalls meine 2°7
ich, daß hier die Problematik der immanenten Machtbeziehungen in einer Gesellschaft verwurzelt ist, die im Unterschied zum juristisch-institutionellen System dieser Gesellschaft bewirkt, daß sie effektiv regiert wird. Die Probleme der Gouvernementalität erscheinen - erstmals in ihrer Besonderheit, in ihrer komplexen Beziehung, aber auch in ihrer Unabhängigkeit im Hinblick auf die politeia - im Umfeld dieses Begriffs der parrhesia und der Machtausübung durch den wahren Diskurs und werden in diesem Umfeld formuliert. Nach dieser Feststellung möchte ich nun den Text des Ion verlassen und zur Analyse einer Reihe weiterer Texte übergehen, die uns gestatten werden, das Projekt etwas weiter fortzuführen, das man »die Genealogie der Politik als Spiel und als Erfahrung« nennen könnte. Ich möchte zunächst den Text des Ion mit einer Reihe anderer Texte von Euripides vergleichen, die ich viel knapper behandeln werde, in denen ebenfalls von der parrhesia die Rede ist und in denen die Verwendung des Wortes parrhesia einerseits ermöglicht, eine Reihe von Dingen zu bestätigen, die ich im Hinblick auf Ion gesagt habe, und andererseits weitere Themen oder weitere Probleme hervorzuheben. In den übrigen Texten von Euripides gibt es vier weitere Verwendungsweisen des Wortes parrhesia, vier weitere Texte, in denen das Wort parrhesia verwendet wird. Die erste Verwendung haben wir in einem Stück, das den Titel Die Phoinikierinnen trägt und in dem Euripides die berühmte Dynastie des Ödipus schildert (die von Eteokles und Polyneikes), worin den Tatsachen oder der Handlung zufolge, die er als Vorlage nimmt, Polyneikes im Grunde die Demokratie, die Position des Demokraten, und Eteokles im Gegensatz dazu die Position des Tyrannen vertritt. Nach der Handlung, die er als Vorlage wählt, lebt Jokaste noch immer. Sie steht zwischen ihren beiden Söhnen, dem Demokraten und dem Tyrannen. Die Handlung schreibt nun vor, daß Polyneikes, der aus Theben verbannt wurde - während Eteokles dort geblieben ist und die Macht ausübt -, Jokaste begegnet. Jokaste begegnet ihrem Sohn Polyneikes und befragt ihn darüber, wie er die Verb an208
:::lI1g empfindet. »Der Heimat fern zu sein«, fragt sie, »fällt es ::ir schwer?« Polyneikes antwortet: »Sehr schwer! Viel schwe:-:,r, als ich sagen kann.« J okaste: »Worin denn liegt's? Was pei:-cigt den Verbannten?« Polyneikes: »Vor anderm eins«: ouch ::bei parrhesian (er hat die parrhesia nicht; »ihm fehlt der Rede ?::eiheit« heißt es in der Übersetzung). J okaste: »Ein Sklav', der, "7QS er denkt, nicht sagen darf (me legein ha tis phronei).« Poly::=ikes: »Des Mächt'gen Unverstand muß er ertragen« (wenn ::'"2.n verbannt ist und also keine parrhesia hat). Jokaste fügt ':-:inzu: »Schrecklich, dem Narren helfen, Narr zu sein! ", jeden... nicht weise sein zu können, wenn man unter der Macht :::,r Unweisen steht (tois me sophois).8 Wie gesagt, ich möchte :-cicht zu lange auf diese Passage eingehen, sondern nur auf folgendes hinweisen: Sie sehen, daß es hier - was schon im Ion g;.nz deutlich war - eine notwendige Verbindung zwischen der :;czrrhesia und dem Status einer Person gibt. Wenn jemand aus s;~iner Stadt verjagt wurde, wenn er nicht mehr zuhause ist, '7,'enn er also verbannt ist, kann er dort, wo er als Verbannter .:,bt, natürlich nicht die Rechte eines Bürgers zu Hause und ,-Clch keine parrhesia haben. Im Ion fanden wir noch etwas '\('eiteres, nämlich daß man von dem Moment an, wo man die ::crrrhesia nicht mehr hat, wie ein Sklave (doulos) ist. 9 Es gibt je::och im Vergleich mit Ion etwas Neues, nämlich Folgendes: ;;renn man die parrhesia nicht mehr hat, so der Text, ist man gezvlUngen, die Dummheit der Mächtigen zu ertragen. Und es gibt nichts Schlimmeres als mit den Verrückten selbst verrückt, ~it den Dummköpfen selbst dumm zu sein. Was zeigt nun und -;;:a5 bedeutet die Erwähnung der Tatsache, daß man ohne par'"!Jesia gewissermaßen den Wahnvorstellungen der Mächtigen ::2nterworfen ist? Nun, sie zeigt, daß die Funktion der parrhesia gerade darin besteht, die Macht der Mächtigen begrenzen zu i.önnen. Wenn es parrhesia gibt und der Mächtige anwesend ;st - der Mächtige, der verrückt ist und seinen Wahnsinn den 3c."1deren aufzwängen will-, was tut dann derjenige, der die par:'IJesia ausübt? Er erhebt sich, ergreift das Wort und sagt die '\\'ahrheit. Gegen die Dummheit, gegen den Wahnsinn, gegen 2°9
die Verblendung des Mächtigen wird er die Wahrheit sagen und dadurch den Wahnsinn des Mächtigen begrenzen. Wenn es keine parrhesia gibt, sind die Menschen, die Bürger und alle anderen dem Wahnsinn des Mächtigen ausgeliefert. Und dann ist nichts schmerzhafter, als gezwungen zu sein, den Wahnsinn der Wahnsinnigen mitzumachen. Die parrhesia wird also den Wahnsinn des Mächtigen durch das Wahrsprechen dessen begrenzen, der zwar gehorchen muß, der aber gegenüber dem Wahnsinn des Mächtigen berechtigt ist, ihm das Wahre entgegenzuhalten. Der zweite Text, in dem man den Begriff der parrhesia findet, ist ein Text aus der Tragödie Hippolytos, und zwar am Ende der Geständnisse von Phaidra, am Anfang des Stückes. Phaidra gesteht den Fehler oder vielmehr die Liebe ein, die sie für Hippolytos empfindet. Sie bekennt sie, wie Sie wissen, gegenüber ihrer Dienerin, jener, die zur Oinone der Racineschen Komödie wird. Es kommt ein Zeitpunkt, wo sie nach diesem Eingeständnis ihren eigenen Fehler anerkennt und gewissermaßen das Bewußtsein dieses Fehlers besiegelt und alle Frauen verflucht, die ihr Bett entehren. lo Diesen Fluch rechtfertigt sie auf dreierlei Weise. Erstes Argument: weil die Frauen, die so ihr Ehebett entehren, ein schlechtes Beispiel geben; wenn die edlen Frauen nicht zögern, solche Schande zu begehen, dann werden die anderen es erst recht tunY Zweites Argument: Wie soll man seinem Lebensgefährten, seinem Gatten, den man betrügt, ins Gesicht sehen? Die Nacht selbst könnte reden. Man muß die offensichtliche, öffentliche Entehrung fürchten, die man seinem Gatten antut. l2 Drittens schließlich das Problem der Kinder. Sie sagt: »als freie Männer freimütig (parrhesia), furchtlos sollen sie die Stadt Athen bewohnen, stolz auf ihre Mutter. Selbst der Beherzte wird ein feiger Sklav', wenn er um seiner Eltern Schande weiß.«13 Das bedeutet, daß die parrhesia in einem solchen Fall als Recht erscheint, das man ausüben kann, aber nur unter der Bedingung, daß die Eltern sich keines Vergehens schuldig gemacht haben. Was für ein Vergehen? Es handelt sich dabei keineswegs um ein solches Vergehen, das ei210
=:"n des Bürgerstatus berauben könnte, das jemanden und sei=:" Eltern also mit einer rechtlichen Schmach belegen könnte.
\-;dmehr ist es ein moralisches Vergehen. Die bloße Tatsache, :::d; jemand, ein Sohn, sich der Vergehen einer Mutter oder ei=:,,5 Vaters bewußt sein könnte, so der Text, macht ihn zum 5::J.aven. Das bedeutet abermals, daß gemäß dem Prinzip, wo:-:2.ch es für einen Edelmann dem Sklaventum gleichkommt, :-::cht sprechen zu dürfen, das Bewußtsein des Vergehens des ',-arers oder der Mutter hinreicht, einen Mann zu einem Skla···"n zu machen und ihn des Freimuts im Reden zu berauben. Hi"r ist es vollkommen klar, daß die parrhesia nicht einfach ::ufch den Status verliehen wird. Auch wenn der Status des 3'i:-gers für die parrhesia notwendig ist, wird noch etwas mehr ;::iordert: Die moralische Qualität der Nachkommen, die mof2.}ischen Qualitäten der Familienmitglieder - und daher auch ::::r Vorfahren - sind ebenfalls erforderlich. Es handelt sich also 2m eine persönliche Qualifikation, die notwendig ist, um die :--~17hesia genießen zu können. ::)::n dritten Text finden wir in Die Bakchen. Dort gibt es eine ',-::rwendung des Wortes parrhesia, die zwar noch randständiger -s: als in den vorangehenden Texten, die aber dennoch interes:'2Clt ist. Dieses Mal wird das Wort von einem Boten verwendet, ::- h. von einem Diener, der Pentheus eher unangenehme N achnchten überbringt, die sich auf die Ausschweifungen der Bak::,::n beziehen. Der Diener tritt also vor Pentheus und sagt ihm :.olgendes: Ich möchte wissen, ob ich dir diese Nachrichten die Ausschweifungen der Bakchen) in völliger Offenheit ::::zrrhesia) berichten oder ob ich meine Zunge zügeln sol1. 14 ::)::nn »ich fürchte mich vor deiner raschen, zornmüt'gen, allzu ::öniglichen Art.« Worauf Pentheus erwidert: »Sprich nur! c.~on mir wird dir kein Haar gekrümmt.«15 In der Tat werden :.:mn die Bakchen bestraft. Hier haben wir also eine Verwen:ung des Wortes parrhesia, die sich dieses Mal nicht auf den 5:2.tus des Regierenden oder des Mannes bezieht, der sich unter ::::Cl ersten Bürgern hervortut, das Wort ergreift und die ande[:"Cl überzeugt und leitet. Es ist die parrhesia des Dieners, aber 2II
eben des Dieners, der in einer ähnlichen Situation ist, in der wir Kreusa gesehen haben. Er ist schwach. Er steht vor jemandem, der mächtiger ist als er, und insofern geht er ein Risiko ein. Er geht das Risiko ein, den Zorn dessen heraufzubeschwören, an den er sich wendet, und er möchte nicht sagen, was er zu sagen hat, wenn er sich nicht sicher ist, daß der Freimut, mit dem er es sagen wird (seine parrhesia), nicht bestraft werden wird. Pentheus antwortet nun als guter und weiser Herrscher: Mir liegt daran, die Wahrheit zu wissen, und du wirst niemals dafür bestraft werden, daß du mir die Wahrheit gesagt hast. Du kannst sprechen, du hast nichts von mir zu befürchten, »von mir wird dir kein Haar gekrümmt«. Der Diener, der die Wahrheit sagt, tut seine Pflicht. Pentheus garantiert ihm, daß er nicht bestraft werden wird. Das könnte man das parrhesiastische Abkommen nennen: Wenn der Mächtige ordentlich regieren will, muß er akzeptieren, daß diejenigen, die schwächer sind als er, ihm die Wahrheit sagen, selbst wenn diese unangenehm ist. Schließlich ist der vierte Text, der zweifellos wichtiger als die drei vorangehenden ist und in dem das Wort parrhesia ebenfalls verwendet wird, die Tragödie Orestes, und zwar in den Versen 866ff. Worin geht es in dem Stück und an dieser Stelle der Handlung? Orestes hat Klytaimnestra getötet, um den Tod Agamemnons zu rächen. Nach dem Mord an seiner Mutter wurde Orestes von den Argivern und jenen, die auf der Seite Klytaimnestras stehen, ergriffen. Er wird nun vor Gericht geführt, d.h. vor die Versammlung der Bürger von Argos. Und die Bürger von Argos sollen über ihn richten. Sie sollen über ihn richten, und der Prozeß wird nun in dem Stück von einem Boten geschildert, der die Nachricht an Elektra überbringt: »Als Argos' Menge vollgedrängt im Kreise war, trat auf ein Herold und begann: >Wer unter euch verlangt zu reden, ob Orestes sterben soll, der Muttermörder ?< [das ist genau die Formel, die vor der athenischen ekklesia gebraucht wurde, wenn es darum ging, jemanden für ein so schweres Verbrechen zu verurteilen. Die Formel» Wer will das Wort ergreifen?« ist also rituell. 2I2
Janach werden sich nacheinander vier Personen erheben; E] Da stand auf Talthybios, der deinem Vater [Agamem::on; M. E] Ilion zerstören half [Talthybios ist bei Homer der Herold von Agamemnon, der das Wort der Mächtigen verkün:et, der für sie spricht; M. E]. Er redet doppelsinnig, denn er :::-önte stets den Machtbegabten: deinen Vater pries er hoch, :'och deinen Bruder lobt er nicht, sein böses Wort in gutes hül_~nd; denn er hab in seiner Tat ein schlimmes Vorbild aufge,:dlt: und immerfort warf er Aigisthos' Freunden zu den fro,-,eIl Blick. Das ist ja dieser Menschen Art: den Glücklichen .:mschwärmen stets Herolde; wer die Macht besitzt, wen hohe 'X'ürden schmücken, der ist ihnen wert. Nach ihm erhob sich ;)iomedes, Argos' Fürst [Diomedes ist bei Homer zugleich der Held des Mutes und der Held des guten Rates; M.F.]. Er oTImmte wider deinen [Elektras; M. E] und des Bruders [Ore5:eS'; M. E] Tod; wenn euch Verbannung strafe, sei das Volk ;esühnt. Beifallend riefen viele laut, er rede wohl; die anderen 5chalten. Und nach ihm stand einer auf von zügelloser Zunge, durch frechen Mut, gezwungen nur Argeier, nicht aus .\rgos selbst, auf lauten Beifall pochend und auf törichten Frei=-ut [Sie sehen: ich glaube hier ist die Übersetzung etwas wic:ersinnig], beflissen, Schmach zu häufen auf das Volk. Der riet, C>restes auf den Tod zu steinigen und dich: er sprach als einer, C:er auf euren Mord es abgesehen, von Tyndareos aufgestellt. ::'in andrer, nun auftretend, sprach entgegen ihm [dem mit der zügellosen Zunge; M. E], nicht lieblich zwar im Äußern, doch ::::'""1 edler Mann [ein mutiger Mann: andreios; M. E]; die Stadt ::-.csucht er selten und des Marktes Rund, sein Feld bestellend ;;!ltourgos) - was allein das Land erhält - doch auch erfahren, -,;;enn er will, im Redekampf; unsträflich lauter wandelt er sein Leben lang. Er riet, Orestes, Agamemnons Heldensohn, zu :-..ranzen, der den Vater rächt aus eignern Trieb und jenes schnöie, gottvergessne Weib erschlug, das jedem Mann sich den Arm zu waffnen wehrt und aus der Heimat auszuziehn in fer--::en Krieg, wenn, die zu Hause blieben, ihm des Hauses Hut, sein Weib, verführen und des Gatten Bett entweihn. Und edle 21 3
Männer fanden gut, was er gesagt.«16 Die edlen Männer gaben ihm Recht. Aber Sie werden sehen, daß die Angelegenheit damit nicht erledigt ist. Wir haben hier also das typische Bild, die getreue Darstellung eines Prozesses mit anerkannten rituellen Formeln. Es gibt vier Redner, die das Wort ergreifen (logo chrestai: sich des logos bedienen).17 Zuerst Talthybios, der Herold also, d. h. der offizielle Sprecher, der Nachrichten überbringt und der im Namen der Machtausübenden spricht, als Botschafter im Ausland, Sprecher in der Stadt usw. Definitionsgemäß ist seine Rede nicht frei, da er ja gerade die Funktion hat, die Rede derer zu übermitteln, die schon Macht ausüben. Deshalb kann er sich nicht in seinem eigenen Namen und für sich selbst erheben und sagen: Ich werde euch meine Meinung und meine Gedanken kundtun. Seine Rede ist die eines Leibeigenen, sie gehorcht, sie ist die Rede der bereits bestehenden Macht. Es ist merkwürdig, daß der Text verschweigt, welchen Rat er der Versammlung gibt. Es wird bloß gesagt, daß seine Worte dichomytha 18 sind: doppeldeutige Worte, die der Dynastie von Agamemnon, Orest und Elektra usw. entgegenkommen, da sie noch die Mächtigen sind; andererseits müssen sie aber auch Ägisthos gefallen. Und deshalb ist dieser Rat, dessen Inhalt wir, wie gesagt, nicht kennen, dichomythos (eine doppeldeutige Rede). Ihm gegenüber haben wir Diomedes, der ebenfalls ein Held aus der !lias ist, ein mythischer Held, der ein Vorbild an Mut und ein hinreißendes Beispiel von Sprachgewalt ist. Er wird - hier ist der Gegensatz zur vorangehenden Person sehr deutlich und sehr interessant - eine maßvolle Meinung abgeben. Während der eine eine doppeldeutige Sprache verwendet, wird Diomedes gewissermaßen den mittleren Weg, den gemäßigten Weg zwischen den beiden Extremen wählen. Während der eine die beiden Extreme vorstellt und die beiden Ratschläge einander überlagert, um jedermann zufriedenzustellen, wird Diomedes den mittleren Weg einschlagen. Er wird zwischen den Anhängern des Freispruchs und den Anhängern des Todesurteils eine gemäßigte Entscheidung vorschlagen, nämlich die weise Ent21 4
':heidung des Exils. Während Talthybios' dichomytha dazu ;::::nacht sind, jedermann zufriedenzustellen, wird Diomedes' ;::::näßigte und mittlere Rede die Zuhörerschaft dagegen in z,rei Teile spalten. Es gibt, so der Text, diejenigen, die ihm zu5::::nmen, und jene, die ihn tadeln. Der eine will von allen Zu;:i::nmung erhalten. Das ist natürlich der Schmeichler. Dann es jene, die den mittleren Weg einschlagen und dadurch die "-ersammlung in die Zustimmenden und die Tadelnden aufhaben hier zwei homerische Persönlichkeiten, zwei Perso[leI}, die der Legende entstammen. Die beiden folgenden Per;:men sind dagegen unmittelbar aus der Geschichte Athens c:nlehnt, und zwar zu der Zeit, als das Stück geschrieben wur.':e. Das Stück wurde 408 geschrieben - wir werden gleich darzurückkommen -, d. h. zehn Jahre nach Ion. Während die"er zehn Jahre hat das Problem der parrhesia, das Problem der ::,fiteia und der dynasteia, das Problem der Machtausübung in zer athenischen Verfassung, eine neue Dimension, Intensität ~:1d Dramatik angenommen. Jedenfalls haben wir es mit zwei :Jersonen zu tun, die sich wie eine bürgerliche oder gar bour;eoise und zeitgemäße Nachbildung oder Wiederholung der :: eiden homerischen Personen ausnehmen (der Held und der ::-ierold, Diomedes und Talthybios). Worin bestehen ihre nach;ebildeten Eigenschaften? wird der mit der ungezügelten Sprache, der Scholiast ::e griechische Überlieferung sagte, daß diese Person mit der ~"gezügelten Sprache die Nachbildung, die Karikatur des be~":chtigten Demagogen Kleophontes 19 sei - nun charakteri;'er{? Er wird durch seine Heftigkeit und Kühnheit charakte';siert. Er wird durch die Tatsache charakterisiert, daß er kein -. ollargeer ist und der Stadt gewaltsam aufgedrängt wurde. Wir ::"den also folgendes Problem wieder: Der wahre Parrhesiast, .':ef die richtige parrhesia gebraucht, muß ein Vollbürger, ein cc:eingesessener Bürger sein. Er muß, wie in der Dynastie des ':::rechtheus, vor Ort geboren sein. Jene, die später das Stadterworben haben und die nachträglich assimiliert wurden, 21
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ohne daß ihre Familie zur Körperschaft der Bürger gehört, können nicht wirklich angemessen und ordentlich die parrhesia ausüben. Die parrhesia der dritten Figur ist amathes, heißt es im Text, d. h. ungebildet, grob, ungeschliffen. 20 Sie ist eine parrhesia, die, wenn sie amathes ist, sich nicht an der Wahrheit orientiert. Sie ist nicht in der Lage, in einem vernünftigen und der Wahrheit verpflichteten logos ausgesagt zu werden. Was kann sie dann nur tun? Nun, sie kann dem Text zufolge überreden (pithanos).21 Sie kann auf die Zuhörer einwirken, sie kann sie mitreißen, sie kann zu einer Entscheidung führen. Aber sie führt nicht dazu, weil sie Wahres sagt. Sie kann zu einer Entscheidung führen, obwohl sie nichts Wahres zu sagen weiß, und zwar durch die Verfahren der Schmeichelei, der Rhetorik, der Leidenschaft usw. Das ist es, was ins Unglück führen wird. Die vierte Person ist ebenfalls eindeutig ein Zeitgenosse, dem man keinen Namen gegeben hat, weil es sich um eine typische Persönlichkeit handelt, um eine gesellschaftliche Persönlichkeit. Ihre Beschreibung ist sehr bemerkenswert. Erstens handelt es sich um jemanden, der anscheinend nicht schmeichlerisch ist. Er wird daher nicht sein Aussehen, seine Ansehnlichkeit in Anschlag bringen können. Dagegen kann er für sich in Anspruch nehmen, andreios zu sein: Er ist mutig. Dieser Mut bezieht sich auf zweierlei: einerseits auf den körperlichen Mut, wie es der Text darstellt, auf den Mut des Soldaten, der in der Lage ist, sein Land zu verteidigen (so heißt es im Text); außerdem ist er bereit, an Redewettkämpfen teilzunehmen. Es handelt sich also um den militärischen Mut gegenüber den Feinden, aber auch um die Zivilcourage gegenüber den Rivalen, angesichts von inneren Feinden der Stadt, angesichts derer, die immer dazu bereit sind, dem Pöbel zu schmeicheln. Sein zweites Merkmal besteht darin, akeraios 22 zu sein, d. h. er ist rein, ohne Makel, untadelig. Das bezieht sich zugleich auf die Integrität seines Lebenswandels und auf seine Sorge um Gerechtigkeit. Schließlich ist er xynetos, er ist klug. 23 In der Klugheit (einer Qualität des Verstandes), der moralischen Qualität und der 216
:=igenschaft des Mutes haben wir die drei grundlegenden, trai:nonell anerkannten Tugenden. Aber diesen drei Tugenden, .i:e der wahren und richtigen parrhesia zugrunde liegen, wird ~:Tl interessantes gesellschaftliches und politisches Merkmal :cinzugefügt. Sie erinnern sich, daß in dem Text von diesem der alle Tugenden in sich vereinigt, erstens gesagt wird, iili er sehr selten in die Stadt und sehr selten auf die agora geht. Jas bedeutet, daß er nicht immer dort herumsitzt und um jeien Preis seine Meinung zum Besten geben will, indem er sich und seine Zeit in endlosen Diskussionen verliert. Zwei:eTlS ist er ein autourgos: einer, der mit seinen Händen arbeitet. 1:::- ist keineswegs ein Landarbeiter noch ein Diener, sondern :::n Kleinbauer, der die Hand an den Pflug legt, der Land besitzt, ein Stück Erde, das er bestellt und für das er sich einsetzt. :::Jn'on ist die Rede im Text, wenn es heißt: Er gehört zu jener :~ategorie von Leuten, die ihr Land (ge) erhalten. Hier gibt es :~ien Gegensatz zwischen agora und ge: agora, das ist der Ort ::er häufig fruchtlosen politischen Diskussion, die oft mit ge:~~rlichen Auseinandersetzungen verbunden ist; ge ist die Erde, "::e man kultiviert, der Reichtum des Bodens, für den man be:-eit ist, sich zu schlagen. Daß nun dieser autourgos, dieser t.Jeinbauer, der imstande ist, für sein Land zu kämpfen, Euri.:;des' positiver politischer Bezugspunkt ist - ein Bezug, der , natürlich auf den Peloponnesischen Krieg richtet und auf ,'le vergangenen Kämpfe -, wird durch das Hauptargument :esütigt, das dieser autourgos zugunsten Orests vorlegt: Orest ::at, indem er Klytaimnestra tötete, alle Soldaten gerächt, die --·:n ihren Frauen betrogen werden, während sie in den Krieg ;<:zogen sind. Man könnte meinen, daß dieses Argument im :-linblick darauf, was in der Tradition der griechischen Tragö:::e über Orest gesagt wurde, insbesondere bei Aischylos, et7,;as prosaisch ist. Dennoch ist es insofern sehr interessant, als iadurch eine Kategorie von Kleingrundbesitzern bezeichnet . , denen eine regelrechte politische Bewegung, die zu jener Zeit in Athen sehr bedeutsam war, die effektive Ausübung der vorbehalten wollte. Was Euripides in dieser Passage 21 7
deutlich zeigt, ist, daß die dynasteia in der Stadt, daß die wirkliche Ausübung von Macht nicht jenen anvertraut werden soll, die den ganzen Tag auf der agora herumhängen oder in der Stadt spazierengehen, sondern daß diese dynasteia tatsächlich den autourgoi vorbehalten sein soll, jenen, die mit ihren Händen ihr eigenes Feld bearbeiten und bereit sind, die Stadt zu verteidigen. Übrigens drehten sich zu jener Zeit um diesen Punkt viele Reformprojekte, die man reaktionär nennt, weil sie gegen die athenische Demokratie oder Demagogie gerichtet waren, insbesondere war das das Reformprojekt des Theramenes. 24 Was wird nun aber nach dieser Auseinandersetzung zwischen den vier Personen (den beiden mythischen Personen einerseits und den beiden wirklichen Personen, dem Demagogen und dem kleinen Grundbesitzer) - an diesem Punkt werde ich vorerst stehenbleiben - geschehen, und wie wird die Versammlung entscheiden? Der autourgos hat also gerade gesprochen. »Und edle Männer fanden gut, was er gesagt. Und keiner sprach mehr.«25 Dann tritt Orest hervor und trägt seine eigene Verteidigung vor. Hier haben wir nun den Ausgang und das Urteil. Orest »schien [er] wahr zu reden, doch das Volk war taub, und jener Üble siegte, der zur Menge sprach, für deines Bruders stimmend und für deinen Tod.«26 So wird Orest zum Tode verurteilt. Warum? Nun, weil der Sieg an den schlechten Redner ging, an den, der von einer ungebildeten parrhesia Gebrauch machte, von einer parrhesia, die sich nicht am logos der Vernunft und Wahrheit orientiert. Dieser Sieg bringt in diesem Stück, das, wie gesagt, zehn Jahre nach Ion geschrieben und aufgeführt wurde, das üble Gesicht der parrhesia, ihr dunkles und teuflisches Profil zum Vorschein. Diese parrhesia hatte Ion lange gesucht, und ohne sie wollte er nicht nach Athen zurückkehren, da sie die Demokratie begründen sollte, welche ihrerseits der parrhesia einen Platz einräumen sollte. Nun also löst sich der positive Zirkel, der Zirkel, der für die richtige Demokratie konstitutiv ist, nämlich zwischen der parrhesia und der Verfassung des Staats, auf. Das Band zwischen der parrhesia und der Demokratie ist ein problematisches, ein schwieriges, 2I8
=i" gefährliches Band. Eine falsche parrhesia ist im Begriff, die ::::Ycmokratie zu überwältigen. Auf dieses Problem der Ambi;2:l:rät der parrhesia, das auf diese Weise im Text gestellt wird, :::-:ochte ich nachher eingehen. Anmerkungen : »Eine reinere, von echter em Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung, der Meinungsfreiheit, kurz, einer wahren Demo;Uatie wird man nicht leicht finden, als sie bei den Achaeern besteht üegorias kasi parrhesias kai katholou demokratias alethines systema :eaiproairesin eilikrinesteran ouk an heuroi tis tes para tois Akaiois hy~archouses)« (Polybios, Geschichten, 2> Buch, übers. v. Hans Drexler, Zürich und Stuttgart I961, 38, 6, S. 149). Vgl. den ersten Hinweis auf diese Passage in der Vorlesung vom I2. Januar. ~ Euripides, Ion, Vers 595, in: Tragödien, a. a. 0., S. 261. , Euripides, Die Schutzjlehenden, Verse 238-245, in: Sämtliche Tragödien, Bd. 2, a. a. 0., S. 37 8. -" Euripides, Ion, Verse 597-602, a. a. 0., S. 26 I. : Ebd., Verse 602-603. :', :\1an kann hier an das von Foucault im September I97 2 vorgestellte Projekt einer »Dynastik des Wissens« erinnern (Untersuchung der »Beziehung, [die] zwischen diesen großen Diskurstypen [besteht], die man in einer Kultur beobachten kann, und den historischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen ihres Auftretens und ihrer Bildung« [>,Von der Archäologie zur Dynastib<], in: Dits et Ecrits, II, :'\r. I 19, S. 506). - Diese Unterscheidung wird insbesondere von Claude Lefort ausgearbeitet, beispielsweise in »Permanence du theologico-politique ?« >'9 81 ), (dt.: Fortdauer des Theologisch-Politischen, Wien 1999), und ,La Question de Ja democratie« (1983). Diese Texte werden in Essais 5:,r le politique (Paris 1986) wieder aufgenommen. ; Euripides, Die Phoinikierinnen, Verse 388-394, in: Tragödien, Zürich "nd München 1990, S. 408. o ,·Ein Sklav' (doulo tod' eipas), der, was er denkt, nicht sagen darf« (ebd., \"ers 392). : >,Fluch sei der ersten Frau, die einst gewagt, ihr Ehebett zu schänden mit fremdem Mann!« (Euripides, Hippolytos, Verse 4°9-4 12 , in: Tragödien, a.a. 0., S. 122). »Vornehme Häuser machten mit dieser Pest der Frauenwelt den Anrang. Wenn Hochgebor'nen Schimpfliches beliebt, hält's bald für schön ,;.uch das gemeine Volk« (ebd., Verse 40 9-4 I2 ). , - > \vie finden nur sie, Meeresherrin K ypris, den Mut, ins Auge dem Ge2I9
mahl zu sehen und bangen nicht, die ihnen half, die Nacht, ja, selbst des Hauses Wände möchten reden?« (ebd., Verse 4 1 5-4 18 ). 13 Ebd., Verse 421 -4 2 5. 14 Euripides, Die Bakchen, Vers 668, in: Tragödien, a. a. 0., S. 52 5. 15 Ebd., Verse 669- 6 n 16 Euripides, Orestes, Verse 884-930, in: Sämtliche Tragödien, Stuttgart 1958, S.270- 271. 17 »[...] trat auf ein Herold und begann: >Wer unter euch verlangt zu reden (tis chrezei legein )<<< (ebd., Vers 885, S. 270)' 18 »Er redet doppelsinnig (dichomytha), denn er frönte stets den Machtbegabten« (ebd., Verse 889-890, S.27 0). 19 Vgl. zu dieser Person die »Einleitung« zu Orestes in: Euripide, Oreste, (Euvres completes, übers. v. F. Chapouthier und L. Meridier, Paris 1973, S.8, wo er als »geschickter Redner« bezeichnet wird, ,>der mütterlicherseits thrakischen Ursprungs war und, wie Eschinos sagt, sich die Bürgerrechte erschwindelt hat«. 20 »[ ...] auf lauten Beifall pochend und auf törichten Freimut (kamathei parrhesia)« (Euripides, Orestes, Vers 905, a. a. 0., S. 270)' 21 »[ ... ] beflissen (pithanos), Schmach zu häufen auf das Volk« (ebd., Vers 906). 22 »[ ...] unsträflich lauter (akeraios) wandelt er sein Leben lang« (ebd., Vers 922). 23 »[ ...] doch auch erfahren (xynetos de), wenn er will, im Redekampf« (ebd., Vers 921). 24 Als athenischer Politiker war Theramenes einer der Führer der konservativen Partei, die Perikles gegenüber feindlich eingestellt war. Er nimmt nach dem Staatsstreich von 4II an der Gestaltung der neuen Verfassung teil. 25 Euripides, Orestes, in: Sämtliche Tragödien, Stuttgart 195 8, Vers 93°, S.271. 26 Ebd., Verse 943-945·
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(Sitzung vom
2.
Vorlesung 5 Februar 1983, zweite Stunde)
Rechteck der parrhesia:formale Bedingung/faktische Bedingung/ Be;;'ingung der Wahrheit/ moralische Bedingung. - Beispiel für das korrekte _-:::;mktionieren der demokratischen parrhesia bei Thukydides: drei Reden :on Perikles. - Die falsche parrhesia bei lsokrates.
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möchte nun kurz das Problem ansprechen, das man die Entstellung der parrhesia oder die Entstellung der Beziehungen zwischen der parrhesia und der Demokratie nennen :;.;:önnte. Zum Zweck der schematischen Darstellung und zum 'erständnis der Dinge könnte man etwa vom konstitutiven Rechteck der parrhesia sprechen. eine Ecke des Rechtecks könnte man die Demokratie stel\:n, verstanden als allen Bürgern zugestandene Gleichheit und iolglich auch jedem eingeräumte Freiheit zu reden, seine Mei:1Ung zu äußern und auf diese Weise an den Entscheidungen :nitzuwirken. Ohne eine solche Demokratie gibt es keine par··hesia. Die zweite Ecke des Rechtecks könnte man das Spiel .ies Einflusses oder der Überlegenheit nennen, d. h. das Pro:,lem derjenigen, die, indem sie das Wort vor und über den anderen ergreifen, sich Gehör verschaffen, die anderen überzeugen, sie leiten und über sie ihre Befehlsgewalt ausüben. Wir naben also einen Pol der Demokratie und einen Pol des Ein:1usses. Die dritte Ecke des Rechtecks wird vom Wahrsprechen gebildet. Damit eine parrhesia, und zwar die richtige parrhesia, :nöglich ist, braucht man nicht bloß eine Demokratie (die for:nale Bedingung) und nicht bloß einen Einfluß, der, wenn Sie so wollen, die faktische Bedingung ist. Außerdem müssen der Einfluß und das Ergreifen des Wortes mit einem bestimmten ';;i7ahrsprechen ausgeübt werden. Der logos, der seine Macht ::.nd seinen Einfluß geltend macht, der logos, der von jenen vorgetragen wird, die ihren Einfluß auf die Stadt ausüben, muß ein 7.'ahrer Diskurs sein. Das ist die dritte Ecke. Die vierte Ecke ~esteht schließlich in folgendem: Da die freie Ausübung des
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Rechts zu sprechen, wo man durch einen wahren Diskurs zu überzeugen versucht, sich gerade in einer Demokratie vollzieht (beachten Sie die erste Ecke), geschieht sie in Form der Auseinandersetzung, der Rivalität, der Konfrontation mit der notwendigen Konsequenz für diejenigen, die die Sprache der Wahrheit sprechen wollen, daß sie ihren Mut demonstrieren müssen (das ist die moralische Ecke). Die formale Bedingung ist also die Demokratie. Die faktische Bedingung besteht im Einfluß und der Überlegenheit einiger. Die Bedingung der Wahrheit ist die Notwendigkeit eines vernünftigen logos. Schließlich wird die moralische Bedingung vom Mut, vom Mut in der Auseinandersetzung gebildet. Dieses Rechteck mit einer verfassungsmäßigen Ecke, der Ecke des politischen Spiels, der Ecke der Wahrheit und der Ecke des Muts macht, glaube ich, die parrhesza aus. [...] Wie denkt man zu der Zeit, die wir gerade betrachten d. h. gegen Ende des Peloponnesischen Kriegs, da einerseits äußere Katastrophen, andererseits innere Kämpfe zwischen den Verfechtern einer radikalen Demokratie und den Anhängern einer gemäßigten Demokratie oder der aristokratischen Reaktion in Athen toben -, über die richtige parrhesia nach? Wie analysiert man die Bedingungen, unter denen es ein angemessenes Verhältnis zwischen politeia und parrhesia, zwischen der Demokratie und der parrhesia gibt ? Und wie erklärt man, daß die Dinge im argen liegen und daß es zwischen parrhesia und Demokratie üble Wirkungen geben kann, die in Euripides' Orestes im Jahre 408 festgestellt und angeprangert wurden? Erstens, das richtige Funktionieren der parrhesia. Wie funktioniert sie, worin besteht sie, wie lassen sich die richtigen Verhältnisse zwischen der Demokratie und der parrhesia beschreiben? Nun, ich glaube, daß wir hier ein sehr explizites Vorbild haben, denn wir finden dazu eine sehr genaue Beschreibung in den Texten Thukydides', die Perikles und der perikleischen Demokratie gewidmet sind, obwohl das Wort parrhesia in dieser Reihe von Passagen nicht verwendet wird. Mir scheint, daß 222
':':e perikleische Demokratie als Vorbild für eine Ordnung dar~estellt wurde, in der die demokratische politeia das politische . . das völlig von einer parrhesia bestimmt war, die sich cCc.":bst dem logos der Wahrheit verpflichtet fühlte, perfekt aufcc::1ander abgestimmt sind. Jedenfalls handelt es sich bei dieser _"'cSstimmung der demokratischen Verfassung auf das Wahr:'?fechen durch das Spiel der parrhesia um folgendes Problem: ie kann die Demokratie die Wahrheit ertragen? - was, wie S;e sich vorstellen können, kein unbedeutendes Problem ist. die drei großen Reden (die Rede über den Krieg, die Rede über die Toten und die Rede über die Pest), die Thuky.:::ces Perikles in den Büchern I und II des Peloponnesischen :~---:ieges in den Mund legt, geben uns ein Beispiel dafür, was :-hukydides sich als gut abgestimmtes Verhältnis zwischen ;-7!iteia und Wahrsprechen vorstellte. Lassen wir das offen,;~htliche Problem beiseite, inwieweit es sich um die Rede Perikles oder von Thukydides handelt. Im Hinblick auf _25, was ich Ihnen sagen will, hat das keine sehr große Bedeutu::Ig. Mein Problem ist die Darstellung des Zusammenspiels ::.wischen Demokratie und parrhesia am Ende des 5. J ahrhun:ertS. 2rstens, die Rede über den Krieg. Sie finden sie in den Kapiteln -39ff. des ersten Buchs des Peloponnesischen Kriegs. Wie Sie erinnern, handelt es sich darin um folgendes: Die Bot,:hafter aus Sparta sind nach Athen gekommen und haben -on den Athenern nicht nur verlangt, ihre eroberten Städte auf ;~riechenland zu begrenzen, sondern sogar auf bestimmte die':Cf Eroberungen zu verzichten. Es handelt sich um eine Art Ultimatum. Man beruft die Versammlung ein, und Thuky::.:des gibt folgende Beschreibung: »da brachten die Athener in c:::er geschlossenen Volksversammlung die ganze Sache zur Seratung und gedachten dann ein für allemal die Antwort zu :::::ben. Da traten viele auf zu reden und waren geteilter Mei::.:mg: der Krieg sei nötig, und: wenn nur jener Beschluß das ::indernis für den Frieden sei, so solle man ihn aufheben«;l :-::ier haben wir die Darstellung bzw. einen Hinweis darauf, 223
was ich die Ecke der politeia im Spiel der parrhesia genannt habe. Athen funktioniert als Demokratie mit einer Versammlung, wo die Leute zusammenkommen und wo es jedem der Teilnehmer freisteht, das Wort zu ergreifen. In dieser Passage geht es im Grunde um die politeia und die isegoria. Nachdem nun jeder seine Meinung abgegeben hat und die Meinungen geteilt sind, »stand Perikles Xanthippos Sohn auf, zu jener Zeit der erste Mann in Athen, gleich mächtig im Reden wie im Handeln, und gab ihnen folgendes zu bedenken«:2 Hier haben wir nun die zweite Ecke des Rechtecks, von der ich eben sprach, die Ecke des Einflusses. Im Spiel der Demokratie, dessen Rahmen durch die politeia abgesteckt wird, die jedem das Rederecht zugesteht, kommt nun einer, um seinen Einfluß geltend zu machen, einen Einfluß, den er im Reden und Handeln ausübt. Es wird gesagt, daß dieser Mann den größten Einfluß in Athen hat. Sie werden mir sagen, daß wir es hier nicht genau mit dem Spiel zu tun haben, auf das ich vorhin hinwies, da ich auf der Tatsache bestand, daß niemals nur die Macht einer einzigen Person in der parrhesia zur Ausübung kommt. Damit es parrhesia gibt, muß es eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Personen geben. Es darf sich nicht um die Macht eines Monarchen oder Tyrannen handeln, sondern im ersten Rang muß es mehrere Leute geben, die den größten Einfluß haben. In der Tat ist es eben - wir kommen gleich darauf zurück, und Thukydides sagt es auch - sowohl das Paradox als auch das Genie von Perikles, es so eingerichtet zu haben, daß er allein zugleich der einflußreichste Mann war, daß aber die Art und Weise, wie er seine Macht durch die parrhesia ausübte, weder die eines Monarchen noch eines Tyrannen, sondern ganz demokratisch war. Deshalb ist Perikles, auch wenn er der einzige ist, auch wenn er der Einflußreichste ist, und nicht nur einer unter den Einflußreichsten, das Vorbild für das richtige Funktionieren, für die richtige Art, politeia und parrhesia aufeinander abzustimmen. Nun kommt also Perikles: das ist die Ecke des Einflusses, die Perspektive des Einflusses im Spiel der parrhesia. Seine Rede beginnt folgendermaßen: »An meiner Mei224
nung, Athener, halte ich unverändert fest, den Peloponnesiern nicht nachzugeben, obwohl ich weiß, daß die Menschen die Stimmung, in der sie sich zu einem Krieg bestimmen lassen, nicht durchhalten in der Wirklichkeit des Handelns, sondern mit den Wechselfällen auch ihre Gedanken ändern. So sehe ich auch jetzt Anlaß, meinen Rat gleich oder ähnlich zu wiederholen.«3 Perikles sagt: Ich gebe euch meine Meinung. Es ist nun schlechterdings meine Meinung, daß man den Peloponnesiern nicht nachgeben darf. Die Ratschläge, die ich euch geben muß, sind immer dieselben. Er wird also vor den Athenern nicht nur eine Rede der politischen Vernunft, eine wahre Rede, halten, sondern eine Rede, die er gewissermaßen als seine eigene beansprucht, mit der er sich identifiziert. Oder vielmehr hält er eine Rede, in der er sich als jemand darstellt, der in seinem eigenen :\i"amen und sein ganzes Leben lang dem Diskurs der Wahrheit ,·erpflichtet war und es immer noch ist. Er ist zweifellos das Subjekt, das während seiner ganzen politischen Karriere diese Wahrheit sagt. Hier haben wir die dritte Ecke, die Ecke des wahren Diskurses. Die Einleitung der Rede geht folgendermaGen weiter: »[ ... ] und wer von euch meine Meinung annimmt, der sollte, finde ich, auch wenn wir einmal Unglück haben, zum gemeinsamen Beschluß stehn, oder aber auch bei Erfolgen sich am klugen Plan keinen Anteil beimessen. Denn es kommt "l"or, daß die Zufälle der Wirklichkeit ebenso sinnlose Wege gehen wie die Gedanken des Menschen - darum pflegen wir ja auch, sooft Dinge unsere Berechnungen kreuzen, dem Schicksal schuld zu geben.«4 Worum geht es am Ende dieser Einleitung der Rede des Perikles ? Nun, es geht eben um das Risiko. Von dem Augenblick an, wo jemand sich erhebt, redet, die Wahrheit sagt und äußert: Das ist meine Meinung, und die Entscheidung der Versammlung und der Stadt auf seine Seite zieht, werden natürlich bestimmte Ereignisse stattfinden, und es kann sein, daß diese Ereignisse nicht so ausfallen, wie man es erwartet. Was soll in einem solchen Fall geschehen? Sollen sich die Bürger gegen den wenden, der den Mißerfolg heraufbeschworen hat? Ich akzeptiere wohl, sagt Perikles, daß ihr euch 225
im Falle eines Mißerfolgs gegen mich wendet, aber nur unter der Bedingung, daß ihr euch nicht das Verdienst des Sieges zuschreibt, wenn wir erfolgreich sind. Mit anderen Worten: Wenn ihr wollt, daß wir im Falle des Sieges zusammenhalten, müssen wir auch bei Mißerfolg zusammenhalten. Deshalb sollt ihr mich nicht für eine Entscheidung bestrafen, die wir gemeinsam getroffen haben, nachdem ich euch durch meine der Wahrheit verpflichtete Rede überzeugt habe. Sie sehen, wie hier das Problem des Risikos auftaucht, das Problem des Mutes, das Problem dessen, was zwischen dem geschehen wird, der die Entscheidung erwirkt hat, und dem Volk, das ihm gefolgt ist. Dieses Spiel des Risikos, der Gefahr und des Mutes wird durch dieses parrhesiastische Abkommen angedeutet, das in gewissen Zügen dem entspricht, was wir zuvor in Euripides' Stück herausgearbeitet haben. Es ist ein parrhesiastisches Abkommen: Ich sage euch die Wahrheit; befolgt sie, wenn ihr wollt; aber wenn ihr sie befolgt, seid euch darüber im klaren, daß ihr angesichts der Folgen, wie immer sie auch ausfallen mögen, zusammenhaltet und ich nicht der einzige bin, der die Verantwortung trägt. Sie sehen, daß wir hier in dieser Rede - oder eher in den Präliminarien zu dieser Rede, in der Art und Weise, wie sie in Thukydides' Text und in der Einleitung eingeführt wird - die vier Elemente finden, die das ausmachen, was ich das Rechteck der parrhesia genannt habe. Man könnte sagen, daß diese Rede bzw. ihre Einleitung die Bühne der richtigen und großen parrhesia ist, wo im Rahmen der politeia - d. h. der respektierten Demokratie, in der jeder sprechen darf -, die dynasteia, der Einfluß der Regierenden, in einem Diskurs der Wahrheit ausgeübt wird, der ihr persönlicher Diskurs ist und mit dem sie sich identifizieren, auf die Gefahr hin, daß sie eine Reihe von Risiken eingehen, die der Überzeugende und die Überzeugten durch ein Übereinkommen teilen. Das ist die richtige parrhesia, die richtige Art, Demokratie und Wahrsprechen aufeinander abzustimmen. Soviel zur Rede über den Krieg. 226
Es folgt die Rede über die Toten, als Athen nach einem Kriegsjahr seine Toten bestattet und für sie eine Gedenkfeier abhält. Diese Rede ist vielleicht im Hinblick auf das Problem der par:~hesia weniger interessant. Sie steht am Beginn des zweiten Buches, im Kapitel 35 ff. Athen bestattet also seine Toten und hat Perikles als einflußreichsten Mann der Stadt damit beauftragt, eine Lobrede auf die Toten zu halten. Während er nun diese Lobrede hält oder vielmehr zum Zweck dieser Lobrede, beginnt Perikles mit einer Lobrede auf die Stadt. In dieser Lobrede auf die Stadt erinnert Perikles erstens daran, daß »nach dem Gesetz in dem, was den Einzelnen angeht, alle gleichen Teil [haben] [das ist das Prinzip der isonomia: die Gesetze sind für gleich; M. F.], und der Geltung nach hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehn erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst.«5 Das ist genau das Spiel zwischen der isegoria und der parrhesia, von dem ich vorhin gesprochen habe, wobei die isegoria sicherstellt, daß das Recht, zu sprechen, nicht einfach ,"on der Geburt, vom Vermögen, vom Geld abhängt. Jeder darf reden, aber dennoch ist es das persönliche Verdienst, das bei der Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten und in diesem Spiel um die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten :nanchen einen Einfluß sichert. Es ist gut, daß sie diesen Einfluß ausüben, weil darin die Überlebensgarantie der Demokraeie besteht. Und es ist bemerkenswert, daß Perikles gerade vor dieser Passage gesagt hat, daß Athen den Namen der Demokratie verdient. Warum verdient Athen diesen Namen? Weil, so Perikles, die Stadt im Interesse der Allgemeinheit verwaltet wird und nicht in dem einer Minderheit. 6 Sie sehen, daß Perikles die Demokratie bemerkenswerterweise nicht dadurch definiert, daß die Macht gleichmäßig auf alle verteilt ist. Er deiiniert sie auch nicht dadurch, daß jeder sprechen und seine \1einung äußern kann, sondern dadurch, daß die Stadt im Inreresse der Allgemeinheit verwaltet wird. Perikles bezieht sich also auf diesen großen Bogen, auf diesen großen Weg der parrhesia, von dem ich gesprochen habe, wo auf der Grundlage 227
einer demokratischen Struktur ein rechtmäßiger Einfluß, der durch einen wahren Diskurs und durch eine Person ausgeübt wird, die den Mut hat, diesen wahren Diskurs geltend zu machen, effektiv sicherstellt, daß die Stadt die besten Entscheidungen für alle trifft. Deshalb kann man das Demokratie nennen. Die Demokratie ist, insgesamt betrachtet, jenes Spiel, das auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung im engeren Sinne einen gleichen Status für alle festlegt. Der Weg der parrhesia: Einfluß, wahre Rede, Mut und daraus folgend die Formulierung und das Annehmen eines allgemeinen Interesses. Das ist der große Bogen der Demokratie und das Zusammenspiel von politeia und parrhesia. Die dritte Rede des Perikles bei Thukydides ist die dramatische Rede über die Pest. Die Pest ist gerade im Begriff, Athen zu verheeren, und die Mißerfolge und militärischen Fehlschläge mehren sich. Die Athener wenden sich gegen Perikles. Wir befinden uns also bei der vierten Ecke des Risikos. Das parrhesiastische Abkommen, das Perikles den Athenern in der Einleitung zur ersten Rede, zur Rede über den Krieg, vorgeschlagen hatte, droht zu zerbrechen. Die Athener sind Perikles böse und wollen ihn verfolgen. Sie entsenden Botschafter direkt zu den Lakedaimoniern, um hinter Perikles' Rücken Frieden zu schließen. In diesem Augenblick beruft Perikles, der noch Feldherr ist, die Versammlung ein - die Rede beginnt in Kapitel 60 des zweiten Buches der Geschichte des Peloponnesischen Krieges und sagt: »Nicht unerwartet kam mir dieser euer Zorn gegen mich [das war das eingegangene und ausgesprochene Risiko, obwohl er es am Beginn der Rede über den Krieg abwenden wollte; M. E], (denn ich sehe seine Gründe), und deswegen habe ich die Volksversammlung berufen, um euch zu gemahnen [gemahnen an die vorgetragene Rede und auch an die Geschichte Athens und das gute Funktionieren der Demokratien; M. E] und um es euch vorzurücken, wenn ihr nicht ganz im Recht mir grollt oder euch dem Unglück beugt.<J Diese Passage ist deshalb interessant, weil man darin genau sieht, wie der Politiker, der den parrhesiastischen Bund in der ersten Rede 228
yorgeschlagen hatte, in dem Augenblick, wo man sich gegen wendet, sich gegen seine Mitbürger stellt und ihnen Vor\vürfe macht, anstatt ihnen zu schmeicheln oder die Verantwortung auf etwas anderes oder eine andere Person umzulenken. Ihr macht mir Vorwürfe, aber ich habe euch auch etwas '-orzuwerfen. Ihr werft mir die getroffenen Entscheidungen und die Mißgeschicke des Krieges vor, und jetzt wende ich mich ohne jegliche Schmeichelei gegen euch und werde euch meine eigenen Vorwürfe machen. Diese mutige Wendung des :Vfannes, der die Wahrheit spricht, als der parrhesiastische Bund, den er geschlossen hat, von den anderen gebrochen wird, ist eine charakteristische Eigenschaft dessen, der wahrhaft einen Sinn für die parrhesia in der Demokratie hat. Weiter unten wird Perikles den Athenern sein eigenes Bild darstellen. Er sagt (immer noch in der Passage über die Vorwürfe): "Und doch? Wem zürnt ihr? Einem Manne, glaube ich, der keinem anderen nachsteht [eine klassische Formel in Gestalt eines Litotes, um zum Ausdruck zu bringen: ich bin überlegen - der Bezug auf einen Einfluß; M. E] in der Erkenntnis des )Jötigen und der Fähigkeit, es auszudrücken, der sein Vaterland liebt und über Geld erhaben ist.«8 In diesem Satz werden eine Reihe von Eigenschaften des Politikers, Demokraten und Parrhesiasten angesprochen: Er weiß genau, was das öffentliche Interesse ist, und ist in der Lage, seine Gedanken in der Rede auszudrücken. Es handelt sich also um den Parrhesiasten, insofern er Inhaber des wahren Diskurses ist und diese Rolle zur Leitung der Stadt ausübt. Dann entwickelt Perikles die genannten Eigenschaften, die er sich selbst zugeschrieben hat: "Wer nämlich die Einsicht hat und sich nicht klar verständlich macht, ist gleich, wie wenn ihm der Gedanke nicht gekommen wäre.« Damit meint er folgendes: Es ist zwar ganz gut, wenn ein Politiker weiß, wo das Gute liegt. Er muß es aber auch sagen und seinen Mitbürgern klar vor Augen stellen, d. h. den .\1ut haben, es zu sagen, auf die Gefahr hin, daß es mißfällt, und er muß die Fähigkeit besitzen, es in einem logos auszudrücken, in einem Diskurs, der genügend Überzeugungskraft hat, damit 229
die Bürger gehorchen und sich einigen. »Wer nämlich die Einsicht hat und sich nicht klar verständlich macht, ist gleich, wie wenn ihm der Gedanke nicht gekommen wäre; und wer beides hat [das öffentliche Interesse erkennen und auch die Fähigkeit, es ordentlich auszudrücken; M. E], aber seinem Land nicht das Beste wünscht, wird schwerlich raten wie ein Freund [wissen, was gut ist, es auch ausdrücken können und, die dritte Bedingung, den Mut haben, es zu sagen, keine schlechten Absichten gegenüber seinem Vaterland hegen und sich daher für das öffentliche Interesse aufopfern; M. E]. Fehlt ihm auch dies nicht, aber er ist schwach vorm Geld, so wird ihm alles miteinander für dies eine feil sein.«9 Nicht nur diese drei Bedingungen (das Wahre wissen, in der Lage sein, es auszudrücken, sich für das öffentliche Wohl aufopfern) müssen erfüllt sein, man muß auch moralisch zuverlässig und integer sein und unempfänglich für Bestechungen. Wenn der Politiker diese drei Eigenschaften hat, kann er durch seine parrhesia den Einfluß ausüben, der nötig ist, damit der demokratische Staat trotz allem regiert werden kann - trotz oder wegen der Demokratie. Wenn, so Perikles, »ihr mir also nur einigermaßen dies [nämlich in der Lage sein zu sprechen, dem Wohl des Staates hingegeben und unbestechlich zu sein; M. E] vor anderen zusprachet [noch einmal die Forderung des Einflusses; M. E], als ihr euch zum Krieg bestimmen ließet, so gebührte mir auch jetzt kein Vorwurf, als hätte ich ein Unrecht begangen.«lo Auf diese Weise stellt Perikles in dieser dramatischen Lage, in der er von den Athenern bedroht wird, die Theorie des angemessenen Zusammenspiels der Demokratie und der Ausübung der parrhesia und dem Wahrsprechen auf, welche Ausübung, wie gesagt, notwendig den Einfluß der einen über die anderen einschließt. Das ist das Bild, das Thukydides von der richtigen parrhesia zeichnet.'" ". Das Manuskript führt weiter aus: »Die Risiken und Gefahren der parrhesia: Eine echte Demokratie (alethine demokratia) sollte so sein, daß, wenn allen das Rederecht verliehen wird, das Spiel auf solche Weise eröffnet werden muß, daß manche sich abheben und einen Einfluß aus-
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);"ur gibt es eben auch das Bild der falschen parrhesia, derjenigen, die keinen Ort in einer Demokratie hat und die ihren eige::en Prinzipien nicht treu bleibt. Dieses Bild der falschen par,-jJesia wird die Gemüter von Perikles' Tod an verfolgen, da ?erikles immer als der Mann des richtigen Zusammenspiels zwischen parrhesia und Demokratie galt. Nach Perikles' Tod sich Athen selbst als eine Stadt vorstellen, in der das Spiel Demokratie und der parrhesia, der Demokratie und des i;\"ahrsprechens, nicht zusammengehen und nicht auf geeignete \Veise einander angepaßt werden, so daß das Überleben dieser Demokratie sichergestellt wird. Diese Vorstellung, dieses Bild falschen Zusammenspiels zwischen Demokratie und Wahr~,eit, Demokratie und Wahrsprechen finden wir in einer ganzen Reihe von Texten, von denen mir vor allem zwei besonders v.·ichtig und klar zu sein scheinen. Der eine steht bei Isokrates der Anfang von peri tes eirenes, der Rede über den Frieden) und der andere bei Demosthenes, nämlich am Beginn der drit:en Philippika. Es gibt aber auch viele andere. Ich möchte Ih::en einige Passagen vom Anfang der Rede des Isokrates Über den Frieden vorlesen, wo er zeigt, wie und warum die Dinge im 2-rgen liegen. Sie werden sehen, wie ähnlich dieser Text der Vorstellung der falschen parrhesia ist, die ich vorhin aus Euripides' Tragödie Orest entnommen habe. üben können. Nun wird dieses Spiel aber natürlich nicht von der Tyrannenherrschaft geduldet (vgl. Eteokles/Polyneikes). Es gibt aber auch Demokratien, die das nicht gestatten: Der Mann, der sich gegen das wendet, was die Mehrheit denkt, wird verbannt oder bestraft. Wir können jedoch festhalten, daß die Verlagerung des Problems des Einflusses des mutigen Parrhesiasten von der Demokratie auf die Autokratie (wo es darum geht, auf die Seele des Fürsten den nötigen Einfluß auszuüben, außerdem um den wahren Diskurs, den man ihm während seiner Erziehung nahebringen soll, und um das Risiko, das der Berater eingeht, indem er sich dem Fürsten widersetzt und ihn zu einer möglicherweise falschen Entscheidung veranlaßt) zum großen Teil durch den Philosophen vollzogen wurde. Daher hat sich das Problem der parrhesia zur Regierungskunst entwickelt, die mit der Staatsräson im 16. und 17. Jahrhundert von der Moral und der Erziehung des Fürsten unabhängig geworden ist.«
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Ganz zu Beginn dieser Abhandlung, wo über einen möglichen Frieden, der den Athenern vorgeschlagen wird, gesprochen werden soll, sagt Isokrates, der ein Verfechter des Friedens ist, folgendes: »Ich mache allerdings die Beobachtung, daß ihr nicht allen Rednern die gleiche Aufmerksamkeit schenkt [er wendet sich an die Versammlung; M. F.], sondern daß ihr den einen aufmerksam zuhört, bei anderen nicht einmal ihre Stimme ertragen könnt. Doch euer Verhalten ist keineswegs verwunderlich. Denn auch sonst seid ihr es ja gewöhnt, alle Redner von der Rednerbühne zu verweisen, außer solche, die euch nach dem Mund reden.«l1 Die parrhesia ist also falsch, wenn gegen bestimmte Redner Maßnahmen ergriffen werden oder wenn sie mit diesen Maßnahmen bedroht werden, wie z. B. mit der Ausweisung - was jedoch bis zur Verbannung, bis zum Ostrazismus und in manchen Fällen (Athen hatte diese Erfahrung schon gemacht und wird sie noch weiterhin machen) auch bis zum Tod führen kann. Wenn die Redner mit dem Tod bedroht werden, was natürlich das Äußern der Wahrheit belastet, gibt es die richtige parrhesia nicht und daher auch kein richtiges Zusammenspiel zwischen der Demokratie und dem Wahrsprechen. Etwas weiter, im Paragraphen 14 der Rede über den Frieden sagt Isokrates folgendes: »Freilich weiß ich, daß es schwierig ist, euren Ansichten entgegenzutreten und daß trotz unserer demokratischen Verfassung Redefreiheit hier in der Volksversammlung nur den Unvernünftigsten gewährt wird und denen, die keinerlei echtes Interesse an euch haben, im Theater aber nur den Komödiendichtern. Das Allerschlimmste dabei aber ist: Ihr zeigt euch den Leuten, die die Fehler unserer Polis bei allen Griechen verbreiten [d. h. die Komödienautoren, diejenigen also, die die Fehler des Staats vor den Augen der Griechen ausbreiten; M. F.], dankbarer als euren Wohltätern. Auf eure Kritiker und Mahner aber seid ihr so schlecht zu sprechen wie auf Leute, die der Polis schaden.«12 Mit anderen Worten, die Frage, die hier gestellt wird, ist die Frage nach dem Ort der Kritik. Isokrates wirft den Athenern vor, eine bestimmte Vorstellung ihrer eigenen Fehler, Mängel und Irrtümer zu ak-
zeptieren, vorausgesetzt daß sie auf dem Theater und in Form einer Komödie stattfindet. Diese Art von Kritik akzeptieren die Athener, während sie sie doch in den Augen aller Griechen lächerlich macht. Umgekehrt ertragen die Athener im Rahmen der Politik keine Kritik in Form eines Vorwurfs, der von einem Redner direkt an die Volksversammlung gerichtet wird. Sie entledigen sich der Redner oder der Politiker, die das tun. Das ist der erste Grund, warum die parrhesia und die Demokratie sich nicht mehr gut miteinander vertragen und sich nicht mehr gegenseitig fordern, was das Ideal der Tragödie des Ion war oder sich zumindest in deren Horizont befand. Dieser negativen Seite, diesem negativen Grund müssen nun auch positive Gründe hinzugefügt werden: Wenn es zwischen der parrhesia und der Demokratie nicht mehr jenes gute Einvernehmen gibt, dann nicht nur deshalb, weil das Wahrspre,:hen abgelehnt wird, sondern weil für etwas anderes Raum geschaffen wird, das die Imitation des Wahrsprechens ist, nämlich das falsche Wahrsprechen. Dieses falsche Wahrsprechen besteht gerade in den Reden der Schmeichler. Was ist nun die schmeichlerische oder demagogische Rede? Auch hier können wir uns auf Isokrates' Text beziehen, in dem die Schmeichler erwähnt werden: »Euer Verhalten hat jedoch dazu geführt, daß Redner sich nicht darum kümmern oder sich Gedanken machen, was der Polis nützt, sondern wie sie euch zu Gefallen reden können. Auch jetzt hat die Mehrzahl unter ihnen sich dazu hinreigen lassen. Allen war nämlich klar: Ihr werdet mehr Gefallen an Rednern finden, die euch zum Krieg ermuntern, als an denen, die euch zum Frieden mahnen.«13 Ich werde kurz auf diese und andere Elemente, die im selben Text genannt werden, eingehen. Worin besteht nun im Grunde die falsche parrhesia, die wie Falschgeld an die Stelle der richtigen parrhesia tritt und diese vertreibt? Erstens zeichnet sie sich durch die Tatsache aus, daß jedermann sprechen darf. Es sind nicht mehr jene alten Ahnenrechte der Geburt und vor allem der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Erde - welche den Adel auszeichnet, aber auch jene Kleinbau-
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ern, wie wir vorhin gesehen haben -, nicht mehr die Zugehörigkeit zur Erde und zu einer Tradition, aber auch nicht mehr jene Eigenschaften, die Perikles besaß (persönliche Qualitäten, moralische Qualitäten der Integrität, der Erkenntnis, der Hingabe usw.), die jemanden zum Reden qualifizieren und ihm Einfluß verleihen. In Zukunft kann jeder sprechen, das ist in den Verfassungs rechten verankert. Aber es wird auch tatsächlich jeder reden und durch das Reden seinen Einfluß geltend machen. Sogar die frisch gebackenen Bürger können, wie im Falle Kleophontes', diesen Einfluß geltend machen. Das sind also die Schlimmsten, und nicht mehr die Besten. So wird der Einfluß pervertiert. Zweitens: Was der falsche Parrhesiast, der von irgendwoher kommt, sagt, sagt er nicht deshalb, weil es seine Meinung wäre, nicht deshalb, weil er denken würde, daß seine Meinung wahr sei, nicht deshalb, weil er einsichtig genug ist, damit seine Meinung wirklich der Wahrheit und dem Wohl der Stadt entspricht. Er redet nur, weil das, was er sagt, die gängigste Meinung, d. h. die der Mehrheit, vertreten wird. Mit anderen Worten, an statt daß der Einfluß durch die eigentümliche Abweichung der wahren Rede ausgeübt wird, kommt nun der schlechte Einfluß von jedem beliebigen durch die Übereinstimmung mit den Reden und den Gedanken jedes beliebigen anderen zustande. Das dritte Merkmal der falschen parrhesia besteht schließlich darin, daß die falsche wahre Rede nicht durch den einzigartigen Mut dessen gewappnet ist, der es wie Perikles vermag, sich gegen das Volk zu wenden und ihm seinerseits Vorwürfe zu machen. Anstelle dieses Mutes finden wir Leute, denen es nur um eines geht: ihre eigene Sicherheit und ihren eigenen Erfolg durch das Vergnügen, das sie ihren Hörern verschaffen, sicherzustellen, indem sie ihnen in ihren Gefühlen und Meinungen schmeicheln. Die falsche parrhesia, die die richtige vertreibt, ist also das »jedermann«, das »jeder beliebige«, das alles und jedes sagt, wenn es nur von jedermann wohlwollend aufgenommen wird. Das ist der Mechanismus der falschen parrhesia, die im Grunde die Auslöschung der Abweichung des Wahrsprechens im Spiel der Demokratie ist. 234
as ich Ihnen heute sagen wollte, läßt sich also folgendermazusammenfassen. Ich glaube, daß das neue Problem der i,dschen parrhesia an der Wende vom 5. zum 4· Jahrhundert '.lnd allgemeiner das Problem der parrhesia überhaupt, sei sie nun richtig oder falsch, im Grunde das Problem der notwendi;en, aber fragilen Abweichung ist, das durch die Ausübung der 'A'ahren Rede in der Struktur der Demokratie eingeführt wird. Einerseits kann es nur insoweit wahre Rede, freies Spiel der wahren Rede und Zugang aller zur wahren Rede geben, wie es Demokratie gibt. Aber - und an dieser Stelle wird die Bezie:-zung zwischen wahrer Rede und Demokratie schwierig und ?roblematisch - man muß verstehen, daß diese wahre Rede in der Demokratie nicht entsprechend der Form der isego'-:a gleich verteilt. Die Tatsache, daß jedermann reden kann, bedeutet nicht auch, daß jedermann das Wahre sagen kann. Die 7:ahre Rede führt eine Abweichung ein oder ist vielmehr in ih:-en Bedingungen und Wirkungen an eine Abweichung gebunden: Nur einige wenige können die Wahrheit sagen. Wenn nur "inige die Wahrheit sagen können, wobei dieses Wahrsprechen ;;n Umfeld der Demokratie stattfindet, entsteht ein Unter5.lhied, nämlich der des Einflusses, der von den einen auf die :nderen ausgeübt wird. Die wahre Rede und das Auftreten der 7,'ahren Rede gehört zur Wurzel des Prozesses der Gouverne;nentalität. Wenn die Demokratie regiert werden kann, dann ieshalb, weil es wahre Rede gibt. ):un sehen Sie, wie hieraus ein neues Paradox entsteht. Das erSIe war: Nur in einer Demokratie kann es wahre Rede geben, :oer die wahre Rede führt in die Demokratie etwas ganz ande:-cs ein, was sich nicht auf ihre egalitäre Struktur zurückführen ::ilk Insofern es sich wirklich um wahre Rede, um die richtige :-anhesia handelt, ermöglicht diese wahre Rede die Existenz ier Demokratie. Damit die Demokratie tatsächlich ihren Lauf ;orrsetzen kann, damit sie durch Wandlungen, Ereignisse, Auseinandersetzungen und Kriege aufrechterhalten werden kann, ;nuß es einen Platz für die wahre Rede geben. Die Demokratie :esteht also nur durch die wahre Rede fort. Andererseits aber 235
und insofern die wahre Rede in der Demokratie nur in der Auseinandersetzung, im Konflikt, in der Rivalität auftritt, wird die wahre Rede auch immer von der Demokratie bedroht. Das ist das zweite Paradox: Es gibt keine Demokratie ohne wahre Rede, denn ohne wahre Rede würde sie untergehen; aber das Ende der wahren Rede, die Möglichkeit des Endes der wahren Rede, die Möglichkeit, die wahre Rede zum Schweigen zu bringen, ist der Demokratie wesentlich. Keine wahre Rede ohne Demokratie, aber die wahre Rede führt Unterschiede in die Demokratie ein. Keine Demokratie ohne wahre Rede, aber die Demokratie bedroht die Existenz der wahren Rede. Das sind, glaube ich, die beiden großen Paradoxa, die sich im Zentrum der Beziehungen zwischen der parrhesia und der politeia befinden: eine dynasteia, die an die wahre Rede gekoppelt ist, und eine politeia, die an die genaue und gleiche Verteilung der Macht gekoppelt ist. Nun, zu einer Zeit, nämlich der unseren, in der man die Probleme der Demokratie so gern in Begriffen der Machtverteilung, der Selbstbestimmung jedes einzelnen in der Ausübung der Macht, in Begriffen der Transparenz und Undurchsichtigkeit, des Verhältnisses zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat stellt, ist es vielleicht gut, an diese alte Frage zu erinnern, die gleichzeitig mit dem Funktionieren der athenischen Demokratie und ihrer Krisen aufkam, nämlich der Frage nach der wahren Rede und der notwendigen, unverzichtbaren und empfindlichen Zäsur, die die wahre Rede unvermeidlich in eine Demokratie einführt, eine Demokratie, die diese wahre Rede zugleich ermöglicht und sie unablässig bedroht. Das war's, danke.
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Anmerkungen : Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, einge!. und übers. v. Georg Peter Landmann, Zürich und Stuttgart 1960, S.1081°9· :: Ebd. 3 Ebd., Kap. 140. .. Ebd., S. 109. 5 Ebd., Buch II, Kap. 37, S. 140. 6 "Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft« (ebd.). - Ebd., Kap. 60, S. 156. S Ebd., S. 157. 9 Ebd. I:: Ebd. : I Isokrates, Rede über den Frieden, 3, in: Sämtliche Werke, Bd. I, übers. v. Christine Ley-Hutton, eingeleitet und erläutert v. Kai Brodersen, Stuttgart 1993, S. 151. ::: Ebd., 14, S. 153. : 3 Ebd., 5, S. 151.
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Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, erste Stunde)
Aufgrund der Ferienzeit und weil ich gerade in meinem Brieffach den Einwand eines Hörers erhalten habe, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um vielleicht ein oder zwei Dinge genauer auszuführen für den Fall, daß es Unklarheiten gab. Der Einwand ist jedenfalls interessant. Der Hörer schreibt, daß er mit dem, was ich über die parrhesia gesagt habe, nicht sonderlich zufrieden ist und weist mich auf eine gewissermaßen kanonische Definition der parrhesia hin, die, wie er meint, auf allgemeine Weise jegliche Form der Redefreiheit zum Ausdruck bringt; und zweitens ist die parrhesia im Rahmen des demokratischen Staats und im politischen Sinne des Begriffs die Redefreiheit, die jedem Bürger zusteht, natürlich nur denen, die Bürger sind, aber allen Bürgern, selbst wenn sie arm sind. Bezüglich dieser beiden Aspekte der Definition der parrhesia möchte ich an folgendes erinnern. Erstens, es versteht sich von selbst, daß der Ausdruck parrhesia einen üblichen Sinn hat, der in der Redefreiheit besteht. Gekoppelt an diesen Begriff der Redefreiheit, wo man alles sagt, was man will, ist der Begriff des Freimuts. Man redet also nicht nur frei und sagt alles, was man will, sondern in der parrhesia gibt es auch die Vorstellung, daß man das sagt, was man wirklich denkt, was man wirklich für wahr hält. In diesem Sinn ist die parrhesia Freimut. Man könnte auch sagen: Sie ist das Aussprechen der Wahrheit. Nun werde ich die übliche Definition des Wortes parrhesia korrigieren, indem ich sage: Es handelt
s:ch nicht nur um die Redefreiheit, sondern um den Freimut, ias Aussprechen der Wahrheit. Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich, daß dieser Begriff, dieser Ausdruck parrhemanchmal, ja häufig sogar in einem völlig geläufigen Sinn '.ind außerhalb jedes Kontexts, jeder technischen oder politis:::hen Hülle verwendet wird. In den griechischen Texten findet nun sehr häufig Personen, die sagen: Hör' mal, offen gestanien ... (»parrhesia«: mit parrhesia), etwa so wie wir sagen: um ;anz offen mit dir zu reden. Wenn wir sagen »offen miteinanier reden« ist das natürlich ein geläufiger, stereotyper Aus:±ruck, der keinen bedeutenden Sinn hat. Dennoch ist die Re':efreiheit ein politisches Problem, ein technisches und auch ein :-jstorisches Problem. Ich werde also dasselbe im Hinblick auf :±ie parrhesia sagen: Es gibt einen geläufigen, zeitgemäßen, ver::-auten und offensichtlichen Sinn; dann aber gibt es noch den technischen und präzisen Sinn. Zweitens: Gerade was diesen präzisen und technischen Sinn 2ngeht, glaube ich nicht, daß man einfach die Bedeutungen und iie Probleme, die mit dem Begriff der parrhesia verbunden sind, zusammenfassen kann, indem man sagt, daß die parrhesia :.:iie Redefreiheit ist, die jedem Bürger in einer Demokratie zusteht, ob er nun reich oder arm sei. Warum glaube ich nicht, iaß das ausreichend wäre? Erstens, weil man, wie gesagt - hier ";I/eise ich Sie darauf hin, was ich letztes Mal gesagt habe -, in ier Definition der Demokratie die beiden Begriffe der isegoria :md parrhesia findet (ich verweise Sie auf den Text von PolyJios, es gibt aber auch andere). Die isegoria ist das institutio::1elle Verfassungsrecht, das juristische Recht, das jedem Bür;er zusteht, zu reden, das Wort zu ergreifen, und zwar in allen Formen, die die Ergreifung des Wortes in einer Demokratie :;,nnehmen kann: politische Wortergreifung, juristische Wor:ergreifung, Anfrage usw. Was macht nun den Unterschied zwisehen der isegoria, durch die jemand das Recht hat zu reden 'Jnd alles zu sagen, was er denkt, und der parrhesia aus? Ich ;laube, daß dieser Unterschied darin besteht, daß die parrhesia, die natürlich in der isegoria wurzelt, sich auf etwas anderes be-
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Parrhesia: die übliche Verwendung des Begriffs; die politische Verwendung des Begriffs. Erinnerung an drei beispielhafte Szenen: Thukydides; Isokrates; Plutarch. - Entwicklungslinien der parrhesia. - Die vier großen Probleme der antiken politischen Philosophie: der ideale Staat; die geteilten Verdienste der Demokratie und der Autokratie; die Wendung an die Seele des Fürsten; die Beziehung zwischen Philosophie und Rhetorik. - Studie dreier Texte Platons.
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, erste Stunde)
Aufgrund der Ferienzeit und weil ich gerade in meinem Brieffach den Einwand eines Hörers erhalten habe, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um vielleicht ein oder zwei Dinge genauer auszuführen für den Fall, daß es Unklarheiten gab. Der Einwand ist jedenfalls interessant. Der Hörer schreibt, daß er mit dem, was ich über die parrhesia gesagt habe, nicht sonderlich zufrieden ist und weist mich auf eine gewissermaßen kanonische Definition der parrhesia hin, die, wie er meint, auf allgemeine Weise jegliche Form der Redefreiheit zum Ausdruck bringt; und zweitens ist die parrhesia im Rahmen des demokratischen Staats und im politischen Sinne des Begriffs die Redefreiheit, die jedem Bürger zusteht, natürlich nur denen, die Bürger sind, aber allen Bürgern, selbst wenn sie arm sind. Bezüglich dieser beiden Aspekte der Definition der parrhesia möchte ich an folgendes erinnern. Erstens, es versteht sich von selbst, daß der Ausdruck parrhesia einen üblichen Sinn hat, der in der Redefreiheit besteht. Gekoppelt an diesen Begriff der Redefreiheit, wo man alles sagt, was man will, ist der Begriff des Freimuts. Man redet also nicht nur frei und sagt alles, was man will, sondern in der parrhesia gibt es auch die Vorstellung, daß man das sagt, was man wirklich denkt, was man wirklich für wahr hält. In diesem Sinn iSI die parrhesia Freimut. Man könnte auch sagen: Sie ist das Aussprechen der Wahrheit. Nun werde ich die übliche Definition des Wortes parrhesia korrigieren, indem ich sage: Es handelt
s:ch nicht nur um die Redefreiheit, sondern um den Freimut, :'as Aussprechen der Wahrheit. Vor diesem Hintergrund ist es dbstverständlich, daß dieser Begriff, dieser Ausdruck parrhe::a manchmal, ja häufig sogar in einem völlig geläufigen Sinn ::.nd außerhalb jedes Kontexts, jeder technischen oder politischen Hülle verwendet wird. In den griechischen Texten findet :-:lan sehr häufig Personen, die sagen: Hör' mal, offen gestan:'en ... (»parrhesia«: mit parrhesia), etwa so wie wir sagen: um ;anz offen mit dir zu reden. Wenn wir sagen »offen miteinan:'er reden« ist das natürlich ein geläufiger, stereotyper Aus:'ruck, der keinen bedeutenden Sinn hat. Dennoch ist die Re:'efreiheit ein politisches Problem, ein technisches und auch ein :-.istorisches Problem. Ich werde also dasselbe im Hinblick auf :'ie parrhesia sagen: Es gibt einen geläufigen, zeitgemäßen, ver::-auten und offensichtlichen Sinn; dann aber gibt es noch den technischen und präzisen Sinn. Zweitens: Gerade was diesen präzisen und technischen Sinn ~lgeht, glaube ich nicht, daß man einfach die Bedeutungen und iie Probleme, die mit dem Begriff der parrhesia verbunden sind, zusammenfassen kann, indem man sagt, daß die parrhesia 3.ie Redefreiheit ist, die jedem Bürger in einer Demokratie zusteht, ob er nun reich oder arm sei. Warum glaube ich nicht, jaß das ausreichend wäre? Erstens, weil man, wie gesagt - hier :;,'eise ich Sie darauf hin, was ich letztes Mal gesagt habe -, in .ier Definition der Demokratie die beiden Begriffe der isegoria 2nd parrhesia findet (ich verweise Sie auf den Text von Poly::ios, es gibt aber auch andere). Die isegoria ist das institutio::-,elle Verfassungsrecht, das juristische Recht, das jedem Bür;er zusteht, zu reden, das Wort zu ergreifen, und zwar in allen Formen, die die Ergreifung des Wortes in einer Demokratie :cnnehmen kann: politische Wortergreifung, juristische Wor:ergreifung, Anfrage usw. Was macht nun den Unterschied zwi::ehen der isegoria, durch die jemand das Recht hat zu reden '2nd alles zu sagen, was er denkt, und der parrhesia aus? Ich ;laube, daß dieser Unterschied darin besteht, daß die parrhesia, iie natürlich in der isegoria wurzelt, sich auf etwas anderes be-
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Parrhesia: die übliche Verwendung des Begriffs; die politische Verwendung des Begriffs. Erinnerung an drei beispielhafte Szenen: Thukydides; Jsokrates; Plutarch. - Entwicklungslinien der parrhesia. - Die vier großen Probleme der antiken politischen Philosophie: der ideale Staat; die geteilten Verdienste der Demokratie und der Autokratie; die Wendung an die Seele des Fürsten; die Beziehung zwischen Philosophie und Rhetorik. - Studie dreier Texte Platons.
zieht, nämlich die effektive politische Praxis. Wenn es wirklich zum Spiel der Demokratie gehört, wenn es ein wesentliches Gesetz der Demokratie ist, daß jedermann das Wort ergreifen kann, dann stellt sich ein gewisses technisches, politisches Problem: Wer wird das Wort ergreifen, wer wird tatsächlich seinen Einfluß auf die Entscheidung der anderen ausüben, wer wird in der Lage sein zu überzeugen und wer wird den anderen dadurch ein Führer sein können, daß er ausspricht, was er für die Wahrheit hält? Insofern glaube ich nicht, daß die Probleme, die von der parrhesia aufgeworfen werden, bloß die gleiche Verteilung des Rederechts auf alle Bürger der Stadt, Arme und Reiche, betreffen. In diesem Sinne scheint mir jene Definition der parrhesia unzureichend zu sein. Zweitens - das werden wir heute beginnen zu erklären zu versuchen - sollte man keineswegs glauben, daß sich die Frage der parrhesia - in diesem politischen Sinn: Wer wird sprechen, das Wahre sagen, Einfluß auf die anderen ausüben, überzeugen und daher im Namen der Wahrheit und aufgrund der Wahrheit regieren? - bloß im Umfeld der Demokratie stellt. Im Gegenteil werden wir sehen, daß die parrhesia, selbst innerhalb des Spiels der autokratischen Macht, politische Probleme, technische Probleme aufwirft, nämlich die folgenden: Wie kann man sich an den Fürsten wenden, wie kann man ihm die Wahrheit sagen? Auf welcher Grundlage, nach welcher Ausbildung, wie soll man seine Seele beeinflussen? Was ist eigentlich der Berater des Fürsten? Ich meine also, daß der Begriff der parrhesia im Umfeld der Demokratie etwas enger gefaßt ist als der Begriff der isegoria. Er wirft zusätzliche Probleme auf und erfordert zusätzliche Bestimmungen gegenüber dem Begriff der isegoria, d. h. der gleichen Verteilung des Rederechts. In einem anderen, weiteren Sinne geht es nicht bloß um das Spiel der Wahrheit oder um das Spiel des Rederechts in der Demokratie, sondern um das Spiel des Rederechts und das Spiel der Wahrheit in jeglicher Form von Regierung, auch in der autokratischen. Ich antworte auf diesen Einwand erstens, weil ich es sehr mag, wenn mir Einwände gemacht werden. Das ist sehr schön. Vor 24°
dem Hintergrund der Schwierigkeiten des Austauschs, die es in einem solchen Auditorium gibt, sind die einen darauf angewiesen zu schreiben, während die anderen mündlich antworten können. Zweitens glaube ich, daß dieser Einwand zweifellos eine Reaktion auf bestimmte Ungenauigkeiten in meinem Vortrag war. Jedenfalls denke ich, daß dieselben Einwände auch von anderen hätten gemacht werden können. Ich bin also froh, daß ich auf diese Weise antworten konnte. [... ,:.] Ich möchte nun noch einmal von drei Texten oder drei Szenen ausgehen, denen wir schon in den vorhergehenden Referaten begegnet sind. Drei Texte, die drei Szenen des politischen Lebens in Griechenland schildern. Diese drei Szenen sind übrigens wirkliche Szenen, aber mir kommt es natürlich auf die Art und Weise an, wie diese Szenen von den Texten widergespiegelt werden, die sie darstellen. Die erste Szene oder vielmehr der erste Text ist, wie Sie sich erinnern, der Text von Thukydides, der auf mehr oder weniger einfallsreiche, symbolische oder zumindest neu gestaltete Weise die berühmte Debatte schildert, die in Athen stattfand, als die Spartaner eine Gesandtschaft nach Athen geschickt hatten, um ihnen eine Art von Ultimatum zu stellen, und wie sich dann die Frage stellte, ob man das Ultimatum annehmen oder ablehnen sollte, d. h. ob man Krieg beginnen oder Frieden halten sollte. Es handelt sich also um die berühmte Entscheidung, die in der Geschichte Athens und in der Geschichte ganz Griechenlands von so großer Bedeutung war und durch die der Pe". M. F. fügt hinzu: Ich weiß nicht ... Wenn der betreffende Hörer, den ich übrigens nicht persönlich kenne, mit dem, was ich gerade gesagt habe, nicht ganz zufrieden ist, dann soll er mir noch einmal schreiben [man hört eine Stimme aus der Zuhörerschaft antworten: Ich bin zufrieden]. Auf jeden Fall können wir die Diskussion, wie wir es früher schon gemacht haben, in einer der Sitzungen nach den Ferien fortsetzen. Sind Sie damit einverstanden? Ich glaube, daß diese Praxis der geschriebenen Frage und der mündlichen Antwort, wie gesagt, eine der Möglichkeiten des Austauschs ist in einer Institution, die zu meinem Bedauern offensichtlich für den Dialog und die gemeinsame Arbeit nicht sehr geeignet ist.
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loponnesische Krieg ausgelöst wurde. Thukydides' Beschreibung bezog sich auf eine Reihe wichtiger Elemente. Erstens natürlich auf die Tatsache, daß die Volksversammlung auf die ordnungsgemäßeste Weise einberufen wurde, daß jeder dort seine Meinung vortragen konnte (isegoria), daß diese Meinungen verschieden waren und als Folge davon die Volksversammlung in verschiedene Strömungen aufgeteilt hatten. In diesem Moment hatte sich Perikles erhoben, den Vordergrund der Szene betreten - Perikles, von dem Thukydides sagt, daß er der einflußreichste Mann Athens war - und, nachdem er jeden seine Meinung hatte äußern lassen, gesagt, was er zu sagen hatte. Was er zu sagen hatte, kennzeichnete er als etwas, das er nicht nur für wahr hielt, sondern auch als etwas, das seine Meinung war. Es war das, was er dachte, was er gegenwärtig dachte, aber auch das, was er im Grunde immer schon gedacht hatte. Es war also nicht bloß der Ausdruck von Umsicht oder einer situationsgebundenen politischen Weisheit. Er bekannte sich dazu, in dieser Lage die Wahrheit zu sagen, und er identifizierte sich mit diesem Bekenntnis der Wahrheit. Der letzte Aspekt dieser Szene war schließlich folgender: Von Beginn seiner Rede an zog er die Möglichkeit in Betracht, daß der Ausgang des Krieges nicht unbedingt günstig sein werde. Er sagte, daß, wenn das U nternehmen tatsächlich nicht von Erfolg gekrönt sein werde, wenn man aber doch für den Krieg stimmen würde, das Volk, das ihn so unterstützt hätte, sich nicht gegen ihn wenden dürfe. Wenn das Volk tatsächlich bereit sei, mit ihm, Perikles, den möglichen Erfolg zu teilen, dann sollte es auch die Niederlage und den Mißerfolg teilen, wenn diese sich einstellen sollten. Das ist jener Aspekt des Risikos und der Gefahr, der mit dem Wahrsprechen in der Politik verbunden ist. Ich möchte noch einmal von dieser ersten Szene ausgehen. Dann möchte ich Sie an eine zweite Szene erinnern, der wir ebenfalls begegnet sind, eine Szene, die historisch weniger real ist, obwohl sie sich auf Elemente bezieht, die in der historischen Wirklichkeit eindeutig identifizierbar sind: Isokrates' Rede über den Frieden, die ich am Ende der letzten Vorlesung 24 2
ansprach und die sechzig bis siebzig Jahre später geschrieben wurde, um die Jahre 355 - 356. In dieser Rede ist es Isokrates' Aufgabe, für oder gegen einen Friedensvorschlag zu sprechen. Tatsächlich wurde Isokrates' Rede wie alle seine Reden nicht wirklich vor der Volksversammlung gehalten. Es handelt sich ,-ie1mehr um eine Art von ... , nicht um ein Pamphlet, sondern um ein Manifest zugunsten des Friedens, das die Form einer möglichen Rede, einer eventuellen Rede vor der Volksversammlung hat. In dieser Rede gibt es eine Einleitung, in der Isokrates daran erinnert, daß die Frage von Krieg und Frieden äußerst wichtig ist. Der Frieden und der Krieg hätten das größte Gewicht im Leben der Menschen, und deshalb ist eine richtige Entscheidung hierüber (orthos bouleuesthai: richtig entscheiden) wesentlich. 1 Nun aber, fährt Isokrates in seiner Einleitung fort, werden nicht alle diejenigen, die sich für oder gegen den Frieden aussprechen, von der Volksversammlung auf gleiche Weise behandelt. Die einen werden freundlich empfangen, während die anderen vertrieben werden. Warum werden sie vertrieben? Nun, weil sie nicht den Wünschen der Volksversammlung gemäß sprechen. Und weil sie nicht so sprechen, wie es die Volksversammlung wünscht, werden sie verjagt. Nun liegt hier aber ein völliges Unrecht vor, das das Zusammenspiel von Demokratie und Wahrsprechen trübt. Denn warum sollten sich jene, die im Sinne der Volksversammlung sprechen, die Mühe geben, vernünftige Argumente zu suchen und zu formulieren? Es genügt ihnen, das zu wiederholen, was die Leute, die anderen, sagen. Sie müssen nur diese gemurmelte Meinung wiedergeben. Während jene, die etwas anderes als das denken, was die Volksversammlung im Allgemeinen wünscht, gezwungen sind, nach Argumenten, nach vernünftigen und wahren Argumenten zu suchen, um die Volksversammlung zu überzeugen und um deren Meinung zu ändern. Deshalb sollte eine Versammlung viel eher jene anhören, die gegen ihre eigene Meinung sprechen, als jene, die nur das wiederholen, was sie selbst schon denkt. Die dritte Szene, die ich erwähnen möchte, der dritte Text, ist 243
ein Text und eine Szene, von denen ich schon am Anfang der Vorlesung gesprochen habe, in der zweiten Sitzung, glaube ich. Es handelt sich um jene berühmte Szene, in der Platon am Hofe Siziliens erscheint, am Hofe Dionysios' des Jüngeren, und durch Dion mit dem Tyrannen konfrontiert wird. 2 Diese Szene wird von Plutarch berichtet, also viel später als zu der Zeit, auf die ich mich im Augenblick beziehe. Erzählt wird jedoch eine Szene, die sich genau zu dieser Zeit ereignet, d. h. im Laufe der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Was sahen wir in dieser Szene? Nun, wir sahen zwei Personen: Dion, den Schwager von Dionysios dem Jüngeren, und Platon, den Philosophen, der auf Geheiß Dions gekommen war, um die Seele von Dionysios dem Jüngeren zu bilden. Sowohl der eine als auch der andere stehen dem Tyrannen gegenüber, und beide machen Gebrauch von der parrhesia (vom Wahrsprechen, vom Freimut). Indem sie das tun, nehmen sie offensichtlich das Risiko auf sich, den Tyrannen zu verärgern. Wir sehen die beiden folgenden Ergebnisse: Einerseits wird Platon, den Dionysios tatsächlich vertreibt, nicht nur mit dem Tod bedroht, sondern Dionysios stiftet auch ein Komplott, um ihn zu töten, während Dion eine zeitlang weiterhin seinen Einfluß über Dionysios behält und ihn als einziger am ganzen Hofe und in Dionysios' ganzer Umgebung noch beeinflussen kann. Wenn ich an diese drei Szenen etwas ausführlicher erinnert habe, dann aus folgendem Grund. Mir scheint, daß man aus ihrem Kontrast die Entstehung der Definition bzw. die Abzeichnung eines bestimmten politischen, historischen und philosophischen Problems erfassen kann. Erstens, was finden wir in diesen drei Szenen? Wir finden eine Reihe von grundlegenden Elementen, die sich gleichen. Erstens vollzieht sich die parrhesia in diesen drei Szenen in einem konstituierten politischen Raum. Zweitens besteht die parrhesia darin, daß eine bestimmte sprachliche Äußerung gemacht wird, eine Äußerung, die vorgibt, das Wahre zu sagen, und in der derjenige, der Wahres sagt, bekennt, die Wahrheit zu sagen, und sich als derjenige zu erkennen gibt, der den wahren Satz oder die wahren Sätze ver244
kündet. Drittens geht es in diesen drei Szenen um den Einfluß, der durch den Sprecher, der die Wahrheit sagt, ausgeübt wird. Wenn man die Wahrheit sagt, dann jedenfalls um einen bestimmten Einfluß auszuüben, und zwar gleichgültig ob auf die Versammlung oder auf den Fürsten, einen Einfluß, der tatsächlich eine Wirkung darauf hat, wie Entscheidungen getroffen werden und wie die Stadt oder der Staat regiert werden. Schließlich ist das vierte Element, das allen diesen Szenen gemein ist, das eingegangene Risiko, d. h. die Tatsache, daß das Oberhaupt, der Verantwortliche, der, der gesprochen hat, entweder vom Volk oder vom Fürsten je nach dem Erfolg des Unternehmens, je nach dem, ob sein Wahrsprechen zu diesem oder jenem Ergebnis führt, oder einfach je nach der Stimmung der Versammlung oder des Fürsten belohnt oder bestraft wird. Wir haben also diese gleichen Elemente. Zugleich sehen Sie aber, daß die drei Szenen sich voneinander unterscheiden. Die erste Szene - die Szene, die von Thukydides erzählt wird, wo Perikles vor die Volksversammlung tritt und das Wort ergreift - stellt die richtige parrhesia dar, wie sie funktionieren soll. Unter allen Bürgern, die das Recht zu sprechen haben und die auch wirklich ihre Meinung abgeben konnten und sie im übrigen auch durch ihre Stimme abgeben werden, unter allen diesen gibt es einen, der einen Einfluß ausübt, einen guten Einfluß, und der Risiken auf sich nimmt, indem er genau erklärt, worin diese Risiken bestehen. Das ist die richtige parrhesia. Die beiden letzteren - die, die von Isokrates am Anfang von peri tes eirenes erwähnt wird, und die, die Plutarch anspricht, als er das Leben von Dion erzählt - sind falsche parrhesiai oder zumindest parrhesiai, die nicht den geplanten Erfolg haben, weil im einen Fall, der von Isokrates genannt wird, demjenigen, der die Wahrheit sagt, kein Gehör geschenkt wird. Ihm wird kein Gehör geschenkt zugunsten der Schmeichler, die, anstatt die Wahrheit zu sagen, nur die Meinung der Versammlung wiederholen. Im Falle von Dionysios hat der Tyrann, nachdem der Philosoph gesprochen hat, nichts Dringenderes zu tun, als ihn zu vertreiben und gegen 245
ihn ein Komplott auszuhecken, das ihm geradewegs den Tod bringen könnte. Nun, mir scheint, daß sich durch diese drei Szenen und durch ihre gemeinsamen und verschiedenen Elemente die neue Problematik der parrhesia und ein ganzer Bereich politischen Denkens abzeichnet, das die Antike durchdringen und sich hartnäckig in ihr halten wird, und zwar mindestens bis zum Ende des 2. Jahrhunderts oder bis zur großen Krise der Kaiserregierung in der Mitte des 3· Jahrhunderts n.ehr. Ich glaube, daß diese fünf, sechs, sieben Jahrhunderte des antiken philosophischen Denkens bis zu einem gewissen Grad anhand des Problems der parrhesia betrachtet werden können. Im folgenden möchte ich genauer ausführen, was ich meme. Erstens erscheint der Begriff der parrhesia, die sich in Euripides' Ion als Privileg erwies, als ein Recht, das man legitimerweise anstreben kann unter der Bedingung, daß man Bürger eines Staats ist, und nach dem Ion so sehr verlangte, in den drei Szenen als zweideutige Praxis. Die parrhesia ist für die Demokratie notwendig, und sie muß auch um den Fürsten herum herrschen: Die parrhesia ist eine notwendige Praxis. Zugleich ist sie gefährlich, oder vielmehr birgt sie die Gefahr in sich, sowohl wirkungslos als auch gefährlich zu sein. Wirkungslos, weil es keinen Beweis dafür gibt, daß sie wirklich richtig funktionieren wird, daß sie nicht zu einem umgekehrten Ergebnis relativ zu dem angestrebten führen wird. Andererseits kann sie für den, der sie ausübt, immer lebensgefährlich sein. Wir haben also eine Problematisierung der parrhesia, eine Zweideutigkeit ihres Werts. Das ist die erste Wandlung, die man sieht, wenn man die drei Szenen miteinander vergleicht. Zweitens erkennt man eine zweite Wandlung, die die Lokalisierung der parrhesia betrifft. In Euripides' Text war klar und wurde ausdrücklich gesagt, daß die parrhesia wesentlich zur Demokratie gehörte, und zwar in Form einer Zirkularität, die wir angesprochen haben: Ion mußte die parrhesia haben, damit die athenische Demokratie verankert werden konnte; andererseits konnte die parrhesia innerhalb der Demokratie eine Rolle 24 6
spielen. Parrhesia und Demokratie gehörten wesentlich zusammen. Nun sehen Sie aber in der zuletzt erwähnten Szene (der Szene, die Plutarch schildert, und in der Platon, Dion und Dionysios auftreten), daß die parrhesia überhaupt nicht mehr wesentlich zur Demokratie gehört. Die parrhesia hat eine positive Rolle, die sie dazu bestimmt, innerhalb eines ganz anderen Typs von Macht wirksam zu werden, nämlich der autokratischen Macht. Wir haben also eine Bewegung der parrhesia von einer demokratischen Struktur, mit der sie verbunden war, zu einer nicht-demokratischen Regierungsform. Drittens sieht man anhand der letzten, von Plutarch geschilderten Szene so etwas wie eine Aufspaltung der parrhesia in dem Sinne, daß die parrhesia als etwas Notwendiges im eigentlichen politischen Bereich erscheint. Die parrhesia ist ein direkter politischer Akt, der entweder vor der Volksversammlung oder vor dem Oberhaupt, dem Regierenden, dem Souverän, dem Tyrann usw. ausgeübt wird. Sie ist ein politischer Akt. Andererseits ist die parrhesia aber auch ein Akt - das geht deutlich aus Plutarchs Text hervor -, eine Weise zu sprechen, die sich an eine Person, an die Seele einer Person richtet und die die Art und Weise der Bildung dieser Seele betrifft. Die Seelenbildung des Fürsten, die Rolle, die die Umgebung des Fürsten zu spielen hat, und zwar nicht direkt in der politischen Sphäre, sondern für die Seele des Fürsten, da er es ist, der die politische Rolle spielen wird, macht deutlich, daß die parrhesia sich gewissermaßen von ihrer streng politischen Funktion ablöst und daß zur politischen parrhesia eine weitere parrhesia hinzukommt, die man psychagogisch nennen könnte, weil es bei ihr darum geht, die Seele der Menschen zu führen und zu lenken. Wir haben hier also eine Aufspaltung der parrhesia. Viertens schließlich - und das ist natürlich das Wichtigste - sehen wir in der Szene, die Plutarch schildert, mit der parrhesia eine neue Persönlichkeit auftreten. Womit hatten wir es bisher beim Spiel der parrhesia zu tun? Wir hatten es mit dem Staat zu tun, mit den Bürgern und im Hinblick auf die Bürger mit der Frage, welche die einflußreichsten sein könnten oder sollten. 247
Wir hatten es mit dem Oberhaupt zu tun und im Grenzfall mit dem Herrscher, dem despotischen oder tyrannischen Herrscher. Erst mit der Szene, die Plutarch schildert - wie gesagt, sie ereignet sich ebenfalls am Anfang des 4· Jahrhunderts -, sehen wir Platon auftreten, d. h. den Philosophen, der jetzt in dieser Szene der parrhesia eine wesentliche Rolle zu spielen hat. Zwar ist es nicht das erste Mal, daß der Philosoph als solcher eine wesentliche Rolle im Staat zu spielen hat. Es war eine sehr alte Tradition, die im 5. Jahrhundert schon völlig anerkannt war, daß der Philosoph für den Staat entweder ein Gesetzgeber (ein Nomothet) oder ein Friedensstifter sein konnte oder sollte. Letzterer sollte das Gleichgewicht des Staates auf solche Weise regeln, daß es keine Zwistigkeiten, inneren Kämpfe und Bürgerkriege gibt. Gesetzgeber und Friedensstifter der Staaten, darin bestand die Rolle des Philosophen. Aber in der Szene, wo Platon an der Seite von Dion Dionysios gegenübersteht, sehen wir den Philosophen als Parrhesiast auftreten, als einer, der die Wahrheit auf der politischen Bühne sagt, und zwar innerhalb einer bestimmten politischen Konstellation, und um entweder die Politik des Staats oder die Seele dessen zu leiten, der die Politik des Staats steuert. Kurz, durch die Nebeneinanderstellung und den Kontrast der drei Szenen (der Szene des Thukydides, die aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert, und der beiden anderen: der von Plutarch geschilderten und derjenigen, die in Isokrates Rede erwähnt wird, welche aus der ersten Hälfte des 4· J ahrhunderts stammen) kann man erstens sagen, daß die Praxis der parrhesia problematisiert wird; zweitens, daß sie zu einem allgemeinen Problem für alle politischen Staatsformen wird (für alle politeiai, seien sie nun demokratisch oder nicht); drittens, daß sie sich aufspaltet in ein eigentlich politisches Problem und ein Problem der psychagogischen Technik, obwohl diese beiden Dinge sehr eng miteinander verknüpft sind; und schließlich, daß sie zum Gegenstand und Thema einer philosophischen Praxis im eigentlichen Sinne wird. Nun, ich glaube, daß man hier sehen kann, wie sich die vier großen Probleme des an24 8
riken politischen Denkens herausbilden, die bei Platon schon ausformuliert sind. Erstens, gibt es eine Staatsform, eine Organisation, eine politeia des Staats, so daß die Koppelung dieser Staatsform an die Wahrheit auf das immer gefährliche Spiel der parrhesia verzichten kann? Oder anders ausgedrückt: Kann man ein für allemal das Problem der Beziehungen zwischen der Wahrheit und der Organisation des Staats lösen? Kann der Staat ein für allemal eine klare, bestimmte, grundlegende und in gewissem Sinne fixierte Beziehung zur Wahrheit haben? Das ist in groben Zügen das Problem des idealen Staats. Der ideale Staat, den Platon und andere nach ihm versuchen werden zu entwerfen, ist, glaube ich, ein Staat, in dem gewissermaßen das Problem der parrhesia im voraus gelöst wird, da die Gründer des Staats diesen in einem solchen Verhältnis zur Wahrheit gegründet haben, daß dieses Verhältnis künftig unauflöslich und unabtrennbar ist und daß alle Gefahren, alle Zweideutigkeiten, alle Gefahren, die für das Spiel der parrhesia charakteristisch sind, dadurch aufgelöst werden. Das ist das erste Problem und das erste Thema. Zweitens erscheint im antiken politischen Denken ein anderes Thema, das ebenfalls an das vorliegende anknüpft: Was ist besser? Wenn das Staatsleben richtig an die Wahrheit gekoppelt werden soll, ist es dann besser, in einer Demokratie das Wort allen zu überlassen, die sprechen können oder wollen oder sich dazu imstande fühlen? Oder ist es dagegen besser, der Weisheit eines Fürsten zu vertrauen, der von einem guten Ratgeber aufgeklärt wird? Ich glaube, daß hier einer der Hauptzüge liegt, die man festhalten sollte, nämlich daß die große Debatte im antiken Denken zwischen der Demokratie und der Monarchie nicht bloß eine Debatte zwischen der Demokratie und der autokratischen Macht ist. Vielmehr findet die Auseinandersetzung zwischen zwei Paaren statt: dem Paar, in dem die Demokratie enthalten ist, wo die Leute sich erheben, um die Wahrheit zu sagen (daher haben wir: Demokratie und Redner, Demokratie und den Bürger, der das Recht zu sprechen hat 249
und es ausübt), während das andere Paar aus dem Fürsten und seinem Berater besteht. Die Auseinandersetzung bzw. der Vergleich zwischen diesen beiden Paaren steht, glaube ich, im Zentrum einer der großen Problematiken des politischen Denkens in der Antike. Drittens sieht man das Problem der Seelenbildung und der Seelenführung auftauchen, das für die Politik unerläßlich ist. Die Frage erscheint natürlich deutlich im Zusammenhang mit dem Fürsten: Wie soll man auf die Seele des Fürsten einwirken, wie soll man sie beraten? Aber noch bevor man sie beraten kann, wie soll die Seele des Fürsten gebildet werden, damit sie für jenen wahren Diskurs empfänglich wird, den man unablässig während der Ausübung seiner Macht an ihn richten soll? Dieselbe Frage stellt sich auch im Hinblick auf die Demokratie: Wie kann man diejenigen Bürger bilden, die die Verantwortung zu sprechen und die anderen zu leiten übernehmen sollen? Das ist also die Frage der Pädagogik. Und schließlich ist das vierte große Problem folgendes: Wer ist in der Lage, jene parrhesia, jenes Spiel der Wahrheit auszuüben, das für das politische Leben unerläßlich ist - und das man sich sowohl in einer idealen Verfassung am Fundament des Staates als auch im Spiel der Demokratie mit den Rednern oder des Fürsten mit seinem Berater vorstellen kann und dessen Vorteile miteinander verglichen werden können -, jene parrhesia, jenes Wahrsprechen, das notwendig ist, um die Seele der Bürger oder die Seele des Fürsten zu leiten? Wer ist in der Lage, der Meister der parrhesia zu sein? Worin besteht das Wissen oder die techne, was ist die Theorie oder die Praxis, was ist die Erkenntnis, aber auch was ist die Ausübung, was ist die mathesis und was ist die askesis, die die Ausübung dieser parrhesia ermöglichen? Handelt es sich um die Rhetorik oder um die Philosophie? Diese Frage nach der Rhetorik und Philosophie wird ebenfalls das ganze Feld des politischen Denkens durchziehen. Auf diese Weise kann man, wie mir scheint, eine Reihe von Entwicklungen verstehen, die für diese Form des Denkens wesentlich sind, nämlich ausgehend vom Schicksal, von der 25°
Entwicklung dieser Praxis und dieser Problematik der parrhesia.
Das sind die Probleme, die ich in den folgenden Vorlesungen behandeln werde: das Problem der Philosophie im Vergleich mit der Rhetorik, das Problem der Psychagogie und der Erziehung im Hinblick auf die Politik, die Frage der jeweiligen Verdienste der Demokratie und der Autokratie und die Frage nach dem idealen Staat. Bevor ich mich jedoch in den folgenden Vorlesungen diesen verschiedenen Fragen widme, möchte ich in der heutigen Sitzung das betrachten, was man den platonischen Kreuzweg nennen könnte, d. h. den Moment, in dem sich diese verschiedenen Probleme voneinander absetzen und ausbilden werden.':In einem gewissen Sinne könnte man natürlich meinen, daß die ganze Philosophie Platons in diesem Problem gegenwärtig ist und daß es schwierig ist, in bezug auf Platon von »Wahrheit und Politik« zu sprechen, ohne vorher ein allgemeines Referat, eine allgemeine erneute Lektüre seines Werkes zu geben. Ich möchte einfach einige Stichproben machen und mich auf vier oder fünf große Passagen des platonischen Werks beziehen, in denen man das Wort parrhesia in diesem technischen, politisch-philosophischen Sinn findet. Man findet manch andere Erwähnungen des Begriffs, und zwar gerade im gewöhnlichen Sinn: offen sprechen, frei sprechen usw. Dagegen gibt es eine Reihe von Texten, in denen der Begriff der parrhesia in':- Das Manuskript führt hier weiter aus: »Sich an den platonischen Kreuzweg versetzen, dorthin, wo man die Kritik der falschen parrhesia erkennt, die der Demokratie und der Redner, der Rhetorik, um sich dann der Problematik der richtigen parrhesia anzunehmen, der des weisen Beraters, der des Philosophen; tatsächlich könnte man viele Texte Platons unter diesem Gesichtspunkt lesen; die ganze platonische Philosophie könnte unter dem Gesichtspunkt des Problems des Wahrsprechens im Bereich politischer Strukturen und im Hinblick auf die Alternative zwischen Philosophie und Rhetorik betrachtet werden. Da es hier um die Genealogie der Regierungskunst und der Herausbildung der Thematik des Fürstenberaters geht, werde ich mich kurz Platon zuwenden, indem ich einige Texte hervorhebe, in denen das Wort parrhesia tatsächlich Verwendung findet.
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nerhalb eines bestimmbaren theoretischen Zusammenhangs vorkommt und die dort gestellten Probleme erhellt. Der erste Text, auf den ich hinweisen möchte - ich werde sie nicht in chronologischer Reihenfolge zitieren, oder vielmehr werden die drei ersten in chronologischer Reihenfolge stehen und dann werde ich zuletzt einfach einen Text aus dem Gorgias zitieren, der folglich früher geschrieben wurde, aber aus Gründen, die Sie rasch verstehen werden, werde ich ihn zuletzt behandeln -, er steht im Buch VIII des Staats, 557a-b ff. Es handelt sich um die Beschreibung des Übergangs von der Oligarchie zur Demokratie und um die Entstehung und Entwicklung des demokratischen Staats und des demokratischen Menschen. Ich erinnere kurz an den Zusammenhang. Es geht um die Entstehung der Demokratie. Diese Entstehung der Demokratie vollzieht sich, so Platon im Staat, im Ausgang von einer Oligarchie, d. h. von einer Situation, in der nur wenige die Macht und den Reichtum innehaben, jene berühmten Leute, die die dynasteia (d. h. den politischen Einfluß auf die Stadt) aufgrund ihres Status, aufgrund ihres Reichtums und aufgrund der Ausübung der politischen Macht, die sie sich selbst vorbehalten, innehaben. Wie wird die Oligarchie zur Demokratie? Nun, Sie erinnern sich an ihre Entstehung: 3 Sie ist im Wesentlichen ökonomischer Natur, da die Machthaber in einer Oligarchie keinerlei Interesse oder Lust haben, die anderen um sie herum an der Verarmung zu hindern, im Gegenteil. Je weniger Reiche es um sie herum gibt, umso geringer wird die Zahl derer sein, die in der Lage sind, mit ihnen die Macht teilen zu wollen. Die Verarmung der anderen ist also notwendiges Gesetz oder zumindest das natürliche Ziel jeder Oligarchie. Um die zunehmende Verarmung den anderen gewissermaßen zu erleichtern, tragen die Oligarchen dafür Sorge, daß keine Gesetze gegen den Luxus verabschiedet werden: Je mehr die Leute ausgeben und sich für ihren Luxus und ihr Vergnügen in wahnsinnige und überflüssige Ausgaben stürzen, umso besser. Die Oligarchen verabschieden auch keine Gesetze, die Schuldner vor Gläubigern schützen. Im Gegenteil lassen sie die Gläubiger erbittert gegen 25 2
die Schuldner kämpfen, so daß diese immer ärmer werden, was zur Folge hat, daß sich jener berüchtigte Gegensatz zwischen den ganz Reichen und den ganz Armen ergibt, der in einer berühmten Textstelle beschrieben wird. 4 Wenn die Bürger eines oligarchischen Staates sich bei religiösen Liturgien, Militärversammlungen oder Bürgerversammlungen treffen, sind es die ganz Reichen und die ganz Armen. Dann entzündet sich die Eifersucht, und so beginnen Bürgerkriege, die zur Folge haben, daß die Ärmsten und Zahlreichsten, während sie gegen die anderen kämpfen und nach Verbündeten rufen, die von außen kommen, am Ende die Macht ergreifen und die Oligarchie stürzen. Die Demokratie, sagt Platon, »entsteht also, wenn die Armen siegen und ihre Gegner töten oder verbannen, alle übrigen aber nach gleichem Recht an Verfassung und Ämtern teilnehmen lassen.«5 Es geht um das, was er »ex isou metadosi politeias kai archon« nennt: die gleiche Teilhabe an der politeia (an der Verfassung, an der Bürgerschaft und an den zugehörigen Rechten) und an den archon (den Ämtern). Hier haben wir genau die Definition jener berühmten demokratischen Gleichheit, von der die der Demokratie wohlgesonnenen Texte immer gesagt haben, daß sie die Grundlage des demokratischen Staates bilde. Die Demokratie zeichnet sich durch isonomia und isegoria aus. Während aber die positiven Definitionen der Demokratie diese Gleichheit als eine Art von fundamentaler Struktur ausgeben, die dem Staat durch einen Gesetzgeber oder zumindest durch eine Gesetzgebung, die den Frieden im Staat gewährleistet, verliehen wurde, wird hier im Gegensatz dazu die demokratische Gleichheit nicht nur durch den Krieg errungen, sondern trägt auch weiterhin die Spur und das Mal des Krieges und des Konflikts an sich, da die Übrigbleibenden nach ihrem Sieg und nachdem sie die Oligarchen verbannt haben, Regierung und Ämter wie eine Siegesbeute teilen. Die Gleichheit beruht daher auf diesem Krieg und auf diesem Kräfteverhältnis. Jedenfalls entsteht so die isonomia, zwar unter schlechten Bedingungen, aber immerhin entsteht sie. Was geht aus dieser isonomia hervor? Zwischen den Zeilen von Platons 253
Text finden wir die konstitutiven Elemente der Demokratie. Die erste Folge dieser Demokratie ist eleutheria (die Freiheit). Platon beschreibt sie unmittelbar mit ihren beiden klassischen Komponenten: Erstens, die parrhesia: die Redefreiheit. Aber auch die Freiheit zu tun, was man will, und nicht nur, seine Meinung abzugeben, sondern die Entscheidungen, die man will, wirklich zu treffen, die Freiheit, all das zu tun, wozu man Lust hat. 6 Diese Struktur, dieses Spiel der Freiheit in der so verfaßten Demokratie muß man auf dreierlei Weise verstehen. Erstens handelt es sich um die Freiheit im genannten Sinne, zu tun und zu sagen, was man will. Es handelt sich aber auch um eine Freiheit, verstanden im streng politischen Sinn dieses Begriffs, bei der in der Demokratie jeder für sich selbst seine eigene politische Einheit ist. Weit entfernt davon, daß die parrhesia oder daß die Freiheit, das zu tun, was man will, die Bedingung darstellt, auf deren Grundlage sich eine gemeinsame Meinung bildet, ist in der parrhesia und in der eleutheria, die die so verfaßte Demokratie charakterisieren, jeder gewissermaßen sein eigener kleiner Staat: Er sagt, was er will, und er tut, was er will, für sich selbst. Nicht gezwungen zu sein, in diesem Staat zu befehlen, auch wenn man dazu in der Lage ist, auch nicht gezwungen zu sein zu gehorchen, wenn man nicht will, nicht gezwungen zu sein, in den Krieg zu ziehen, wenn die anderen es tun, nicht gezwungen zu sein, Frieden zu halten, wenn die anderen ihn halten und wenn man keinen Frieden wünscht; andererseits ein Amt oder eine RichtersteIle einzunehmen, wenn einem danach zumute ist, in Mißachtung des Gesetzes, das einem jedes Amt und jede Richterfunktion verbietet: Solche PraktIken sind also mit der so verfaßten Demokratie verbunden. Sind diese Praktiken, fragt der Gesprächspartner ironisch, »nicht gottvoll und wonnig für den Augenblick ?«7 In einer so funktionierenden Demokratie ist die parrhesia nicht das Element der Konstitution einer gemeinsamen Auffassung, sondern die Garantie dafür, daß jeder für sich selbst politisch autonom ist und seine eigene politische Identität und Besonderheit hat.
Eine weitere Folge der so verstandenen Freiheit ist, daß die Redefreiheit jedem beliebigen gestattet, sich zu erheben und so zu sprechen, daß die Menge sich geschmeichelt fühlt. »Dazu die Sorglosigkeit und Geringschätzung, ja Verachtung, die dieser Staat unserem als wichtig betonten Grundsatz für die Staatengründung entgegenbringt: wer nicht eine überragende Anlage habe, werde niemals ein tüchtiger Mann, wenn er nicht schon von Kindheit auf in Spiel und Ernst mit dem Schönen umgehe. Mit welch erhabner Pose läßt die Demokratie dies alles weit unter sich und kümmert sich nicht um die Verhältnisse, aus denen ein Politiker kommt, sondern schätzt jeden, wenn er nur seine gute Gesinnung dem Volke gegenüber beteuert.«8 Jeder ist also seine eigene politische Einheit. Andererseits kann man sich an die Menge wenden und, indem man ihr schmeichelt, das bekommen, was man will. Das ist der zweifache negative Aspekt der parrhesia in der so begründeten Demokratie: Jedem geht es nur um seine eigene Identität, und jeder kann die Menge führen, wohin er will. Während das Spiel der richtigen parrhesia gerade darin besteht, die Unterscheidung des wahren Diskurses einzuführen, der es ermöglicht, indem man Einfluß nimmt, den Staat ordentlich zu leiten, haben wir hier dagegen eine Struktur mangelnder Unterscheidung, die dazu führen wird, den Staat auf die schlechtest mögliche Art zu leiten. Dieser Beschreibung der Entstehung des schlechten demokratischen Staates entspricht in Platons Text die Beschreibung der Seele des demokratischen Menschen, die nach dem Bild des demokratischen Staats geformt ist. Was ist nun aber dieses Bild der politischen Demokratie in der Seele des Menschen? Nun, es ist das, was mit Wünschen und Vergnügungen geschieht. Platon bezieht sich auf eine klassische Unterscheidung zwischen notwendigen und überflüssigen Wünschen, die nicht für ihn persönlich kennzeichnend ist. Eine Seele, die ordentlich gebildet ist, weiß ganz genau zwischen notwendigen und überflüssigen Wünschen zu unterscheiden. Dagegen ist eine demokratische Seele gerade eine solche, die den Unterschied zwischen den einen und den anderen nicht kennt. Sie ist eine Seele,
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in die die überflüssigen Wünsche nach Belieben Einzug halten und den notwendigen Wünschen widerstreiten können. 9 Da nun aber die überflüssigen Wünsche unendlich viel zahlreicher als die notwendigen Wünsche sind, werden sie die Oberhand gewinnen. In diesem Spiel der Wünsche haben wir also das Abbild, das analogon zu dem, was sich in jener Revolution ereignete, durch die die Demokratie eingerichtet wurde. Es sollte jedoch klar sein, daß es in diesem Text nicht bloß um eine Ähnlichkeitsbeziehung oder um eine Analogie geht. Tatsächlich ist es derselbe Mangel, der im demokratischen Staat die politische Anarchie hervorbringt und der in der Seele für die Anarchie der Triebe verantwortlich ist. Wenn im Staat Anarchie entsteht, dann ganz einfach deshalb, weil die parrhesia nicht richtig angewendet wird. Die parrhesia ist dann nichts anderes als die Freiheit, beliebige Dinge zu sagen, anstatt dasjenige zu sein, wodurch sich die Zäsur des wahren Diskurses vollzieht und wodurch der Einfluß der vernünftigen Männer auf die anderen ausgeübt wird. Was fehlt nun in einer demokratischen Seele, in einer Seele, in der die Anarchie der Wünsche herrscht? Was ist dafür verantwortlich, daß die Anarchie der Wünsche so dominant geworden ist? Es ist die Tatsache, so Platon, daß der logos alethes (der Diskurs der Wahrheit) aus der Seele vertrieben wurde und man ihn nicht wieder in die Burg eindringen läßt. lo Dieser Mangel an wahrem Diskurs wird den grundlegenden Charakter der demokratischen Seele ausmachen, ebenso wie das schlechte Spiel der parrhesia im Staat jene Anarchie hervorgebracht hat, die der schlechten Demokratie eigentümlich ist. Der Text geht aber noch weiter. Zwischen dem demokratischen Staat und der demokratischen Seele gibt es nicht nur diese allgemeine Analogie und auch nicht nur denselben Mangel an wahrem Diskurs. Darüber hinaus gibt es noch eine direktere Verschränkung der demokratischen Seele und des demokratischen Staates. Der demokratische Mensch ist nämlich gerade derjenige, der mit dieser Seele - dieser Seele, der der logos alethes, der wahre Diskurs, fehlt - in das politische Leben der
Demokratie eindringt und dort seine Wirkung und Macht ausübt. Was wird der demokratische Mensch, dem der logos alethes fehlt, nun tun? In der Anarchie seiner eigenen Wünsche verfangen, wird er immer größere Wünsche befriedigen wollen. Er wird versuchen, die Macht über die anderen auszuüben, jene Macht, die an sich selbst erstrebenswert ist und die ihm Zugang zur Befriedigung aller seiner Wünsche verschafft. »Oft treibt er Politik, springt auf, hält Reden, setzt Taten - wie es ihm gefällt! [Beschreibung der falschen parrhesia; M. F] Er stürzt sich in den Kampf, wenn Krieger - ins Geschäft, wenn Händler seinen Ehrgeiz wecken. Kein ordnender Zwang waltet über sein Leben«,ll und er reißt den übrigen Staat mit sich fort. In diesem Text, in dem der Begriff der parrhesia eine wesentliche Rolle spielt, ist der Mangel an wahrem Diskurs in dem Einfluß, auf den er ein Anrecht hat, das wesentliche Übel in der zweifachen Beschreibung des demokratischen Menschen und des demokratischen Staats. Das Fehlen des alethes logos ist dafür verantwortlich, daß im demokratischen Staat jeder Beliebige das Wort ergreifen und seinen Einfluß ausüben kann. Dieses Fehlen ist ebenfalls dafür verantwortlich, daß in der demokratischen Seele die Wünsche einander widerstreiten, miteinander im Kampf liegen können, so daß der Sieg an die schlimmsten Wünsche geht. Das bringt uns also auf die Spur der Aufspaltung in die beiden Formen von parrhesia (jene, die für das Leben des Staates notwendig ist, und jene> die für die Seele des Menschen unverzichtbar ist). Die bürgerliche parrhesia, die politische parrhesia, ist mit einer parrhesia verbunden, die sich von ihr unterscheidet, obwohl beide aufeinander angewiesen sind. Es ist diese parrhesia, die den alethes logos in die Seele des Menschen eindringen lassen soll. Diese zweifache Abstufung der parrhesia erscheint, glaube ich, ganz deutlich in diesem Text. Der zweite Text, über den ich sprechen möchte, steht in den Gesetzen, im dritten Buch, Paragraph 694a. Dieser Text ist sehr interessant, weil er uns ein ganz anderes Bild der parrhesia nahelegt und sie in einem ganz anderen Zusammenhang zeigt, als was wir bisher gesehen haben. In diesem Text der Gesetze,
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Buch 1II, finden wir die Beschreibung des Königreichs von Kyros, das, so Platon, die »rechte Mitte« zwischen der Knechtschaft und der Freiheit darstellt. 12 Sie wissen, daß in einer Reihe von Kreisen, denen übrigens sowohl Platon als auch Xenophon angehörten, die persische Monarchie des K yros als das Vorbild der guten und gerechten politischen Verfassung galt. Xenophons Kyropädie ist diesem Thema gewidmet, und in den Gesetzen sowie in einer Reihe von Platons späteren Texten findet man sehr positive Verweise auf das persische Reich oder zumindest auf jene Phase oder Episode - die für die Griechen übrigens einen ganz mythischen Charakter hatte - des persischen Reichs, die in der Herrschaft Kyros' bestand. Kyros' Herrschaft war also ein wichtiger politischer Mythos für diese Meinungsrichtung zu jener Zeit. Wie beschreibt nun aber Platon in den Gesetzen das Reich des Kyros? Erstens habe sich K yros, als er die großen Siege errungen hatte, die ihn an die Spitze seines Reiches brachten, davor gehütet, die Sieger eine unbegrenzte Macht über die Besiegten ausüben zu lassen. Anstatt sich wie die schlechten Herrscher zu verhalten, die gegenüber den Besiegten eine despotische Herrschaft ihrer eigenen Familie oder ihrer eigenen Freunde einrichten, hat K yros an die natürlichen Oberhäupter, an die schon existierenden Oberhäupter der besiegten Völker appelliert. Diese Oberhäupter wurden nun erstens Kyros' Freunde und dann seine Abgeord neten bei den besiegten Völkern. Ein Reich, in dem die Sieger den besiegten Oberhäuptern denselben Rang einräumen, den sie selbst innehaben, ist ein angemessen regiertes Reich. Zweitens, so Platon, war K yros' Reich ein gutes Reich, weil das Heer so eingerichtet war, daß die Soldaten die Freunde der Oberhäupter waren und als solche bereit waren, sich auf deren Befehl Gefahren auszusetzen. Schließlich bestand das dritte Merkmal von Kyros' Reich darin, daß, wenn es in der Umgebung des Herrschers jemanden gab, der klug war und gute Ratschläge geben konnte, der König, der in dieser Hinsicht frei von jeglicher Eifersucht war, ihm die volle Redefreiheit verlieh (die parrhesia). Er gab ihm nicht nur volle Redefreiheit, son25 8
:~,n er belohnte und ehrte alle diejenigen, die sich als fähig erC":;:sen, ihn ordentlich zu beraten. Dadurch, durch diese den ,::: ::gsten Beratern verliehene Freiheit zu sprechen, wie sie woll:-::2. bot er die Möglichkeit, die Fähigkeiten seines Beraters im ==-.:;:resse aller herauszustellen. Von da an, so schließt der Text, alles bei den Persern, nämlich dank der Freiheit (eleu~'~?"ia), der Freundschaft (philia) und der Gemeinsamkeit der .~"::sichten und der Zusammenarbeit (der koinonia)Y "::: glaube, daß dieser Text sehr interessant ist, weil man in ihm die Beibehaltung einer Reihe von Werten, die Beibehal:"..:ng einer bestimmten Thematik, die für die parrhesia eigen:::n:lich ist, als auch die Verschiebung, die Umwandlung dieser -::-~;:matik erkennt, die es gestattet, sich an einen ganz anderen :.~·!itischen Zusammenhang anzupassen, nämlich den der auto.~atischen Macht. Im Falle der demokratischen parrhesia hatte :der das Recht zu sprechen. Es war jedoch außerdem notwen::g, daß die, die sprechen, auch die Fähigsten sind. Und das ;ctc,r eines der Probleme, die für das Funktionieren der Demo,::-atie wesentlich sind. Hier haben wir dasselbe Problem und :asselbe Thema: Unter den Beratern des Fürsten gibt es man:::;:, die fähiger sind als die anderen. Und es wird gerade die .~cdgabe und Funktion des Fürsten sein, denjenigen unter sei:.:::1 Beratern herauszufinden, der der fähigste, der klügste, der ::'Jglichste ist. Z7:eitens bestand in der demokratischen parrhesia - das war ::e wesentliche Gefahr dieser parrhesia - für denjenigen, der :as Wort ergriff, das Risiko, daß seine Unternehmungen nicht :m erwarteten Erfolg hatten. Außerdem gab es das Risiko, das :'.JCh schwerwiegender oder unmittelbarer und gefährlicher 7:ar, der Volksversammlung zu mißfallen und ausgewiesen zu ":erden, möglicherweise aus der Stadt verbannt oder verjagt zu "·erden und seine Bürgerrechte zu verlieren usw. Dieselbe Gebestand im Kontext der autokratischen Macht, und es ,,;ird gerade die Aufgabe des Fürsten sein - genau das tut Ky-·)5 -, daß der, der vor ihm und in seiner Gegenwart das Wort ::greift, nicht von seiner eigenen Redefreiheit bedroht wird.
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Buch III, finden wir die Beschreibung des Königreichs von K yros, das, so Platon, die »rechte Mitte« zwischen der Knechtschaft und der Freiheit darstellt. 12 Sie wissen, daß in einer Reihe von Kreisen, denen übrigens sowohl Platon als auch Xenophon angehörten, die persische Monarchie des Kyros als das Vorbild der guten und gerechten politischen Verfassung galt. Xenophons Kyropädie ist diesem Thema gewidmet, und in den Gesetzen sowie in einer Reihe von Platons späteren Texten findet man sehr positive Verweise auf das persische Reich oder zumindest auf jene Phase oder Episode - die für die Griechen übrigens einen ganz mythischen Charakter hatte - des persischen Reichs, die in der Herrschaft K yros' bestand. Kyros' Herrschaft war also ein wichtiger politischer Mythos für diese Meinungsrichtung zu jener Zeit. Wie beschreibt nun aber Platon in den Gesetzen das Reich des Kyros? Erstens habe sich Kyros, als er die großen Siege errungen hatte, die ihn an die Spitze seines Reiches brachten, davor gehütet, die Sieger eine unbegrenzte Macht über die Besiegten ausüben zu lassen. Anstatt sich wie die schlechten Herrscher zu verhalten, die gegenüber den Besiegten eine despotische Herrschaft ihrer eigenen Familie oder ihrer eigenen Freunde einrichten, hat Kyros an die natürlichen Oberhäupter, an die schon existierenden Oberhäupter der besiegten Völker appelliert. Diese Oberhäupter wurden nun erstens Kyros' Freunde und dann seine Abgeordneten bei den besiegten Völkern. Ein Reich, in dem die Sieger den besiegten Oberhäuptern denselben Rang einräumen, den sie selbst innehaben, ist ein angemessen regiertes Reich. Zweitens, so Platon, war K yros' Reich ein gutes Reich, weil das Heer so eingerichtet war, daß die Soldaten die Freunde der Oberhäupter waren und als solche bereit waren, sich auf deren Befehl Gefahren auszusetzen. Schließlich bestand das dritte Merkmal von Kyros' Reich darin, daß, wenn es in der Umgebung des Herrschers jemanden gab, der klug war und gute Ratschläge geben konnte, der König, der in dieser Hinsicht frei von jeglicher Eifersucht war, ihm die volle Redefreiheit verlieh (die parrbesia). Er gab ihm nicht nur volle Redefreiheit, son-
_t:-n er belohnte und ehrte alle diejenigen, die sich als fähig er"'.-:esen, ihn ordentlich zu beraten. Dadurch, durch diese den ,:~{;.gsten Beratern verliehene Freiheit zu sprechen, wie sie wollbot er die Möglichkeit, die Fähigkeiten seines Beraters im >:reresse aller herauszustellen. Von da an, so schließt der Text, ~~edieh alles bei den Persern, nämlich dank der Freiheit (eleu:cef"ia), der Freundschaft (pbilia) und der Gemeinsamkeit der _!~IlSichten und der Zusammenarbeit (der koinonia)Y glaube, daß dieser Text sehr interessant ist, weil man in ihm :::nvohl die Beibehaltung einer Reihe von Werten, die Beibehal::o.:ng einer bestimmten Thematik, die für die parrhesia eigen:'imlich ist, als auch die Verschiebung, die Umwandlung dieser Thematik erkennt, die es gestattet, sich an einen ganz anderen ~;olitischen Zusammenhang anzupassen, nämlich den der auto::ratischen Macht. Im Falle der demokratischen parrbesia hatte "der das Recht zu sprechen. Es war jedoch außerdem notwendaß die, die sprechen, auch die Fähigsten sind. Und das -''''ar eines der Probleme, die für das Funktionieren der Demo."ratie wesentlich sind. Hier haben wir dasselbe Problem und iasselbe Thema: Unter den Beratern des Fürsten gibt es man.::he, die fähiger sind als die anderen. Und es wird gerade die .-\ufgabe und Funktion des Fürsten sein, denjenigen unter sei:::en Beratern herauszufinden, der der fähigste, der klügste, der :auglichste ist. Zweitens bestand in der demokratischen parrhesia - das war die wesentliche Gefahr dieser parrhesia - für denjenigen, der das Wort ergriff, das Risiko, daß seine Unternehmungen nicht den erwarteten Erfolg hatten. Außerdem gab es das Risiko, das :loch schwerwiegender oder unmittelbarer und gefährlicher war, der Volksversammlung zu mißfallen und ausgewiesen zu werden, möglicherweise aus der Stadt verbannt oder verjagt zu werden und seine Bürgerrechte zu verlieren usw. Dieselbe Gefahr bestand im Kontext der autokratischen Macht, und es wird gerade die Aufgabe des Fürsten sein - genau das tut Kyros -, daß der, der vor ihm und in seiner Gegenwart das Wort ergreift, nicht von seiner eigenen Redefreiheit bedroht wird.
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Kyros verlieh »volle Redefreiheit«, und er »ehrte jeden, der fähig war, ihn zu beraten.«14 Wir begegnen hier der Vorstellung dessen, was man den parrhesiastischen Bund nennen könnte. Der Herrscher soll einen Raum eröffnen, innerhalb dessen das Wahrsprechen seines Beraters erscheinen und sich vollziehen kann, und er soll sich durch die Eröffnung dieser Freiheit dazu verpflichten, seinen Berater nicht zu maßregeln und nicht gegen ihn durchzugreifen. Das dritte wichtige Element, an das ich erinnern möchte, ist folgendes: Es machte den eigentümlichen Charakter der demokratischen parrhesia aus, daß sie nur unter der Bedingung eine wirkliche Rolle spielen kann, daß sich manche Bürger von den anderen unterscheiden, und daß sie die Volksversammlung dort, wo es nötig ist, leitet, indem sie Einfluß auf sie nimmt. Innerhalb der demokratischen Gleichheit war die parrhesia ein Prinzip der Differenzierung, eine Zäsur. Wir sehen hier nun, daß in Kyros' gutem Kaiserreich die parrhesia die hervorstechendste Form eines ganzen Prozesses ist, der, Platon zufolge, das richtige Funktionieren des Kaiserreichs gewährleistet, nämlich daß alle hierarchischen Unterschiede, die es zwischen dem Herrscher und den Soldaten, zwischen seiner Umgebung und den übrigen Bürgern, zwischen den Offizieren und den Soldaten, zwischen den Siegern und den Besiegten geben mag, durch die Bildung einer Reihe von Beziehungen gewissermaßen gemildert oder ausgeglichen werden, die den ganzen Text hindurch als Freundschaftsbeziehungen bezeichnet werden. Die philia wird Sieger und Besiegte vereinen, sie vereint Soldaten und ihre Offiziere. Mit derselben philia, derselben Freundschaft hört der Souverän den Berater an, der ihm die Wahrheit sagt, und dieselbe philia bewirkt auch, daß der Berater sich notwendigerweise aufgerufen oder zumindest geneigt fühlt, zu sprechen und dem Fürsten die Wahrheit zu sagen [.. .]. Auf diese Weise, so der Text, kann das ganze Kaiserreich funktionieren, nämlich nach den Prinzipien der »eleutheria« (einer Freiheit), deren Form nicht die verfassungsmäßige der geteilten politischen Rechte ist, sondern die Redefreiheit. Diese Rede-
freiheit gibt Raum für eine philia (eine Freundschaft). Und diese Freundschaft garantiert im ganzen Kaiserreich die koino',ia I5 zwischen Siegern und Besiegten, Soldaten und Offizieren, Höflingen und anderen Bewohnern des Kaiserreichs. Diese Redefreiheit, diese parrhesia ist also die konkrete Form der Freiheit in der Autokratie. Sie ist das Fundament der Freundschaft, der Freundschaft zwischen den verschiedenen Hierar,;:hieebenen des Staates und der Zusammenarbeit, der koinonia, die die Einheit des ganzen Reiches sicherstellt. Der dritte Text steht gleichfalls in den Gesetzen, in Buch VIII, Paragraph 835 ff. Es handelt sich um einen recht eigenartigen Text. Sie erinnern sich, daß das im VIII. Buch der Gesetze be11andelte Problem die Frage ist, wodurch die moralische, die religiöse und die bürgerliche Ordnung im Staat garantiert werden soll. Der ganze erste Teil des VIII. Buchs ist der Veranstaltung religiöser Feiern, der Veranstaltung von Chören und Chorgesängen, den Militärübungen gewidmet und dann der Gesetzgebung und der Beherrschung der Lüste und insbesonJ.ere des Geschlechtslebens. Die Passage über die parrhesia steht im Zentrum dieser Betrachtungen, nämlich zwischen dem, was die religiösen Feiern und die Militärübungen einerseits angeht, und der Ordnung des Sexuallebens andererseits. Eine Stelle ganz am Anfang des Buches weist daraufhin, daß :liese Praktiken (religiöse Feiern, Chorgesang, Militärübungen ::sw.) für den Staat völlig unverzichtbar sind und daß dort, wo sie fehlen, die politeiai (die Stadtstaaten) kein wirkliches Ge:neinwesen bilden, sondern Mengen von Individuen sind, die sich miteinander vermischt haben und die in Form der »Par:ei«16 miteinander streiten. Damit der Staat eine zusammenhängende Organisation ist, muß es also folgende Elemente geJen: religiöse Feiern, Chorgesang, Militärübungen und auch das wohlgeordnete Sexualleben. Was ist nun für diese Einheit, :liese einheitliche und tragfähige soziale Organisation, nötig? Es muß eine Autorität geben, so der Text, die gutwillig über dem Volk ausgeübt wird, das sie ebenso gutwillig akzeptiert, eine Autorität, die so beschaffen sein soll, daß die Bürger ihr
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gehorchen können und ihr auch wirklich gehorchen wollen. Es geht also darum, daß die Bürger persönlich von der Gültigkeit des ihnen auferlegten Gesetzes überzeugt sind und daß sie diese Gültigkeit auf ihre eigene Rechnung setzen. In diesem Moment wird die parrhesia notwendig. Die parrhesia ist jene wahre Rede, die von jemandem innerhalb des Staates gehalten werden soll, um die Bürger von der Notwendigkeit zu gehorchen zu überzeugen, zumindest in jenem Teil der Staatsordnung zu gehorchen, der am schwierigsten zu verwirklichen ist, nämlich im individuellen Leben der Bürger und in ihrem Seelenleben oder vielmehr im Leben ihres Körpers, d. h. im Leben ihrer Wünsche und Lüste. Am Beginn der Analyse der Sexualgesetzgebung schreibt Platon: »Um so mehr kommt es dagegen auf folgenden Punkt an, wo die Überredungskraft leicht versagt, so daß eigentlich hier nur ein Gott zu helfen imstande wäre, wenn es nur möglich wäre, unmittelbar Anweisungen von ihm zu erhalten; so aber bedarf es, wie es scheint, irgendeines unerschrockenen Menschen, der mit unvergleichlichem Freimut das, was ihm für Staat und Bürger das Beste zu sein scheint, ausspricht und die sittlich verwahrlosten Gemüter zu Schicklichkeit und Anstand, wie sie dem Gemeinwesen ziemen, zurückruft als Bekämpfer der mächtigsten Begierden, ohne dabei auf den Beistand irgendeines Menschen rechnen zu können, sondern ganz auf sich selbst gestellt und nur der eigenen Einsicht folgend.«17 Das ist ein eigenartiger Text, weil wir, wie gesagt, bei der Beschreibung eines idealen Staats sind, wo man gerade erwarten kann, daß die Organisation des Staats selbst, die vorgesehenen Gesetze, die Hierarchie der Ämter, die Weise, wie die Funktionen bestimmt werden, gewissermaßen die grundlegende Verknüpfung zwischen der Organisation des Staats und der Wahrheit ausmacht. Die Wahrheit war im Geiste des Gesetzgebers gegenwärtig, und wenn er einmal sein Gesetzsystem formuliert hat, wozu braucht man dann noch einen anderen, der die Wahrheit sagt? Genau dieser Punkt erscheint in diesem Text. Wir haben es mit einem System von Gesetzen zu tun, alles wurde geregelt, die Ämter sind genau so, wie es
:-'eötig ist. Und hier, wo man es mit dem Leben der Individuen, ~it dem Leben ihres Körpers und ihrer Triebe zu tun hat, :craucht man nun einen anderen. Vielleicht einen Gott, aber ",,"enn der Gott nicht beispringt, braucht man eben einen Mens:hen. Was wird dieser Mensch tun? Nun, er wird sich, mögicherweise völlig allein und ohne irgendwelche Hilfe, an die Einzelnen wenden, indem er einzig im Namen der Vernunft spricht, und ihnen in aller Offenheit die Wahrheit sagt. Eine "0~'ahrheit, die sie überzeugen soll, und zwar davon, daß sie sich so verhalten, wie sie sollen. Hier haben wir, glaube ich, die VorsIellung einer Art von Ergänzung zur parrhesia, die die Orga::lisation des Staats und die Ordnung der Gesetze, wie vernünf:ig sie auch sein mögen, niemals sicherstellen können. Auch wenn es einen idealen Staat gibt, wenn die Ordnung vollkom'TIen ist, wenn die Ämter so gut wie möglich eingerichtet sind, ":enn ihre Funktionen so genau wie nötig ausgeführt werden, 'TIuß es dennoch, damit die Bürger sich in der Ordnung des Staats richtig verhalten und jene zusammenhängende Organisation bilden, die der Staat für sein Überleben braucht, einen zusätzlichen Diskurs der Wahrheit für die Bürger geben. Je'TIand muß sich in aller Offenheit an sie wenden, die Sprache der Vernunft und der Wahrheit ergreifen und sie dadurch überzeugen. Das ist der zusätzliche Parrhesiast als moralischer Führer der Individuen, aber der Individuen in ihrer Gesamtheit. Diese Art von hohem moralischen Staatsbeamten sehen wir in diesem Text dargestellt. Auch hier läßt sich deutlich erkennen, daß die parrhesia in ihrer Komplexität oder in ihrer zweifachen Gliederung erscheint: Die parrhesia ist in der Tat dasjenige, was die Gesellschaft nötig hat, um regiert zu werden, aber auch das, was auf die Seele der Bürger einwirken muß, da'TIit sie tadellose Bürger in diesem Staat sind, auch wenn er gut regiert wird. Gewiß hätte ich Ihnen heute morgen auch den Text des Gorgias 18 erklären wollen. Wir kommen aber auf jeden Fall auf ihn zu sprechen, wenn wir vom Problem der Leitung der einzelnen Seelen handeln werden. In diesem Text wird die parrhesia gera-
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de völlig vom politischen Problem entkoppelt. Sie wird hier nur als Prüfung der Seele gegenüber einer anderen dargestellt, als das, wodurch die Wahrheit von einer Seele an eine andere weitergegeben werden kann. Jedenfalls wollte ich Ihnen in diesen drei Texten Platons, von denen ich gesprochen habe, wenn wir vielleicht noch den Text des Gorgias dazunehmen, zeigen, daß sich ein ganzes Problemspektrum der parrhesia eröffnet bzw. abkoppelt. Die bürgerliche, politische parrhesia, die mit der Demokratie und mit dem Problem des Einflusses auf die anderen verbunden ist, dieses Problem der parrhesia nimmt in den Texten Platons neue Aspekte an. Einerseits erscheint das Problem der parrhesia in einem anderen Zusammenhang als dem der Demokratie. Dann wird das Problem der parrhesia als Handlung dargestellt, die nicht nur gegenüber dem ganzen Staatskörper, sondern auch gegenüber der Seele der Individuen, sei es der Seele des Fürsten oder der Bürger, ausgeführt werden soll. Schließlich erscheint das Problem der parrhesia als das Problem des philosophischen Handelns im eigentlichen Sinne. Dieser Punkt wird in einer Reihe von anderen Texten Platons sehr klar entwickelt, über die ich in der zweiten Stunde sprechen möchte: Die Briefe Platons sind Texte, die sehr gut zeigen, wie man die parrhesia als Philosoph und von der Philosophie aus entfalten kann. Das werde ich Ihnen in wenigen Minuten zu erklären versuchen.
Anmerkungen
4 Ebd., 556c-d, 5.365. 5 Ebd., 557a, 5.365. 6 »Fürs erste sind die Menschen frei, der 5taat quillt über in der Freiheit der Tat (eleutheria) und der Freiheit des Worts (parrhesia), und jedem ist erlaubt zu tun, was er will!« (ebd., 557b, 5.3 66 ). 7 Ebd., 558a, 5.367. 8 Ebd., 55 8b. 9 Ebd., 558d-561b, 5. 366-37I. 10 "Aber ein wahrhaftiges Wort (logon alethe) empfängt er nicht, noch läßt er es in seine Burg« (ebd., 561 b, 5. 32). I! Ebd., 561d, 5.33. 12 Platon, Gesetze, Buch III, 694a. Foucault verwendet hier die Übersetzung von L. Robin ((Euvres completes, Bd.II, Paris 1940,5'732; dt. Werke, Bd.IX, 2, Nomoi [Gesetze), Übersetzung und Kommentar v. Klaus 5chöpsdau, Göttingen 1994,5.80). 13 "Als die Perser zur Zeit des Kyros noch mehr das rechte Maß in der Knechtschaft und in der Freiheit einhielten, da wurden sie zuerst frei und dann Herren über viele andere. Denn da die Herrschenden denen, über die sie herrschten, Anteil an der Freiheit gaben und sie zur Gleichheit hinführten, waren die Krieger mit den Heerführern enger befreundet und zeigten sich kampfeswilliger in den Gefahren; wenn es andererseits unter ihnen einen verständigen Mann gab, der Rat zu erteilen fähig war, so konnte er, da der König nicht neidisch war, sondern Redefreiheit gewährte (didontos parrhesian) und diejenigen ehrte, die zu etwas einen Rat beizusteuern fähig waren, die Fähigkeit seines Denkens in den Dienst der Gemeinschaft stellen, und so gedieh bei ihnen alles durch Freiheit (eleutherian), Freundschaft und Gemeinsamkeit der Vernunft (philian kai nou koinonian)« (ebd., 694 a- b ). 14 Ebd. I5 Vgl. oben, Anm. 13. 16 Platon, Gesetze, Buch VIII, 832C, übers. und erläutert v. Otto Apelt, Leipzig 1916, 5. 32417 Ebd., 835 b-c, 5.328-329. 18 5iehe unten, 5. 457-468, die Textanalyse in der Vorlesung vom 9. März.
1 »Wir sind nämlich zusammengekommen, um über Krieg und Frieden zu debattieren. Beides hat auf das Leben der Menschen größten Einfluß, und zwangsläufig muß es denen, die hierin die richtigen Entscheidungen (orthos bouleuomenos) treffen, besser gehen als allen anderen. 50 bedeutend also ist der Gegenstand, zu dessen Beratung wir zusammengekommen sind« (Isokrates, Rede über den Frieden, a. a. 0.,2,5.151). 2 VgL oben, Vorlesung vom 12. Januar, 5.72-84. 3 Platon, Der Staat, Buch VIII, 555 b- 55 7a, eingeL und übers. v. Karl Vretska, 5tuttgart 1980, 5.363-365. 26 4
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.....-.
". Die Vorlesung beginnt folgendermaßen: - Ich möchte jetzt nicht auf einen theoretischen Einwand, sondern auf eine praktische Frage antworten. Jemand sagte mir letztes Mal: Diese beiden Stunden dauern ohnehin schon sehr lange; wenn man dann eine Pause von fünf Minuten macht und danach fortfährt, wird alles zerrissen usw. Was halten Sie davon? Ich neige dazu, dieses Format beizubehalten. - Ihre Einteilung ist annehmbar. Es ist besser, wenn man sich etwas erholen kann. - Sind Sie also für zwei Stunden mit einer kleinen Unterbrechung? Wir hätten auch die Möglichkeit von anderthalb Stunden ohne Unterbrechung ... Nein, was ziehen Sie vor? Denken Sie bitte daran, daß das für das Opfer jedenfalls ziemlich anstrengend ist! [er lacht]. Wir werden also wie bisher weitermachen. Ich bin übrigens mit dem, was ich Ihnen heute morgen erzähle, nicht sehr glücklich. Es handelt sich nämlich um Textanalysen, die erfordern würden, daß man sie eher in einer Privatsitzung bespricht. Über Texte zu reden, die Sie nicht vor Augen haben, über die man nicht diskutieren kann, ist etwas ...
7.-ichtige Gattung bildeten_ Eine Zeitlang, nahezu das gesamte =9· Jahrhundert hindurch, wurde die Echtheit aller dieser Brie:e von der Kritik heftig abgelehnt. Inzwischen räumt man im 21gemeinen ein, daß der VI. Brief, vor allem der große VII. Brief und auch der VIII. Brief echt seien oder zumindest aus Iveisen hervorgegangen sind, die Platon selbst äußerst nahes:anden, während andere sicherlich viel später entstanden und weder von Platon noch von seiner unmittelbaren Umgebung ::eschrieben wurden. Die Gesamtheit der Briefe ist dennoch in:eressant, und zwar insofern es sich um Texte handelt, die alle 2US platonischen Kreisen hervorgingen und die Art und Weise zum Ausdruck bringen, wie man in der Akademie, sei es zu ?latons Lebzeiten, sei es nach seinem Tod, der Auffassung war, daß die philosophische Tätigkeit nicht nur ein Brennpunkt des Nachdenkens über die Politik, sondern auch sozusagen ier politischen Reflexion und des politischen Handelns sein :connte. 'Jas ist übrigens eine beglaubigte Tatsache, die Plutarch in sei:"lern anti-epikuräischen Text Wider Kolotes 1 erzählt, wo er dar2n erinnert, daß, während die Epikuräer sich immer über Poli:ik lustig gemacht haben, ein Philosoph wie Platon und seine Schüler - und darin besteht ihr Wert - sich viel mehr darum sorgten, ins politische Leben einzugreifen und ihren Zeitge:"lassen Ratschläge zu geben. Er erinnert an die verschiedenen S.:::hüler, die Platon zu seinen Lebzeiten ausgesandt hat, um vers:hiedenen Herrschern Ratschläge zu erteilen. Betrachten wir ::.iso diese Texte unabhängig von allen Problemen der Echtheit :ls Zeugnisse dieser politischen Intervention, indem wir jedoch _"ervorheben, daß diese platonischen, aber vor allem nachpla:.)nischen politischen Interventionen in einem politischen Zu52mmenhang des Verfalls der griechischen Stadtstaaten und De::-:okratien stattfinden_ Es ist die Epoche der Bildung der großen ::dlenistischen Monarchien, in denen gerade die politischen :?robleme völlig von der Funktion der agora auf die Funktion ier ekklesia übertragen werden. Auch wenn die städtische De::-:okratie noch eine Rolle spielt, werden die wesentlichen poli-
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Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, zweite Stunde) Platons Briefe: Einordnung. - Studie des v. Briefs: die phone der Verfassungen; Gründe für die Nicht-Beteiligung. - Studie des VII. Briefs. - Geschichte Dions. - Platons politische Autobiographie. - Die Reise nach Sizilien. - Warum Platon den kairos, die philia und das ergon annimmt.
[... ':-J Ich möchte jetzt über mehrere Texte sprechen, die man in Platons Briefen findet oder Platon zugeschrieben werden. Sie sind deshalb interessant, weil es sich um Dokumente handelt, die, wenn schon nicht die wirkliche Rolle der Philosophen aus der Schule Platons im politischen Leben Griechenlands, so doch zumindest die Art und Weise beleuchten, wie sie über ein mögliches Eingreifen nachgedacht haben und inwiefern ihnen die Anerkennung ihrer Rolle als Verkünd er der Wahrheit in der griechischen Politik wichtig war. Sie wissen, daß Platons Briefe äußerst umstritten sind, daß sie in der Antike relativ spät zusammengetragen wurden, nämlich zu einer Zeit, zu der Sammlungen von fiktiven oder wirklichen Briefen eine
tischen Probleme von der agora, die gewissermaßen kommunalisiert wurde, auf den Hof der Herrscher übertragen. Auf dem Spiel steht nun die Rolle der Philosophie am Hofe der Herrscher. Die Bühne ist der Herrscher, der Hof, die Umgebung des Herrschers. Hier wird jedenfalls für Jahrhunderte die wichtigste politische Bühne sein. Von diesen Briefen möchte ich mich mit zweien oder dreien beschäftigen. Der erste, der zwar nicht Platon zugeschrieben wird, aber recht alt sein dürfte, ist meiner Meinung nach äußerst interessant. Es handelt sich um den v. Brief. Es ist kein Brief Platons, es ist offensichtlich auch kein wirklicher Brief, was jedoch nicht bedeutet, daß er nicht von Platonikern geschrieben wurde. Sondern dieser Brief ist, wie gewiß auch der VII. Brief, der Platon zugeschrieben wird, ein fiktiver Brief, d.h. daß er dafür gedacht war, als Manifest, als kleine Abhandlung, als eine Art von offenem Brief zu zirkulieren, mit dem man die Öffentlichkeit oder zumindest die gebildete Öffentlichkeit als Zeugen anrief. Dieser v. Brief ist aus folgendem Grund interessant: Er war an Perdikkas, den Bruder Philipps, gerichtet, der eine gewisse Zeit über Makedonien regierte. Der Brief legt nahe, daß Platon ihm seinen Schüler Euphraios geschickt hatte. Ich sage »legt nahe«. Platon hatte zwar tatsächlich seinen Schüler Euphraios geschickt, es ist aber sehr wahrscheinlich, es steht sogar fest, daß der Brief nicht wirklich an Perdikkas zu der Zeit geschickt wurde, zu der Platon seinen Schüler gesandt hatte. Es ist ein späterer Text, der eine Handlung rechtfertigt, die Platon wirklich getan hatte, indem er seinen Schüler zu Perdikkas schickte. In diesem Brief werden wir zwei Fragen aufwerfen, die die Rolle der Philosophie und des Philosophen als eines politischen Beraters betreffen. Die erste Frage: Was bedeutet es, Verfassungen und Regierungen, die sich sehr voneinander unterscheiden, Ratschläge zu erteilen? Würde die Rolle des Beraters nicht eher darin bestehen zu sagen, was die beste politeia (die beste Verfassung) ist? Diese Frage wird in dem Text nicht einfach so, direkt und unvermittelt gestellt, es ist jedoch klar, daß der Text auf diesen Einwand antwortet. Ist es angemessen, 268
",iner beliebigen Art von Regierung, auch wenn sie monarchisch oder autokratisch ist, Ratschläge zu erteilen? Besteht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, zu sagen, was die beste Regierungsform ist ? Um auf diese impliziten Fragen, die den Text durchziehen - der übrigens recht kurz ist, er umfaßt nur drei Seiten -, zu antworten, sagt Platon folgendes: Man muß jede Verfassung (jede politeia) mit einem Lebewesen vergleichen. Wie jedes Lebewesen hat auch jede politeia ihre eigene Stimme (phone). Sie hat ihre eigene Stimme, und wenn eine politeia ihre eigene Stimme, jene, die ihr von Natur aus zukommt, zum Sprechen verwendet, wenn die politeia mit ihrer eigenen phone spricht, um sich an die Menschen oder an die Götter zu wenden, dann gedeiht die politeia, und sie behauptet sich. Sie ist gerettet. Wenn dagegen eine politeia die phone (die Stimme) einer anderen politeia nachahmt, dann geht sie unrer. 2 Diese Stelle ist vor allem dann interessant, wenn man sie mit einem Text aus dem Staat vergleicht, wo ebenfalls von der phone und der politeia die Rede ist oder jedenfalls von der phone und von der Art und Weise, wie das, was als Stimme in der politischen Körperschaft erscheint, gehört werden soll. Es handelt sich um einen Text, der im VI. Buch des Staats steht (493a ff.). In diesem Text wird gesagt, daß die Gesamtheit der Bürger (der plethos, die Masse) wie ein Tier ist und daß diejenigen, die diese Bürgermasse regieren wollen, die Pflicht haben, die Stimme dieses Tieres, das die Masse der Bürger ist, zu erlernen. :\fan muß sein Grollen, seine Wutausbrüche, seine Begierden verstehen, dann kann man es führen. 3 Doch hier in diesem Text des Staats hat die Analyse der Rolle, die der Regierende im Hinblick auf diese phone spielen soll, die Form einer kritischen Beschreibung. Sie ist insofern kritisch, als es sich erstens nicht genau um die politeia, um die Verfassung im eigentlichen Sinne handelt. Vielmehr geht es um die Masse, den plethos, um eben jene amorphe oder vielmehr polymorphe, kunterbunte Masse, die die Versammlung der Bürger darstellt, die Masse der Bürger, wenn sie sich versammelt. Was ist nun die Stimme, die von 269
dieser Masse ausgeht? Es ist die Stimme der Wut, so der Text, die Stimme der Begierden, d. h. die Stimme all dessen, was nicht vernünftig ist. Und der schlechte Führer ist gerade derjenige, der, da er das Vokabular der Begierden gelernt hat, dieser Stimme Widerhall verleiht und die Masse in die Richtung leitet, die sie begehrt. Im Verhältnis zu diesem Text ist der, den man im V. Brief findet, wie Sie sehen, anders, und zwar trotz des Vergleichs mit der Masse. Denn in diesem Text des V. Briefs sieht man erstens, daß nicht von »plethos«, sondern von »politeia« die Rede ist, d. h. von der Verfassung, von der Verfassung, in der Punkt für Punkt ihre jeweilige Form dargelegt ist, sei es eine Demokratie, eine Aristokratie, eine Oligarchie oder eine Monarchie. Es geht um die politeia, die politeia in ihrer Struktur. Diese politeia hat nun eine phone, die mit dem Wesen der politeia übereinstimmen soll. Wenn aber die phone, anstatt mit dem Wesen der politeia selbst übereinzustimmen, das Vorbild einer anderen Verfassung nachahmt oder sich von diesem verleiten läßt, mit anderen Worten, wenn sich jemand in einem solchen Staat erhebt und die Sprache einer anderen Verfassung spricht, dann werden die Dinge ins Schleudern geraten und die Stadt oder der Staat untergehen. Wenn dagegen die phone sich immer nach der politeia richtet, dann wird der Staat ordentlich funktionieren. Nun kann man sich fragen, warum Platon solche Ausführungen in diesem recht kurzen Brief macht, in dem er Perdikkas die Entsendung seines Beraters tatsächlich oder vermeintlich ankündigt. Man muß den Text auf diesen verschiedenen Bedeutungsebenen verstehen. Im wirklich vorliegenden Text, der nicht für Perdikkas, sondern für den Hörer geschrieben wurde, geht es natürlich darum zu sagen: Ja, ich bin dazu in der Lage und finde es völlig folgerichtig und normal, einen Berater an eine Regierung zu entsenden, auch wenn sie monarchisch oder autokratisch ist, denn das Problem besteht nicht so sehr in der Bestimmung der besten Verfassung, sondern es zu bewerkstelligen, daß jede der politeiai gemäß ihrem eigenen Wesen funktioniert. Hier sehen wir also in aller Deutlichkeit 27°
.:::a5 Thema, das ich vorhin erwähnte: Die parrhesia hat ihre B,olle nicht nur im Rahmen der Demokratie zu spielen, soniern es gibt sozusagen ein parrhesiastisches Problem, ein Pro61em der parrhesia, das sich für jegliche Form der Regierung
s:ellt. Zweitens sehen Sie, daß die Entsendung des Beraters, des Phi;0sophen, von Platons Schüler, sich an der Stelle findet, wo sich ::1e Frage nach der Stimme stellt. Die Frage nach der Stimme ist idgende: Welche Funktion hat der Berater, den er an Perdikkas e:1tsendet? Obwohl es im Text nicht ausdrücklich gesagt wird, zeigt doch das Vorkommen bzw. das Vorhandensein der Ausi'ihrungen über die phone, daß die Rolle des entsandten Philosophen darin bestehen soll, darüber zu wachen, daß die phone, .:ie sich in der politeia, in der Verfassung, artikuliert, mit dem "'X"e5en dieser Verfassung übereinstimmt. Das ist die Aufgabe ier Philosophen: das, was in einem Staat gesagt wird, so zu for:::1ulieren und zur Sprache zu bringen, daß das Gesagte wirk:ich mit dem Wesen des Staates übereinstimmt. Nur ein Philosoph kann das tun, da nur er allein weiß, worin das Wesen jedes Staates besteht. Seine Rolle ist aber anscheinend nicht so sehr zu sagen, welches der beste Staat ist, selbst wenn er diese Frase anderweitig stellen kann. Als Berater muß er die Frage ::lach dem besten Staat beiseite lassen und die Natur und das '~\"esen jeder politeia im Blick behalten, und er soll bewerkstelligen - darin besteht seine parrhesia, sein Wahrsprechen -, :aß die Stimme, die sich in den Diskussionen, in den Debatten, ::1 den verschiedenen ausgedrückten Meinungen, in den getrof;·men Entscheidungen bildet, wirklich mit der politeia übereins:immt. Er ist der Wächter der Stimme jeder Verfassung. Im 'X'achen darüber, daß diese Stimme mit dem Wesen der Verfassung übereinstimmt, besteht das Wahrsprechen des Philoso?hen und des Beraters. Er sagt keine Wahrheiten über die Na::Ir der Staaten, sondern sein Wahrsprechen ist so, daß das, was einem Staat gesagt wird, mit der Wahrheit dieses Staates "ibereinstimmt. =:1 demselben Brief wird noch eine zweite Frage aufgeworfen, 27 I
ein weiterer Einwand, der offenbar Platon oder den Platonikern gegenüber gemacht wurde und auf den der Brief antworten sollte. Die erste Frage war also: Wie kann man nur einen Philosophen als Berater an einen Autokraten entsenden? Die Antwort darauf kennen Sie nun. Die zweite Frage ist: Warum wurden Athen selbst keine Ratschläge erteilt? Wenn ihr in Athen (Platon oder die Mitglieder der Akademie) schweigt, warum wendet ihr euch dann an einen König, um ihm Ratschläge zu erteilen? Die Antwort, die der Verfasser des Textes Platon unterschiebt, ist nun: In Athen hat das Volk seit so langer Zeit schon so schlechte Gewohnheiten angenommen, daß es nicht mehr möglich ist, es zu reformieren. Wenn Platon einem athenischen Volk, das jetzt so weit von der Wahrheit entfernt ist, Ratschläge erteilen wollte, würde er sich umsonst in Gefahr begeben. 4 Hier haben wir also das Bild und den Hinweis auf die falsche parrhesia in einem demokratischen Staat. Im demokratischen Stadtstaat Athens sind die Dinge an dem Punkt angelangt, wo man die Sprache nicht mehr aufrecht halten kann, wo man nicht mehr darüber wachen kann, daß die phone mit dem Wesen der Demokratie übereinstimmt. Es ist so weit gekommen, daß derjenige, der versuchen würde, der Stimme der wahren Demokratie, die in dieser Demokratie künftig keine Hoffnung mehr hat, Geltung zu verschaffen, das Risiko aller Parrhesiasten teilen würde, ein Risiko, das es nicht mehr wert ist, eingegangen zu werden, weil es keine Möglichkeit des Handelns, keine mögliche Veränderung mehr gibt. Man würde sich für nichts in Gefahr begeben, und genau das weigert sich Platon zu tun. Deshalb schweigt er in Athen, wo die parrhesia unmöglich geworden ist. Aber er schickt seinen Schüler zu Perdikkas bzw. man nimmt das zumindest an, denn dort hofft er, der phone der wahren Monarchie einem Monarchen gegenüber Gehör verschaffen zu können, der bereit ist, den Diskurs des Philosophen zu hören. Das also finden wir im v. Brief. Ich möchte nun zum VII. Brief übergehen, zu dem großen Brief, in dem Platon einerseits erzählt, was seine wirkliche 27 2
Laufbahn als politischer Berater war, und andererseits eine Theorie darüber aufstellt, was der politische Rat eines Philosophen an einen Tyrannen sein kann und soll. Sehen Sie es mir ~,itte nach, daß ich ganz knapp an den historischen Kontext ermnern werde, der etwas verwickelt ist. Ich werde versuchen, ::nich nicht zu sehr darin zu verlieren. Sie wissen, daß es sich um die Beziehungen zwischen Platon und Dionysios von Syrakus, zwischen Platon und Dionysios dem Jüngeren handelt. Sie erinnern sich an jene Situation. Es gab also den Tyrannen von Syrakus in Gestalt Dionysios' des Älteren, der auf Syrakus eine despotische, tyrannische Macht ausgeübt hatte und der übri;ens dazu gelangt war, ganz Sizilien oder einen Teil davon zu :'eherrschen. Dionysios der Ältere hatte im Alter eine junge Frau geheiratet, deren noch ganz junger Bruder Dion war. Wir "'laben also die folgenden beiden Personen: Dionysios der Älce re und Dion, sein ganz junger Schwager. Dionysios stirbt und Dion, den Platon schon bei einer früheren Reise nach Sizilien kennengelernt hatte, bittet Platon, nach Sizilien zu kommen, um als politischer Berater und Pädagoge zugleich für Dionysios den Jüngeren, Sohn von Dionysios dem Alteren und Erbe der Macht, zu dienen. Das ist die zweite Reise Platons. Ich lasse die Wendepunkte beiseite. Wie Plutarch erzählt, ist diese Reise in der Tat sehr unglücklich verlaufen. Ich habe diese Episode zuvor erwähnt. Dion wird verbannt, Platon fährt nach Griechenland zurück, und nach einiger Zeit wendet sich Dionysios der Jüngere erneut an Platon, indem er zu ihm sagt: Nun ja, ich habe Dion tatsächlich verbannt, aber .. werde ihn zurückrufen. Ich rufe ihn jedoch nur unter der Bedingung zurück, daß du ebenfalls zurückkommst. PI at on seht also das dritte Mal nach Sizilien und zum zweiten Mal als Berater von Dionysios. Das wird sein letzter Aufenthalt in Sizilien sein. Auch hier verlaufen die Dinge sehr unglücklich. Platon fährt ab, ohne daß die Vereinbarung mit Dionysios je::nals eingehalten wurde, ohne daß Dion nach Syrakus zurück;ekehrt wäre oder seine Rechte wiederhergestellt worden wären. Platon fährt also nach diesem dritten Aufenthalt ein drittes 273
Mal zurück. Der Kampf zwischen Dionysios und Dion geht weiter. Schließlich wird Dionysios verjagt und Dion ergreift die Macht. Ein neuer Wendepunkt: Dion wird im Verlauf verschiedener innerer Auseinandersetzungen, die sich zu jener Zeit in Syrakus ereignen, getötet. Die Familie Dions und seine Freunde schreiben Platon erneut oder nehmen zumindest Kontakt mit ihm auf, um ihn darum zu bitten, daß er eingreift, und zwar als Berater, gewissermaßen zum vierten Mal. Zuerst war er der Lehrer Dions. Dann kam er zweimal, um Dionysios zu beraten. Und nun bitten ihn Dions Angehörige nach dessen Tod zu kommen. In diesem Zusammenhang steht nun der Brief. Es handelt sich also um einen Brief, der ganz am Ende all dieser sizilianischen Episoden Platons geschrieben wurde und der eine Art von Bilanz ziehen wird. Platon erzählt, was seit seiner Jugend geschehen ist, seine ganze politische Laufbahn und warum er getan hat, was er tat. Zugleich stellt er eine Theorie der politischen Beratung auf. Ich glaube nun, auch wenn die Lektüre des Staats und die Lektüre der Gesetze für die Geschichte der Philosophie und des politischen Denkens absolut unverzichtbar sind, daß die Lektüre von Platons Briefen und insbesondere dieses VII. Briefs überaus interessant ist, weil er uns einen anderen Aspekt des politischen Denkens vor Augen stellt, dessen Genealogie ich hier etwas ausführen möchte. Es handelt sich um das politische Denken als Rat zum politischen Handeln, das politische Denken als Rationalisierung des politischen Handelns und nicht so sehr als Grundlage des Rechts oder als Grundlage der Ordnung des Staats. Das politische Denken, nicht aus der Perspektive des Grundvertrags betrachtet, sondern aus der Perspektive der Rationalisierung des politischen Handelns, die Philosophie als Beratung. Nun, wenn man eine solche Geschichte schreiben würde, dann wäre der VII. Brief dafür sicher wichtig. Ich werde nun zusammenfassen, was in diesem VII. Brief steht: erstens die ganze Seite von Platons politischer Autobiographie. Er erwähnt das, was man seine zweifache Enttäuschung nen274
könnte, als er als junger Athener, der einerseits der oberen _\ristokratie angehörte und andererseits Schüler von Sokrates ,:,.-ar, eine Reihe von Vorfällen um sich herum geschehen sah, zwar gerade die beiden großen Ereignisse, die zwei For'nen der Regierung exemplifizieren: erstens die Herrschaft der Dreißig; zweitens die Rückkehr zur Demokratie. Als seine erste politische Erfahrung - zu einer Zeit, zu der er noch äußerst :ung sein mußte - erwähnt er die Tatsache, daß die athenische Demokratie, die durch die nachhallenden Mißerfolge des Pelo?onnesischen Krieges geschädigt wurde, von einer Gruppe yon Aristokraten gestürzt wurde, unter denen sich Kritias und Charmides befanden, d. h. Verwandte Platons. Charmides war gewiß einer seiner Verwandten und Kritias ... Ich erinnere mich nicht mehr,5 zumindest handelte es sich um Schüler von Sokrates, um Leute, die dem Kreis um Sokrates nahestanden. Diese Leute ergreifen nun also die Macht. Platon erklärt, wie sehr er von dieser neuen Form des politischen Lebens in Athen bestrickt oder doch zumindest an ihr interessiert ist, wie sehr er aber sogleich von ihr enttäuscht wurde. Er wurde unmittelbar enttäuscht durch die Gewalt, die unter dieser Regierung entfesselt wurde, und insbesondere durch die Tatsache, daß man zu willkürlichen Festnahmen überging. Um ihn zur Mitwirkung bei einer solchen willkürlichen Festnahme zu veranlassen, verlangen die Tyrannen von Sokrates, an einer illegalen gerichtlichen Handlung teilzunehmen. Aber Sokrates weigert sich. Er weigert sich und gibt dadurch als Philosoph ein Beispiel für den philosophischen Widerstand gegenüber der politischen Macht, ein Beispiel von parrhesia, das lange Zeit ein Vorbild für die philosophische Einstellung gegenüber der Macht sein wird: der individuelle Widerstand des Philosophen. Auch hier erinnert Platon daran, wie sehr er anfänglich mit der Demokratie sympathisiert hat. Das zweite Ereignis ist nun aber negativ und symmetrisch zum ersten, und es dreht sich abermals um Sokrates: Dieses Mal ist es nicht Sokrates, der sich weigert, der Regierung zu gehorchen, und ein Beispiel des Widerstands gibt, sondern im Gegensatz dazu wird Sokrates von ::'eD
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der demokratischen Regierung aufgrund angeblicher Beziehungen zur vorherigen Regierung verfolgt. Trotz des Widerstands, den er gezeigt hatte, wird Sokrates verhaftet und zum Tode verurteilt. Beide Erfahrungen (mit der Oligarchie und mit der Demokratie) sind negativ. Aus diesen beiden Erfahrungen, an die Platon erinnert, zieht er in seinem Brief folgende, sehr interessante Schlußfolgerung: Nach diesen beiden Erfahrungen wird ihm klar, wie er sagt, daß es nicht mehr möglich sei, politisch zu handeln. Es ist nicht mehr möglich, politisch zu handeln, weil zwei Dinge fehlen. Erstens fehlen die Freunde (die philoi, die hetairoz), d. h., daß in einem schlecht regierten Staat die persönlichen Freundschaftsbeziehungen, die Beziehungen, die die Menschen miteinander verbinden und sie gewissermaßen in Interessengruppen zusammenschließen, mit deren Hilfe man die Macht erringen und den Staat leiten könnte, nicht mehr möglich sind. 6 Zweitens, so Platon, fehlen die Gelegenheiten (kairoz). Die Gelegenheit, das ist der richtige Augenblick, und der richtige Augenblick wird bestimmt durch die Tatsache, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt so etwas wie eine vorübergehende Wetterbesserung, eine Aufhellung, einen günstigen Moment geben könnte, um die Macht zu ergreifen. Nun entwickeln die Dinge sich aber vom Schlechten zum Schlimmeren, und eine solche Gelegenheit wird es nie geben. 7 Folglich kann man auch ohne Freunde, ohne jene freie Gemeinschaft von Menschen und ohne die durch die Umstände bestimmte Gelegenheit nicht versuchen, politisch zu handeln. Was soll man also tun? Nun, sagt Platon, da er verstanden hat, daß ein Handeln im Staat ohne Freunde und ohne Gelegenheit unmöglich ist, muß man wohl zu folgender Schlußfolgerung gelangen, die fast wörtlich mit dem berühmten Text aus dem V. Buch des Staats, 473d, übereinstimmt, nämlich daß jetzt die Philosophen an die Macht kommen müßten (eis archas: ein technischer Ausdruck, der die Ausübung eines Amtes bezeichnet; die archai sind die Ämter, die politischen Verantwortlichkeiten). Die Philosophen sollen also die politische Verantwortung übernehmen, und die Füh-
~ach dieser autobiographischen Erinnerung an seine Jugend,
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rtr, diejenigen, die die dynasteia haben (der Text spricht von dynasteuontes), sollen ernsthaft mit dem Philosophieren be8 ginnen. Allein die Anpassung der Ausübung und Praxis der Philosophie an die Ausübung und Praxis der Macht wird künf;:ig das ermöglichen, was in der Oligarchie oder der Demokra:ie unmöglich gemacht wurde. Ich glaube nun, daß man hier vor allem eines verstehen muß, nämlich daß Platon diesen Rückgriff auf die Philosophie, dieses erwünschte Zusammenfallen der Ausübung der Philosophie mit der Ausübung der Macht im Text - das ist von Bedeutung - als Folge einer Unmöglichkeit darstellt, d. h. als die Tatsache, daß das bis zu diesem Zeitpunkt gewöhnliche politische Spiel der parrhesia (des Wahrsprechens) im Bereich der Demokratie oder im Bereich des athenischen Staats nicht mehr möglich ist. Das Wahrsprechen hat seinen Ort nicht mehr alleine im Bereich der Politik. Was bedeutet, daß alles, was recht klar in Euripides' Text oder danach bei Isokrates formuliert \\'Urde, nämlich daß die parrhesia, die das Handeln bestimmter Bürger als Bürger gegenüber den anderen charakterisieren sollre, nun künftig nicht mehr von der Bürgerschaft geleistet wird und auch nicht mehr ein moralischer oder gesellschaftlicher Einfluß bestimmter Menschen auf andere ist. Die parrhesia [... ], das Wahrsprechen im Bereich der Politik kann nur auf die Philosophie gegründet werden. Die parrhesia, das Wahrspreehen soll sich nicht nur auf einen äußerlichen philosophischen Diskurs beziehen, sondern das Wahrsprechen im Bereich der Politik kann gar nichts anderes sein als das philosophische Wahrsprechen. Das philosophische und das politische Wahrsprechen müssen zusammenfallen, insofern keiner der politischen Abläufe, deren Zeuge Platon war, das richtige Spiel dieser parrhesia gewährleisten kann. Dieses gefährliche und halsbrecherische Spiel, von dem ich gesprochen habe, ist unmöglich geworden. Der absolute Anspruch der Philosophie auf den politischen Diskurs ist in Platons Auffassung offensichtlich zentral.
an seine politischen Erfahrungen und an die Schlußfolgerung, die er daraus für das Verhältnis zwischen der Macht und der Philosophie zieht, kommt Platon auf seine ersten beiden Reisen nach Sizilien zu sprechen. Er erzählt von der ersten Reise, die er gewissermaßen als Privatperson gemacht hat, als er Dion begegnete, und davon, daß Dion, der noch jung war und unter der Herrschaft von Dionysios dem Älteren stand, sich für die Philosophie interessierte. Er erinnert dar an, wie sehr er einerseits vom Zustand der Ausschweifung, der Unzucht, der moralischen Erschlaffung, in der Syrakus und die Umgebung von Dionysios lebten, verblüfft war und wie er im Gegensatz dazu von der Tugend und den Qualitäten des jungen Dion beeindruckt wurde. 9 Dann erwähnt er den Prozeß, den Dion nach dem Tod von Dionysios dem Älteren an seiner Seite durchgemacht hat, als Dionysios der Jüngere nach dem Tod seines Vaters die Macht ergriffen hatte. Dion wendet sich also an Platon und (das wird von Platon erwähnt) sagt ihm zunächst, daß Dionysios der Jüngere (der neue Tyrann, der neue Despot oder zumindest der neue Monarch von Syrakus) und seine U mgebung bereit sind, die Lehren der Philosophie zu hören. 1o Und, so Platon, der das, was Dion gesagt hat, zitiert oder sich zumindest indirekt darauf bezieht: Niemals waren die Umstände so günstig, daß man nun dank Dionysios dem Jüngeren und seiner Umgebung die Vereinigung von Philosophen und Herrschern großer Staaten in derselben Person ll realisieren könne. Hier haben wir also genau die Bestimmung des kairos, der in den Erfahrungen der Demokratie und der Oligarchie in Athen gefehlt hat. Wir haben einen kairos, 12 bei dem wir, da ein junger Monarch an die Macht gekommen und bereit ist, der Philosophie zuzuhören, die Vereinigung des Ausübens der Philosophie und der Ausübung der Macht verwirklichen können, von der Platon glaubt, daß sie jetzt die einzige Möglichkeit sei, wie das Wahrsprechen einen Einfluß auf den Bereich der Politik haben könne. Dieser günstigen Gelegenheit fügt Platon zwei weitere Betrachtungen hinzu, um diese Reise zu erklären, die zwar seine zweite nach Sizilien, aber seine erste politische Rei27 8
Sc ist. Die eine bezieht sich auf die Freundschaft zu Dion. Er 52.gt, daß, wenn er, Platon, Dionysios' Einladung abgelehnt _:ätte, und wenn er es abgelehnt hätte, Dionysios zu belehren, ., Dionysios, da er nicht entsprechend gebildet worden "\':äre, gegen Dion hätte wenden und Unheil über ihn bringen ~:önnen, und durch ihn über den ganzen Staat. Platon mußte Jso versuchen, Dionysios zu bilden. 13 Zweitens, so Platon, hat :hn eine weitere Überlegung dazu bewogen, der Einladung DiDns nachzukommen. Diese Überlegung ist interessant. Er wollte nämlich nicht als bloßer logos, als bloßer Diskurs erscheinen. Platon möchte nicht bloß logos sein und als solcher oetrachtet werden. Er will zeigen, daß er auch zur Mitwirkung, zur Beteiligung am ergon (am Handeln) fähig ist. 14 Gewiß, wir haben in diesem Text die ganz klassische, im griechischen \'V'ortschatz ganz geläufige Gegenüberstellung von logos und Ergon. Wir haben die Gegenüberstellung von logo und ergo: im Reden und in der Wirklichkeit, im Diskurs und im Handeln usw. Man sollte sich aber daran erinnern, daß es hier gerade um die Philosophie geht, und zwar um die Philosophie im Bereich der Politik. Platon ist sich im klaren darüber, daß, wenn er nur der Philosoph ist, der den Staat geschrieben hat, d. h. der sagt, was der ideale Staat sein soll, er nichts weiter ist als der logos. Der Philosoph kann nun aber im Hinblick auf die Politik nicht oloß logos sein. Um nicht ein »bloßer Vertreter der Theorie« zu sein,15 muß er mitwirken und sich direkt an die Tat (ergon) heranwagen. Ich glaube, daß wir hier eine äußerst wichtige Mahnung vor uns haben, die in gewisser Weise - man sieht das übrigens ganz klar im Text selbst - allem entspricht, was man in den ersten platonischen Dialogen bezüglich der Philosophie findet, die nicht bloß mathesis, sondern auch askesis sein soll. Wenn es richtig ist, daß die Philosophie nicht nur im Erlernen eines Wissens besteht, sondern auch eine Lebensform, eine Seinsweise, ein bestimmtes praktisches Selbstverhältnis sein soll, durch das man sich entwickelt und an sich selbst arbeitet, wenn es richtig ist, daß die Philosophie also askesis (Askese) sein soll,
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I »Wider Kolotes«, in: Plutarch, Moralische Schriften, Bd. I, übers., mit Einleitungen, Anmerkungen und Registern versehen von Otto Apelt, Leipzig I926. 2 »Jede Staatsverfassung hat nämlich, wie gewisse Klassen von Tieren, ihre besondere Tonweise (estin gar de tis phone ton politeion hekastes kathaperei tinon zoon), eine andere die Demokratie, eine andere die Oligarchie, eine andere wieder die Monarchie. [... ] Demjenigen Staatswesen nun, das den ihm eigenen Ton Göttern und Menschen gegenüber einhält und in seinen Maßnahmen diesem Tone entsprechend verfährt, ist dau-
emde Blüte beschieden, demjenigen dagegen, das aus seiner Natur heraustretend sich auf Nachahmung einer anderen Verfassung verlegt, der L"ntergang« (Platon, v. Brief, 32I d-e, in: Platons Briefe, übers. und erIäutert v. Otto Apelt, Leipzig I9I8, S.40). ~Gerade so, wie wenn einer ein großes und starkes Tier aufgezogen und dessen Triebe und Leidenschaften erkannt hat - wie man sich ihm nähern, wie man es anfassen darf, wann es schwer zu behandeln, wann es sanft ist und wieso, unter welchen Umständen es jeweils Laute (phonas) "'on sich gibt, auf welche Laute eines anderen es sich beruhigt oder wild wird -; gerade so als ob er, der dies alles durch den Umgang mit dem Tier und mit dem Lauf der Zeit erlernt hat, dies nun Weisheit nennte« (Placon, Der Staat, a. a. 0., S. 288; Platon kritisiert hier die Sophisten, die ihre Technik der Manipulation der Massen Wissenschaft nennen). c:. ,·Wer das hört, wird nun vielleicht sagen: >Platon (der Bürger des demokratischen Athen), so scheint es, stellt sich, als verstehe er sich auf das Wesen der Demokratie, und doch ist er niemals öffentlich als Redner aufgetreten, obschon es ihm freistand vor dem Volk zu reden und ihm die besten Ratschläge zu erteilen.< Darauf wäre folgendes zu erwidern: Platon ist zu spät für sein Vaterland geboren worden; er fand sein Volk bereits in absteigender Lebenskraft; durch die Schuld der früheren Staatsmänner war es an ein Verhalten gewöhnt, das sich mit vielem, was er geraten hätte, nicht in Einklang befand. Ihm wäre nichts lieber gewesen, als einem Volke so getreulich wie seinem eigenen Vater mit seinem Rate zu dienen, doch sagte er sich, daß er sich damit nur für nichts und wieder nichts Gefahren aussetzen und keinen Nutzen schaffen würde« (Platon, V. Brief, a. a. 0., S. 4I). , Charmides war Platons Onkel mütterlicherseits (er war einer der Zehn, die mit der politischen Aufsicht Piräus' betraut waren) und Kritias der Cousin seiner Mutter (er war einer der unumstrittenen Führer des extremistischen Zweigs der Dreißig). Beide starben 403 bei einer Schlacht, in der die Demokraten versuchten, Piräus zurückzuerobern. eingehender ich also dies alles mit prüfendem Blicke betrachtete und ie mehr ich an Jahren heranreifte, desto mehr Bedenken stiegen in mir auf gegen die Richtigkeit meines Vorhabens, mich der Staatsverwaltung zu widmen. Denn einerseits, so sagte ich mir, ist die Ausführung eines solchen Planes nicht möglich ohne die Hilfe von Freunden und zuverlässigen Genossen (aneu phiIon andron kai hetairon piston)« (Platon, \'Ir. Brief, pA a.a.O, S.47). - "Dabei fuhr ich zwar fort darüber nachzudenken, wie sich in dieser Hinsicht und im gesamten staatlichen Leben überhaupt ein Umschwung zum Besseren finden ließe, für das eigene praktische Eingreifen wollte ich aber auf den günstigen Zeitpunkt (tou de prattein au perimenein aei kairous) warten« (Ebd., 325d-p6a, S.48). "Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis entweder die berufsmäßigen Vertreter der echten
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kann auch der Philosoph, wenn er nicht nur das Problem seiner selbst, sondern auch das des Staats behandeln soll, sich nicht damit begnügen, einfach nur logos zu sein, nur der zu sein, der die Wahrheit sagt, sondern er muß derjenige sein, der mitwirkt, der sich an das ergon heranwagt. Worin besteht nun diese Mitwirkung am ergon? Sie besteht darin, der wirkliche Berater eines wirklichen Politikers im Bereich politischer Entscheidungen zu sein, die er wirklich treffen muß. Ich glaube, daß, wenn der logos sich tatsächlich auf die Bildung des idealen Staats bezieht, das ergon, das die Aufgabe des Philosophen gegenüber der Politik vervollständigen soll, in Wirklichkeit jene Aufgabe des politischen Beraters ist und der Entwicklung der Rationalität der wirklichen Staatsführung gilt, die über die Bildung der Seele des Fürsten verläuft. Aufgrund der direkten Mitwirkung an der Verfassung, am Fortbestand und der Ausübung einer Regierungskunst durch die parrhesia wird der Philosoph im Bereich der Politik kein bloßer logos sein, sondern entsprechend dem Ideal der griechischen Rationalität wird er sowohl logos als auch ergon sein. Der logos ist in Wirklichkeit nur dann vollständig, wenn er in der Lage ist, zum ergon zu führen und es gemäß den notwendigen Prinzipien der Rationalität zu gestalten. Aus diesem Grund, so Platon, mußte er Dion treffen. Nächstes Mal werde ich den VII. Brief abschließen und zu den anderen Problemen übergehen, die von der Geschichte der parrhesia und ihren Praktiken aufgeworfen werden.
Anmerkungen
und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate (eis archas elthe tas politikas) gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt (ton dynasteuonton) in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen« (ebd., 326a-b, S.48). 9 Ebd., 327 a- b, S·49f. 10 Ebd., 326c. I I Ebd., 328b. 12 >>>Auf welche Umstände<, heißt es da, >günstiger (tinas gar kairous) als die jetzt durch irgend welche göttliche Fügung eingetretenen, wollen wir denn warten ?«< (ebd., 327e, S. 50). 13 Ebd., 328b, S. 51 und 328d-e, S. 52· 14 »So erwog ich denn die Sache hin und her, aber trotz alles Schwankens, ob ich die Reise antreten und dem Ruf folgen sollte oder wie, siegte doch die Überzeugung von der Notwendigkeit der Sache: wenn man jemals daran gehen wollte, meine Entwürfe für Gesetzgebung und Staats ordnung zu verwirklichen (apotelein egcheiresoi), so sei jetzt der Zeitpunkt, wo man den Versuch wagen müßte; denn hätte ich nur den Einen völlig für mich gewonnen, so wäre damit alles erhoffte Gute glücklich erreicht. Erfüllt von solchen Gedanken segelte ich in gutem Vertrauen von der Heimat ab, von ganz anderen Beweggründen bestimmt als sie mir von manchen unterlegt wurden. Vor allem bestimmte mich dabei die Achtung vor mir selbst: ich wollte vor mir selbst nicht so schlechthin als ein bloßer Vertreter der Theorie erscheinen (me doxaimi pote emauto pantapasi logon mon on atechnos einai), der sich aus freien Stücken niemals an die Tat heranwage (ergou de oudenos an pote hekon anapsasthai)« (ebd., 328b-c, S. 51 f.). 15 Ebd.
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Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, erste Stunde)
ergon. - Vergleich mit dem Alkibiades. - Die Wirklichder Philosophie: die furchtlose Ansprache an die Macht. - Erste Bedin·u:g der Wirklichkeit: die Anhörung, der erste Zirkel. - Das philosophiWerk: eine Wahl; ein Fortgang; eine Anwendung. - Die Wirklichkeit Philosophie als Arbeit an sich selbst (zweiter Zirkel).
=.:5 philosophische
=-"rztes Mal waren wir bei der Analyse des VII. Briefs ange,c:'mmen, der von Platon verfaßt wurde bzw. ihm zugeschrie:o"Cl wird. Jedenfalls handelt es sich um einen Text, der besten:llls aus Platons Altersperiode stammt oder schlimmstenfalls l:.lf seine allerersten Nachfolger zurückgeht. Sie wissen, daß l:"ser Text die Form eines Briefes hat, der an Platons sizilianii:he Freunde gerichtet sein soll, d. h. an die Umgebung Dions, :'l er jedenfalls nach Dions Tod geschrieben wurde. Der Brief ~:chtet sich offenbar an Dions Freunde und ist tatsächlich eine .~crt von politischem Manifest, von offenem Brief, in dem der .-':..uror insgesamt drei Gruppen von Überlegungen anstellt. Er,t"ns berichtet er von der Reihe von Ereignissen, die sich zu;"tragen hat, um sein Verhalten in Sizilien und gegenüber Dio=: '.·sios zu rechtfertigen: Einladung, Reise, Aufenthalt, die von =>ionysios erlittenen Ungerechtigkeiten, die falschen Verspre:hungen, die Platon und Dion gemacht wurden usw. Die zweit:: Gruppe von Betrachtungen neben denjenigen, die sich auf Ereignisse bezogen, besteht in einer Art von politischer Autobiographie, in der Platon den Weg beschreibt, den er seit ,,,iCler Jugend und insbesondere seit den beiden großen Ent:.iuschungen, die er in Athen erlebte, zurückgelegt hat. Zuerst :.:nter der aristokratischen Herrschaft der Dreißig und an'..:hließend bei der Rückkehr der Demokratie, um deren Willen Sokrates' Verurteilung zum Tode sanktioniert worden war. S·chließlich erklärt Platon in der dritten Gruppe von Betrachtungen in allgemeineren Begriffen, was es für ihn bedeutet, ei::em Fürsten Ratschläge zu erteilen, was es für ihn bedeutet, in 28 3
den Bereich der politischen Tätigkeit einzutreten und dort bei den Machtausübenden die Rolle bzw. die Person des symboulos, des Beraters in politischen Angelegenheiten zu spielen. Wir waren also an jenem Punkt angelangt, wo Platon erklärt, wie und warum er dazu geführt wurde, nach Sizilien zu fahren, seine chronologisch zweite Reise nach Sizilien zu unternehmen, die jedoch seine erste politische Reise war. Bei seiner ersten Reise hatte er nur Dion kennengelernt, wie Sie sich erinnern. Er war von dessen Intelligenz bezaubert, hatte ihn Philosophie gelehrt und war dann nach Athen zurückgekehrt. Als er nach Griechenland zurückgekehrt war, hatte er eine Aufforderung von Dion erhalten, um ein zweites Mal nach Sizilien zu kommen, dieses Mal jedoch in einer relativ genau bestimmten politischen Rolle, auf jeden Fall mit einer politischen Aufgabe oder Mission, da es darum ging, als politischer Berater zu dienen, und zwar genauer als Pädagoge für den Machterben in Syrakus, nämlich für Dionysios den Jüngeren. Die Frage, die Platon in der Passage des Briefs, die ich jetzt erläutern möchte, beantworten will, ist folgende: Warum war er bereit zu gehen, warum hat er die Aufforderung und das politische Spiel, das man ihm vorschlug, angenommen? Warum war er in Syrakus bei jener Person, die doch der Erbe eines Despotismus war, dessen Prinzip gegenüber Platon jedenfalls feindlich eingestellt war? Warum hat er eingewilligt zu kommen? Um diese Erklärung zu geben, hatte Platon zwei Gruppen von Überlegungen geltend gemacht. Überlegungen, die sich auf die Gelegenheit beziehen, auf das, was er den kairos nennt (die Gelegenheit). Sie erinnern sich vielleicht: Im Hinblick auf die Tatsache, daß er auf die Mitwirkung an jeglicher politischen Tätigkeit in Athen verzichtet hatte, hatte Platon als Grund angegeben, daß er in einer so schlimmen Situation, in der Athen sich befand, keine Aufhellung, keine Besserung für möglich hielt. Zu keiner Zeit hatte er geglaubt, daß sich so etwas wie ein kairos, eine Gelegenheit bieten würde. Vielmehr ist es nun das Heraufkommen eines neuen Monarchen, die Jugend dieser Person, Dionysios', die Tatsache, daß Dion ihn Platon als je-
_\n dieser Stelle waren wir letztes Mal also angekommen, und . glaube, daß hier ein wichtiger Punkt liegt. Es ist ein wichtiser Punkt, weil er eine Frage stellt, die zugleich sehr vertraut, sehr naheliegend, leicht zu durchschauen, dann aber auch sehr ::nkJar ist, und andererseits, weil dieser Text, in dessen ganzem ':erlauf die Frage nach dem philosophischen ergon (nach der ."l.ufgabe) gestellt wird, sie in Begriffen stellt, die, glaube ich, :iberraschen müssen, wenn man sie mit den anderen platoni;;ehen Texten oder zumindest mit einem gewissen Bild und ei-
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:nanden vorstellt, der sich wirklich der Philosophie widmen Außerdem ist es jemand, dessen Umgebung, die von Dion ~'1spiriert wird, sowohl der Philosophie als auch Platon gegen:iber gänzlich wohlgesonnen ist. Und schließlich besteht das .etzte wichtige Argument - weil wir diesem sehr häufig in der Theorie des Fürstenberaters bzw. der Beratung des Fürsten bef:egnen - in der Tatsache, daß im Gegensatz zu einer Demokra::e, in der man viele, d. h. die Masse (plethos) überzeugen muß, es hier im Falle einer Monarchie genügt, einen einzigen Menschen zu überzeugen. Einen einzigen Menschen überzeugen, :.md die ganze Arbeit ist erledigt. 1 Das steht in Platons Text. end es ist das Prinzip bzw. das Motiv, das dafür verantwortlich :st, daß, wenn der Fürst tatsächlich eine Reihe von ermutigen:::en Zeichen gibt, man darin einen kairos erblicken kann. Eine einzige Person, die zu überzeugen ist, und dazu noch eine Person, die sich überzeugen lassen will. Das ist der Aspekt des kaiTOS. Nun zu Platon selbst, warum wollte er die sich dergestalt Jietende Gelegenheit ergreifen? An dieser Stelle nennt Platon, "J.-ie Sie sich erinnern, zwei Motive. Eines dieser Motive ist die ,7bilia, seine Freundschaft zu Dion. Das andere Motiv - genau m diesem Punkt waren wir stehengeblieben - ist der Umstand, :::aB Platon, wenn er die von Dion vorgeschlagene Mission ab,ehnen würde, wenn er es ablehnen würde, die ihm darge bote:::e Aufgabe in Angriff zu nehmen, den Eindruck hätte, daß er selbst nur logos, einzig und allein Diskurs sei, während er doch :-Iand an das ergon (d. h. an die Aufgabe, die Arbeit) legen
ner Interpretation vergleicht, die man gewöhnlich von Platon und dem späten Platonismus gibt. Um dieses Problem des philosophischen ergon (der philosophischen Aufgabe) mit Bezug auf die Politik etwas genauer zu analysieren, möchte ich zum Zweck der Problemmarkierung einen Augenblick auf einen Text zurückkommen, über den wir letztes Jahr gesprochen haben, einen Text, der übrigens ganz rätselhaft war, weil seine Datierung viele Ungewißheiten aufweist und weil er von der philosophischen Aufgabe ein ganz anderes Bild zeichnet als das, womit wir es nun zu tun haben werden. Sie erinnern sich, dieser Text ist der Alkibiades, jener Dialog, der sich im Hinblick auf eine Reihe von Aspekten als Jugendwerk darstellt - mit demselben Drehbuch, derselben Szenenmalerei, denselben Wendepunkten, derselben Art von Personen -, dann aber wieder in einer anderen Hinsicht eine große Anzahl von Elementen enthält, die auf die Spätphilosophie Platons verweisen. Wie dem auch sei, Sie erinnern sich vielleicht an die Situation, die in diesem Dialog dargestellt wird. Es geht nämlich auch im Alkibiades um das Eingreifen des Philosophen auf der politischen Bühne. 2 Was war nun die Gelegenheit, was war der kairos, der dafür verantwortlich war, daß sich Platon in diesem Dialog auf gewisse Weise in die Politik einmischte? Die Situation bzw. die Gelegenheit war folgende: Alkibiades, der ganz junge Alkibiades, gehörte aufgrund seiner Geburt, seiner Vorfahren, seines Vermögens, seines allgemeinen Status de facto natürlich den allerersten Bürgern des Staats an. Platon bemerkte jedoch sehr wohl, oder vielmehr ließ er diese Bemerkung Sokrates machen, daß Alkibiades in Wirklichkeit keineswegs die Absicht hatte, sein ganzes Leben (katabionai)3 unter den ersten zuzubringen, sondern daß er uneingeschränkt und ausschließlich der Erste sein wollte, und zwar als einziger nicht nur in seiner Stadt, die er überzeugen und in die Hand nehmen wollte, sondern auch im Hinblick auf alle anderen Herrscher, da er die Feinde Athens, wie Sparta oder den König von Persien, besiegen wollte, die er für seine persönlichen Rivalen hielt. Mit Bezug auf dieses Vorhaben,
e;e·t;ches haargenau das Problem der parrhesia im Kontext der ;::.tmokratie stellt, ergreift nun Sokrates das Wort. Ich sagte, handelt sich um das Problem der parrhesia im Kontext der ;::i:mokratie«, weil es gerade um folgendes geht: Obwohl jeder :l:sächlich das Recht hat, das Wort zu ergreifen, haben einige, ~ic":1lich die ersten, die Aufgabe, die Funktion oder Rolle, auf ~t anderen Einfluß zu nehmen. Das Problem ist nun, ob es in ~:tsem agonistischen Spiel der ersten und der anderen und der c:;ten untereinander möglich, legitim und wünschenswert ist, es einen einzigen gibt - wie es übrigens Perikles war -, der .:t'1 Sieg über die anderen davonträgt. ;::=.:5 war das Problem der parrhesia. Wir haben es mit jener be-':::htigten Krise, mit jener berüchtigten Problematik der par.. :'esia zu tun, die ganz offensichtlich die Funktionsweise der ;::Jcmokratie charakterisiert und allgemein die Funktionsweise ,,:ner Reihe von politischen Institutionen Griechenlands zu je;.t~ Zeit. In diesem Sinne fällt auf, daß wir es trotz der Ver;.:hiedenheit des Kontextes mit einer Situation zu tun haben, .::t ein wenig derjenigen Platons entspricht, der Dionysios be-lren soll. Hier ist es kein Tyrann, ein Despot oder ein Monden Sokrates beraten soll, sondern ein junger Mann, der ':e, Erste sein will. Platon dagegen wird es mit jemandem zu ::.::: haben, der der Erste aufgrund seines Status und seines Er: eS und aufgrund der Struktur der politeia selbst ist. In beiden ?ällen geht es jedoch darum, sich an die jeweiligen Personen zu "'enden, mit ihnen zu sprechen, ihnen die Wahrheit zu sagen, "on der Wahrheit zu überzeugen und dadurch ihre Seele zu :tgieren, die Seele derer, die die anderen regieren sollen. Es be;:tht also eine Analogie in der Situation trotz des unterschied:;:hen politischen Kontextes. Dennoch scheint mir - das wird ::::er der Leitfäden sein, denen ich heute in meinem Referat :.:Igen werde -, daß zwischen dem Alkibiades (und der Rolle, .:::e Sokrates gegenüber Alkibiades spielt) und Platon (Platon in ,tiner Rolle gegenüber Dionysios) eine ganze Reihe von äu::trst beträchtlichen Unterschieden bestehen, die so etwas wie ::::e Spaltung in der platonischen Philosophie vorzeichnen.
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Jedenfalls springt ein erster Unterschied unmittelbar ins Auge. Im Falle von Alkibiades und Sokrates mußte nämlich Sokrates ebenfalls auf die Frage antworten: Warum schaltest du dich bei Alkibiades ein? Auf genau diese Frage antwortet der Anfang des Dialogs. Sokrates erklärte: Ich interessiere mich für Alkibiades, obwohl ich mich zu der Zeit, als Alkibiades von so vielen anderen begehrt und bedrängt wurde, zurückgehalten hatte. Ich habe mich bis jetzt zurückgehalten, aber nun, da AIkibiades etwas älter geworden ist und die Liebhaber, die ihm nachstellen, weniger zahlreich sind und sich bald von ihm abwenden werden, wage ich mich vor. Warum wage ich mich vor? Nun eben weil Alkibiades die erste Stelle im Staat einnehmen, in den ersten Rang vorrücken, ganz allein die Macht ausüben will. Das ist der kairos. Und wenn ich diesen kairos ergreife, dann aus Liebe zu Alkibiades. Der eros, den ich für AIkibiades empfand und den ich auf die Weisung des Gottes bis jetzt behielt, ist derselbe, der jetzt bewirkt, daß ich diesen kairos (diese Gelegenheit) ergreife, der im Willen Alkibiades' besteht, dem Staat vorzustehen und ihn zu führen. Wenn wir diese Situation und die sokratische Rechtfertigung in bezug auf Alkibiades vergleichen, sehen wir, daß der Unterschied bei Platon bzw. in der Situation Platons gegenüber Dionysios hervorsticht. Zwar ergreift auch Platon den kairos, aber warum ergreift er ihn? Nicht aus einem Verhältnis, das von der Art des eros wäre, sondern aus einer Art von innerer Verpflichtung, die nicht so sehr als Begehren aus der Seele des Philosophen erwächst, sondern die Aufgabe der Philosophie selbst ist, die darin besteht, nicht bloß logos zu sein, sondern auch ergon. Oder genauer, der Philosoph selbst soll nicht bloß logos (Diskurs, bloßer, reiner Diskurs) sein. Er soll auch ergon sein. Diese Verpflichtung, und nicht mehr der eros, ist es, was seitens des Philosophen den Grund dafür darstellt, daß er den kairos (die Gelegenheit) ergreift. Offensichtlich haben wir es hier nicht nur mit einer kleinen Verschiebung zu tun, die dafür verantwortlich ist, daß das Motiv, in den Bereich der Politik einzugreifen, nicht das Begehren des Philosophen gegenüber der 288
?erson ist, an die er sich wendet, sondern die innere Verpflichrc.:ng der Philosophie als logos, darüber hinaus noch ergon zu sein. Das ist die erste Bemerkung, die ich machen wollte. :::::>ie zweite besteht in folgendem. Insofern ihn die Vorstellung :=:eunruhigt, er könne nichts weiter als Diskurs (logos) sein, scheint mir der Philosoph (Platon) ein Problem aufzuwerfen, c.:nd zwar ein Problem, das, wie ich zuvor schon sagte, zugleich "ertraut und unklar ist. Wenn es ihn beunruhigt, nur logos zu sein, wenn er sich an die Aufgabe (an das ergon) selbst herano;'i,'agen will, an statt bloß logos zu sein, dann scheint mir, daß ?lawn eine Frage aufwirft, die man die Frage nach der Wirk:ichkeit der Philosophie nennen könnte. Was ist die Wirklich",eit der Philosophie? Wo läßt sie sich finden? Man sieht sofort, die Art und Weise, wie Platon die Frage stellt, zeigt, daß ihn und zumindest in diesem Augenblick die Wirklichkeit der Philosophie jedenfalls nicht, nicht mehr oder nicht bloß im ,":;gos besteht. 'cX'ir müssen die Frage »Was ist die Wirklichkeit der Philoso?hie ?« etwas genauer eingrenzen. Ich glaube, daß diese Frage ::lach der Wirklichkeit der Philosophie nicht darin besteht, daß man sich fragt, was für die Philosophie das Wirkliche ist. Sie besteht nicht darin, sich zu fragen, auf welchen Gegenstand Jder auf welche Gegenstände sich die Philosophie bezieht. Die Frage besteht nicht darin, was das Wirkliche sei, auf das sich die Philosophie bezieht und mit dem sie sich auseinandersetzen muß. Sie besteht nicht darin, woran man messen könne, ob die Philosophie die Wahrheit sagt oder nicht. Die Frage ::lach der Wirklichkeit der Philosophie zu stellen, wie es der \'11. Brief anscheinend tut, heißt, sich zu fragen, was der Wille, die Wahrheit zu sagen, diese Tätigkeit des Wahrsprechens, dieser vollkommen besondere und einzigartige Akt der Veridiktion, der sich Philosophie nennt - und der sich übrigens :äuschen und das Falsche sagen kann -, in seiner Wirklichkeit selbst ist. Mir scheint, daß es um folgende Frage geht: Wie, auf welche Weise fügt sich das philosophische Wahrsprechen, diese besondere Form der Veridiktion, die die Philosophie ist, in 28 9
die Wirklichkeit ein? Schematisch gesehen, scheint mir, daß sich in der Frage, die durch jene Beunruhigung über die Philosophie, die nicht nur logos, sondern auch ergon sein soll, gestellt wird, auf sehr flüchtige, aber doch völlig entschiedene Weise nicht die Frage ausspricht, abzeichnet oder erhellt, was die Wirklichkeit ist, die zu sagen gestattet, ob die Philosophie das Wahre oder das Falsche sagt. Statt dessen: Was ist die Wirklichkeit dieses philosophischen Wahrsprechens, was ist dafür verantwortlich, daß es sich dabei nicht bloß um einen vergeblichen Diskurs handelt, gleichgültig ob dieser nun die Wahrheit sagt oder nicht? Die Wirklichkeit des philosophischen Diskurses, darum geht es in dieser Frage. Und die Antwort, die in jenem einfachen Satz gegeben oder eher skizziert wird, an den ich letztes Mal erinnerte und mit dem ich nun wieder beginne - nämlich daß der Philosoph nicht bloß logos sein, sondern Hand an das ergon legen will-, die Antwort, die wir nun zu entwickeln versuchen müssen, erscheint in ihrer ganzen Einfachheit: Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den sich die Philosophie als wirklich erweist, ist nicht der logos selbst, nicht das Spiel innerhalb des logos selbst. Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den die philosophische Veridiktion sich als wirkliche erweisen wird, ist die Tatsache, daß sie sich an den wendet, wenden kann oder den Mut hat, sich an den zu wenden, der die Macht ausübt. Es soll hier kein Mißverständnis geben. Ich meine keineswegs, daß hier in diesem Text Platons eine bestimmte Funktion der Philosophie bestimmt würde, die darin bestünde, die Wahrheit über die Politik, die Gesetze, die Verfassung zu sagen und brauchbare und wirksame Ratschläge bezüglich der zu treffenden Entscheidungen zu geben. Im Gegenteil werden wir beispielsweise in diesem Text selbst sehen, wie Platon die Tatsache, daß der Philosoph Gesetze vorschlagen kann, beiseite schiebt oder zumindest an einen ganz besonderen und keineswegs zentralen Ort verlagert. Es geht nicht darum, die Wahrheit über die Politik zu sagen, nicht einmal darum, gebieterisch zu diktieren, was entweder die Verfassung der Staaten oder die 29°
~'01irik bzw. die Regierung der Staaten sein soll, wodurch der ~,~ilosophische Diskurs seine Wirklichkeit erhält. Mir scheint, --,; die Philosophie für Platon in diesem Text ihre Wirklichkeit dem Zeitpunkt unter Beweis stellt, wo sie in völlig verschie-==n.artigen Formen in den politischen Bereich eintritt: Gesetze -==Den, einem Fürsten Ratschläge erteilen, eine Masse überzeu;::n usw. In diesen verschiedenartigen Formen, von denen kei:":e wesentlich ist, tritt sie in den politischen Bereich ein, indem jedoch immer gegenüber anderen Diskursen ihre eigene Bes,)n.derheit verdeutlicht. Gerade dadurch unterscheidet sie sich 'on der Rhetorik. Die Rhetorik - darauf werden wir viel aus~ihrlicher zurückkommen müssen - ist von diesem Gesichts?::nkt der Philosophie aus nichts anderes als das Mittel, durch :as derjenige, der die Macht ausüben will, nichts anderes tun :;.;mn, als genau das zu wiederholen, was die Masse will oder ,QS die Führer oder der Fürst wollen. Die Rhetorik ist ein Mitdas ermöglicht, die Menschen von dem zu überzeugen, wo'on sie ohnehin schon überzeugt sind. Die Bewährungsprobe :::r Philosophie, die Realitätsprüfung (epreuve de realite) der Philosophie besteht im Gegensatz dazu nicht in ihrer politisohen Wirksamkeit, sondern in der Tatsache, daß sie mit ihrer oigenen Besonderheit in das Feld der Politik eintritt und ihr eigenes Spiel gegenüber der Politik verfolgt. Dieses eigentüm.iohe Spiel gegenüber der Politik, diese Realitätsprüfung der Philosophie gegenüber der Politik möchte ich nun etwas erläut::rn, indem ich bloß folgendes festhalte - weil ich glaube, daß lies doch in der Geschichte des philosophischen Diskurses sehr wichtig ist: jene kurze Passage des VII. Briefs, wo der Philosoph nicht bloß logos sein, sondern auch Hand an die WirkEchkeit legen will, scheint mir einen der Grundzüge dessen zu kennzeichnen, was die Praxis der Philosophie im Abendland :sr und sein wird. Es ist richtig, daß für lange Zeit und auch [,eute noch manche gedacht haben und denken, daß die Wirk:ichkei t der Philosophie darauf beruht, daß die Philosophie die ';:\'ahrheit sagen kann, insbesondere über die Wissenschaft. Lange Zeit glaubte man und meint man immer noch, daß die 29 1
Wirklichkeit der Philosophie im Grunde darin besteht, die Wahrheit über das Wahre, die Wahrheit des Wahren sagen zu können. Mir scheint jedoch, jedenfalls zeichnet sich das in Platons Text ab, daß es eine ganz andere Weise gibt, das zu kennzeichnen, was die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit der philosophischen Veridiktion sein kann, als daß diese Veridiktion, wie gesagt, das Wahre oder das Falsche sagt. Diese Wirklichkeit zeichnet sich dadurch aus, daß die Philosophie die Tätigkeit des Wahrsprechens, der Veridiktion gegenüber der Macht ist. Außerdem scheint mir, daß das seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden mit Sicherheit eines der beständigen Prinzipien ihrer Wirklichkeit war. Jedenfalls möchte ich I.1men heute zeigen und sagen, wie dieser VII. Brief und seine verschiedenen Weiterentwicklungen als ein Nachdenken über die Wirklichkeit der Philosophie aufgefaßt werden können, die sich in der Veridiktion manifestiert, welche im Spiel der Politik ausgeübt wird. Ich werde diesen Brief, der sehr komplex ist, nicht in allen seinen Windungen und Einzelheiten verfolgen, sondern zum Zwecke der Schematisierung möchte ich seinen Gehalt unter zwei großen Fragen anordnen. Erstens scheint mir, daß dieser Brief in mehreren seiner Passagen, von denen die einen direkt aufeinanderfolgen, während die anderen auf diesen oder jenen Ort der Gesamtentwicklung verteilt sind, auf folgende Frage antwortet: Unter welchen Bedingungen kann der philosophische Diskurs sicher sein, daß er nicht bloß logos ist, sondern wohl auch ergon im Bereich der Politik? Mit anderen Worten, unter welchen Bedingungen kann der philosophische Diskurs seiner Wirklichkeit begegnen, seine Wirklichkeit vor sich selbst und den anderen bezeugen? Die zweite Reihe von Fragen lautet: Was hat die Philosophie in dieser Funktion der Wirklichkeit, die sie ausübt, im Annehmen ihrer Wirklichkeit im Bereich der Politik wirklich zu sagen? Diese zweite Reihe von Fragen ist tatsächlich so sehr mit der ersten verknüpft, sie leitet sich so unmittelbar von ihr ab, daß man sie recht knapp zusammenfassen kann, wie Sie sehen werden. Dagegen haben wir zur 29 2
;'ersten Reihe von Fragen (d. h. unter welchen Bedingungen kann =~n logos, der sich als philosophischer Diskurs versteht und be::auptet, die Hand an sein eigenes Werk legen; unter welchen Bedingungen kann er erfolgreich die Prüfung auf Wirklichkeit :estehen?) drei oder vier Texte, die uns aufklären können. Jer erste Text, über den ich sprechen möchte [... ':.], steht bei .3:) c-3 3 I d. Damit der philosophische Diskurs tatsächlich sei:Ce Wirklichkeit finden kann, damit er als philosophische Veri;:~ktion wirklich sein kann und nicht nur eitles Gerede ist, bedie erste Bedingung - die paradox erscheinen mag - jene, c:n die er sich richtet. Damit die Philosophie nicht einzig und 2l1ein Diskurs, sondern auch Wirklichkeit ist, muß sie sich an alle und jeden richten, sondern nur an diejenigen, die :2:'..lhören wollen. Hier sagt der Text folgendes, er beginnt so: ,'\'ler einem kranken und gesundheitswidrig lebenden Mann ','or allem den Rat gibt, seine Lebensweise zu ändern, und erst ;:ann, wenn der Kranke sich dazu bereit gezeigt hat, seinen -;-"eiteren Rat erteilt, im anderen Falle aber die Beratung eines ierartigen Patienten ablehnt, den würde ich für einen wirkli:hen Mann sowohl wie für einen Heilkundigen halten.«4 Das Ende des Absatzes lautet bei 33Id folgendermaßen: »Er muß ;;eine Stimme vernehmen lassen [der Philosoph soll sprechen, 7:enn der Staat nicht gut regiert wird; M. E], wenn ihm die S:aatsleitung auf falschem Weg zu sein scheint [d. h. für den daß der Staat dem Berater, dem Philosophen nicht gut regiert zu werden scheint; M. E], vorausgesetzt, daß er weder "'ergeblich reden wird noch durch seine Rede sein Leben ge:2:hrdet [um zu sprechen, muß der Philosoph also sicher sein, ;:aß er nicht vergeblich spricht oder sein Leben riskiert, d. h. er =nuß sich dessen sicher sein, daß sein Diskurs jedenfalls nicht "bgelehnt wird; M. E]; gewaltsam aber eine Verfassungsände::-..lng in seiner Vaterstadt einzuführen, wenn es nämlich ohne ~;erbannung und Hinrichtung von Mitbürgern nicht möglich :5t, zur einzig richtigen Staatsverfassung zu gelangen, wird er :\LF. fügt hinzu: Das ist nicht der Text, den ich Ihnen ausgeteilt habe. Den ausgeteilten werde ich versuchen, später zu kommentieren.
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sich nicht beikommen lassen, sondern sich ruhig verhalten und von den Göttern das Heil für sich und den Staat erflehen.«5 Angehört zu werden und beim Zuhörer den Willen zu finden, den zu gebenden Rat zu befolgen, darin besteht die erste Bedingung der Ausübung des philosophischen Diskurses als Aufgabe, als Tätigkeit, als ergon, als Wirklichkeit. Nur denjenigen sollen Ratschläge erteilt werden, die auch bereit sind, sie zu befolgen. Andernfalls soll man es wie die Ärzte machen, die weggehen, wenn die Kunden und die Kranken ihre Vorschriften nicht hören wollen. Sie werden nun sagen, daß das ziemlich banal ist, aber ich glaube, daß man diesen Text etwas erhellen kann, wenn man den Vergleich mit der Medizin weiter verfolgt, einen Vergleich, der ein Gemeinplatz ist, den man bei Platon sehr häufig antrifft, nämlich in einer ganzen Reihe von Texten, die den politischen Ratschlag mit der medizinischen Praxis vergleichen oder ihn auf diese Praxis beziehen. Insbesondere ist das der Fall in der Passage des IV. Buches des Staats, 425e6 und auch im IV. Buch der Gesetze, 720a F Was bedeutet dieser Bezug auf die Medizin aber genauer? In erster Linie folgendes: Die Medizin wird im allgemeinen, nicht nur in den platonischen Texten, sondern in den griechischen Texten des 4. Jahrhunderts und später allgemein auf dreierlei Weise charakterisiert. Erstens ist die Medizin eine Kunst der günstigen Umstände und der Gelegenheit, aber auch der Vermutung, da es anhand der vorliegenden Anzeichen darum geht, die Krankheit zu erkennen, ihre Entwicklung vorherzusehen und folglich die angemessene Behandlung zu wählen. Eine Kunst der günstigen Umstände und der Vermutung, die sich natürlich auf eine Wissenschaft, eine Theorie, auf Erkenntnisse stützt, die jedoch zu jeder Zeit die besonderen Bedingungen berücksichtigen und eine Praxis der Entzifferung zur Anwendung bringen muß. Zweitens wird die Medizin auch so charakterisiert, daß sie nicht bloß ein theoretisches und allgemeines Vermutungswissen und eine Erkenntnis der günstigen Umstände ist, sondern auch eine Kunst, und zwar eine Überzeugungskunst. Der gute Arzt ist auch derjenige, der in der Lage 294
:Sc, seinen Kranken zu überzeugen. Ich verweise Sie beispiels"':eise auf die berühmte Unterscheidung zwischen den beiden Heilkünsten in Platons Gesetzen, IV Buch, Absatz 72oa-e.8 Die Heilkunst für Sklaven, die von den Sklaven, die entweder eine Apotheke haben oder Hausbesuche bei den Kranken ma:hen, selbst ausgeübt wird, ist eine Medizin, die sich damit ::legnügt, Vorschriften zu machen, zu sagen, was zu tun sei }''1edizin, Medikamente, Schröpfungen, Einschnitte, Amulette ':.lsw.). Außerdem gibt es die freie Medizin für freie Menschen, 3ie von Ärzten ausgeübt wird, die selbst freie Menschen sind. Diese Medizin zeichnet sich durch die Tatsache aus, daß der _"'nt und der Kranke miteinander sprechen. Der Kranke un:errichtet den Arzt, woran er leidet, was sein Diätplan ist, wie seine Lebensweise aussieht usw. Umgekehrt erklärt der Arzt .:lem Kranken, warum sein Diätplan nicht gut war, warum er :.;:rank wurde und was nun für die Heilung zu tun sei, bis er wirklich davon überzeugt ist, daß er sich auf diese Weise pflegen sollte. Die gute Medizin, die große und freie Medizin ist also eine Kunst des Dialogs und der Überzeugung. Das dritte }'lerkmal schließlich, das man im allgemeinen in Definitionen .:ler Medizin findet, besteht in der Tatsache, daß sich die gute }'ledizin nicht nur mit dieser oder jener Krankheit befaßt, die geheilt werden soll, sondern die gute Medizin ist eine Tätigkeit, eine Kunst, die das ganze Leben des Kranken berücksichtigt und sich seiner annimmt. Man muß zwar auch Dinge verschreiben, damit die Krankheit verschwindet, aber vor allem muß man eine ganze Lebensweise festlegen. Gerade im Hinjlick auf diese Lebensweise wird die Aufgabe der Überzeugung, die der Medizin und dem Arzt eigentümlich ist, zu etwas ganz Wichtigem und Entscheidendem. Damit der Kranke wirklich geheilt werde und damit er in Zukunft jede andere Krankheit vermeiden kann, muß er bereit sein, alles zu ändern, was seine Getränke, seine Nahrung, seine sexuellen Beziehungen, seine körperlichen Übungen, seine ganze Lebensart angeht. Die Medizin bezieht sich ebenso auf die Lebensweise wie auf die Krankheit. 295
Wenn wir diese drei Merkmale der Medizin betrachten, die in den platonischen Texten so oft zur Charakterisierung der Medizin erwähnt werden, wenn wir also diese verschiedenen Feststellungen betrachten und sie auf die Frage beziehen, was die Aufgabe des Beraters sei, jenes politischen Beraters, von dem der Text des VII. Briefes sagt, daß er sich wie ein Arzt benehmen soll, dann sehen wir, daß es nicht die Rolle des politischen Beraters sein wird, die Funktion eines Regierenden auszuüben, der im normalen Verlauf der Dinge Entscheidungen zu treffen hat. Der Philosoph als politischer Berater soll nur dann eingreifen, wenn die Dinge schlecht laufen, wenn eine Krankheit auftritt [.. .]. In diesem Fall soll er diagnostizieren, worin das Übel des Staats besteht, die Gelegenheit der Intervention ergreifen und die Ordnung der Dinge wiederherstellen. Es handelt sich also um eine kritische Rolle in dem Sinne, daß sie ihren Ort im Bereich der Krise oder jedenfalls im Bereich des Übels und der Krankheit und des Bewußtseins hat, das der Kranke, der Staat und die Bürger davon besitzen, daß die Dinge nicht gut laufen. Zweitens wird die Rolle der Philosophie und des Philosophen nicht wie die der Ärzte der Sklaven sein, die sich damit begnügen zu sagen: Dies ist zu tun, jenes ist zu unterlassen, dies ist einzunehmen, jenes ist nicht einzunehmen. Die Rolle des Philosophen soll wie die der freien Ärzte sein, die sich an freie Menschen wenden, d. h. die zugleich überzeugen und nicht nur vorschreiben. Gewiß muß er sagen, was zu tun ist, aber er muß auch erklären, warum es zu tun ist, und insofern wird der Philosoph nicht bloß ein Gesetzgeber sein, der einen Staat darauf hinweist, wie er regiert werden und welche Gesetze er befolgen soll. Die Rolle des Philosophen wird es sein, die einen und die anderen zu überzeugen, die Regierenden und die Regierten. Schließlich soll der Philosoph nicht einfach Ratschläge bezüglich dieses oder jenes Übels erteilen, das den Staat befällt. Er soll auch die Lebensweise des Staats vollständig neu bedenken, er soll wie jene Ärzte sein, die nicht bloß daran denken, die gegenwärtigen Übel zu heilen, sondern die das gesamte Leben des Kranken berücksichtigen und sich sei-
,,- Das Manuskript präzisiert hier: »Was der VII. Brief sagt, liegt sehr nahe bei dem, was im Staat 426a-427a gesagt wird. Es lohnt sich nur dann, die Heilung des Staates zu versuchen, wenn es möglich ist, die politeia zu ändern und die Weise, in der er politeuomene [regiert] wird.«
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:-ler annehmen wollen. Es ist also die gesamte Ordnung des Staats, seine politeia, die Gegenstand der Intervention des Philosophen sein soll. ,;. In einem gewissen Sinn kann man sich fragen, ob diese Bestim:Dung der Aufgabe des philosophischen Beraters, der in das übel des Staats durch Überzeugung und auf solche Weise eingreifen soll, daß die ganze politeia in Frage gestellt wird, nicht ein bißchen dem Text widerspricht, den ich aus dem v. Brief zitiert habe,9 wo Platon sagt: Jedenfalls gibt es eine Reihe von politeiai, die sich voneinander unterscheiden. Es gibt die demokratische Verfassung, die aristokratische Verfassung, die Verfassung, die im Gegensatz dazu die Macht einem einzigen anYertraut. In einem Brief, der zusammen mit einem Berater beim König von Makedonien (Perdikkas) eintreffen sollte, sagte er: Auf die politeia kommt es im Grunde nicht an. Das Problem ist vielmehr, die eigentümliche Stimme jeder politeia zu hören, zu verstehen und zu kennen, ihre phone, da das Übel für einen Staat im allgemeinen darin liegt, daß die phone (Stimme) der politeia nicht der Verfassung selbst entspricht. Hier scheint es, daß das Problem, das der Berater zu lösen hat, nicht bloß darin besteht, die Stimme des Staats an seine Verfassung anzupassen, sondern die politeia rundweg neu zu denken. Wir können uns also einen Widerspruch zwischen dem, was im VII. Brief, und dem, was im v. Brief gesagt wird, vorstellen, einen solchen vermuten oder erahnen - mit der zusätzlichen Bemerkung natürlich, daß, da der v. Brief ganz offenbar apokryph ist und später geschrieben wurde, dieser Widerspruch nicht zu problematisch sein sollte. Dagegen scheint es wohl, daß die Mahnung, die ganze politeia des Staats zu berücksichtigen und sich ihrer anzunehmen, auch in einem gewissen Widerspruch zu anderen Texten steht, die man in demselben VII. Brief findet, insbesondere zu der so rätselhaften Stelle, an der
Platon sagt: Für den Philosophen steht es jedenfalls außer Frage, daß er sich zum Nomotheten, zum Gesetzgeber, zum Verabschieder von Gesetzen eines Staates erhebt. Tatsächlich scheint mir, daß, wenn Platon hier von der Notwendigkeit für den guten Berater spricht, die ganze politeia zu berücksichtigen (wie ein guter Arzt die ganze Lebensweise berücksichtigt), er die politeia nicht in einem strengen und institutionellen Sinne des gesetzlichen Rahmens versteht, in dem der Staat existieren soll. Was er, glaube ich, unter politeia versteht, ist unzweifelhaft die Ordnung des Staats selbst, d. h. das durch die Gesetze selbst gebildete Ganze, aber auch die Überzeugung, die die Regierenden und die Regierten haben mögen, nämlich daß man die guten Gesetze befolgen soll, und schließlich die Art und Weise, wie diese Gesetze tatsächlich im Staat befolgt werden. Der politeia im strengen Sinne, die der institutionelle Rahmen des Staats ist, muß auch diese Überzeugung der Regierenden und der Bürger hinzugefügt werden. Es muß die Art und Weise hinzugefügt werden, wie sich diese Überzeugung in den Handlungen niederschlägt. All das macht die politeia im weiten Sinne aus. Mir scheint, daß, wenn Platon die Funktion des philosophischen Beraters mit der des Arztes vergleicht und wenn er dann geltend macht, daß die ganze politeia vom Berater berücksichtigt werden muß, die politeia im weiten Sinn gemeint ist. Woran soll sich der Berater im Grunde wenden? Nun, mir scheint, daß der Berater, wie ihn Platon bestimmt, indem er ihn mit dem Arzt vergleicht, wesentlich jemand ist, der, wie gesagt, nicht sprechen soll, um - am Ausgangspunkt des Staats oder als seinen institutionellen Rahmen - die Grundgesetze aufzuerlegen, sondern daß er sich im Grunde an den politischen Willen wenden soll. Sei es nun der Wille des Monarchen, der der oligarchischen oder aristokratischen Führer oder der der Bürger, er soll diesen Willen belehren. Man muß jedoch auch sehen, daß, wenn der Philosoph sich an den politischen Willen wendet, der die politeia zum Leben erweckt, der sich von den Gesetzen überzeugen läßt, der sie annimmt und als gut anerkennt und 29 8
Jer sie tatsächlich anwenden will, wenn sich der Philosoph an ::liesen politischen Willen wendet, er sich nur an ihn wenden i:ann, wenn er selbst in gewisser Weise gut ist, d. h. wenn der Fürst, wenn die Führer, wenn die Bürger tatsächlich den Wil;en haben, der Philosophie zuzuhören. Wenn sie sie nicht hören wollen, d. h. wie es am Ende des Textes lautet, wenn man :neint, daß das, was der Philosoph sagt, nur Schall und Rauch sei, oder schlimmer noch, wenn man den Philosophen tötet, hat man es in beiden Fällen mit einer Weigerung zu tun, und die Philosophie kann ihre Wirklichkeit nicht finden. Der Philosoph, der spricht, ohne angehört zu werden, oder gar der Philosoph, der unter der Androhung des Todes spricht, tut im Grunde nichts anderes, als in den Wind und ins Leere zu sprechen. Wenn er will, daß sein Diskurs ein wirklicher Diskurs sei, ein Diskurs der Wirklichkeit, wenn er will, daß seine philosophische Veridiktion tatsächlich dem Bereich des Wirklichen angehöre, muß sein philosophischer Diskurs von denen gehört, angehört und akzeptiert werden, an die er sich wendet. Die Philosophie existiert nicht allein schon in der Wirklichkeit unter der Bedingung, daß es einen Philosophen gibt, der sie formuliert. Die Philosophie existiert nur dann in der Wirklichkeit, die Philosophie findet nur dann ihre Wirklichkeit, wenn dem Philosophen, der seinen Diskurs hält, die Aufmerksamkeit und das Zuhören desjenigen entsprechen, der von der Philosophie überzeugt werden will. Ich glaube, daß wir es hier mit etwas zu tun haben, was man den ersten Zirkel nennen könnte Text gibt es noch weitere). Dies ist der Zirkel der Anhörung: Die Philosophie kann sich nur an diejenigen wenden, die sie anhören wollen. Ein Diskurs, der nur Protest, Anfechtung, Aufschrei und Wut gegen die Macht und die Tyrannei wäre, wäre kein philosophischer. Ein Diskurs, der ein Diskurs der Gewalt wäre und in den Staat wie durch einen Einbruch hineinkäme und der folglich um sich herum Bedrohung und Tod yerbreiten würde, fände ebenfalls nicht seine philosophische Wirklichkeit. Wenn der Philosoph nicht angehört wird, und zwar bis zu einem solchen Grad, daß er mit dem Tod bedroht 299
wird, oder auch, wenn der Philosoph gewalttätig ist, und zwar in einem solchen Maße, daß sein Diskurs den Tod von anderen zur Folge hätte, kann die Philosophie in beiden Fällen ihre Wirklichkeit nicht finden. Sie verfehlt die Realitätsprüfung. Die erste Realitätsprüfung des philosophischen Diskurses ist das Gehör, das er findet. Von hier aus ergeben sich eine Reihe schwerwiegender und wichtiger Konsequenzen, die man nicht in Kürze entfalten kann: Die Philosophie setzt immer die Philosophie voraus, die Philosophie kann nicht nur mit sich selbst sprechen, die Philosophie kann nicht als Gewalt auftreten, die Philosophie kann nicht als Gesetzestafel erscheinen, die Philosophie kann nicht als Schrift für alle beliebigen Menschen geschrieben werden und in Umlauf gebracht werden. Die Wirklichkeit der Philosophie besteht darin - das ist ihr erstes Merkmal-, daß sie sich an den philosophischen Willen wendet. Als letzte Konsequenz sehen Sie, worin die Philosophie sich gerade völlig von der Rhetorik unterscheidet (wir müssen das anschließend selbstverständlich wieder aufnehmen). Die Rhetorik ist gerade dasjenige, was unabhängig vom Willen der Zuhörenden angewendet und wirksam werden kann. Das Spiel der Rhetorik besteht darin, den Willen der Zuhörer gewissermaßen gegen ihren Willen zu fesseln und damit zu machen, was ihr beliebt. Also kann die Philosophie - in dieser Hinsicht ist sie keine Rhetorik und kann auch nur das Gegenteil der Rhetorik sein - bescheiden oder gebieterisch, je nachdem, nur aufgrund der Tatsache existieren, daß sie angehört wird. Dieses Anhören, diese Erwartung der Philosophie, daß sie selbst gehört wird, ist Teil ihrer Wirklichkeit. Das ist der erste Punkt, den man der ersten Erläuterung der Rolle des Beraters entnehmen kann, die Platon gibt. Wenn er nach Sizilien gefahren ist, dann deshalb, weil er das Versprechen hatte, angehört zu werden. Wenn sein Diskurs in Sizilien nur ein eitler logos bliebe, dann gerade deshalb, weil dieses Anhören nicht stattgefunden hat und das Versprechen, das man Platon gemacht hatte, von demjenigen gebrochen wurde, der zuhören sollte. Das ist das erste Thema, mit dem wir es zu tun haben.
,. M. F. fügt hinzu: Diesen Text habe ich kopieren lassen und einige Exemplare davon ausgeteilt. Entschuldigen Sie bitte, daß es nie genug sind, aber ich weiß nie, wie viele Sie sein werden ...
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Das zweite, das unmittelbar mit diesem verknüpft ist, besteht in folgender Frage: Wenn es richtig ist, daß die Philosophie ihre Wirklichkeit nur dadurch erlangt, daß sie angehört werden kann, wie lassen sich dann diejenigen erkennen, die einen anhören werden? Wie kann der Philosoph die Realitätsprüfung auf der Grundlage der Gewißheit annehmen, daß man ihm zuhören wird? Das ist ein wichtiges Problem, das auch, wie Sie sich erinnern, das Problem des Sokrates ist. Auch Sokrates mußte sich fragen, ob es der Mühe wert sei, sich an diesen oder jenen jungen Mann zu wenden, um ihn zu überzeugen zu versuchen. Sie wissen auch, daß SOkrates die Gewißheit, daß man ihm zuhörte, forderte und sie in der Schönheit der jungen Männer erblickte oder zu erblicken glaubte, zumindest aber in dem, was er am Gesicht und Blick eines jungen Mannes ablesen konnte. Hier haben wir aber offenbar ein ganz anderes Kriterium, es geht um etwas ganz anderes. Der Test, der eine Entscheidung darüber erlauben wird, ob einem zugehört wird oder nicht, wird von Platon in Absatz Hob erläutert [... ':.J, den ich jetzt kommentieren möchte. Diese Passage ist in Platons Brief ziemlich weit von derjenigen entfernt, die ich vorhin vorgelesen habe, obwohl sie sich logisch recht deutlich darauf bezieht. Es handelt sich um eine Erläuterung, die sich nicht auf die erste politische Reise nach Sizilien (d. h. chronologisch die zweite) bezieht, sondern auf die zweite (chronologisch die dritte). Um der Bequemlichkeit des Referats willen werde ich sie jedoch gemeinsam behandeln, denn ich glaube, daß diese Passage (darüber, wie man denjenigen, an den man sich wendet, erkennt, welchem Test man ihn unterzieht) direkt mit der Frage verknüpft ist, die ich vorhin erwähnte: Es lohnt sich nicht zu sprechen, und die Philosophie kann kein wirklicher Diskurs, keine wirkliche Veridiktion sein, wenn sie sich nicht an jemanden wendet, der zuhören will. Frage: Wie erkennt man die, die zu-
hören können und wollen? Lesen wir also kurz diesen Text: »N ach meiner Ankunft hielt ich es für meine erste Aufgabe, Gewißheit darüber zu erlangen, ob Dionysios in Wahrheit Feuer und Flamme für die Philosophie wäre oder ob nichts wäre an den vielen Gerüchten, die darüber nach Athen gekommen waren.«10 Sie sehen, daß es direkt um das Problem des Zuhörens geht: Wie soll man es feststellen? »Es gibt nun ein gewisses Verfahren dies auszuprobieren, ein Verfahren, das nichts Unehrenhaftes hat, sondern bei Tyrannen in der Tat ganz angemessen ist, zumal bei solchen, die den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren. Daß dies auch bei Dionysios der Fall war, und zwar in ganz hohem Grade, das ward mir gleich nach der Ankunft klar. Man muß nämlich solchen Leuten die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahlreichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe [wir kommen gleich auf die griechischen Begriffe zurück bzw. auf die Art und Weise, wie wir diese Übersetzung etwas präziser machen können; aber lesen wir sie zunächst nur; M. E] deutlich zu erkennen geben. Ist nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, innerlich mit ihr verwandt und als Gottbegeisterter berufen, sich mit ihr zu befassen, so glaubt er Kunde erhalten zu haben von einem Wege, der in ein Wunderland führt, das zu erreichen er fortab alle Kraft einsetzen müsse: lieber will er auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel. Und so mutet er denn sich und dem Führer auf diesem Wege die äußerste Anstrengung zu und läßt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein. Von dieser Anschauung durchdrungen und von diesem Triebe erfüllt, geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis und sein Denkvermögen bei innerer Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert, während die dieser entgegengesetzte ihm für immer 3°2
Tiefste verhaßt ist [der Text endet mit folgenden Worten, .:':J.lasse einige Zeilen aus; M. E]. [... ] Das ist die klare und die ';cherste Art der Vergewisserung bei Genußmenschen, die zu :;:'lsharrender Anstrengung unfähig sind. So geprüft, können 5:e die Schuld nie auf den Führer schieben, sondern nur auf sich ,döst, auf ihre Unfähigkeit nämlich, alles für die Erfüllung der .;'ufgabe Erforderliche zu leisten.« 11 :Jas erste Element, das es an diesem Text hervorzuheben gilt, :SI der sehr ausdrückliche, förmlich experimentelle und methoiische Charakter, den Platon diesem Kriterium verleiht. Es :::andelt sich nicht bloß wie bei Sokrates um eine Wahrneh:-:1ung, eine Anschauung, die ihn anhand der Schönheit eines ungen Mannes die Qualität seiner Seele erraten ließ. Hier hanieh es sich um eine Methode, eine klare Methode, die völlig "einreichend sein und unbezweifelbare Ergebnisse haben soll. \\;'orin besteht nun aber diese Methode? »Sie ist Tyrannen in ier Tat ganz angemessen«, lautet der Text, »zumal bei solchen, iie den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren.« Man muß den Tyrannen (hier folge ich der t~bersetzung) »die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Lmfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahl:eichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe :zeigen].« Wenn man den griechischen Text sehr grob, ungeschliffen und Wort für Wort übersetzt, ergibt sich folgendes: solchen Leuten, solchen Tyrannen muß man zeigen, was to ?Tagma 12 ist (was die Sache ist, die Sache s~lbst - ich komme dar;mf zurück); durch welche Tätigkeiten, Praktiken (di' hoson ?Tagmaton) [sie ausgeübt wird]; und welche Mühe sie bedeutet und erfordert (kai hoson ponon echei). Sie sehen, daß das Wort pragma in diesem Text zweimal vorkommt. Nun hat dieses Wort im Griechischen zwei Bedeutungen. Pragma ist in den Begriffen der Grammatik oder Logik der Bezugsgegenstand eines Begriffs oder einer Aussage. Und hier sagt Platon ganz klar, daß man den Tyrannen zeigen muß, was to pragma ist (was der Gegenstand ist), was die Philosophie in ihrer Wirklichkeit ist. Sie geben vor zu wissen, was die 3°3
Philosophie ist, sie kennen einige philosophische Wörter, haben ein paar Kleinigkeiten und Lappalien gehört und glauben, daß das die Philosophie ist. Man muß ihnen pan to pragma zeigen: die Wirklichkeit der Philosophie in ihrer Gesamtheit, die ganze Wirklichkeit der Philosophie, was die Philosophie im ganzen als Gegenstand des Begriffs der Philosophie ist. Worin wird nun dieses pragma der Philosophie, diese Wirklichkeit der Philosophie, bestehen? Man muß zeigen, »hoion te kai di' hoson pragmaton kai hoson ponon echei«.Was aber ist dieses pragma? Nun, es sind die pragmata. Was sind die pragmata? Das sind die Angelegenheiten, die Tätigkeiten, die Schwierigkeiten, die Praktiken, die Übungen, alle Formen von Praktiken, in denen man sich üben und sich Mühe geben muß, um die man sich bemühen muß und die tatsächlich mühsam sind. Hier haben wir den zweiten Sinn des Wortes pragma, wonach es sich nicht mehr um den Gegenstand eines Begriffs oder einer Aussage handelt. Die pragmata sind die Tätigkeiten, all das, womit man sich beschäftigt, all das, wobei man sich Mühe geben kann. Pragmata in diesem Sinne ist schole entgegengesetzt, was Muße bedeutet. Eigentlich besteht aber die philosophische schole, die philosophische Muße, gerade darin, daß man sich mit einer Reihe von Dingen beschäftigt, die die pragmata der Philosophie sind. Jedenfalls haben wir in diesem Text ein doppeltes Verständnis des Wortes pragma. Dieses doppelte Verständnis ist folgendes: Man muß den Tyrannen oder denen, die die Philosophie zu kennen glauben, zeigen, worin die Wirklichkeit der Philosophie besteht, worauf sich das Wort »Philosophie« wirklich bezieht, was es heißt zu philosophieren. Wodurch zeigt man ihnen das? Dadurch, daß »Philosophieren« eben eine Reihe von Tätigkeiten und von pragmata ist, die die philosophische Praxis ausmachen. Was der Text sagt, ist nicht mehr und nicht weniger als diese eine grundlegende Sache, nämlich daß die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit des Philosophierens, das, worauf sich der Begriff der Philosophie bezieht, eine Gesamtheit von pragmata (von Tätigkeiten) ist. Die Wirklichkeit
ler Philosophie, das sind die Tätigkeiten der Philosophie. Was sind nun diese Tätigkeiten? Genau diese Frage entwickelt der Text von diesem Satz an. Es lassen sich drei Reihen von Hin,:,:eisen finden. Die Tätigkeiten der Philosophie werden dargestellt als ein Weg, der durchlaufen werden soll, ein Weg, den derjenige, den ::nan prüfen und auf die Probe stellen will, sofort erkennen soll and von dem er, sobald man ihm diesen Weg vorgestellt hat, zeigen soll, daß er gerade ihn gewählt hat, ihn beschreiten will, an dessen Ende gelangen will und daß er nicht anders leben kann. »Ou bioton allos«: Es ist ihm nicht möglich, anders zu leben. Diese philosophische Wahl, diese Wahl des philosophischen Wegs ist eine der ersten Bedingungen. Zweitens soll sich ler Kandidat, der dieser Prüfung unterzogen wird, im Ausgang von der philosophischen Wahl, die er getroffen hat, mit all seinen Kräften beeilen, und zwar auch unter der Leitung eines Führers, der ihm den Weg zeigt, an der Hand nimmt und ihn den Weg beschreiten läßt. Der Kandidat, der der Prüfung un:erzogen wird, soll sich mit ganzer Kraft beeilen und auch seinen Führer dazu drängen, so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Auch darf er in diesen Tätigkeiten (den pragmata der Philosophie) mit seiner Anstrengung nicht nachlassen, und bis zum Ende, bis zur Endstation des Weges soll er immer arbeiten und sich abmühen. Außerdem darf er erst dann - das ist ein weiterer Hinweis im Text - auf die Leitung dessen, der ihn iührt, verzichten, wenn er genügend Kraft gesammelt hat, um sich ohne seinen Lehrer zu führen, d. h. um sein eigener Führer zu sem. Die zweite wichtige Reihe von Hinweisen folgt unmittelbar danach: »Von dieser Anschauung durchdrungen, und von diesem Triebe erfüllt, geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine :;.lltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis und sein Denkvermögen bei innerer Nüchternheit bis zum lenkbar höchsten Grade steigert.«13 Dieser Text ist wichtig,
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weil er zugleich anzeigt, daß die Wahl der Philosophie ein für alle Mal getroffen und bis zum Ende aufrechterhalten werden muß, d. h. bis zum Schluß nicht unterbrochen werden darf. Andererseits aber - das geht aus dieser Überlegung hervor - ist diese Wahl der Philosophie nicht nur vereinbar mit den gewöhnlichen Handlungen, sondern besteht gerade darin, daß man selbst im gewöhnlichen Leben und bei den Handlungen, die man täglich zu verrichten hat, von der Philosophie Gebrauch macht und sie ins Spiel bringt. Man ist bis in seine gewöhnlichen Handlungen hinein Philosoph, und diese Praxis der Philosophie drückt sich in drei Fähigkeiten aus, in drei Arten von Einstellungen und Fähigkeiten: Man ist eumathes, d. h., man lernt leicht; man ist mnemon, d. h., man hat ein gutes Gedächtnis und behält alles das, was man gelernt hat, dauerhaft und auf lebendige, gegenwärtige, aktive Weise im Geist, weil man eumathes war. Man ist also eumathes, man ist mnemon, und schließlich ist man logizestai dynatos (man ist in der Lage zu räsonieren, d. h., in einer gegebenen Situation und bei einer bestimmten Überlegung weiß man sich des Verstandes zu bedienen und ihn anzuwenden, um die richtige Entscheidung zu treffen). Wir haben also eine ganze erste Reihe von Hinweisen, die charakterisieren, worin die philosophische Wahl in ihrem Ursprung, ihrer Beständigkeit, ihrer ununterbrochenen Anstrengung bestehen soll, und andererseits eine ganze Reihe von Hinweisen, die zeigen, wie diese philosophische Wahl sich unmittelbar und kontinuierlich mit der alltäglichen Tätigkeit verschränkt und mit ihr verschlungen ist. Wenn man nun diesen Text mit dem anderen Text des Alkibiades vergleicht, über den ich vorhin gesprochen und den ich letztes Mal kommentiert habe, sieht man, daß die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Philosophie und etwa der politischen Tätigkeit sehr unterschiedlich ist. Alkibiades war, wie Sie sich erinnern, von dem Wunsch besessen, die Macht auszuüben, und zwar die einzige, ausschließliche Macht im Staat. An dieser Stelle packte ihn Sokrates, nahm ihn am Ärmel und sagte zu ihm: Aber weißt du auch, wie du diese Macht ausüben 3°6
:';'annst? Darauf folgte ein sehr langer Dialog, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß Alkibiades, da er nicht wußte, was die Gerechtigkeit oder die richtige Ordnung oder die richtige Har:nonie war, die er im Staat zur Herrschaft führen wollte, all dies lernen mußte. Er konnte dies alles aber nicht lernen, ohne sich zuerst und vor allem mit sich selbst zu befassen. Sich mit sich selbst zu befassen setzte jedoch voraus, daß er sich selbst :':annte. Sich selbst zu kennen setzt nun aber die Wendung der --'iufmerksamkeit auf die eigene Seele voraus, und in der Be:rachtung der eigenen Seele oder in der Wahrnehmung des göttlichen Elements seiner eigenen Seele konnte er die Grund' agen des Wesens der Gerechtigkeit wahrnehmen, und dadurch :':onnte er erkennen, was die Grundlagen und Prinzipien einer gerechten Regierung waren. Dort hatten wir also das Bild oder eher die Bestimmung einer philosophischen Entwicklung, die, ,,:ie auch hier, für die politische Tätigkeit unverzichtbar ist. Diese philosophische Entwicklung hatte jedoch im Alkibiades die Form der Rückkehr zu sich selbst, der Selbstbetrachtung ier Seele und der Betrachtung der Wirklichkeiten, die ein ge:-echtes politisches Handeln begründen können. 14 Hier sind die philosophische Wahl, die philosophische Tätig:':eit, die philosophischen pragmata, die unbedingt notwendig sind und das pragma (die Wirklichkeit) der Philosophie aus:nachen, die philosophischen Tätigkeiten, die die Wirklichkeit der Philosophie sind, ganz andere. Es handelt sich keineswegs :~m die Aufmerksamkeit, sondern um eine Entwicklung. Es handelt sich keineswegs um eine Umwendung, sondern im Gegenteil darum, einem Weg zu folgen, der einen Ursprung '..md ein Ziel hat. Und während dieser ganzen Entwicklung :nuß eine lange und mühsame Arbeit geleistet werden. Schließ:ich ist die Anhänglichkeit, um die es in diesem Text geht, nicht die Anhänglichkeit an ewige Wirklichkeiten, sondern die Praxis des Alltagslebens, jene Art von alltäglicher Tätigkeit, innerhalb deren das Subjekt sich als eumathes (lernfähig), mnemon erinnerungsfähig) und logizesthai dynatos (fähig zu räsonie:-en) erweisen soll. Im Fall der großen Umwendung, die wir im 3°7
Alkibiades beschrieben sahen, ging es darum, wie das Subjekt, wenn es den Zeitpunkt erreicht hatte, wo es in der Lage war, die Wirklichkeit zu betrachten, wieder herabsteigen und das, was es gesehen hatte, im Alltagsleben effektiv anwenden konnte. Sie erinnern sich im übrigen auch, wie schwierig es im Staat war, diejenigen, die schon einmal die Wirklichkeit außerhalb der Höhle betrachtet hatten, wieder in die Höhle zurückzuschicken. Hier geht es um etwas ganz anderes. Es geht um eine Wahl, eine Wahl, die von Anfang an getroffen werden muß, eine Wahl, die ein für allemal getroffen und die anschließend entwickelt und entfaltet werden muß, um sich quasi in der emsigen Arbeit des Alltagslebens auszuprägen. Das ist ein ganz anderer Typ von Umwendung. Im Alkibiades hatten wir die Wendung der Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Hier geht es um eine Umwendung, die durch eine anfängliche Wahl, eine Entwicklung und eine Anwendung bestimmt ist. Es ist keine Wendung der Aufmerksamkeit, sondern der Entscheidung. Eine Wendung, die nicht nach der Betrachtung strebt, und zwar nach der Selbstbetrachtung, sondern die unter der Leitung eines Führers und am Leitfaden einer langen und mühsamen Entwicklung in der alltäglichen Tätigkeit Lernen, Gedächtnis und vernünftige Schlußfolgerungen ermöglichen soll. Daraus läßt sich offensichtlich eine Reihe von Folgerungen ziehen. Die erste besteht, wie Sie gesehen haben, darin, daß in diesem Text ein weiterer Zirkel bestimmt wird. Vorhin habe ich in bezug auf die vorangehende Passage den Zirkel der Anhörung erwähnt, der darin besteht, daß das philosophische Wahrsprechen, die philosophische Veridiktion, beim anderen den Willen zuzuhören voraussetzt. Hier haben wir einen weiteren, davon ganz verschiedenen Zirkel, der nicht mehr der Zirkel des anderen, sondern der Zirkel des Selbst ist. Tatsächlich handelt es sich um folgendes: Die Wirklichkeit der Philosophie findet sich nur in der Praxis der Philosophie, wird nur dort anerkannt und vollzieht sich ebenfalls nur dort. Genauer noch, die Wirklichkeit der Philosophie, das ist die zweite Folgerung, die wir ziehen müssen, ist nicht ihre Praxis als Praxis
: " ... denn hätte ich nur den Einen völlig für mich gewonnen, so wäre damit alles erhoffte Gute glücklich erreicht« (Platon, VII. Brief, 328b , a.a.O., S. 51). 2 VgL zu diesem Punkt die Vorlesungen vom Januar 1982, in: Hermeneurik des Subjekts, a. a. O. :; "Ich würde nämlich, Alkibiades, wenn ich sähe, daß du dich mit dem, was ich dir eben vorrechnete, begnügtest und glaubtest, im Besitze desselben ruhig dein Ende abwarten zu können (en toutois katabionai), schon längst von meiner Liebe zu dir abgelassen haben ... « (Platon, Alkibiades, 104e-IoP, übers. v. Franz Susemihl, Platon: Sämtliche Werke, Heidelberg, 1982, S. 816.) ~ Platon, VII. Brief, 330C-d, a.a. 0., S. 55. Ebd. 331d, S. 56f. 5 Platon, Der Staat, 425e-426a, a. a. 0., S. 2°5.
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::eS logos. Das bedeutet, daß sie nicht die Praxis der Philoso-
als Diskurs ist, nicht einmal die Praxis der Philosophie als Dialog. Es ist die Praxis der Philosophie als »Praktiken« im :?~ural, die Praxis der Philosophie in ihren Praktiken, in ihren -,,'erschiedenen Ausübungen. Die dritte Folgerung, die offens:chtlich von großer Bedeutung ist, ergibt sich aus der Frage, -,;;,-orauf sich diese Ausübungen beziehen, worum es in diesen :?'raktiken geht. Nun, es geht ganz einfach um das Subjekt selbst. Das bedeutet, daß die Wirklichkeit der Philosophie sich ~l der Selbstbeziehung, in der Arbeit an sich selbst, im Modus 2er Selbsttätigkeit bezogen auf sich selbst zeigt und bestätigt -,;;,'ird. Die Philosophie findet ihre Wirklichkeit in der Praxis '::er Philosophie, verstanden als die Gesamtheit der Praktiken, lurch die das Subjekt eine Beziehung zu sich selbst unterhält, . . selbst entwickelt und an sich arbeitet. Die Arbeit an sich selbst, darin besteht die Wirklichkeit der Philosophie. Das war also der zweite Text in diesem VII. Brief, den ich kom:elentieren wollte. Einen dritten werde ich gleich kommentieren. Er wird uns zu einem dritten Zirkel führen und zu einer iritten Bestimmung, einer dritten Annäherung an die Wirk~ichkeit der Philosophie.
Anmerkungen
7 V gl. unten, Anm. 8. 8 Platon, Platons Gesetze, IV. Buch, übers. und erläutert v. Otto Apelt, a. a. 0.,5. I37f. 9 Vgl. oben 5. 267-273. 10 Platon, VII. Brief, 34ob, a. a. 0.,5.7°. I I Ebd., 34ob-34Ia, 5.7°-71. 12 Vgl. eine erste Analyse dieses Begriffs mit Bezug auf geistliche Übungen und genauer auf das philosophische Zuhören in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0,5.426 (siehe auch den Artikel von P. Hadot zu diesem Begriff in Concepts et Categories dans la pensee antique, hg. v. P. Aubenque, Paris 1980). 13 Platon, VII. Brief, 34ob, a. a. 0., 5.7°-71. 14 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesungen vom Januar 1982, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. O.
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, zweite Stunde)
Scheitern des Dionysios. - Die platonische Ablehnung der Schrift. ',lathemata versus synousia. - Die Philosophie als Praxis der Seele. - Die :c:;zlosophische Abschweifung des VII. Briefs: die fünf Elemente der Er(enntnis. - Der dritte Zirkel: der Zirkel der Erkenntnis. - Der Philosoph >.nd der Gesetzgeber. - Abschließende Bemerkungen über die zeitgenässi.c,';Jen Platoninterpretationen. J2.S
~ ... ,:.] Die erste Frage, die in dieser Reihe von Texten gestellt wird, die :;;h gerade analysiere, war die Frage nach der Bereitschaft zu ::-,ören: Die Philosophie ist erst dann ein wirklicher Diskurs, -;z:enn sie angehört wird. Zweitens ist der philosophische Dis"~urs nur dann wirklich, wenn er von einer Praxis begleitet und iurch eine Reihe von Praktiken unterstützt und ausgeübt ß.·ird. Die dritte Gruppe von Texten bezieht sich auf die Be'0:ährungsprobe, auf die Platon Dionysios gestellt hat, oder "ielmehr darauf, daß Dionysios nicht in der Lage war, positiv die Bewährungsprobe, der er unterzogen wurde, zu antworten. Der Text, den ich Ihnen vorhin ausgeteilt habe, zeigt ;?nz deutlich, daß es sich um eine systematische Bewährungs?robe handelte, die Platon als sicheres und unfehlbares Mittel .iarstellte. In den folgenden Zeilen und Seiten zeigt Platon, wie Dionysios an dieser Bewährungsprobe gescheitert ist. Diese ~ange Ausführung kann folgendermaßen auf den Punkt ge:cracht werden. Zuerst haben wir das Scheitern von Dionysios: \\'ie und warum, durch welchen Fehler gegenüber der Philoso:>hie scheiterte Dionysios? Zweitens haben wir die positive Seite der Kritik an Dionysios bzw. seines Scheiterns, nämlich =ine bestimmte Theorie der Erkenntnis. Zuerst die negative Seite: Wie scheiterte Dionysios an der Bewährungsprobe der Philosophie, an der Bewährungsprobe des
:"1. E: Nun, machen wir weiter? Zu dieser Zeit des akademischen Jahres sind wir alle schon etwas erschöpft.
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}II
pragma der Philosophie, an der Realitätsprüfung der Philosophie, die in den pragmata bestehen muß, in den Praktiken der Philosophie selbst? Platon stellt dieses Scheitern auf zweierlei Weise dar bzw. nennt dafür zwei Hinweise. Der erste Hinweis ist gänzlich negativ: Dionysios hat sich geweigert, den langen Weg der Philosophie zu wählen, der ihm gewiesen wurde. Kaum hatte er die erste Philosophievorlesung gehört, glaubte er schon, die wichtigsten Dinge (ta megista) zu wissen, für die Zukunft genug davon zu verstehen, und mochte sich nicht mehr weiterbilden.! Das ist nicht weiter schwierig. Es gibt jedoch noch etwas anderes, denn außer dieser Unfähigkeit, die Dionysios bewies, dem langen Weg der Philosophie zu folgen, d. h. den mühsamen Weg der Übungen und Praktiken einzuschlagen, hat Dionysios einen gewissermaßen direkten und unmittelbaren, einen positiven Fehler begangen. Dieser Fehler ist sehr interessant und sehr bedeutsam. Dionysios hat nämlich eine philosophische Abhandlung geschrieben. 2 In der Tatsache nun, daß Dionysios diese philosophische Abhandlung geschrieben hat, sieht Platon den Hinweis dafür, daß er nicht in der Lage war, die Wirklichkeit der Philosophie zu finden. Der Text, den Dionysios geschrieben hatte, wurde in Wirklichkeit nach Platons Besuch verfaßt, und Platon erwähnt ihn bloß als eine Art von Zeichen aposteriori, daß sein Besuch keinen Erfolg haben konnte. Denn Dionysios sollte imstande sein, etwas später eine Abhandlung über die wichtigsten Fragen der Philosophie zu schreiben, um seinen eigenen philosophischen Wert unter Beweis zu stellen und zu zeigen, daß die Irrtümer bei Platon lagen. Damit, sagt Platon, hat er zwei Fehler begangen. Erstens wollte er als Autor von Texten gelten, die in Wirklichkeit nichts anderes waren als die Transkription von Vorlesungen, die er gehört hatte. Aber darin besteht nicht die Hauptsache des Vorwurfs. Über diese philosophischen Fragen, und zwar die wichtigsten Fragen der Philosophie, schreiben zu wollen, kommt einem Beweis dafür gleich, daß man von der Philosophie nichts versteht. Dieser Text, der offensichtlich von großer Bedeutung ist, läßt sich mit einem anderen vergleichen, 312
c.cr weithin bekannt ist und den man häufig als Beweis, Darstellung und letzten Ausdruck von Platons großer Ablehnung c.er Schrift zitiert. Dieser Text der heftigen Ablehnung der Schrift ist der Text aus dem 11. Brief, der ganz am Ende steht '.lud in dem Platon sagt: »Dies nimm dir zu Herzen und sieh c.ich vor, daß du nicht etwa später einmal es zu bereuen haben ",~irst, jetzt so nichtswürdige Gedanken in die Welt gesetzt zu ~aben. Am sichersten beugt man dem vor (megiste phylake), 7:eun man nichts niederschreibt, sondern sich ganz ans Verstel:enlernen hält. Denn was zu Papier gebracht worden ist, das entgeht auch nicht dem Schicksal der Veröffentlichung. Darum lcabe ich selbst noch nie etwas über diese Dinge niedergeschrieJen, und es gibt keine Schrift des Platon und wird auch keine scben. Was aber die jetzt mir beigelegten Schriften anlangt, so sind sie nichts anderes als Werke des Sokrates, des verfeinerten '.lud verjüngten Sokrates nämlich. Lebe wohl und folge mir, :~nd verbrenne diesen Brief nach mehrmaligem Durchlesen.«3 y~Tir müssen uns immerhin daran erinnern, daß dieser II. Brief eindeutig später geschrieben wurde als der VII. Brief, den ich gerade erläutere, und daß er bis zu einem gewissen Grad schon eine gewissermaßen neuplatonische Zusammenfassung oder Yersion darstellt. Wenn man den älteren Text des VII. Briefs beerachtet, scheint die Ablehnung der Schrift auf ganz andere Art '.md Weise oder jedenfalls verhältnismäßig anders formuliert zu werden. Hier in dem späteren Text des 11. Briefs, den ich gerade vorgelesen habe, ist es klar - man müßte das genauer beerachten -, daß das allgemeine Thema die Esoterik ist. Es gibt ein bestimmtes Wissen, das nicht verbreitet werden soll. Wenn :nan es dennoch verbreitet, setzt man sich einer Reihe von Ge:ahren aus. Kein sogenanntes Werk »von Platon« kann und 3arf als von Platon stammend angesehen werden. Selbst die Briefe, die er geschrieben hat, soll man verbrennen. Das ist eine \:orsichtsmaßnahme der Esoterik, bei der zweifellos der pyrhagoreische Einfluß am Werk ist. In den Texten des VII. Briefs, die ich nun erläutern möchte, stellt sich diese Ableh:mng der Schrift keineswegs auf diese Weise dar. 3I 3
Dionysios hat also eine Reihe von Texten veröffentlicht, als deren Autor er gelten wollte, und zwar über die grundlegendsten Fragen der Philosophie. Welche Form darf nun aber der philosophische Diskurs nicht annehmen, damit man, so Platon, von diesen wesentlichen Dingen in der Philosophie sprechen und der Diskurs seine Wirklichkeit, sein ergon finden kann? Die Form von mathemata. 4 Hier müssen wir das Wort mathemata in seiner doppelten Bedeutung verstehen. Die mathemata, das sind bekanntlich die Erkenntnisse, aber auch die Formeln der Erkenntnis. Es handelt sich einerseits um die Erkenntnis in ihrem Gehalt und andererseits um die Art und Weise, wie diese Erkenntnis in Mathemen vorliegt, d. h. in Formeln, die zur mathesis gehören, d. h. zum Erlernen einer Formel, die der Lehrer gibt, die vom Schüler gehört, von ihm auswendig gelernt und dadurch zu seiner Erkenntnis wird. Diese Vorgehensweise der mathemata, diese Formulierung der Erkenntnis in gelehrten, gelernten und bekannten Formeln, ist nicht der Weg, so Platons Text, auf dem sich die Philosophie wirklich bewegt. So gehen die Dinge nicht vor sich. Die Philosophie wird nicht am Leitfaden der mathemata weitergegeben. Wie wird sie dann weitergegeben? Nun, sagt Platon, man eignet sich die Philosophie durch »synousia peri to pragma« an. 5 Etwas weiter verwendet er das Verb syzen. 6 Synousia, das ist das Beisammensein, die Gemeinschaft, die Vereinigung. Das Wort synousia hat sogar im gewöhnlichen griechischen Wortschatz häufig die Bedeutung der sexuellen Vereinigung. Hier fehlt diese Konnotation völlig, und ich glaube nicht, daß man überinterpretieren und sagen sollte, daß es hier so etwas wie eine Beziehung der sexuellen Vereinigung zwischen dem Philosophierenden und der Philosophie gibt. Derjenige aber, der sich der Bewährungsprobe der Philosophie unterziehen soll, muß mit ihr »zusammenleben«, mit ihr »unter einem Dach leben«, wobei hier ebenfalls die möglichen Bedeutungen des Ausdrucks »unter einem Dach leben« mitschwingen. Die Tatsache, daß der Philosophierende mit ihr unter einem Dach zu leben hat, macht die Praxis der Philosophie selbst und ihre 31 4
lrklichkeit aus. Synousia: unter einem Dach leben. Syzen: zu,,,mmenleben mit. Was ergibt sich nun Platon zufolge auf5"cund dieser synousia, aufgrund dieses syzen? Nun, das Licht ;;r;ird sich in der Seele entzünden, etwa so, wie ein Licht (»phos«) sich entzündet (die Übersetzung sagt »ein Blitz«7), d. h. wie ::ine Lampe sich entzündet, wenn man sie dem Feuer nähert. Bei der Philosophie sein, wie wenn man beim Feuer ist, bis sich 2ie Lampe in der Seele entzündet oder bis die Lampe sich wie ,:ine Seele entzündet, darin und auf diese Weise findet die Phi-osophie ihre Wirklichkeit. Wenn die Lampe einmal entzündet sr, wird sie sich von sich selbst und ihrem eigenen Öl nähren ::::üssen, d. h. daß die Philosophie, die in der Seele entflammt, curch die Seele selbst genährt werden muß. Auf diese Weise, in Gestalt dieses Zusammenlebens unter einem Dach, des Lichts, 2as sich fortpflanzt und entzündet, des Lichts, das sich durch 2ie Seele selbst nährt, wird die Philosophie leben. Sie sehen, - ~ das genau das Gegenteil dessen ist, was bei den mathemata 5eschieht. Bei den mathemata gibt es keine synousia, das syzen ,sr nicht notwendig. Es muß eine Gestaltung der Matheme, der 'X'issensinhalte geben. Diese Matheme müssen weitergegeben -;-,'erden, und sie müssen im Gedächtnis bewahrt werden, bis 2,,5 Vergessen sie möglicherweise auslöscht. Hier haben wir im Gegensatz dazu keine Formel, sondern eine Koexistenz. Kein Erlernen der Formel durch eine Person, sondern ein sprung,",aftes und plötzliches Entflammen des Lichts innerhalb der Seele. Und auch kein Einprägen und kein Aufbewahren einer :-~rtigen Formel in der Seele, sondern die ständige Speisung der ?'hilosophie durch das verborgene Öl der Seele. ;:'isofern darf man nicht glauben, daß die Philosophie durch so -,::\vas wie geschriebenes Material gelehrt werden könnte, das =-_:chts anderes als die Form der mathemata der Erkenntnis -;-'äre, mathemata, die von einem beliebigen Lehrer an beliebige Schüler weitergegeben werden, die sie nur auswendig zu lernen l:ätten. Jedenfalls ist die Tatsache, daß die Philosophie nicht in Form von mathemata weitergegeben werden kann, Platon zu:olge der Grund dafür, daß er selbst, obwohl, wie er sagt, er zu 315
diesem Zweck am besten geeignet gewesen sei, nie dazu bereit war, auch nur ein einziges Buch über die Philosophie zu schreiben. 8 Gewiß, so fügt er hinzu, wenn es möglich wäre, das zu tun, und wenn die Philosophie wirklich in Form von Mathemen geschrieben und als solche weitergegeben werden könnte, dann wäre das die nützlichste Sache der Welt. Stellen wir uns vor, so Platon, daß man für alle ten physin (die Natur)9 ans Licht bringen könnte, dann wäre das sehr gut. Tatsächlich wäre es aber nutzlos oder gar gefährlich. Es wäre für diejenigen gefährlich, die wirklich nicht wissen, daß die Philosophie keine andere Wirklichkeit kennt als ihre eigenen Praktiken. Sie würden glauben, daß sie die Philosophie kennen würden, darüber Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und Verachtung für die anderen entwickeln, und das wäre gefährlich. Für die anderen, die genau wissen, daß die Wirklichkeit der Philosophie in ihrer Praxis und ihren Praktiken besteht, wären der Unterricht und die Weitergabe durch die Schrift vollkommen nutzlos. Diejenigen, die wissen, was die Wirklichkeit der Philosophie ist und die diese Wirklichkeit der Philosophie praktizieren, brauchen die explizite Unterweisung in Form von mathemata nicht. Ihnen genügt eine endeixis: 10 ein Hinweis. Der Unterricht der Philosophie kann anhand dieser Hinweisstrukturen vor sich gehen. All das finden wir in den Absätzen 34Ib-342aY Soviel zur negativen Seite von Dionysios' Bewährungsprobe, die ihren Höhepunkt in der falschen Praxis der Schrift fand. Nun wird aber die Ablehnung der Schrift in einem Absatz erklärt und begründet, der unmittelbar auf denjenigen folgt, den ich gerade erläutert habe, der gewissermaßen die positive Seite darstellt und der die wahre Bedeutung dieser Ablehnung angeben soll. In der Tat schreibt Platon, nachdem er erklärt hat, wie die Philosophie nicht zu unterrichten ist - nachdem er gesagt hat: Für die einen ist es nutzlos, weil sie nur einen Hinweis brauchen, während die anderen »dadurch [... ] teils mit einer übel angebrachten Verachtung der Philosophie erfüllt werden, teils mit einem ganz übertriebenen und hohlen Selbstbewußtsein«12 aufgrund der Unterweisungen, die sie verstanden zu 3 I6
n.aben glauben -: »Doch empfiehlt es sich, wie ich mir sage, :nich darüber noch etwas ausführlicher auszulassen. Denn ·,-ielleicht dürfte meine obige Behauptung durch diese Ausführung noch mehr Licht erhalten. Es gibt eine unwiderleglich '";';ahre Gegeninstanz gegen jeden Versuch, irgend etwas der Art schriftmäßig zu behandeln, oft genug von mir schon früher besprochen, doch wert, wie es scheint, auch jetzt wieder zur Sprache gebracht zu werden.«13 Es ist also völlig klar, daß diese Passage, die etwas weiter übrigens eine »Abschweifung«14 ge:unnt wird, hier von Platon aufs deutlichste und ohne die geeingste Zweideutigkeit als Erklärung seiner Ablehnung der Schrift eingeführt wird. Worin besteht nun diese Erklärung? Die Erklärung beginnt offenbar in großer Entfernung von der Schrift. Sie stellt sich als Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft (episteme) dar: »Für jedes Ding kommen als notwendige Voraussetzungen seiner Erkenntnis drei Punkte in Be:racht.«15 Dieser Text ist sehr schwierig, und ich möchte hier bloß einige .\spekte hervorheben, die für unser Problem einschlägig sind. '\~'ir können folgendes feststellen: Platon unterscheidet fünf Elemente hinsichtlich dessen, was die Erkenntnis der Dinge er:nöglicht. Die drei ersten sind: der Name (onoma); die Defini:ion (logos, verstanden im strengen Sinne, d. h. die Definition, die Namen und Verben enthält, wie Platon selbst sagt); das Bild das eidolon). Dann gibt es noch zwei weitere Ebenen, zwei weitere Mittel der Erkenntnis: das vierte nennt er die Wissenschaft (die episteme, welche, so Platon, auch richtige Meinung :st - orthe doxa - und nous), und schließlich gibt es ein fünftes Element. Wenn man diesen komplexen Text schematisieren "\yollte, könnte man folgendes sagen: Die drei ersten Modi der Erkenntnis (durch den Namen, die Definition, das Bild) sind so, daß sie die Sache nur durch etwas Heterogenes oder, wie Platon in diesem auch Text sagt, der Sache Gegensätzliches er.,;:ennen lassen. Wenn wir das Beispiel des Kreises betrachten, so Platon, ist klar, daß der willkürliche Name (kyklos), den :nan zu seiner Bezeichnung verwendet, dem Kreis selbst ge3I 7
genüber ganz gegensätzlich oder zumindest fremd ist. Dasselbe gilt für die Definition des Kreises, welche nur aus Namen und Verben besteht. Drittens ist selbst das Bild des Kreises, das man in den Sand zeichnet, diesem fremd. Es besteht aus Teilen, die nichts weiter als kurze gerade Linien sind, welche der Natur des Kreises offensichtlich fremd sind. All dies (Name, Definition, Bild) ist also der Natur des Kreises fremd. Was das vierte Mittel der Erkenntnis betrifft, die episteme, die sowohl [orthe doxa] (richtige Meinung) als auch nous ist, so ist diese vierte Ebene, diese vierte Form der Erkenntnis im Unterschied zu den anderen nicht in der Außenwelt angesiedelt. Die Wörter sind Geräusche, die gezeichneten Figuren sind materielle Dinge. Das vierte Element, die episteme, existiert nur in der Seele. Was gibt sie zu erkennen? Nichts, was der Sache selbst fremd oder äußerlich wäre, sondern die Eigenschaften der Sache. Aber sie läßt nicht erkennen, was das Sein der Sache selbst ist: to on, das, worin das Wesen der Sache besteht. Die fünfte Form der Erkenntnis ermöglicht, die Sache selbst in ihrem eigenen Sein (to on) zu erkennen. Worin besteht diese fünfte Form der Erkenntnis? Hier finden wir etwas Wichtiges. Wer betreibt diese fünfte Form? Wer ist ihr Akteur? Wodurch erlangen wir Zugang zur Wirklichkeit der Sache in ihrem Sein selbst? Es ist der nous, jener nous, von dem gesagt wird, daß er im vierten und vorangehenden Modus der Erkenntnis gegenwärtig ist, in der episteme und der orthe doxa. Zweitens, wie kann man Platon zufolge diese Erkenntnis bilden, die man solchermaßen erwirbt und die es ermöglicht, das Sein der Sache selbst zu erfassen? Nun, man kann sie durch das Hin und Her, den Auf- und Abstieg entlang der anderen vier Grade der Erkenntnis und durch die Mittel bilden, die die anderen Formen der Erkenntnis auszeichnen. Auf diese Weise, indem man vom Namen zur Definition aufsteigt, von der Definition zum Bild, vom Bild zur episteme (zur Erkenntnis), indem man dann wieder hinabsteigt und dann noch einmal aufsteigt, gelangt man schließlich dazu, in der fünften Form der Erkenntnis das Sein selbst (das to on) des Kreises und der Dinge zu erfassen, die 3 18
::lan erkennen will. Damit aber diese Arbeit des Auf- und Abstiegs entlang der anderen Grade der Erkenntnis uns wirklich zu diesem fünften Grad führen kann, muß die Seele außerdem :'.och von guter Beschaffenheit sein. Sie muß eine Affinität zur Sache haben, sie muß syngenes mit der Sache (to pragma) sein. 16 'X·enn die gut beschaffene Seele diese langsame, lange und harte ."-rbeit des Auf- und Abstiegs entlang der anderen Formen der Erkenntnis vollzieht, wenn sie das praktiziert hat, was Platon :'·ibe nennt - und was im strengen Sinne »Reibung« bedeutet-, ".-ird dadurch die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrem Sein selbst möglich. 17 Das Wort »tribe« ist wichtig. Materiell gese~en, ist es die Reibung. Wir haben hier einen Widerhall und eine Erinnerung des Bildes des Feuers, das in der Seele wie bei einer Lampe entzündet werden soll. Tribe ist auch in einem allgemeineren und abstrakteren Sinn alles, was zur Übung und zum Training gehört. All das, wodurch man sich an etwas ge-:,;·öhnt und sich in etwas übt. Sie sehen also, daß die Erkenntnis der fünften Art von den anderen vier Graden der Erkenntnis l:öllig verschieden ist. Diese letzte Erkenntnis wird jedoch nur durch eine kontinuierliche Praxis erworben, durch eine Praxis, die ständig ausgeübt wird, eine Praxis der Reibung zwischen den anderen Modi der Erkenntnis. schematisiere natürlich, denn dieser Text wirft in allen seinen Formulierungen eine große Anzahl von Schwierigkeiten im Hinblick auf die platonische Theorie der Erkenntnis, die Bedeutung von Wörtern wie doxa, episteme, das ganze Problem der Konzeption des nous usw. auf. Der Aspekt, auf den es ::lir ankommt und unter dem ich hier diesen Text betrachten möchte, besteht darin, daß er alles, was wir bisher über die '~'irklichkeit der Philosophie gesagt haben, mit einem genauen :md angemessenen Sinn erfüllt. Offensichtlich bezieht er sich ~enau auf das Problem, das den ganzen VII. Brief bzw. dessen zentrale und theoretische Ausführungen zu dominieren scheint, nämlich was die Philosophie ist, wenn man sie nicht bioß als logos, sondern als ergon verstehen will. Nun, mir 319
scheint, daß wir hier so etwas wie einen dritten Zirkel entdekken können. Wir hatten den Zirkel des Zuhörens: Damit die Philosophie wirklich sein kann, damit sie ihre Wirklichkeit finden kann, muß sie ein Diskurs sein, der gehört wird. Zweitens, damit die Philosophie ihre Wirklichkeit finden kann, muß sie tatsächlich in einer Praxis und in Praktiken bestehen (im Singular und im Plural). Die Wirklichkeit der Philosophie besteht in ihren Praktiken. Und schließlich hätten wir jetzt das, was wir den Zirkel der Erkenntnis nennen könnten, nämlich daß die philosophische Erkenntnis, die eigentlich philosophische Erkenntnis, sich in der Tat völlig von den anderen vier Formen der Erkenntnis unterscheidet. Dennoch kann die Wirklichkeit dieser Erkenntnis nur durch die eifrige und beständige Praxis der anderen Formen der Erkenntnis erreicht werden. Jedenfalls zieht Platon aus dieser Theorie der Erkenntnis, die von ihm, wie gesagt, ausdrücklich als Erläuterung des Grundes für die Ablehnung der Schrift vorgestellt wird, eine Reihe von Folgerungen, die in dem Text selbst genannt sind. Platon sagt: Wenn also die Erkenntnis so beschaffen ist, wenn es diese fünf Grade der Erkenntnis gibt und die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrem Sein selbst sich nur durch die tribe (die Reibung) der verschiedenen Erkenntnismodi aneinander vollziehen kann, ist es für einen ernsthaften Mann (spoudaios) nicht möglich, diese Dinge schriftlich zu behandeln. 18 Er kann diese Dinge nicht schriftlich behandeln aus Gründen, die zwar im Text nicht genannt werden, die aber dennoch klar in Erscheinung treten, da gerade die Schrift, indem sie dem Erkannten und dem zu Erkennenden die [Form':'] des Mathems, des mathema, der mathemata gibt, die gewissermaßen das Instrument sind, das dem Erkennenden als Vehikel für die schon vollzogene Erkenntnis dient, da also die Schrift, die an die Form der mathemata selbst gebunden ist, in keiner Weise der Wirklichkeit der philosophischen Erkenntnis entsprechen kann: der kontinuierlichen Reibung der Erkenntnismodi aneinander. Aus diesem Grundsatz, daß kein ernsthafter Mann die Dinge der Philosophie schriftlich behandeln kann, zieht Platon na-
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:ürlich zunächst die auf Dionysios bezogene Folgerung, daß Dionysios nichts von der Philosophie verstanden hat. Und er zieht daraus die weitere Folgerung, die für uns wichtiger ist die in bezug auf Platon übrigens einen sehr paradoxen Charakter hat, nämlich daß, wenn die Philosophie wirklich :,ticht in Form von mathemata praktiziert und gelernt werden ;;'ann, die Rolle eines Philosophen niemals die eines Nomothe:en sein kann. Seine Rolle wird nie darin bestehen, eine Gesamtheit von Gesetzen vorzuschlagen, denen sich die Bürger eines Staats unterordnen sollten, damit der Staat ordentlich regiert werden kann. Am Ende dieser Passage, im Absatz 344C, sagt Platon ganz ausdrücklich: »Kurz, es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Lehre: wenn man auf schriftliche Auslassungen stößt, sei es von einem Gesetzgeber zur Erläuterung ;,-on Gesetzen [en nomois, und es ist von einem »nomothetes« die Rede; M. E] oder sonst auf Schriften irgend welcher Art, so war diese Schriftstellerei, wenn anders er selbst ein ernsthafter :\Iann ist, nicht sein voller Ernst, mag es auch unter dem, was ihm gehört, an den schönsten Platz gestellt sein; hat er das aber '"Z'.-irklich in vollem Ernst als Schriftwerk veröffentlicht, dann haben - zwar nicht Götter, wohl aber - sterbliche Menschen ihn aller Besinnung beraubt.«19 Wir haben hier also einen Text, der vollkommen die Tätigkeit ablehnt, die darin besteht, einem Staat Gesetze vorzuschlagen, d. h. der zumindest scheinbar die Legitimität eines Textes wie Der Staat oder vor allem wie die Gesetze ablehnt, ein Text, der gerade über die Gesetze aus der Sicht des Nomotheten geschrieben wurde. Es wird gesagt, daß ein solcher Text nicht ernsthaft sein kann. schlage nun die folgende einfache Hypothese vor: Kann man, so wie Platon über den mythos sagt, daß er nicht wörtlich zu nehmen sei und daß er in gewissem Sinn nicht ernsthaft ist ozw. daß man seine ganze Ernsthaftigkeit aufbieten muß, um ihn ernsthaft zu interpretieren, nicht dasselbe im Hinblick auf iene berühmten Texte der Gesetze oder des Staats sagen, die man oft als die Form interpretiert hat, die Platon idealerweise dem Staat gab, den er verwirklichen wollte? Wäre die Tätigkeit Fr
des Nomotheten, das Schema der Gesetze und der Verfassung, das im Staat und in den Gesetzen vorgeschlagen wird, in Platons Denken im Grunde nicht mit derselben Vorsicht zu behandeln wie ein Mythos? Und liegt die Ernsthaftigkeit der Philosophie nicht anderswo? Ist die Tätigkeit des Nomotheten, die Platon in den Gesetzen und im Staat anscheinend an den Tag legt, nicht ein Spiel? Ein Spiel wie der Mythos, wenn auch anders? Was die Philosophie zu sagen hat, läuft natürlich über dieses nomothetische Spiel, wie es über das Spiel des Mythos läuft, aber um etwas anderes zu sagen. Wenn man die Texte des VII. Briefs unter der Voraussetzung liest, daß die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit der Philosophie in der Politik, etwas ganz anderes sei, als den Menschen Gesetze zu geben und ihnen die zwingende Form des idealen Staates vorzuschlagen, lassen sich daraus eine Reihe von Bemerkungen folgern. Zwei sozusagen kritische Bemerkungen und eine Bemerkung über den Sinn der gestellten Frage und der Antwort, die in diesem Brief darauf gegeben wird. Erstens, wenn man der Ablehnung wirklich den Sinn geben soll, den ich vorschlage, muß man in dieser platonischen Ablehnung der Schrift überhaupt nicht so etwas wie das Heraufkommen eines Logozentrismus in der abendländischen Philosophie sehen. 20 Sie sehen, daß die Dinge komplizierter sind. Denn die Ablehnung der Schrift erscheint hier im ganzen Text des VII. Briefs keineswegs als Alternative zur Annahme oder Wertschätzung des logos. Im Gegenteil ist es das Thema der Unzulänglichkeit des logos, das in diesem Brief verfolgt wird. Die Ablehnung der Schrift wiederum äußert sich als Ablehnung einer Erkenntnis, die sich über onoma (das Wort), logos (die Definition, das Spiel von Substantiven und Verben usw.) vollzieht. All dies, Schrift und logos zusammen, wird in diesem Brief rundweg verworfen. Die Schrift wird nicht verworfen, weil sie dem logos entgegengesetzt ist. Im Gegenteil, weil sie von derselben Art ist wie dieser und weil sie auf ihre Weise so etwas wie eine abgeleitete und sekundäre Form des logos ist. Umgekehrt geschieht diese Ablehnung der
Folglich vollzieht sich die Beziehung der Philosophie zur Polidie Realitätsprüfung für die Philosophie in bezug auf die Politik nicht in Form eines imperativischen Diskurses, durch ien dem Staat und den Menschen die zwingenden Formen gegeben werden, denen sie sich unterordnen müssen, damit der Staat überleben kann. Sondern, nachdem dieses Spiel des Idealstaats ausgespielt ist, muß man sich daran erinnern, daß die
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Schrift, die Ablehnung der Schrift und des mit der Schrift ver3undenen logos oder des logos, dem die Schrift untergeordnet :5t, im Namen von etwas Positivem, das also nicht der logos selbst ist (der wie die Schrift und noch vor der Schrift abgelehnt "ird), sondern im Namen der tribe, im Namen der Übung, der :Ilühe, der Arbeit, im Namen eines bestimmten mühevollen Selbstverhältnisses. In dieser Ablehnung der Schrift ist keines".. egs das Heraufkommen eines Logozentrismus zu erkennen, sondern das Erscheinen von etwas ganz anderem. Es handelt sich um das Erscheinen der Philosophie; einer Philosophie, de,en Wirklichkeit in der Selbstpraxis besteht. In der gleichzeitigen und gemeinsamen Ablehnung der Schrift und des Logos wird so etwas wie das abendländische Subjekt in die Pflicht ge::lommen. Die zweite Folgerung und die zweite kritische Bemerkung bestehen darin, daß jede Interpretation Platons, die anhand von Texten wie Der Staat und die Gesetze in ihm so etwas wie die Grundlage, den Ursprung oder die Hauptform eines politischen Denkens finden wollte - nämlich des »totalitären« (um ::5 kurz zu sagen, weil sich die Stunde dem Ende zuneigt) _, zweifellos völlig revidiert werden muß. Die ziemlich aus der Luft gegriffenen Interpretationen des guten Karl Popper21 be:-ücksichtigen natürlich nicht das Detail und das komplexe Spiel Platons im Hinblick auf das Problem der Nomothetie, ier Setzung und Formulierung von Gesetzen. Platon zieht in iiesem Brief gewissermaßen den Teppich weg, auf dem er zweifelsohne den Staat, ganz gewiß die Gesetze und jene no:nothetische Tätigkeit aufgebaut hat, die nun als nicht ernsthaft erscheint.
Ernsthaftigkeit der Philosophie anderswo liegt. Der Ernst der Philosophie besteht nicht darin, den Menschen Gesetze zu geben und ihnen zu sagen, wie der Idealstaat aussieht, in dem sie leben sollen, sondern darin, sie unablässig daran zu erinnern (zumindest jene, die zuhören wollen, weil die Philosophie ihre Wirklichkeit nur aus dem Zuhören bezieht), daß die Wirklichkeit der Philosophie in jenen Praktiken besteht, die man an sich selbst ausübt; jenen Erkenntnispraktiken, durch die alle Erkenntnismodi, an denen man auf- und absteigt und die man aneinander reibt, einen schließlich mit der Wirklichkeit des Seins selbst vertraut machen. Wenn es richtig ist, daß die Realitätsprüfung für die Philosophie in diesem Weg liegt, den Platon veranschaulichte, als er auf den Ruf Dions hin dem begegnete, der die politische Macht ausübt, wenn also hier die Realitätsprüfung für die Philosophie liegt, wenn die Philosophie der Gefahr, nur logos zu sein, dadurch und an dieser Stelle entgeht, wenn sie dadurch Hand an das ergon legt, dann scheint uns aus der Sicht des VII. Briefs das ist jedenfalls die positive und vorläufige Konklusion, mit der ich schließen möchte - die Bewährungsprobe der Philosophie in der Politik am Ende auf folgendes zu verweisen: Die Wirklichkeit der Philosophie besteht in einem Verhältnis von sich zu sich selbst. In diesem Text formuliert die Philosophie das, was ihr ergon ist, nämlich zugleich ihre Aufgabe und ihre Wirklichkeit, als Ausgestaltung des Problems der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen.':' Das war's, danke schön. ". Das Manuskript schließt folgendermaßen: »Was läßt sich aus all dem Gesagten folgern? Für die Frage, die ich stellen wollte, nämlich nach der Geschichte oder der Genealogie des Wahrsprechens auf dem Feld der Politik, erkennt man nun eine doppelte Verpflichtung: Derjenige, der regieren will, muß philosophieren; aber derjenige, der philosophiert, hat die Aufgabe, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Diese so formulierte doppelte Verbindung ist mit einer gewissen Neubestimmung der Philosophie verknüpft, einer Neubestimmung der Philosophie als pragma, d. h. als einer langwierigen Arbeit, die Folgendes einschließt: die Beziehung zu einem Leiter; die ständige Ausübung der
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Anmerkungen : Platon, VII. Brief, 341 b, a. a. 0., S. 7I. Ebd. 5 Platon, II. Brief, in: Platons Briefe, a. a. 0.,3 I4b-c, S. 28. -+ »Es [= die philosophischen Probleme] läßt sich nicht in Worte fassen (mathemata).« Platon, VII. Brief, a. a. 0., 34IC, S.7 2. ; Ebd. 6 » .•. sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmeren wissenschaftlichen Verkehr (ek poiles synousias) und aus entsprechender Lebensgemeinschaft (syzen) tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht« (Platon, VII. Brief, 34IC-d, S.7 2). - Tatsächlich spricht die Übersetzung von einem» Funken«, vgl. die vorangehende Anmerkung. ·"So viel weiß ich indes, daß es am besten immerhin noch von mir selbst vorgetragen würde ... « (PI at on, VII. Brief, 34Id, a. a. 0., S.7 2). » •.• das Wesen der Dinge für alle ans Licht bringen« (ebd., S.7 2). ::: " ... höchstens für die wenigen, die auf einen kleinen Wink hin (dia smikras endeixeos) selbst imstande sind, es zu finden« (ebd., 34 Ie ). :: "SO viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben über den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben. Denn es steht damit nicht so wie mit anderen Lehrgegenständen (mathemata): Es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr (syzen) tritt es plötzlich in der Seele hervor wie durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst (rheton gar oudamos estin hos alta mathemata, alt' ek poiles synousias gignomenes peri to pragma auto kai tou syzen exaiphnes, hoion apo pyros pedesantos exaphten phos, en te psyche genomenon auto heauto ede trephei)« (ebd., 34 I b-d, S. 72). :2 Ebd., 34Ie, S. 72. :3 Ebd., 34Ie-342a. :-+ Ebd., 344d, S. 77. 2
Erkenntnis; eine Form der Lebensführung, die sich bis auf das Alltagsleben erstreckt. Dadurch werden zwei sich ergänzende Figuren abgewiesen: die des Philosophen, der seinen Blick auf eine andere Wirklichkeit richtet und vom Diesseits abgetrennt ist; die des Philosophen, der mit einer schon fertig beschriebenen Gesetzestafel auftritt.«
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15 Ebd., 34 2a , S. 73· 16 »Und mag die Beschäftigung mit diesen Fragen auch in alles eingedrungen sein und sich immer wieder bald diesem bald jenem Punkt zugewandt haben, so kommt es doch kaum dahin, daß sie ein wirkliches Wissen des seiner Natur nach Vollkommenen erzeugt und auch dies nur in einem von Natur reich beanlagten Geist. Wo es aber mit der natürlichen Anlage schlecht bestellt ist, wie es bei der großen Masse hinsichtlich der Empfänglichkeit der Seele für wissenschaftliche Belehrung und für die sogenannte Sittlichkeit teils von Haus aus, teils infolge zerstörender Einflüsse der Fall ist, da kann auch ein Lynkeus dem trüben Auge nicht zu voller Sehkraft verhelfen. Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit der Sache verwandt fühlt (ton me syngene tou pragmatos), den kann auch Fassungskraft und Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen« (ebd., 343e-344a, S. 75-7 6). 17 »Und erst wenn alles Einzelne, Namen, Begriffsbestimmungen, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in mühsamer Arbeit nach ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander in einem trotz aller Widerlegungen stets versöhnlichen Tone und ohne alle Gereiztheit bei Fragen und Antworten durchgeprüft ist (mogis de tribomena) - erst dann lassen Einsicht und Vernunft ihr Licht erstrahlen (exelampse phronesis peri hekaston kai nous) über jeglichen Gegenstand, mit einer Kraft, die sich bis zur Grenze des für Menschen überhaupt Erreichbaren steigert« (ebd., 344b-c, S. 76). 18M. E: die Formel (das ist die Übersetzung von mathema in der BudeAusgabe) »Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit entfernt, durch Veröffentlichung schriftlicher Auslassungen über hochernste Dinge, diese der Streitsucht und den Zweifeln preiszugeben« (ebd., 344 C). 19 Ebd., 344c- d . 20 Ein sehr deutlicher Bezug auf die Thesen von Jacques Derrida, die in »La Pharmacie de Platon« verteidigt werden (in: La Dissemination, Paris 1972; dt. Dissemination, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995)' 2 I K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber platons, (ursprüngl. The Open Society and its Enemies, I: The Spell of Plato, London 1945), übers. v. P. Feyerabend, Tübingen 199 2.
Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar I983, erste Stunde)
:Ye rätselhafte Schalheit von Platons politischen Ratschlägen. - Die Rat_:::.'·Liige an Dionysios. - Die Diagnostik, die Ausübung des Überredens, der -. ')"schlag einer Herrschaftsform. - Die Ratschläge an Dions Freunde. c::1die des VIII. Briefs. - Die parrhesia am Ursprung des politischen Rat-
:
... ,:.] :-1eute möchte ich das, was ich über den VII. Brief zu sagen be;<mnen habe, fortsetzen und abschließen. Sie erinnern sich, wir in diesem Brief zwei Gruppen von Elementen ausge:-r:acht hatten. Zunächst Betrachtungen über die Tätigkeit des :?hilosophen, die darin besteht, einem Fürsten, d. h. jemandem, i.::r die Politik ausübt, Ratschläge zu geben. Diese Betrachtun;en bezogen sich auf Umstände, unter denen es zweckmäßig ~cin mag, Ratschläge zu erteilen, bzw. auf die Gründe, weshalb :-r:an Ratschläge erteilen sollte. Am Leitfaden dieser Frage bezüglich des Status des Ratschlags und des Beraters konnten wir sehen, wie sich eine viel grundlegendere Frage abzeichnete, da :5 sich schließlich um nichts Geringeres handelte als um das, "';as man die Wirklichkeit der Philosophie nennen könnte. Un:"r welchen Bedingungen kann die Philosophie etwas anderes .:Is ein logos sein, ein bloßer Diskurs? Ab wann und unter wel:rren Umständen kann sie die Wirklichkeit berühren? Wie "ann sie zu einer wirklichen Tätigkeit in dieser Wirklichkeit ",.-"rden? Nun, unter der Bedingung, daß sie eine bestimmte 3eziehung zur Politik unterhält, nämlich eine solche, die durch iie symboule (den Ratschlag) bestimmt ist. Wir hatten also ~LE:
Zunächst möchte ich Sie bitten, mir zu verzeihen, weil ich heute ziemlich unter einer Grippe leide. Es wäre unhöflich von mir gewesen, Sie kommen zu lassen und selbst nicht zu erscheinen, also werde ich versuchen, die Vorlesung zu halten. Wahrscheinlich wird es etwas schlapp werden, aber ich werde immerhin versuchen, bis zum Ende der zwei Stunden durchzuhalten.
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letztes Mal dieses Verhältnis zur Politik als Realitätsprüfung für die Philosophie, für den philosophischen Diskurs betrachtet. Nun gibt es in diesem VII. Brief eine weitere Gruppe von Elementen, die ich heute untersuchen möchte. Diese Elemente sind natürlich die Ratschläge selbst. Im VII. Brief - der zweifellos fiktiv an die Freunde Dions gerichtet ist oder vielmehr im wesentlichen ein offener Brief ist, in dem Platon, ob er sich nun tatsächlich an die Freunde Dions richtet oder nicht, seinen Lesern erläutert, warum und wie er zunächst Dion, dann Dionysios und anschließend die Freunde Dions beraten hat - gibt es Überlegungen zum Prinzip des Ratschlags selbst. Und außerdem gibt es [konkrete] Ratschläge. Platon gibt nämlich zumindest skizzenhafte Beispiele von Ratschlägen, die er nacheinander verschiedenen Syrakusanern gegeben hat, die ihn um seine Meinung gebeten hatten. Diese Ratschläge müssen wir nun in ihrer Form, ihrem Inhalt, in ihrer Natur, in dem, was sie sagen usw. untersuchen. Im Umfeld der Frage nach dem Inhalt der Ratschläge zeichnet sich ein anderes Problem ab, das nicht mehr die Frage nach der Wirklichkeit der Philosophie oder nach der Bewährungsprobe sein wird, durch die die Philosophie ihre Wirklichkeit bestimmen kann. Was aus dem Inhalt dieser politischen Ratschläge selbst hervorgeht, ist nicht mehr und nicht weniger als der Seinsmodus des Herrschers, insofern er Philosoph sein soll. Nur sollten wir nicht zuviel erwarten, weil, wenn man sich die Ratschläge ansieht, die PIaton erteilt, diese trotz der Bedeutsamkeit des Problems ziemlich enttäuschend sind. Tatsächlich scheinen diese politischen Ratschläge Platons, die er sich rühmt, Dion, Dionysios und dann den Freunden Dions gegeben zu haben, bei näherer Betrachtung kaum mehr als eine Reihe von eher philosophischen als politischen Meinungen, eher moralisch als wirklich politisch zu sein: Einige allgemeine Themen bezüglich der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit, bezüglich des Nutzens, der sich jedenfalls aus der Ausübung der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit ergibt, einige Rat-
schläge der Mäßigung, Ratschläge, die man auch zwei anwesenden Parteien gibt, damit sie sich wieder versöhnen, Rats,:hläge an die Herrscher, damit sie Freundschaft mit ihren :.Jntergebenen Völkern pflegen, anstatt sie mit Gewalt zu un:erwerfen usw. Nichts, was auf den ersten Blick eigentlich als sehr interessant erscheinen könnte. Betrachten wir ein Beispiel. Platon erklärt, daß er mit Dions Cnterstützung Dionysios ermahnte, »zunächst darnach [zu] streben sich unter seinen Verwandten und Altersgenossen aniere zu Freunden und gleichgestimmten Bewerbern um den Preis sittlicher Tüchtigkeit zu machen - vor allem aber diese Gleichmäßigkeit der Stimmung in sich selbst zur Herrschaft zu ~ringen; denn daran fehle es ihm in erstaunlichem Maße. Damit platzten wir [Dion und Platon gegenüber Dionysios; M. F.] :mn nicht so ohne weiteres heraus - denn das wäre einigermagefährlich gewesen -, sondern wir beschränkten uns auf Andeutungen und allgemeinere Ausführungen zur Erläute:-Jng des Gedankens, daß bei solchem Verhalten jedermann sei::lem eigenen Heil wie dem derer, deren Leitung in seiner Hand :iegt, am besten dienen wird, schlägt er aber einen anderen Weg ein, dann alles ins Gegenteil kehren wird. Wenn er [= Dionysios, M. F.] nun, auf dem von uns bezeichneten Wege wandelnd emd so zu Einsicht und Besonnenheit herangereift, die verwüsteten Städte Siziliens wieder herstelle und sie mit Gesetzen und Verfassungen ausstatte, die eine Bürgschaft der Einheit böten und dadurch sowohl ihm selbst wie auch gegenseitig einander treu ergeben und verbunden wären, so werde er die Macht ies vom Vater ererbten Reiches nicht nur um das Doppelte, sondern um wer weiß ein wie Vielfaches erhöhen.«l Sie sehen, daß wir bei dieser Art von Ratschlägen sehr weit von dem entTernt sind, was eines Tages die Regierungskünste oder einfach :1ur politische Überlegungen sein werden, die jemand anstellen kann, der die Politik auszuüben hatte und über sie nachdenken mußte. Wir sind weit entfernt von den Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena,2 weit entfernt vom Testament Richelieus,3 weit entfernt von Machiavelli. Wir sind sogar weit entfernt von der
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Rede, die Maecenas angeblich vor Augustus gehalten hat und über die Cassius Dio berichtet. 4 Wenn man den Text Platons mit zeitgenössischeren Quellen vergleichen will, kann man sich auf das beziehen, was einige Jahre zuvor Thukydides anläßlich der Ratschläge an die Athener Perikles in den Mund gelegt hatte. Sie erinnern sich an jene berühmte Rede, in der PerikIes den Athenern seine Meinung über die Zweckmäßigkeit des Krieges gegen Sparta mitteilt, als die Botschafter Spartas gekommen waren, um den Athenern ein Ultimatum zu stellen. 5 Soll man einen Krieg beginnen oder nicht? Nun, Perikles gibt Ratschläge, die sowohl diplomatisch als auch strategisch sind. Sie kennen die Art von Schlußfolgerungen, die er anstellt, die Dichte, die Reichhaltigkeit seiner Überlegungen über die Beziehungen, die einerseits zwischen einem Land mit seiner Geographie, seinen Ressourcen, seinen Gesellschaftsstrukturen, seiner Art von Regierung und andererseits dem politischen Verhalten bestehen, das man von ihm erwarten kann, der Art von Entscheidung, die es treffen kann, seiner Fähigkeit, militärischen Angriffen zu widerstehen, von welcher Art der politische Wille sein wird, den ein Land wie Sparta Athen aufgrund solcher Überlegungen über die geographischen, sozialen, wirtschaftlichen Gegebenheiten entgegensetzen könnte. Es ist klar, daß wir hier einen Typus von politischer Analyse haben, die ungleich reichhaltiger und interessanter ist als diese wenigen »Schalheiten«, die ich Ihnen aus dem VII. Brief vorgelesen habe. Aber liegt nicht gerade hier das Problem? Muß man sagen, daß Platon am Ende nichts anderes als ein etwas moralischerer, d. h. ein naiverer Ratgeber ist? Gibt er als Philosoph dem Politiker weniger intelligente, weniger informierte, weniger durchdachte Ratschläge als Perikles oder jene, die Thukydides dem Perikles unterschiebt? Oder gibt er nicht etwa eine andere Art von Ratschlägen? Sind die Meinungen, die Platon gegenüber Dion, Dionysios und den Freunden Dions äußert, einfach von schlechterer Qualität und von roherer politischer Gestaltung, oder sind sie von anderer Natur als jene, die Perikles geben 33°
konnte? Kurz, die Frage, die ich stellen möchte - Sie werden sofort sehen, in welchem Sinne ich eine Antwort darauf versuchen will-, ist folgende: Wenn Platon Ratschläge erteilt, wenn der Philosoph die Wirklichkeit seines Diskurses unter Beweis stellt, ist dann seine Rolle, seine Funktion, sein Ziel zu sagen, was im Bereich der politischen Entscheidung zu tun ist, oder sagt er etwas anderes? Mit anderen Worten, besteht die Notwendigkeit, die Philosophie mit der Politik zu konfrontieren, besteht für die Philosophie die Notwendigkeit, ihre Wirklichkeit in dieser Konfrontation mit der Politik zu suchen, darin, einen philosophischen Diskurs zu formulieren, der zugleich ein präskriptiver Diskurs für das politische Handeln sein soll, oder geht es um etwas anderes? Und wenn ja, um was? Diese Frage möchte ich heute zu klären versuchen. Dazu möchte ich drei Textpassagen untersuchen: Zwei Passagen stehen im VII. Brief und eine dritte im VIII. Brief. Diese drei Passagen sind keine Überlegungen mehr über die Notwendigkeit bzw. die Zweckmäßigkeit, der Politik Ratschläge zu erteilen. Sie sind politische Ratschläge. In der ersten Passage im VII. Brief - Sie erinnern sich daran, daß der VII. Brief nach den großen, dramatischen Ereignissen geschrieben wurde, die zuerst das Exil und dann den Tod Dions zur Folge hatten und die auch zur Abreise Platons aus Sizilien führten - erinnert Platon an die Ratschläge, die er Dionysios zu der Zeit gegeben hat, als er an dessen Hof war und als dieser so tat, als ob er sich für die Philosophie interessierte. Wir haben also eine erste Passage, in der Platon an diese Ratschläge erinnert. Dann gibt es eine zweite Passage, die ich anschließend untersuchen werde, eine Passage, in der er in der Gegenwart des Briefes spricht, den er gerade schreibt, und sagt: Da die Situation nun einmal so ist, daß meine ersten Ratschläge an Dionysios gescheitert sind, daß Dion verbannt und dann getötet wurde und daß ihr nun alleine seid, welche Ratschläge kann ich euch nun geben? Es handelt sich also um Ratschläge an die Freunde Dions nach dessen Tod und übrigens auch nach der Verbannung Dionysios' selbst, der einige Zeit zuvor von Dion BI
verbannt wurde. Schließlich werde ich zu dieser Passage einen Text aus dem VIII. Brief hinzunehmen. Der VIII. Brief ist kürzer als der VII. Brief und enthält viel weniger philosophische Reflexionen, ist dafür jedoch politischer und antwortet unmittelbarer auf eine dramatische Situation, die sich in Syrakus in den Monaten entwickelte, die auf die im VII. Brief erwähnten Zusammenhänge folgten. Nach der Verbannung Dionysios', der von Dion verjagt wurde, und dem Tod von Dion selbst, der in Syrakus ermordet wurde, bricht nämlich in Syrakus der Bürgerkrieg aus, und zwar stehen sich die beiden Parteien von Dionysios und von Dion gegenüber. In diesem Zusammenhang schreibt Platon den VIII. Brief. In ihm gibt er während des Bürgerkrieges gewissermaßen noch aktuelle Ratschläge, um zu zeigen, wie man aus dieser Situation herauskommen kann. Ich werde also zur Erläuterung der beiden Texte aus dem VII. Brief diese Passage des VIII. Briefs hinzuziehen: wegen ihrer Bedeutung, wegen der Tatsache, daß diese Ratschläge in direktem Zusammenhang mit den beiden anderen Passagen stehen, und dann noch aus einem anderen Grund, der, wie Sie sehen werden, mit dem Status der parrhesia zu tun hat und uns zum Kern unseres Problems zurückführen wird. Die erste Passage des VII. Briefs beginnt im Absatz 33 I d: »Demgemäß möchte ich euch den nämlichen Rat erteilen, den ich im Bunde mit Dion dem Dionysios gab: er möge vor allem sein alltägliches Leben so regeln [.. .].«6 Diese Ratschläge also, von denen er sagt, daß er sie Dionysios gegeben hat, beziehen sich auf einen historischen Kontext, auf einen ganz konkreten Kontext von Ereignissen. Dionysios ist zu dieser Zeit noch ganz jung. Er hat von seinem Vater, Dionysios dem Älteren, gerade das Erbe der Macht in Syrakus empfangen, eine monarchische, tyrannische, autokratische Macht, die es jetzt zu verwalten gilt. Nun ist es äußerst bemerkenswert, daß Platon sich hütet, Ratschläge zu geben, die sich auf eine Änderung der Machtstruktur und der institutionellen Organisation des Staats beziehen. Er gibt keine Ratschläge bezüglich der politeia. Im 33 2
Grunde tut er nur das, was im v. Brief gesagt wird: die phone der politeia hören, wie sie in Syrakus existiert. Vorausgesetzt, daß man es mit einer autokratischen Macht zu tun hat, wie kann man sie am besten verwalten? Zweitens schließt sich diese Passage unmittelbar an die Betrachtungen an, über die wir letztes Mal gesprochen haben, in denen Platon die Rolle des Beraters erläutert. Ganz konkret hat er gerade erklärt, daß ein politischer Berater wie ein Arzt sein soll. Sie erinnern sich, daß die Rolle des Arztes durch drei Dinge charakterisiert war. Erstens greift ein guter Arzt natürlich ein, wenn eine Krankheit vorliegt und es darum geht, die Gesundheit durch die Behandlung der Gebrechen wiederherzustellen. Aber dazu muß man diese Gebrechen kennen. Der Arzt hat also eine Arbeit der Beobachtung und der Diagnostik zu leisten, er muß mit seinem Patienten sprechen, um herauszufinden, wo das Übel liegt. Zweitens ist der gute Arzt nicht wie jener Sklavenarzt, der seinen Kunden hinterherläuft und sich dann damit begnügt, Rezepte und Verordnungen auszuteilen. Der gute Arzt überzeugt, d. h., er spricht mit seinem Patienten und überzeugt ihn von der Krankheit, die ihm zu schaffen macht, und von den Mitteln, um sie zu heilen. Schließlich ist der gute Arzt drittens nicht bloß einer, der diagnostiziert, indem er überlegt, der überzeugt, indem er spricht. Durch seine Überzeugungskunst bringt er den Kranken auch zu der Einsicht, daß es nicht genügt, Medikamente einzunehmen, sondern daß er seine Lebensweise, seine Diät völlig ändern muß. Das sind, glaube ich, die drei medizinischen Funktionen, die in dieser ersten Gruppe von Ratschlägen, die Platon Dionysios gegeben hat, ins Spiel gebracht werden. Mir scheint, daß man auf diesen zwei Seiten von Platons Text folgende drei Funktionen ausmachen kann. Erstens versucht Platon das Übel zu diagnostizieren, an dem Syrakus leidet, jedoch zu einer Zeit, da die Krise noch nicht offen zutage liegt, da schließlich Dionysios die Macht ausgeübt, eine starke Autorität in Syrakus begründet, um Syrakus herum ein ganzes Reich aufgebaut hat, das nahezu die Ausdehnung Siziliens besitzt oder zumindest 333
einen Teil Siziliens abdeckt, und sein Erbe hat gerade diese Macht erhalten. Anscheinend gibt es zwar keine Krise, aber doch eine Krankheit. Diese Krankheit, dieses Übel versucht Platon in einer ganzen Reihe von Ratschlägen sichtbar zu machen, die man den Ausführungen ab 33 rd entnehmen kann. An welchem Übel leidet nun Syrakus trotz des Anscheins guter Gesundheit? Nun, Platon sagt folgendes: Dionysios der Ältere, den Dionysios der Jüngere gerade beerbt hat, hatte ein Reich aufgebaut. Wie hatte er es aufgebaut? Indem er die sizilischen Städte wiedererrichtet bzw. wiederhergestellt hatte, die im Verlauf der Kriege gegen die Barbaren zerstört worden waren (gemeint sind in diesem Fall natürlich die Kriege gegen die Karthager). Nun hat er diese Städte, die er von den Karthagern zurückerobert und von ihnen befreit hatte und die dabei zerstört wurden, wiederaufgebaut. Aber - und hier tritt ein erstes Krankheitssymptom auf - Dionysios war nicht in der Lage, so der Text, politeiai pista? (Verfassungen, Regierungsformen, die zuverlässig und sicher sind, die Vertrauen erzeugen können) in diesen Städten aufzubauen. Diese Regierungsformen konnten kein Vertrauen erzeugen, und zwar weder, als er sie den Händen von Fremden, noch denen seiner Brüder anvertraut hatte. An dieser Stelle wird klar, was mit politeiai pistai (zuverlässigen Verfassungen und Regierungsformen) gemeint ist. Zuverlässig bedeutet hier keineswegs, daß es sich um sichere, stabile Regierungsformen handelte, die es den Bürgern ermöglichten, zu ihren eigenen Regierenden Vertrauen zu haben, oder umgekehrt den Regierenden, denen, die sie regieren, zu vertrauen. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Verhältnis der Treue und des Vertrauens zwischen den Städten - die unter der Leitung von Syrakus nach ihrem Wiederaufbau instand gehalten wurden - und der Metropole Syrakus selbst. Dionysios hat diese wiederaufgebauten Städte entweder der Leitung, der Verwaltung und der Regierung fremder Hände anvertraut oder seinen eigenen Brüdern, aus denen er reiche und mächtige Leute gemacht hat. Aber weder diese Fremden noch seine Brüder, noch die Verwaltung der einen oder der anderen waren in der Lage,
ein Verhältnis des Vertrauens zwischen Syrakus und diesen verschiedenen politeiai herzustellen. Platon entwickelt diesen Gedanken, indem er allgemein hinzufügt, daß Dionysios nicht in der Lage war, das herzustellen, was er koinonia archon nennt. 8 Koinonia archon ist die Gemeinschaft der Mächte, die Teilung der Mächte, etwas, das wir die Mächteverteilung nennen könnten. Es gelang ihm nie, seine Untergebenen, denen er diese oder jene Verantwortlichkeit anvertraut hatte, oder die Bevölkerung, über die Syrakus seine Herrschaft ausüben sollte, an der Macht zu beteiligen. Er konnte diese Gemeinschaft der Mächte weder durch Überzeugung noch durch Unterricht, noch durch Wohltaten, noch durch Verwandtschaften erreichen. Schließlich formuliert Platon seine Diagnose folgendermaßen: Dionysios hat zwar seine Macht in Syrakus und die Macht von Syrakus über die anderen Städte bewahrt. Er hat sie bewahrt, aber nur mit Mühe. Warum? Weil, so Platon, er aus Sizilien mia polis (eine einzige Stadt) machen wollte und selbst keine Freunde oder Vertrauensleute hatte (philoi und pistoi). 9 Ich glaube, daß diese kurze Beschreibung der Regierung des Dionysios und des Übels, an dem Sizilien leidet, interessant ist. Sie ist interessant, weil es bei dieser Diagnose keineswegs darum geht, eine monarchische, autokratische oder tyrannische Regierung zu kritisieren. Auch wenn es implizit eine Kritik an der Tyrannei, an der Monarchie oder an der autokratischen Macht gibt, dann jedenfalls doch nicht an ihr selbst, an ihrer Struktur, an ihrem institutionellen System. Platon prangert Mängel an, zwei Mängel von Dionysios' Regierung, nämlich, daß er aus Sizilien eine einzige Stadt machen wollte, d. h. im Grunde, daß er nicht in der Lage war, ein Reich in einer pluralen Form zu schaffen, weil er die Dimensionen und die Form dieser neuen politischen Einheit, die eine Art von Imperium sein sollte, nicht ordentlich bedacht hat. Der Rahmen der polis, in dem sich die Machtverhältnisse ordentlich entwickeln, einrichten, institutionalisieren und vollziehen konnten, ist nicht geeignet und nicht in der Lage, die Macht im Maßstab dessen zu regeln, was zu jener Zeit eine große politische Einheit im
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Vergleich mit dem griechischen Stadtstaat war, nämlich so etwas wie Sizilien. Das Modell der griechischen Stadt auf etwas relativ Großes und Komplexes anwenden zu wollen - für die Griechen und die griechische Stadt war das etwas äußerst Großes und Komplexes, nämlich eine Gesamtheit von Städten im Maßstab Siziliens -, das war der Fehler. Der zweite Fehler, der übrigens das Gegenstück dazu und die Ursache dafür ist, lag darin, daß er keine Beziehungen der Freundschaft und des Vertrauens aufbauen konnte. Beziehungen der Freundschaft und des Vertrauens zu anderen Oberhäuptern, zu jenen, die die anderen Städte regierten - anstatt das Modell der einzigen und einheitlichen Stadt anwenden zu wollen -, hätten jeder Stadt erlaubt, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Und wenn jede Stadt ihre Unabhängigkeit bewahrt hätte, dann hätte es Freundschafts- und Vertrauensbeziehungen zwischen den Oberhäuptern der untergeordneten, föderierten, kolonisierten Städte und ihm selbst, dem Oberhaupt von Syrakus, geben können. Die erzwungene Vereinigung (in Form von mia polis, der einzigen und einheitlichen Stadt) und das Fehlen einer Bindung und Freundschaft, die die gerechte Verteilung von Macht ermöglicht hätte, welche durch Freundschaft und Vertrauen garantiert und besiegelt worden wäre, darin bestand Dionysios' Fehler und die Krankheit. Das ist die Diagnose, die Platon für die Krankheit Siziliens stellt. Sie sehen, daß das doch recht interessant ist, weil wir hier eine Reihe von politisch-historischen Problemen berühren, die am Ende der ersten Hälfte des 4- Jahrhunderts sehr wichtig waren, d. h. genau am Vorabend jener Zeit, zu der die polis, die griechische Stadt als politische Einheit, unter dem Ansturm der rasenden Entwicklung der großen Königreiche, insbesondere des makedonischen Königreichs und des Weltreichs Alexanders, untergehen wird. Die zweite Ebene von Ratschlägen, die Platon nach dieser medizinischen Diagnose gibt, die zweite Funktion des medizinischen sowie des philosophischen Ratgebers, ist es zu überzeugen. Der gute Arzt diagnostiziert. Zweitens überzeugt er. Für diese Überzeugungsarbeit gibt PIaton nun innerhalb der Reihe 33 6
\"on Ratschlägen, die er schon Dion gegeben hatte, Beispiele an. Gemäß den Prinzipien der Rhetorik und der Arbeit der Wahrheit in einem griechischen Diskurs hat das Beispiel die Funktion zu überzeugen. Platon gibt zwei Beispiele: das Beispiel Persiens und das Beispiel Athens. Zunächst das Beispiel Persiens. Es ist interessant, daß Platon dieses Beispiel überhaupt anführt, denn Persien war lange Zeit, und insbesondere während des ganzen 5. Jahrhunderts, ein gewissermaßen abstoßendes, negatives Beispiel für das griechische Denken: eine autokratische, gewalttätige Herrschaft, ein großes Reich, das die anderen unterwirft usw. Persien ist nun aber im 4. Jahrhundert im Begriff, zu einem positiven Beispiel zu werden, zumindest im Geiste einer Reihe von Leuten, die sich der traditionellen Demokratie entgegenstellen. Jedenfalls führt Platon dieses Beispiel Persiens wiederholt in seinen späteren Schriften an. In den Gesetzen, insbesondere im dritten Buch, bezieht er sich auf die persische Regierungsform, und zwar konkret auf die Art und Weise, wie Kyros regiert. Sie erinnern sich - ich hatte diese Passage zitiert 10 -, Platon erklärt, wie K yros dazu gelangte, der parrhesia in seiner eigenen Umgebung, an seinem Hof einen Ort einzuräumen, als er den besonnensten Leuten seiner Umgebung erlaubt hat, ihm in aller Offenheit die Ratschläge zu erteilen, deren er bedurfte. Dieses überaus positive Beispiel Persiens findet man auch in dem Dialog, über den ich gesprochen habe, nämlich im Alkibiades, von dem man, wie gesagt, nicht weiß, ob es sich um eine Spät- oder Frühschrift handelt. Dort gibt es einen positiven Verweis auf die Art und Weise, wie die Herrscher, die persischen Fürsten, erzogen werden, und den Kommentatoren zufolge wäre dieser Verweis auf Persien ein Zeichen dafür, daß der Dialog eine Spätschrift istY Wie dem auch sei, jedenfalls ist das Thema Persiens zumindest in den späten Texten PIatons gegenwärtig. Sie wissen auch, daß es im Werk Xenophons eine große Rolle spielt, da Xenophon eine ganze Kyropädie 12 geschrieben hat. Auf einige Elemente davon werde ich gleich zurückkommen. Warum ist das Beispiel Persiens interessant? Nun, weil eben Platon in Persien das Beispiel 337
eines kaiserlichen Systems sieht, das funktioniert, und zwar positiv funktioniert. Die Perser haben in der Tat, erklärt er in diesem Text, durch eine Reihe von Kriegen und Eroberungen, die insbesondere gegenüber den Medern errungen wurden, ein Kaiserreich gegründet. Aber sie haben das, so Platon, immer mit Hilfe von Verbündeten getan, die bis zum Schluß ihre Freunde geblieben sind. Platon bezieht sich hier also auf ein persisches System, oder er schreibt den Persern zumindest ein solches System zu, demzufolge die Eroberung sich nicht einfach im Sinne einer Unterwerfung aller unter die alleinige Autorität der Perser vollzieht, sondern durch ein System von Verbänden und Bündnissen, dem es gelingt, komplexe Beziehungen zwischen den Untergebenen, den Föderierten, den Verbündeten usw. zu begründen. Zweitens sagt Platon über die Perser, daß Kyros, nachdem sie ihre Eroberung abgeschlossen haben, Sorge dafür getragen hat, sein Königreich in sieben Teile aufzuteilen, sieben Teile, in denen er treue Mitarbeiter fand (bezüglich dieser sieben unterläuft Platon übrigens ein historischer Irrtum, oder er bezieht sich zumindest auf eine Aufteilung, die anderswo nicht bestätigt wird, wie dem auch sei). Worauf Platon sich hier jedenfalls bezieht, ist die Möglichkeit einer kaiserlichen Regierung, die auf der Mitarbeit und der Zusammenarbeit einer Reihe von Regierenden beruht, die lokal und vor Ort die Autorität vermitteln. Nach dem Beispiel Persiens und immer noch bezogen auf die Überzeugungsarbeit, die ein guter Arzt leisten soll, führt Platon das Beispiel Athens an. Nun ist es sehr interessant zu sehen, daß Platon bezüglich dieser Überzeugungsarbeit zuerst Persien und dann Athen anführt. Er bezieht sich nämlich auf zwei politische Regierungsformen, die völlig entgegengesetzt sind - bei der einen handelt es sich um eine autokratische Monarchie, bei der anderen um eine Demokratie -, und zeigt eben dadurch, daß sein Problem, zumindest bei dieser Art von Ratschlägen, nicht so sehr darin besteht, zwischen der Demokratie und der Autokratie zu wählen. Das Problem besteht vielmehr darin, herauszufinden, wie man die eine oder die andere auf ge33 8
eignete Weise zum Funktionieren bringen kann. Nun, so Platon, geht aber das Beispiel Athens gänzlich in dieselbe Richtung wie das Beispiel Persiens. Die Athener haben keineswegs zu errichten versucht, was wir jetzt Siedlungskolonien nennen, d. h. sie haben nicht versucht, Städte zu gründen, die außerhalb des athenischen Territoriums liegen, so etwas wie Teile der Stadt oder des Stadtstaats. Sie haben Städte eingenommen, die schon vollkommen bevölkert waren und zu jener Zeit unter der Herrschaft der Barbaren standen - Platon bezieht sich auf die ionische Föderation, die die Athener schaffen wollten und die sie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wirklich hergestellt haben -, sie haben die Bevölkerung dort gelassen, wo sie war, und haben die Macht in den Händen jener belassen, die sie auf natürliche Weise ausübten oder ausüben sollten (was wir in unserem Vokabular die »lokalen Eliten« nennen würden). Auf diese Weise, so Platon, konnten die Athener in all den Städten, die sie vom Joch der Barbaren befreit und in ihr Reich eingegliedert hatten, andras philous (befreundete Männer, Vertrauensleute) gewinnen und bewahren und ihre Autorität auf sie gründen. 13 Das sind die Elemente, durch die Platon, nachdem er das Übel diagnostiziert hatte, an dem Syrakus unter der Herrschaft von Dionysios noch kaum wahrnehmbar litt, versucht, Dionysios den Jüngeren davon zu überzeugen, daß diese Art des Regierens geändert werden müsse. Nun folgen in Platons Text die positiven Ratschläge, die er unmittelbar dem Dionysios erteilt - was, bezogen auf die medizinische Arbeit, auf die Rolle der Medizin, der Funktion entspräche, einen Diätplan aufzustellen. Worin besteht der Diätplan, den Platon Dionysios vorschlägt? Nun, so Platon, anstatt aus Sizilien eine einzige Stadt zu machen, muß man erstens jeder der Städte Siziliens ihre eigene politeia (ihre eigene Verfassung, ihre eigenen Institutionen, ihre eigene politische Regierungsform) geben. Außerdem muß man jeder von ihnen nomoi (Gesetze) geben. Zweitens muß man die Städte untereinander verbinden, sie mit Syrakus verbinden und mit demjenigen, der in Syrakus herrscht. Auch 339
das soll durch nomoi und politeiai geschehen. Es muß also sowohl Gesetze als auch lokale Regierungsformen geben. Außerdem muß es zwischen diesen verschiedenen Städten und der Stadt, um die herum sie föderiert sind und die ihnen als Metropole dient, also zwischen jeder dieser so organisierten Städte und Syrakus, eine Reihe von geregelten Beziehungen geben, die durch so etwas wie eine politeia geregelt werden, eine politeia, die zwischen den verschiedenen poleis vermittelt, eine Art von politischem Netzwerk, von politischer Institution jenseits der einzelnen Städte, die sie untereinander verbindet und sie an die Metropole anschließt. Schließlich, so Platon, wird diese gewissermaßen plurale und differenzierte Einheit, in der es für jede Stadt Institutionen gibt, und zwar Institutionen, die die Beziehungen zwischen den Städten regeln, umso stärker sein, je mehr man sich ihrer bedient, um gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen, d. h. gegen die Barbaren, in diesem Fall die Karthager. Durch diesen frontalen Kampf mit den Barbaren wird die Einheit mit ihren Elementen der Pluralität aufrechterhalten. Auf diese Weise, so Platon, wird Dionysios der Jüngere nicht nur das Reich von Dionysios dem Älteren verdoppeln, sondern sogar vervielfachen können. Diesen Ratschlägen, die die Organisation der Städte, der Städte an sich und der Städte untereinander und in bezug auf Syrakus betreffen, fügt Platon weitere Ratschläge hinzu. Diese betreffen Dionysios selbst, Dionysios als Person, und zwar als Person, die zu regieren und ihre Macht auszuüben hat. Platon sagt, daß Dionysios an sich selbst arbeiten muß. Dabei verwendet er den Ausdruck apergazein (entwickeln, ausarbeiten, vervollkommnen). Was soll er aber entwickeln, ausarbeiten, vervollkommnen? Sich selbst, und zwar so, daß er emphron und sophron (überlegt und klug, maßvoll)14 wird. Er soll in einem Verhältnis der Übereinstimmung, des Gleichklangs mit sich selbst stehen. Er soll symphonos mit sich selbst 15 sein, genauso wie die Städte, die er zu regieren hat, auch in diesem Verhältnis des Gleichklangs sowohl mit Syrakus als auch miteinander stehen sollen. Sie sehen, daß wir hier in diesem Thema des sym34°
phonos und der symphonia jene Idee wiederfinden, die ebenfalls im V. Brief vorkommt, nämlich daß jede Verfassung ihre phone, ihre Stimme hat. 16 Das Problem der guten Regierung besteht, wie gesagt, nicht darin, auf autoritäre Weise und gemäß einer zuvor festgelegten Formel eine Verfassung in eine andere umzuändern, die als die beste gelten würde. Für eine gute Regierung geht es darum zu verstehen, was die phone, was die Stimme jeder politeia ist, und dann in Übereinstimmung mit dieser phone zu regieren. Sie sehen nun, daß sich hier diese Idee der symphonia in dem Sinne entwickelt, daß die phone jetzt als eine Stimme verstanden wird, die jede Stadt haben soll. In der großen Föderation, die Dionysios um Syrakus herum organisiert, soll zwar jede Stadt ihre eigene Stimme haben, aber alle diese Stimmen sollen sich zusammenschließen, um eine Harmonie und einen Gleichklang zu bilden. Es ist jedoch ebenfalls notwendig, daß das Oberhaupt selbst als Garant dieses Gleichklangs der verschiedenen Städte mit sich selbst symphonos, d. h. im Einklang mit sich selbst ist. Um diesen Einklang mit sich selbst geht es nun von Beginn dieser Ratschläge an, wenn Platon daran erinnert, daß er Dionysios zunächst aufgefordert hat, jeden Tag so zu leben, daß er immer selbstbeherrschter wird (egkrates autos hautou)Y Dieser Ausdruck (egkrates autos hautou) ist interessant, weil egkrates im allgemeinsten Sinne genau die Bedeutung hat, Gebieter zu sein, Gebieter über sich selbst. Üblicherweise bedeutet egkrates Selbstbeherrschung, die Herrschaft über die eigenen Begierden und ganz besonders die Enthaltsamkeit im Hinblick auf das Essen, den Wein und die sexuellen GenÜsse. 18 Hier zeigt die Verstärkung des Ausdrucks - egkrates autos hautou - jedoch an, daß er in einem allgemeineren Sinn gemeint ist, selbst wenn der besondere Sinn durchscheint. Das Oberhaupt, derjenige, der befiehlt, der Herrscher soll sich in der Tat selbst beherrschen, und zwar in dem Sinne, daß er enthaltsam ist, daß er in der Lage ist, seine Begierden in den Grenzen des Schicklichen zu halten, sie zu mäßigen und daher alle Mißtöne zu vermeiden, die den Einklang verhindern. Die Enthaltsamkeit wird jedoch erklärt als 34 1
ein bestimmtes Machtverhältnis der Person sich selbst gegenüber. Egkrates autos hautou: Gebieter über sich selbst in bezug auf sich selbst, wenn Sie so wollen. Diese Verdoppelung gegenüber dem geläufigen Sinn von egkrates zeigt an, daß das, was hier angedeutet wird, nicht die Qualität, die Tugend der Enthaltsamkeit ist, wie sie im allgemeinen bestimmt wird, sondern vielmehr ein bestimmtes Machtverhältnis zu sich selbst. Eben dies wird gewissermaßen die richtige Regierung besiegeln, die Dionysios in Syrakus und über die Verbündeten von Syrakus herrschen lassen sollte. Das sind die Dinge, die man in dieser ersten Folge, der ersten Welle von Ratschlägen finden kann, die Platon im VII. Brief erteilt. Bei der zweiten Gruppe von Ratschlägen handelt es sich sozusagen um aktuelle Ratschläge. An diejenigen, über die ich gerade gesprochen habe, erinnert er nur. Er erinnert daran, daß er sie Dionysios erteilt hat, als dieser als ganz junger Tyrann von Syrakus den übrigens falschen Anschein erweckte, sich mit der Philosophie befassen zu wollen. Etwas weiter im Brief sagt Platon jetzt: Nach allen Unglücksfällen, die sich ereignet haben (die Verbannung Dions, der Bürgerkrieg, die Konfrontation zwischen den Anhängern Dions und Dionysios', die Verbannung Dionysios', Dions Rückkehr und sein Tod), welche Ratschläge kann ich nun in der gegenwärtigen Situation euch Freunden des Dions geben, jetzt, da er tot ist? Diese Passage beginnt mit folgendem Hinweis, den man hervorheben sollte: Macht euch über die Ratschläge, die ich euch jetzt in dieser neuen Situation geben werde, keine Illusionen, denn es sind genau dieselben Ratschläge (he au te symboule), die ich euch noch feierlicher geben werde, als ob es sich um ein drittes Trankopfer handeln würde. 19 Hier spielt Platon auf zwei Dinge an. Erstens auf die Tatsache, daß er meint, in Syrakus zuerst Dion und dann Dionysios Ratschläge erteilt zu haben (nämlich die, über die wir gerade sprachen), und jetzt wird er den Freunden Dions eine dritte Gruppe von Ratschlägen geben. [... ] Zweitens spielt er auf jenes Ritual an, das fordert, daß das dritte Trankopfer bei einem Gastmahl das feierlichste ist. Es ist das 34 2
feierlichste, weil es an Zeus gerichtet ist oder, um genau zu sein, an Zeus als Retter, an Zeus, insofern er rettet. Nun, diese Ratschläge, die wie bei einem dritten Trankopfer wiederholt werden, sollen Syrakus retten. Es sind dieselben Ratschläge, aber dennoch kann man bemerken, daß zwischen dieser Gruppe von Ratschlägen, die den Freunden Dions gegeben werden, und den Ratschlägen, die Platon Dionysios gab, so etwas wie eine Akzentverschiebung besteht. Eine Akzentverschiebung erstens, weil wenig über das kaiserliche System gesagt wird, über das Problem des Verhältnisses zwischen Syrakus und den anderen Städten. Platon begnügt sich einfach damit zu sagen, daß jede Stadt ihre Gesetze haben muß. Andererseits -und das ist völlig normal, weil man sich zur Zeit der Rede in einer Situation befindet, in der der Bürgerkrieg in Syrakus kurz vor dem Ausbruch steht und wo die beiden Parteien aufeinandertreffen (Dionysios ist zwar verbannt, versucht aber zurückzukehren; die Freunde Dions sind zwar seiner Person beraubt, befinden sich aber in der Stadt) - ist in dieser Situation, in der der Bürgerkrieg droht, natürlich das Problem der politeia der Stadt selbst, die politeia von Syrakus, das wichtigste Element, die wichtigste Herausforderung bei den zu erteilenden Ratschlägen. An dieser Stelle skizziert Platon einige Maßnahmen, die zu ergreifen wären und die tatsächlich die Institutionen und die Organisation der Stadt betreffen. Er sagt, daß man sich an einige weise Männer wenden solle, an Männer, deren Weisheit man an einer Reihe von klaren und offensichtlichen Zeichen erkennt. Um die Weisen zu erkennen, die man in einem Staat braucht, müssen sie zunächst »Frauen und Kinder« haben. Zweitens müssen sie »Nachkommen einer tüchtigen Abstammungslinie«, einer tüchtigen Familie sein. Schließlich müssen sie ein "ausreichendes« Vermögen haben. 20 Insgesamt, so Platon, muß man etwa fünfzig Leute dieser Art pro Tausend finden. Von diesen Weisen wird man verlangen, die Gesetze vorzuschlagen. Sie sehen, daß Platon sich hier keineswegs selbst als Gesetzgeber darstellt. Die Ratschläge, die er erteilt, bestehen nicht darin 343
zu sagen: Hier sind die Gesetze, die die Stadt befolgen sollte. Er begnügt sich damit, den Bewohnern der Stadt zu sagen: Ihr solltet die Sorge der Gesetzgebung jenen Personen, jenen Weisen anvertrauen, die Frauen und Kinder haben, von tüchtigen Vorfahren abstammen und ein ausreichendes Vermögen besitzen. Zweitens, so Platon, wenn eure Konflikte bereinigt sind und wenn die beiden Gruppen, die sich gegenüberstehen (die Anhänger des verbannten Dionysios und die Anhänger des ermordeten Dion), sich wieder versöhnt haben, darf es keinen Unterschied zwischen den Siegern und den Besiegten geben. Die Sieger dürfen den Besiegten nicht die Gesetze vorschreiben, sondern man muß koinos nomos (ein gemeinsames Gesetz) einrichten. 21 Besser aber, so Platon, geht man noch weiter. Das Gesetz soll nicht nur gemeinsam sein, sondern diejenigen, die die Sieger sind und daher den größten Einfluß im Staat ausüben, sollen zeigen, daß sie den Gesetzen noch mehr als die Besiegten unterworfen sind. Das führt uns zu den wichtigsten Ausführungen dieser Passage, nämlich dem Problem der moralischen Bildung der einzelnen. Wie sollten die Sieger in der Lage sein, sich den Gesetzen mehr zu unterwerfen als die Besiegten? Nun, dazu ist zweierlei erforderlich: theoretische und moralische Bildung. Zuerst die theoretische Bildung. In dieser Hinsicht ist der Text interessant, weil Platon, wie ich letztes Mal sagte, über die theoretischen und spekulativen Anmaßungen von Dionysios sehr verärgert war, als Dionysios zeigen wollte, wie viel er von der Philosophie verstand, indem er Texte schrieb, die einerseits durch die Tatsache, daß er sie überhaupt schrieb, zeigten, daß er den Sinn der Philosophie selbst nicht begriff, und andererseits, daß das philosophische Wissen, das er zur Schau stellte, nichts weiter als etwas von Platons eigenen Lehren Abgeschriebenes war. Platon, hatte sich also dem gegenüber, was man das theoretische Wissen dessen nennen könnte, der die politische Macht auszuüben hat, äußerst mißtrauisch gezeigt. Worin besteht nun aber die Art der theoretischen Bildung, die er von den Anhängern Dions ins Spiel zu bringen 344
verlangt, damit sie, als Sieger, zeigen können, daß sie mehr den Gesetzen unterworfen sind als die Besiegten selbst? Nun, die theoretische Unterweisung, die er gibt, ist sehr einfach. Sie ist nichts weiter als eine Variation über ein Thema, das man im Gorgias und in anderen Texten Platons findet, nämlich daß es immer besser ist, gerecht zu sein, auch wenn man unglücklich ist, als ungerecht zu sein, auch wenn man glücklich ist. Als Beispiel dafür betrachtet er nun gerade Dion und Dionysios. Natürlich ist Dionysios nicht besonders glücklich, da er ja durch den Aufstand, der sich gegen ihn erhob, verbannt wurde. Aber immerhin lebt er. Dagegen kann Dion als unglücklich betrachtet werden, weil er am Ende in Syrakus ermordet wurde, obwohl er Dionysios verjagt hat. Dennoch soll man sich bei der Wahl zwischen dem toten Dion, der gerecht war, und dem lebenden Dionysios, der ungerecht ist, für das Schicksal Dions entscheiden und die Lebensweise Dions vorziehen. Die Ungerechtigkeit soll immer gemieden werden, auch wenn sie einem zum Glück verhilft. Die Gerechtigkeit soll immer bevorzugt werden, auch wenn sie mit Unglück verbunden ist. Worauf stützt er nun dieses unspektakuläre Thema im VII. Brief, das sich, wie gesagt, durch so viele Dialoge Platons hindurchzieht ? Er stützt es auf eine Reihe theoretischer Betrachtungen. Zunächst auf die Tatsache, daß die Seele, so Platon, nicht dasselbe ist wie der Körper, daß Seele und Körper zwei verschiedene Dinge sind, daß der Körper sterblich, die Seele dagegen unsterblich ist; daß die unsterbliche Seele nach dem Tod des Körpers danach beurteilt wird, was sie zu ihren Lebzeiten getan hat und schrecklichen Züchtigungen und langen unterirdischen Reisen ausgesetzt wird, wenn sie während ihrer Existenz Ungerechtigkeiten begangen hat. Diese theoretische Lehre, die zumindest einfach ist, schlägt Platon den Freunden Dions als Grundlage für ihre politische Einstellung und für ihre äußerste Bemühung beim Befolgen der Gesetze vor. Es muß bemerkt werden, daß Platon im Text selbst diese Lehre keinesfalls als philosophische Lehre ausgibt, die seine eigene wäre und die gewissermaßen das Herzstück seiner Lehre ausmachte. In dem 345
betreffenden Text sagt er, daß die Politiker, um sich anständig zu benehmen, und die Sieger, um den Gesetzen mehr unterworfen zu sein als die Besiegten selbst, folgende Lehre kennen sollten: »Doch muß man tatsächlich (d. i. im Gegensatz zu dem Wahne der Menge) stets den alten heiligen Überlieferungen Glauben beimessen, deren Spruch dahin lautet, die Seele sei unsterblich [... J.«22 Diese alten und heiligen Traditionen nennt der Text »tois palaiois te kai hierois logois« (jene Reden, die zugleich alt und heilig sind), d. h. daß hier keineswegs das philosophische Denken von Platon selbst dargestellt wird. Was ihre Autorität und den Grund ausmacht, weshalb diejenigen, die den anderen zu befehlen haben, sich den Gesetzen unterwerfen sollen, ist die Tatsache, daß es sich um alte, schon bekannte Reden handelt. Sie beziehen ihre Autorität aus ihrem Alter, zugleich aber auch aus heiligen, religiösen Komponenten, durch die sie charakterisiert sind. Diese nicht-philosophischen Diskurse, diese Diskurse religiöser Überzeugungen und heiliger Traditionen sind es, was den theoretischen Hintergrund ausmachen soll, auf den sich der Politiker bezieht. Was seine praktische Bildung betrifft, so wird sie in diesem Text von Platon kaum skizziert. Er begnügt sich mit dem Hinweis, daß die Politiker so wie ihre Vorfahren leben sollen, nämlich so wie die Dorer. Diese Passage ist also ebenso wie die vorhergehende weder an politischem noch an eigentlich philosophischem Detail besonders reichhaltig. Was jedoch das allgemeinste und zweifellos das interessanteste Thema dieser Ratschläge ausmacht, ist die Art und Weise, wie Platon durch sie zeigt, daß die moralische Bildung der Regierenden für die richtige Regierung des Staats unerläßlich ist. Nun gibt es eine Passage, die es verdient, festgehalten zu werden, nämlich wenn er sagt, daß man gerade dann, wenn man diese alten und heiligen Traditionen zu respektieren weiß und wenn man jene dorische Lebensweise, jene unerläßliche Lebensweise nach der Art der Vorfahren wirklich vollzieht, ordentlich regieren kann. Ordentlich zu regieren soll bedeuten, daß man regieren kann, indem man sich zweier Quellen be34 6
dient. 23 Erstens phobos (die Furcht). Die Regierenden sollen nämlich über den Regierten die Furcht herrschen lassen, und das tun sie, indem sie ihre Kraft zeigen (bia, wie es im Text heißt).24 Diese materielle Kraft muß tatsächlich gegenwärtig und sichtbar sein, dann wird die Furcht die richtige Regierung sicherstellen. Gleichzeitig - und das wird das zweite Mittel der Regierung sein - müssen die Regierenden aber aidos zeigen (d. h. Scheu und Ehrfurcht). Diese aidos ist hier nicht direkt die Ehrfurcht, die die Regierten den Regierenden schulden, sondern sie soll gewissermaßen ein inneres Verhältnis der Regierenden zu sich selbst sein, eine Ehrfurcht der Regierenden gegenüber ihren Verpflichtungen, gegenüber dem Staat und gegenüber den Gesetzen des Staats. Diese aidos ist dafür verantwortlich, daß man fähig ist, sich den Gesetzen wie ein Sklave zu unterwerfen (Platon verwendet den Ausdruck douleuein).25 Sklave des Gesetzes zu sein, sich zum Sklaven des Gesetzes machen zu wollen, das soll charakteristisch sein für die aidos (die Ehrfurcht) der Regierenden, für die Ehrfurcht gegenüber sich selbst, den Staat und den Gesetzen. Diese Ehrfurcht wird dann die Ehrfurcht nach sich ziehen, die die anderen - die Regierten - ihrerseits haben. Man muß also verstehen, daß »aidos« eine Tugend ist, die das Verhältnis der Regierten zu den Regierenden kennzeichnet, die aber auch und vor allem die Einstellung der Regierenden zu sich selbst charakterisiert. Der dritte Text, über den ich sprechen möchte, ist der Text aus dem VIII. Brief, der etwas später als der VII. Brief verfaßt wurde, und zwar zu der Zeit, als der Bürgerkrieg, von dem Syrakus schon bedroht war, ausbrach. Dieser Text ist aus zwei Gründen interessant. Der erste ist natürlich, daß Platon hier in einen Bereich vorstößt, gegenüber dem er sich bisher sehr zurückhaltend und diskret gezeigt hat, nämlich die Organisation des Staats. Zweitens, weil diese Ratschläge durch eine allgemeine Überlegung zur parrhesia eingeführt und gestützt werden. An dieser Stelle begegnen wir unserem Problem wieder. Was sind nun in Kürze die Ratschläge, die Platon den Syrakusanern gibt, die gerade im Begriff sind, sich in einem Bürgerkrieg zu zer347
fleischen? Erstens haben wir den Bezug zu einen Thema, das man bei Platon ebenfalls kennt. Dieses Thema wird im Gorgias 477 b f.26 entwickelt, wo Platon, wie Sie wissen, sagt, daß man zwischen dem unterscheiden muß, was zur Seele, was zum Körper und was zum Vermögen gehört. Was zur Seele gehört, ist offensichtlich dasjenige, was die Regierenden selbst betrifft; was zum Körper gehört, betrifft die Krieger; und was zum Vermögen gehört, betrifft natürlich die Tätigkeit der Händler und Handwerker. Die politeia, die Organisation eines Staats, so Platon, muß nun dieser Hierarchie Rechnung tragen und dem Körper keine größere Bedeutung schenken als der Seele und vor allem dem Vermögen keine größere Bedeutung schenken als dem Körper und der Seele. In bezug auf dieses allgemeine Thema schlägt Platon dann eine Organisation, eine politeia, im strengen Sinne vor. Wir dürfen, wie gesagt, nicht vergessen, daß Platon an dieser Stelle eine politeia (eine Verfassung) wegen des Bürgerkriegs vorschlägt. Der Staat, die Organisation des Staates, ist nämlich zusammengebrochen; deshalb schlägt er ein Organisationssystem für die Stadt vor. Dieses System läßt sich schematisch folgendermaßen darstellen. Es handelt sich erstens um eine Monarchie, aber nach der Art der spartanischen, d. h. in der die Monarchen in Wirklichkeit keine reale Macht haben. Ihnen gebührt vor allem die religiöse Macht, und aus einer Reihe von Gründen soll es nicht zwei Monarchen wie in Sparta geben - das schlägt er in diesem Text vor -, sondern drei. Platon will nämlich, und er sagt das auch, die Nachkommen von Dionysios dem Jüngeren einen anderen Nachkommen von Dionysios dem Älteren und den Sohn Dions vereinen. Deshalb soll es drei Könige geben, aber diese drei Könige haben im wesentlichen eine religiöse Funktion. Außer diesen drei Königen muß ein System eingerichtet werden, das zugleich die Existenz der Gesetze und ihren Fortbestand sichert. Daraus ergeben sich nach seinem Vorschlag die Organisation und die Einrichtung einer Körperschaft, die er Gesetzeswächter nennt. Er schlägt 35 Gesetzeswächter vor,27 was auch das Modell sein wird, dem wir in den Gesetzen wieder begegnen, 34 8
bis auf den Unterschied, daß es in den Gesetzen nicht 35, sondern 37 Wächter sind. 28 Dieses kleine Detail gestattet den Kommentatoren zufolge, sowohl die Echtheit des Briefs zu beweisen als auch, ihn zu datieren; seine Echtheit, weil, wenn es sich um einen apokryphen Brief handeln würde, der nach Platons Tod geschrieben worden wäre und sich der Daten aus den Gesetzen bedient hätte, der apokryphe Autor offensichtlich die tatsächliche Zahl von 37 kopiert und nicht 35 angegeben hätte. Man kann daher plausiblerweise annehmen, daß Platon in diesem Brief das skizziert hat, was in den Gesetzen entwikkelt werden sollte, und zwar mit einer Reihe von Änderungen, insbesondere der Änderung von 35 Gesetzeswächtern in 37. Außerdem schlägt er eine Reihe von Gerichten vor, wobei man auch hier in wenigen Zeilen das wiederfindet, was in den Gesetzen ausführlich entwickelt wird. Wir haben in dieser Folge von Ratschlägen also zum ersten Mal Ratschläge, die man nomothetisch nennen könnte, bei denen man sich aber, wie gesagt, daran erinnern muß, daß sie nicht so sehr von der allgemeinen Funktion des Philosophen für den Staat erfordert werden als vielmehr von der Situation des Staats selbst. Da der Bürgerkrieg ausgebrochen war und wütete, ist es zu diesem Zeitpunkt ganz natürlich, daß die Rolle des Philosophen nicht darin bestehen soll, dem regierenden Fürsten Ratschläge zu erteilen oder ihm bei der Errichtung eines Reiches zu helfen, sondern schlichtweg den Staat selbst wiederaufzubauen. Nun werden aber diese Ratschläge, die im VIII. Brief gegeben werden - diesen Punkt möchte ich nun betonen -, von einer Passage eingeleitet, die zwar eine reine Übergangspassage ist, die jedoch deutlich darauf hinweist, daß Platon diese Ratschläge auf das Konto seiner Funktion als Parrhesiast setzt. In ihnen übt er die parrhesia aus. Die Passage steht bei 35 4a des VIII. Briefs, wo er folgendes sagt: »Was mir aber im Ganzen sich jetzt empfiehlt, das will ich versuchen euch mit allem Freimut (ego peirasomai pase parrhesia) und mit einer Unparteilichkeit, die beiden Teilen gerecht wird, darzulegen. So übernehme ich denn sozusagen die Rolle eines Schiedsrichters und wende 349
mich mit meiner Rede an beide Parteien, [... ], indem ich, als wäre jede der beiden Parteien eine [gesonderte; M. E] Person, ihnen meinen längst bekannten Rat (symboulen) erteile.«29 Wir befinden uns also im Bereich der politischen symboule, die zugleich Manifestation und Ausübung der parrhesia ist. Ich glaube nun, daß, wenn man diese Passage betrachtet und eine gewisse Anzahl von Elementen verfolgt, die eben in den Ratschlägen enthalten sind, deren Inhalt ich gerade zusammengefaßt habe, man erkennt, daß es in der Tat um die parrhesia geht und daß Platon eine parrhesiastische Tätigkeit verfolgt. Wodurch ist dieser Diskurs des Erteilens von Ratschlägen gekennzeichnet, und inwiefern handelt es sich dabei um eine parrhesia? Erstens betont Platon von den ersten Zeilen an, die ich gerade vorgelesen habe, aber auch durch den ganzen Text hindurch, daß er das, was er sagt, in seinem eigenen Namen sagt. Es ist seine Meinung, es sind seine Gedanken, es ist seine Überzeugung, es ist das, was er selbst sagt. Es gibt eine ganze Reihe von Ausdrücken, die deutlich auf diesen ganz persönlichen Charakter der Äußerung hinweisen. Es ist nicht die Stimme des Staates oder die Stimme der Gesetze, jene, die beispielsweise zu Sokrates sprach und ihn dann überzeugte, daß er seinen Prozeß und seine Verurteilung hinnehmen müsse. 30 Nein, Platon selbst gibt seine Meinung kund: »ho de moi phainetai« (was mir selbst scheint); ich werde meinerseits versuchen, euch zu überzeugen, ich werde euch sagen, was eme symboule (mein Rat) ist. 31 In 3 54C finden wir: »Das ist es denn auch, wozu meine jetzige Mahnung alle dringend auffordert.«32 Es ist seine eigene Mahnung. Nun erscheint dieser persönliche Charakter der Mahnung an einer bestimmten Stelle wie durchbrochen oder umwunden durch die Tatsache, daß Platon, nachdem er in seinem Namen gesprochen hat, sagt: Im Grunde ist es am einfachsten, wenn ich nicht selbst spreche, sondern Dion sprechen lasse, oder vielmehr, wenn ich euch sage, was Dion, der jetzt tot ist und der vor einiger Zeit ermordet wurde, euch gesagt hätte. Ich werde euch zitieren, was Dion gesagt hätte. Ich rekonstru-
iere, was Dion euch unter den gegenwärtigen Umständen gesagt hätte, weil wir im Grunde dieselbe Meinung teilen. Ich glaube, daß man hier erkennen kann, daß diese Intervention Dions, einer toten Person, entsprechend eines in der griechischen Redekunst ganz bekannten rhetorischen Verfahrens (einen Toten auftreten zu lassen, um zu bestätigen, was man im Begriff ist zu sagen) für Platon nicht eine Weise darstellt, sich seiner Funktion als Parrhesiast zu entledigen, da er geltend macht, daß das, was Dion sagt, genau das ist, was er selbst denkt, und daß sie einer Meinung sind (koinos: es ist ein für Platon und Dion koinos logos33 - im übrigen hat er daran erinnert, daß Dion von ihm ausgebildet wurde; es handelt sich also um Platons eigene Meinung). Wenn er Dion über die rhetorische Konvention hinaus, die es gestattet, einen Toten auftreten zu lassen, um die Autorität dessen, was man sagt, noch stärker zu betonen, ins Spiel bringt, dann darf man eben nicht vergessen, daß Dion auch jemand ist, der das Wahrsprechen, das er Dionysios entgegensetzte und das er in Syrakus zur Geltung bringen wollte, mit seinem Leben bezahlt hat. Als Parrhesiast, der so weit ging, sein Leben zu riskieren, und der sein Wahrsprechen mit dem eigenen Leben bezahlt hat, bringt ihn Platon an seiner Seite ins Spiel. Zweitens muß man im Hinblick auf diesen Text bemerken, daß die parrhesia, die Platon entfaltet, von einer Art Spannung gekennzeichnet ist, die sich einerseits auf den Charakter seines völlig besonderen und den Umständen entsprechenden Ratschlags bezieht - Platon erinnert den ganzen Text hindurch immer wieder daran, daß er seinen Rat in bezug auf die aktuelle Situation erteilt, so wie sie ihm jetzt erscheint (er verwendet den Ausdruck ta nyn: im AugenblicP4) -, dabei handelt es sich auch um Ratschläge, die er auf den Kampf bezieht, auf den Bürgerkrieg, der sich gerade entwickelt, auf die Tatsache, daß er sich an eine Reihe von günstigen Umständen in der Geschichte Siziliens erinnert. Diese parrhesia aber, die also in diesem Sinne ein auf Umstände und Gelegenheiten bezogener Diskurs ist, wird zugleich auf allgemeine und beständige Prin-
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zipien bezogen. Er erinnert daran, daß das immer schon seine Meinung war. Seine symboule ist dieselbe geblieben, und er verwendet eine Reihe von allgemeinen Regeln oder Prinzipien. Beispielsweise erinnert er daran, daß die Knechtschaft und die Freiheit ein großes Übel darstellen, wenn sie beide übertrieben werden. Er verwendet Formeln der folgenden Art: Die Sklaverei (die douleia), die Untertänigkeit gegenüber Gott entspricht dem richtigen Maß, aber die douleia gegenüber dem Menschen ist immer maßlos.35 Wir haben also einen Diskurs der parrhesia, der sich in einer Spannung zwischen dem Bezug auf allgemeine Prinzipien und dem Bezug auf besondere Umstände befindet. Drittens ist diese parrhesia ein Diskurs, der an alle gerichtet ist, an beide Parteien der syrakusanischen Konfrontation. Er ist ein logos koinos. »Das ist es denn auch, wozu meine jetzige Mahnung alle dringend auffordert«, sagt er in 35 4 C• In 35 sa sagt er: Ich bitte die Freunde Dions, die Ratschläge, die ich erteile, allen Syrakusanern mitzuteilen. Und ganz am Ende des Textes sagt er (in 3 57b): Das rate ich allen (pasin symbouleuo), gemeinsam (koine) zu entscheiden und zu unternehmen; ich rufe alle an (parakalo pantas), diese Handlungen zu unternehmen. Aber auch wenn er alle anruft und sich an alle richtet, wendet sich der Diskurs der parrhesia doch auch an jeden einzelnen der beiden Parteien. Das sagt Platon ganz am Anfang des Textes in der Passage, die ich zitiert habe: Ich spreche zu allen und zugleich spreche ich zu jedem von ihnen, als ob er allein wäre. 36 Das bedeutet, daß es sich nicht einfach um einen allgemeinen Diskurs handelt, der sich an den Staat wendet, um ihm Vorschriften und Gesetze aufzuerlegen, sondern vielmehr um einen Diskurs der Überzeugung, der sich an jeden einzelnen wendet, um von ihm ein bestimmtes Verhalten zu erreichen. Schließlich noch das vierte Merkmal dieser parrhesia: Platon sagt, daß, wenn er auf diese Weise spricht und sich an die beiden Parteien wendet, die sich auf Sizilien gegenüberstehen, dann in Gestalt eines diaitetes. Der Ausdruck »diaitetes« ist ein
juristischer Begriff, der im athenischen Recht den Schiedsrichter bezeichnet, an den man sich wandte, um eine Streitsache zu regeln, anstatt vor Gericht zu ziehen. Der diaitetes ist also der Schiedsrichter, den man außerhalb eines Prozesses konsultieren kann. Über diesen diaitetes und seine Funktionen findet man bei Aristoteles (Politik, Buch H, Kap. 8, 1268b f.) eine Reihe von Angaben. 37 Diaitetes zu sein ist also eine Funktion, eine außergerichtliche Funktion, die jedoch durch die Institutionen Athens selbst definiert ist. Man darf nicht vergessen, daß diaitetes, wie die Etymologie deutlich zeigt, derjenige ist, der die Diät, den Diätplan verordnet. Die beiden Bedeutungen des Wortes diaitetes sind im Altgriechischen bezeugt. Die diaita ist das Schied sv erfahren, aber auch der medizinische Diätplan. Der diaitetes ist der Schiedsrichter, aber auch derjenige, der den Diätplan denen verordnet, die ihn nötig haben. Die Wechselwirkung zwischen den beiden Bedeutungen (Schiedsverfahren und Diätplan) - die Etymologie des Wortes knüpft übrigens an dieselbe Wurzel an wie zen (leben) - ist offensichtlich, insofern die Diät gerade die Gesamtheit von Regeln ist, durch die man den Gegensatz zwischen den verschiedenen Qualitäten schlichten kann, zwischen dem Kalten und dem Heißen, zwischen dem Trockenen und dem Feuchten, zwischen den verschiedenen Säften, die den Körper ausmachen. In diesem Schiedsverfahren besteht die Diät, der medizinische Diätplan. Wenn Platon als Parrhesiast sagt, daß er diaitetes sei, dann ist er also zugleich Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Parteien und derjenige, der einen Diätplan verordnet (den medizinischen Diätplan für den Staat), wodurch dann die Schlichtung zwischen diesen verschiedenen Mächten ermöglicht werden soll. Das letzte Merkmal dieser parrhesia besteht darin, daß sie sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen muß. Platon akzeptiert diese Herausforderung der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit nicht nur wiederholt, sondern er hebt sie auch hervor und fordert sie. Bezüglich des Diskurses, den er hält, und der Ratschläge, die er gibt, akzeptiert er und verlangt sogar, daß die
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Wirklichkeit zeigen soll, ob sie wahr oder falsch sind. Die Wahrheit, die ich euch rate, so Platon, besteht darin, daß, wenn ihr die Erfahrung meiner gegenwärtigen Behauptungen macht, ihr tatsächlich die Wirkung erfahrt. Ergo gnosesthe: Ihr werdet es in der Wirklichkeit erkennen. Denn, so Platon, sie ist der beste Prüfstein (basanos) für alles. 38 Die Wirklichkeit, der Beweis der Wirklichkeit, das soll der Prüfstein seines Diskurses sein. Am Ende der Ratschläge, die er den Syrakusanern erteilt, steht folgender. Ganz am Ende des Briefes (bei 35 7C) sagt er: »Lasset aber vor allem sämtlichen Göttern sowie allen ihnen verwandten Wesen die ihnen gebührende Ehre unter Gebeten zuteil werden, sodann wendet euch [tatsächlich ist das verwendete Verb peithomai, überreden; M. E] mit euerer Überredungskraft und eueren Mahnungen an Freund und Feind, freundlich und eindringlich, und werdet nicht müde, bis ihr die jetzt von mir gemachten Vorschläge [die Ratschläge, die Platon gerade gegeben hat [... ]; M. E] als wären es Träume, an Wachende von einem Gott gesandt, zur vollen und glücklichen Wirklichkeit gemacht habt.«39 Der Philosoph erscheint also bei seinem Geschäft der parrhesia und dem, was er sagt, in etwa so wie ein göttlicher Traum, der wachende Menschen heimsucht. Was der göttliche Traum für die Schlafenden ist, der den Menschen das Kommende und das, was sie tun sollen, verkündet, wird der Diskurs des Philosophen für die Wachenden sein. Der Philosoph ist geradezu ein Gott, der die Menschen heimsucht, der aber zu ihnen spricht, wenn sie wach sind. Dieser göttliche Traum aber behält seine Wahrheit und besteht die Bewährungsprobe seiner Wahrheit nur unter einer Bedingung: Wenn ihr meinen Rat in die Wirklichkeit umgesetzt habt (exergasesthe sagt der Text 40 ), wenn ihr euch bemüht habt, bis die Dinge wirklich vollzogen sind und sie dann deutlich ihre glückliche Vollendung finden (bis sie eutyche sind). Die glückliche Vollendung, das, was das wirkliche Glück der Syrakusaner ausmachen wird, ist gerade die wirkliche Umsetzung dieses göttlichen Traums, den der Philosoph ihnen während ihres Wachens eingegeben hat. 354
Die parrhesia ist also diejenige Tätigkeit, die Platon am Ursprung seiner Beratungstätigkeit erkennt und fordert. Er ist Berater, d. h. er macht von der parrhesia Gebrauch mit allen Merkmalen, die wir erkannt haben: Er engagiert sich selbst, es ist sein eigener Diskurs, seine eigene Meinung. Sie trägt zugleich allgemeinen Prinzipien Rechnung als auch besonderen Gelegenheiten. Sie wendet sich an die Menschen als allgemeines Prinzip, überredet sie jedoch als einzelne. All das ergibt einen Diskurs, dessen Wahrheit sich in der Tatsache erweisen muß, daß er Wirklichkeit wird. Der philosophische Diskurs bezieht die Garantie, daß er nicht bloß logos, daß er nicht bloß geträumte Rede ist, sondern in der Tat die Hand am ergon hat, aus der politischen Wirklichkeit, aus dem, was die Wirklichkeit selbst ausmacht. Hier haben wir eine Gruppe von Elementen, die das bestätigen, was ich versucht habe, Ihnen über die Funktion des Parrhesiasten zu sagen. Im zweiten Teil der Vorlesung werde ich nun versuchen, diese Elemente wieder aufzunehmen. Entschuldigen Sie bitte, daß diese platonischen Ratschläge abermals ziemlich banal wirken, was ihre Analyse etwas langweilig macht. Ich glaube jedoch, daß es möglich ist, wenn man sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus noch einmal liest, eine Reihe von Problemen oder Themen hervortreten zu sehen, die yon großer Wichtigkeit für das Schicksal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik im abendländischen Denken sind. Ich werde Ihnen das gleich zu erklären versuchen.
Anmerkungen I Platon, VII. Brief, 3Fd-e, a. a. 0., S. 58-59. ;: E. de Las Cases, Le Memorial de Sainte-Helene [I842J, Paris I999; dt. Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena, Stuttgart I823-I826. 3 Richelieu, Testament politique [I 667J, hg. v. F. Hildesheimer, Paris I 99 5; dt. Politisches Testament und kleinere Schriften, Berlin I926. .1. Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch LII, Kap. I4-40, Düsseldorf 200 7. 5 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch I, Kap. I39 bis I46, a. a. 0., S. I08-I 14.
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6 Platon, VII. Brief, 33 Id, a. a. 0., S. 57. 7 »[ ...] ohne doch imstande zu sein nach Wiederaufbau derselben einer jeden durch ihm ergebene Männer die ihr angemessene feste Verwaltungsform zu verleihen (ouch hoios t'en katoikisas politeias en hekastais katastesasthai pistas hetairon andron)« (ebd., 33 le-332a). 8 »Aus keinem von diesen vermochte er [...] einen wirklichen Mitarbeiter im Herrscheramt zu machen (touton koinonon tes arches oudena hoios t'en)« (ebd., 332a, S. 57). 9 >,Dionysios dagegen, der ganz Sizilien zu einem einzigen Staate (eis mian polin) verschmolz, traute vor lauter Klugheit keinem Menschen, und so hielt er sich denn nur mit knapper Not über Wasser; denn er war arm an Freunden und zuverlässigen Helfern (andron philon kai piston)« (ebd., 332C, S. 58). 10 Platon, Gesetze, Buch III, 694a-b. V gl. die Analyse dieser Passage in der Vorlesung vom 9. Februar, oben, S. 257-26r. I I V gl. die Analyse des positiven Verweises auf die persische Erziehung, um die Unzulänglichkeiten von Alkibiades hervorzuheben, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 57. 12 Xenophon, Kyropädie, hg. v. E. Kaminski, Leipzig 1930. 13 »Neben dem Perserreich sind in dieser Beziehung die Athener zu nennen. Es gelang ihnen, viele hellenische den Angriffen der Barbaren ausgesetzte Städte, die sie nicht selbst gegründet, sondern als bereits bestehende in ihre Gewalt bekommen hatten, siebzig Jahre lang unter ihrer Herrschaft festzuhalten mit Hilfe befreundeter Männer (andras philous), die sie in jeder derselben gewonnen hatten« (Platon, VII. Brief, 332b-c, S. 57-58). 14 »Wenn er nun auf dem von uns bezeichneten Wege wandelnd und so zu Einsicht und Besonnenheit herangereift (heauton emphrona te kai sophrona apergasamenos) [... }< (ebd., 332e, S. 58). 15 »[... ] so müsse er, einmal angeregt nach dieser Seite hin, zunächst darnach streben, sich unter seinen Verwandten und Altersgenossen andere zu Freunden und gleichgestimmten (symphonous) Bewerbern um den Preis sittlicher Tüchtigkeit zu machen - vor allem aber diese Gleichmäßigkeit der Stimmung in sich selbst (auton hauto) zur Herrschaft zu bringen« (ebd., 332d). 16 »Jede Staatsverfassung hat nämlich, wie gewisse Klassen von Tieren, ihre besondere Tonweise (estin gar de tis phone ton politeion hekastes kathaperei tinon zoon), eine andere die Demokratie, eine andere die Oligarchie, eine andere wieder die Monarchie. [... ] Demjenigen Staatswesen nun, das den ihm eigenen Ton Göttern und Menschen gegenüber einhält und in seinen Maßnahmen diesem Tone entsprechend verfährt, ist dauernde Blüte und Heil beschieden, demjenigen dagegen, das aus seiner Natur heraustretend sich auf Nachahmung einer anderen Verfassung verlegt, der Untergang« (Platon, V. Brief, 32ld-e, a. a. 0., S·40).
17 »Demgemäß möchte ich euch den nämlichen Rat erteilen, den ich im Bunde mit Dion dem Dionysios gab: er möge sein alltägliches Leben so regeln, daß er dahin komme, sich möglichst selbst zu beherrschen (egkrates hautou autos)« (Platon, VII. Brief, 33 Id, S. 57). 18 V gl. M. Foucault, Histoire de la sexualite, Bd. II (L'Usage des plaisirs, Paris 1984), Kap. »Enkrateia« (S.74-90); dt. Sexualität und Wahrheit, Bd.2 (Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt 1986, S. 84- 1°3). 19 »Außerdem gebe ich noch einen Rat, denselben Rat (ten auten symboulen) und dieselbe Warnung, die ich schon zweimal gegeben habe; ihr seid jetzt die dritten, denen ich sie erteile« (Platon, VII. Brief, 334c, S. 61). 20 Ebd., 337b-c, S.65. 21 Ebd., 336a-337a, S.6}-64. 22 Ebd., 33 5a, S. 62. 23 »Vielmehr müssen die Sieger lernen, sich selbst zu beherrschen und müssen Gesetze geben, die allen zugute kommen und nicht weniger den Interessen der Besiegten als dem eigenen Interesse dienen. Die Befolgung dieser Gesetze aber müssen sie durch zwiefachen Druck erreichen, durch sittliche Scheu und durch Furcht« (ebd., 337a, S.65). 24 »Durch Furcht, denn sie sind die Stärkeren im Vergleich zu den Unterlegenen und lassen demnach ihre Macht zum Zwange erkennen. (to kreittous auton einai deiknyntes ten bian )« (ebd.). 25 »Durch sittliche Scheu, denn sie zeigen sich als Sieger über die Verführungen der Gelüste und als Männer, die den Willen und die Kraft haben, sich vielmehr den Gesetzen zu unterwerfen (mallon ethelontes te kai dynamenoi douleuein)« (ebd., 337a-b, S.65). 26 »Also für drei, Vermögen, Leib und Seele, hast du dreierlei Schlechtigkeiten, Armut, Krankheit, Ungerechtigkeit, angeführt ?« (Platon, Gorgias, 477b-c, übers. v. Julius Deuschle, in: Platon: Sämtliche Werke, Heidelberg 1982, S. 344). 27 Platon, VIII. Brief, 35 6d, S. 95. 28 Platon, Gesetze, Buch VI, 754d, a.a.O., S. 179. 29 Platon, VIII. Brief, 35 4a, 5.9 r. )Cl Es handelt sich um die berühmte »Prosopopöie der Gesetze«, die man im Kriton bei 50d-54d findet. 3 1 Platon, VIII. Brief, 35 5a, S. 93. 32 Ebd., 3 54c, S·92. 33 »Unter diesen Umständen beauftrage ich die Freunde des Dion, meinen Rat allen Syrakusanern mitzuteilen, und zwar als den gemeinsamen Rat (koinen symboulen) von uns beiden, von Dion und mir« (ebd., 355 a, S·93)· 34 »Was mir aber im Ganzen sich jetzt empfiehlt (ho de moi phainetai pe ta nyn)« (ebd., 354a, S.91). 35 »Das rechte Maß aber findet sich bei der Untertänigkeit gegen Gott, Maßlosigkeit dagegen bei der Untertänigkeit gegen Menschen« (ebd., 354 e,5·93)·
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36 »So übernehme ich denn sozusagen die Rolle eines Schiedsrichters (lego gar de diaitetou) und wende mich mit meiner Rede an beide Parteien, an die Vertreter der Tyrannengewalt und an die von ihr Vergewaltigten, indem ich, als wäre jede der beiden Parteien eine Person, ihnen meinen längst bekannten Rat erteile« (ebd., 354a). 37 »Auch das Gesetz über die Rechtsprechung ist nicht richtig, daß nämlich der, der richten soll, die Klage, die doch einfach formuliert ist, tei1en soll und so aus einem Richter zu einem Schiedsmann (diaiteten) werde. In einem Schiedsgericht ist dies zwar auch bei den meisten möglich (denn sie besprechen sich untereinander über das Urteil), aber bei den Gerichten geht es nicht« (AristoteIes, Politik, Buch II, VIII- I 3, 1268b, übers. v. Olof Gigon, Zürich 1955, S. 10 5). 38 »Daß aber diese meine Mahnung der Wahrheit entspricht, das werdet ihr erfahren, wenn ihr das jetzt bloß in Worten über die Gesetze Gesagte in Wirklichkeit zu schmecken bekommt; denn sie, die Wirklichkeit ist der beste Prüfstein (basanos) für alles« (Platon, VIII. Brief, 355 d, S. 93 f.). 39 Ebd., 357C- d , S·97· 40 »Lasset aber vor allem sämtlichen Göttern sowie allen ihnen verwandten Wesen die ihnen gebührende Ehre unter Gebeten zuteil werden, sodann wendet euch mit euerer Überredungskraft und eueren Mahnungen an Freund und Feind, freundlich und eindringlich, und werdet nicht müde, bis ihr die jetzt von mir gemachten Vorschläge als wären es Träume, an Wachende von einem Gott gesandt, zur vollen und glücklichen Wirklichkeit gemacht habt (enarge te exergasesthe telesthenta kai eutyche)« (ebd., 35 7c-d, S. 97)·
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Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, zweite Stunde)
Philosophie und Politik: eine notwendige Beziehung, aber eine unmögliche Kongruenz. - Das kynische und das platonische Spiel der Beziehung zur Politik. - Die neue historische Lage: der Gedanke einer neuen politischen Einheit jenseits des Staates. - Vom öffentlichen Ort zur Seele des Fürsten. Das platonische Thema des Philosophenkönigs.
Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Mir scheint, daß diese Ratschläge Platons - die abermals für jeden enttäuschend sind, der sie vom Standpunkt der Überlegung und politischen Analyse der Griechen liest, vor allem, wenn man sie mit dem yergleicht, was man bei Thukydides findet -, wenn man sie auf eine bestimmte Weise liest, drei wichtige Dinge hervortreten lassen. Erstens ein Merkmal, das für die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik grundlegend und konstant ist. Zweitens eine besondere historische Lage, die trotz ihrer Partikularität eine so große Reichweite besitzt, daß sie letztlich das Schicksal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik bis zum Ende der Antike bestimmt. Drittens schließlich - und das möchte ich besonders hervorheben - zeigen diese Ratschläge deutlich den Punkt an, an dem die Philosophie und die Politik, das Philosophieren und die Tat zusammentreffen, den Punkt, an dem eben die Politik als Realitätsprüfung für die Philosophie dienen kann. Erstens, das grundlegende und durchgängige Merkmal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik, das sich anhand dieser Texte enthüllt, ist im Grunde ganz einfach, auch wenn :nan es richtig verstehen muß. Der schwache, banale, allgemei::le Charakter der Ratschläge, die Platon seinen Briefpartnern gibt - ich glaube, daß ich nicht übertrieben habe, als ich Ihnen zeigte, wie wenig diese Texte sowohl von einem politischen als auch von einem philosophischen Gesichtspunkt sagen -, zeigt ::licht, daß Platon in Sachen Politik naiv war. Er zeigt vielmehr, daß die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik nicht 359
in der Fähigkeit der Philosophie zu suchen sind, die Wahrheit über die beste Art und Weise der Machtausübung zu sagen. Schließlich gebührt es der Politik selbst, die besten Arten der Machtausübung zu kennen und zu definieren. Die Philosophie hat darüber nicht die Wahrheit zu sagen. Aber die Philosophie hat die Wahrheit zu sagen - wir konzentrieren uns für den Augenblick auf diesen Punkt und versuchen dann Genaueres zu sagen -, nicht über die Macht, sondern in bezug auf die Macht, in Beziehung zu ihr, in einer Art von Gegenüber oder Überkreuzung mit ihr. Die Philosophie hat der Macht nicht zu sagen, was zu tun ist, sondern sie hat als Wahrsprechen in einer bestimmten Beziehung zum politischen Handeln zu existieren. Nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutet natürlich nicht, daß diese Beziehung nicht genauer bestimmt werden kann. Sie kann jedoch auf verschiedene Weisen genauer bestimmt werden, und diese Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zur politischen Praxis oder zur richtigen politischen Praxis kann viele Formen annehmen. Gerade zur Zeit Platons und unter den Nachfolgern von Sokrates, zu denen Platon selbst gehörte, findet man andere Weisen, die Beziehung zur Politik zu bestimmen, die notwendige, unerläßliche, hartnäckige, eigensinnige Beziehung des philosophischen Diskurses oder des philosophischen Lebens zur politischen Praxis. Betrachten wir jenen anderen Aspekt des sokratischen Denkens, den Aspekt, der so weit wie nur möglich dem Platonismus entgegengesetzt ist, d. h. die Kyniker. Im Kynismus gibt es ebenfalls eine Beziehung, und zwar eine sehr bezeichnende, sehr betonte Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der politischen Praxis, aber in einem ganz anderen Modus. Es handelt sich, wie Sie wissen, um den Modus der Konfrontation, des Spotts, der Verhöhnung und der Behauptung einer notwendigen Unvereinbarkeit. Man muß sich daran erinnern, daß es neben Platon, der zu Dionysios geht, um dem Tyrannen Ratschläge zu erteilen, Diogenes gab. Diogenes, der von Philipp nach der Schlacht von Charonia gefangengenommen wurde, steht dem Monarchen, dem
makedonischen Herrscher gegenüber. Und dieser sagt zu ihm: Wer bist du also? Diogenes antwortet: »Ein Erkunder deiner Unersättlichkeit.«1 Oder auch der berühmte Dialog desselben Diogenes mit dem Sohn Philipps, mit Alexander. Auch hier dieselbe Frage »Wer bist du ?«. Dieses Mal ist es jedoch Diogenes, der die Frage an Alexander stellt. Und Alexander antwortet: Ich bin der große König Alexander. Darauf antwortet Diogenes: Ich werde dir sagen, wer ich bin. Ich bin Diogenes, der Hund. 2 Auf diese Weise wird die absolute Unvereinbarkeit der philosophischen und der königlichen Persönlichkeit behauptet, genau im Gegensatz zu dem, was Platon vorschlägt. Was könnte weiter entfernt sein von dem Philosophenkönig, dem Philosoph, der König ist, als diese typisch, genau und Wort für Wort antiplatonische Replik? Ich bin der große König Alexander. Ich bin Diogenes, der Hund. Ohne anzugeben, ob die Erklärung Alexander oder ob sie nur im allgemeinen gegeben wurde, berichtet jedenfalls Diogenes Laertius, daß Diogenes, der Kyniker, seinen Aphorismus »ich bin ein Hund« dadurch erklärte, daß er sagte: »Die mir eine Gabe reichen, umwedle ich, die mir nichts geben, belle ich an, und die Schurken beiße ich.«3 Sie sehen nun das interessante Spiel zwischen der philosophischen Behauptung (der philosophischen parrhesia) und der politischen Macht. Die philosophische parrhesia von Diogenes besteht im wesentlichen darin, sich in seiner natürlichen ?-Jacktheit zu zeigen, außerhalb aller Konventionen und außerhalb aller Gesetze, die künstlich vom Staat auferlegt werden. Die parrhesia von Diogenes liegt also in seiner Lebensweise selbst. Sie manifestiert sich auch in jenem Diskurs der Beleidigung, der Anprangerung im Hinblick auf die Macht (Philipps Unersättlichkeit usw.). Nun, diese parrhesia zeigt sich gegenüber der politischen Macht in einer komplexen Beziehung, weil Diogenes einerseits, indem er sagt, daß er ein Hund sei, auch sagt, daß er »diejenigen umwedelt, die ihm geben«. Folghch akzeptiert er, indem er die umwedelt, die ihm Geschenke geben, eine bestimmte Form der politischen Macht. Er beugt sich ihr und erkennt sie an. Gleichzeitig bellt er jene an, die ihm
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nichts geben, und beißt diejenigen, die böse sind. Gegenüber der Macht, die er einerseits akzeptiert, fühlt er sich also frei, offen und mit Nachdruck zu sagen, was er ist, was er will, was er braucht, was wahr und was falsch ist, was gerecht und was ungerecht ist. Wir haben hier ein Spiel der philosophischen parrhesia, ein Spiel des philosophischen Wahrsprechens, ein Spiel des philosophischen Wahr-Seins gegenüber der Machtausübung und der Identifikation einer Person mit ihrer Macht (ich bin der König Alexander), ein Spiel, das offensichtlich sehr weit von demjenigen Platons entfernt ist. Wieder sehr schematisch können wir sagen, daß wir im Fall der Kyniker eine Weise der Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zum politischen Handeln haben, die sich in Gestalt der Unvereinbarkeit, der Herausforderung und des Spotts vollzieht, während wir bei Platon eine Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zur politischen Praxis haben, die eher mit Überschneidung, mit Pädagogik und mit der Identifikation des philosophierenden Subjekts und des machtausübenden Subjekts zu tun hat. Es bleibt noch zu sehen, wie diese Beziehung sich gestaltet, doch in jedem Fall hat die Philosophie mit ihrem Wahrsprechen ihre Rolle nicht notwendig oder zwangsläufig als Aussage darüber, was das politische Handeln sein soll, nicht als politisches Programm, nicht als intrinsische politische Rationalität in der Politik zu spielen. Man könnte auch sagen: Der philosophische Diskurs in seiner Wahrheit, innerhalb des Spiels, das er notwendigerweise mit der Politik betreibt, um darin seine eigene Wahrheit zu finden, hat nicht vorzuzeichnen, was das politische Handeln sein soll. Er sagt nicht das Wahre des politischen Handelns, er sagt nicht die Wahrheit für das politische Handeln, sondern er sagt die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln, in bezug auf die Ausübung der Politik, in bezug auf die politische Persönlichkeit. Genau das nenne ich ein wiederkehrendes, beständiges und grundlegendes Merkmal des Verhältnisses der Philosophie zur Politik. Mir scheint, daß diese Behauptung, die an diesem historischen Ort, an den wir uns stellen, schon sehr deutlich 362
wahrnehmbar ist, im Verlauf der gesamten Geschichte der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik wahr bleibt und ständig Gefahr läuft, nicht wahr zu sein. Wenn man jedoch diese Beziehungen wirklich verstehen will, muß man im Gedächtnis behalten, daß, wie gesagt, die Philosophie in bezug auf die Politik die Wahrheit zu sagen hat, während sie nichts darüber zu sagen hat, was die Politik wirklich tun soll. Wenn Sie einige der großen Formen des philosophischen Wahrsprechens in bezug auf die Politik in der Moderne betrachten, läßt sich dasselbe sagen. Die philosophische Theorie der Staatshoheit, die Philosophie der Grundrechte, die Philosophie als Gesellschaftskritik, alle diese Formen von Philosophie, alle diese Formen der philosophischen Veridiktion haben keineswegs zu sagen, wie regiert werden soll, welche Entscheidungen zu treffen sind, welche Gesetze angenommen und welche Institutionen eingerichtet werden sollen. Umgekehrt ist es jedoch für den Beweis der Wirklichkeit einer Philosophie unerläßlich heute wie zu Platons Zeiten -, daß sie die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln sagt, daß sie die Wahrheit entweder im Namen einer kritischen Analyse oder im Namen einer Philosophie, einer Auffassung von Rechten oder im Namen einer Vorstellung der Staatshoheit usw. sagt. Für jede Philosophie ist es wesentlich, in bezug auf die Politik die Wahrheit sagen zu können. Für jede politische Praxis ist es wichtig, in einem ständigen Verhältnis zu diesem Wahrsprechen zu stehen, wobei jedoch vorausgesetzt ist, daß das Wahrsprechen der Philosophie nicht mit dem zusammenfällt, was die politische Rationalität sein kann und soll. Das philosophische Wahrsprechen ist nicht mit der politischen Rationalität identisch, aber es ist für eine politische Rationalität wesentlich, in einem bestimmten, noch zu bestimmenden Verhältnis zum philosophischen Wahrspreehen zu stehen, wie es für das philosophische Wahrsprechen wichtig ist, seine Wirklichkeit in bezug auf eine politische Praxis zu beweisen. Ich glaube jedoch, daß diese notwendige und grundlegende Beziehung, die für die Philosophie und die politische Praxis im 36 3
Abendland zweifellos konstitutiv ist, ein für unsere Kultur absolut einzigartiges Phänomen ist. Die Koexistenz und die Korrelation der politischen Praxis und des philosophischen Wahrsprechens dürfen niemals als erworbene Kongruenz oder als zu erwerbende Kongruenz verstanden werden. Mir scheint, daß das Unheil und die Zweideutigkeiten der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik zweifellos mit der Tatsache zu tun haben und hatten, daß die philosophische Veridiktion sich manchmal verstehen wollte als ... , oder besser, daß man ihr Forderungen auferlegt hat, die in Begriffen einer Kongruenz mit den Inhalten einer politischen Rationalität formuliert wurden, und daß umgekehrt die Inhalte einer politischen Rationalität ihre Autorität von der Tatsache ableiten wollten, daß sie sich als philosophische Lehre gebärdeten oder auf eine philosophische Lehre beriefen. [... ] Philosophie und Politik sollen in einer Beziehung, in einer Korrelation stehen, niemals aber in einer Kongruenz.':- Das ist, wenn Sie so wollen, das allgemeine Thema, das man aus diesem Text Platons herauslesen kann. Wie gesagt, diese Ratschläge sind nicht vergleichbar mit den Formen politischer Rationalität, die Thukydides entwickelt. Das hat aber einen einfachen Grund, nämlich den, daß es für Platon und, wie mir scheint, für die abendländische Philosophie im allgemeinen in Wahrheit niemals darum ging, den Politikern zu sagen, was sie zu tun haben. Es ging ihnen vielmehr immer darum, gegenüber den Politikern, gegenüber der politischen Praxis, gegenüber der Politik als philosophischer Diskurs und als philosophische Veridiktion zu bestehen. Das ist das erste Thema. Das zweite Thema, das man diesen platonischen Texten, die ich in der ersten Stunde vorgelesen habe, entnehmen kann, ist folgendes: Man sieht, wie sich darin eine sehr besondere historische Lage abzeichnet. Diese ist zwar einzigartig, sie wird aber lange Zeit dominieren, und zwar, wie ich schon gesagt habe, bis zum Ende der Antike. In der Tat habe ich schon angedeutet, ':- Foucault begann den Satz mit: Philosophie und Politik müssen kongruent sein. 36 4
daß bei diesen Ratschlägen - und vor allem bei der ersten Folge von Ratschlägen, die Platon Dionysios erteilt - der Stellenwert, der der Organisation des Staats vorbehalten ist, der Stellenwert der Verfassung, der Gesetze, der Gerichte, ziemlich beschränkt ist und nicht von äußerster Wichtigkeit zu sein scheint. Was dagegen bei den Ratschlägen, die Platon Dionysios und dann den Freunden Dions erteilt, wichtig und dominierend zu sein scheint, ist ein Problem, das mit den Bündnissen zu tun hat, mit den Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten, mit den Beziehungen zwischen den verschiedenen föderierten Staaten, zwischen der Metropole und den Kolonien, mit der Art und Weise, wie die unterworfenen Städte regiert werden sollen, mit der Frage, wem die Macht übertragen werden soll, welche Arten von Beziehungen zwischen denen bestehen, die in der Staatsmetropole befehlen, und den anderen. Das bedeutet, daß die angesprochenen Probleme zum größten Teil Probleme des Reiches und Probleme der Monarchie sind. Zweifellos betreffen diese Probleme Sizilien, d. h. eine Welt, die der klassischen hellenischen Welt sehr nahesteht, die um kleine Einheiten, die Stadtstaaten, herum organisiert ist mit ihren Rivalitäten, Bündnissen, ihrer Föderation und ihrem Kolonisierungssystem. Ich glaube aber auch, daß es sich um Probleme handelt, die zu der Zeit, als Platon schrieb, zwar noch undeutlich und ohne daß die Dinge schon völlig entschieden oder vorgezeichnet wären, im Begriff stehen, zu wirklichen politischen Problemen der hellenischen Welt und a fortiori der römischen Welt zu werden. Seit der Bildung der großen hellenischen Monarchien und gewiß seit der Einrichtung eines römischen Kaiserreiches im gesamten Umkreis des Mittelmeers sieht man deutlich, daß das konkrete politische Problem, das übrigens ein ganz präzises war, das Problem sein wird, welche Art von politischer Einheit organisiert werden soll, so daß von da an der Stadtstaat, die Form, das Modell des Stadtstaats natürlich nicht mehr einem Typ der Machtausübung entsprechen kann, der geographisch, was den Raum und die Bevölkerung angeht, diese Grenzen unendlich überschreiten muß. Wie läßt sich also die politische 36 5
Einheit denken? Der Körper des Stadtstaats ist nicht mehr das Modell. Die politische Einheit läßt sich nicht mehr als Körper des Stadtstaats oder der Bürger denken. Wie wird man also die politische Einheit denken können? Zweitens, ein weiteres Problem, das sich unmittelbar an dieses anschließt, ist folgendes: Wie kann die Macht, die in ihren Einheiten nur als eine Art von Monarchie vorgestellt wurde, wie kann diese Macht, die in einem bestimmten Sinne in den Händen des Monarchen liegt, auf der gesamten Fläche dieser großen politischen Einheit verteilt, aufgeteilt und hierarchisch geordnet werden? Was ist der Existenzmodus dieser neuen politischen Einheiten, die sich gerade abzeichnen, was ist der Modus der Aufteilung, der Verteilung, der Differenzierung der Macht innerhalb dieser Einheiten? Das sind, wie Sie sehen, die politischen Probleme, die in den Texten Platons, die ich vorgelesen habe, zutage treten und die sich zu jener Zeit natürlich in der Situation, in der sich Syrakus befand, zu stellen beginnen und sichtbar werden, die aber das ganze politische Denken bis zum Römischen Reich dominieren werden. Ich habe vorhin an die Rede von Maecenas an Augustus erinnert, wie sie von Cassius Dio berichtet wird,4 an diese Rede, diesen Typ von politischer Reflexion - welchen man auch bei Dion Chrysostomos in bezug auf den Monarchen finden wird 5 und ebenso bei Plutarch -, das ganze politische Denken des I. und 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung dreht sich fortwährend um folgendes Problem: Was ist die Seinsweise dieser neuen politischen Einheiten, die sich oberhalb der Stadtstaaten bilden, ohne sie völlig zu zerstören, die jedoch einer anderen Ordnung als diese angehören? Und zweitens: Was ist die Art von Macht, die der Monarch dort ausüben soll? Das ist, wenn Sie so wollen, die politische Bühne, die sich für die griechisch-römische Welt abzuzeichnen beginnt. Ich möchte keinesfalls die scharfsinnige, artikulierte, dichte und reichhaltige politische Rationalität von Thukydides in bezug auf die kleinen griechischen Stadtstaaten dem viel schwankenderen platonischen Denken entgegensetzen, das sich an eine historische Wirklichkeit richtete, die gera366
de im Entstehen begriffen war. Ich glaube nicht, daß dieser Gegensatz interessant ist. Mir scheint jedoch, daß das, was man in diesem platonischen Diskurs, in dem es um die Beziehung zwischen der Philosophie und Politik geht, skizziert findet, neue politische Wirklichkeiten sind, jene neuen Wirklichkeiten nämlich, die dauerhaft sein werden, die noch acht Jahrhunderte bis zum Ende des Römischen Reiches fortbestehen werden. Diese neuen politischen Wirklichkeiten sind zum einen das Reich und zum anderen der Fürst oder der Monarch. Der dritte Punkt, den ich hervorheben möchte - der erste war das wiederkehrende Prinzip der nicht kongruenten Korrelation zwischen politischer Praxis und Philosophie im ganzen abendländischen Denken; der zweite war jene neue historische und politische Lage, die sich zu der Zeit, als Platon schrieb, abzeichnet -, besteht darin, daß man, wenn man diese beiden Dinge ins Spiel bringt, genau versteht, was Platon meint, wenn er darauf besteht, daß der Philosoph mit dem Herrscher sprechen soll oder, besser noch, daß der Herrscher selbst Philosoph sein soll. Wenn, wie ich vorhin gesagt habe, der philosophische Diskurs und die politische Praxis in einer bestimmten Beziehung stehen sollen, die jedoch keine Beziehung der Kongruenz ist, was ist dann diese Beziehung für Platon, und wo wird sie hergestellt? Man könnte die Frage auch so stellen: Wo vollzieht sich die Bewährungsprobe, durch die die Philosophie, wie ich letztes Mal sagte, sich ihre Wirklichkeit sichert, so daß sie nicht bloß logos ist? Wo geschieht das Gegenübertreten von Philosophie und Politik, das sowohl ihre notwendige Beziehung als auch ihre Inkongruenz beinhaltet? Nun, ich glaube, daß hier ein großes Problem liegt. Ich habe vorhin die Lösung der Kyniker erwähnt, die im Grunde die Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der Ausübung politischer Macht an einen öffentlichen Ort verlegten. Die Kyniker sind Männer der Straße, Männer der agora. Sie sind Männer des öffentlichen Platzes, aber auch Männer der Meinung. Der Ort der Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der Ausübung politischer Macht, die nun in den Händen 36 7
des Monarchen liegt, dieser neuen Persönlichkeit, dieser zu jener Zeit neuen politischen Wirklichkeit, nahm die Gestalt der Konfrontation durch die Herausforderung und den Spott an, wofür Diogenes gegenüber Alexander ein Beispiel gab. Wo wird für Platon der Ort dieser notwendigen und inkongruenten Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der politischen Praxis sein? Nicht auf dem öffentlichen Platz. In diesem Sinne sind die Kyniker noch Männer des Stadtstaats, die bis ins Römische Reich hinein die Traditionen des Stadtstaats, des öffentlichen Platzes usw. fortführen. Für Platon ist der Ort dieser inkongruenten Beziehung nicht der öffentliche Platz, sondern die Seele des Fürsten. Hier rühren wir an etwas, das in der Geschichte des politischen Denkens, der Philosophie und der Beziehungen zwischen Politik und Philosophie im Abendland sehr wichtig ist. Mir scheint, daß die Polarität zwischen Kynismus und Platonismus etwas Wichtiges darstellte, was sehr früh schon spürbar, ausdrücklich und auch dauerhaft war. Platon und Diogenes sind einander entgegengesetzt. Diogenes Laertius bezeugt übrigens diesen Gegensatz: Diogenes, der Kyniker, wurde eines Tages von Platon beim Kohlwaschen beobachtet. Platon sieht ihn seinen Kohl abspülen und sagt zu ihm, indem er daran erinnert, daß Dionysios nach Diogenes gerufen hatte, daß aber Diogenes sich dem Ruf des Dionysios verweigert hatte: Wenn du mit Dionysios höflicher umgegangen wärest, bräuchtest du keinen Kohl zu waschen. Worauf Diogenes ihm antwortet: Wenn du die Gewohnheit angenommen hättest, deinen Kohl zu waschen, »so hättest du dich nicht dem Dionysios dienstbar gemacht.«6 Nun, diese Anekdote von Diogenes Laertius ist, glaube ich, sehr wichtig und sehr ernst. Sie zeigt die beiden Pole an, an denen schon sehr früh, seit dem 4· Jahrhundert, das Problem des Aufeinandertreffens zwischen einem philosophischen Wahrsprechen und einer politischen Praxis zwei Einsatzorte gefunden hat: den öffentlichen Platz oder die Seele des Fürsten. Diese beiden Polaritäten ziehen sich durch die gesamte Geschichte des abendländischen Denkens. Soll sich der phi368
losophische Diskurs an die Seele des Fürsten wenden, um sie zu bilden? Oder soll der wahre Diskurs der Philosophie auf dem öffentlichen Platz stattfinden und das Handeln des Fürsten und das politische Handeln herausfordern, sich ihm entgegenstellen, es verspotten und kritisieren? Erinnern Sie sich an das, was wir in jenem Text über die Aufklärung gesehen hatten, mit dem ich die diesjährige Vorlesung begonnen hatte. In seiner Theorie der Aufklärung versucht Kant, die beiden Dinge zu vereinen. Er versucht zu erklären, wie das philosophische Wahrsprechen gleichzeitig zwei Orte besitzt, die nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich gegenseitig fordern: Einerseits hat das philosophische Wahrsprechen seinen Ort in der Öffentlichkeit; das philosophische Wahrsprechen hat aber auch seinen Ort in der Seele des Fürsten, wenn der Fürst ein aufgeklärter Fürst ist. Wir haben hier sozusagen einen Kantischen Eklektizismus, der versucht zusammenzuhalten, was traditionell, seit der Geschichte mit dem Kohl zwischen Platon und Diogenes, das große Problem der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik im Abendland war: Sollen sie auf dem öffentlichen Platz oder in der Seele des Fürsten stattfinden? Kehren wir also zu Platon zurück, da er es ist, von dem wir sprechen. Es ist klar, daß sich für Platon die Beziehung zwischen Philosophie und Politik in der Seele des Fürsten abspielen soll, aber es bleibt noch herauszufinden, wie diese Beziehung eigentlich hergestellt wird. Sollte sie nicht die Gestalt der Kongruenz annehmen? Wenn man sagt, daß der Fürst Philosoph sein soll, bedeutet das dann nicht, daß der Fürst nur auf der Grundlage eines philosophischen Wissens und philosophischer Erkenntnisse, die ihm sagen, was zu tun sei, politische Entscheidungen treffen und als politischer Akteur handeln soll? Nun, betrachten wir die Texte selbst, in denen Platon im VII. Brief einerseits und im Staat andererseits von dieser Kongruenz zwischen politischem Handeln und der Philosophie in der Seele des Prinzen spricht. Ich habe diese Passage letztes Mal zitiert, sie steht in 326b: »Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis ent369
weder die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Philosophie [der griechische Text sagt genau: bevor die Gattung (ta genas) jener, die richtig und wahrhaft philosophieren; man kann das zwar mit >reinen und wahren Philosophen< übersetzen, ich ziehe es jedoch vor, so nahe wie möglich an der ursprünglichen Formulierung zu bleiben: daß die Gattung jener, die richtig und wahrhaft philosophieren; M. E] also zur Herrschaft im Staate gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen.«7 Sie wissen, daß dieser Text nichts anderes als die Wiederholung, das Echo, zwar mit einigen Variationen, aber doch das getreue Echo dessen ist, was wir im Buch V des Staats bei 473C finden - ein berühmter und grundlegender Text -, wo Platon schreibt (der Text des Staats wurde vor den Briefen geschrieben): Es gibt kein Ende des Unglücks der Staaten und der Städte (dasselbe Thema also: die Leiden der Menschen werden kein Ende finden; dort: die Leiden der Staaten werden kein Ende finden), »wenn nicht die Philosophen in den Staaten Könige werden« oder »die Könige, wie sie heute heißen, und Herrscher« (das ist die Übersetzung, die wir bei Vretska finden; dynastai bedeutet eigentlich: diejenigen, die die Macht ausüben) »echte und gute Philosophen werden« (auch hier sagt der griechische Text: nicht auf authentische und hikanas, d. h. kompetente Weise philosophieren) und »wenn nicht in eine Hand zusammenfallen die dynamis palitike [die politische Macht; M. E] kai philasaphia (und die Philosophie).«8 Augenscheinlich haben wir die Bestimmung eines exakten Zusammenfallens. Die Philosophen müssen Könige werden oder die Könige Philosophen - was soll das heißen, wenn nicht, daß das, was im Herrscher Philosoph ist, ihm sagen wird, was er als Herrscher zu tun hat, und daß der Teil von ihm, der Herrscher ist, nichts anderes tun wird, als das, was ihm der philosophische Diskurs sagt, in Regierungshandlungen umzusetzen? Tatsächlich aber, wenn Sie den Text anschauen - deshalb bestand ich auf einer 37°
möglichst getreuen Übersetzung -, geht es nicht um eine Entsprechung zwischen dem philosophischen Diskurs, dem philosophischen Wissen und der politischen Praxis. Die Kongruenz, um die es geht, ist die Kongruenz zwischen denen, die die Philosophie praktizieren, die wahrhaft und kompetent philosophieren, und denen, die die Macht ausüben. Was wichtig und zugespitzt ist und was von den beiden Texten zum Ausdruck gebracht wird, ist die Tatsache, daß derjenige, der philosophiert, auch derjenige sein soll, der die Macht ausübt. Aber hieraus, d. h. aus der Tatsache, daß derjenige, der die Philosophie praktiziert, zugleich auch derjenige ist, der die Macht ausübt, und daß der, der die Macht ausübt, auch jemand ist, der die Philosophie praktiziert, kann man überhaupt nicht schließen, daß das, was er von der Philosophie weiß, das Gesetz seines Handelns und seiner politischen Entscheidungen sein soll. Wichtig und erforderlich ist, daß das Subjekt der politischen Macht auch das Subjekt ist, das philosophisch tätig ist. Nun werden Sie mir aber sagen: Worin besteht da der Unterschied, und was bedeutet diese Identität zwischen dem Subjekt der politischen Macht und dem Subjekt der philosophischen Praxis? Warum soll man verlangen, daß derjenige, der die Macht ausübt, auch derjenige ist, der die Philosophie praktiziert, wenn die Philosophie nicht in der Lage ist, dem, der seine Macht ausübt, zu sagen, was er tun soll? Nun, ich glaube, daß die Antwort auf diese Frage in Folgendem liegt: Was in Frage steht, wie Sie deutlich sehen, ist die Philosophie als philasaphein. Der Text sagt es selbst: Die Regierenden müssen auch diejenigen sein, die philosophieren, die die Philosophie praktizieren. Was ist aber diese Praxis der Philosophie für Platon? Diese Praxis der Philosophie ist vor allem, wesentlich und im Grunde eine Weise, wie sich das Individuum als Subjekt gemäß einem bestimmten Seinsmodus konstituiert. Dieser Seinsmodus des philosophierenden Subjekts ist es nun, der den Seinsmodus des Subjekts konstituieren soll, das die Macht ausübt. Es geht also nicht um die Kongruenz eines philosophischen Wissens mit einer politischen Rationalität, sondern um die 37 1
Identität zwischen dem Seins modus des philosophierenden Subjekts und dem Seinsmodus des Subjekts, das die Politik praktiziert. Wenn die Könige Philosophen sein sollen, dann nicht deshalb, weil sie ihr philosophisches Wissen darauf befragen könnten, was unter diesen und jenen Umständen zu tun sei. Es bedeutet vielmehr folgendes: Um einerseits ordentlich regieren zu können, muß man andererseits eine bestimmte Beziehung der Praxis zur Philosophie haben; der Schnittpunkt zwischen »ordentlich regieren« und »die Philosophie praktizieren« wird dabei von ein und demselben Subjekt eingenommen. Es ist ein und dasselbe Subjekt, das einerseits ordentlich regieren und andererseits eine Beziehung zur Philosophie haben soll. Sie sehen, daß es kein Zusammenfallen der Inhalte gibt, eine Isomorphie der Rationalitäten, eine Identität des philosophischen und des politischen Diskurses, sondern eine Identität des philosophierenden Subjekts mit dem regierenden Subjekt, was natürlich das Auseinandergehen oder die Unabhängigkeit der Achse, auf der man philosophiert, von der Achse, auf der man die Politik praktiziert, offenläßt. Schließlich läuft das darauf hinaus, daß die Seele des Fürsten sich selbst gemäß der wahren Philosophie regieren können muß, um die anderen gemäß einer gerechten Politik zu regieren. Wir können, und damit werde ich die heutige Vorlesung abschließen, folgendes sagen: Politik ist, wie wir letztes Mal gesehen haben, dasjenige, wodurch, auf dessen Grundlage und in Beziehung worauf das philosophische Wahrsprechen seine Wirklichkeit finden muß. Was ich Ihnen heute zeigen wollte, und zwar immer noch mit Bezug auf den VII. Brief, dessen Lektüre wir nun beenden, ist, daß das Philosophieren, das in seiner Beziehung zur Politik:· seine Wirklichkeit findet, der Politik nicht vorschreiben darf, was sie zu tun hat. Sie soll für den Regierenden, den Politiker festsetzen, was er zu sein hat. Es geht um das Sein des Politikers, um seinen Seinsmodus. Die Philosophie wird also insofern ihre Wirklichkeit aus ihrer Be-
ziehung zur Politik schöpfen, als sie bestimmen kann - auf effektive Weise oder nicht, darin besteht ihre Bewährungsprobe -, was der Seinsmodus des Politikers ist. Die Frage, die sich stellt, ist daher folgende: Was ist der Seinsmodus dessen, der die Macht in seinem Zusammenfallen mit dem philosophierenden Subjekt ausübt? Mir scheint, daß wir hier ein Problem haben, das in der gesamten Geschichte der Beziehungen zwischen der Philosophie und der Politik in der Antike von absolut grundlegender Bedeutung war. Es genügt übrigens, Mark Aurel zu lesen, um deutlich zu sehen, daß sich ihm genau dieses Problem stellte 9 und daß er sich dessen vollkommen bewußt war. Mark Aurel verstand sich als Philosophenherrscher und war sechs Jahrhunderte oder fünfeinhalb Jahrhunderte nach Platon der Philosophenkaiser. Mark Aurel ist genau das, woran Platon fünfeinhalb Jahrhunderte zuvor dachte: ein Mann, der die Macht in einer politischen Einheit auszuüben hat, die unendlich viel größer ist als die Einheit eines Stadtstaats. Folglich stellt sich im Herzen oder Zentrum des Imperiums ein Problem für den Monarchen, der nicht nur Herr über das Imperium, sondern Herr über sich selbst sein soll. Mark Aurel war jener ideale Herrscher, aber nichts in den Texten Mark Aurels zeigt, daß er die Rationalität jemals der Philosophie entlehnt hätte, die in der Lage gewesen wäre, ihm sein politisches Verhalten im Hinblick auf diese oder jene Situation zu diktieren, sondern er hat fortwährend von der Philosophie verlangt, ihm zu sagen, was es bedeute, Herrscher zu sein. Das heißt, daß er die Philosophie gerade auf seinen Seinsmodus als Herrscher befragt hat. Kurz, was uns als Ort der grundlegenden Beziehungen zwischen Philosophie und Politik aus diesen Texten Platons entgegentritt, als Ort, an dem sich die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik knüpfen - Beziehungen, die, wie gesagt, solche der Überschneidung und nicht der Kongruenz sind -, ist die Seele des Fürsten. Dieses Problem und die Probleme, die mit der Frage nach der Seele des Fürsten verbunden sind, werde ich Ihnen nächstes Mal zu erklären versuchen.
". Im Manuskript steht »philosophie« (A. d. ü.) 37 2
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Anmerkungen I Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch VI, §43, übers. v. Otto Apelt, Berlin I955, S·3 I6 . 2 "Als Alexander einst bei einem Zusammentreffen zu ihm sagte: ,Ich bin Alexander, der große König<, sagte er: >Und ich bin Diogenes, der Hund<<< (ebd., Buch VI, §60, S. 324)· 3 Ebd., S. 325· 4 Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch LII, Kap. I4-4 0 , Düsseldorf 200 7. 5 Vgl. die Reden von Dion Chrysostomos "Über das Königtum«, in: Sämtliche Reden, einge\., übers. u. erl. von Winfried Elliger, Zürich u. Stuttgart I967· 6 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch VI, § 58, a.a.O., S·323· 7 Platon, VII. Brief, 326b, a. a. 0., S. 48. 8 »Wenn nicht die Philosophen in den Staaten Könige werden oder die Könige, wie sie heute heißen, und Herrscher echte und gute Philosophen (philosophesousi gnesios te kai hikanos) und wenn nicht in eine Hand zusammenfallen politische Macht und Philosophie (dynamis te politike kai philosophia), und wenn nicht die Vielzahl derer, die sich heute auf Grund ihrer Anlage nur der einen von zwei Aufgaben widmen, mit Gewalt davon ferngehalten wird, gibt es mein Glaukon, kein Ende des Unglücks in den Staaten, ja nicht einmal im ganzen Menschengeschlecht« (Platon, Der Staat, Buch V, 473c-d, übers. von Karl Vretska, a.a.O., S.265)· 9 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesung vom 3. Februar I9 82 , in: Hermeneutik des Subjekts, a.a.O., S.253- 2 56.
(Sitzung vom
Wiederholende Bemerkungen zur politischen parrhesia. - Entwicklungspunkte der politischen parrhesia. - Die großen Fragen der alten Philosophie. - Studie eines Textes von Lukian. - Die Ontologie der Veridiktionsdiskurse. - Die Rede des Sokrates in der Apologie. - Das Paradox der politischen Nichteinmischung des Sokrates.
Zu Beginn möchte ich heute einige Etappen des zurückgelegten Weges verdeutlichen [... ':1 Der Leitfaden, den ich für die Vorlesung dieses Jahr gewählt hatte, war der Begriff der parrhesia, ein komplexer Begriff, der, wenn man ihn in seinen etymologischen oder zumindest in seinen gängigen Bedeutungen versteht, auf zwei Prinzipien zu verweisen scheint: einerseits auf das Prinzip des freien Zugangs aller zur Rede; und andererseits auf das Prinzip der Freimütigkeit, mit der man alles sagt. Bestünde dann die parrhesia alles in allem nicht darin, daß alle alles sagen können? Das wird in gewissem Sinne von dem Wort selbst nahegelegt. Tatsächlich haben wir aber gesehen, wie Sie sich erinnern, daß die Dinge etwas komplizierter lagen. Zunächst weil die parrhesia nicht identisch mit der Redefreiheit ist, der Redefreiheit, die jedermann eingeräumt werden mag. Tatsächlich erscheint die parrhesia als eine, wenn schon nicht gesetzlich gesicherte, so doch zumindest gewohnheitsmäßige Einrichtung, die an Privilegien des Rederechts gebunden ist. Zweitens stellt es sich heraus, daß die parrhesia auch nicht nur die Freiheit ist, alles zu sagen, sondern einerseits eine Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, und andererseits eine Verpflichtung, die von der Gefahr begleitet wird, die das Wahrsprechen mit sich bringt. Zur Analyse dieser C·
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Vorlesung 9 März 1983, erste Stunde)
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M. F.: Sie erinnern sich, daß wir uns entschieden hatten ... Ich habe den Eindruck, daß die Tonqualität noch schrecklicher als sonst ist ... Wir werden versuchen, daran etwas zu ändern ... Ist es so besser? Ja? Gibt es immer noch Vibrationen? Warten Sie ... Und so? In Ordnung? Die Callas! 375
verschiedenen Dimensionen der parrhesia hatte ich mich auf zwei Texte bezogen. Der erste, den ich ausführlicher untersucht hatte, war Euripides' Theaterstück Ion; der zweite war der Text, in dem Thukydides zeigt, wie Perikles von seiner parrhesia gegenüber dem Volk Athens Gebrauch macht, als er anläßlich der Frage von Krieg oder Frieden mit Sparta das Wort zu ergreifen hatte. Anhand dieser beiden Texte schien es, daß die parrhesia erstens an eine funktionierende Demokratie gebunden war. Sie erinnern sich, daß Ion der parrhesia bedurfte, um nach Athen zurückkehren zu können und dort das politische Grundrecht Athens zu begründen. Andererseits machte Perikles von seiner parrhesia - Thukydides zeigte das mit Nachdruck - innerhalb der Regeln der allgemeinen Funktionsweise der Demokratie Gebrauch. Die parrhesia begründet die Demokratie, und die Demokratie ist der Ort der parrhesia. Zuerst haben wir also diese zirkuläre Zusammengehörigkeit von parrhesia und Demokratie. Zweitens hatte ich versucht, Ihnen zu zeigen, wie diese parrhesia sodann eine präzise institutionelle Struktur erfordert, nämlich die der isegoria, d. h. das Recht, das Wort zu ergreifen, das tatsächlich durch das Gesetz, durch die Verfassung, durch die Form der politeia selbst allen Bürgern eingeräumt wird. Sie erinnern sich, daß Ion nicht als uneheliches Kind nach Athen zurückkehren wollte, weil er dann nicht das Recht, das gleiche Recht - das nur den Bürgern, aber allen Bürgern zuerkannt wurde - gehabt hätte, das Wort zu ergreifen. Und Perikles ergriff das Wort erst, als alle anderen Bürger oder zumindest jene, die das Wort ergreifen wollten, ihre Rechte tatsächlich geltend gemacht hatten. Perikles' Recht ist also ein Bestandteil dieses Spiels der isegoria. Das war der zweite Punkt. Der dritte Punkt besteht darin, daß, selbst wenn die parrhesia Bestandteil des egalitären Bereichs der isegoria ist, sie die Ausübung eines bestimmten Einflusses impliziert, nämlich eines politischen Einflusses, der von den einen auf die anderen ausgeübt wird. Wenn Ion die parrhesia haben wollte, dann nicht bloß, um ein Bürger wie alle anderen zu sein, sondern um in
den proton zygon (in den ersten Rang) der Bürger zu gelangen. Und wenn Perikles das Wort ergriff und dieses Wort dann auch die bekannten Wirkungen hatte, dann deshalb - daran erinnert Thukydides -, weil Perikles der erste Bürger Athens war. Das ist das dritte Merkmal der parrhesia. Schließlich fand, wie Sie sich erinnern, die parrhesia innerhalb eines agonistischen Feldes statt, wo beständig die Gefahr herrschte, die die Ausübung der wahren Rede im Bereich der Politik mit sich bringt. Ion erwähnte den Neid des Volkes, den Neid der Mehrheit, den Neid der Zahlreicheren gegenüber jenen, die ihren Einfluß ausüben. Er erwähnte auch die Eifersucht der Rivalen, die es nicht ertragen, daß einer von ihnen sich hervortut und Einfluß auf die anderen nimmt. Und PerikIes erwähnte zu Beginn seiner großen Rede an die Athener, wie die Niederlage Athens aussehen könnte. Und er verlangte, daß man im Falle des Mißerfolgs genauso zu ihm halte wie im Falle des Sieges. Das sind die vier Punkte, die vier Merkmale der parrhesia, wie sie in den beiden Texten erschien, im Text des Tragikers und im Text des Historikers. Im Ausgang von dieser Analyse scheint mir nun, daß wir eine Reihe von Verschiebungen, von Verwandlungen um diesen Begriff der parrhesia herum sehen konnten, und zwar in Texten, die aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts stammen, d. h. die später geschrieben wurden als die von Euripides oder sich jedenfalls auf eine spätere Situation als die beziehen, auf die sich Thukydides bezog. Thukydides bezog sich auf die Situation Athens am Ende des 5· J ahrhunderts. Euripides schrieb ebenfalls in jener Zeit. Mit Platon, Xenophon und Isokrates haben wir Leute, die in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts schreiben und die sich auf die damalige Situation beziehen. Was sehen wir da ? Wir sehen, daß es in diesen vier Punkten recht bemerkenswerte Veränderungen des Begriffs der parrhesia gibt. Erstens wird der Begriff verallgemeinert in dem Sinne, daß die parrhesia, die Verpflichtung und das Risiko, die Wahrheit im Bereich der Politik zu sagen, nicht bloß und ausschließlich mit
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der Funktionsweise der Demokratie verbunden erscheint. Die parrhesia findet ihren Ort, oder vielmehr soll sie sich ihren Ort
schaffen, in verschiedenen Regierungsformen, ob es sich nun um demokratische, autokratische, oligarchische oder monarchische Regierungsformen handelt. Die Herrscher sowie das Volk bedürfen der parrhesia. Und die guten Herrscher (das Beispiel von K yros bei Xenophon und bei Platon, das Beispiel von Nikokles bei Isokrates) sollen dem Wahrsprechen ihrer Berater einen Platz einräumen, so wie die weisen Völker jenen gebührend Gehör schenken, die ihnen gegenüber von der parrhesia Gebrauch machen. Es gibt also eine Verallgemeinerung des politischen Bereichs derparrhesia, oder sagen wir noch schematischer, daß die parrhesia, das Wahrsprechen wie eine notwendige und universelle, notwendig universelle Funktion im Bereich der Politik erscheint, wie auch immer die jeweilige politeia beschaffen sein mag. Die Politik, wie auch immer sie ausgeübt wird, durch das Volk, durch wenige oder durch eine einzige Person, bedarf dieser parrhesia. Das ist die erste Verschiebung. Die zweite Verschiebung besteht sozusagen im Übergang des Begriffs zu einer gewissen Zweideutigkeit, einer Doppeldeutigkeit des Werts, als ob der unmittelbar und eindeutig positive Wert der parrhesia, wie sie bei Euripides oder bei Thukydides in der Person Perikles' erscheint, sich einzutrüben beginnt. Die Funktionsweise der parrhesia erscheint in der Tat mit einer Reihe von Schwierigkeiten behaftet, und das übrigens unabhängig davon, ob es sich um eine demokratische oder um eine autokratische Regierung handelt. Zuerst wird durch die Tatsache, daß die parrhesia allen, die das Wort ergreifen wollen, auch die Möglichkeit dazu gibt, dem Schlechtesten wie dem Besten, die Möglichkeit zur Rede einräumt. Zweitens, wenn das Wahrsprechen bei der parrhesia ein Risiko darstellt, wenn es wirklich gefährlich ist, zu sprechen und die Wahrheit zu sagen, sei es vor dem Volk oder vor dem Herrscher, wenn das Volk und der Herrscher sich nicht hinreichend in der Gewalt haben, um diejenigen nicht zu ängstigen, die die Wahrheit sagen wollen, 37 8
wenn sie sie zu sehr bedrohen, wenn sie sich maßlos über die ärgern\ die die Wahrheit sagen, wenn sie zum Maßhalten gegenüber den Parrhesiasten, die ihnen gegenübertreten, nicht in der Lage sind, nun, dann wird jedermann schweigen, weil alle Angst haben werden. Das Gesetz des Schweigens wird dann herrschen, Schweigen vor dem Volk oder Schweigen vor dem Herrscher. Oder vielmehr wird dieses Schweigen erfüllt sein, erfüllt von einem Diskurs, der jedoch ein falscher Diskurs und wie eine mimesis (Nachahmung), eine schlechte mimesis der parrhesia sein wird. Das heißt, daß man den Anschein erwekken wird, daß das, was man dem Herrscher oder dem Volk vorträgt, wahr sei. Derjenige, der spricht, weiß jedoch ganz gut, daß das, was er sagt, nicht wahr ist. Er weiß nur, daß das, was er sagt, genau mit dem übereinstimmt, was das Volk oder der Herrscher denkt oder was das Volk oder der Herrscher hören will. Mit der Wiederholung der vorgefaßten Meinung des Volks oder des Herrschers und mit der Darstellung dieser Meinung als Wahrheit haben wir eine Praxis, die der Schatten der parrhesia ist, ihre trübe und schlechte Nachahmung. Und das nennt man Schmeichelei. Dieser Gegensatz von Schmeichelei und parrhesia (Schmeichelei gegenüber dem Volk, Schmeichelei gegenüber dem Herrscher) kann am Ende sozusagen als bloß moralisierender Gegensatz ohne große Bedeutung erscheinen. Mir scheint, daß die Kategorie der parrhesia und die Kategorie der Schmeichelei zweifellos zwei große Kategorien des politischen Denkens während der gesamten Antike sind. Ob es sich um die so bedeutsame Theorie der Schmeichelei bei Sokrates und Platon 1 handelt, ob man bei Plutarch die Techniken betrachtet, die dem sehr wichtigen Problem gewidmet waren, zwischen einem Schmeichler und einem Parrhesiasten zu unrerscheiden,2 ob man schließlich die Beschreibungen der Historiker bezüglich der Kaiser, ihrer Berater, ihres Hofs usw. nimmt, so sieht man, daß letztlich acht Jahrhunderte lang das '. :\1.F. sagte: wenn sie diejenigen, die angeblich die Wahrheit sagen, nicht
zu sehr bedrohen, wenn sie sich nicht maßlos ärgern. 379
Problem der Schmeichelei, die der parrhesia entgegengesetzt ist, ein politisches, theoretisches und praktisches Problem war, etwas, das während dieser acht Jahrhunderte zweifellos genauso wichtig war wie das sowohl theoretische als auch technische Problem der Pressefreiheit oder der Meinungsfreiheit in Gesellschaften wie der unseren. Es gäbe eine ganze politische Geschichte des Begriffs der Schmeichelei und aller technischer Probleme zu schreiben, die sich in der Antike um ihn gedreht haben. Darin besteht die zweite Transformation: im Übergang vom Begriff der parrhesia zum Register der Zweideutigkeit mit dem Problem ihres schlechten Doppelgängers, der Schmeichelei. Die dritte Umwandlung, die sich in diesen Texten vom Beginn des 4. Jahrhunderts abzeichnet, ist, grob gesagt, die Aufspaltung der parrhesia, ihre Differenzierung, insofern die parrhesia - die Ion nach seiner Rückkehr nach Athen ausüben wollte und die Perikles vor dem athenischen Volk ausübte - eine Weise war, frei seine Meinung zu Fragen der Organisation des Staates, der Regierung des Staates, der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden usw. kundzutun. Die parrhesia wurde also im Hinblick auf den gesamten Staat und in einem unmittelbar politischen Feld ausgeübt. In den Texten Xenophons, Isokrates' und vor allem Platons sieht man jedoch, daß die parrhesia eine doppelte Aufgabe hat, insofern sie sich zumindest genauso sehr an die einzelnen wie an das Kollektiv, die polis usw. richten soll. Für die parrhesia geht es darum, die Aufgabe in Angriff zu nehmen, den einzelnen zu zeigen - ob es sich nun um Bürger handelt, die ihre Meinung abgeben sollen, oder um einen Herrscher, der seine Entscheidungen durchzusetzen hat -, wie die einen und der andere sich selbst regieren sollen, um den Staat richtig zu regieren. Anstatt bloß eine Meinung zu sein, die dem Staat gegeben wird, um ihn richtig zu regieren, erscheint die parrhesia als eine Tätigkeit, die darin besteht, sich an die Seele derer zu wenden, die regieren sollen, so daß sie sich selbst richtig regieren, wodurch dann auch der Staat richtig regiert wird. Diese Zweiteilung oder diese Verschiebung des Zieles der par-
rhesia - von der Regierung, an die sie sich direkt richtete, zur Selbstregierung, um die anderen zu regieren - stellt, glaube ich, eine wichtige Verschiebung in der Geschichte des Begriffs der parrhesia dar. Von da an wird die parrhesia sowohl zu einem politischen Begriff - der das Problem aufwirft, wie man innerhalb einer Regierung, gleichgültig ob sie demokratisch oder monarchisch sei, für dieses Wahrsprechen Raum schaffen kann - als auch zu einem philosophisch-moralischen Problem. Das erste ist philosophisch-politisch. Das zweite ist philosophisch-moralisch, d. h. welche Mittel und Techniken sollen angewendet werden, damit die Regierenden durch die parrhesia ihrer Berater sich selbst richtig regieren können? Das ist die dritte Wandlung des Begriffs der parrhesia, ihre Aufspaltung oder die Verschiebung ihres Zieles. Die vierte wichtige Modifikation in der Problematisierung der parrhesia ist schließlich folgende: Als Ion oder Perikles gegenüber dem Staat als Parrhesiasten auftraten, was waren sie da? Sie waren Bürger, und zwar die ersten Bürger. Jetzt, da die parrhesia in einer beliebigen Regierungsform ausgeübt werden soll und insofern sie andererseits in einer gefährlichen Beziehung - die schwierig zu entwirren ist - mit ihrer Doppelgängerin (der Schmeichelei) ausgeübt werden soll, wo sich folglich das Problem stellt, zu unterscheiden zwischen dem Wahren und dem Illusorischen, von dem Augenblick an, da die parrhesia dem Volk nicht bloß Ratschläge über diese oder jene zu treffende Entscheidung zu geben, sondern die Seelen der Regierenden zu leiten hat, wer wird nun zur parrhesia überhaupt noch in der Lage sein? Wer wird die Fähigkeit der parrhesia haben, wer wird eventuell auch das Monopol über die parrhesia haben? Genau an dieser Stelle beginnt sich gerade an der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert in der griechischen Kultur, oder zumindest in der Kultur Athens, jene große Spaltung zwischen der Rhetorik und der Philosophie abzuzeichnen, deren Wirkungen acht Jahrhunderte lang anhalten werden. Die Rhetorik als Redekunst - Redekunst, die unterrichtet werden kann, die zur Überredung der anderen verwendet werden
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kann, und Redekunst, die nur dann vollendet und verwirklicht ist, wenn der Redner zugleich ein vir bonus (ein rechtschaffener Mann) ist -, diese Rhetorik kann sich als Kunst darstellen, die Wahrheit zu sagen, als Kunst der richtigen Rede und als Kunst der Rede in technischer Hinsicht, so daß dieses Wahrsprechen auch überzeugend ist. Insofern, als Kunst, die von einem rechtschaffenen Mann gemeistert wird, der, weil er die Wahrheit kennt, in der Lage ist, die anderen durch diese besondere Kunst davon zu überzeugen, kann die Rhetorik tatsächlich als die eigentliche Technik der parrhesia, des Wahrsprechens erscheinen. Aber angesichts dessen wird sich natürlich die Philosophie als einzige Sprachpraxis darstellen, die in der Lage sein wird, den neuen Erfordernissen der parrhesia zu entsprechen. Denn im Unterschied zur Rhetorik, die sich per definitionem an mehrere, an die große Zahl, an die Versammlungen wendet und ihren Ort innerhalb eines institutionellen Feldes hat, kann sich die philosophische parrhesia an die einzelnen wenden. Sie kann Ratschläge erteilen, besondere Ratschläge für den Fürsten, individuelle Ratschläge für die Bürger. Zweitens wird sich die Philosophie im Gegensatz zur Rhetorik als allein fähig darstellen, zwischen dem Wahren und dem Falschen zu unterscheiden. Denn wenn man bei der parrhesia deutlich zwischen dem Wahrsprechen und der Schmeichelei unterscheiden muß, wenn die parrhesia unablässig ihren eigenen Schatten vertreiben muß, der als Schmeichelei auftritt, wer kann dann diese Unterscheidung vornehmen, wenn nicht gerade die Philosophie? Denn die Rhetorik hat zum Ziel, die Zuhörerschaft sowohl vom Wahren als auch vom Falschen, sowohl vom Gerechten als auch vom Ungerechten, sowohl vom Schlechten als auch vom Guten zu überzeugen, während es gerade die Funktion der Philosophie ist, die Wahrheit zu sagen und das Falsche zu vertreiben. Schließlich wird die Philosophie als Inhaberin des Monopols der parrhesia auftreten, insofern sie sich als Einfluß auf die Seelen, als Psychagogie versteht. Anstatt eine Überredungskraft zu sein, die die Seelen von allem und jedem überzeugt, stellt sie sich als eine Tätigkeit dar, die
den Seelen ermöglicht, richtig zwischen dem Wahren und dem Falschen zu unterscheiden und durch die philosophische paideia die notwendigen Mittel bereitzustellen, um diese Unterscheidung durchzuführen. Ich glaube, daß wir jetzt eine Reihe von großen Problemen des philosophischen Denkens, des politischen Denkens in der Antike hervorgehoben haben. Wenn ich nun diese skizzenhafte Zusammenfassung gegeben habe, die gegenüber dem, was ich in den vorhergehenden Vorlesungen gesagt habe, zu kurz und monoton ist, dann hauptsächlich aus zwei Gründen: Der erste besteht darin, daß wir auf dieser Grundlage eine Art von Vogelperspektive auf einige der Hauptaspekte des antiken Denkens bis zur Entwicklung des christlichen Denkens haben. Man könnte - verzeihen Sie den schematischen Charakter - einige dieser Grundprobleme identifizieren. Ich sage nicht, daß alle Aspekte und alle Probleme des antiken Denkens hier enthalten sind, aber ich glaube, daß man im Ausgang von dem Problem der parrhesia eine Reihe solcher Themen identifizieren könnte, die dann mögliche Untersuchungsgegenstände wären. Erste Frage: Was ist der Ort des Wahrsprechens ? Wo kann das Wahrsprechen seinen Platz finden, unter welchen Bedingungen kann und muß man ihm Platz einräumen? Diese Frage läuft auf folgendes hinaus: Welche politische Regierungsform ist für dieses Wahrsprechen am besten geeignet? Die Demokratie oder die Monarchie? Oder vielleicht die autokratische Kaiserregierung, die ausgewogene Kaiserregierung, die ein Gegengewicht durch den Einfluß und die Rolle des Senats erhält ? Betrachten wir beispielsweise den Dialog über die Redner von Tacitus: 3 Es handelt sich dabei in einem gewissen Sinne um eine Reflexion über den Ort und die Bedingungen der parrhesia. Wenn man eine bestimmte Regierungsform zugrundelegt, wo hat dann das Recht des Wahrsprechens, die Möglichkeit des Wahrsprechens, die riskante Verpflichtung des Wahrsprechens ihren Ort? Das ist auch das Problem der Erziehung des Fürsten, das Problem des Ortes, an den jener sich stellen wird, der
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die Wahrheit sagt: Soll er im Vorzimmer des Fürsten sein, um ihn zu erziehen? Soll er Teil einer Versammlung wie des Senats sein? Soll er in einem politischen Zirkel, in einer philosophischen Schule sein? Oder soll er wie die Kyniker auf der Straße wohnen, die Passanten ansprechen und so die sokratische Geste wiederbeleben? Dieses ganze Problem des Ortes des Wahrsprechens im politischen, politisch-sozialen Bereich scheint mir an eine Reihe von Fragestellungen gebunden zu sein, die man im antiken Denken findet, sei es bei den Philosophen, den Moralisten, den Historikern ... Zweitens scheint mir, daß man auch im Ausgang von der Frage nach der parrhesia erkennen kann, wie sich die in der Antike ebenso grundlegende Frage nach den Beziehungen zwischen Wahrheit und Mut oder zwischen Wahrheit und Ethik abzeichnet. Wer ist imstande, eine wahre Rede zu halten? Wie läßt sich die wahre Rede von der schmeichlerischen Rede unterscheiden? Und wie soll vom ethischen Standpunkt, vom Standpunkt seines Muts betrachtet, derjenige beschaffen sein, der diese Scheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen vollzieht? Welche Erziehung ist dazu notwendig? Ein technisches Problem: Worin wird in der Erziehung dann der Punkt bestehen, den es besonders zu betonen gilt? Eine weitere Reihe von Problemen, die im Ausgang von der Frage nach der parrhesia entsteht, wird durch das Problem der Regierung der Seele, der Psychagogie, aufgeworfen. Welche Wahrheiten sind nötig, um sich selbst und die anderen zu führen und um die anderen angemessen zu führen, indem man sich selbst angemessen führt? Welche Praktiken und welche Techniken sind dazu erforderlich? Welche Kenntnisse, welche Übungen usw. ? Schließlich sehen Sie, daß wir hier zu der Frage zurückgeführt werden, die ich vorhin erwähnt habe: An wen und an was soll man sich zur Bildung dieser parrhesia, zur Bestimmung sowohl des Ortes der parrhesia als auch der moralischen Bedingungen, unter denen man die Wahrheit sagen kann, und der Art und Weise der Seelenführung wenden? Eher an den Rhetor oder an den Philosophen? An die Rhetorik oder an
die Philosophie? Schließlich haben wir hier das, was achthundert Jahre lang die große Spaltung innerhalb der antiken Kultur ausmachen wird. Um diese allererste Skizze abzuschließen, möchte ich mich gerne zum Ende des 2. Jahrhunderts begeben und einen Text von Lukian betrachten, der die Beziehungen zwischen Philosophie und Rhetorik auf scherzhafte Weise erörtert. Sie wissen, daß Lukian jener Bewegung angehört, die man die zweite Sophistik nennt und die am Ende des 2. Jahrhunderts die mehr oder weniger künstliche oder gekünstelte Neubelebung einer Reihe von grundlegenden Themen der klassischen griechischen Kultur darstellt. Lukian steht als Neo-Sophist, als zweiter Sophist bzw. als Vertreter dieser Bewegung eher der Rhetorik nahe. Jedenfalls weist er gegenüber der Philosophie, gegenüber der philosophischen Praxis und gegenüber den Philosophen ein Mißtrauen auf, das nie abgeschwächt wird. Trotzdem liegen die Dinge eigentlich etwas komplizierter, und es wäre ungerecht und unzureichend zu sagen, daß Lukian in bezug auf die große Spaltung zwischen der Rhetorik und der Philosophie im Grunde ein Anhänger der Rhetorik und ein Gegner der Philosophie war. Sie kennen vielleicht diesen Text Lukians man hat ihn vor einigen Jahren übersetzt, übrigens schlecht und mit einem unangemessenen Titel (Les Philosophes a l'encan [Philosophen zu versteigern]) -, der, wenn man genau übersetzen wollte, den Titel trägt: Die Messe der Existenzweisen, der Markt der Existenzweisen. 4 Diese Schrift hätte eine ordentliche Herausgabe verdient. Lukian hatte also diesen Text geschrieben, Der Markt der Existenzweisen, der eine Parodie, eine Satire auf jene Philosophen war, die auf dem öffentlichen Platz den Käufern, gegen Bezahlung natürlich, verschiedene Lebensweisen anbieten, zwischen denen sie wählen können. In diesem Text preist jeder Philosoph die Existenzweise an, die er den eventuellen Käufern vorschlägt. Nachdem er diesen Text geschrieben hatte, der offenbar große Verärgerung hervorrief, schreibt Lukian einen zweiten Text, der den Titel Der Fischer oder die aus dem Hades zurückkehrenden Philosophen trägt
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und in dem er sich vorstellt, daß die Philosophen einen Prozeß gegen den Autor von Der Markt der Existenzweisen angestrengt haben. Den Autor, dem der Prozeß gemacht wird, nennt Lukian Parrhesiades (er ist der Mann der parrhesia). Lukian stellt sich also in Gestalt des Parrhesiades als jemand dar, der die Wahrheit sagt. Wer wird nun in diesem Prozeß, den die Philosophen, die über den vorangegangenen Text verärgert sind, gegen Parrhesiades anstrengen, der Schiedsrichter zwischen den Philosophen und Parrhesiades sein? Nun, die Philosophie. Und die Philosophie, die als Richterin zwischen den Philosophen und Parrhesiades angerufen wird, stellt sich nun ihrerseits eine Reihe von beigeordneten Richtern zur Seite. Diese beigeordneten Richter sind: Arete (die Tugend), Dikaiosyne (die Gerechtigkeit), Sophrosyne (die Weisheit oder die Besonnenheit), Paideia (die Bildung, die Erziehung). Schließlich gibt es noch einen fünften der Philosophie beigeordneten Richter: Aletheia (die Wahrheit). Die Wahrheit, die also als Richter ins Gericht berufen wird, dessen Vorsitz die Philosophie führt, um zu entscheiden, ob Parrhesiades wirklich schuldig war, als er die Philosophen auf üble Weise angriff, sagt, daß sie gern zum Gericht kommen wolle, um Parrhesiades zu richten, der von den Philosophen angeklagt wird. Sie verlangt jedoch, daß ihre beiden Gefährtinnen mit ihr kommen: Eleutheria und Parrhesia. Eleutheria ist die Freiheit im allgemeinen. Parrhesia ist die Freiheit des Redens mit dem Risiko, das ein solches Reden mit sich bringt. Interessanterweise willigt Eleutheria (die Freiheit) ein zu kommen. Sie ist nicht nur bereit zu kommen, sondern möchte ohne ihre anderen Gefährtinnen kommen, insbesondere Elenchos (die Argumentation, die Diskussion) und Epideixis (die Lobrede':'). In diesem Moment meldet sich Parrhesia zu Wort und sagt, daß sie gerne käme, um Eleutheria zu begleiten, daß sie aber eine Reihe von Adjutanten bräuchte. Da nämlich die Philosophen, die es zu bekämpfen gilt - oder 'C·
Foucault übersetzt »epideixis« hier mit »eloge«, was eigentlich Lobrede bedeutet. Der Kontext (Argumentation und Diskussion) deutet jedoch darauf hin, daß eher ein Beweis gemeint ist (A. d. Ü.). 3 86
vielmehr die Philosophen, die Parrhesiades attackieren und gegen die er sich zu verteidigen versucht -, Klugredner sind, gut argumentieren können und schwer zu widerlegen sind, bräuchte man Elenchos und Epideixis. Es spielt sich also der Prozeß des Parrhesiades gegen die Philosophen ab, und Zwar unter dem Schiedsgericht der Philosophie selbst und ihrem Gefolge von Richtern. Parrhesiades wird tatsächlich wie bei einem Prozeß verhört: Man fragt ihn nach seinem Namen und seiner Herkunft. Er antwortet, daß er Parrhesiades alethinos sei (Parrhesiades, der Mann der Wahrheit), und bezeichnet sich als philalethes (Freund der Wahrheit), philokalos (Freund der Schönheit), philaploikos (Freund der Schlichtheit). Dann entfaltet er sein Plädoyer, in dem er erklärt, wie und warum er dazu kam, die Philosophen anzugreifen. Er erklärt, daß er wie jeder anständige junge Mann damit begann, die Rhetorik zu studieren. Sobald ich mir aber, so Parrhesiades, der niederträchtigen Eigenschaften bewußt wurde, die ein Redner erwerben soll (nämlich die Lüge, die Unverschämtheit und das Aufbrausen der Stimme), wollte ich außerhalb der stürmischen Auseinandersetzungen zur Philosophie zurückkehren und mein Leben unter ihrem Schutz in ruhigem Hafen ver5 bringen. Sie sehen, daß man in dieser Definition der Philosophie - außerhalb der stürmischen Auseinandersetzungen, ruhiger Hafen usw. - ein Thema findet, das sowohl den Epikuräern als auch den Stoikern und im allgemeinen jeder Moralphilosophie des 1. oder 2. Jahrhunderts gemein ist. Die Metapher ist extrem verbreitet. 6 Man sieht aber auch, daß dieser Rückgriff auf die Philosophie nicht am Anfang steht. Er kommt nach einer Enttäuschung durch die Rhetorik und die Mängel, die der rhetorischen Praxis und den Rednern wesentlich sind. Lukian wird daher nicht die Rhetorik wählen, weil er von der Philosophie enttäuscht wurde, sondern weil er von der Rhetorik enttäuscht wurde, wendet er sich der Philosophie zu. Als er sich der Philosophie zuwendet, wird er sich jedoch eines anderen Mangels bewußt, der gewissermaßen das Gegenstück zu den Mängeln der Redner ist, die in der Lüge, der Unverschämtheit 3 87
und im Aufbrausen der Stimme bestehen. Nun, die Philosophen weisen zweifellos eine völlig redliche Sprache auf, aber sobald man sieht, wie sie wirklich leben, offenbaren sie nur Streit, Ehrsucht, Geiz usw. Deshalb muß man sich von der Philosophie abwenden, wie man sich von der Rhetorik abwendet. Ich habe Sie nur deshalb auf diesen Text hingewiesen, weil er unmittelbar vor der Verbreitung des Christentums und dem Beginn des großen Umschwenkens der antiken Kultur eine der klarsten und humorvollsten Äußerungen des großen Problems ist, das zur Zeit Lukians schon sechs Jahrhunderte hinter sich hatte: das Problem der Philosophie in ihrer Beziehung zur Rhetorik. In den letzten verbleibenden Vorlesungen möchte ich einige der Probleme, über die ich gesprochen habe, wieder aufnehmen: das Problem der Seelenführung, das Problem der Unterscheidung zwischen Schmeichelei und parrhesia, auch das Problem des technischen Gegensatzes, der jedoch mehr als nur ein technischer ist, zwischen der Philosophie und der Rhetorik. Bevor ich beginne, über »Philosophie und Rhetorik« zu sprechen, möchte ich jedoch folgendes hervorheben. In diesem Problem der »Philosophie und Rhetorik« ist gewiß eine Reihe von technischen Fragen gegenwärtig, denen wir uns auch stellen werden. Mir scheint aber auch - das möchte ich Ihnen jedenfalls zeigen, - daß es sich nicht bloß um zwei gegensätzliche Techniken oder Weisen des Redens handelt, sondern wirklich um zwei Seinsweisen des Diskurses, die Anspruch darauf erheben, die Wahrheit zu sagen, und die vorgeben, die Wahrheit in Form der Überzeugung in der Seele der anderen zur Geltung zu bringen. Es handelt sich um die Frage nach der Seinsweise des Diskurses, der vorgibt, die Wahrheit zu sagen, und wenn ich mich bei dieser Frage nach der Seinsweise des Diskurses, der die Wahrheit sagt, aufhalte, dann deshalb, weil das im Grunde die Frage ist, die ich ständig stellen wollte. Was, wie mir scheint, eine Analyse verdient, und zwar eine Analyse, die nicht nur formal, sondern auch historisch ist denn im Hinblick auf diesen Punkt scheinen mir die histori388
schen Analysen verhältnismäßig unzureichend, wenn nicht gar schweigsam zu sein -, ist das Problem dessen, was man die Ontologie oder die Ontologien des Diskurses der Wahrheit nennen könnte. Damit meine ich folgendes: Einen Diskurs, der vorgibt, die Wahrheit zu sagen, muß man nicht bloß an einer Geschichte der Kenntnisse messen, die gestatten würde zu bestimmen, ob der Diskurs die Wahrheit sagt oder nicht. Diese Diskurse der Wahrheit verdienen es, anders als mit dem Maß und vom Standpunkt einer Ideengeschichte aus gemessen zu werden, die sie daraufhin befragt, warum sie das Falsche sagen und der Wahrheit ermangeln. Ich glaube, daß man in einer Geschichte der Ontologien des wahren Diskurses oder des Diskurses der Wahrheit, in einer Geschichte der Ontologien der Veridiktion zumindest drei Fragen stellen müsste. Erstens, was ist die diesem oder jenem Diskurs unter allen anderen eigentümliche Seinsweise, sobald er in die Wirklichkeit ein bestimmtes Spiel der Wahrheit einführt? Zweite Frage: Was ist die Seinsweise, die dieser Diskurs der Wirklichkeit verleiht, über die er spricht, und zwar durch das Spiel der Wahrheit, das er vollzieht? Dritte Frage: Welchen Seinsmodus erlegt dieser Diskurs der Veridiktion dem Subjekt auf, das den Diskurs hält, und zwar so, daß dieses Subjekt dieses bestimmte Spiel der Wahrheit richtig spielen kann? Eine ontologische Geschichte der Wahrheitsdiskurse, eine Geschichte der Ontologien der Veridiktion hätte also an jeden Diskurs, der vorgibt, ein Diskurs der Wahrheit zu sein und seine Wahrheit als Norm geltend zu machen, diese drei Fragen zu richten. Daraus folgt, daß jeder Diskurs, und insbesondere jeder Diskurs der Wahrheit, jede Veridiktion wesentlich als Praxis zu verstehen ist. Zweitens, daß jede Wahrheit auf der Grundlage eines Spiels der Veridiktion verstanden werden soll. Und schließlich, daß jede Ontologie als Fiktion analysiert wird. Das wiederum bedeutet: Die Geschichte des Denkens muß immer die Geschichte besonderer Erfindungen sein. Oder auch: Die Geschichte des Denkens, wenn man sie von einer Geschichte der Kenntnisse unterscheiden will, die in Abhängigkeit von einem Index der 3 89
Wahrheit geschrieben werden würde, wenn man sie ebenfalls unterscheiden will von einer Ideengeschichte, die sich anhand eines Wirklichkeitskriteriums realisieren ließe, nun, diese Geschichte des Denkens - eine solche möchte ich jedenfalls schreiben - muß als Geschichte der Ontologien verstanden werden, die auf ein Prinzip der Freiheit bezogen wäre, wobei die Freiheit nicht als Recht zu sein, sondern als Fähigkeit des Handelns bestimmt wird. Gehen wir nun bei diesen Texten aus dem 4· Jahrhundert, d. h. im wesentlichen bei den Texten Platons, zur Bestimmung des Gegensatzes zwischen dem rhetorischen Diskurs und dem philosophischen Diskurs über, die, wie gesagt, nicht bloß als Diskurse zu verstehen sind, die gegensätzlichen Gesetzen, Prinzipien, besonderen technischen Regeln gehorchen, sondern auch als Seinsweisen des Diskurses der Wahrheit, als Seinsweisen des Wahrsprechens. Um diese Frage zu untersuchen, um sie im platonischen Denken hervortreten zu sehen, werde ich auf zwei Texte zurückgreifen. Der eine ist gewissermaßen der praktische Text der parrhesia schlechthin. Jedenfalls ist es der Text, der als die unmittelbarste Darstellung der parrhesia des Sokrates gilt. Es ist der Text, der sich auf jene Situation bezieht, in der es für Sokrates zugleich am notwendigsten, aber auch am gefährlichsten ist, die parrhesia zu praktizieren, in der die philosophische parrhesia sich zu einem Konflikt auf Leben und Tod mit der traditionellen politisch-juristischen Redekunst zuspitzt. Es handelt sich natürlich um die Apologie. Der zweite Text, auf den ich mich beziehen möchte, um zu versuchen, jenen Seinsmodus des philosophischen Diskurses auszumachen, der dem Seinsmodus des rhetorischen Diskurses entgegengesetzt ist, ist ein Text, der sich von der Apologie stark unterscheidet. In einem gewissen Sinn ist es einer der theoretischsten, auf jeden Fall aber einer der verschnörkeltsten, der zwanglosesten und auch der komplexesten Texte. Es ist ein Text, der nicht als Spiel des Sokrates mit seinem eigenen Leben gegenüber der politisch-juristischen Redekunst erscheint, die ihn töten will. Es ist ein Text, in dem sich die kritische Reflexion auf die Rhetorik 39°
um das Spiel des eros dreht und nicht um Leben oder Tod. Es geht um eine Lobrede auf die Liebe und um zwei Weisen, die Lobrede auf die Liebe anzugehen, über die Liebe nachzudenken, sei es mit den Mitteln der Rhetorik oder mit den Mitteln der Philosophie. Der erste Text ist also die Apologie, ein Text, der in gewisser Hinsicht am einfachsten, am leichtesten, aber, wie gesagt, auch am eindringlichsten ist, weil es sich um Sokrates' Tod handelt. In dieser Passage aus der Apologie des Sokrates - ich habe keineswegs die Absicht, den gesamten Text zu analysieren - kann man das herausstellen, was für eine Analyse des philosophischen Wahrsprechens im Gegensatz zur rhetorischen Rede relevant zu sein scheint. Mir scheint, daß man diesen Gegensatz zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und dem rhetorischen Diskurs in drei Textabschnitten herausarbeiten kann. Ein erster Abschnitt betrifft den Diskurs selbst, die Art und Weise, wie Sokrates seine eigene Rede gegenüber der Rede der Ankläger vorträgt (die ersten Zeilen des Textes). In dem anderen Textabschnitt stellt Sokrates die Frage nach seiner politischen Rolle und versucht, auf den folgenden Einwand zu antworten: Aber warum hast du, der vorgibt, die Wahrheit zu sagen, niemals vor einer Versammlung gesprochen? Ein dritter Textabschnitt betrifft schließlich die Rolle, die er tatsächlich im Staat und in bezug auf die Staatsbürger gespielt hat und die, ohne eine unmittelbar politische Rolle zu sein, für den Staat dennoch wertvoll und wesentlich ist. Die erste Texteinheit ist also jene, in der Sokrates seine eigene Rede als Reaktion auf die Rede der Ankläger vorträgt, nämlich ganz am Anfang der Apologie (auf den ersten Zeilen, 17a-I8a). Von Anfang an beschreibt Sokrates seine Gegner als Leute, die immer nur Falsches gesagt haben. Dennoch haben diese Leute, die niemals ein wahres Wort gesprochen haben, eine Begabung. Sie haben eine Fähigkeit zum Reden, die so beschaffen ist, daß sie erstens ihre Zuhörer überreden können und daß sie sogar, sagt Sokrates lächelnd, ihn selbst beinahe überredet haben, da er gar nicht mehr recht wisse, wer er sei. Worin bestand nun 39 1
diese überredende Lüge, mit der es diesen Leuten, die noch nie die Wahrheit gesagt haben, gelang, ihre Zuhörer und beinahe auch Sokrates selbst zu überreden? Nun, sie bestand darin, die anderen glauben zu machen, daß Sokrates ein fähiger Redner sei, daß er geschickt in der Redekunst sei, daß er diese Kunst beherrsche. Wie stellt sich Sokrates nun im Gegensatz zu diesem von seinen Gegnern gezeichneten Bild dar, das von Redekünstlern entworfen wurde, die nie etwas Wahres sagen, sondern denen es gelingt, alle und beinahe auch Sokrates selbst zu überreden? Gerade als derjenige, der die Wahrheit sagt und der sie immer sagt, und zwar ohne diese Kunst und Technik, die durch das Sprechen ermöglicht, die anderen zu überreden. Sokrates stellt sich als Mann des Wahrsprechens außerhalb jeder techne dar. Wie stellt er das an? Was sind die Merkmale dieses Wahrsprechens außerhalb jeder techne, das für ihn charakteristisch ist? Erstens, sagt er, ist er siebzig Jahre alt. Er wurde noch nie vor Gericht geladen. Er war noch nie Angeklagter oder Ankläger. Damit spielt Sokrates einerseits auf folgendes an: Er gehörte nie einer der politischen Fraktionen an, die miteinander im Streit lagen und sich in Athen nach der Periode der Dreißig bei der Machtausübung abgelöst haben, nämlich nach der Abschaffung und der Rückkehr der Demokratie. [... ] Wenn er jedoch sagt, daß er noch nie vor einem Gericht stand, bedeutet das auch, daß die Rede, die er halten wird, nicht die gewöhnlichen oder gar die konventionellen Formen der Redekunst vor Versammlungen oder Gerichten aufweist. Dabei verwendet er eine interessante Metapher. Er sagt nämlich: Da ich mich an diese Art von Beredsamkeit nie gewöhnt habe, da ich nie an diesem politischen und gerichtlichen Ort der Versammlungen und Gerichte gesprochen habe, erscheine ich nun vor euch wie ein Fremder (xenos).7 Er ist ein Fremder auf diesem politischen Feld. Hier muß man, glaube ich, achtgeben. Einerseits - das ist ein Thema, das in der Gerichtsliteratur der Zeit ganz verbreitet war, man findet es bei Nikias, bei Isokrates, jedenfalls in einer ganzen Reihe von Texten [... ] - beginnt derjenige, der sich vor 39 2
einem Gericht einfindet, im allgemeinen mit den Worten: Ich wurde noch nie vor ein Gericht geladen, ich habe noch nie jemanden angeklagt, ich bin völlig außerstande zu sprechen, und man möge mich entschuldigen, daß ich mich wie ein Fremder vor euch fühle. Das ist ein Thema der Gerichtsliteratur, wodurch der Angeklagte geltend macht, daß er keine große Macht besitzt, daß er weder viele Freunde noch viele Feinde hat, daß er keiner Sippe angehört. Es ist auch ganz einfach eine Weise, das zu verbergen, was die Wahrheit jener gerichtlichen Redekunst war, nämlich daß der Redner im allgemeinen nichts anderes tat, als seine eigene Rede vorzulesen, übrigens auch wenn er diese Aufgabe nicht an andere delegierte. Das heißt, daß die Rede von einem anderen, einem Logographen, geschrieben wurde und daß folglich die Konvention gebot, daß dieser von einem Logographen geschriebene Diskurs folgendermaßen beginnt: Ihr wißt, ich kann nicht besonders gut reden, ich erscheine vor euch, ich bin ganz alleine, ich habe keine Freunde, und ich spreche, wie ich eben kann. Sokrates nimmt dieses Thema wieder auf, er gebraucht es und ahmt es mit folgendem Unterschied nach: In Sokrates' Fall ist es wahr, es ist seine eigene Rede, oder zumindest tut Platon so, als ob es wirklich seine eigene Rede sei, die er vorliest, und daß die fremdartige Rede, die Sokrates in diesem institutionellen politisch-gerichtlichen Rahmen halten wird, eine Rede ist, die diesem Bereich fremd ist. Auf welche Weise fremd? Nun, Sokrates sagt es in einer Passage in 17C-d: Die Sprache, die ich spreche, ist die Sprache eines xenos (eines Fremden), warum? Aus drei Gründen. Erstens ist es die Sprache, die ich jeden Tag auf dem öffentlichen Platz, bei den Händlern oder irgendwo anders verwende. Sokrates' Sprache unterscheidet sich also nicht im Wortschatz, in der Form, in der Konstruktion von der Sprache des Alltags. Das ist der erste Unterschied zur Sprache der Rhetorik. Zweitens ist Sokrates' Sprache, das wird in 17C angedeutet, nichts anderes als die Folge der Wörter und Sätze, die in seinem Geist vorkommen. Ihr werdet mich, sagt er in qc, »reden hören in ungewählten Worten.,,8 Dieses Thema ei393
ner Sprache, die nichts anderes tut, als unmittelbar und ohne Rekonstruktion, ohne Künstlichkeit der Architektur die Bewegung des Denkens selbst zu übersetzen, ist ein Thema, das man bei Platon oder Sokrates mehrfach findet. Im Gastmahl, in 199a-b, sagt Sokrates praktisch dasselbe mit nahezu denselben Worten. 9 Da er seinerseits nun auch eine Lobrede auf die Liebe halten soll, sagt er, daß es wirklich sehr schwierig ist, solche Lobreden zu halten, bei denen von einem erwartet wird, die Sache, auf die man eine Lobrede hält, mit den schönsten Eigenschaften auszustatten. Er fühlt sich dazu außerstande. Statt dessen wird er Wörter (onomata) und eine Anordnung von Sätzen (die Konstruktion des Satzes selbst: thesis!O) benutzen, wie sie gerade kommen (hopoia dan tis tyche epelthousa: wie sie gerade kommen!!). Das dritte Merkmal dieser nichtrhetorischen Sprache des Sokrates (das erste war die Alltagssprache, das zweite die Sprache, wie sie einem in den Sinn kommt) ist folgendes: Es ist eine Sprache, in der er genau das sagt, was er denkt, eine Sprache, in der es im Kern, im Ursprung der Äußerung selbst, einen Akt des Vertrauens gibt, so etwas wie eine Art von Pakt zwischen ihm selbst und dem, was er sagt (pisteuo dikaia einai ha lego: ich vertraue darauf, ich glaube daran, daß die Dinge, die ich sage, gerecht sind!2). Wir haben also drei Merkmale: die Alltagssprache; die Sprache, wie sie einem in den Sinn kommt; die Sprache des Glaubens, der Worttreue und des Vertrauens (der pistis). Man muß nun bemerken - und ich glaube, daß das sehr wichtig ist -, daß diese drei Merkmale des nicht-rhetorischen Diskurses, diese drei Merkmale des philosophischen Diskurses als parrhesia, als Wahrsprechen von Platon oder Sokrates sehr eng miteinander verknüpft werden. Die Alltagssprache zu sprechen, zu sagen, was einem in den Sinn kommt, zu behaupten, was man für gerecht hält, sind drei Dinge, die für Sokrates unbedingt zusammengehören. Eine Stelle bei 17C sagt das sehr deutlich ... Ich finde sie nicht im Text, aber ich habe das Zitat abgeschriebenich hätte lieber das Zitat aus der Bude-Ausgabe gehabt als das, das ich der Pleiade-Ausgabe von Robin 13 entnommen habe 394
und das etwas gewundener ist -: »ohne Schmuck des Wortschatzes und des Stils«, »Dinge, die geradewegs herausgesagt werden in Worten, die mir gerade in den Sinn kommen. Denn ich glaube, was ich sage, ist gerecht«. »Ohne Schmuck des Wortschatzes und des Stils «, »Dinge, die geradewegs herausgesagt werden in Worten, die mir gerade in den Sinn kommen«, »an die Gerechtigkeit glauben«, sie sehen, daß diese drei Dinge von Sokrates als eine konstituierende Einheit zusammengestellt werden, eine Einheit, die für die parrhesia charakteristisch ist. Nun kann man sich natürlich folgende Frage stellen. Eine schmucklose Rede, eine Rede, die Wörter, Ausdrücke und Sätze verwendet, die einem gerade in den Sinn kommen, eine Rede, die der Redner für wahr hält, all das würde für uns jedenfalls eine aufrichtige Rede kennzeichnen, aber nicht notwendig eine wahre Rede; wie kommt es nun, daß für Sokrates oder für Platon das schmucklose Sagen der Dinge, das Sagen der Dinge, wie sie einem in den Sinn kommen, und das Sagen der Dinge in dem Glauben, daß sie wahr sind, ein Kriterium der Wahrheit sein soll? Und warum soll der philosophische Diskurs, insofern er diesen drei Kriterien genügt, ein Diskurs der Wahrheit sein? Das ist die Frage, die sich stellt, und ich glaube, daß man sich hier auf eine Vorstellung beziehen muß - die man bei Platon findet, die jedoch den Rahmen der platonischen Philosophie bei weitem übersteigt und eine Art von allgemeiner Form der griechischen Auffassung der Sprache ist - des logos etymos.!4 Dieser logos etymos, dieser wahrhaftige logos bezieht sich auf jene Idee, daß die Sprache, die Wörter, die Sätze in ihrer Wirklichkeit selbst eine ursprüngliche Beziehung zur Wahrheit haben. Die Sprache, die Wörter, die Sätze tragen bei sich das Wesen (die ousia), die Wahrheit des Wirklichen, auf das sie sich beziehen. Wenn das Falsche sich in den Geist des Menschen einschleicht, wenn die Täuschung die Wahrheit verdeckt oder ihr ausweicht, dann ist das nicht die eigentümliche Wirkung der Sprache als solcher, sondern geschieht im Gegenteil durch einen Zusatz, eine Umwandlung, einen Kunstgriff, eine Ver395
schiebung gegenüber der eigentlichen und ursprünglichen Form der Sprache. Die Sprache, insofern sie etymos ist, ich wollte gerade sagen, insofern sie etymologisch ist, diese Sprache, die frei von jedem Schmuck, jedem Beiwerk, jeder Konstruktion oder Rekonstruktion ist, diese Sprache im unbefleckten Zustand ist der Wahrheit am nächsten, und in ihr drückt sich die Wahrheit aus. Das ist, glaube ich, einer der grundlegendsten Züge der philosophischen Sprache oder, wenn Sie so wollen, des philosophischen Diskurses als Seinsmodus im Gegensatz zum rhetorischen Diskurs. Die rhetorische Sprache ist eine gewählte Sprache, auf solche Weise hergerichtet und konstruiert, daß sie ihre Wirkung auf den anderen ausübt. Der Seinsmodus der philosophischen Sprache ist es, etymos zu sein, d. h. in einem solchen Grade schmucklos und einfach zu sein, in einem solchen Grade mit der Bewegung des Denkens übereinzustimmen, daß sie ohne Schmuck, so wie sie in Wahrheit ist, dem, worauf sie sich bezieht, angemessen ist. Sie wird dem, worauf sie sich bezieht, angemessen sein, und sie wird auch mit dem übereinstimmen, was ihr Sprecher denkt und glaubt. Der logos etymos als Verbindungspunkt zwischen der aletheia, die sich in ihr ausspricht, und der pistis (dem Glauben, dem Vertrauen) dessen, der ihn äußert, kennzeichnet die philosophische Seinsweise der Sprache. Während die Seinsweise der rhetorischen Sprache darin besteht, einerseits nach einer Reihe von Regeln und Techniken (nach einer techne) konstruiert zu sein und sich andererseits an die Seele des anderen zu wenden, kommt die philosophische Sprache ohne diese Kunstgriffe, ohne diese technai aus. Sie ist etymos, und da sie etymos ist, sagt sie zugleich das Wahre des Wirklichen und auch das, was in der Seele dessen ist, der sie äußert, was seine Seele denkt. Eine Beziehung zum sprechenden Subjekt und nicht eine Beziehung zum angesprochenen Subjekt zeichnet die Seinsweise dieser philosophischen Sprache aus im Gegensatz zur rhetorischen Sprache. Hier haben wir also eine erste Gruppe von Hinweisen und Überlegungen, die man zum philosophischen Wahrsprechen in der Apologie des Sokrates finden kann.
Die zweite Gruppe von Überlegungen, hatte ich Ihnen gesagt, bezieht sich auf die politische Rolle, die Sokrates innehatte. Diese Textstellen finden Sie in 3 IC bis Fa. Sokrates soll eine Frage zu seiner politischen Rolle beantworten. Er nimmt an, daß seine Gegner ihm folgende Frage stellen: Wohlan, du gibst vor derjenige zu sein, der die Wahrheit sagt, aber wie kannst du diese Rolle des Wahrsprechens, des Parrhesiasten (das Wort kommt hier zwar nicht vor, aber auf genau diese Funktion wird abgezielt, wie Sie gleich sehen werden) in Anspruch nehmen? Wie kannst Du sagen, daß du der Mann bist, der die Wahrheit sagt, während du doch niemals dem Volk und vor der Versammlung Ratschläge erteilen wolltest? Du sagst, daß du die Wahrheit sprichst, und hast doch diese Funktion des Beraters, der Person, die sich vor der Versammlung hervortut, auf die Tribüne steigt, seine Meinungen kundgibt, niemals gespielt. Worauf Sokrates unmittelbar antwortet: Warum habe ich nie diese Rolle eines öffentlichen Ratgebers gespielt, warum bin ich nie ein politischer Parrhesiast gewesen? Nun, sagt er, wenn »ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staats geschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umgekommen und hätte weder euch etwas genutzt noch auch mir selbst.«15 In der Tat, fährt Sokrates fort, wenn man sich in einen heftigen Gegensatz zu euch stellt, riskiert man sein Leben. Und wenn man seine eigene Existenz sichern will, muß man »ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches.«16 Sie sehen, daß wir hier noch einmal, ohne daß das Wort ausgesprochen wird, eines der grundlegendsten und der geläufigsten Themen dieser Zeit im Hinblick auf die parrhesia haben, nämlich daß die athenische Demokratie nicht so funktioniert, wie sie sollte oder nur schlecht funktioniert, weil jene, die die Verpflichtung, die Rolle des Parrhesiasten zu spielen, spüren könnten oder sollten, so sehr in ihrem Leben bedroht sind, daß sie es vorziehen, darauf zu verzichten. Auf dieses schlechte Funktionieren der parrhesia in der Demokratie - ein klassisches Thema jener Zeit - bezieht sich Sokrates. Man wird bestraft, wenn man sich der Mehrheit widersetzt. Erinnern Sie sich, wir hatten in einem
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Text von Isokrates genau dasselbe gefunden. Interessant ist nun aber, daß Sokrates keinerlei Interesse daran hat, sich der Gefahr auszuliefern, die die schlechte Demokratie für die parrhesia bedeutet. In seinen Augen lohnt sich die Mühe nicht, eine solche Gefahr zu riskieren. In einer Situation wie dieser stellt die parrhesia keine Verpflichtung dar. Und daher hat sich Sokrates nie bei der Versammlung eingefunden, um seine Mitbürger zu beraten und ihnen seine politischen Meinungen mitzuteilen. Nun sagt aber Sokrates - um diese fehlende Teilnahme, diesen Bruch des Spiels der parrhesia, diesen Verzicht auf die parrhesiastische Funktion zu erklären, die normalerweise die Rolle von jemandem sein könnte, der vorgibt, seinen Mitbürgern die Wahrheit zu sagen - sehr deutlich, daß, wenn er diese parrhesiastische Rolle nicht gespielt hat, dann deshalb, weil man ihm den Befehl gab, sie nicht zu spielen. Und derjenige, der ihm den Befehl gab, diese parrhesiastische Funktion, dieses Wahrsprechen in der Politik nicht zu spielen, ist sein daimon, jener daimon, von dem er in diesem Text, aber auch in anderen sagt, daß er ihm nie einen positiven Befehl erteilt, ihm nie sagt, daß er dieses oder jenes tun soll, sondern ihn bloß warnt, wenn er etwas nicht tun soll.17 Und gerade sein daimon hat ihn gewarnt, daß er nicht versuchen solle, die Wahrheit gewissermaßen direkt und unmittelbar im Bereich der Politik zu sagen. Das ist einer der ersten Aspekte dessen, was Sokrates über seine politische Rolle sagt. Es gibt aber einen weiteren Aspekt, denn sogleich fügt er hinzu, daß er Mitglied des Rates gewesen war und im Namen seines Stammes der Antiochier die Funktion des Prytanen auszuüben hatte. Das sind keine Funktionen, die man fordert oder verlangt, sondern die einem durch das Los und durch die Rotation der Funktionen zwischen den verschiedenen Stämmen zufallen. Hier war er also gewissermaßen verpflichtet, eine bestimmte Funktion auszuüben. Und in diesem Rahmen mußte er etwas unter Beweis stellen, was wir gleich noch betrachten werden. Zweitens war er nach der zeitweiligen Aufhebung der Demokratie und während der vorübergehenden Diktatur der
Dreißig auch mit einer Mission beauftragt. Diese Mission bestand darin, jemanden zu verhaften. Nun hat er sich in diesen beiden Fällen, als er Ratsmitglied und sogar Prytane war und als er von den Dreißig mit einer Mission beauftragt wurde, einerseits geweigert, das zu tun, was die Mehrheit wollte, und andererseits das abgelehnt, was die Diktatoren ihm auferlegen wollten. Während die Mehrheit der Ratsversammlung zur Zeit, als er Prytane war, wollte, daß die Generäle, die nach der Schlacht bei den Arginusen die Leichen nicht begraben hatten, kollektiv verurteilt werden, will Sokrates diese Rechtswidrigkeit nicht billigen - denn das athenische Recht sah diese Art von kollektiver Verantwortung nicht vor - und stellte sich gegen die Mehrheit der Ratsversammlung. Als dann die Dreißig von ihm verlangten, jemanden auf Salamis zu verhaften (Leon von Salamis), haben diejenigen, die zusammen mit Sokrates beauftragt waren, diese Verhaftung durchgeführt, während er es vorzog, schlichtweg nach Hause zu gehen, anstatt diesen ebenfalls rechtswidrigen Befehl auszuführen. Das Interessante an diesen beiden Geschichten ist natürlich einerseits ihr Gegensatz zu dem, was zuvor gesagt wurde (darüber, daß sein daimon ihm gesagt hatte »mische dich nicht in die Politik ein«), und dann auch, daß in diesen beiden Geschichten - derjenigen, die sich zur Zeit der Demokratie, und der anderen, die sich während der Tyrannei ereignet - der Einsatz oder das Problem im Grunde dasselbe war. Ob in der Demokratie oder in der Tyrannei - ob es sich um eine Regierungsform von Parteien und Fraktionen handelt oder um eine Oligarchie -, befand sich Sokrates in einer bestimmten Situation, die insgesamt auf dasselbe hinauslief. Die parrhesiastische Funktion oder Rolle scheint hier von derselben Art zu sein, gleichgültig wie die Regierungsform (Demokratie oder Tyrannei, der Unterschied ist unwesentlich) beschaffen ist. Im einen wie im anderen Fall zeigt Sokrates deutlich, daß er sein Leben riskiert. Als er Prytane war und es darum ging, die Generäle der Schlacht bei den Arginusen zu verurteilen, sagte er: »[ ...] so glaubte ich doch, ich müßte lieber mit dem Recht und dem Ge-
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setz die Gefahr bestehen, als mich zu euch gesellen in einem so ungerechten Vorhaben aus Furcht des Gefängnisses oder des Todes.«18 Und als es dann um den Befehl der Tyrannen ging: »Auch da nun zeigte ich wiederum nicht durch Worte, sondern durch die Tat, daß der Tod, wenn euch das nicht zu bäurisch klingt, mich auch nicht das mindeste kümmerte.«19 Wir haben also dasselbe sowohl in der Demokratie als auch in der Tyrannei: Er war bereit, sein Leben zu riskieren. Dann kann man sich aber fragen, worin der Unterschied besteht, da Sokrates uns ja gerade erklärt hat, daß er weder seine Meinung dem Volk mitteilen noch ihm Ratschläge erteilen wollte, weil er dabei sein Leben riskiert hätte, während er nun zwei Situationen erwähnt (in der Demokratie und in der Tyrannei), wo er tatsächlich dazu bereit war, sein Leben zu riskieren. Warum soll man es im einen Fall riskieren und im anderen Fall nicht? Nun, ich glaube, daß der Unterschied leicht einleuchtet, wenn man die Texte betrachtet und sieht, auf welche Situation sich die beiden Dinge beziehen. Wenn er im einen Fall sagt, daß er der Ratsversammlung keine Ratschläge erteilen wollte, weil es zu gefährlich sei, sich der Mehrheit zu widersetzen, handelt es sich um eine parrhesia, die wie eine direkte politische Macht ausgeübt wird, als Einfluß, den man auf die anderen nimmt. Es handelt sich um eine politische Tätigkeit als Eingreifen eines Bürgers, der sich, um den Ausdruck aus dem Ion von Euripides zu übernehmen, in den proton zygon (den ersten Rang) stellt. 20 Dieses absichtliche politische Eingreifen, durch das der Mensch, der Parrhesiast, versuchen wird, einen gewissen Einfluß auf die anderen zu nehmen, um die Wahrheit zu sagen, gehört zur Politik und nicht zur Philosophie. Der Philosoph als solcher hat sich gerade nicht in diese Position zu begeben, die darin besteht, Einfluß auf die anderen zu nehmen, indem den politischen Akteuren ein politischer Rat innerhalb des Feldes der Politik gegeben wird. Hier begegnen wir wieder jenem Thema, das etwas später von Platon in seinem VII. Brief entwickelt werden sollte und bei dem wir gesehen haben, daß Platon dem Politiker keine politi-
schen Ratschläge erteilte, die dieser in der Politik anwenden könnte. Wir sahen deutlich, daß Platons philosophischer Diskurs kein Diskurs war, der gewissermaßen das Feld der Politik gestalten sollte, als ob die Philosophie im Besitz der Wahrheit über die Politik wäre. Platon lehnt es ab, im Bereich der Politik und vor der Ratsversammlung denen, die Entscheidungen treffen sollen, Ratschläge zu geben. Die philosophische parrhesia wird also nicht von dieser Art sein. Im Bereich der Politik sagt sie der Politik die Wahrheit nicht. Dennoch - und das ist die zweite Einstellung, die er zur Politik hat - bleibt ihm die Rolle des Parrhesiasten zu spielen übrig, sogar um den Preis seines Lebens. Tatsächlich ging es in der ersten Situation nicht um eine direkte und unmittelbare Handlung, durch die der Philosoph den Politikern gesagt hätte, was zu tun sei. Vielmehr war er innerhalb eines Systems, eines Spiels gefangen, nämlich des Spiels der politeia. Die Verfassung Athens, die gesellschaftliche und politische Struktur Athens, war dafür verantwortlich, daß er zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Stellung als Ratsmitglied und als Prytane innehatte. Außerdem wurde er während der Tyrannei - das läuft schließlich auf dasselbe hinaus - dazu auserwählt, dieses und jenes zu tun. In diesem Moment, wo man innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen und politischen Feldes von ihm verlangt, etwas zu tun, wo er also eine Tätigkeit auszuüben hat, die durch die Stellung bestimmt wird, die ihm zugeteilt wurde, ist die parrhesia möglich. Besser noch, sie ist notwendig. Denn, wenn er von dieser parrhesia keinen Gebrauch machen würde, was würde dann geschehen? Dann würde er selbst eine U ngerechtigkeit begehen. Aufgrund der Sorge um sich selbst, indem er sich um sich selbst kümmert, aus Sorge darum, was er selbst ist, weigert er sich, diese Ungerechtigkeit zu begehen. Und gerade dadurch läßt er eine Wahrheit glänzen. Im ersten Fall hat der Philosoph als solcher den Staat nicht daran zu hindern, Dummheiten oder Ungerechtigkeiten zu begehen. Wenn er dagegen aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Staat - entweder als Bürger in einer Demokratie oder als Bürger oder Untertan
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einer tyrannischen oder despotischen Macht - einen bestimmten Auftrag hat, wenn das zu begehende Unrecht ein Unrecht wäre, das er selbst beginge, und zwar entweder in seiner Rolle als Bürger oder als Untertan, dann muß der Philosoph nein sagen. Der Philosoph muß nein sagen und muß sein Prinzip der Weigerung, das zugleich eine Manifestation der Wahrheit ist, ins Spiel bringen. Sie sehen, daß im ersten Fall, in der Form der direkten politischen Tätigkeit, die sokratische parrhesia negativ und persönlich ist. Es geht darum, auf jeglichen Einfluß auf die anderen und auf die politische Macht zu verzichten. Andererseits muß der Philosoph in einem politischen Feld, das nicht durch den Einfluß bestimmt wird, den man auf die anderen nimmt, sondern durch die eigene Zugehörigkeit zum Inneren eines politischen Bereichs, Parrhesiast sein, insofern die Formulierung und das Hervortreten jener Wahrheit vor dem bewahren kann, was es für ihn schlechthin zu vermeiden gilt, nämlich selbst Akteur der Ungerechtigkeit zu sein. Sie sehen, daß es hier Nachwirkungen hiervon kann man in dem finden, was ich letztes Mal im Hinblick auf das regierende und das philosophierende Subjekt gesagt habe - wieder um die Frage nach dem Subjekt, nach dem politischen Subjekt geht. Die Philosophie kümmert sich nicht um die Politik, nicht einmal um die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit im Staat, sondern um die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit, insofern sie von jemandem begangen werden, der ein handelndes Subjekt ist, der als Bürger handelt, der als Subjekt handelt und eventuell auch als Herrscher. Die Frage der Philosophie ist nicht die Frage der Politik, sondern die Frage des Subjekts in der Politik. Ich möchte nur noch eines hinzufügen. In den beiden erwähnten Fällen (der Schlacht bei den Arginusen und der Weigerung, im Sinne der Mehrheit abzustimmen, aber auch im Fall des von den dreißig Tyrannen erteilten Befehls, jemanden zu verhaften) habe ich gesagt, daß Sokrates von seiner parrhesia Gebrauch gemacht hat. Sie können mir entgegenhalten, daß es sich dennoch um eine schweigsame parrhesia handelte, weil er gerade
nicht das Wort ergriffen hat. Er hat sich nicht hervorgetan und dem Volk erklärt, warum es ungerecht war, die Generäle der Schlacht bei den Arginusen zu verurteilen. Er hatte den dreißig Tyrannen auch nicht öffentlich gesagt, daß die Verhaftung Leons von Salamis ungerecht war. Er hat sich damit begnügt, es zu zeigen. Übrigens sagt es der Text selbst: Ich habe mein Leben ergo, nicht logo riskiert (nicht durch die Rede, sondern durch eine Tatsache),2l ein Ausdruck, der, wie Sie wissen, äußerst geläufig ist und der das, was man nur in Worten tut, dem entgegenstellte, was in Wirklichkeit getan wird. Hier meint Sokrates also, daß er sich nicht damit begnügt hat, nur geltend zu machen, daß er sein Leben riskierte, sondern er hat es wirklich riskiert. Es ist aber zu bemerken, daß er diese Wahrheit keineswegs logo - und hier verwende ich den Ausdruck im strengen Sinn - d. h. keineswegs durch den logos geltend gemacht hat, sondern ergo. Was in Frage steht, ist das ergon, d. h. was er getan hat. Er hat sich einerseits damit begnügt, gegen die Mehrheit zu stimmen. Im anderen Fall, als man ihm den Befehl erteilte, jemanden zu verhaften, ist er ganz einfach nach Hause gegangen. Er ist vor aller Augen nach Hause gegangen, nicht mehr und nicht weniger. Sie sehen, daß wir hier ein anderes wichtiges Element haben. Das erste war die Tatsache, daß die philosophische parrhesia, wie sie bei Sokrates erscheint, nicht direkt und unmittelbar eine politische parrhesia ist. Es handelt sich vielmehr um eine parrhesia, die gegenüber der Politik zurücksteht. Zweitens ist es eine parrhesia, bei der es um das Heil des handelnden Subjekts geht, und nicht um das Heil des Staats. Schließlich ist der dritte Punkt, daß diese philosophische parrhesia weder notwendig noch ausschließlich über den logos, über das große Ritual der Sprache verläuft, durch das man sich an die Gesamtheit oder auch an einen einzelnen wendet. Schließlich kann die parrhesia auch in den Dingen selbst erscheinen, sie kann in den Weisen des Handelns und in den Weisen des Seins hervortreten. So ist dieses berühmte Thema verankert, das dann in der ganzen Geschichte des Denkens und vor allem in der antiken Phi-
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losophie so wichtig werden wird, das Problem der philosophischen Einstellung. Akteur der Wahrheit, Philosoph zu sein und als Philosoph für sich das Monopol der parrhesia in Anspruch zu nehmen, das bedeutet nicht nur zu beanspruchen, daß man die Wahrheit im Unterricht, in den Ratschlägen, die man erteilt, in den Reden, die man hält, äußern kann, sondern daß man wirklich, in seinem Leben, ein Akteur der Wahrheit ist. Die parrhesia als Lebensform, die parrhesia als Verhaltensmodus, die parrhesia, die sich bis auf die Kleidung des Philosophen erstreckt, stellen konstitutive Elemente dieses philosophischen Monopols dar, das die parrhesia für sich in Anspruch nimmt. Sie erinnern sich vielleicht, als wir letztes Jahr über Epiktet sprachen, sind wir mehrmals jener Person begegnet, die für Epiktet so charakteristisch ist, nämlich dem kleinen, jungen Mann, der etwas zu sehr frisiert, etwas zu sehr parfümiert, etwas zu sehr hergerichtet ist und der immer ein Rhetor ist. Er ist ein Rhetor, und er ist geschmückt, weil er als Rhetor gerade der Mann des Schmucks ist. In seiner Weise zu sprechen, in seiner Kleidung, in seiner Weise zu sein, in seinem Geschmack und seinen Vergnügungen ist er jemand, der nicht die Wahrheit sagt, ist er ein anderer als er selbst. Er ist der Mann der Schmeichelei, der Mann des Parfüms, der verweichlichte Junge. 22 Dagegen ist der Philosoph gerade derjenige, der in diesem Diskurs - dem etymos Diskurs - nicht nur die Wahrheit sagt, sondern auch derjenige, der die Wahrheit sagt, der sie verkörpert, der in seiner Seinsweise die Person der Wahrheit ist. Und diese Wahrheit wird natürlich auch ab [... ':.] in der bärtigen Männlichkeit bestehen. Alle Themen des parrhesiastischen Philosophen - der Philosoph als jemand, der gegenüber der Politik zurücksteht, der sich um das Subjekt und nicht um den Staat kümmert und der schließlich die Wahrheit durch das, was er ist, genauso sehr verkörpert, wie durch das, was er sagt (durch das ergo so sehr wie durch das logo) - erscheinen in diesen Texten der Apologie sehr deutlich. Ich werde dann nachher >,.
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das, was ich über die Apologie sagen wollte, abschließen, und wir werden, wenn mir Zeit bleibt, zum Phaidros übergehen.
Anmerkungen I V gl. z. B. Gorgias 46}a, Phaidros 24ob, zu diesem Punkt aber auch die Vorlesung vom 10. März 1982 (in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S·45 6-4 60 ). 2 Plutarch, »Comment distinguer le flatteur de l'ami (Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet)«, in: CEuvres morales, Bd. I-2, übers. v. A. Philippon, Paris 1989. 3 Tacitus, Dialog über die Redner, übers. v. H. Gugel, Stuttgart 1969. 4 Lukian, »Der Verkauf der philosophischen Sekten«, in: Sämtliche Werke, Bd. I, München u. Leipzig, 191 I, S. 153-224 (zu einer weiteren Erwähnung des Textes vgl. Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 124). 5 »Ich hatte die Profession eines gerichtlichen Redners nicht lange getrieben, als mich die Erfahrung überzeugte, daß Betrug, Lügen, unverschämte Dreistigkeit, Geschrei, Schikanen und tausend solche häßliche Dinge von dieser Lebensart unzertrennlich sind. Ich machte mich also, wie billig, davon los, und angezogen von allem, was du, 0 Philosophie, Edles und Schönes hast, beschloß ich den Rest meines Lebens, gleich einem, der sich aus Sturm und Wogen in eine windstille Bucht geborgen hat, unter deinem Schirme zu verleben« (Lukian, Der Fischer oder die wieder auferstandenen Philosophen, in: Sämtliche Werke, Bd. I, übers. v. C. M. Wieland, bearbeitet und ergänzt v. H. Floerke, München und Leipzig 191 I, S. 348). 6 Für eine erste Analyse dieser Metaphern vgl. Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 309-3 I r. 7 »Denn so verhält sich die Sache: Jetzt zum erstenmal trete ich vor Gericht, da ich über siebzig Jahr alt bin; ganz ordentlich also bin ich ein Fremdling in der hier üblichen Art zu reden (atechnos oun xenos echo tes enthade lexeos)« (Platon, Des Sokrates Verteidigung, I7d, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Heidelberg 1982, S. 7-8). 8 Ebd. I7c, S. 7. 9 »Aber die Wahrheit will ich euch vortragen, wenn ihr wollt, in meiner Weise, und nicht in der eurer Reden, damit ich nicht Lachen errege« (Platon, Das Gastmahl, I99a-b, übers. v. Franz Susemihl, Heidelberg 1982, S.693)· 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Platon, Des Sokrates Verteidigung, I7C, a. a. 0., S.7. 13 Platon, Apologie de Socrate, in: CEuvres completes, Bd.I, übers. v. L. Robin, Paris 1950, S.147 (»ni possedant non plus, comme le leur, toutes
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les parures du vocabulaire et du style, mais plut6t des choses dites ... «), dt.: "keineswegs Reden aus zierlich erlesenen Worten, gefällig zusammengeschmückt und aufgeputzt, wie dieser ihre waren, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hören in ungewählten Worten«, 17C, a. a. 0., S. 7. »Unwahr ist diese Rede (ouk est' etymos logos houtos)!« (Platon, Phaidros, 24 Ja, in: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 4, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1958, S. 24, Zitat von Stesichoros, das in 244a wieder aufgenommen wird, S. 25). Platon, Des Sokrates Verteidigung, 3 le, a. a. 0., S. 24Ebd., Fa, S. 24. Ebd., 3 Id, S. 24· Ebd., FC, S.25. Ebd., Fd, S.25· Euripides, Ion, Vers 595, a. a. 0., S. 28. "Tüchtige Beweise will ich euch hiervon anführen, nicht in Worten (ou logous), sondern was ihr höher achtet, Tatsachen (erga)«, 32a, a. a. 0., S.24Epiktet, Entretiens, III, I, übers. v. Joseph Souilhe, Paris 1963, S. 5. Zur Analyse dieses Texts vgl. die Vorlesung vom 20. Januar 1982, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 130.
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(Sitzung vom
Vorlesung 9 März 1983, zweite Stunde)
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Abschluß der Studie von Sokrates' Apologie: der Gegensatz parrhesia/ Rhetorik. - Studie des Phaidros: allgemeine Gliederung des Dialogs. - Die Bedingungen des richtigen logos. - Die Wahrheit als beständige Funktion des Diskurses. - Dialektik und Psychagogie. - Die philosophische parrhesia.
Ich möchte nun ganz kurz abschließen, was ich über die Apologie sagen wollte, da es sich dabei um Dinge handelt, die einerseits wohlbekannt sind und die andererseits letztes Jahr behandelt wurden. Ich wollte zeigen, daß die sokratische parrhesia keineswegs in dem Unternehmen besteht, das Wahre im Bereich der Politik über und in bezug auf politische Entscheidungen zu sagen, sondern daß sie gewissermaßen eine Funktion der Trennung von der eigentlichen politischen Tätigkeit ist. Diese Trennung ist durch das Verbot des daimon gekennzeichnet, zugleich aber auch durch die Verpflichtung, die Wahrheit gegenüber diesem Bereich der Politik ins Spiel zu bringen, sobald die Umstände im politischen Bereich es erfordern, daß derjenige, der sich in diesem Bereich bewegt, Gefahr laufen würde, selbst zum Subjekt einer ungerechten Handlung zu werden. Das wird im Absatz 28b deutlich gesagt: Ein Ehrenmann darf nicht abwägen, wie groß die Gefahr für sein Leben ist. »[Er] müsse [...] vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob es eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten.«;! und in 28d: »Wohin jemand sich selbst stellt [es handelt sich hier gerade um die Stellung, die Sokrates als Prytane innehatte oder um die Stellung der Autorität, die ihm von den Tyrannen verliehen wurde; M. F.], in der Meinung, es sei da am besten, oder wohin einer von seinen Obersten gestellt wird, da muß er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und weder den Tod noch sonst irgend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande.«2 Die Frage, die sich jetzt stellt, ist nun, ob die parrhesia sich darauf beschränkt, diese Zäsur gegenüber dem Bereich der Politik zu 4°7
kennzeichnen, und zwar durch einen Schnitt, in dessen Verlauf die Wahrheit sich entweder logo (durch den Dikurs) oder ergo (durch die Tat, die Tatsache, das wirkliche Verhalten) zeigen wird. Sie wissen, daß in der Apologie auf diese Frage eine ganze Reihe von Textstellen antworten, in denen gezeigt wird, daß es für den Philosophen eine parrhesiastische Rolle zu spielen gibt, die nicht darin besteht, vor der Ratsversammlung das Wort zu ergreifen, die aber auch etwas anderes als die bloße, offensichtliche und ausdrückliche Weigerung ist, zu einer ungerechten Person zu werden. Es gibt eine eigentlich philosophische parrhesia, die, wie Sie wissen, beschrieben wird, wenn Sokrates von der Aufgabe spricht, die ihm nicht von dem daimon (der sich damit begnügt, negative Befehle zu geben, nämlich zu sagen: tue nicht dieses oder jenes), sondern von dem Gott, den Orakeln, den Träumen und allen Hilfsmitteln anvertraut wurde, deren sich eine göttliche Macht bedienen kann. 3 Es ist diese Aufgabe, die er sich entschlossen hatte, bis zu seinem letzten Atemzug zu verfolgen, an die er seine Existenz geknüpft hat, für die er jede Bezahlung und Zuwendung ablehnt. Ich gehöre nicht zu jenen, die reden, wenn man sie bezahlt, und die nichts sagen, wenn man sie nicht bezahlt. Er steht jedermann zur Verfügung, dem Reichen wie dem Armen, vorausgesetzt, daß er zuhören will. So wird dieser Pakt des Zuhörens, das notwendig ist, noch bevor die philosophische Aufgabe beginnt, und das schon vorausgesetzt wird, im Text bezeichnet. Wie wird nun der Philosoph auf dieses Zuhören und auf diese Forderung der anderen reagieren? Auf Befehl des Gottes selbst wird er antworten, indem er die, denen er begegnet, ermahnt, sich nicht um Ehren, Reichtümer oder Ruhm zu kümmern, sondern um sich selbst - das ist die epimeleia heauton, wie Sie wissen. Sich um sich selbst zu kümmern besteht zunächst und vor allem darin, zu wissen, ob man das, was man weiß, wirklich weiß oder ob man es nicht weiß. Philosophieren, sich um sich selbst kümmern, die anderen zu ermahnen, sich um sich selbst zu kümmern, und zwar dadurch, daß man untersucht, prüft und
auf die Probe stellt, was die anderen wissen und was nicht, darin besteht die philosophische parrhesia, die nicht einfach nur ein Diskursmodus, eine Diskurstechnik ist, sondern das Leben selbst. Ich muß, so Sokrates, "in Aufsuchung der Weisheit mein Leben [hinbringen] [zen philosophounta kai exetasonta emauton kai tous allous: und in der Untersuchung und Prüfung; M. E] und in Prüfung meiner selbst und anderer.«4 Das ist die philosophische parrhesia, und diese Prüfung seiner selbst und der anderen ist für den Staat nützlich, weil Sokrates als Parrhesiast inmitten des Staates diesen am Schlafen hindert. Und, so sagt er weiter, wenn ihr mich zum Tode verurteilt, wißt ihr sehr wohl, daß ihr den Rest eures Lebens schlafend verbringen werdet. Diese Funktion, die gar keine politische Funktion, sondern die im Hinblick auf die Politik notwendig ist, die zwar für das Funktionieren, für die Regierung des Staats nicht erforderlich ist, aber für das Leben des Staates und für seinen NichtSchlaf (für das Wachen des Staates, für das Wachen über den Staat), kennzeichnet die philosophische parrhesia. Sie sehen auch, daß diese philosophische parrhesia Stück für Stück dem entgegengesetzt ist, was den rhetorischen Diskurs auszeichnet. Es geht bei der philosophischen parrhesia nicht um einen Diskurs, der im Bereich der Politik, am eigentlichen Ort der Politik, in den Versammlungen oder in den Gerichten auszuüben wäre. Es handelt sich um einen Diskurs, der gegenüber dem Ort des rhetorischen Diskurses zurücksteht und von ihm abgetrennt ist, und dennoch ist es ein Diskurs, der sich eventuell und in bestimmten Fällen gegenüber den Entscheidungen der Politik zur Geltung bringen muß. Zweitens ist es ein Diskurs, der sich gewissermaßen nicht durch sein Ziel auszeichnet, das darin bestünde, die anderen zu überreden. Er zeichnet sich von seinem Ursprung her viel stärker durch die Tatsache aus, daß er etymos ist, d. h. daß er in seiner Spontaneität und Einfachheit keine andere Form hat, als so nahe wie möglich an der Wirklichkeit zu sein, auf die er sich bezieht. Es ist ein Diskurs, der seine Kraft (seine dynamis) nicht der Tatsache verdankt, daß er überredet. Er verdankt seine dynamis der
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Tatsache, daß er zu dem Sein selbst gehört, das ihn hervorbringt. Schließlich ist der philosophische Diskurs drittens kein Diskurs, der Anspruch auf Wissen erhebt und, indem er einen solchen Anspruch erheben würde, den anderen, der nicht weiß, zu überzeugen versucht. Er ist im Gegenteil ein Diskurs, der sich in jedem Augenblick unablässig seitens desjenigen, der ihn hält, sowie desjenigen, an den er gerichtet ist, auf die Probe stellt. Er ist eine Prüfung sowohl seiner selbst als auch desjenigen, der spricht, sowie desjenigen, zu dem man spricht. Das ist in groben Zügen das Thema der philosophischen parrhesia, die, wie Sie sehen, sich mit Themen überschneidet, die ich letztes Jahr angesprochen habe. Ich habe diese Dinge nun kurz behandelt und möchte jetzt zum Phaidros kommen, dem anderen Text, bei dem ich verweilen möchte, um zu sehen, wie sich bei Platon der Gegensatz zwischen dem philosophischen und dem rhetorischen Diskurs abzeichnet. Gewiß gibt es bei Platon nicht nur die Apologie und den Phaidros, die von diesen Problemen handeln. In einem gewissen Sinn durchzieht das Problem von Philosophie und Rhetorik Platons gesamtes Werk. Um der Knappheit willen nehme ich diese beiden Texte, die ich aus den zuvor genannten Gründen ausgewählt habe: hier ist es gewissermaßen der praktische Diskurs, in dem Sokrates seine eigene parrhesia im Hinblick auf sein eigenes Leben ins Spiel bringt; dort wird sich dagegen die Philosophie, die Kunst des Philosophierens angesichts der raffiniertesten Formen dessen darstellen, was sich als Kunst der Rhetorik ausgibt. Es handelt sich also nicht um Leben und Tod des Sokrates, sondern um die Liebe. Sie wissen verzeihen Sie, daß ich an diese Banalitäten erinnere -, daß der Phaidros, grob gesagt, um vier große Brennpunkte herum angeordnet ist. Zuerst haben wir die Rede des Lysias (jene Rede, die Phaidros in seiner Tasche bzw. in den Falten seines Mantels hatte und die ihn, als er sie hörte, so stark bezaubert hatte, daß er sie auswendig lernen wollte). Neugierig geworden, bittet Sokrates Phaidros, ihm die Rede des Lysias vorzulesen, und diese Rede hat zum Thema, daß ein Knabe seine Gunst eher dem
Mann erweisen soll, der ihn nicht liebt, als dem, der ihn liebt. Auf diese widersinnige Rede des Lysias wird Sokrates antworten - jedoch nicht, ohne sich bitten zu lassen -, daß er selbst nicht wirklich in der Lage sei, so schöne Lobreden zu halten. Er hält aber eine Rede, die gewissermaßen die Antwort und das Gegenstück und bis zu einem gewissen Grad eine Nachahmung derjenigen ist, die er gerade aus Lysias' Mund vernommen hat. In dieser Rede bzw. dieser nachgeahmten Rede erklärt Sokrates nun - Lysias' Rede besagte, daß ein Knabe seine Gunst dem erweisen solle, der ihn nicht liebt -, daß ein Knabe nicht dem, der ihn liebt, seine Gunst erweisen soll, weil ein Liebender bei dem, in den er verliebt ist, nur die niedrigsten und schändlichsten Eigenschaften liebt und weil ein Liebender, ein alter Mann, der in einen jungen Knaben verliebt ist, doch auf jeden Fall eine Nervensäge ist. Auf diese zweite Rede folgt eine weitere, dritte Rede, nämlich die zweite Rede des Sokrates, die nun die wahre Rede sein wird, d. h. eine Rede, die sehr komplexe Beziehungen zur Wahrheit aufweist, weil einerseits im Unterschied zu den ersten beiden Reden, in denen nur jene gelobt wurden, die nicht lieben, und die Liebenden nur herabgewürdigt wurden, die dritte Rede (Sokrates' zweite) eine Lobrede auf die wahre und echte Liebe ist. Zweitens ist diese Lobrede auf die wahre Liebe keine rhetorische Lobrede, die dazu entschlossen ist, jemanden von einer verhältnismäßig schwer zu verteidigenden These zu überzeugen. Vielmehr kommt die Lobrede der wahren Liebe in einem wahren Diskurs zum Ausdruck. Hier wird nun aber - die Beziehung zur Wahrheit ist also zweifach, weil es sich um eine wahre Lobrede auf die wahre Liebe handelt - der Diskurs der Wahrheit komplex und problematisiert selbst seine Beziehungen zur Wahrheit, weil er sich über eine Reihe von sogenannten Fabeln erstreckt: die Fabel des Gespanns, die Fabel der Liebe, die Federn in der Seele wachsen läßt, usw. Das ist der dritte Bestandteil, der dritte Brennpunkt des Phaidros. Danach erreicht der Dialog seinen Höhepunkt oder sozusagen seine Vollendung in einer Überlegung, die direkt dem Problem der Kunst der Sprache und
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der wahren techne im Verhältnis zum logos gewidmet ist. Ist das die Rhetorik oder etwas anderes als die Rhetorik? Das zweite Problem, das mit diesem verknüpft ist, ist das Problem der Schrift: Gehört die Schrift zur techne des Diskurses oder nicht? Ich habe nicht vor, auf die Einzelheiten dieses vierten Teils einzugehen, sondern möchte ihn nur vom Gesichtspunkt der Geschichte des Seinsmodus des wahren Diskurses und seiner Charakterisierung gegenüber der Rhetorik betrachten. In diesem letzten Teil des Phaidros möchte ich folgende Punkte festhalten. Erstens muß man sofort bemerken - denn das wird vom Beginn des vierten Teils des Phaidros an angedeutet -, daß Platon bei seinem Vorhaben, den philosophischen Diskurs vom rhetorischen Diskurs zu unterscheiden, den Anspruch der Rhetorik, eine Kunst zu sein, die Kunst (die techne) des Diskurses (des logos) zu sein, zu beurteilen, bei seinem Vorhaben also, die Rhetorik mit ihrem wahren Maß zu messen, die mündliche Rede (den logos) auf die eine Seite stellt und die schriftliche Rede auf die andere. Man muß bemerken, daß den ganzen Text, den ganzen vierten Teil hindurch, das Wort logos sich manchmal auf die schriftliche Rede, manchmal auf die mündliche Rede und manchmal auf eine Rede bezieht, bei der es unbestimmt bleibt, ob sie schriftlich oder mündlich ist. Es gibt eine andere Passage, die für den Augenblick zumindest viel klarer und viel expliziter bezüglich dieser fehlenden Aufteilung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Rede ist, nämlich folgende. Als Platon seine zweite Rede hält (die dritte in der Reihe), die die wahre Rede über die wahre Liebe ist, gehen Phaidros, der so verliebt in die Rede des Lysias war, Augen und Ohren auf. Er versteht, daß die Rede des Lysias im Grunde keinen großen Wert hat, wenn man sie mit der Rede des Sokrates vergleicht. Phaidros sagt: Nun ja, die Rede des Lysias ist wohl nicht viel wert, aber dafür gibt es einen Grund. Und der Grund, den Phaidros vorschlägt, ist folgender: Lysias ist nur ein Logograph,5 d. h. einer, der seine Reden nur schreibt und seine Rede gewissermaßen nicht im Ausgang von seinem
eigenen logos hält, in der Gegenwart des Sprechens. Im Hinblick darauf ist er einer jener berufsmäßigen Mietlinge, der Reden für andere schreibt. Da er ein Mann der Schrift ist, muß man sich also nicht wundern, daß seine Rede so flach und schlecht neben dem sei, der beim Gesang der Zikaden seine Rede improvisiert, nämlich Sokrates, denn er ist ein Mann der Schrift. Auf diese Vermutung, die Phaidros nahelegt (die Rede des Lysias sei deshalb nichts wert, weil es eine geschriebene Rede ist), antwortet Sokrates eindringlich, indem er folgendes sagt: Aber warum sollten die Redenschreiber so verachtet werden? Jene berüchtigten Politiker, die vorgeben, nicht die guten Dienste eines Redenschreibers in Anspruch zu nehmen und die vorgeben, aus sich heraus zu sprechen, du weißt sehr wohl, daß sie mehr als jeder andere an der Schrift hängen, weil sie keine dringlichere Sorge kennen, als ihre eigenen Reden schreiben zu lassen und mit ihnen aufzuschneiden. Verachten wir also nicht die Redenschreiber, denn der entscheidende Unterschied besteht nicht zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen. Es liegt an sich nichts Häßliches (aischron: Schändliches) darin, eine solche Rede zu schreiben. Die Sache beginnt erst häßlich zu werden, wenn man entweder schriftlich oder mündlich nicht schön, sondern häßlich spricht. 6 Daher ist das Problem, das Sokrates oder Platon zu Beginn dieses vierten Teils des Phaidros stellt, ganz ausdrücklich folgendes: Lassen wir diesen Gegensatz als unzutreffend beiseite, der zu jener Zeit so klassisch war und so oft bemüht wurde, nämlich zwischen der schriftlichen Rede, der Rede der Redenschreiber, die als Ware von schlechter Qualität galt, und dem guten, lebendigen logos. Diese Unterscheidung ist weder für Platon noch für Sokrates wichtig, sondern etwas anderes, nämlich: Wie läßt sich feststellen, was die gute und was die schlechte Rede ist, gleichgültig, ob sie in schriftlicher oder mündlicher Form vorliegt? Das heißt aber: Was ist die Qualität der Rede selbst? Ist sie schön oder schlecht geschrieben oder gesprochen? Worin besteht dieser Unterschied? Er besteht jedenfalls nicht in der Trennung in schriftliche und mündliche Form. Was
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führt zu der Trennung in schönes und schlechtes Reden oder Schreiben? Phaidros beginnt, indem er eine Lösung vorschlägt, die unmittelbar einleuchtend erscheint, und zwar sagt er folgendes: Damit eine schriftliche oder mündliche Rede wirklich gut ist, muß der Redner oder Schreiber bezüglich der Dinge, über die er redet, die Erkenntnis des Wahren haben (to alethes)? Anscheinend ist das alles ganz einfach und ganz direkt. Alles ist nun gesagt, und genau darum geht es, nämlich daß die Rhetorik der Wahrheit gegenüber gerade gleichgültig ist, weil sich die Rhetorik damit brüstet, diese oder jene Behauptung verteidigen zu können und das Gerechte für das Ungerechte auszugeben. Der beste Beweis dafür ist, daß die Rhetorik imstande ist zu zeigen, daß ein Knabe seine Gunst eher demjenigen erweisen soll, der ihn nicht liebt, als dem, der ihn liebt. Also, sagt Phaidros, muß der Sprecher die Wahrheit kennen, und dann wird seine Rede gut sein. Nun ist Sokrates aber mit dieser Lösung nicht zufrieden, die darin besteht, daß man sagt: Verschaffen wir uns als erstes die Wahrheit, dann mag die Rhetorik hinzutreten, wenn die Wahrheit schon vom Sprecher erworben wurde. Sokrates macht folgendes geltend: Wenn die Wahrheit sich darauf beschränkt, bloß vom Sprecher gewußt zu werden, gewissermaßen bevor er spricht, als Vorbedingung seiner Rede (was Phaidros vorschlägt), dann wird seine Rede keine wahre Rede sein. Die Erkenntnis der Wahrheit ist für Sokrates keine Vorbedingung für die gute Redepraxis. Denn wenn die Wahrheit schon vor der Redepraxis gegeben ist, was ist dann die Rhetorik, wenn nicht die Gesamtheit von Ausschmückungen, die Gesamtheit der Umwandlungen, die Gesamtheit der Konstruktionen und Sprachspiele, durch die das Wahre vergessen, ausgelöscht, verborgen und versäumt wird? Damit die Rede eine wahre Rede sein kann, darf die Erkenntnis des Wahren nicht schon vorher dem Redner gegeben sein, sondern die Wahrheit muß eine stetige und beständige Funktion der Rede sein. Und Sokrates zitiert ein Apophtegma, das er als spartanisches, lakonisches Apophtegma bezeichnet -, über 4I 4
dessen Ursprung weiß man nichts, denn es wurde nur noch ein weiteres Mal von Plutarch in den lakonischen Apophtegmata zitiert, aber in Anlehnung an den Text des Phaidros, so daß man sagen kann, daß es eigentlich nur ein Zitat dieses Textes gibt, nämlich das des Phaidros -; diese TextsteIle besagt folgendes: Eine wahrhaftige Kunst (etymos techne: das heißt, eine Kunst, die so nahe wie möglich am Sein ist, das sie durch ihre eigene Kunst behandelt) existiert nicht und wird auch in Zukunft nicht existieren können, ohne an die Wahrheit gebunden zu sein. 8 Die Rede, die etymos Kunst, die wahrhaftige Kunst des Redens ist nur unter der Bedingung eine echte Kunst, daß die Wahrheit eine beständige Funktion des Diskurses ist. Dann stellt sich aber folgendes Problem: Wie kann dieses notwendige und kontinuierliche Verhältnis der Rede zur Wahrheit sichergestellt werden und veranlassen, daß der Redner in seinem andauernden Verhältnis zur Wahrheit die etymos techne (die wahrhaftige Technik) besitzt und auch anwendet? An dieser Stelle entwickelt Sokrates seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Diskurs und Wahrheit, indem er zeigt, wie die Wahrheit nicht die gewissermaßen psychologische Vorbedingung für die Praxis der Redekunst, sondern in jedem Augenblick das sein muß, worauf sich die Rede bezieht. Er zeigt das zunächst, indem er eine grobe Verallgemeinerung vornimmt, die während eines ganzen Teils der Diskussion in der Schwebe bleibt und von der wir später sehen werden, wie er sie wiederaufnimmt und wiederverwendet. Sokrates sagt: Was ist im Grunde diese Kunst der Rhetorik, die überreden will? Nun, diese Kunst der Rhetorik ist nichts anderes als eine allgemeine Form von etwas, das er psychagogia dia ton logon (die Psychagogie durch die Reden) nennt,9 d.h. daß die Rhetorik nichts anderes als eine Weise ist, die Seelen mittels der Reden zu leiten. Daher wird er das Problem nicht im Rahmen der Rhetorik allein stellen, sondern im viel allgemeineren Rahmen jener Kategorie, innerhalb welcher die Rhetorik ihren Platz hat oder haben sollte, nämlich der Psychagogie (der Seelenleitung) dia ton logon (durch die Reden). 4I 5
Nachdem er nun dieses allgemeine Prinzip festgesetzt und anschließend gezeigt hat, daß das, worüber er sprechen wird, nicht so sehr die Rhetorik im besonderen als vielmehr die Psychagogie im allgemeinen ist, kommt er auf die Bestimmung zurück, die die Redner ihrer Kunst geben. Tatsächlich sagen die Redner, wenn sie die techne ihrer Rhetorik bestimmen wollen, daß sie eine Kunst sei, die ermöglicht, daß dieselbe Sache als gerecht oder ungerecht erscheinen kann oder daß dieselbe Entscheidung bald als gut und bald als schlecht erscheinen kann. Damit nun aber, so Sokrates, dieselbe Sache manchmal als gut und manchmal als schlecht, manchmal als gerecht und manchmal als ungerecht erscheinen kann, muß man in der Lage sein, eine Illusion zu erzeugen, die die Person davon überzeugt, daß das, was gerecht ist, ungerecht ist oder umgekehrt. Wie läßt sich diese Illusion nun aber erzeugen? Einfach dadurch, daß man das Ungerechte durch das Gerechte ersetzt, daß man von einem Extrem zum anderen geht oder vom Entgegengesetzten zu dem, was ihm am meisten entgegengesetzt ist? Sicher nicht. Man muß vom Gerechten zum Ungerechten so übergehen, daß, so der Text, im Fortgang kleine Unterscheidungen vorgenommen werden. lo Wenn sie wirklich das Häßliche als schön, das Gerechte als ungerecht darstellen will, muß die wahre Kunst der Rhetorik vom einen zum anderen durch eine fortgesetzte Bewegung kleiner Unterschiede übergehen, und nicht durch einen plötzlichen Sprung vom Gerechten zum Ungerechten, vom Schönen zum Häßlichen, vom Guten zum Schlechten, wodurch niemand sich täuschen ließe. Um nun aber in der Lage zu sein, diesen Übergang von einem Extrem zum anderen (vom Guten zum Schlechten, vom Gerechten zum Ungerechten) durch kleine Unterschiede zu bewerkstelligen, und um sich selbst nicht zu verirren, d. h. damit der Redner sich nicht selbst in dieser Bewegung der kleinen Unterschiede verliert, muß man diese Unterschiede auch feststellen können, und zwar so gut wie möglich. Aber wie kann man die kleinen Unterschiede so gut wie möglich feststellen und sie als das erkennen, was sie sind, damit man schließlich die ange4 16
strebte Wirkung der Überredung erreicht? An dieser Stelle haben wir nun die berühmte Passage 265d-265e des Phaidros, wo er sagt, daß man, um einen Unterschied zu erkennen, zuerst in der Lage sein muß, das Verstreute und Auseinanderstrebende in einer Gesamtansicht zu vereinen. Wenn man erst einmal eine Ansicht des Ganzen hat, muß man diese Einheit nach Arten und in Arten (eide) unterteilen, indem man die natürlichen Gliederungen beachtet und so verfährt wie die Leute, die etwas gut in Teile zerlegen können und die den gegebenen Gliederungen folgen, anstatt einfach brachial draufloszuschneiden. l l Ich gehe darauf nicht ein, das ist ein solcher topos in der Geschichte der Philosophie, daß ich denke, daß ihn die meisten von Ihnen kennen. Interessant ist nun, daß Sokrates dadurch zeigt, daß, um das Ziel, das sich die Rhetorik selbst setzt, zu erreichen - nämlich ebensogut vom Gerechten wie vom Ungerechten zu überzeugen -, nicht eine techne retorike notwendig ist, sondern eine techne dialektike. 12 Nur die Dialektik ermöglicht es, dieses Ergebnis zu erzielen. Man könnte dies, so fährt Sokrates fort, aber einräumen und sagen, daß die Rhetorik zwar wohl oder übel diese Dialektik wirklich braucht und daß es daher für das Ziel der Rhetorik nicht genügt, die Wahrheit im voraus zu kennen (was Phaidros vorschlug), sondern daß man diese ganze dialektische Erkenntnis braucht, die die Rede stützen und gewissermaßen ihre Ausführungen gliedern wird, daß aber dennoch bestehen bleibt - das könnten die Rhetoriker sagen, diesen Einwand macht Sokrates sich selbst -, daß man über diese Dialektik hinaus und um die dialektische Wahrheit zu ihrer Überzeugungswirkung zu bringen, eine Reihe von Verfahren anwenden muß, die gerade diejenigen der Rhetorik im eigentlichen Sinne sind. Die hier in den Blick genommene Vermutung, die Sokrates nun widerlegen wird, besteht schließlich in folgendem: Zugegeben, die beständige Funktion des Verhältnisses zur Wahrheit ist notwendig und wird in der Rede durch die Dialektik gewährleistet, aber diese Dialektik muß durch eine Kunst der Rhetorik ergänzt werden, die sich ihr überlagert, die gewissermaßen 41 7
das Vehikel der Dialektik ist und die Wirkungen der Überzeugung hervorbringt, die man anstrebt. Und er zählt die verschiedenen Teile auf, die den Rhetorikern wohlbekannt sind und die sie als ihre eigene Kunst darstellen: die Kunst der Exposition, des Beibringens von Belegen, von Indizien, von Wahrscheinlichkeiten, das ganze System der Beweise, die Widerlegung hier haben wir schließlich die ganze Passage, in der Sokrates die verschiedenen Teile der Kunst der Rhetorik seiner Zeit aufzählt. Nun wird Sokrates auf die Forderung nach zumindest der Möglichkeit einer techne retorike über die dialektische Funktion hinaus antworten, daß alle diese Elemente tatsächlich nur Anfangsgründe der wirklichen Kunst und Tätigkeit des Überzeugens sind. Denn, wodurch wird eigentlich die Überzeugungsarbeit geleistet? Nicht dadurch, daß man an den Beginn seiner Rede eine Exposition stellt, dann Belege anführt, dann Indizien und Wahrscheinlichkeiten geltend macht, dann widerlegt usw. Was die wirkliche Überzeugungsarbeit leistet, ist das Wissen, wo, wann, wie und unter welchen Bedingungen man diese verschiedenen Verfahren anwendet. Und hier bezieht er sich natürlich auf die Medizin. Was dafür verantwortlich ist, daß die Medizin heilt, ist nicht die Tatsache, daß der Arzt die Liste von zu verabreichenden Medikamenten kennt, sondern daß er genau weiß, welchem Kranken zu welchem Zeitpunkt in der Entwicklung der Krankheit und in welcher Menge er ein Medikament verabreichen soll. Genauso wie der Arzt nur dann ein guter Arzt ist, wenn er nicht nur die dynamis (das Vermögen) der Medikamente kennt, sondern auch den Körper, die Konstitution der Körper, bei denen er sie anwendet - hier haben wir einen Bezug auf Hippokrates 13 und möglicherweise einen Bezug auf jenen ganz konkreten Text, in dem Hippokrates oder ein hippokratischer Arzt sich damit brüstet, den ganzen Diätplan geändert und die bloße Verordnung von Rezepten durch das Nachdenken über die Diät in Abhängigkeit vom Zustand des Körpers ersetzt zu haben, welcher selbst wieder Gegenstand einer Überlegung mit Blick auf den Zustand des Klimas und der ganzen Welt ist. 14 Es gibt einen Be4 18
zug auf folgende hippokratische Themen: Hippokrates ist also derjenige, der den Gedanken aufgebracht, ergänzt oder zugelassen hat, daß die Kunst der Medizin nicht einfach die Anwendung eines Rezepts ist, sondern zweifellos eine Kunst des Heilens durch die Erkenntnis des Körpers. Auf dieselbe Weise ist die Fähigkeit des Überzeugens, von der die Rhetorik sagt, daß sie ebenfalls ihre techne ist, auch wenn man zugestehen kann, daß die Dialektik für die Rede notwendig ist, in Gestalt der rhetorischen techne nichts weiter als eine Gesamtheit von Rezepten. Sie ist nur anwendbar und wird nur Wirkungen haben, wenn man die Seele kennt, so wie der Arzt den Körper kennen muß. Man muß dasjenige kennen, auf das sich diese rhetorischen Techniken oder Verfahren beziehen. Man muß die Seele selbst kennen, was in 270e gesagt wird. Um jemanden technisch mit der Redekunst auszustatten, muß man ihm die Natur (die physis) dessen, worauf sich die Rede bezieht, nämlich die Seele, in ihrem Wesen (in ihrer ousia) zeigen. 15 In 27IC sagt er: »Da die Kraft der Rede [die Macht der Rede: logou dynamis; M. E] eine Seelenleitung ist [wir kommen nun zu dem gestellten Thema zurück; M. E], so muß, wer ein Redner werden will, notwendig wissen, wie viel Arten die Seele hat.«16 Hier muß man, glaube ich, folgendes richtig verstehen: Wenn Sokrates und Platon geltend machen, daß die Funktion der Wahrheit eine beständige Funktion während der ganzen Rede sein muß und nicht bloß eine Vorbedingung der Erkenntnis, dann meinen sie nicht, daß die Rede es nötig hat, mit der Wahrheit verbunden zu sein, nämlich zunächst durch die Erkenntnis dessen, worüber man spricht und dann durch die Erkenntnis oder die Einschätzung derer, zu denen man spricht. Es geht nicht darum, daß man zunächst die Wahrheit kennen und dann die Person berücksichtigen muß, an die man sich wendet, um eine wahre Rede zu halten. Das zweifache Erfordernis einer Dialektik und einer Psychagogie, einer techne dialektike und eines Wissens um die psychagogia, dieses zweifache Erfordernis muß, wie gesagt, nicht verstanden werden als ein Erfordernis seitens des Sprechers und ein Erfordernis im Hinblick auf 41 9
diejenigen, zu denen man spricht. Es handelt sich um eine doppelte Bedingung, um zwei Bedingungen, die vollkommen wechselseitig voneinander abhängig sind und die die eigentümliche Seinsweise der philosophischen Rede konstituieren sollen. Die Erkenntnis des Seins durch die Dialektik und die Wirkung der Rede auf das Sein der Seele durch die Psychagogie sind miteinander verbunden. Sie sind innerlich miteinander verbunden, und zwar durch ein Wesensband, da die Seele durch ihre Bewegung Zugang zur Erkenntnis des Seins hat und da die Seele in der Erkenntnis des Seienden sich selbst und ihr Wesen erkennen kann, nämlich daß sie mit dem Sein selbst verwandt ist. An dieser Stelle versteht man, daß die große Rede, die Sokrates über die wahre Liebe gehalten hat (die dritte Rede, seine zweite, aber die dritte im Phaidros), diese Rede, die er über den Wahn, über das Gespann der Seele, über den Aufstieg zur Wirklichkeit, über die Rolle des eros, über die wachsenden Federn, über den Abflug der sich wiedererinnernden Seele gehalten hat, daß all dies im Dialog nicht die alleinige Funktion hatte, ein Beispiel für eine wahre Rede über die wahre Liebe zu geben, die den Kunstgriffen der rhetorischen Reden entgegengesetzt ist. Die Funktion bestand darin, schon den Inhalt vorwegzunehmen, der im vierten Teil angedeutet wird. Diese Rede zeigte im voraus die Verbindung, die zwischen dem Zugang zur Wahrheit und der Beziehung der Seele zu sich selbst besteht. Wer dem Weg der Dialektik folgen will, wer das Sein mit sich selbst in Beziehung bringen will, der kann nicht umhin, zu seiner eigenen Seele oder durch die Liebe zur Seele des anderen eine solche Beziehung zu haben, daß diese Seele dadurch verändert und in die Lage versetzt wird, die Wahrheit zu schauen. Dialektik und Psychagogie sind zwei Gesichter ein und desselben Prozesses, ein und derselben Kunst, ein und derselben techne, die die techne des logos ist. Wie der philosophische logos ist auch die philosophische techne des logos eine techne, die sowohl die Erkenntnis der Wahrheit als auch die Praxis oder Askese der Seele gegenüber sich selbst ermöglicht. Die Rede
der Rhetorik, die Seinsweise der rhetorischen Rede ist derart beschaffen, daß einerseits die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit durch die Möglichkeit gekennzeichnet ist, daß man für und wider das Gerechte sowie das Ungerechte sprechen kann. Andererseits ist die rhetorische Rede dadurch gekennzeichnet, daß man sich ausschließlich um die Wirkung kümmert, die auf die Seele des Zuhörers ausgeübt wird. Dagegen ist die Seinsweise der philosophischen Rede einerseits durch die Tatsache charakterisiert, daß die Erkenntnis der Wahrheit dafür nicht nur notwendig, nicht bloß eine Vorbedingung ist, sondern eine stetige Funktion. Und diese stetige Funktion der Beziehung zur Wahrheit in der dialektischen Rede kann nicht von der unmittelbaren Wirkung getrennt werden, die nicht bloß auf die Seele dessen ausgeübt wird, an den sich die Rede wendet, sondern auch auf die Seele dessen, der die Rede hält. Darin besteht die Psychagogie. Erkenntnis der Wahrheit und Seelenpraxis, das ist die grundlegende, wesentliche, unzertrennliche Gliederung der Dialektik und der Psychagogie, dadurch wird die der wahren Rede eigentümliche techne charakterisiert, und darin, daß er zugleich Dialektiker und Psychagoge ist, wird der Philosoph wahrhaft Parrhesiast, und zwar der einzige Parrhesiast sein, was der Rhetoriker weder in der Lage ist zu sein noch zu tun. Die Rhetorik ist eine atechnia (ein Fehlen der techne) im Hinblick auf die RedeY Die Philosophie dagegen ist etymos techne (die wahrhaftige Technik) der wahren Rede. Es bliebe noch die Frage nach der Schrift zu stellen, wie sie aus diesen Überlegungen abgeleitet werden kann und wie sie am Ende der Rede erscheint. Nächstes Mal werde ich versuchen, Ihnen das in Kürze in Erinnerung zu bringen.':- [... ':-':-]
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,,- Foucault wird auf dieses Problem in der Vorlesung vom 9. März nicht zurückkommen. Glücklicherweise enthält das Ende des Manuskripts einen Hinweis auf das, was er bezüglich dieses Punktes hinzufügen wollte: »Von hier aus läßt sich die Problematik der Schrift verstehen, die den Dialog beschließt, wenn man sie auf diese Argumentation bezieht. Man muß richtig verstehen, daß diese Entwicklung symmetrisch ist zu den Bemerkungen, die im Anschluß an die drei großen Reden gemacht wur-
Anmerkungen 1 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 28b, a. a. 0., S. 20. 2 Ebd. 3 Ebd., 28e-29b, S. 20-21. 4 Ebd., 28e, S. 21. 5 Platon, Phaidros, 25 7c, a. a. 0., S. 37· 6 »Aber das, glaube ich, wird schon schlecht (aischron) sein, wenn jemand nicht schön redet, sondern häßlich und schlecht (all' aischros te kai kakos)« (ebd.). 7 »Muß nun nicht, wo gut und schön soll geredet werden, des Redenden Verstand die wahre Beschaffenheit (talethes) dessen erkennen, worüber er reden will?« (ebd., 25ge, S.40; tatsächlich ist es Sohates, der diese Vermutung Phaidros gegenüber äußert). 8 »Von der Rede, sagt der Lakonier, gibt es weder eine wahrhafte Kunst (etymos techne), wenn sie nicht an die Wahrheit gebunden ist (aneu tou aletheias), noch wird es jemals in Zukunft eine solche geben (Plutarch, »Apophtegmes laconiens«, 260e, in: CEuvres morales, Bd. IH, übers. v. E Fuhrmann, Paris 1988, S. 62-63). 9 »Ist also nicht überhaupt die Redekunst eine Seelenleitung (psychagogia) durch Reden (dia logon) ?« (Platon, Phaidros, 261a, a. a. 0., S. 41). 10 »Kann also wohl diese Kunst, immer um ein weniges durch Ähnlichkeiten (technikos estai metabibazein kata smikron dia ton omoioteton) von dem, was jedes Mal wahr ist, fortzuleiten und so zum Gegenteil hinzuführen oder sich selbst davor zu hüten, derjenige besitzen, der nicht erkannt hat, was jedes in Wahrheit ist?« (ebd., 262b, S.42).
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II »Ebenso auch wieder nach Begriffen zerteilen zu können gliedermäßig, wie jedes gewachsen ist, ohne etwa, wie ein schlechter Koch verfahrend, irgendeinen Teil zu zerbrechen« (ebd., 265e, S.46). 12 Ebd., 276e, S. 57. 13 Ebd., 270c, S. so14 Zur Schwierigkeit, diese Passage Platons auf eine konkrete hippokratische Lehre zu beziehen, vgL R. Joly, »Platon, Phedre et Hippocrate: vingt ans apres«, in: Formes de pensee dans la Collection Hippocratique. Actes du IV. Colloque International hippocratique, Genf 1983, S·407- 22 . 15 »... sondern offenbar ist, daß, wenn jemand kunstmäßig Reden mitteilt, er auch das Wesen (ten ousian) der Natur (tes physeos) dessen genau muß zeigen können, dem er seine Reden anbringen will; dieses aber wird doch die Seele sein« (Platon, Phaidros, 270e, a. a. 0., S. 5I). 16 Ebd. 27Ic-d, S. 52. 17 Ebd., 274b, S. 54.
den. Die Frage war: Ist nicht die Schrift für die schlechte Qualität der Rede des Lysias verantwortlich? Das hat keinerlei Bedeutung, hatte Sohates geantwortet. Die Fragen, die man stellen muß, betreffen das Sprechen, und zwar sowohl das mündliche als auch das schriftliche. Und jetzt, da sich die wahrhaftige techne der Rede als die Philosophie herausstellt, wie stellt sich nun die Frage nach der Schrift dar? Der geschriebene Text ist nicht lebendig; er kann sich nicht all eine verteidigen, er kann nur ein Mittel für das hypomnesai sein. [.. .]. Es gibt keine Aufteilung zwischen dem logos und der Schrift, sondern zwischen zwei Seinsweisen des logos: einer rhetorischen Seinsweise, die das Problem des Seins, dem gegenüber sie gleichgültig ist, ebenso verfehlt wie das Sein der Seele, an das sie sich nur aus Schmeichelei wendet; einer philosophischen Seinsweise, die mit der Wahrheit des Seins und mit der Seelenpraxis verbunden ist und die die Verwandlung der Seele umfaßt. Eine logographische Seins weise der rhetorischen Rede und eine Seinsweise der Selbstaskese der philosophischen Rede.« M. E: Wollen Sie, daß wir ein kleines Treffen um Viertel vor zwölf vereinbaren, für diejenigen, die Interesse haben? Ja, nein?
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Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde)
Das historische Schwanken der parrhesia: vom politischen zum philosophischen Spiel. - Die Philosophie als Praxis der parrhesia: das Beispiel Aristipps. - Das philosophische Leben als Manifestation der Wahrheit. - Die ständige Hinwendung zur Macht. Die Ermahnung aller. - Das Porträt des Kynikers bei Epiktet. - Perikles und Sokrates. - Moderne Philosophie und der Mut zur Wahrheit.
Heute haben wir die letzte Sitzung. Mein Vorhaben war erstens, das abzuschließen, was ich Ihnen über das Wesen des parrhesiastischen Philosophen bei Platon gesagt habe. Ich hatte versucht, einige Züge dieses parrhesiastischen Philosophen zunächst im VII. und VIII. Brief und dann im Phaidros zu erfassen. Heute möchte ich dasselbe anhand des Gorgias tun, der, glaube ich, einen dritten Aspekt der parrhesiastischen Funktion der Philosophie ans Licht bringt. Und dann rechnete ich natürlich und rechne immer noch damit, zu einer Schlußfolgerung zu kommen. Nur lief ich, Sie kennen mich ja, Gefahr, die Dinge unbestimmt in die Länge zu ziehen und keine Schlußfolgerung zu erreichen. Ich mußte mich also fragen, ob man nicht mit der Schlußfolgerung beginnen solle, bevor wir zu jenem dritten Teil, jenem dritten Aspekt, jenem dritten Wesenszug des parrhesiastischen Philosophen übergehen. Ich war an diesem Punkt meines Zögerns angelangt, als ich vom Fotokopierdienst erfuhr, daß es eine Panne gab und daß der Text, den ich Ihnen austeilen wollte (der Text des Gorgias), frühestens um zehn Uhr fertig sein würde, wenn Sie ihn überhaupt bekommen könnten. Der Gang der Dinge hat daher die Reihenfolge meiner Ausführungen bestimmt. Ich werde also gezwungenermaßen mit der Schlußfolgerung anfangen. Behalten Sie das in einem kleinen Winkel Ihres Kopfes, und in der zweiten Stunde oder am Ende der ersten und in der zweiten Stunde werde ich dann, wie gesagt, auf einen bestimmten Aspekt der philosophischen parrhesia zurückkommen, den ich doch her42 4
vorheben möchte, weil er in dem Bild, das ich entwerfen möchte, seinen bestimmten Ort hat. Verzeihen Sie also diese Umkehrung der Chronologie und der Logik. Im ersten Teil meiner Vorlesung hatte ich, wie Sie sich erinnern, versucht, eine bestimmte Form der parrhesia zu analysieren, wie sie in einem Text von Euripides oder in einem Text von Thukydides erscheinen konnte. Diese Form der parrhesia läßt sich unter das Zeichen oder das Symbol des Perikles stellen. Nennen wir dies das perikleische Moment der parrhesia. Anschließend habe ich versucht, etwas zu skizzieren, was man das sokratisch-platonische Moment der parrhesia nennen könnte. Während das perikleische Moment seinen Ort natürlich in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts hat, wäre das sokratische und platonische Moment in der ersten Hälfte und sogar ganz zu Beginn des 4. Jahrhunderts anzusiedeln. Mir scheint, daß dieses platonische Moment der parrhesia sich für eine bestimmte Zeit, sogar für sehr lange, auf die philosophische Praxis auswirkt. [ ... ':-J Der erste Teil bestand also im perikleischen Moment der parrhesia. Der zweite war das platonische Moment, das sich zumindest auf die Geschichte der Philosophie auswirkt, betrachtet als eine bestimmte Praxis der Veridiktion. Kurz zusammengefaßt, wollte ich Ihnen folgendes zeigen: Wir haben es mit einer Art Verschiebung der Orte und der Ausübungsformen der parrhesia zu tun. Bei diesem platonischen Moment, das ich zu bestimmen versuche, sieht man, daß die Philosophie hervortritt, wenn die Hauptsache der parrhesiastischen Praxis nicht mehr in erster Linie auf der politischen Bühne selbst stattfindet - zumindest auf der politischen Bühne im ,,- M. F. [ein brummendes Geräusch überlagert seine Stimme): Hören Sie nicht? Sie hören nicht, aber ich auch nicht. Nun, ich höre schon, aber nicht das, was ich sage [das Geräusch bricht ab). Gut, also dieses platonische Moment der parrhesia scheint mir für lange Zeit Auswirkungen auf die philosophische Praxis zu haben oder genauer ... [wieder dasselbe Geräusch). Mir gefällt die Vorstellung, daß das unlogische Vorhaben, zu dem ich mich entschlossen hatte, sich nun in so drastischen technischen Strafmaßnahmen äußert ...
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engeren, institutionellen Sinne mit der Ratsversammlung, den Gerichten, kurz, allen diesen Orten, an denen etwas entschieden wird. Ich meine keineswegs - und hier sollte völlige Klarheit herrschen -, daß die parrhesia, das Wahrsprechen im Bereich der Politik, verschwunden ist. Durch die ganze Geschichte der politischen Institutionen hindurch, von der Antike bis einschließlich zum Römischen Reich, wird dieses Problem der Ausübung der parrhesia im Bereich der Politik immer wieder aufs neue gestellt werden. Schließlich wird die Frage nach dem Ratgeber des Kaisers, die Frage nach der Freiheit, die der Kaiser seiner Umgebung einräumt, ihm die Wahrheit zu sagen oder nicht, nach seinem Bedürfnis, Schmeichlern zuzuhören, oder nach dem Mut, mit dem er akzeptiert, daß man ihm die Wahrheit sagt, auch weiterhin ein politisches Problem bleiben. Ich meine also keineswegs, daß die Frage nach der parrhesia ein für allemal von der Philosophie in Beschlag genommen wird. Ich meine ebenfalls nicht, was ein ebenso großer historischer Irrtum wäre, daß die Philosophie aus dieser Übertragung der politischen parrhesia an einen anderen Ort entstanden wäre. Die Philosophie existierte natürlich, bevor Sokrates seine parrhesia ausgeübt hat. Ich meine bloß, und ich denke, daß das doch nicht bedeutungslos ist, daß es eine Art von fortschreitender Abwendung von der parrhesia gegeben hat, wobei zumindest ein Teil und eine Reihe von Funktionen in die philosophische Praxis umgeleitet wurden, und daß diese Umleitung der politischen parrhesia in den Bereich der philosophischen Praxis, wie gesagt, keineswegs die Geburt der Philosophie wie einen radikalen Ursprung eingeleitet hat, sondern eine gewisse Wendung des philosophischen Diskurses, der philosophischen Praxis, des philosophischen Lebens herbeiführte. Dieses Moment der Wendung des philosophischen Diskurses, der philosophischen Praxis und des philosophischen Lebens durch die politische parrhesia wollte ich rekonstruieren. Zur gleichen Zeit, da die Philosophie zum Ort oder zu einem der Orte der parrhesia wird - der zumindest genauso wichtig wie der Ort der Politik ist und in einem beständigen Verhältnis der Kon-
frontation und der Widerrede Zur politischen parrhesia steht-, erscheint ein anderer Akteur der parrhesia, ein anderer Parrhesiast. Es ist nicht mehr jener berühmte Bürger, um den es beispielsweise im Ion oder bei Thukydides ging, als dieser zeigte, wie Perikles seine politische Rolle in Athen spielte. Der Parrhesiast, der jetzt erscheint, ist nicht mehr der Mann, der als Bürger dieselben Rechte wie alle anderen Bürger innehat, d. h. das Recht zu sprechen, sondern der über etwas darüber hinaus verfügt, nämlich den Einfluß, in dessen Namen er das Wort ergreifen und versuchen kann, die anderen zu führen. Der Parrhesiast ist nun ein anderer, er hat ein anderes Profil und ist eine andere Persönlichkeit. Er ist nicht mehr einfach und ausschließlich nur jener Bürger unter anderen, der den anderen etwas voraus ist. Natürlich ist er wie die anderen - das haben wir bei Sokrates gesehen -, spricht wie die anderen, spricht die Sprache jedermanns, aber hält sich doch auf gewisse Weise von den anderen fern. Diese Ersetzung oder vielmehr Unterfütterung des politischen Parrhesiasten, der als Bürger den anderen etwas voraus ist, durch den Philosophen, der ein Bürger wie alle anderen ist und die Sprache jedermanns spricht, der sich aber von den anderen fernhält, scheint mir ein weiterer Aspekt derselben Wandlung zu sein, die ich zu erfassen versucht habe. Die politische parrhesia verschwindet also nicht einfach mit all den Problemen, die sie aufwirft und, wie gesagt, bis zum Ende der Antike aufwerfen wird. Es gibt auch keine plötzliche, ursprüngliche Geburt der Philosophie, sondern die Bildung eines anderen Brennpunkts der parrhesia um die Philosophie herum und in der Philosophie selbst. Ein anderer Brennpunkt der parrhesia wird also in der antiken, griechischen Kultur entzündet, ein Brennpunkt der parrhesia, der den ersten zwar nicht erreicht hat, der aber mehr und mehr an Bedeutung gewinnen wird, nämlich durch seine eigene Kraft, aber auch durch den Wandel der politischen Bedingungen, der institutionellen Strukturen, die die Rolle jener politischen parrhesia, die ihre ganze Tragweite, ihre ganze Bedeutung, ihren ganzen Wert und
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alle ihre Wirkungen im Feld der Demokratie entwickelt hatte, offensichtlich beträchtlich verringern werden. Das Verschwinden der demokratischen Strukturen bringt die Frage nach der politischen parrhesia nicht völlig zum Verschwinden, aber beschränkt doch offenbar sehr ihr Feld, ihre Wirkungen und ihre Problematik. Daher wird die philosophische parrhesia in ihrer komplexen Beziehung zur Politik nur noch mehr an Bedeutung gewinnen. Insgesamt verschiebt sich die parrhesia, jene Funktion, die darin besteht, frei und mutig die Wahrheit zu sagen, allmählich, verschiebt ihre Akzente und dringt immer mehr in den Bereich der Ausübung der Philosophie ein. Es sollte, wie gesagt, klar sein, daß nicht die ganze Philosophie, nicht die Philosophie seit ihren Anfängen, nicht die Philosophie in jeder Hinsicht die Tochter der parrhesia ist, sondern es ist die Philosophie, verstanden als freier Mut, die Wahrheit zu sagen und, indem man so mutig die Wahrheit sagt, einen Einfluß auf die anderen zu nehmen, um sie richtig zu führen, und zwar in einem Spiel, das vom Parrhesiasten verlangt, ein Risiko einzugehen, das ihn in Lebensgefahr bringen kann. Die Philosophie, auf diese Weise als freier Mut bestimmt, die Wahrheit zu sagen, um Einfluß auf die anderen zu nehmen, sie richtig zu führen unter dem Risiko der Lebensgefahr, das ist, glaube ich, die Tochter der parrhesia. Jedenfalls hat sich die philosophische Praxis die ganze Antike hindurch in dieser Form behauptet. Als ein sehr frühes Beispiel werde ich einfach das nehmen, was einer von Sokrates' Zeitgenossen schon bekundete. Es handelt sich um Aristipp, wie er von Diogenes Laertius beschrieben wird und der selbst auch symmetrisch zu Sokrates und Platon als Parrhesiast auftritt, zwar auf andere Weise, aber doch als Parrhesiast, wie es zweifellos die meisten Philosophen der Antike sein werden. Aristipp war ein Philosoph, der ebenso wie Platon mit Dionysios dem Tyrannen in Beziehung stand. Dionysios schätzte ihn übrigens sehr - eine relative Wertschätzung, wie Sie sehen werden. In ihrem stürmischen Umgang hat Aristipp seine parrhesia ausgeübt wie Platon, aber offensicht-
lich auf eine etwas andere Weise, denn Diogenes Laertius erzählt folgende Anekdote: »Als Dionysios ihn einmal anspuckte, nahm er es ruhig hin: und als ihm einer diese Gleichgültigkeit vorrückte, erwiderte er: >Wie? Sollen denn die Fischer es sich gefallen lassen, vom Meerwasser überspritzt zu werden, um einen Gründling zu fangen, und ich soll es nicht über mich ergehen lassen, mit Speichel bespritzt zu werden, um ein Fischgericht zu bekommen ?<<
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ken - was bei der christlichen Askese der Fall sein wird. Gewiß existiert diese Dimension der Reinigung der Existenz in den asketischen Formen des philosophischen Lebens, und sie ist übrigens in der alten pythagoreischen Tradition verwurzelt, die man nicht vernachlässigen und deren Bedeutung man nicht schmälern darf. Wenn man die Dinge langfristig betrachtet d. h. in der Geschichte der antiken Philosophie bis zum 2. J ahrhundert nach Christi -, scheint mir aber, daß diese pythagoreische Funktion der Reinigung, von der sich natürlich bei Platon Spuren finden lassen, nicht die beständigste und wichtigste war, und zwar weder für die Bestimmung der philosophischen Existenz noch für die Behauptung, daß die Philosophie nicht von einer bestimmten Lebensform getrennt werden könne. Das philosophische Leben ist eine Manifestation der Wahrheit. Sie ist ein Zeugnis. Durch die Art von Existenz, die man führt, durch die Gesamtheit von Entscheidungen, die man trifft, die Dinge, auf die man verzichtet, diejenigen, die man akzeptiert, die Art, wie man sich kleidet usw., muß das philosophische Leben durch und durch die Manifestation dieser Wahrheit selll. Zu diesem Thema könnte man das berühmte Leben und M einungen berühmter Philosophen betrachten, wie es vor allem von Diogenes Laertius erzählt wird, aber auch von Philostrat. Dieses Leben und Meinungen berühmter Philosophen - ich bin sicher, daß viele von Ihnen diesen Text kennen - ist sehr interessant. Es ist interessant zu sehen, auf welche Weise, nämlich sehr systematisch, Bestandteile der Lehre, körperliche, materielle Beschreibungen des habitus, des ethos des Philosophen, und eine Reihe von Anekdoten, kleinen Erzählungen, kleinen Szenen, Dialogfragmenten, Repliken miteinander verbunden und verflochten sind. Ich glaube, daß diese drei Elemente (die Lehre; das physische Aussehen, das ethos; die kleine Szene) in Leben und Meinungen berühmter Philosophen die Art und Weise darstellen, durch die das philosophische Leben sich als Manifestation der Wahrheit ankündigt. Philosophisch zu leben, das heißt, sich so zu verhalten - durch das ethos (die Le-
bensweise), die Art und Weise, wie man reagiert (auf diese oder jene Situation, in dieser oder jener Szene, wenn man mit dieser oder jener Situation konfrontiert ist) und natürlich die Lehre, die man unterrichtet -, daß man durch diese drei Mittel (das ethos der Szene, den kairos der Situation und schließlich die Lehre) in allen Hinsichten zeigt, was die Wahrheit ist. Zweitens scheint mir, daß die Philosophie während ihrer ganzen Geschichte in der antiken Kultur nicht nur deshalb parrhesia ist, weil sie sich im Leben manifestiert, sondern auch deshalb, weil sie sich beständig an die Regierenden gerichtet hat. Die Weise, in der das geschah, war natürlich sehr unterschiedlich. Man kann sich an die Regierenden in Form kynischer Unverfrorenheit richten, wofür ich Ihnen eine Reihe von Beispielen gegeben habe. Es kann sich um die Anrufung der Mächtigen in Form einer Schmährede handeln, die direkt oder indirekt an diejenigen gerichtet ist, die die Macht ausüben, um die Art und Weise zu kritisieren, wie sie die Macht ausüben. Das Eingreifen, die Art und Weise, sich an die Regierenden zu richten, kann offensichtlich auch durch die Erziehung des Fürsten geschehen. Das ist der Paradefall Senecas. Es kann auch um die Zugehörigkeit zu politischen Kreisen gehen, die oft, wenn nicht immer, Kreise politischer Opposition sind. Das war z. B. die Rolle der epikureischen Zirkel im Rom des 1. Jahrhunderts vor und nach Christi. Das war vor allem auch die Rolle der großen stoischen Zirkel des 1. und 2. Jahrhunderts, in denen man wichtige Figuren wie die des Musonius Rufus findet. 3 Es können auch Ratschläge sein, die diesem oder jenem Herrscher unter ganz besonderen Umständen gegeben werden. Es gibt eine sehr interessante Passage, die man in Philostrats Das Leben des Appolonios von Tyana findet 4 und die erzählt, wie beispielsweise in dem Moment, wo Vespasius sich auflehnt, die Legionen dazu bringt, sich zu erheben, und versucht, sich des Imperiums zu bemächtigen, er zwei Philosophen konsultiert, von denen der eine Appolonius war, um sie zu fragen, was letztlich die beste Regierungsform sei, nach der er streben solle, wenn er die Macht übernommen habe. Soll es
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eine autokratische und vor allem erbliche Monarchie sein? Soll es eine Art von Prinzip at sein, das durch ein Triumvirat gemäßigt wird? Alles das sind Arten von Ratschlägen, die zu geben der Philosoph sich als berechtigt ansieht. Die Philosophie ist also eine Lebensform, aber auch eine Art von zugleich privatem und öffentlichem Amt, eine Art von politischem Rat. Das scheint mir eine konstante Dimension der antiken Philosophie zu sem. Mir scheint auch, daß die antike Philosophie in einer dritten Hinsicht eine parrhesia ist: insofern sie eine ständige Anrufung ist und sich, sei es kollektiv oder individuell, an die Privatpersonen wendet, ob es nun in Form der großen Predigt vom kynischen oder stoischen Typ sei, einer Predigt, die problemlos im Theater, in den Versammlungen, bei den Spielen stattfinden kann, die an den Straßenkreuzungen gehalten werden kann und in der Anrufung eines einzelnen oder einer Menge bestehen kann. Es gibt auch jene ganz eigenartige Struktur der antiken philosophischen Schulen, deren Funktionsweise sich doch sehr von dem unterscheidet, was die mittelalterliche Schule sein wird (die mittelalterlichen Mönchsschulen oder Universitäten), und offensichtlich auch von unseren Schulen ganz verschieden ist. Die Funktionsweise der Schule Epiktets ist in dieser Hinsicht sehr bezeichnend, insofern es eine flexible Struktur war, durch die der Unterricht oder die Rede sich alternativ oder gleichzeitig entweder an Dauerschüler richtete, die dazu ausersehen waren, Berufsphilosophen zu werden, oder an Schüler, die übergangsweise dort waren, um gewissermaßen ihre Studien und ihre Ausbildung zu vervollständigen, Leute, die das Bedürfnis hatten, für eine gewisse Zeit eine Art von philosophischer Gesundheit zu erwerben, eine Art von philosophischer Umschulung durchzumachen. Und dann gab es noch jene, die dort im Verlauf einer Reise vorbeigekommen waren oder einfach deshalb, weil sie vom Unterricht und dem Wert dieses Unterrichts gehört hatten, und wegen einer Konsultation dorthin kamen. 5 Die Gespräche Epiktets sind so zu lesen, als richteten sie sich entweder an alle diese Kategorien 43 2
von Hörern zugleich oder, zumeist, an diese oder jene Kategorie von Hörern. Daher hat nicht jedes Gespräch denselben Wert und denselben Sinn, insofern nicht alle im selben pädagogischen Rahmen stattfinden. Dann müßte man auch noch seltenere, geschlossenere Gemeinschaften wie die der Epikuräer anführen, wo das Spiel des Wahrsprechens ebenfalls von großer Bedeutung war. Mir scheint, daß man bei den Epikuräern sieht, wie sich die Praxis des Schuldbekenntnisses herausbildet, des gegenseitigen Geständnisses, der detaillierten Erzählung von Fehlern, die der eine macht und die er entweder seinem Leiter oder den anderen erzählt, um Ratschläge zu erhalten. 6 Mir scheint, daß die antike Philosophie in diesen verschiedenen Hinsichten als eine Art großer Entwicklung dieser allgemeinen Form, dieses allgemeinen Projekts erscheinen kann, das die parrhesia ist, der Mut, den anderen die Wahrheit zu sagen, um sie in ihrem eigenen Verhalten zu lenken. Wenn man die antike Philosophie so betrachtet, d. h. als eine Art von parrhesiastischer Praxis, dann sehen Sie wohl, daß man sie nicht mit der Elle der späteren abendländischen Philosophie oder zumindest mit der Elle der Art und Weise messen kann, wie wir uns heute diese abendländische Philosophie vorstellen, etwa von Descartes bis Hegel über Kant und die anderen. Diese abendländische moderne Philosophie, zumindest wenn wir sie so verstehen, wie sie gegenwärtig als Gegenstand in der Schule oder an der Universität präsentiert wird, hat relativ wenig Gemeinsamkeiten mit dieser parrhesiastischen Philosophie, über die ich zu sprechen versuche. Diese antike Philosophie, diese parrhesiastische Philosophie darf man in ihren verschiedenen Lehren, ihren verschiedenen Sekten, ihren verschiedenen Formen der Intervention und des Ausdrucks - auch hier müßte man die Briefe und die theoretischen Abhandlungen, die Rolle der Aphorismen und die Rolle der Vorlesungen und Predigten untersuchen - keineswegs als ein System verstehen, das sich als ein System von Wahrheiten in einem bestimmten Bereich oder als System von Wahrheiten ausgibt, die mit dem Sein selbst in Beziehung stehen. Die Philosophie ist und hat durch die ganze 433
Antike hindurch als freie Ermahnung des menschlichen Verhaltens der Menschen durch ein Wahrsprechen existiert, das das Risiko akzeptiert, sich Gefahren auszusetzen. Mir scheint auch, daß deshalb die typischste Form der antiken Philosophie jene ist, deren Beschreibung man am Ende des goldenen Zeitalters dieser antiken Philosophie finden kann, nämlich bei Epiktet im berühmten Gespräch 22 des III. Buchs der Gespräche, wo er den Kyniker porträtiert. Ich meine keinesfalls, daß dieses Porträt des Kynikers im Gespräch 22 des III. Buches die einzige Form der Philosophie sei, die man in der Antike findet. Ich meine nicht einmal, daß sie eine Zusammenfassung all dessen ist, was diese Philosophie charakterisieren könnte. Das Gespräch 22 und die Art und Weise, wie die Philosophie darin zur Darstellung gelangt, stellt eine Art von Grenze im Hinblick darauf dar, was die große Geschichte der antiken Philosophie als parrhesia war. Eine Grenze in zweifachem Sinne, weil man hier eine bestimmte Grenze der antiken Philosophie erreicht; aber auch eine Grenze, weil man spürt, wie sich schon in der Tiefe so etwas wie der Ort abzeichnet, an dem das christliche Denken, die christliche Askese, die christliche Predigt, das christliche Wahrsprechen sich absetzen können wird. 7 Ich möchte Ihnen bloß einige Passagen aus diesem Gespräch zitieren, die Ihnen zeigen, wie man darin die parrhesiastische Funktion, wie ich sie gerade schematisiert habe, am Werke sieht. Erstens, die Philosophie als Lebensweise, als manifeste Lebensweise, als ständige Manifestation der Wahrheit. Der Kyniker, erklärt Epiktet, ist jemand, der sich von allen Kunstgriffen und allem Schmuck freimacht. Er ist jemand, der sich von allen seinen Begierden, von allen seinen Leidenschaften freimacht. Vor allem ist er jemand, der nicht versucht, seine Begierden, Leidenschaften, Abhängigkeiten usw. im Schutze von etwas zu verbergen, sondern sich nackt, sich in seiner Mittellosigkeit zeigt: »Denn das mußt du wissen, daß die anderen Menschen die Mauern ihrer Häuser und die Dunkelheit als Schutzwand haben, wenn sie so etwas tun [d. h. Zorn, Neid, Groll, Mitleid; 434
M. F.], kurz, daß sie vielerlei Mittel haben, sich den anderen unsichtbar zu machen. Da hat einer seine Tür zugeschlossen und vor seinem Schlafzimmer einen Wächter aufgestellt: >Wenn jemand kommt, sagst du: Er ist ausgegangen oder er hat keine Zeit.< - Der Kyniker dagegen muß statt all solcher Vorkehrungen die sittliche Reinheit als seinen Schild haben [das Wort, das mit »sittliche Reinheit« übersetzt wird, ist aidos: Dabei handelt es sich um jene Art von Selbstbeziehung, bei der die Person Achtung vor sich selbst hat, ohne etwas verbergen zu müssen, und somit ohne etwas vor sich selbst zu verbergen; aidos ist nicht als eine Zurückhaltung zu verstehen, die dem Bereich der Schamhaftigkeit angehörte, wie wir sie verstehen, und hat auch nichts mit einem Sich-Schämen zu tun; aidos ist jene Art von Durchsichtigkeit, durch die die Person, da sie nichts zu verbergen hat, auch tatsächlich nichts verbirgt, das ist die Bedeutung von aidos; der Kyniker soll also anstelle all dieser Schutzmaßnahmen - den Mauern, den Dienern, die die Aufdringlichen fernhalten - hinter seinem aidos Schutz suchen; M. F.]. Sonst wird er sich, unbedeckt, wie er ist, vor aller Augen blamieren. Denn allein jene bedeutet für ihn Haus, verschlossene Tür, Wächter vor seiner Kammer und Dunkelheit. Darf er doch überhaupt nicht den Wunsch hegen, etwas von seinem Treiben zu verbergen. Sonst ist er schon aus der Rolle gefallen, hat den Kyniker, den Mann, der nur Gottes Himmel über sich hat, den Apostel der wahren Freiheit, zuschanden gemacht; hat begonnen, etwas von den äußeren Dingen zu fürchten, hat nötig, was ihn verbirgt, und kann sich doch nicht verstecken, wenn er es möchte.«8 Sie sehen also, daß der Kyniker derjenige ist, der unter freiem Himmel lebt, und er lebt unter freiem Himmel, weil er ein freier Mann ist, ohne etwas von außen fürchten zu müssen. In seinem Leben ist er die Wahrheit im manifesten Zustand. Das zweite Merkmal des Kynikers, das sich mit dem bereits Gesagten überschneidet, besteht in der Tatsache, daß er, um die Wahrheit zu sagen, bereit ist, sich selbst an die Mächtigen, selbst an jene zu wenden, die zu fürchten sind, ohne daß er sei435
nerseits meint, daß es sich für ihn um eine katastrophale Gefahr handelt, sein Leben zu verlieren, wenn sein Wahrsprechen die ärgert, an die er sich gewandt hat. Indem er das Beispiel Diogenes' erwähnt, der sich an Philipp mit der bekannten Ungeniertheit wandte, kommentiert Epiktet: In Wirklichkeit ist der Kyniker »Kundschafter [... ], dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelände scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahrheit berichten, ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von falschen Vorstellungen betört und verwirrt zu sein, so daß er nicht Feinde meldet, wo gar keine sind [was ihm jedoch zustoßen kann; M.F.].«9 Der Kyniker, der Philosoph ist also derjenige, für den das Äußern der Wahrheit niemals durch irgendeine Furcht zurückgehalten werden darf. Der dritte Aspekt dieses Philosophen, wie ihn Epiktet darstellt, besteht in der Tatsache, daß sich der Kyniker in der Rolle des Aufklärers, der die Wahrheit verkündet, ohne die Gefahr zu fürchten, selbst rettet. Er rettet sich nicht nur selbst, sondern durch das Wohl, das er verschafft, und den Mut, mit dem er die Wahrheit sagt, ist er darüber hinaus in der Lage, der ganzen Menschheit einen Dienst zu erweisen. »Wenn Du Lust hast, kannst du mich auch noch fragen, ob er sich am Staatsleben beteiligen wird. Du Schafskopf, suchst du nach einem Staat, der größer ist als der, an dem er sich beteiligt? Oder soll der in der athenischen Volksversammlung über Steuern und Zölle sprechen, der mit der ganzen Menschheit verhandeln muß, mit Athenern so gut wie mit Korinthern und Römern, nicht über Steuern und Zölle oder über Krieg und Frieden, sondern über Gottseligkeit und Verdammnis, Heil und Unheil, Knechtschaft und Freiheit? Bei einem Mann, der in einem so herrlichen Reiche wirkt, da kannst du mich auch fragen, ob er regieren wird, und wieder werde ich dir antworten: du Narr, welches Reich wäre erhabener als das, worin er regiert?«lO Im Grunde wird kurze Zeit nach Epiktet, sechs oder sieben Jahrhunderte nach Sokrates, die christliche Lehre in ihren verschiedenen Formen diese parrhesiastische Funktion ablösen 43 6
und allmählich die Philosophie von ihr abstreifen. Ein neues Verhältnis zur Heiligen Schrift und zur Offenbarung, neue Autoritätsstrukturen innerhalb der Kirche, eine neue Definition der Askese, die nicht mehr im Ausgang von der Selbstbeherrschung bestimmt wird, sondern vom Verzicht gegenüber der Welt, all dies wird, glaube ich, die Ökonomie des Wahrsprechens gründlich verändern. Es ist dann nicht mehr die Philosophie, die für einige Jahrhunderte die Rolle der parrhesia zu spielen haben wird. Was ich nahelegen möchte, ist, daß diese bedeutsame parrhesiastische Funktion der Philosophie, nachdem sie von der Politik ins Zentrum der Philosophie gerückt wurde, ein zweites Mal vom Zentrum der Philosophie auf etwas übertragen wurde, was man die christliche Seelsorge nennen könnte. Die Frage, die ich stellen möchte, ist nun folgende: Könnte man nicht die moderne Philosophie, zumindest diejenige, die ab dem r6.Jahrhundert wieder in Erscheinung tritt, als Neuverteilung der Hauptfunktionen der parrhesia innerhalb der Philosophie auffassen, als Wiedergewinnung der parrhesia, die in der christlichen Seelsorge institutionalisiert, organisiert wurde und dort eine sehr vielfältige, reichhaltige, dichte und übrigens sehr interessante Rolle spielte? Ist es nicht dasjenige, was jetzt in der modernen europäischen Philosophie wiedergewonnen, wiederaufgenommen und mit anderen Spielregeln wieder ins Spiel gebracht wird? Insofern sollte man die Geschichte der europäischen Philosophie seit dem r6. Jahrhundert vielleicht nicht so sehr als eine Folge von Lehren auffassen, die versuchen, das Wahre oder das Falsche über die Politik, die Wissenschaft oder die Moral zu sagen. Vielleicht könnte man die Geschichte der modernen europäischen Philosophie als eine Geschichte der Veridiktionspraktiken, als eine Geschichte der Praktiken der parrhesia auffassen. Könnte man die moderne Philosophie in zumindest einigen ihrer Aspekte und einigen ihrer wesentlichsten Inhalte nicht als ein parrhesiastisches Unternehmen lesen? Hat sich die europäische Philosophie nicht viel mehr als parrhesia denn als Lehre über die Welt, die Politik, 437
die Natur usw. in die Wirklichkeit und in die Geschichte oder vielmehr in die Wirklichkeit, die unsere Geschichte ist, eingeschrieben? Beginnt die Philosophie nicht unablässig als stets neu zu gewinnende parrhesia? Und ist die Philosophie insofern nicht ein einzigartiges Phänomen, das den abendländischen Gesellschaften eigentümlich ist? Wenn man in der Tat sieht, wie die moderne Philosophie sich im 16. Jahrhundert von einer Reihe von Diskussionen gelöst hat, von denen die meisten sich um das Wesen der christlichen Seelsorge drehten, um ihre Wirkungen, ihre Autoritätsstrukturen, wie sie sich von der Aussage gelöst hat, die sie dem Wort, dem Text, der Schrift auferlegte, wenn man berücksichtigt, daß die Philosophie im 16. Jahrhundert sich als Kritik der seelsorgerlichen Praktiken entwickelt hat, scheint mir, daß man der Auffassung sein kann, daß sie erneut als parrhesia zur Geltung kam. Schließlich sind Descartes' Meditationen, wenn sie tatsächlich ein Unternehmen sind, um einen wissenschaftlichen Diskurs in der Wahrheit zu begründen, auch ein Unternehmen der parrhesia in dem Sinne, daß der Philosoph als solcher spricht, wenn er »ich« sagt und seine parrhesia in gerade jener wissenschaftlich fundierten Form der Evidenz zur Geltung bringt, um vor allem gegenüber den Machtstrukturen der kirchlichen, wissenschaftlichen, politischen Autorität eine gewisse Rolle zu spielen, in deren Namen er das Verhalten der Menschen leiten kann. Das moralische Projekt, das seit Beginn des cartesischen Unternehmens gegenwärtig ist, dieses Projekt der Moral ist nicht bloß ein Zusatz zu einem wichtigen Projekt, das in der Begründung einer Wissenschaft bestünde. Mir scheint, daß wir in der großen Bewegung, die von der Äußerung - in der ersten Person - dessen ausgeht, was Descartes in Form der Evidenz für wahr hält, und bis zum endgültigen Projekt reicht, die Menschen bis in ihr Leben hinein zu leiten und bis ins Leben ihres Körpers, den großen Neubeginn dessen haben, was die parrhesiastische Funktion der Philosophie in der antiken Welt war. Und in diesem Sinne könnte man kaum etwas dazu Gleichwertiges in dem finden, was die Philosophie war, als sie, 43 8
der Theologie während des ganzen Mittelalters untergeordnet, der christlichen Seelsorge die parrhesiastische Funktion überließ. Wenn ich jedenfalls die diesjährige Vorlesung mit Kant angefangen habe, dann deshalb, weil mir scheint, daß dieser von Kant über die Aufklärung geschriebene Text eine gewisse Weise der Philosophie darstellt, sich durch die Kritik der Aufklärung der Probleme bewußt zu werden, die in der Antike traditionellerweise die Probleme der parrhesia waren, die im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wieder auftauchen werden und die sich in der Aufklärung und insbesondere in diesem Text Kants ihrer selbst bewußt geworden sind. Jedenfalls [... ':.] ging es darum, Ihnen eine Geschichte der Philosophie vorzuschlagen, die sich keinem der beiden Schemata unterordnet, die gegenwärtig so häufig vorherrschen, nämlich das Schema einer Geschichte der Philosophie, die deren radikalen Ursprung in so etwas wie dem Vergessen sucht, oder aber das andere Schema, das darin besteht, die Geschichte der Philosophie als Fortschritt, Wandlung oder Entwicklung einer Rationalität zu verstehen. Ich glaube, daß man die Geschichte der Philosophie weder als Vergessen noch als Bewegung der Rationalität schreiben muß, sondern sie auch als eine Folge von Episoden und Formen - wiederkehrenden und sich wandelnden Formen - der Veridiktion auffassen kann. Die Geschichte der Philosophie also als Bewegung der parrhesia, als Neuverteilung der parrhesia, als verschiedenartiges Spiel des Wahrsprechens, eine Philosophie, die auf diese Weise sozusagen in ihrer allokutorischen Kraft aufzufassen wäre. Das war, wenn Sie so wollen, das allgemeine Thema, das ich in der diesjährigen Vorlesung entwickeln oder unterbreiten wollte. Ich möchte nun etwas genauer auf das zurückkommen, was ich zu sagen versucht habe, indem ich Sie an die beiden Bilder erinnere, die ich festhalten wollte. Erstens das Bild des Perikles, das gewiß auf sehr indirekte Weise im Ion erscheint, sehr direkt dagegen bei Thukydides. Sie wissen, was dieses Bild war. In der ". Unverständlich. 439
Volksversammlung, wo jeder, wenn er an der Reihe war, frei seine Meinung äußern konnte, erhebt sich nun dieser Bürger und ergreift das Wort, und zwar mit der Autorität des ersten der Athener. Er ergreift das Wort in feierlichen und rituellen Formen, in kodierten Formen der Rhetorik. So wird er eine Meinung abgeben, eine Meinung, von der er betont, daß sie seine eigene ist. Aber diese Meinung kann und soll die Meinung des Staats werden, und sie wird es auch tatsächlich. Und daher müssen der erste der Bürger und der Stadtstaat selbst aufgrund dieser künftig geteilten Meinung gemeinschaftlich ein Risiko eingehen, nämlich das Risiko des Erfolgs und das Risiko des Mißerfolgs. Das ist die Person des Perikles. Nun, einige Jahre später können wir die Person des Sokrates zeichnen, der in den Straßen Athens die Sprache aller und des Alltags spricht und sich systematisch weigert, zur Ratsversammlung zu gehen und sich an das Volk zu wenden. Warum verwendet er diese Sprache aller und des Alltags? Er verwendet sie so, daß er sich um sich selbst kümmern kann, indem er deutlich sichtbar die Ungerechtigkeiten ablehnt, die man ihm gegenüber begehen mag, aber auch indem er die anderen durch ungeniertes Fragen ermuntert - so daß er sich um die anderen kümmert, indem er ihnen zeigt, daß sie sich um sich selbst kümmern müßten, da er ja nichts weiß. Die andere Gefahr, die eine solche Tätigkeit mit sich bringt, akzeptiert er. Er akzeptiert sie bis zu seinem letzten Atemzug, er akzeptiert sie bis zum hingenommenen Tod. Das sind also die beiden Bilder, nach denen ich die Vorlesung gegliedert hatte, und ich hatte versucht, Ihnen den Übergang vom einen zum anderen zu zeigen. Aber - und darin besteht die andere Gruppe von Schlußfolgerungen, die ich ziehen möchte - wenn man diesen Übergang, diesen Wandel von der einen Person zur anderen hervorhebt, scheint mir, daß man einige der drei Aspekte herausstellen kann, in denen die antike Philosophie die parrhesiastischen Funktionen manifestiert und ausgeübt hat. Der erste Aspekt ist derjenige, den ich versucht habe, anhand des VII. und VIII. Briefs herauszuarbeiten, nämlich die Beziehung der philoso44°
phischen parrhesia zur Politik, eine Beziehung, von der ich versucht habe zu zeigen, daß sie zugleich eine Beziehung des Außenstehens, der Distanz, dann aber auch der Korrelation war. Die philosophische parrhesia war eine bestimmte nichtpolitische Weise, zu den Regierenden zu sprechen, und zwar darüber, wie sie die anderen und sich selbst regieren sollen. Diese indirekte Beziehung, diese Beziehung des Außenstehens und der Korrelation mit der Politik, stellt die Philosophie in eine Art von Gegenposition zur Politik, eine Gegenposition, die durch ihr Außenstehen, aber auch durch ihre Nichtreduzierbarkeit bestimmt ist. Eine Art von widerstrebendem und nachdrücklichem Außenstehen gegenüber der Politik. Hier manifestiert sich, wie mir scheint, sowohl der Mut, der der parrhesia eigentümlich ist, als auch die Tatsache, daß die philosophische parrhesia in dieser Beziehung zur Politik, Sie erinnern sich, ihre eigene Wirklichkeit beweist. Der zweite Aspekt, den ich Ihnen zeigen wollte - das habe ich letztes Mal betont -, ist folgender: Die philosophische parrhesia stellt sich in eine Beziehung, hier nun nicht mehr der Gegenposition oder des korrelativen Außenstehens gegenüber der Politik, sondern der des Gegensatzes und des Ausschlusses gegenüber der Rhetorik. Das trat deutlich im Text des Phaidros hervor. Diese Beziehung der Philosophie zur Rhetorik ist sehr verschieden von der Beziehung der Philosophie zur Politik. Es ist keine Beziehung des behaupteten Außenstehens und der aufrechterhaltenen Korrelation mehr, sondern ein Verhältnis des strengen Widerspruchs, ein Verhältnis konstanter Polemik, ein Verhältnis des Ausschlusses. Dort, wo die Philosophie ist, kann es keine Rhetorik geben. Die Philosophie bestimmt sich im Phaidros als Alternative und Gegensatz zur Rhetorik. Wenn der Politiker auf gewisse Weise ein anderer gegenüber dem Philosophen ist, dann doch ein anderer, zu dem der Philosoph spricht, und ein anderer, dem gegenüber der Philosoph die Wirklichkeit seiner philosophischen Praxis beweist. Dagegen ist der Rhetor gegenüber dem Philosophen ein anderer in dem Sinne, daß dort, wo es den Philosophen gibt, der Rhetor verjagt 44 I
werden muß. Es gibt keine Koexistenz, ihr Verhältnis ist das des Ausschlusses. Um diesen Preis des Bruchs mit der Rhetorik wird sich der philosophische Diskurs durch das Austreiben der Rhetorik selbst als konstante und dauerhafte Beziehung zur Wahrheit konstituieren und behaupten können. Sie erinnern sich, daß wir das im Phaidros gesehen hatten, als das, was mit der Austreibung der Rhetorik, mit ihrer Disqualifizierung erschien, keineswegs die Lobrede auf einen Logozentrismus war, der aus der Rede die eigentümliche Form der Philosophie machen würde, sondern die Behauptung einer stetigen Verbindung - gleichgültig, ob in schriftlicher oder in mündlicher Form - des philosophischen Diskurses mit der Wahrheit in der zweifachen Form der Dialektik und der Pädagogik. Die Philosophie kann also nur um den Preis des Opfers der Rhetorik existieren. In diesem Opfer aber manifestiert, behauptet und konstituiert der Philosoph seine beständige Verbindung mit der Wahrheit. Schließlich ist der dritte Aspekt - diesen dritten Aspekt werde ich versuchen, Ihnen nachher zu erklären, und Sie bitten, ihn an seinen eigentlichen Ort zu stellen, d. h. vor alles, was ich Ihnen gerade gesagt habe - einer, den man in vielen anderen Dialogen Platons, aber insbesondere im Gorgias finden kann. Die Briefe würden also das Verhältnis der Philosophie zur Politik als parrhesia charakterisieren. Der Phaidros würde zeigen, was die Philosophie als parrhesia in ihrem Gegensatz zur Rhetorik ist. Der Gorgias, so scheint mir, zeigt nun das Verhältnis der Philosophie zur Einwirkung auf die Seelen, zur Regierung der anderen, zur Leitung und Führung der anderen: die Philosophie als Psychagogie. Jedenfalls erscheint die parrhesiastische Philosophie in diesem Text in einem Verhältnis, das weder politisch noch rhetorisch ist, sondern psychagogisch, nämlich zur Leitung und Führung der Seelen. Diese parrhesiastische Philosophie wendet sich in ihrer psychagogischen Tätigkeit nicht mehr an den Politiker und an den Rhetor, sondern an den Schüler, an die andere Seele, an denjenigen, dessen Seele, und eventuell dessen Körper, sie nachstellt. Wir hätten es demnach 44 2
jetzt mit einer dritten Art von Beziehung zu tun. Es handelt sich nicht mehr um das Verhältnis einer Gegenüberstellung (die Philosophie gegenüber der Politik, wie es in den Briefen der Fall war) und auch nicht mehr um das Verhältnis des Ausschlusses wie bei der Rhetorik. Vielmehr ist es ein gewisses Verhältnis der Einbeziehung, der Gegenseitigkeit, der Koppelung, ein pädagogisches und erotisches Verhältnis, das im Gorgias charakterisiert wird und das mir der dritte Aspekt, der dritte Wesenszug des Philosophen als Parrhesiast zu sein scheint. Man kann sagen, daß die Philosophie mit diesen drei Wesenszügen (Verhältnis zur Politik, Ausschluß der Rhetorik, Verfolgung der Seele der anderen) auf gewisse Weise die Hauptfunktionen wieder aufgenommen hat, die wir in bezug auf die perikleische parrhesia, die politische parrhesia skizzieren konnten. Schließlich hatte, wie Sie sich erinnern, auch der große Athener Perikles den freien Mut, die Wahrheit zu sagen, um auf die anderen einzuwirken. Aber Perikles übte seinen freien Mut im Bereich der Politik selbst aus. Sokrates, Platon und die antiken Philosophen werden ihren Mut gegenüber den politischen Institutionen, aber nicht in den politischen Institutionen ausüben. Perikles sagte die Wahrheit unter der einzigen Bedingung, daß das, was er sagte, auch das war, was er für wahr hielt. Sokrates, Platon und dann die ganze antike Philosophie werden die Wahrheit nur unter aufwendigeren Bedingungen sagen können. Ihr Diskurs muß nach den Prinzipien der Dialektik gegliedert sein. Schließlich handelte es sich bei Perikles bloß darum, die Zuhörer zu überreden. Sokrates und auch Platon oder die anderen Philosophen müssen, um auf die Seele der anderen einzuwirken, ganz andere Verfahren einsetzen als die der schlichten Überredung. Wenn man deutlich sieht, wie die drei Funktionen der politischen parrhesia von Perikles in die sokratische parrhesia und von da an in die philosophische parrhesia der Antike transformiert werden, dann sieht man auch, daß sich in diesen drei Funktionen das abzeichnet, was mir die Elemente und die 443
grundlegendsten Merkmale der modernen Philosophie in dem historischen Sein, das sie sich selbst bestimmt, zu sein scheinen. Was ist die moderne Philosophie, wenn man sie, wie gesagt, als eine Geschichte der Veridiktion in ihrer parrhesiastischen Form lesen will? Sie ist eine Praxis, die in ihrem Verhältnis zur Politik ihre Wirklichkeit beweist. Sie ist eine Praxis, die in der Kritik der Täuschung, der Verlockung, der Vorspiegelung, der Schmeichelei ihre Funktion der Wahrheit findet. Sie ist schließlich eine Praxis, die in der Transformation des Subjekts durch sich selbst und durch den anderen ihr Wirkungsziel':· findet. Die Philosophie als Exteriorität gegenüber einer Politik, die ihre Realitätsprüfung darstellt, die Philosophie als Kritik im Hinblick auf einen Bereich der Täuschung, der sie herausfordert, sich als wahrer Diskurs zu konstituieren, die Philosophie als Askese, d. h. als Konstitution des Subjekts durch sich selbst, das scheint mir das moderne Wesen der Philosophie auszumachen oder vielleicht das zu sein, was im modernen Wesen der Philosophie das Wesen der antiken Philosophie wiederaufnimmt. Jedenfalls, wenn sich diese Perspektive aufrechterhalten läßt, versteht man auch, warum die Philosophie, die moderne ebenso wie die antike Philosophie, im Unrecht war oder wäre, wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Politik zu tun und wie zu regieren sei. Sie wäre im Unrecht, wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Wissenschaft das Wahre oder das Falsche sei. Sie wäre ebenfalls im Unrecht, wenn sie sich als Aufgabe die Befreiung oder Aufhebung der Entfremdung des Subjekts selbst vorgeben würde. Die Philosophie hat nicht zu sagen, was in der Politik geschehen soll. Sie muß in einer ständigen und widerstrebenden Exteriorität gegenüber der Politik sein, und darin besteht ihre Wirklichkeit. Zweitens hat die Philosophie nicht das Wahre und das Falsche im Bereich der Wissenschaft aufzuteilen. Sie soll beständig ihre Kritik gegenüber den Verlockungen, Vorspiegelungen und Täuschungen ausüben,
und darin spielt sie das dialektische Spiel ihrer eigenen Wahrheit. Schließlich hat die Philosophie nicht die Entfremdung des Subjekts aufzuheben. Sie soll die Formen bestimmen, in denen sich das Verhältnis zu sich selbst eventuell transformieren kann. Die Philosophie als Askese, die Philosophie als Kritik, die Philosophie als widerstrebende Exteriorität gegenüber der Politik, das ist, glaube ich, die Seinsweise der modernen Philosophie. Jedenfalls war das die Seinsweise der antiken Philosophie. Das waren die Dinge, die ich aus der Geschichte der parrhesia und aus der Verlagerung von der politischen parrhesia zur philosophischen parrhesia etwas herausarbeiten wollte. Sie sehen also, daß in diesem Schema eine Ausführung fehlt, daß es eine Leerstelle gibt, nämlich die, die dem Gorgias gewidmet sein sollte, d. h. der Art und Weise, wie Platon die Philosophie bestimmt und beschreibt, und zwar weder in ihrer Beziehung zum Herrscher noch in ihrer Beziehung zum Rhetor, sondern zu dem, um den sie sich kümmert, d. h. zu diesem anderen, diesem jungen Mann oder diesem beliebigen Mann, für den sie sich interessiert, dem sie nachstellt und dessen Seele sie zu bilden versucht. Diese Art von Beziehung - die sich sehr von der Beziehung des Gegenüber unterscheidet, die wir bei der Politik gefunden haben und die auch von der Beziehung des Ausschlusses im Hinblick auf die Rhetorik sehr verschieden ist möchte ich anhand von einem oder zwei Texten zu analysieren versuchen. Wenn Sie einverstanden sind, werden wir nun an dieser Stelle eine Pause machen. [... "]
". M. F.: Ich werde versuchen, die Fotokopie des Textes, über den ich spreche, zu holen.
". M. F.: die Ausübung ihrer Praxis 444
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Anmerkungen 1 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, a.a.O., Buch, II, §67, S. 107. 2 Ebd., §68, S. 107. 3 In Hermeneutik des Subjekts (passim) hatte Foucault häufig auf diesen Autor hingewiesen, allerdings von einem ethischen Gesichtspunkt aus. Eher politische Ausführungen über Musonius Rufus und Rubellius Plautus findet man jedoch im Manuskript der Vorlesung vom 27. Januar 1982. 4 Philostrat, Das Leben des Appolonios von Tyana, Buch V, Kap. 27-37, hg., übers. und er!. v. Vroni Mumprecht, München und Zürich 19 83, S. 521-559 (diese politische Debatte schließt drei Philosophen ein: Appolonius, Euphrates, Dion). 5 Vg!. zur Funktionsweise der Schule Epiktets die Vorlesung vom 27· Januar 1982, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 180-184. 6 Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen Foucaults in der Vorlesung vom 10. März 1982 (ebd., S.472-473), die sich wesentlich auf die Fragmente von Philoderns Peri parrhesias stützt. 7 Zur christlichen parrhesia konsultiere man die letzte Vorlesung aus dem Jahre 1984. 8 Epiktet, Epiktet, Teles und Musonius, übers. v. Wilhelm Capelle, Zürich 1948, S. 1}C. 9 Ebd., 24-25, S. 131. 10 Ebd., 83-84, S. 140.
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Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, zweite Stunde)
Studie des Gorgias. - Die Pflicht zum Geständnis bei Platon: der Kontext der Liquidierung der Rhetorik. - Die drei Eigenschaften des Kallikles: episterne; parrhesia; eunoia. Agonistisches Spiel vs. egalitäres System. - Die sokratische Rede: basanos und homologia.
Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Dies ist also die letzte Vorlesung. Ich nehme an, daß Sie wissen, daß es die letzte Vorlesung ist, weil ich ja die Schlußfolgerungen schon gezogen habe. Ich möchte also im Sinne eines kleinen Zusatzes, und um eine Lücke zu füllen, auf zwei Texte aus dem Gorgias eingehen, vor allem auf einen, der mir ziemlich gut die Art von Beziehung zu erfassen oder vielmehr zu skizzieren scheint, die, wie gesagt, nicht zum Politiker und auch nicht zum Rhetor, sondern mit dem Schüler hergestellt werden soll. Das ist der dritte Aspekt, der dritte Wesenszug, der dritte Tätigkeitsbereich der parrhesia. [...] Ich hatte also vor, nacheinander zwei Texte aus dem Gorgias zu studieren. Den einen werde ich knapper behandeln, weil es ein Text ist, der trotz der Bedeutung, die man ihm beimißt, nicht eigentlich der philosophischen parrhesia zu entsprechen scheint. Dann gibt es einen anderen Text, in dem Platon das Wort parrhesia verwendet. Dies ist die erste Verwendung des Wortes parrhesia in einem Bereich, den man den Bereich der Praktiken zur Leitung des Gewissens nennen könnte. Verständlicherweise ist es dieser zweite Text, mit dem ich mich befassen möchte. Was ich Ihnen über den Gorgias sagen möchte, ist in Kürze folgendes: Wie Sie wissen, wurde in der post- oder neoplatonischen Klassifikation dem Gorgias der Untertitel Peri tes retorikes (Über die Rhetorik) gegeben. Und tatsächlich handelt es sich auch um eine Befragung zur Rhetorik, aber eine Befragung, die sich völlig von derjenigen unterscheidet, die man im Phaidros findet. Im Phaidros vollzieht sich die Kritik an der Rhetorik, wie Sie wissen, durch eine Nachahmung der Rheto447
rik - ein komplexes Spiel, insofern die Rhetorik selbst eine Kunst der Schmeichelei ist, wobei am Ende der Nachahmung in bezug auf die Liebe gezeigt wird, daß nicht der rhetorische Diskurs in der Lage ist, die wahre Lobrede auf die wahre Liebe zu halten, sondern eine andere Art von Diskurs, der sich dauernd und kontinuierlich in Form der Dialektik nach der Wahrheit richten soll. Der Gorgias stellt nun die Frage nach der Rhetorik, aber er stellt sie anders, und zwar auf zweierlei Weise. Der Unterschied ist zweifach. Zunächst, weil der Gorgias die Frage stellt: »Was ist die Rhetorik ?« Hier müssen wir uns ganz zu Beginn des Textes auf eine Reihe von Überlegungen beziehen, die sich auf diese Frage konzentrieren. Während die aufeinanderfolgenden Gesprächspartner, vor allem Gorgias und Polos, eine Lobrede auf die Rhetorik halten wollen, antwortet Sokrates jedes Mal: Aber nicht doch, darum geht es nicht, was wir wissen wollen ist tis an eie techne tes retorikes (was ist die Kunst der Rhetorik, was ist das Wesen der rhetorischen Technik).l Am Ende einer ersten Diskussion, die zeigen wird, daß die Rhetorik nichts ist, da sie doch in der Kunst der Schmeichelei aufgeht, geschieht nun etwas, wodurch nicht definiert, sondern de facto aufgewiesen wird, was diese andere techne ist, die der Philosophie als Seelenführung. Es wird der Übergang von der Rhetorik zu jener anderen Praxis sein, die in der Seelenführung besteht, und zwar im Ausgang von einer Befragung über das Wesen der Rhetorik und die kaum theoretisch durchdrungene Demonstration des Wesens der philosophischen Praxis. Ich sage »kaum theoretisch durchdrungen«, weil es nämlich doch eine kleine Passage gibt, wo es darum geht und wo gerade das Wesen des philosophischen Diskurses an die Praxis der parrhesia geknüpft wird. Das ist also die Architektur des Dialogs oder zumindest die Perspektive, die ich für die Lektüre dieses Dialogs vorschlage. Der erste Teil, der von der Frage handelt» Was ist die Rhetorik, was ist das Wesen der Rhetorik ?« endet also mit folgender Schlußfolgerung: Das Wesen der Rhetorik ist nichts, wobei die
allgemeine Argumentation darin besteht zu zeigen, daß die Rhetorik nicht in der Lage ist, das zu erreichen, was sie vorgibt, nämlich das Gute. Im Gegenteil schlägt sie statt ihres eigenen Zieles etwas ganz anderes vor, was dessen Nachahmung, dessen falscher Schein und Täuschung ist, und ersetzt das Ziel des Guten durch das Vergnügen. Sie erreicht also ihr Ziel nicht, und das Ziel, das sie erreicht, ist nichts. Aus diesen beiden Gründen ist die Rhetorik nichts. Nachdem dieses Ergebnis des Nichtseins der Rhetorik zumindest als techne (die Tatsache, daß sie nicht das Wesen einer techne, einer wahrhaften Kunst hat) erzielt wurde, nachdem man an dem Punkt angelangt ist, daß die Rhetorik schon nichts mehr ist, folgt gewissermaßen als Zusatz dieser Text, den ich kopieren ließ (48oa) und der ein hochberühmter Text ist, was mir jedoch ungerechtfertigt zu sein scheint. Lesen wir nun kurz diesen Text: »Wenn man aber gar selbst Unrecht tut oder ein anderer, den man von Herzen liebt, so muß man selbst freiwillig dahin gehen, wo er so rasch als möglich seine Strafe empfangen wird, nämlich zum Richter wie sonst zum Arzte, und muß eilen, daß die Krankheit der Ungerechtigkeit nicht durch die Länge der Zeit in die Seele sich einfresse und sie unheilbar mache. «2 Etwas weiter (ich möchte keine Zeit verlieren) sagt Sokrates: »Also zur Verteidigung für die Ungerechtigkeit, sei es die eigene oder die der Eltern oder Freunde oder Kinder oder das Unrecht des Vaterlandes, ist uns die Rhetorik nichts nütze, mein Polos, es sei denn, daß man im Gegenteil annähme, man müsse gerade sich zumeist anklagen, dann aber auch seine Verwandten und alle anderen Freunde, wer von ihnen gerade Unrecht tut, und dürfe das nicht bemänteln, sondern müsse das Unrecht an das Tageslicht bringen, damit man Strafe erleide und gesund werde. Und man müsse auch sich selbst und die anderen nötigen, nicht verzagt zu sein, sondern mit geschlossenen Augen, wie zum Schneiden und Brennen an den Arzt, tapfer sich hingeben im Streben nach dem sittlich Guten, ohne Rücksicht auf den Schmerz, und wenn man ein Unrecht begangen hat, das Schläge verdient, müsse man sich zum Schlagen darbieten; wenn Gefängnis, dazu;
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wenn eine Geldstrafe, sie zahlen; wenn Verbannung, in Verbannung gehen; wenn den Tod, sterben, indem man zuerst sein eigener Ankläger sei und der übrigen Verwandten und dazu die Rhetorik gebraucht, daß die ungerechten Handlungen offenbar werden und sie von dem Übel frei werden, nämlich von der Ungerechtigkeit. «3 Ich brauche Ihnen nicht die Gründe darzulegen, weshalb mich dieser Text interessiert, da einer der Aspekte, d. h. eine der Fragen, die ich an die Geschichte der parrhesia stellen möchte, die Frage nach der langen und langsamen, sich über viele Jahrhunderte hinziehenden Entwicklung ist, die von einer Auffassung der politischen parrhesia als Recht, Privileg, zu den anderen zu sprechen, um sie zu leiten (die perikleische parrhesia), zu jener anderen, ich möchte fast sagen nach antiken parrhesia führt, die auf die antike Philosophie folgt und die man im Christentum finden wird, wo sie zu der Pflicht wird, von sich selbst zu sprechen, zur Pflicht, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, alles über sich selbst zu sagen, und zwar um geheilt zu werden. 4 Diese Art einer großen Wandlung der parrhesia als »Privileg der freien Rede, um die anderen zu leiten« zur parrhesia als »Pflicht für denjenigen, der einen Fehler begangen hat, alles über sich selbst zu sagen, um gerettet zu werden«, diese große Wandlung ist gewiß einer der wichtigsten Aspekte in der Geschichte der parrhesiastischen Praxis. In gewissem Sinne möchte ich gen au das rekonstruieren. Nun ist es aber ganz offensichtlich, daß wir hier, wie es auf den ersten Blick scheint, so etwas wie das erste Zeugnis dieser Wendung der parrhesia haben als »Recht, zu den anderen zu sprechen, um sie zu leiten« zur parrhesia als »Pflicht, über sich zu sprechen, um gerettet zu werden«. Diese lange Geschichte ist offenbar ganz wichtig, wenn man die Beziehungen zwischen Subjektivität und Wahrheit und die Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen analysieren will. Ich möchte nun folgende Frage stellen: Kann man diesen Text wirklich als die erste Formulierung dieser Wende, dieses Umschwungs lesen? Es würde sich um einen paradoxen Text handeln, denn er 45°
steht da etwas alleine, er ist fast der einzige - Sie werden sehen, daß er nicht ganz der einzige ist - und kündigt fünf oder sechs Jahrhunderte vorher das christliche Geständnis an, ohne es ausdrücklich vorwegzunehmen. Jedenfalls scheint er es zu ahnen. Denn ein Text wie dieser - die Formulierungen, die Gebote, die gegeben werden, die Rechtfertigungen, die dafür geboten werden - steht dem sehr nahe, was man ab dem Zeitpunkt findet, nach dem die Praxis der Buße wirklich institutionalisiert war - sagen wir nach dem 3. Jahrhundert bzw. in dessen Verlauf - und wird dann ab dem 4. bis 5· Jahrhundert zumindest in der christlichen Askese zu einer ständigen Praxis oder zu einem wesentlichen Aspekt der christlichen Askese. Jedenfalls sieht man z. B. schon in den Texten des heiligen Cyprian,s daß man die Pflicht, sobald man einen Fehler gemacht hat, zu dem zu laufen, der einen zugleich als Richter bestrafen und als Arzt heilen kann, beinahe Wort für Wort wieder findet, ohne daß, soweit ich weiß - aber das nur unter Vorbehalt, - sich je ein christlicher Autor auf diesen Text des Gorgias bezogen hätte, als ob sie tatsächlich gewußt hätten, daß es darin nicht ganz genau um dasselbe geht. Wie dem auch sei, hier setze ich jedenfalls ein Fragezeichen. Vielleicht findet man Bezugnahmen auf den Gorgias, es steht jedoch außer Frage, daß die Analogie auf den ersten Blick sehr frappierend ist. Jedenfalls deutet man in den modernen Kommentaren des Textes diese Passage als ein ernsthaftes Vorbild des guten moralischen und staatsbürgerlichen Verhaltens. Wir wissen wohl, daß, wenn man etwas Schlechtes getan hat, es schließlich am besten ist, zu jemandem zu gehen, der einen verurteilen und heilen kann, und dies
[... 'cl Sokrates kommt übrigens zweimal- es gibt zwei Absätze - auf diese Idee zu sprechen und scheint demnach eine gute Begründung dafür zu geben, daß die beste Weise der Psychagogie, wenn man sich ändern und von einem Ungerechten zu einem Gerechten werden will, darin bestünde, die Rhetorik zu ver". Unverständlich. 451
wenden, um auf der Ebene der Rechtsprechung, wo die Rhetorik tatsächlich ihren privilegierten (ich möchte fast sagen, natürlichen oder vielmehr institutionellen) Ort hat, sich anzuklagen und durch die darauf folgende Strafe seine Heilung zu erlangen. Ist das nicht die wahre Psychagogie ? Die Bestätigung dafür, daß die platonische Psychagogie also genau das sein soll, daß man hier die anerkannte Ahnung einer Praxis hätte, die von Platon selbst beglaubigt wurde und die dann jahrhundertelang und sogar jahrtausendelang ausgeübt wird, finden die Kommentatoren z. B. in der Tatsache, daß dieses kleine Schema auf gewisse Weise ahnen zu lassen scheint, was Sokrates selbst tun sollte, als er nach seiner Anklage vor seinen Richtern nicht geflohen ist. Statt dessen hat er eine Reihe von Anklagepunkten, die man gegen ihn hatte, anerkannt und die Bestrafung akzeptiert. Es ist auch eine Tatsache, daß man bei Platon sehr häufig das Thema findet, daß das Fehlverhalten eine Krankheit sei, und das ist ein ursprünglich pythagoreisches Thema. Das Fehlverhalten ist eine Krankheit, d. h. man muß es unter der doppelten Perspektive der Unreinheit, die vertrieben werden soll, und der Krankheit, die geheilt werden soll, verstehen. Reinigung und Heilung sind in der pythagoreischen Tradition miteinander vermischt, und es ist klar, daß man hier ein Echo findet. Schließlich begegnet man auch bei den griechischen Tragikern ziemlich häufig der Idee, daß das strafende Urteil, da das Fehlverhalten sowohl Krankheit als auch Unreinheit ist, die auferlegte Strafe sowohl Heilung als auch Reinigung darstellen. Man kann also in der Tat annehmen, daß wir hier dieses Thema haben - was durch eine Reihe von weiteren Bestätigungen gestützt wird und ein Echo einer Reihe anderer Ideen darstellt -, daß die wahre Wandlung der Seele sich durch eine Rhetorik des Bekenntnisses vollziehen muß, und zwar auf einer gerichtlichen Bühne, wo das Wahrsprechen über sich selbst und das Bestraftwerden durch einen anderen die Wandlung vom Ungerechten zum Gerechten leisten werden. Wir hätten hier also eine Art von Kern, dessen Schicksal Jahrtausende dauern sollte. Nun glaube ich aber, daß, wenn man diesem Text
den Sinn beimißt, den ich gerade vorgeschlagen habe, einen so positiven und unmittelbaren Sinn, man sich natürlich von zwei anachronistischen Schemata verwirren läßt: das Schema des christlichen Bekenntnisses mit seiner beständigen doppelten Verweisung, einer gerichtlichen und einer medizinischen, und das Schema einer strafrechtlichen Praxis, die seit mindestens dem 13. Jahrhundert die Strafe immer wieder durch ihre therapeutische Funktion gerechtfertigt hat. Ich glaube also nicht, daß es möglich ist, dem Text diesen Sinn zu geben. Und nichts scheint mir von der platonischen Psychagogie weiter entfernt zu sein als die Vorstellung, daß eine Rhetorik des Geständnisses auf der Bühne des Gerichts die Wandlung vom Ungerechten zum Gerechten bewirken könne. Wenn man in den tragischen Texten oder in anderen griechischen Texten viele Stellen findet, die die therapeutische Funktion des Gerichts betreffen, bezieht sich die vom Gericht verlangte Therapie meistens nicht auf die Seele dessen, der ein Fehlverhalten gezeigt hat. Es handelt sich um eine Therapie, die auf den Staat angewendet werden soll. Betrachten wir das Beispiel des Ödipus: Die Bestrafung des Verbrechers heilt ihn nicht. Sie vertreibt ein Übel aus dem Staat, das in der Tat zugleich als Unreinheit und als Krankheit wahrgenommen wird. Das ist keine Psychagogie, sondern eine Politik. Eine Politik der Reinigung, die durch jene Vorstellung ins Spiel kommt, daß das Gericht heilt, und keineswegs eine Psychagogie der einzelnen Seelen. Zweitens glaube ich auch nicht, daß man das Beispiel des Sokrates anführen kann, denn im Grunde tut Sokrates etwas ganz anderes, als sich selbst anzuklagen, als er vor Gericht gebracht wird. Sokrates eilt nicht überstürzt zum Richter, nachdem er einen Fehler begangen hat, er kommt ihm überhaupt nicht entgegen; im Gegenteil sind es die Richter, die ihn verfolgt haben. Wenn er sich andererseits verurteilen läßt, dann keineswegs deshalb, weil er eine Ungerechtigkeit begangen hätte und weil er anerkennen würde, daß er eine solche begangen hätte. In den Texten, sei es nun die Apologie, der Phaidon oder in gewisser Hinsicht der Kriton, sei es auch ein Text, den man am Ende des
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Gorgias findet, wo in einer Art von rückblickender Ahnung auf Sokrates' Prozeß - der gegenüber diesem Dialog in der Zukunft lag - angespielt wird,6 erscheint Sokrates keineswegs als jemand, der sagt: Ich bin schuldig, und deshalb unterwerfe ich mich den Gesetzen. Sondern: Weil sich die Bürger der Gesetze bedienen, die zwar an sich gerecht sind, nur um mich ungerechterweise zu verurteilen, würde ich selbst eine Ungerechtigkeit begehen, wenn ich versuchen würde, diesen Gesetzen zu entkommen. Die Anerkennung, die ich dem Staat schulde, die Achtung, die die Gesetze gebieten, all das ist dafür verantwortlich, daß, auch wenn ich ungerechterweise verfolgt werde, ich mich weder der Verfolgung noch deren Konsequenzen entziehen werde; darin würde die Ungerechtigkeit bestehen. Das ist also in keiner Weise etwas, das von der Art eines Bekenntnisses wäre, sondern Sokrates spielt ein ganz anderes Spiel gegenüber seinen Richtern. Nicht das Eingeständnis eines begangenen Fehlverhaltens, sondern der Gehorsam gegenüber den Gesetzen, um keine Ungerechtigkeit zu begehen, indem man sie nicht befolgt. Bemühen wir also nicht das Beispiel des Sokrates, um die Bedeutung dieser vermeintlichen Szene des therapeutischen und psychagogischen Geständnisses zu bestätigen. Warum bezieht sich nun Sokrates hier auf das Eingeständnis der Fehler, und welche Bedeutung muß man dieser Passage beimessen? Mir scheint, daß man zunächst an den Kontext erinnern muß. Diese Passage bildet das Scharnier zur gewissermaßen vorbereitenden Diskussion mit Polos -wo man, wie gesagt, zeigt, daß die Rhetorik nichts ist, wenn man von ihr zumindest verlangt, daß sie eine techne sei -, das Scharnier also zur Liquidation der Rhetorik und dessen, was im zweiten Teil bei der Diskussion mit Kallikles die Erhellung der philosophischen parrhesia selbst ist. Man muß diesen Text als eine Art von endgültigem Grenzstein der Debatte über die Rhetorik und, wie mir eher scheint, deren historische Wendung verstehen. Sokrates stellt hier einen geradezu possenhaften Gebrauch der Rhetorik vor. Nun, ich werde »possenhaft« in Anführungsstriche setzen, man sollte vorsichtiger und besonnener sein. Ich
meine folgendes: Sokrates stellt fest - hat er doch gezeigt, daß die Rhetorik nichts ist -, daß es nicht darum geht, der Ungerechtigkeit der anderen zu entfliehen. Es geht vielmehr darum, daß man selbst keine Ungerechtigkeit begeht. Und wenn es darum geht, wozu dient dann die Rhetorik? Er hat es schon gesagt: Die Rhetorik kann zu nichts dienen. Denn, wenn es darum geht, keine Ungerechtigkeit zu begehen, dann geht es doch darum, aus dem Ungerechten einen wirklich Gerechten zu machen, und nicht darum, daß der Ungerechte bloß als gerecht erscheint. Die Rhetorik dient also zu nichts. An diesem Punkt angekommen, sagt er: Wenn ihr euch wirklich der Rhetorik bedienen wollt, wenn ihr euch trotz ihrer wirklichen Untauglichkeit der Rhetorik bedienen wollt, zu welchem Zweck könnt ihr euch ihrer bedienen? Und dann stellt er sich jene paradoxe Szene vor - eine Szene, die an sich unmöglich ist und für einen Griechen, glaube ich, keinen Sinn ergibt -, wo man jemanden vor ein Gericht eilen und - der Text sagt es ausdrücklich - seine ganze Kunst der Rhetorik aufbieten sieht, um zu sagen: Ich bin der Schuldige, bitte bestraft mich. Sokrates präsentiert diesen Gebrauch der Rhetorik als paradoxe, als unmögliche Szene, um damit zu zeigen, inwieweit die Rhetorik nichts auszurichten vermag. Daß das jedenfalls der Sinn ist, in dem Sokrates die Szene vorstellt - nämlich eine paradoxe und unmögliche Szene zu sein -, wird, glaube ich, durch die unmittelbar folgende Passage bestätigt, wo, nachdem er den bekennenden Gebrauch, den Gebrauch der Rhetorik bei einem Geständnis erklärt hat, Sokrates sagt: Es gäbe auch einen anderen Gebrauch der Rhetorik, wenn ihr euch ihrer wirklich bedienen wollt, nachdem ihr zugegeben habt, daß die Hauptsache ist, kein Unrecht zu tun. Wenn ihr das nämlich zugegeben habt, dann könnt ihr euch der Rhetorik bedienen, und zwar entweder, was völlig absonderlich und unvorstellbar ist, um euch selbst anzuklagen, oder aber: »Wenn man aber im Gegenteil umgekehrt jemandem Schaden zufügen muß, sei es einem Feinde oder wem sonst, wofern man nur nicht selbst Unrecht erleidet von dem Feinde - denn davor muß man sich hüten -, wenn aber der
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Feind einem anderen Unrecht tut, muß man auf jede Weise, durch Wort und Tat, darauf hinarbeiten, daß er keine Strafe erleide und nicht vor den Richter komme. Kommt er aber vor Gericht, so muß man es dahin bringen, daß der Feind glücklich durchkommt und keine Strafe erhält, sondern wenn er viel Geld geraubt hat, daß er das nicht zurückgibt, vielmehr es behalte und für sich und die Seinigen widerrechtlich und gottlos verbrauche; und hat er todeswürdige Verbrechen begangen, daß er nicht den Tod finde, womöglich niemals, sondern unsterblich bleibe in seiner Schändlichkeit, - wo nicht, daß er möglichst lange in dieser Weise fortlebe.«7 Mir scheint, daß dieser Text die Bedeutung des unmittelbar vorangehenden, von dem ich Ihnen eine Kopie ausgeteilt habe, vollkommen erhellt. Die Situation ist also folgende: Da es wichtig ist, keine Ungerechtigkeit zu begehen, kann man folgern, daß die Rhetorik nichts ist. Sie ist an sich nichts, und nichtig ist ihr Gebrauch. Aber wenn ihr wirklich - aufgrund des Prinzips, daß es darauf ankommt, keine Ungerechtigkeit zu begehen - Gebrauch von der Rhetorik machen wollt, von dieser Sache, die nichts ist und zu nichts nützt, was könnt ihr dann tun? Nun, ihr könnt in zweierlei Weise einen grotesken Gebrauch von ihr machen: Einmal könnt ihr zum Richter laufen und euer rhetorisches Talent entfalten, indem ihr euch selbst anklagt; zweitens, wenn ihr einen Feind hättet, den ihr absolut nicht leiden könnt, könntet ihr ihn vor Gericht verteidigen und euch bemühen, daß er nicht bestraft wird und daß er also in dieser Strafe nicht den Grund für seine Verwandlung von einem Ungerechten in einen Gerechten finden kann. Ihr werdet ihn in seiner Ungerechtigkeit halten, ihr würdet es bewirken, daß er keine Wiedergutmachung leistet, und auf diese Weise könntet ihr, die ihr sein Feind seid, ihm den schlechtesten Dienst erweisen. Das sind die beiden Widersinnigkeiten der unmöglichen und lächerlichen Verwendung der Rhetorik, sobald man die vorangehenden Prinzipien zugegeben hat. Es gibt keine Psychagogie des Geständnisses, es gibt keine gerichtliche Psychagogie. Die Manifestation der Wahrheit über sich selbst vor einem strafen45 6
den Richter ist nicht das Mittel, um sich von einem Ungerechten zu einem Gerechten zu wandeln. Mir scheint also, daß man diesen Sinn vor Augen haben muß, wenn man über diesen Text spricht.':Dagegen - wir gehen nun zu dem anderen Text über, von dem ich sprechen wollte - gibt es eine Passage, wo man sieht, was die Seinsweise des Diskurses ist, der wirklich die in Frage stehende Psychagogie realisieren kann. Es ist nicht die Rhetorik, nicht ein Vergehen im Sinne der Rechtsprechung, die Dinge vollziehen sich nicht in diesem Spiel des Vergehens, des Eingeständnisses und der Bestrafung. Die Passage, die ich zitiere [... ':-':-] steht bei 486d: "Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte, lieber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn ich einen von den Steinen fände, womit man das Gold prüft, und zwar den besten, an den ich sie nur zu bringen brauchte, um gen au zu erfahren, daß es richtig mit mir steht und daß ich keines anderen Prüfsteins bedarf, wenn jener mir versicherte, daß meine Seele richtig gebildet sei? [... ] Denn ich denke, wer ordentlich prüfen soll, ob die Seele richtig lebt oder nicht, der muß dreierlei Vorzüge 8 in sich vereinigen, die du alle hast: Einsicht (epistemen), Wohlwollen (eunoian) und Freimut (parrhesian). Denn ich treffe auf viele, die nicht imstande sind, mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du. Andere sind wohl weise: aber sie wollen mir die Wahrheit nicht sagen, weil sie kein Interesse für mich haben, wie du. Diese beiden Fremden aber, Gorgias und Polos, sind weise und mir befreundet; es fehlt ihnen jedoch an parrhesia, und sie sind zu verschämt, mehr als sich gebührt; wie sollten sie auch nicht? Haben sie doch das Schämen so weit getrieben, daß aus Scham jeder von ihnen in Gegenwart vieler Menschen sich selber geradezu zu widersprechen wagt [.. .]. Du aber hast alles, was die anderen nicht haben.«9 Er zählt ,,- Das Manuskript enthält hier eine sehr lange Ausführung über den Unterschied zwischen der Position des Sokrates zur Funktion der Strafe, die hier zum Ausdruck kommt, und der des Pro ta go ras im gleichnamigen Dialog in 324a. ,,-,,- Das steht auf der anderen Fotokopie. 457
dann die drei Vorzüge auf, die Kallikles besitzt: Er ist epistemon (er hat episteme); er empfindet Freundschaft und Zuneigung zu Sokrates;10 und »daß du der Mann bist, freimütig zu reden ohne Scheu, sagst du selbst> und deine Rede, was du kurz vorher sprachst, stimmt dazu. So steht es jetzt offenbar hiermit. Wenn du nun in der Untersuchung in einem Punkte mit mir übereinstimmst, so wird der schon hinlänglich von dir und mir geprüft sein, und man braucht ihn nicht mehr an einen anderen Prüfstein heranzubringen.«ll Etwas weiter unten auf der Seite haben wir bezogen auf das, was man den parrhesiastischen Pakt für die Bewährungsprobe der Seelen nennen könnte, den folgenden kurzen Absatz, jene Zeilen, die sich in der Tat auf das Verhalten und die Leitung der Seelen beziehen: »Denn wenn ich in meiner Lebensweise etwas nicht recht mache, so wisse, daß ich nicht mit Absicht fehle, sondern aus Unwissenheit. Wie du nun anfängst mich zu warnen, so lasse nun nicht ab, sondern zeige mir ordentlich, was ich eigentlich treiben muß, und auf welche Weise ich es erlangen könne! Wenn du nun findest, daß ich jetzt mit dir übereinstimme und in späterer Zeit nicht nach dem tue, was ich zugestanden habe, so halte mich nur für einen Tropf und warne mich nie mehr in der Zukunft, als dessen unwürdig!«12 Dieser Text steht in einem wenn auch indirekten, so doch ziemlich deutlichen Gegensatz zu dem, den ich gerade vorgelesen habe. In beiden Fällen handelt es sich um die Frage: Was ist zu tun, wenn man einen Fehler begangen hat? Die skurrile, absurde Hypothese für jemanden, der an die Rhetorik glaubt, ist: zum Richter laufen und sich selbst anklagen. Und nun haben wir die andere Formel, die sich gerade auf die philosophische Tätigkeit hinsichtlich der Seele bezieht, wo man, wenn ein Fehler begangen wurde, zugeben muß, daß er nicht absichtlich begangen wurde und daß folglich der, der ihn begangen hat, noch weiteren Rat braucht. Wenn er jedoch, nach diesen Ratschlägen und nachdem er über die Natur des Vergehens aufgeklärt wurde, denselben Fehler erneut begeht, wird die einzige Strafe darin bestehen, von dem, der ihn leitet, verlassen zu werden. Sie sehen, daß wir uns hier 45 8
auf einer ganz anderen Bühne mit ganz anderen Verfahrensweisen und in einem ganz anderen Kontext bewegen und daß es um ein ganz anderes Spiel im Vergleich mit dem Spiel des Geständnisses auf der gerichtlichen Bühne geht. Ich möchte nun ein wenig auf die Elemente eingehen, die wir in dieser Passage vorfinden. Mir scheint, daß hier die Seinsweise des philosophischen Diskurses und seine Weise, die Seele zugleich mit der Wahrheit, dem Sein (dem Seienden) und dem anderen zu verbinden, knapp und gewissermaßen rein methodologisch (als Diskussionsregeln) definiert wird. Diese Passage scheint mir deshalb interessant zu sein, weil sie zwar beiläufig, aber doch sehr deutlich das wieder aufnimmt und theoretisch betrachtet, worum es während des ganzen Dialogs ging, da ja Sokrates - diejenigen unter Ihnen, die ihn gelesen haben, werden sich daran erinnern - ständig zu seinem Gesprächspartner sagt: Ich will nicht, daß du mir große Reden hältst, ich will nicht, daß du mir eine Lobrede auf die Rhetorik hältst, ich will nur, daß du auf meine Fragen antwortest. Und ich will, daß du auf meine Fragen antwortest, nicht - wie es im Menon heißt oder wie man es in anderen Dialogen findet - weil du die Wahrheit in der Tiefe deiner selbst weißt. Oder vielmehr ist diese Aussage implizit darin enthalten, aber das Thema des »ich will, daß du auf meine Fragen antwortest«, das den ganzen Gorgias durchzieht, ist nicht auf diesen Punkt fokussiert. »Ich will, daß du auf meine Fragen antwortest« bedeutet im Gorgias: Ich will, daß du der Zeuge der Wahrheit bist. Wenn du auf die Fragen, die ich dir stellen werde, genau so antwortest, wie du denkst, genau so, wie es dir in den Sinn kommt, ohne etwas zu verbergen, weder aus Absicht noch durch rhetorische Ausschmückung, noch aus Scham - welche hierbei erneut eine große Rolle spielen wird _, wenn du also genau das sagst, was du denkst, dann haben wir darin eine wahrhafte Prüfung der Seele. Der Dialog wird hier nicht als Instrument zur Speicherung im Gedächtnis, nicht als dialektisches Spiel mit dem Gedächtnis gerechtfertigt. Er wird gerechtfertigt als ständige Prüfung der Seele, als basanos (eine 459
Prüfung) der Seele und ihrer Qualität durch das Spiel der Fragen und Antworten. Dieser Text ist auch deshalb interessant, weil hier das Wort parrhesia erscheint, dieses Wort, das offenbar in seiner gängigen Bedeutung außerhalb des konkreten politischen Bereichs, außerhalb des institutionellen Bereichs, von dem wir gesprochen haben, verwendet wird, während man auf diese Weise theoretisiert und eine Reihe von Themen zusammenfaßt, die den ganzen Dialog durchziehen und die eine Art von Pakt sind, an den Sokrates den ganzen Dialog hindurch erinnert. Das heißt, daß es sich hier um den schlichten Freimut im Reden handelt, darum, das zu sagen, was man im Kopf hat, um die Redefreiheit, genau das zu sagen, was man denkt, ohne Einschränkung und ohne Scham. Aber wenn diese Bedeutung des Wortes parrhesia auch die herkömmliche ist, so wird das Wort hier doch in einer Reflexion auf die Frage gebraucht, was der philosophische Dialog sein soll und was folglich das Spiel der Wahrheit und das Spiel der Prüfung sein soll, das von dem Philosophen und seinem Schüler gespielt wird - dem Fragesteller und dem Befragten, dem Verfolger und dem Verfolgten. Insofern glaube ich, daß wir hier eine erste Verwendung - jedenfalls gibt es in der Literatur dieser Zeit und davor keine anderen des Wortes parrhesia im Kontext bzw. innerhalb jener Praxis haben, die schon die Praxis der Gewissensleitung ist. Viel später findet man dann Texte, die der Theorie der parrhesia im ganzen oder teilweise eine wichtige Rolle zuweisen werden. Wir haben beispielsweise eine Abhandlung von Plutarch, die der Unterscheidung der Schmeichler gewidmet ist: Wie läßt sich ein Schmeichler erkennen, wie kann man einen Schmeichler entlarven?13 In Wahrheit ist dieser Text eine sehr technische Diskussion darüber, was die Schmeichelei im Gegensatz zur parrhesia ist. Und hier haben wir eine wenn nicht theoretische, so doch zumindest technische, gewissermaßen technologische Reflexion auf die parrhesia. Hier wird zwar die Frage noch nicht gestellt, aber das Wort wird schon im Kontext dieser Praxis der Seelenleitung, der philosophischen Leitung, der indivi460
duellen Seelenleitung verwendet, und zwar zum ersten Mal. Deshalb müssen wir etwas bei diesem Text verweilen. Der Kontext, in dem diese Passage steht, ist, wie Sie sich erinnern, sehr einfach. Sie kommt kurz nach der Stelle über das Geständnis und scheint mir geradezu in einem karikaturistischen Gegensatz zu dieser zu stehen. Polos wurde also als Gesprächspartner disqualifiziert, weil er sich gewissermaßen in der Diskussion verirrt hat. Er mußte zugeben, daß, wenn der Gerechte wirklich besser ist als der Ungerechte, die Rhetorik zu nichts dient. In diesem Moment ergreift Kallikles das Wort. Kallikles hat genau gesehen, wo der Schwachpunkt der Rede des Polos lag, nämlich daß er versuchte, zwei Aussagen gemeinsam aufrechtzuerhalten. Erstens die Aussage, daß die Rhetorik nützlich ist, und zweitens die Aussage, daß der Gerechte besser als der Ungerechte ist. Sokrates hat gezeigt, daß die beiden Aussagen zusammen nicht haltbar waren, und da er dafürhielt, daß der Gerechte besser ist als der Ungerechte, hat er also gezeigt, daß die Rhetorik nutzlos ist, nicht nur daß sie nutzlos ist, sondern daß sie nichts ist. Vor diesem Hintergrund läßt sich Kallikles' Taktik leicht ableiten. Kallikles wird die andere Position einnehmen, die in folgendem besteht: Es ist nicht wahr, daß der Gerechte den Vorzug vor dem Ungerechten hat und folglich die Rhetorik existiert und sie daher nützlich ist. Das ist die berühmte Passage über die Tatsache, daß der Gerechte dem Ungerechten nicht vorzuziehen sei, die nicht nur als Skizze dessen, was Thrasymachos im Staat sagt, erläutert und gedeutet wird, sondern auch als eine Art von Ahnung des nietzscheanischen Menschen, eine Art erster Behauptung des Willens zur Macht interpretiert wird. Diese Deutung scheint mir dagegen völlig abenteuerlich und ebenso anachronistisch zu sein wie diejenige, die aus der zuvor erläuterten Passage eine Vorahnung des Geständnisses machen wollte. Es handelt sich nicht um eine Moral des Geständnisses und der Bestrafung, die einer Moral des Willens zur Macht entgegengesetzt wäre, was im Dialog des Gorgias inszeniert wird. Aus offensichtlichen historischen Gründen wäre das sehr erstaunlich. 461
Wenn ich auf Kallikles insistiere, dann aus einem einfachen Grund, wie Sie sehen werden. Um den Dingen ihren Ort anzuweisen, weil wir uns beeilen müssen, möchte ich bloß sagen, daß Kallikles im Grunde ein tüchtiger, anständiger und insgesamt völlig normaler junger Mann ist. Denn wenn Sie seine Rede über den Gerechten und den Ungerechten betrachten, als er sagt: Es ist nicht wahr, daß der Gerechte dem Ungerechten vorgezogen werden soll, wie und womit rechtfertigt er seine Behauptung? Er rechtfertigt sie, indem er sagt: Man soll sich nicht verhalten wie ein Sklave, denn die Sklaven erleiden U ngerechtigkeit, ohne sich verteidigen zu können (in 483b). In 483c heißt es: Man muß zu den Stärksten, zu den Fähigsten gehören, zu denen, die dynatoi pleon echein sind (die fähig sind, mehr als die anderen zu haben). Man muß versuchen, hoi polloi, die Vielen (483d), zu übertreffen, man muß den dynatoteroi angehören (jenen, die mächtiger als die anderen sind). In 48 3e wird gesagt: Der Stärkere (kreitton) soll über den Geringeren, den Schwächeren (hetton ) herrschen, man soll den beltistoi, den Besten, angehören. 14 Dies alles sind nun aber die banalsten Formulierungen, die man bei jedem Griechen finden kann, sobald er zur Kategorie der vollberechtigten Bürger und zu jener Klasse von Leuten gehört, die durch ihren Status, ihre Geburt, ihr Vermögen den Anspruch haben, den Staat zu regieren. In Kallikles' Entwurf gibt es nichts Außergewöhnliches. Das einzige, woran er sich stößt und was dafür verantwortlich ist, daß diese völlig normale Einstellung - unter den Besten sein zu wollen und als Bester jemand sein zu wollen, der über den Schwächeren und Schlechteren herrscht - einen Widerstand erfährt, ist die Tatsache, daß er sich mit einem nomos (einem Gesetz) konfrontiert sieht, das gerade das Gesetz der athenischen Demokratie ist, die danach strebt, allen denselben Status zu verleihen und vor allem zu verhindern, daß irgend jemand die anderen beherrscht. Gegenüber dem, was für ihn ein Skandal ist (dieses Gesetz der Gleichheit) - hier gibt es etwas, das die Person des Kallikles von einem jungen Aristokraten wie allen anderen unterscheidet -, gebraucht er eine Argumentation, die
bekanntlich direkt von den Sophisten, von Gorgias, von Protagoras usw. stammt und die in der Behauptung besteht, daß der nomos nur eine Sache der Konvention ist und daß kein Gesetz verpflichte, von der Natur abzugehen. Er deutet also die Situation um, die er nicht ertragen kann. Er, der das aristokratische Spiel des Besseren auf gewöhnliche Weise spielen will, der einer agonistischen Welt angehört, in der die Stärkeren über die Schwächeren herrschen sollen, verwendet diese Art von Räsonnement. Man muß also verstehen, daß Sokrates in Kallikles keineswegs einem vorausgeahnten Vertreter einer gleichsam nietzscheanischen Aristokratie begegnet - der unfähig wäre, sich irgendeinem Gesetz zu beugen, sofern dieses Gesetz seinen Appetit nach Macht zügeln wollte. In Kallikles begegnet Sokrates einem jungen Mann, der in einem egalitär gewordenen System ein herkömmliches agonistisches Spiel spielt. Sein Vorteil an Vermögen und sein herkömmlicher Status können ihn nicht mehr unter die Besten einreihen, und die Tatsache, daß er zu den Besten gehört, verleiht ihm keine wirkliche Autorität. Wie kann er diese also erwerben? Nun, ganz einfach durch die Rhetorik. Die Rhetorik wird also das Instrument sein, das ihm innerhalb des egalitären Systems erlauben wird, das alte herkömmliche Spiel des Vorrangs und des privilegierten Status zu spielen. Die Rhetorik ist das Instrument, um eine Gesellschaft wieder inegalitär zu machen, der man durch demokratische Gesetze eine egalitäre Struktur auferlegen wollte. Die Rhetorik sollte also nicht mehr an den Gesetzen ausgerichtet sein, da sie ihr Spiel gegen diese Gesetze betreibt. Die Rhetorik muß also dem Gerechten und dem Ungerechten gegenüber gleichgültig sein und als reines agonistisches Spiel gerechtfertigt werden. Das ist der Kontext, in dem die Passage steht, die ich erläutern möchte. Was wird nun Sokrates gegenüber diesem Gebrauch der Rhetorik ohne Ausrichtung am Gerechten und am Ungerechten Kallikles vorschlagen? Nun, er wird ihm ein anderes Diskursspiel vorschlagen, das gänzlich und Stück für Stück verschieden ist. Erstens ist die Rhetorik entweder in dieser herkömm-
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lichen Situation oder in einer konflikt geladenen Situation, in der die Leute, die zur Elite gehören oder das agonistische Spiel spielen wollen, es mit einer egalitären und demokratischen Struktur zu tun haben, ein Diskurs, der im Geiste Kallikles' sowie übrigens im Geiste der Rhetoren nur eine einzige Verwendung hat: Es geht darum, über die Vielen (hoi polloi) zu herrschen und sich deshalb an sie zu wenden und sie zu überreden. Wenn man dann die Überredung erreicht und die Unterstützung der Vielen gewonnen hat, kann man die Rivalen übertreffen. Die Rhetorik ist sozusagen eine Diskurspraxis, die mit drei Kategorien von Personen zu tun hat: Es gibt die Vielen, die man überzeugen muß; es gibt die Rivalen, die man übertreffen muß; und dann gibt es noch den, der die Rhetorik einsetzt und der in den Rang des ersten aufsteigen will. Was nun Sokrates Kallikles vorschlägt, ist ein Diskurs, der in diesem Spiel auf drei Etagen oder in dem agonistischen Raum der Vielen, der Rivalen und dem, der Sieger sein will, keinen Ort hat. Es ist ein Diskurs, dessen man sich als basanos,15 als Prüfung einer Seele durch eine andere bedient. Während der ganzen vorangehenden Diskussion mit Polos ging es um die Frage, ob man sich des Gesprächspartners wie eines Märtyrers, wie eines Zeugen bedienen solle. 16 Hier bedeutet das Wort basanos, daß der Diskurs von einer Seele zur anderen wie ein Prüfstein übergehe. In welchem Sinne wie ein Prüfstein? Die Verwendung der Metapher des Prüfsteins ist interessant. Was zeigt denn der Prüfstein? Was ist sein Wesen und seine Funktion? Sein Wesen besteht darin, daß er so etwas wie eine Affinität zwischen sich und dem, was er prüft, aufweist, welche dafür verantwortlich ist, daß das Wesen des von ihm Geprüften durch ihn offenbart wird. Zweitens spielt der Prüfstein auf zwei Registern: auf dem Register der Wirklichkeit und auf dem Register der Wahrheit. Der Prüfstein ermöglicht also ein Wissen darüber, was die Wirklichkeit der Sache ist, die man durch ihn prüfen will, und indem sich die Wirklichkeit der durch ihn geprüften Sache manifestiert, zeigt man, ob diese Sache wirklich die ist, die sie zu sein vorgibt, und ob ihr Diskurs oder ihre Er-
scheinung mit ihrem Wesen übereinstimmt. Die Beziehung zwischen den Seelen ist also gar nicht mehr eine Beziehung agonistischer Art, wo es darum ginge, über die anderen zu herrschen. Die Beziehung zwischen den Seelen wird den Charakter einer Prüfung haben, sie wird die Beziehung des basanos (des Prüfsteins) sein, die sich durch eine Wesensverwandtschaft vollzieht und durch diese Wesensverwandtschaft zugleich einen Beweis der Wirklichkeit und der Wahrheit der Seele liefert, d. h. einen Beweis dafür, wie es um ihre Wahrhaftigkeit (etymos) bestellt ist. Sie erinnern sich, wir sind dieser Vorstellung des Wahrhaftigen (des etymos) schon im Hinblick auf den logos begegnetY Und insofern eine Seele sich in dem manifestiert, was sie sagt (durch ihren logos, durch die Prüfung des logos im Dialog: wissen, was sie in Wirklichkeit ist, ob sie wirklich mit der Wirklichkeit übereinstimmt und ob sie die Wahrheit sagt), gilt das, was auf den logos zutrifft, auch für die Seele. Das Spiel ist also nicht mehr agonistisch (ein Spiel der Überlegenheit), sondern es ist ein Spiel der Prüfung zu zweit durch die Wesensverwandtschaft und die Manifestation der Wahrhaftigkeit, der Wirklichkeit-Wahrheit der Seele. Zweitens sieht man, daß bei dieser Prüfung der Wahrheit der Punkt, der mehrmals als kennzeichnendes Merkmal angegeben wird und der dafür verantwortlich ist, daß man diese Prüfung auch tatsächlich vollzieht und daß sie zu einer Entscheidung führt, in folgendem besteht. Es handelt sich um das, was im Text wiederholt homologia genannt wird. Homologia, dieser Ausdruck taucht mehrmals auf, bezeichnet die Identität des Diskurses des einen und des anderen. 18 Wenn es bei den beiden Seelen, die sich durch Wesensverwandtschaft prüfen, eine homologia gibt, die darin besteht, daß das, was der eine sagt, vom anderen auch gesagt werden kann, dann haben wir ein Wahrheitskriterium. Das Wahrheitskriterium des philosophischen Diskurses ist also nicht, wie man sieht, in einer Art innerer Verbindung zwischen dem Denkenden und der gedachten Sache zu suchen. Die Wahrheit des philosophischen Diskurses wird also keineswegs in der Form dessen erlangt, was später die Evi-
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denz sein wird, sondern sie wird durch etwas erreicht, was homologia genannt wird, nämlich die Identität des Diskurses zwischen zwei Personen. Das gilt jedoch nur unter einer Bedingung, und hier begegnen wir den drei Begriffen, die ich erläutern möchte und unter denen sich auch der Begriff der »parrhesia« befindet. Damit diese homologia, d. h. diese Identität des Diskurses auch das ist, was man von ihr erwartet, nämlich eine Prüfung der Qualität der Seele, muß nicht nur der Diskurs, sondern auch die Person, die ihn hält - eigentlich fallen diese drei Dinge zusammen -, einer Reihe von Kriterien genügen. Die drei Kriterien sind: episteme, eunoia, parrhesia. 19 Man müßte auf weitere Textstellen eingehen (aber leider habe ich nicht die Zeit dazu), die etwas weiter unten folgen und sich auf die Schmeichelei beziehen. 20 Was ist eigentlich die Schmeichelei? Die Schmeichelei ist augenscheinlich ebenfalls eine homologia. Was bedeutet es zu schmeicheln? Beim Schmeicheln nimmt man die Gedanken des Hörers, formuliert sie auf eigene Rechnung um, als ob es sich um meine eigene Rede handeln würde, und gibt sie an den Hörer zurück, der insofern viel leichter überredet und verführt wird, als es genau das ist, was er selbst sagt. Wir haben hier anscheinend auch eine homologia. Aber dies wird nie homologia genannt, denn der Anschein von Identität ist eben nur ein Schein. Nicht der logos selbst ist identisch, sondern die Leidenschaften, die Begierden, die Lüste, die Meinungen. Das aber ist alles trügerisch und falsch. Diese Dinge werden in der Schmeichelei wiedergegeben und wiederholt. Dagegen ist die homologia des Dialogs ein echtes Wahrheitskriterium. Die Tatsache, daß die beiden denselben logos innehaben, wird nur unter einer Bedingung keine Schmeichelei sein, nämlich daß die Gesprächspartner mit episteme, eunoia und parrhesia ausgestattet sind. Ich sage »die Hörer sollen ausgestattet sein mit«. Wir werden für einen Augenblick darauf zurückkommen, aber lassen wir das nun beiseite. Episteme, d. h. sie müssen Wissen besitzen: ,>Wissen« ist der Schmeichelei entgegengesetzt, die hier suspendiert wird, da sie nur zur Meinung
dient. Hier bezieht sich episteme nicht so sehr auf das gelernte Wissen der Gesprächspartner, sondern auf die Tatsache, daß sie nur dann etwas sagen, wenn sie wissen, daß es wahr ist. Zweitens wird die homologia unter folgender Bedingung keine Schmeichelei sein: Wonach die Gesprächspartner suchen auch das steht im Gegensatz zu den Schmeichlern - soll nicht ihr eigenes Gut, ihr Gewinn, ihr guter Ruf bei den Hörern, ihr politischer Erfolg usw. sein. Damit die homologia wirklich einen Wert als Ort der Formulierung und Prüfung der Wahrheit hat, ist es notwendig, daß beide Gesprächspartner ein Gefühl des Wohlwollens haben, das sich auf die Freundschaft gründet (eunoia). Um sicher zu sein, daß die homologia nicht einfach analog zum Schmeicheln sein wird, ist es schließlich drittens notwendig, daß jeder der beiden Gebrauch von der parrhesia macht, d. h. daß nichts von der Art der Furcht oder Schüchternheit oder Scham die Formulierung dessen einschränkt, was man für wahr hält. Der parrhesiastische Mut ist also notwendig. Die episteme, die bewirkt, daß man das sagt, was man für wahr hält, die eunoia, die bewirkt, daß man nur wohlwollend zum anderen spricht, die parrhesia, die den Mut gibt, alles zu sagen, was man denkt, und zwar trotz der Regeln, Gesetze, Gewohnheiten, das sind die drei Bedingungen, unter denen die homologia, d. h. die Identität des logos beim einen wie beim anderen, die Rolle des in Frage stehenden basanos (der Prüfung, des Prüfsteins) spielen kann. Episteme, eunoia, parrhesia, wenn Sie wirklich philosophische Vergleiche anstellen wollen, denken Sie daran, daß diese drei Kriterien in einer philosophischen Praxis, die durch den Dialog und die Einwirkung einer Seele auf eine andere charakterisiert ist, genau bzw. annähernd diejenige Stelle einnehmen, die die cartesianische Evidenz einnehmen wird, wenn sich der cartesianische Diskurs als der Ort zeigen und behaupten wird, an dem sich die Wahrheit manifestiert. Man müßte die Dinge natürlich noch etwas, vielleicht gar viel komplizierter darstellen, leider habe ich dazu aber nicht die Zeit ... Denn dieses Spiel vollzieht sich ja zu zweit, d. h. daß
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weder die episteme noch die eunoia, noch die parrhesia des Kallikles dieselben sind wie die des Sokrates. Alles, was in dem Dialog von diesem Moment an geschieht, wird gerade durch die Art und Weise bestimmt sein, in der Kallikles, der wirklich episteme aufweist - was er weiß und was er als wahr weiß -, der seine Freundschaft einsetzt - die zwar etwas begrenzt ist, aber dennoch durch sein Wohlwollen gegenüber Sokrates bestimmt wird - und der dann seine parrhesia zur Geltung bringt, die sich als Fähigkeit auszeichnet, selbst skandalöse und beschämende Dinge zu sagen, der also alle diese Dinge einsetzt und diese Regeln auf seinen eigenen Dialog anwendet, Schritt für Schritt dazu gebracht wird, die Rede von Sokrates siegen zu lassen. In diesem Augenblick behauptet sich nun im Schweigen des Kallikles, der darauf verzichtet zu sprechen, die episteme des Sokrates, die sich in der Formulierung der großen Prinzipien bezüglich des Leibes und der Seele, des Lebens, des Todes und des Überlebens ausdrückt, die so etwas wie den Kern des philosophischen Wissens selbst bilden; die eunoia des Sokrates, die in seiner Zuneigung zu Kallikles besteht; und die sokratische parrhesia, jene parrhesia, die er durch den ganzen Dialog hindurch unter Beweis stellte, die jedoch am Ende angesprochen wird, als der Dialog durch eine rückblickende Vorwegnahme den bevorstehenden Prozeß des Sokrates, seinen Tod und den Mut anspricht, mit dem er vor seinen Richtern die Wahrheit sagt. 21 So sind also episteme, eunoia und parrhesia die Schnittstelle der Wahrheit. Durch einen Pakt, zu dem Sokrates Kallikles in diesem Dialog ermuntert, wird die sich ereignende homologia, die den Rest des Dialogs bestimmt, der Beweis der Wahrheit dessen sein, was gesagt wird, und somit auch der Qualität der Seelen, die es sagen. Sie sehen, daß wir in dieser Vorstellung des Prüfsteins, der homologia und ihrer wesentlichen Bedingung, die in der parrhesia gipfelt, die Definition jener Verbindung haben, durch die der logos des einen auf die Seele des anderen einwirken und ihn zur Wahrheit führen kann. Auf diese Weise wird nun die parrhesia - die in ihrem politischen Gebrauch, 468
d. h. nach dem perikleischen Modell, die Möglichkeit hatte, um den Befehlshaber herum die Vielheit der anderen in der Einheit des Staats zu binden - den einen mit dem anderen verbinden, den Lehrer mit dem Schüler. Indem sie beide miteinander verbindet, wird sie sie zusammen mit jener Einheit verbinden, die nicht mehr die Einheit des Staats, sondern die Einheit des Wissens, die Einheit der Idee, die Einheit des Seins selbst ist. Die philosophische parrhesia des Sokrates bindet den anderen, bindet die beiden anderen, bindet den Lehrer und den Schüler in die Einheit des Seins, im Unterschied zur parrhesia des perikleischen Typs, die die Vielheit der im Staat versammelten Bürger zur Einheit der Befehlsgewalt dessen verbindet, der einen Einfluß auf sie ausübt. Sie verstehen, warum die perikleische parrhesia notwendig zu so etwas wie der Rhetorik führen mußte, d. h. zu jenem Gebrauch der Sprache, der es ermöglicht, die anderen zu übertreffen und sie durch Überredung zur Einheit der Befehlsgewalt in Form jener behaupteten Überlegenheit zu vereinen. Im Gegensatz dazu führt die philosophische parrhesia, die in diesem Dialog zwischen Lehrer und Schüler spielt, nicht zu einer Rhetorik, sondern zu einer Erotik. Das war's, danke schön. Anmerkungen I »Tis eie he Gorgiou techne« (Platon, Gorgias, 448e, übers. v. Julius Deuschle, Heidelberg I982, S. 305). 2 Ebd., 480a, S. 348-349. 3 Ebd., 480b-d, S. 349. 4 Diese Dimensionen der christlichen parrhesia werden in der Vorlesung vom 7. März I984 untersucht. 5 V gl. vor allem die Briefe (Thascius Caecilius Cyprianus, Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe, übers. v. Julius Baer, München I928). 6 »Wie sicher scheinst du dich doch zu fühlen, lieber Sokrates, daß dir gar nichts der Art widerfahren könne, als wohntest du aus dem Wege und könntest nicht vor Gericht gezogen werden, vielleicht gar von einem ganz verworfenen und schlechten Menschen!« (Platon, Gorgias, 52 IC , a. a. 0., S. 40 I und die ganze Ausführung, die in 52 I d -522e folgt (S. 40 I40 3).
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7 Ebd. 480e-48Ib, S. 349-350. 8 »[ ... ] der muß dreierlei Vorzüge in sich vereinigen, die du alle hast: Einsicht (epistemen), Wohlwollen (eunoian) und Freimut (parrhesian)« (ebd., 487a, S. 356). 9 Ebd., 486d-487b, S. 3 56-3 57· IO »Denn du besitzt hinlängliehe Bildung (pepaideusai te gar hikanos), wie viele Athener sagen würden, und bist wohlwollend gegen mich gesinnt (emoi ei eunous)« (ebd., 487b, S. 3 57)· 11 Ebd. 12 Ebd., 488a-b, S. 3 57-3 58. 13 »Les mo yens de distinguer le flatteur d'avec l'ami (Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet)«, in: Plutarch, CEuvres morales, a. a. 0., S. 84-14I. 14 »Die Gesetzgeber aber sind, denke ich, die schwächlichen Menschen und die große Masse (hoi polloi)! In Rücksicht auf sich und ihren eigenen Vorteil geben sie Gesetze, sprechen sie Lob und Tadel aus. Sie wollen die stärkeren Menschen, welche die Kraft haben, sich Vorteil anzumaßen (ekphobountes te tous erromenesterous ton anthropon kai dynatous ontas pleon echein), einschüchtern [.. .]. Die Natur selbst aber beweist, daß es gerecht ist, daß der Stärkere mehr habe als der Schwächere und der Fähige mehr als der Unfähige (pleon echein kai ton dynatoteron tou adynatoterou) [... ], daß das anerkanntes Recht ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe als jener (ton kreitto tou hettonos archein ) [.. .]. Die Besten (tous beltistous) und Stärksten aus unserer Mitte nehmen wir von Jugend an her ... « (Platon, Gorgias, 483b-e, a.a.O., S·353)· 15 »Wenn ich etwa eine gold ne Seele hätte, lieber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn ich einen von den Steinen fände, womit man das Gold prüft (tina ton lithon he basanizousin ton chryson) ... " (ebd., 486d , S. 356; basanos bedeutet im Griechischen »der Prüfstein«). 16 "Wenn ich aber nicht dich selbst als Zeugen aufstelle (an me se auton hena onta martyra), der meiner Behauptung zustimmt, so will ich nicht glauben, irgend etwas der Rede Wertes in der Untersuchung, die wir führen, vor mich gebracht zu haben« (ebd., 472b, S. 33 6). 17 V gl. zu diesem Punkt die Vorlesung vom 2. März und das Zitat aus dem Phaidros in 243a, oben S·4I4f. 18 »Homologeseien« (Gorgias, 486d), »homologeses« (486e und 487e). 19 Ebd., 487a, S. 35 6. 20 Ebd., 502d-e, S.377 und 5ud , S·40 3· 21 Vgl. oben, Anm.6.
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Frederic Gros';· Situierung der Vorlesungen
1.
Buchprojekte und Neubeginn
Die von Michel Foucault 1983 am College de France gehaltene Vorlesung trägt den Titel »Die Regierung des Selbst und der anderen«. Diesen Titel hatte Foucault zugleich für ein Buch vorgesehen, dessen Veröffentlichung er bei Seuil in der neuen Reihe »Des travaux« plante. 1 In diesem Jahr unternimmt Foucault also Forschungen, die ebenso viele Kapitel jenes nie erschienenen Werkes hätten einnehmen sollen und die die Untersuchungen des Vorjahres ergänzen sollten, welche ebenfalls in diesem Band hätten aufgenommen werden sollen. Parallel zu seiner Geschichte der Sexualität2 beabsichtigte Foucault in der Tat die Veröffentlichung einer Reihe von Studien zur antiken Gouvernementalität in ihren ethischen und politischen Dimensionen. Die Vorlesung ist also eine Fortsetzung der Vorlesung von 1982. Übrigens nimmt er auf diese häufig Bezug und erinnert hier und da an frühere Untersuchungen. 3 1982 hatte Foucault als allgemeinen Rahmen für seine Arbeit die historische Untersuchung der Beziehungen zwischen Subjektivität ". Frederic Gros ist Professor für politische Philosophie an der Universität Paris-XII. Er unterrichtet ebenfalls am Pariser Institut d'etudes politiques (Master-Studiengang »Histoire et Theorie du politique«). Letzte Buchveräffentlichung: Etats de violence. Essai sur la fin de la guerre, Paris, Gallimard, 2006. I Die Reihe wurde im Februar 1983 gestartet und von M. Foucault, F. Wahl und P. Veyne herausgegeben. Vgl. zu diesem Punkt die »Zeittafel« von D. Defert, in: Dits et Ecrits: Schriften, 1954- I988, Bd. I, S. 99. 2 Histoire de la sexualite, Bd. II (L'Usage des plaisirs) und III (Le Souci de soi), Paris 1984; dt. Der Gebrauch der Lüste: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt 1986, Die Sorge um sich: Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt 1986. 3 Vgl. oben die Vorlesungen vom 12. Januar (erste Stunde), vom 16. Februar (erste Stunde), vom 23. Februar (erste Stunde) und vom 3. März (erste Stunde). 47 1
und Wahrheit gewählt. 4 Im Ausgang von einer Untersuchung des Begriffs der »Sorge um sich« (epimeleia heautau, cura sui) ging es ihm darum, die historisch situierten »Techniken« zu beschreiben, durch die ein Subjekt eine bestimmte Beziehung zu sich selbst herstellt, seiner eigenen Existenz Gestalt verleiht und seine Beziehung zur Welt und zu den anderen auf geregelte Weise begründet. Es stellte sich dann sehr bald heraus, daß diese Sorge um sich, außer in ihren Verfallsformen (Egoismus, Narzißmus, Hedonismus), keine spontane Einstellung bzw. keine natürliche Bewegung der Subjektivität sein konnte. Vielmehr mußte man durch einen anderen zu dieser richtigen Sorge um sich veranlaßt werden. 5 Dadurch wurde die Figur des antiken Lehrmeisters auf den Plan gerufen, die zumindest seit der Vorlesung am College de France aus dem Jahre I9806 eine große historische Alternative zum christlichen Leiter des Gewissens darstellte. 7 Denn dieser Lehrmeister spricht eher, als daß er zuhört, unterrichtet eher, als daß er ein Bekenntnis ablegt, ermuntert eher zu einer positiven Gestaltung anstatt zum aufopfernden Verzicht. Die Frage nach dem, was diese lebhafte, an den Geführten gerichtete Rede notwendig strukturiert, zieht I982 eine erste Untersuchung über das Thema der parrhesia als Freimut und Mut zur Wahrheit im Rahmen der antiken Lebensführung nach sich. 8 Der Übergang von der Regierung des Selbst (epimeleia heautau im Jahre I982) zur Regierung der anderen (parrhesia im Jahre I983) war also folgerichtig. Dennoch scheint Foucault I9 83 darauf zu bestehen, einen Neubeginn markieren zu wollen. Er beginnt seine Vorlesung mit einem Kommentar zu Kants Text über die Aufklärung, dem eine ambitionierte me-
thodologische Einleitung vorangeht. 9 Die ersten Sätze der Vorlesung nehmen schnell die Gestalt einer umfassenden Neubewertung seiner Arbeiten seit Wahnsinn und Gesellschaft und einer methodologischen Bilanz an, wobei Foucault Wert darauf legt, die Gesamtheit seines Werkes in drei Momente zu gliedern (Veridiktion/Gouvernementalität/Subjektivierung), die dabei jeweils auftretenden, großen begrifflichen Verschiebungen zu präzisieren und Mißverständnisse abzuwehren. Der Hauptteil der ersten Vorlesung bezieht sich jedoch auf Kants Text. Das kleine Werk über die Aufklärung 10 war schon am 27. Mai I978 Gegenstand einer Mitteilung an die französische Gesellschaft für Philosophie (»Was ist Kritik ?«)Y Von einem Kommentar zum anderen und unter den Wiederholungen an der Oberfläche ist der Unterschied doch deutlich. I978 wurde Kants Text in der Perspektive einer »kritischen Einstellung« behandelt, die Foucault auf die Anfänge der Moderne datiert und die im Gegensatz zu den Erfordernissen einer seelsorgerlichen Gouvernementalität steht (das Verhalten der Menschen durch die Wahrheit zu leiten). Die Frage der Aufklärung zu stellen bedeutete, die Frage wieder aufzugreifen: Wie ist es möglich, nicht zu sehr regiert zu werden? Das Problem war als Aufhebung der Unterwerfung (»desassujettissement«) im Rahmen einer »Politik der Wahrheit« gestelltY Die Moderne wurde in diesem Zusammenhang als historisch privilegierte Periode bestimmt, um die Dispositive des unterwerfenden
4 Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004, S. 15· 5 Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 175· 6 Vgl. zu diesem Punkt die letzte Vorlesung des Jahres 1980 (26. März). 7 Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 49 6-497' 8 Vgl. in Hermeneutik des Subjekts das Ende der Vorlesung vom 3· März und die beiden Stunden der Vorlesung vom 10. März (a. a. 0., S. 433 bis 50r ).
9 Vgl. oben, S.14-2o, den Beginn der Vorlesung vom 5. Januar, erste Stunde. 10 Zur Erinnerung sei erwähnt, daß die Texte von Kant und Mendelssohn Antworten auf die Frage sind» Was ist Aufklärung ?«, die zuerst von Pastor Zöllner im Dezember 1783 als Anmerkung zu einem Aufsatz gestellt wurde, der in derselben Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht wurde und sich auf die Frage nach der Ehe in ihrer bürgerlichen oder religiösen Dimension bezog (zu genaueren Ausführungen vgl. das Buch vonJ. Mondot, Qu'est-ce que les Lumieres?, Saint-Etienne 1991). I r Veröffentlicht im Bulletin de la Socihe franqaise de philosophie vom 27. Mai 1978. r2 Ebd., S.39.
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Wissens und Könnens zu studierenP 1983 wird die Frage nach der Aufklärung als Wiederaufnahme eines Erfordernisses des Wahrsprechens, eines mutigen Ergreifens der wahren Rede gedacht, das bei den Griechen in Erscheinung trat und Anlaß zu einer anderen Fragestellung gibt: Welche Regierung des Selbst muß man einerseits als Grundlage und andererseits als Grenze der Regierung der anderen fordern? Die »Moderne« ändert ebenfalls ihren Sinn: Sie wird zu einer metahistorischen Einstellung des Denkens selbst. 14 Dafür bleibt hier und da der Gegensatz zwischen zwei möglichen Erbschaften Kants bestehen: ein transzendentales Erbe, das Foucault ablehnt (universelle Regeln der Wahrheit zu bestimmen, um der Irreführung einer herrschsüchtigen Vernunft zuvorzukommen); ein »kritisches« Erbe, in dem er sich selbst erkennt (die Gegenwart auf der Grundlage einer Diagnose dessen, »was wir sind«, zu provozieren). Von der ersten Vorlesung an will Foucault also seinen eigenen Ort innerhalb eines philosophischen Erbes bestimmen, als ob er ankündigen wollte, daß er durch diese Studien zur parrhesia den Status seiner eigenen Rede und die Definition ihrer Rolle problematisierte. Im übrigen war Foucault niemals so mit sich im Lot wie in dieser Vorlesung. 15
13 Ebd., S. 46. 14 Vgl. oben, Vorlesung vom 9. März, erste Stunde. 15 Diese Arbeit über die Aufklärung kann auch als eine Art und Weise gelesen werden, seine eigene Schuld gegenüber Kant zu situieren, und zwar auf eine andere Weise als die von]. Habermas, der im selben Jahr von P. Veyne ans College de France eingeladen wurde, um dort Vorlesungen zu halten (vom 7. bis zum 22. März, vgl. die »Zeittafel« von D. Defert, a.a.O, S. 100). Erinnern wir uns, daß Habermas 1981, als die Universität Berkeley die Veranstaltung eines Seminars Foucault-Habermas beabsichtigte, welches zu einer ständigen Einrichtung hätte werden können, als Thema »die Moderne« vorgeschlagen hatte (vgl., was Foucault darüber sagt in Dits et Ecrits: Schriften, Bd. IV, a. a. 0.,
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Ethik und Politik der parrhesia 16
Foucault wird sich der historischen Problematisierung des Begriffs der parrhesia das ganze Jahr 1983 hindurch widmen. Bevor er diese Untersuchung in Angriff nimmt und sich auf eine beispielhafte parrhesiastische Szene stützt, die von Plutarch berichtet wird (Platon macht von seinem Freimut gegenüber dem Tyrannen Dionysios Gebrauch und riskiert sein Leben), beginnt Foucault damit, sie anhand eines Gegensatzes zur Sprechakttheorie der englischen Pragmatisten zu formalisieren (die hauptsächlichen Referenzen scheinen hier Austin und Searle zu sein 17). Man begegnet wieder dem Dialog mit der analytischen angelsächsischen Tradition, der schon in der Archäologie des Wissens 18 begonnen wurde. 1969 ging es jedoch darum, zwei Bestimmungen der »Aussage (enonce)« einander entgegenzusetzen: zum einen die Aussage im Sinne der analytischen Philosophie als Folge einer möglichen Kombination von Lauten, deren Produktionsregeln man definiert; zum anderen die Aussage im Sinne der Archäologie als Folge, die wirklich ins Archiv der Kultur eingeschrieben ist, deren Wirklichkeitsbedingungen man angibt. 1983 ist es die ontologische Verpflichtung des Subjekts im Akt der Äußerung (enonciation), was den Unterschied zu den Sprechakten ausmacht, wobei sich die parrhesia als öffentlicher und riskanter Ausdruck der eigenen Überzeugung auszeichnet. Dieses Wahr-Sprechen, das ein Risiko für den Sprecher bedeutet, kann jedoch in sehr verschiedenen Situationen auftreten: der öffentliche Redner auf der Tribüne vor dem versammelten Volk, der Philosoph in der Stellung des Fürstenberaters usw. 1982 ging es bei den ersten Analysen einfach darum, mit der 16 In Ermangelung einer »Zusammenfassung der Vorlesung« - Foucault
hatte alle vorangegangenen Jahre für die Verwaltung des College de France eine solche verfaßt - geben wir hier eine Beschreibung der Vorlesung des Jahres in ihren Grundzügen. 17 Vgl. die verwendeten Beispiele (»die Sitzung ist eröffnet«, »ich entschuldige mich« etc.) in der Vorlesung vom 12. Januar, zweite Stunde. 18 Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, vgl. z. B. S. 155 f. und passim. 475
parrhesia den Freimut des Lehrmeisters zu beschreiben, der bereit ist, seinen Schüler zu erschüttern und seinen Zorn zu provozieren, indem er ohne Umwege seine Mängel, seine Laster und seine schlechten Leidenschaften anprangert. Foucault hatte damals insbesondere Galens Abhandlung Traite des passions de tame et de ses erreurs studiert und einige Briefe von Seneca an Lucilius, wo der stoische Meister die durchsichtige Rede lobte. 19 Er hatte auch die Besonderheit einer epikureischen parrhesia im Rahmen der Lebensführung hervorgehoben, die anstelle des Gegenübers von Lehrer und Schüler eine Gemeinschaft von Freunden beinhaltete, die sich einander frei anvertrauen, um sich gegenseitig zu korrigieren. 2o Die Vorlesungen von 1984 werden über die Vorlesung von 1983 hinaus diese Problematisierung einer eigentlich ethischen parrhesia fortsetzen, indem sie die Untersuchung der Seelenprüfung bei Sokrates und den Kynikern wiederaufnehmen und weiterführen. 21 Aber wenn auch von Sokrates bis Seneca das Ziel gleich bleibt (das ethos dessen, an den man sich wendet, umzuwandeln), so ist doch die Art und Weise nicht mehr dieselbe. Die parrhesia, die den Gegenstand der Vorlesungen von 1984 bildet, wird nicht mehr innerhalb einer individuellen Beziehung der Leitung ausgeübt, sondern stellt vielmehr eine Ansprache auf dem öffentlichen Platz dar, die die Form der ironischen, maieutischen Rede bei Sokrates oder auch der rüden und groben Standpauke des Kynikers annimmt. Dennoch bleiben alle diese Formen der parrhesia (die sokratische, kynische, stoische oder epikureische) relativ selbständig gegenüber der Beziehung zur Politik. Nun untersucht Foucault 1983 aber von Euripides bis Platon im wesentlichen eine politische parrhesia, auch wenn die letzten Vorlesungen vom März über den Gegensatz von Philoso-
phie und Rhetorik anderen Wegen verpflichtet sind. 22 Diese politische parrhesia umfaßt zwei große geschichtliche Formen: einerseits die Rede, die von einer Person, die darauf bedacht ist, ihre Auffassung vom allgemeinen Interesse durchzusetzen, an die Ratsversammlung, an die Gesamtheit der Bürger gerichtet ist (die demokratische parrhesia); andererseits die private Rede, die der Philosoph an die Seele eines Fürsten richtet, um ihn anzustacheln, sich selbst gut zu führen, und ihn verstehen zu lassen, was ihm die Schmeichler verbergen (die autokratische parrhesia). Die Untersuchung der demokratischen parrhesia geht von zwei Gruppen von Texten aus: den Tragödien von Euripides und den Reden des Perikles, die von Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges »berichtet« werden. Ein großer Teil des Januars ist der sehr eingehenden Analyse des Ion von Euripides gewidmet. 23 Die Tragödie erzählt, wie Ion (der legendäre Vorfahr des ionischen Volkes), geheimgehaltener Sohn einer Liebschaft von Apollon und Kreusa, hinter das Geheimnis seiner Geburt kommt und schließlich, da er eine athenische Mutter gefunden hat, in Athen das demokratische Recht begründet. In diesem Stück wird die parrhesia weder als Grundrecht des Bürgers noch als den politischen Führern eigene technische Kompetenz gedacht. Sie ist die freie Ausübung der Rede, die sich vor dem Hintergrund einer Rivalität zwischen Gleichen ereignet und den am besten zum Regieren Geeigneten auszeichnet. Sie ist in der Dimension der Politik eher als» Erfahrung« (die Foucault im Unterschied zur politeia vorläufig als dynasteia bezeichner24 ) verwurzelt denn als eine Regel zur Organisation von Vielheiten: Es wird gefragt, was das
19 Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom 10. März, zweite Stunde, a.a.O., S.482-50I. 20 Ebd., S.473-475. 21 Vorlesungen vom Februar und März 1984.
22 Vgl. oben, Vorlesungen vom 2. und 9. März. 23 In der Vorlesung vom 2. Februar, erste Stunde (vgl. oben) untersucht Foucault das Vorkommen des Begriffs parrhesia in anderen Tragödien von Euripides: Die Phoinikerinnen, Hippolytos, Die Bakchen und Orest. In den Vorlesungen, die Foucault in Berkeley hielt, fügte er eine Studie über Elektra hinzu (vgl. M. Foucault, Fearless Speech, Los Angeles 2001, S. 33-36). 24 V gl. oben, Vorlesung vom 2. Februar, erste Stunde.
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politische Engagement erfordert, und zwar im Hinblick auf die Herstellung einer Selbstbeziehung durch das Subjekt. Es geht also darum, Euripides' Tragödie als jenen legendären Augenblick des Wahrsprechens in der athenischen Demokratie zu lesen, in dem ein Bürger seine freie Rede einsetzt, um in die Angelegenheiten des Staates einzugreifen, insofern dieses Wahrsprechen nicht auf das bloße Recht aller reduziert werden kann, das Wort zu ergreifen (isegoria). Foucault macht jedoch auch in der Studie der beiden Reden Kreusas die Anfänge zweier parrhesiastischer Modalitäten sichtbar, die dazu berufen sind, sich gegenseitig zu verstärken und sich zu entwickeln: die fluchende Rede eines Untergebenen, der sich vor seinem Vorgesetzten erhebt, um dessen Ungerechtigkeit anzuprangern, was zum mutigen Ergreifen des Wortes durch den Philosophen gegenüber dem Fürsten wird; das Eingeständnis eines Fehlverhaltens gegenüber einem Vertrauten, was sich in der christlichen parrhesia wieder findet, die als durchsichtige Öffnung des Herzens gegenüber dem Leiter des Gewissens neu definiert wird. 25 Die erste Modalität wird den ganzen Februar 1983 hindurch untersucht. Die zweite wird erst 1984 zum Gegenstand einer Standortbestimmung, die unter dem Zeitdruck der letzten Vorlesung vorgenommen wird. 26 1980 hatte Foucault zwar das akademische Jahr der Analyse der Verfassung des christlichen Bekenntnisses im Ausgang von Bußritualen27 gewidmet, es war aber nicht die Rede von der parrhesia gewesen. Die demokratische parrhesia war in Euripides' Ion Gegenstand einer legendären Gründung. Die von Thukydides wiedergegebenen Reden des Perikles ermöglichen es nun, sie in ihrer konkreten Ausübung zu beobachten. Die genaue Untersuchung dieser Rede, ein Zeugnis dessen, was Foucault das »goldene Zeitalter« der demokratischen parrhesia nennt, erlaubt ihm, den Unterschied zwischen dem egalitären Ergreifen 25 Vgl. oben, Vorlesung vom 26. Februar, zweite Stunde. 26 Vorlesung vom 24. März 1984, zweite Stunde. 27 Vgl. die Vorlesungen vom Februar und März 1980. 47 8
des Wortes (der isegoria) einerseits und dem mutigen und singulären Ergreifen des Wortes andererseits herauszustellen, wodurch der Unterschied eines Wahrsprechens in die Debatte eingeführt wird. Es ist diese Spannung zwischen einer verfassungsmäßigen Gleichheit und einer Ungleichheit, die mit der effektiven Ausübung der demokratischen Macht zu tun hat, was Foucault interessiert. In der Tat soll diese Ungleichheit, die von der parrhesia eingeführt wird (Ausübung eines Einflusses) und die weit davon entfernt ist, das demokratische Fundament in Frage zu stellen, seine konkrete Ausübung garantieren. Dennoch ist dieses Gleichgewicht empfindlich. Der formale Egalitarismus kann in jedem Moment auf diesen Unterschied zurückwirken, der durch den wahren Diskurs dessen eingeführt wurde, der mutig seine Rede einsetzt, um seine Auffassung des allgemeinen Interesses zu verteidigen. Das ist dann der demagogische Augenblick als Überschneidung der parrhesia durch die isegoria, der von Isokrates und Platon kritisiert wurde. Der Parrhesiast wird dann von einem wankelmütigen Pöbel, dem die Demagogen nach Belieben schmeicheln, abgelehnt und in Verruf gebracht. Die demokratische parrhesia ändert und wandelt sich: Sie wird zum öffentlich anerkannten Recht, jedem alles auf beliebige Weise zu sagen. Die parrhesia wird dann wieder in ihrem positiven Aspekt auftauchen, aber innerhalb eines anderen Rahmens, nämlich dem der Konfrontation zwischen dem Philosophen und dem Fürsten. Um dieses neue Wahrsprechen zu untersuchen, stürzt sich Foucault in die zweite große Lektüreübung des Jahres 1983: auf Euripides' Ion folgt der VII. Brief Platons. Auch hier wird der enge Rahmen einer historischen Beschreibung der Modalitäten der parrhesia bald verlassen, um anhand einer erstaunlichen Platoninterpretation das Wesen des philosophischen Unternehmens selbst zu bestimmen. 1981 (in der Vorlesung vom 18. März) hatte Foucault schon das Problem der Beziehung zwischen philosophischem Diskurs und Wirklichkeit gestellt. Er erinnerte daran, daß man traditionellerweise meint, die Philosophie spiegele das Wirkliche wider, maskiere oder rationali479
siere es. Das konkrete Beispiel der großen philosophischen Texte aus der hellenistischen Periode über die Ehe ermögliche es nach Foucault, diese Beziehung neu zu betrachten: Die Philosophie kann tatsächlich als ein Unternehmen des theoretischen Vorschlags und der Ausarbeitung von subjektiven Haltungen bestimmt werden, die sich zur Stilisierung bestimmter sozialer Praktiken eignen. 1983 wird Foucault das Problem der »Wirklichkeit« der Philosophie anders stellen. Mit diesem Begriff meint er keinen außersprachlichen Bezugsgegenstand, sondern das, womit sich eine Tätigkeit auseinandersetzen muß, um ihre eigene Wahrheit zu beweisen. Der VII. Brief gestattet Foucault, diese Wirklichkeit zu bestimmen, wenn Platon seine Gründe für seine Reise nach Sizilien erläutert. Man erfährt dort, daß die philosophische Tätigkeit sich nicht auf die Rede allein beschränken darf, sondern sich der Prüfung durch die Praxis, durch Konflikte und Tatsachen stellen muß. Die Wirklichkeit der Philosophie ist in dieser aktiven Auseinandersetzung mit der Macht zu finden. Die Philosophie findet eine zweite Wirklichkeit in einer kontinuierlichen Seelenpraxis. Sie kann nach dem VII. Brief nämlich nicht als ein fertiges System von Wissensinhalten (mathemata) verstanden werden, sondern ist eine Selbstpraxis, eine ständige Übung der Seele. Foucault findet hier wieder zu Wegen zurück, die er schon 1982 erkundet hatte. Zugleich kann er aber dadurch auf die berühmten Interpretationen Derridas antworten, die Platons »Logozentrismus« anprangern. Nach Foucault findet man bei Platon in der Tat keine platonische Ablehnung der Schrift, die sich im Namen des reinen logos vollziehen würde, sondern eine schweigsame Arbeit des Selbst an sich selbst, die die Gesamtheit des logos für ungeeignet erklärt, sei er nun schriftlich oder mündlich. Diese Kritik der großen Thesen Derridas setzt sich im März mit der Analyse des Phaidros fort, in der Foucault zeigt, daß auch hier die wesentliche Trennungslinie nicht zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen verläuft, sondern, um die Begriffe des Manuskripts aufzunehmen, zwischen »einer logographischen Seinsweise der rhetorischen Rede und 480
einer Seinsweise der Selbstaskese der philosophischen Rede.«28 Schließlich ermöglicht es die eingehende Untersuchung der ausführlichen politischen »Ratschläge«, die Platon Dions Freunden gibt, daß Foucault die platonische Figur des »Philosophenkönigs« neu betrachten kann. Er lehnt es ab, darin das Thema einer Legitimiertheit durch Wissen zu sehen, als ob die philosophische Wissenschaft durch ihre spekulative Überlegenheit das politische Handeln aufklären könnte. Zusammenkommen muß vielmehr eine Seinsweise, eine Beziehung des Selbst zu sich selbst: Der Philosoph hat nicht politische Ansprüche im Lichte seiner spekulativen Kompetenz zu analysieren; es geht vielmehr darum, den Modus der philosophischen Subjektivierung bei der Ausübung der Macht spielen zu lassen. In einem Gespräch vom April 1983 an der Universität Berkeley führt Foucault diese Analysen fort, indem er es ablehnt, die »Theorien« der Intellektuellen mit der Elle ihrer »politischen Praxis« zu messen: »Den Schlüssel zur persönlichen politischen Haltung eines Philosophen wird man nicht seinen Ideen abgewinnen können, so als ließe er sich daraus ableiten, sondern seine Philosophie als Leben, das heißt seinem philosophischen Leben, seinem ethos.«29 Die beiden letzten Sitzungen von 1983 am College de France deuten schon auf das Jahr 1984 voraus. Foucault untersucht darin nacheinander die Apologie, den Phaidros und den Gorgias Platons. Die Analyse der Apologie wird 1984 wieder aufgenommen und durch die des Phaidon und des Laches gestützt (in geringerem Ausmaß auch durch die des Kriton). Aber wenn auch erneut derselbe Text betrachtet wird, so ist doch die Perspektive eine andere: 1984 wird Foucault die sokratische parrhesia als ethische Bewährungsprobe des eigenen Lebens und des Lebens des anderen durch eine wahre Rede beschreiben. Es wird also darum gehen, das Problem des »wahren Lebens« zu stellen. 28 Manuskript der Vorlesung vom 2. März 1983. 29 "Politik und Ethik: ein Interview«, in: Dits et Ecrits: Bd. IV, Nr.34 1 ,
a.a.O., S.717.
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19 83 bemüht sich Foucault jedoch vor allem, den Gegensatz
zwischen Philosophie und Rhetorik im Rahmen dessen zu kon30 struieren, was er eine »Ontologie der Diskurse« nennt. Das philosophische Wahrsprechen in der Apologie steht durch seinen direkten und unumwundenen Charakter im Gegensatz zur gerichtlichen Rhetorik. Im Phaidros wird der Nachdruck auf die Implikationen eines vollständigen philosophischen Wahrsprechens (eine wahrhafte ontologische Initiation, eine Metaphysik der Verbindung zwischen Seele und Sein) gelegt, das im voraus die Betrügereien der Rhetorik anprangern würde. Der Gorgias schließlich präsentiert auf traditionellere Weise die Scheidung zwischen einer sokratischen parrhesia als Seelenprüfung (Psychagogie) und, mit Kallikles, einer rhetorischen Kunst, die von politischem Ehrgeiz genährt wird.
3. Methoden Die Analyse der griechischen Texte ist immer streng und sehr analytisch. Das Manuskript des Jahres 1983 enthält am Rand griechische, neu übersetzte Passagen, was die Wichtigkeit und die Gewissenhaftigkeit dieser Arbeit zeigt, die sich so nahe wie möglich an den ursprünglichen Text hält. Foucault folgt meistens seinem geschriebenen Text, wenn er seine Vorlesung hält, und improvisiert sehr wenig. Nur die Manuskripte der letzten Sitzungen über den Phaidros und vor allem über den Gorgias Platons enthalten lange Ausführungen, die aus Zeitmangel nicht vorgetragen wurden. Mehr als zuvor spürt man 1983, daß Foucault laufende Arbeiten vorstellt: Manchmal ist seine Bewegung tastend und auf der Stelle tretend, dann wieder skizziert und versucht er Synthesen. Der Eindruck, an der Geburtsvorbereitung einer Forschung teilzunehmen, ist oft sehr stark, und der Ton ist niemals dogmatisch (Foucault streut vielfach Wendungen wie »ich glaube«, »man könnte sagen«, »es scheint«, 30 Vgl. oben, Vorlesung vom
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März, erste Stunde. 4 82
»vielleicht« ... ein). Diese Dimension des Gedankenlabors, der theoretischen Versuchsballons, der skizzierten Wege vertrug sich schließlich ziemlich schlecht mit den Bedingungen, die Foucault am College de France vorfand: ein riesiges, schweigendes, gefesseltes Publikum, das darauf eingestellt war, in Andacht und reiner Bewunderung eine dozierende Rede zu empfangen. Kein Austausch, keine Diskussion. Sehr oft beklagt sich Foucault über diese Umgebung und über die Haltung, die sie ihm auferlegt. Wie er selbst sagt, ist er zum »Theater« verurteilt. Er muß die Rolle des großen Professors spielen, der von seinem Lehrstuhl aus alleine seines Amtes waltet. Wiederholt bringt er sein Bedauern und seinen Willen zum Ausdruck, sich mit Studenten und Professoren zu treffen, die über ähnliche Themen arbeiten, um Perspektiven austauschen zu können. Er organisiert Treffen und reserviert Räume, um zu versuchen, eine kleine Arbeitsgruppe zu bilden. Diese Sehnsucht nach der Arbeit in einer Gruppe ist noch 1984 spürbar. Foucault gibt die wenigen kritischen Quellen an, denen er sich hier und da bedienen konnte, um die parrhesia zu problematisieren: Er zitiert Scarpats 31 Buch und vor allem die Artikel großer Enzyklopädien oder theologischer Wörterbücher. 32 Foucault wird jedoch in dieser Sekundärliteratur niemals Thesen oder gar einen Rahmen für die Interpretation suchen, sondern ausschließlich Referenzen, die im ursprünglichen Text sehr schnell überarbeitet und in den Rahmen der eigentlichen Problemstellung einbezogen werden. Die Kommentare zu Euripides, Thukydides und Platon sind gänzlich originell. Die Art und Weise des Vorgehens ist dieselbe wie 1982: sehr genaue Textkommentare, wobei dem griechischen Text große Aufmerksamkeit geschenkt wird (wiederholt korrigiert er die vorhandene Übersetzung), plötzlich unterfüttert 3 I G. Scarpat, Parrhesia. Storie dei termine et delle sue traduzioni in Latino, Brescia 1964. 32 Zum Beispiel H. Schlier, "Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1949- 1979. 4 83
von sehr weitreichenden Gesichtspunkten. Aber Foucault hatte uns schon an diesen betonten Kontrast zwischen akribischen Analysen einiger Zeilen des griechischen Texts und der plötzlichen Erweiterung der Perspektive, der Öffnung auf eine jahrhundertelange Geschichte der Subjektivität gewöhnt. Wie er während der zweiten Vorlesung vom 19. Januar sagt: »Die Tatsache, daß das Wesentliche, das Grundsätzliche der Geschichte durch den feinen und zarten Faden der Ereignisse läuft, ist etwas, wozu man sich, glaube ich, entweder entschließen oder womit man sich mutig auseinandersetzen muß. Die Geschichte und das Wesentliche der Geschichte gehen durch ein Nadelöhr.« Insgesamt bleibt die Methode diejenige, deren er sich im vorangehenden Jahr im Hinblick auf die Sorge um sich bedient hat: Schlüsseltexte im Ausgang von einem Begriff (hier: die parrhesia) zu bestimmen, Strategien des Gebrauchs zu beschreiben und Entwicklungs- oder Bruchlinien zu skizzieren. Die Untersuchung von Euripides' Ion weist jedoch bemerkenswerte Besonderheiten auf: Foucault entfaltet hier eine strukturale Analyse des Werkes, die weit über den ersten Rahmen der Studie hinausgeht (den Begriff der parrhesia). Er prüft dann eine Reihe von Lektürerastern, die erstmals bei der Lektüre von Sophokles' König Ödipus (einer Tragödie, die er mehrmals kommentiert hat: 1971, 1972, 1973, 1980und 19 8133 ) entwickelt wurden. Die Entwicklung des Dramas läßt sich als Folge der Verschachtelung von Bruchstücken der Wahrheit beschreiben, die jeweils paarweise zusammenpassen (die Struktur des symbolon). Die tragische Szene selbst wird als Ort des Auf-
einanderstoßens von konkurrierenden Formen der Veridiktion 34 aufgefaßt (das Wahrsprechen der Götter, das der Menschen usw.), des Auftauchens neuer Strukturen der Veridiktion (die gerichtliche Zeugenaussage im Ödipus, der Fluch und das Geständnis im Ion) und schließlich der Disqualifikation (das Wissen des Tyrannen im Ödipus) oder der Legitimation (das demokratische Wahrsprechen im Ion) einer politischen Rede. Im übrigen folgt Foucault nun im Rahmen der Analyse der großen mythologischen Themen ausdrücklich den Spuren Dumezils, um die Figur Apollons, des Gottes der Stimme, des Goldes und der Fruchtbarkeit, zu untersuchen. 1984 wird Foucault dann mit Bezug auf Platons Phaidon in seiner Vorlesung weiterhin die Studien Dumezils in Anschlag bringen. 3s
4. Herausforderungen Die 1983 gehaltene Vorlesung ist besonders wertvoll, da die darin enthaltenen Studien zu Lebzeiten Foucaults nicht veröffentlicht wurden (die sechs im Oktober 1983 in Berkeley gehaltenen Vorlesungen, die ohne Genehmigung nach seinem Tod veröffentlicht wurden, umreißen in ganz knapper Weise, was von Januar bis März ausführlich entwickelt wurde).36 Schon die Vorlesung von 1982 am College de France (Hermeneutik des Subjekts) zeigte, wie die antike Problematisierung der Sexualität immer nur ein Kapitel einer großen Geschichte jener Praktiken bilden dürfte, durch die ein Subjekt sich in und aufgrund der Beziehung zur Wahrheit konstituiert (die Techni-
33 1971 stellt er eine Studie der Tragödie am College de France vor (in der Vorlesung »Der Wille zum Wissen«), 1972 in den Vereinigten Staaten (Seminar in Buffalo über »Der Wille zur Wahrheit im antiken Griechenland«, das eine Analyse von Sophokles' Tragödie enthielt, und die Vorlesung über »Das Wissen Ödipus'« an der Cornell-Universität), 1973 (die erste im Mai gehaltene Vorlesung in Rio deJaneiro über »Die Wahrheit und die juristischen Formen«), 1980 (Vorlesungsreihe am College de France, Vorlesungen vom 16. und 23. Januar) und 1981 (die erste von sechs Vorlesungen im Mai in Leuven "Übles tun, die Wahrheit sagen. Funktionen des Geständnisses«).
34 Hier ist zu beachten, daß es in der ersten Vorlesung, die Foucault 1970 am College de France gehalten hat, die Praktiken der Rechtsprechung im weiteren Sinne sind, die als Matrizen der Veridiktion erscheinen. 35 Die Interpretation der letzten Worte des Sokrates (»0 Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig«, in: Platon: Sämtliche Werke, Phaidon, rr8a, übers v. Friedrich Schleiermacher, Heidelberg 1982) im Ausgang von G. Dumezils Moyne noir en gris dedans Varennes, Paris 19 84. 36 M. Foucault, Fearless Speech, a. a. O.
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ken des Selbst). Die Vorlesung von I 98 3 gibt ihrerseits zu verstehen, inwiefern die historische Untersuchung der Praktiken der ethischen Subjektivierung Foucault nicht vom Thema des Politischen ablenkt. 37 Im Zentrum der Vorlesung findet man in der Tat die Behauptung einer wesentlichen und strukturellen Beziehung zwischen Philosophie und Politik. Diese Beziehung wird jedoch auf vollkommen originelle Weise reflektiert. Traditionellerweise nahm diese Beziehung die Form der »politischen Philosophie« an: entweder die Beschreibung eines idealen Staats, der durch eine Gruppe vollkommener Gesetze regiert wird (das Problem der besten Regierungsform), oder aber die vernunftgemäße Begründung, die metaphysische Ableitung oder, bescheidener, die begriffliche Analyse der politischen Beziehung. Wir haben schon gesagt, wie sehr Foucaults Lektüre von Platons VII. Brief ihn dazu veranlaßt hat, diese Beziehung neu zu bewerten. Die Philosophie begegnet mit der Politik ihrer »Wirklichkeit«: Sie kann ihre Wahrheit nur in der Auseinandersetzung mit der Politik beweisen. Das bedeutet, daß die Philosophie nicht die Wahrheit der Politik auszusprechen hat, sondern sich mit dem Politischen auseinandersetzen muß, um ihre eigene Wahrheit zu beweisen. Ihre »Wirklichkeit« zu finden bedeutet für die Philosophie, entweder im Feld der Politik die Eigenart ihrer Rede zum Einsatz zu bringen (das Beispiel der parrhesia des Perikles bei Thukydides) oder aber den »politischen Willen«38, zu belehren, d. h. strukturierende Elemente einer Selbstbeziehung vorzuschlagen, die geeignet ist, das politische Engagement, die politische Anhängerschaft oder das politische Handeln hervorzurufen. 37 Durch die erneute Zentrierung auf die Untersuchung des griechischen politischen Denkens erinnert die Vorlesung von 1983 an die erste Vorlesung von 1971 ("Der Wille zum Wissen«), die den gerichtlichen Prak-
tiken im archaischen Griechenland gewidmet war, und stellt schon eine Analyse wesentlicher Begriffe der athenischen Demokratie bereit, wie z. B. den der isonomia. 38 Vorlesung vom 16. Februar, erste Stunde (dabei dient die platonische Figur des Philosophen als Berater des Fürsten zur Illustration). 4 86
In dieser Hinsicht tut die Vorlesung von I 98 3 etwas ganz anderes, als das Problem der »Sorge um die anderen« zu stellen, nachdem das Problem der »Sorge um sich« im Vorjahr gestellt wurde. Es geht vielmehr darum, wie der philosophische Diskurs im Abendland einen grundlegenden Anteil seiner Identität in dieser Falte der Regierung des Selbst und der anderen ausbildet: Welche Beziehung zu sich selbst muß bei demjenigen ausgebildet werden, der die anderen führen will, und bei denen, die ihm gehorchen werden? Diese Falte stand schon im Zentrum von Kants Frage nach der Aufklärung, wie Foucault sie verstanden hatte. Die politischen Herausforderungen der Vorlesung gehen weit über ihren Äußerungskontext hinaus, auch wenn man im Rückblick nicht versäumen kann, Koinzidenzen zwischen dem Gehalt der damaligen Debatten und den von Foucault vertretenen theoretischen Positionen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Philosophie und Politik hervorzuheben. 39 Es ist jedoch 39 Seit Mai 1981 ist in Frankreich die Linke an der Macht und F. Mitterand
an der Spitze des Landes. Von der liberalen Wende der Mitterandschen Politik an wird man bald beklagen, daß es den »Linksintellektuellen«, die einst so aktiv in ihrem Protest waren, heute an Energie mangelt, um konkrete Vorschläge zu machen oder neue Reformen zu verteidigen. In Le Monde vom 26. Juli 1983 veröffentlicht Max Gallo, der damals eine Debatte über diese Verwerfungen hervorrufen wollte, einen Aufsatz über »das Schweigen der Intellektuellen«, in dem er über der Feststellung des »Wiedererstehens von Ideen der Rechten« bedauert, daß ein »großer Anteil« der neuen intellektuellen Generation sich in dem Augenblick »auf den Aventin 'zurückgezogen«< habe, wo man über die ersten Schritte des Landes auf dem Weg einer aktiven »Modernisierung« nachdenken müsse. Einige Tage später setzt Philippe Boggio die Debatte fort (unter demselben Titel. »Das Schweigen der Intellektuellen«) und bemerkt: "Seitens des College de France, der Verlage oder des CNRS beeilt man sich kaum, seinen eigenen Baustein zum Gebäude der die Macht innehabenden Linken beizusteuern, besonders wenn der Wind der Polemik mit der Opposition weht.« Da er sie an »ihre Beziehungen zum Staat« erinnern wollte, stellt er fest, daß »manche, wie Simone de Beauvoir und Michel Foucault, sich geweigert haben, an dieser Ermittlung teilzunehmen« (Foucault sah sich aufgrund seines häufigen konkreten Engagements von dieser Kritik nicht betroffen). Diese Aufsätze erscheinen im Juli (der Vollständigkeit halber müßte
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nicht dieser Kontext, der Foucaults Positionen erhellt: Vielmehr hilft ihm die Lektüre der Alten dabei, ein politisches ethos zu problematisieren, das er in jenen] ahren erlebt. Wenn die Philosophie ihre Wirklichkeit tatsächlich in einer Beziehung zum Politischen finden soll, dann soll diese Beziehung die eines »widerstrebenden Außenstehens « sein. 40 Die Aktion, die von Foucault seit Dezember 198 I an der Seite der CFDT 4 1 durchgeführt wird, oder auch sein Eingreifen in die damalige französische Debatte (z. B. im Zusammenhang mit der Affäre der Iren von Vincennes 42 im August 1982 oder des Problems der Sozialversicherung 43 ) kann sehr gut als Illustration dieser ethischen Haltung dienen. Diese neue Art und Weise, Politik zu betreiben, indem man problematisiert, anstatt Dogmen aufstellt, indem man auf die ethischen Fähigkeiten der Menschen an statt auf ihre blinde Anhänglichkeit an bestimmte Lehren abzielt, war auch im]uli 1983 der Ursprung der »Academie Tarnier«, einer Gruppe von befreundeten Persönlichkeiten, die sich trafen, um über die internationale politische Lage nachzudenken. 44 In einem allgemeineren Sinne stellt diese Vorlesung einen wichtigen Beitrag zu den großen theoretischen Debatten über die
40 41 42 43 44
man J.-M. Helvigs Antwort auf Max Gallo zitieren, die in Liberation erschien, und die Antwort von P. Guilbert im Quotidien de Paris etc.), also längere Zeit nachdem Foucault seine Vorlesungen am College de France über die politische parrhesia gehalten hatte. Einige der Vorlesungen könnten jedoch als eine vorweggenommene Antwort auf diese Kritik klingen. Foucault hat in der Tat ständig geltend gemacht, daß die Funktion des Philosophen nicht darin besteht, den Politikern zu sagen, was sie zu tun hätten. Er hat weder Gesetze an ihrer Stelle zu machen noch sich als intellektuelle Rückendeckung ihres Handelns darzustellen, als ob er die Begründung ihrer Entscheidungen durch sein Wissen stützen sollte. Vgl. oben, Vorlesung vom 9. März, erste Stunde. Vgl. dazu die "Zeittafel« von D. Defert, a.a. 0., S. 97 (CFDT ist die Abkürzung von Confederation franc;:aise du travail). Vgl. dazu "Terrorismus hier und dort«, in: Dits et Ecrits: Schriften, Bd.IV, Nr. 316, a.a.O., S. 380-382. Vgl. dazu »Ein endliches System angesichts einer unendlichen Nachfrage«, ebd., Nr. 325, S·440-460. Vgl. dazu die »Zeittafel« von D. Defert, a. a. 0., S. 101. 4 88
Demokratie dar und, noch allgemeiner, einen Beitrag zum Wesen des Politischen selbst. Im Ausgang vom Beispiel der Griechen (von Thukydides bis Platon) stellt Foucault auf originelle Weise die jeder Demokratie innewohnende Spannung heraus: Auf dem Boden einer verfassungsmäßigen Gleichheit wird die Demokratie durch einen Dissens vollzogen, der durch das Wahrsprechen eingeführt wird; umgekehrt stellt sie aber immer eine wiederkehrende Bedrohung für dieses Wahrsprechen dar. Man sieht es in dieser Vorlesung: Foucault gehört ebenso wenig dem Lager der zynischen Verleumder der Demokratie an wie dem ihrer blinden Befürworter. Er problematisiert sie bloß. Eine der erstaunlichsten Dimensionen dieser Vorlesung hat vielleicht mit der Art und Weise zu tun, wie Foucault darin mit großer Deutlichkeit und Abgeklärtheit seine Beziehung zur Philosophie als freiem und mutigem Diskurs der Wahrheit ausdrückt. Wir können hier den allgemeinen Gang der Vorlesung noch einmal betrachten. Foucault war mit Kant von einer neuen Bestimmung der modernen Philosophie ausgegangen: Diejenige Philosophie ist modern, die bereit ist, nicht auf der Basis einer Reflexion über ihre eigene Geschichte, sondern aufgrund eines Aufrufs durch die Gegenwart zu denken. Wie steht es mit diesem Heute, das uns zum Denken auffordert? Diese Frage, was in der Gegenwart reflektiert werden soll, insofern sie uns zum Denken auffordert und insofern diese Aufforderung Teil eines Prozesses ist, zu dem der Denker gehört und den er mitvollzieht, war von Foucault als Anfangspunkt einer eigentlich modernen Philosophie bestimmt worden, in deren Tradition er sich selbst stellen wollte. Die Untersuchung der antiken parrhesia führt Foucault zur geduldigen Beschreibung eines philosophischen Wahrsprechens, einer lebhaften Rede von Perikles bis Platon, die das mutige Sich-an-die-Macht-Wenden mit der ethischen Provokation verbindet. Am Ende des Weges 45 stellt er fest, daß das Eigen45 Es handelt sich um die erste Stunde der Vorlesung vom 9. März. 4 89
tümliche der modernen Philosophie seit dem cartesianischen cogito, das die Autoritäten des Wissens ablehnt, bis zum Kantsehen »Sapere aude« in einer Reaktivierung dieser parrhesiastisehen Struktur besteht. Diese Brücke, die zum ersten Mal zwischen der antiken und der modernen Philosophie geschlagen wurde, ist schließlich imstande, bei Foucault den Ausblick auf eine metahistorische Bestimmung der philosophischen Tätigkeit zu öffnen: die der Ausübung einer mutigen und freien Rede, die im Spiel der Politik beharrlich den Dissens und die Entschiedenheit eines Wahrsprechens geltend macht und darauf abzielt, die Seinsweise der Subjekte zu beunruhigen und zu verwandeln. Mein Dank geht an Daniel Defert für seine beständige Großzügigkeit und an Jorge Davila für seine Seelengröße.
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Demosthenes [384- 322] 70, 231 Derrida, Jacques 326,480,491 Descartes, Rene 27,433,438 Dionysios der Ältere [-430-367 v.Chr.], Tyrann von Syrakus 273,27 8,33 2,334,34°,34 8 Dionysios der Jüngere [-367-344 v. Chr], Tyrann von Syrakus 72- 83,88 f., 93, 95 104,244, 247f., 273 f., 278 f., 284, 287f., 302, 311f., 314, 31~ 321 , 32733 6, 339-345, 34 8, 35 1, 35 6f·, 365,368,428 f., 475; s. Dion, Platon, Plutarch Diogenes Laertius [3.Jh. n.Chr.] 361,368,374,428,43°,445, 49 1 Diogenes der Kyniker [-404-323 v.Chr.] 360,361,368,369,435; s. Diogenes Laertius, Epiktet Diomedes 213-215; s. Euripides, Orest Dion Cassius [Cassius Dio Cocceianus, -155-235J 33°,355, 374,49 1 Dion Chrysostomos [3°-117 n.Chr.] 366,374 Dion von Syrakus [-408-354 v.Chr.], Dion s. Dionysios der Jüngere, Platon, Plutarch Doros, Vorfahr der Dorer 108, 117,129,19°; s. Euripides Dorotheus von Gaza 70 Dumezil, Georges 149,161-165, 17 2
Bourel, Dominique 41,491,493
Elektra, Elektra 212-214,477; s. Euripides, Sophokles Epiktet [ca. 50-130 n.Chr.] 404, 406,424,432,434,436,446, 49 1 Erechtheus, legendärer König von
Charmides 275,281; s. Platon Defert, Daniel 12,4°,471,474, 4 88 ,49°,49 2,495 497
Athen, Erechtheus; (Dynastie von -) s. 11of., II8, 127, 133, I45f., 155f., 188, 197,215; s. Euripides Eteokles/Polyneikes, Dynastie von Ödipus 208, 230 s. Euripides [Die Phoinikerinnen] Euphraios 268; s. Platon [V. BriefJ Euripides [480-4°6 v.Chr.J 70, 87,101,1°3-1°5,1°7,108-111, II3f., 128-130, I33f., 141- 143, I47f., 150, 161, 165, 172, 176, 183, 192- 194,200, 2°3,208, 217, 219f., 222, 226, 231, 246, 277,376ff.,4oo,406,425,476479, 4 83 f., 49 I Ewald, Franqois 4,7,8, 12,4°, 49 2,495
Heraklit von Ephesos [55°-48o v.Chr.J 112,120 Herder, J ohann Gottfried von 21,41,493; s. Kant Hermes 106-1 I I, 117, 119, 154; s. Euripides Herodot [484-420 v.Chr.J 106, 12 9,493 Hippolytos, Hippolytos 1°4,182, I83,I92,I94,2IO,2I9,477;S. Euripides Homer 213,215 [vgl. die !lias] Hyppolite, Jean 40
Fichte, Johann Gottlieb )2,41, 49 2 Fontana, Alessandro 4, 8, 12 Friedrich 11. von Preußen, 17121786 59,60; s. Kant Galen, Claudius [Claudius Galeanus, 131-201 n.Chr.J 63,6668,85,47 6,49 2 Galilei [Galileo Galilei, 1564I642J 79,89 Gantz, Timothy 129, 492 Gelon [- 53°-478 v. Chr.J, Tyrann von Gela, später von Syrakus 63,7 2,73,74,75,7 8,80,93, 34 2
Gigante, Marcello 69,85,492 Gleim, Johann Wilhelm 24 Gregoire, Henri 105,108, 128f., 147,49 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4°,62,433,493 Hekuba, Gattin des Priamos I II; s. Euripides 49 8
I07f., IIO-II2, 117-121, 12312 7, 13 of., I37f., 144- 146, 149, 151,153-160,164, 17of., 173175, I77 f., 180-185, 187-19°, I92f., 198-200,212, 477f.; s. Euripides, Sophokles Kritias [-450-403 v.Chr.J 275, 281; s. Platon K yros 11. der Große [-559- 529 v.Chr.J 258-260,265, 337f., 378; s. Platon [Gesetze], Xenophon [Kyropädie]
Ion, mythischer Held, namen gebender Vorfahr der Ionier, Ion 101, I03-I08, lIOf., 113-135, 138,142-154, I63f., 17 2, 174, 178,184,187-189,191-194, 196,199-202, 208f., 37M., 38of., 4°6, 427, 439; s. Aristoteles, Euripides; s. auch SophokIes [König Ödipus] Isokrates [436-338 v.Chr.J 70, 82,221,23 1-233, 237,238, 24~ 243,245,24 8,24 6,277,377, 378,380,392,398,479,493 J ohannes Chrysostomos [- 344407 n. Chr.] 70, 85 Jokaste 154,208,2°9; s. Euripides [Die Phoinikerinnen] Joly, Robert 423,493
Lagrange, Jacques 7, 10,40,492 Lalos I 14f., 129; s. Sophokles [König ÖdipusJ Las Cases, Emmanuel de 35 5, 393 Lefort, Claude 219,493 Leibniz, Gottfried Wilhelm 27 Leon von Salamis 399; s. Platon, [Apologie] Lessing, Gotthold Ephraim 24, 41 Leto 159-161,167-169,171,173, 174; s. Dumezil Levinas, Emmanuel 41,494 Lukian von Samosata [-125-192 n.Chr.J 7°,375,385-388,4°5, 493 Lysias 410-413,422; s. Platon (Phaidros)
Kant, Immanuel 21-23,25-28, 3°-36,38-41,43,45-51,53-62, 94,3 69,433,43 8,439,47 2,475, 47 8-49°,493 Kleon [5.Jh. v.Chr.J 131,142 Kleophontes 215,234; s. Euripides,Orest Klytaimnestra 212,217; s. Euripides Kreon, Tyrann von Theben 77, 152; s. Sophokles Kreusa, Tochter von Erechtheus
Machiavelli [Niccolo Machiavelli, 14 69- 1527] )29 Mark Aurel [Marcus Aurelius Antoninus,I2I-I80n.Chr.J 70, 373 Maximus von Tyra [2.Jh. n.Chr.J 7° Maecenas [Caius Cilinius Maecenas, -69-8 v. Chr.J 33°,366; s. Dion Cassius Mendelssohn, Moses 23-25,27, 38,4 1,473,49 1,493
Musonius Rufus [r.Jh. n.Chr.J 43 1,445,44 6,49 1 Nikias [-47°-413 v.Chr.J 104, 1°9,131,142,392; s. Thukydides Nikokles [gest. -353 v.Chr.J 378; s. Isokrates Nietzsehe, Friedrich 9 f., 40, 94 Ödipus, Oidipus 63,77, 88, I04, I 14-II7, 12 3, 126, 129, 144, 149,15°,152-154,184,198, 208,453, 4 84 f ., 495; s. SophokIes [König Oidipus, Ödipus auf Kolonos]; s. auch Ion, Lalos Orest,Orest 194,212-214, 2I7f., 220, 222, 23 I, 477, 492; s. Euripides, Sophokles Pelli, Moshe 41,494 Pentheus 2IIf.; s. Euripides[Die Bakchen] Perdikkas 11., König von Makedonien [450- 413 v.Chr.J 268, 27°-272,297; s. Platon [V. Brief] Perikles [-495-429 v. Chr.] 142, 147,220- 22 5,227-23I,233 f., 242,245,287,33°,376-378, 38of., 4 24f., 4 27, 439f., 443, 477f., 486, 489; s. Thukydides [der Peloponnesische Krieg] Philippson, Robert 69, 85, 494 Philodem [- 110-28 v. Chr.] 687°,85,44 6,494 Philostrat [-175-249 n.Chr.J 43 of., 44 6, 494 Phoibos 120f., 130, 161, 163, 189; s. Apollon; Dumezil, Euripides Platon 44,63,66,7°,72-75,77, 79- 84,86,93,95, I04, 176, 195, 23 8,244,247- 249,251- 2 56, 499
258,260,262,264-281,28329 1, 294- 29 8, 3° 0-3°3, 3°937 1, 373f~ 377-3 80, 390,393395, 400E, 405, 406, 410, 412, 413,419,422-425,428-43°, 44 2f., 445, 447, 452, 4 69 f .,
301, 303, 306, 3 I 3, 350, 360, 375, 37 8, 39°-4°°, 402E , 405420,422,424,426-429,436, 44 0 ,443,44 8,449,451-455, 457-4 61 ,4 63,4 64, 468f., 476, 479,485,494; siehe Alkibiades, Kallikles, Lysias, Platon, [Apologie}, [Phaidros} Sophokles [-496-406 v. Chr.] 86, 107, II3E, 12 9, 152, 172,484, 495
475E,479-483,485f~48~
493 f. Plutarch [-50-I25 n.Chr.] 70, 72-74,77-79,88,9 1,95,100, I04, 23 8, 244f., 247f., 267, 273, 280,366,379,4°5,415,422, 460,47°,475,494 Pollis siehe Plutarch Polybios [-200-I20v.Chr.] 70, 87, 100, 101, 103, 194, 196,202, 204f., 21 9, 239, 494 Popper, Karl 323,326,494 Priamos, mythischer König von Troja Irr; s. Euripides Pythia (die) 110,188; s. Euripides, Ion
Talthybios 213-215; siehe Euripides, Orest; Homer Theramenes [45°-4°4 v. Chr.] 218,220 Theseus 148 Thukydides [-460-395] 221-224, 22~ 228, 230,23~ 238, 24IE, 245,24 8,33°,355,359,3 64, 366,376-378,425,427,439, 477, 47 8, 4 83, 4 86,4 89,495; s. Perikles, [Der Peloponnesische Krieg]
Quintilian [Marcus Fabius Quintilianus, -30-100 n. Chr.] 70, 79,86,494
Vico, Giambattista/Giovanni Battista 44,45,62,495
Richelieu, Armand Jean du Plessis de 329d55,494
Weber, Max 40
Scarpat, Giuseppe 69,85,483, 495 Schlier, Heinrich 176, 177, 192, 4 83,495 Scholem, Gershorn G. 41, 495 Searle, John Rogers 1°3,475,495 Seneca [Lucius Annaeus Seneca, -I-6o n.Chr.] 7°,86,431, 47 6,495 Sokrates 275-277,283,286-289,
Xenophon [-430-355 v.Chr.] 13 6,14 8,25 8,337, 35 6, 377f~ 380,495; Pseudo-Xenophon 13 6 Xuthos 106,108, 110f., 114, 117120, 123-132, 134, 137-139, 144-146, 149, 15 1, 154- 158, 164, I85E, 189-191, I98E; s. Kreusa, Euripides, Ion
5°0
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Vorwort
7
Vorlesung I (Sitzung vom 5· Januar 1983, erste Stunde)
13
Methodische Bemerkungen. - Studium des Kanttextes: »Was ist Aufklärung?« - Veröffentlichungsbedingungen: die Zeitschriften. Die Begegnung zwischen der christlichen Aufklärung und der jüdischen Haskala: die Gewissensfreiheit. - Philosophie und Gegenwart. - Das Problem der Revolution. - Die beiden kritischen Nachkommenschaften.
Vorlesung I (Sitzung vom 5· Januar 1983, zweite Stunde)
43
Die Idee der Unmündigkeit: weder natürliche Ohnmacht noch Beraubung von Rechten durch eine Autorität. - Der Ausgang aus dem Zustand der Unmündigkeit und die Ausübung kritischer Tätigkeit. - Der Schatten der drei Kritiken. - Die Schwierigkeit der Emanzipation: Faulheit und Feigheit; angekündigtes Scheitern der Befreier. - Die Triebfedern des Zustands der Unmündigkeit: Überlagerung von Ausübung und Abwesenheit vernünftigen Denkens; Verwechslung von privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft. - Die problematischen Wendungen am Ende von Kants Text.
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, erste Stunde) Methodische Rückbesinnung. - Bestimmung des Untersuchungsgegenstands des Jahres. - Parrhesia und Kultur des Selbst. - Galens Traktat über die Leidenschaften. - Die parrhesia: Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung; bibliographische Anhaltspunkte. - Ein dauerhafter, vielschichtiger, mehrdeutiger Begriff - Platon vor dem Tyrannen von Syrakus: eine beispielhafte Szene der parrhesia. Ödipus' Echo. - Parrhesia versus Beweis/Unterricht/Diskussion. Das Element des Risikos.
5°1
63
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, zweite Stunde)
87
Irreduzible Momente der parrhesiastischen Aussage gegenüber der performativen Aussage: Eröffnung eines unbestimmten Risikos/öffentlicher Ausdruck einer persönlichen Überzeugung/Einsatz des freien Mutes. - Diskurspragmatik und -dramatik. - Die klassische Verwendung des Begriffs der parrhesia: Demokratie (Polybios) und Staatsbürgerschaft (Euripides).
Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, erste Stunde)
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar 1983, erste Stunde) 10 4
Erinnerung an Polybios' Text. - Rückkehr zu Ion: göttliches und menschliches Wahrsprechen. - Die drei Formen der parrhesia: politisch-statusbezogen; gerichtlich; moralisch. - Die politische parrhesia: ihre Beziehung zur Demokratie; ihre Verankerung in einer agonistischen Struktur. - Rückkehr zu Polybios' Text: das Verhältnis isegoria/parrhesia. - Politeia und dynasteia: die Auffassung der Politik als Erfahrung. - Die parrhesia bei Euripides: Die Phoinikerinnen; Hippolytos; die Bakchen; Orestes. - Orestes' Prozeß.
13 1
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar 1983, zweite Stunde)
Ion: Nichts, Sohn des Nichts. - Drei Kategorien von Staatsbürgern. - Folgen des politischen Eindringens von Ion: privater Haß und öffentliche Tyrannei. - Auf der Suche nach einer Mutter. - Die parrhesia, nicht zurückführbar auf die effektive Ausübung der Macht und auf die Statussituation des Staatsbürgers. - Das agonistische Spiel des Wahrsprechens: frei und riskant. - Historischer Kontext: die Auseinandersetzung zwischen Kleon und Nikias. - Kreusas Zorn.
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, erste Stunde) Fortsetzung und Schluß des Vergleichs zwischen Ion und Ödipus: Die Wahrheit geht nicht aus einer Untersuchung hervor, sondern aus dem Aufeinanderprallen der Leidenschaften. - Die Herrschaft von Trugbildern und der Leidenschaft. - Der Aufschrei des Eingeständnisses und der Anklage. - G. Dumezils Analysen zu Apollon. Erneute Betrachtung der auf Ion angewandten Kategorien Dumezils. - Tragische Modulation des Themas der Stimme. - Tragische Modulation des Themas des Goldes.
5°2
173
Tragische Modulation des Themas der Fruchtbarkeit. - Die parrhesia als Verwünschung: das öffentliche Anprangern der Ungerechtigkeit des Mächtigen durch den Schwachen. - Kreusas zweites Eingeständnis: die Stimme des Bekenntnisses. - Letzte Schicksalswendungen: vom Mordplan zum Erscheinen Athenes.
Die Person Ions in der Mythologie und Geschichte Athens. - Der politische Kontext von Euripides' Tragödie: der Friede des Nikias. Geschichte der Geburt Ions. - Alethurgisches Schema der Tragödie. - Strukturvergleich zwischen Ion und König Ödipus. - Die Abenteuer des Wahrsprechens in Ion: die doppelte Halblüge.
Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, zweite Stunde)
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, zweite Stunde)
194
221
Das Rechteck der parrhesia: formale Bedingung/faktische Bedingung/ Bedingung der Wahrheit/moralische Bedingung. - Beispiel für das korrekte Funktionieren der demokratischen parrhesia bei Thukydides: drei Reden von Perikles. - Die falsche parrhesia bei Isokrates.
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, erste Stunde) 149
Parrhesia: die übliche Verwendung des Begriffs; die politische Verwendung des Begriffs. Erinnerung an drei beispielhafte Szenen: Thukydides; Isokrates; Plutarch. - Entwicklungslinien der parrhesia. - Die vier großen Probleme der antiken politischen Philosophie: der ideale Staat; die geteilten Verdienste der Demokratie und der Autokratie; die Wendung an die Seele des Fürsten; die Beziehung zwischen Philosophie und Rhetorik. - Studie dreier Texte Platons.
5°3
23 8
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, zweite Stunde)
266
Platons Briefe: Einordnung. - Studie des 11. Briefs: die phone der Verfassungen; Gründe für die Nicht-Beteiligung. - Studie des VII. Briefs. - Geschichte Dions. - Platons politische Autobiographie. Die Reise nach Sizilien. - Warum Platon den kairos, die philia und das ergon annimmt.
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, erste Stunde)
28 3
Die rätselhafte Schalheit von Platons politischen Ratschlägen. - Die Ratschläge an Dionysios. - Die Diagnostik, die Ausübung des Überredens, der Vorschlag einer Herrschaftsform. - Die Ratschläge an Dions Freunde. - Studie des VIII. Briefs. - Die parrhesia am Ursprung des politischen Ratschlags.
5°4
Vorlesung 9 (Sitzung vom
2.
März 1983, erste Stunde)
375
Wiederholende Bemerkungen zur politischen parrhesia. - Entwicklungspunkte der politischen parrhesia. - Die großen Fragen der alten Philosophie. - Studie eines Textes von Lukian. - Die Ontologie der Veridiktionsdiskurse. - Die Rede des Sokrates in der Apologie. - Das Paradox der politischen Nichteinmischung des Sokrates.
3 11
Das Scheitern des Dionysios. - Die platonische Ablehnung der Schrift. - Mathemata versus synousia. - Die Philosophie als Praxis der Seele. - Die philosophische Abschweifung des VII. Briefs: die fünf Elemente der Erkenntnis. - Der dritte Zirkel: der Zirkel der Erkenntnis. - Der Philosoph und der Gesetzgeber. - Abschließende Bemerkungen über die zeitgenössischen Platoninterpretationen.
Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, erste Stunde)
359
Philosophie und Politik: eine notwendige Beziehung, aber eine unmögliche Kongruenz. - Das kynische und das platonische Spiel der Beziehung zur Politik. - Die neue historische Lage: der Gedanke einer neuen politischen Einheit jenseits des Staates. - Vom öffentlichen Ort zur Seele des Fürsten. - Das platonische Thema des Philosophenkönigs.
Das philosophische ergon. - Vergleich mit dem Alkibiades. - Die Wirklichkeit der Philosophie: die furchtlose Ansprache an die Macht. - Erste Bedingung der Wirklichkeit: die Anhörung, der erste Zirkel. - Das philosophische Werk: eine Wahl; ein Fortgang; eine Anwendung. - Die Wirklichkeit der Philosophie als Arbeit an sich selbst (zweiter Zirkel).
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, zweite Stunde)
Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, zweite Stunde)
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1983, zweite Stunde)
4°7
Abschluß der Studie von Sokrates' Apologie: der Gegensatz parrhesialRhetorik. - Studie des Phaidros: allgemeine Gliederung des Dialogs. - Die Bedingungen des richtigen logos. - Die Wahrheit als beständige Funktion des Diskurses. - Dialektik und Psychagogie. Die philosophische parrhesia.
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde) 327
Das historische Schwanken der parrhesia: vom politischen zum philosophischen Spiel. - Die Philosophie als Praxis der parrhesia: das Beispiel Aristipps. - Das philosophische Leben als Manifestation der Wahrheit. -Die ständige Hinwendung zur Macht. Die Ermahnung aller. - Das Porträt des Kynikers bei Epiktet. - Perikles und Sokrates. - Moderne Philosophie und der Mut zur Wahrheit.
5°5
42 4
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, zweite Stunde)
447
Studie des Gorgias. - Die Pflicht zum Geständnis bei Platon: der Kontext der Liquidierung der Rhetorik. - Die drei Eigenschaften des Kallikles: episteme; parrhesia; eunoia. Agonistisches Spiel vs. egalitäres System. - Die sokratische Rede: basanos und homologia.
Fredhic Gros, Situierung der Vorlesungen
47 1
Literaturverzeichnis
49 1
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
497