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Angela Sommer-Bodenburg
Anton und
der kleine Vampir
Die Reise zu Graf Dracula Illustrationen
von Magdalene H...
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Angela Sommer-Bodenburg
Anton und
der kleine Vampir
Die Reise zu Graf Dracula Illustrationen
von Magdalene Hanke-Basfeld
Fotos von Angela Sommer-Bodenburg
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Umwelthinweis
Dieses Buch und der Schutzumschlag wurden auf
chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt
Die Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung)
ist aus umweltschonender und recyclingfähiger PF Folie.
I. Auflage
© 1993 bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München
Titelbild und Innenillustrationen von Magdalene Hanke-Basfeld
Reihengestaltung: Klaus Renner
Titelbild sowie die Illustrationen
auf S. 36. 75, 87 nach Fotos
von Angela Sommer Bodenburg
Autorenfoto Jochen Blume
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: Hofmann Druck, Augsburg
ISBN 3-570-01.838-5
Printed in Germany
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Widmung Dieses Buch ist für Burghardt Bodenburg, der zwar immer noch keine richtigen Vampirzähne hat, aber trotzdem mit mir im Sommer 1991
in Transsylvanien (Siebenbürgen)
auf vampirische Spurensuche gegangen ist –
und für Sara und Gerhard Dootz
in Deutsch-Weißkirch!
Angela Sommer-Bodenburg
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Das Abenteuer beginnt »Na, Anton, schon aufgeregt?« fragte Antons Vater. Mit einem freundlichen Grinsen drehte er sich zu seinem Sohn um. Anton saß auf der Rückbank des Geländewagens und hatte das schwarze Heft, sein Reisetagebuch, vor sich auf den Knien liegen. »Nein, überhaupt nicht«, behauptete Anton. Dabei hatte er gerade in seinem Tagebuch notiert: »6. August. Unsere Reise zu Graf Dracula fängt an. Ich bin ja so aufgeregt!« »Oh, sieh mal da drüben – der Vampirexpreß!« rief sein Vater jetzt und zeigte nach rechts. Antons Mutter, die ihren Reiseführer »Rumänien« studierte, hob den Kopf. »Vampirexpreß?« fragte sie irritiert. »Ja, der Lieferwagen vor uns«, sagte Antons Vater. Nun hatte auch Anton den Lieferwagen entdeckt. »Hilf Leben erhalten, spende Blut« stand darauf. »Das ist ein Sanitätsfahrzeug«, erklärte seine Mutter. »Und ich finde nicht, daß man darüber Witze machen sollte«, fügte sie, an Antons Vater gerichtet, hinzu. »Wieso Witze?« verteidigte sich der. »In den Wagen würde doch prima ein Vampirsarg passen.« »Genau!« stimmte Anton vergnügt zu. Er nahm seine Kamera und wartete, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Lieferwagen waren. Dann drückte er auf den Auslöser. »Mußt du Anton gleich zu Beginn der Reise wieder diesen ganzen Vampirunsinn in den Kopf setzen?« sagte Antons Mutter mißfällig.
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»Vampirunsinn?« Sein Vater lachte. »Aber wir fahren doch nur wegen der Vampire nach Rumänien!« »Ja, weil uns Herr Schwartenfeger zu dieser Reise geraten hat!« entgegnete sie. »Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir Rumänien als Reiseziel auszusuchen!« Anton grinste. Herr Schwartenfeger war der Psychologe, zu dem seine Eltern gingen, um über ihre Probleme zu sprechen. Und eines ihrer »Probleme« war er, Anton – mit seinen Freunden, den Vampiren. Allerdings glaubten seine Eltern nicht, daß es sich bei Rüdiger von Schlotterstein und seiner Schwester Anna um echte Vampire handelte. Anton nahm wieder sein Tagebuch zur Hand. »Wenn ich nur wüßte, wo Rüdiger und Anna sind! Vielleicht auf dem Borgopaß?« schrieb er. Es war nun fast fünf Wochen her, daß der kleine Vampir nachts in Antons Zimmer gekommen war und ihm erzählt hatte, seine Familie würde in ihre alte Heimat, nach 9
Transsylvanien, zurückkehren. Doch bevor Rüdiger ihm weitere Einzelheiten mitteilen konnte, hatte plötzlich Antons Mutter an die Tür geklopft und gefragt, ob Anton Besuch hätte. Überstürzt war der kleine Vampir davongeflogen – und seitdem hatte Anton ihn nicht wiedergesehen. Nur einen Zettel hatte er drei Nächte später an seinem Fenster entdeckt: »Besuch uns mal! Du findest uns, wenn du den Spuren von Graf Dracula folgst. Dein Rüdiger.« Ja, und dann hatte Anton die Zeit, die ihm bis zum Beginn der Sommerferien noch blieb, genutzt, um seine Eltern zu überzeugen, daß er unbedingt auf »Dracula-Reise« gehen mußte. Unterstützung hatte er dabei von Herrn Schwartenfeger bekommen. Der Psychologe hatte erklärt, Anton würde durch diese Reise wahrscheinlich ein für allemal von seiner »Fixierung auf Vampire« geheilt werden. So war es Anton schließlich gelungen, seine Eltern für die Fahrt durch Rumänien zu gewinnen. Und nun saßen sie in ihrem neuen Geländewagen, mit dem sich Antons Vater einen langgehegten Wunsch erfüllt hatte. Er schwärmte nämlich für »Abenteuerurlaub« – ganz im Gegensatz zu Antons Mutter. »Übrigens«, sagte Anton mit einem Blick auf seine Mutter. »Ich bin doch aufgeregt – vor allem wegen der Hotels. Wer weiß, ob die überhaupt fließend Wasser haben?« »Oh, bestimmt«, antwortete sie hastig. »Bei den Zimmerpreisen!« »Sonst holen wir uns das Wasser vom Brunnen«, sagte Antons Vater unbekümmert. »Ich würde das romantisch finden.« »Ich aber nicht«, bemerkte Antons Mutter.
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Alles nur positiv Ihr erstes Hotel lag allerdings noch in Deutschland, in Passau. Es hieß »Weißer Hase« und hatte nicht nur fließend warmes und kaltes Wasser – das Badezimmer war sogar größer als ihr eigenes zu Hause. Nach der langen Autofahrt nahm Anton erst mal ein ausgiebiges Bad. Zum Essen gingen sie dann in das »Heilig-Geist-Bistro«. Es war ein milder Abend, und sie konnten im Garten sitzen, in einer von Efeu umrankten Laube. Während des Essens schaute Anton immer wieder in den Himmel hinauf und dachte, daß dies eine ideale Nacht für Vampire wäre. Aber kein Rüdiger und keine Anna ließen sich blicken... »So nachdenklich, Anton?« fragte sein Vater. »Nein, nur müde«, antwortete er. »Wir sollten schlafen gehen«, meinte Antons Mutter. »Morgen haben wir wieder eine anstrengende Fahrt vor uns.« »Ja, gehen wir schlafen«, sagte Anton. Und mit einem verschmitzten Lächeln setzte er hinzu: »Dann sind wir schneller bei Graf Dracula!« Am nächsten Morgen fuhren sie in Richtung österreichische Grenze weiter. Zum Mittagessen hielten sie in Allant, einem kleinen Ort in Österreich, und um neunzehn Uhr erreichten sie ihr Schloßhotel in Szirák, Ungarn. Antons Mutter hatte sich sehr auf das – wie es im Prospekt hieß – »kunstvoll renovierte Barockschloß« gefreut. Nun war sie um so enttäuschter, als sie erfuhr, daß sie nicht im Schloß, sondern im Nebengebäude, in der Remise, übernachten sollten. Im Schloß wären zwar auch noch zwei Zimmer frei, hieß es – aber dann müßten sie pro Zimmer sechzig Deutsche Mark nachzahlen. »Nein, danke«, sagte Antons Mutter. »Das ist uns zuviel für eine Nacht.«
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Also blieben sie in der Remise, wo die Badezimmer winzig und nicht besonders sauber waren, wie selbst Anton bemerkte. »Na ja, jetzt sind wir im Ostblock«, meinte sein Vater lachend. »Und für ein Ostblockhotel finde ich es gar nicht schlecht!« »Du bist anscheinend entschlossen, alles nur positiv zu sehen«, entgegnete Antons Mutter spitz. »Ja, das stimmt«, sagte er. »Ich bin entschlossen, mir durch nichts meine gute Reisestimmung verderben zu lassen!« Doch als sie am Tage darauf drei Stunden an der ungarisch rumänischen Grenze warten mußten, verlor sogar Antons Vater seine gute Laune. Außerdem war es so heiß, daß man auf der Kühlerhaube mühelos Spiegeleier hätte braten können. Dreimal traten Soldaten an ihren Wagen und fragten nach Kaugummi und Schokolade. Antons Eltern wechselten unsichere Blicke, dann trennten sie sich von einem Teil ihres Reiseproviants. Ausgerechnet die Nougatwaffeln und die Schokoladenkekse«, beschwerte sich Anton. »Die esse ich am liebsten!« »Bitte, Anton, nimm dich zusammen«, sagte seine Mutter. »Denk daran, daß wir im –« »Ostblock sind, ich weiß.« Anton seufzte. Es war nach zweiundzwanzig Uhr, als sie endlich in Klausenburg – auf rumänisch »Cluj-Napoca« – ankamen. Ihr Hotel »Transsilvania« erwies sich als scheußlicher Betonklotz. Aber Anton war froh, daß er sein eigenes Zimmer hatte und sich schlafen legen konnte.
Beim nächstenmal sind wir klüger Das Frühstück am nächsten Morgen wurde in einer riesigen Halle serviert. 12
»Das ist ja ein richtiger Ballsaal«, meinte Antons Vater und deutete auf die schweren Kronleuchter, die von der Decke hingen. Zu einem Ball hätten auch die Kellner gepaßt: Sie trugen schwarze Anzüge, weiße Hemden und schwarze Fliegen. Mit dem jungen Kellner, der an ihren Tisch kam, verständigten sich Antons Eltern auf englisch; nicht sehr erfolgreich, wie es Anton schien, denn immer wieder schüttelte der Kellner den Kopf und sagte: »No!« »Die Auswahl ist sehr bescheiden«, bemerkte Antons Mutter flüsternd zu Anton. »Sie haben keine Milch, keine Eier, keinen Joghurt, kein Müsli, kein Obst...« »Und was sollen wir dann essen?« fragte Anton empört. »Warte doch erst mal ab, was uns der Kellner bringt«, antwortete sein Vater. Nach einer Viertelstunde erschien der Kellner mit einem Glas für Anton, das mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war, mit zwei großen Tassen türkischem Kaffee für Antons Eltern, einem Teller mit angebranntem Graubrot, etwas Butter und Marmelade und vier dünnen Scheiben Wurst.
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Anton war sprachlos. »Dein Getränk soll Orangensaft sein, und das verkohlte Brot nennt sich Toast.« Seine Mutter versuchte zu lachen. Sie winkte den Kellner heran und bestellte neues Brot – »no toast!« Antons Vater probierte den Kaffee. »Hm, der ist gut«, sagte er, »Den haben wir uns auch verdient nach dieser fürchterlichen Nacht!« »Fürchterlich?« Anton biß sich auf die Lippen. »Hat Mutti etwa im Schlaf geschrien? Oder laut geschnarcht?«
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»Natürlich nicht!« antwortete sie. »Aber dein Vater mußte gestern abend unbedingt noch Geld eintauschen...« »Wir«, verbesserte Antons Vater. »Wir beiden wollten Geld eintauschen! Du bist es sogar gewesen, die vorgeschlagen hat, dreihundert Mark zu tauschen. Ich hätte nur hundert getauscht.« »Dreihundert Mark? So viel?« wunderte sich Anton. Sein Vater nickte. »Auf jeden Fall haben uns die beiden Hotelangestellten mehr rumänische Lei gegeben, als wir in einer Wechselstube bekommen hätten.« »Und anschließend wollte Vati noch ein Glas Wein trinken«, fuhr Antons Mutter fort. »Du aber auch«, betonte Antons Vater. »Ja, nachdem uns die beiden jungen Männer die Flasche besorgt hatten, habe ich ein Glas mitgetrunken«, gab sie zu. »Und dann sind wir plötzlich mißtrauisch geworden«, sagte Antons Vater. »Mißtrauisch?« wiederholte Anton. »Daß es Falschgeld war?« »Nein, daß der Wein vergiftet war!« »Vergiftet?« »Wir haben gedacht, daß vielleicht ein Schlafmittel drin sein könnte. Weißt du, die Flasche war schon geöffnet.« »Und die beiden Hotelangestellten konnten ja davon ausgehen, daß wir noch mehr Geld hatten«, fügte Antons Mutter hinzu. »Auf einmal dachten wir: Was ist, wenn sie irgendein Mittel in den Wein geschüttet haben und nun warten, bis wir eingeschlafen sind? Dann kommen sie mit ihrem Hauptschlüssel in unser Zimmer und rauben uns aus! Und wir merken nichts, weil wir von dem Schlafmittel betäubt sind.« »Ja, und da haben wir nicht mehr gewagt, uns hinzulegen«, ergänzte Antons Vater. »Wir sind die ganze Nacht wach geblieben!«
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»Beim nächstenmal gehen wir aber in eine Wechselstube«, sagte Antons Mutter. »Selbst wenn wir dort weniger Lei bekommen.« »Ja«, stimmte Antons Vater zu. »Beim nächstenmal sind wir klüger!« Doch der eigentliche Schock stand Antons Eltern erst noch bevor: Als sie am Touristenschalter des Hotels Benzingutscheine kaufen wollten, wurde ihnen klar, daß sie am vergangenen Abend nicht mehr, sondern – weniger Lei bekommen hatten! Der Grund war, daß sie ihre DM zu einem völlig wirklichkeitsfremden Wechselkurs gegen rumänische Lei eingetauscht hatten. Und zwar hatte Antons Vater in einem rumänischen Reiseführer gelesen, man würde für 1 DM 5 Lei bekommen. Bei diesem Wechselkurs hätten ihm die Hotelangestellten für seine 300 DM 1500 Lei geben müssen. Er hatte von ihnen aber 2000 Lei verlangt – die 500 zusätzlichen Lei sollten sein Verdienst sein. Am Touristenschalter mußte er nun erfahren, daß man für 1 DM nicht 5, sondern 110 Lei bekam! Er hätte sich von den Hotelangestellten also mindestens 33.000 Lei geben lassen müssen!
Die Liebe zu den Vampiren »31.000 Lei zuwenig...« stammelte Antons Vater. Er war ganz grau im Gesicht. »Ich glaube, diese Dummheit werde ich mir nie verzeihen!« »Wir sind beide schuld«, erwiderte Antons Mutter. »Wir hätten auf dem Zimmer kein Geld tauschen dürfen.« »Und den Hotelangestellten können wir noch nicht mal beweisen, daß sie uns betrogen haben«, sagte Antons Vater grimmig. »Denn erstens ist es verboten, schwarz zu tauschen. 16
Und zweitens würden sie mit Sicherheit behaupten, daß sie uns 33.000 Lei oder noch mehr gegeben haben.« »Wenn ich das richtig verstanden habe mit dem Wechselkurs, dann haben sie euch doch überhaupt nicht betrogen«, warf Anton ein. »So, meinst du?« »Ja! Schließlich haben sie DM gegen Lei eingewechselt! Daß ihr zuwenig Lei bekommen habt, war eben euer – wie nennt man das? – ja, Geschäftsrisiko!« »Anton Besserwisser, wie?« meinte sein Vater. »Ganz unrecht hat er nicht« bemerkte Antons Mutter. »Aber wir sollten uns von dieser Geschichte nicht den ersten Urlaubstag verderben lassen! Immerhin steht uns heute noch Aufregendes bevor: das Hotel von Jonathan Harker, der Borgopaß...« »Woher kennst du das Hotel von Jonathan Harker und den Borgopaß?« fragte Anton verwundert. »Oh«, sagte sie mit einem Lächeln. »Vati und ich hatten in der vergangenen Nacht viel Zeit zum Lesen!« »Ja, und dabei hat Mutti ihre Liebe zu den Vampiren entdeckt«, erzählte Antons Vater. »Sie hat was?« sagte Anton verdutzt. »Festgestellt, daß Bram Stoker gar kein so schlechter Schriftsteller war«, antwortete seine Mutter. »Diese Geschichten von dem einsamen Grafen in seinem Schloß in den Karpaten... die ist mir richtig zu Herzen gegangen!« »Mutti konnte gar nicht wieder aufhören zu lesen, nachdem ich das ›Dracula‹-Buch aus deinem Zimmer geholt hatte«, berichtete Antons Vater. »Natürlich habe ich es nur ausgeliehen«, fügte er hinzu, als er Antons entrüstete Miene sah. »Früher hat Mutti sich immer aufgeregt, wenn ich ›Dracula‹ gelesen habe...« »Ja.« Sie lachte. »Aber jetzt sind wir in Transsylvanien!« 17
»Bei Graf Dracula!« fügte Antons Vater hinzu. »Noch nicht ganz«, erwiderte Anton. »Das richtige Transsilvanien beginnt erst in Bistritz.« »Ja, sehen wir zu, daß wir dorthin kommen – weg von diesen Vampiren hier!« Antons Vater warf einen finsteren Blick in die Runde. Aber die beiden Hotelangestellten von gestern abend waren schlau genug, ihnen nicht über den Weg zu laufen. Oder vielleicht hatten sie auch gar keinen Tagesdienst. »Vampire?« Anton biß sich auf die Lippen. »Ich glaube nicht, daß sie sich dann für euer Geld interessiert hätten...« »9. August«, schrieb Anton auf der Fahrt in sein Tagebuch. »Nur noch wenige Kilometer bis Bistritz...« Er spürte, wie sein Herz aufgeregt klopfte. Dabei wirkte die Gegend, durch die sie kamen, kein bißchen unheimlich. Die kleinen, bunt gestrichenen Häuser, die Holzzäune mit den Bänken davor, die Frauen mit ihren Kopftüchern, die braungebrannten Kinder, die ihnen winkten, die Pferdefuhrwerke, die Hühner und Gänse, die einfach auf der Straße liefen – alles machte den Eindruck friedlichen Dorflebens.
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Unheimlicher wirkten da schon die Neubausiedlungen am Stadtrand mit den vielen eingeschlagenen Fensterscheiben. Ja, und dann waren sie in Bistritz, von dem es bei Bram Stoker hieß, es sei eine »alte, interessante Stadt«. Alt sahen die Häuser tatsächlich aus. Aber viel »Interessantes« konnte Anton nicht entdecken. In den staubigen Straßen war kaum jemand 19
unterwegs, und es gab nur wenige Geschäfte. Auch das Hotel »Goldene Krone« war ganz anders, als Anton es sich vorgestellt hatte: Ein langweiliger Betonbau, der bestimmt nicht älter als zwanzig Jahre war. Auf keinen Fall stammte das Hotel aus dem vorigen Jahrhundert. Und »Dracula«, das hatte sich Anton gemerkt, war bereits im Jahr 1897 veröffentlicht worden! »Das Hotel heißt nur so wie im Roman«, erklärte sein Vater, dem Antons Enttäuschung nicht entgangen war. »Damals, als Bram Stoker seinen ›Dracula‹ geschrieben hat, gab es keine ›Goldene Krone‹. Die Rumänen haben ihr Hotel in Bistritz nur so genannt – für die Touristen!« »Und woher weißt du das?« Antons Vater schmunzelte. »Auch ich hatte viel Zeit zum Lesen in der letzten Nacht. Und da habe ich unsere Reiseführer noch einmal gründlich studiert. Jetzt weiß ich zum Beispiel, daß Bram Stoker nie in Transsylvanien gewesen ist und daß es nie einen Borgopaß gegeben hat.« »Ja, da habe ich auch gelesen«, sagte Anton. »Er heißt in Wirklichkeit Tihutapaß. Aber es ist doch egal, ob Graf Dracula Jonathan Harker auf dem Borgo- oder auf dem Tihutapaß abgeholt hat!« »Falls er ihn überhaupt dort abgeholt hat...« antwortete sein Vater. »Wie meinst du das?« »Nun, in dem einen Reiseführer stand, daß der Tihutapaß ein sanft gewelltes, hügeliges Gelände ist – und nicht die schroffe, unheimliche Gebirgslandschaft aus dem Roman.« »Bram Stoker könnte sich doch mit dem Namen des Gebirges geirrt haben«, warf Antons Mutter ein. »Geirrt?« wiederholte Anton. »Weshalb sollte er sich denn geirrt haben?« »Vielleicht hat der echte Graf Dracula gar nicht in der Gegend um Bistritz gelebt«, antwortete sie. »Du hast ja gehört, 20
was Vati gesagt hat: Bram Stoker ist nie in Transsylvanien gewesen. Da können sich schon mal Fehler einschleichen. Überhaupt ist das ›Dracula‹-Buch eine interessante Mischung aus Dichtung und Wahrheit!« »Wobei man die Wahrheit wohl nie mehr herausfinden wird«, ergänzte Antons Vater. »Und warum nicht?« wollte Anton wissen. »Weil Graf Dracula bereits im Jahr 1476 gestorben ist. Er ist demnach seit über fünfhundert Jahren tot!« Anton verkniff sich ein Lachen. »Tot würde ich nicht sagen... immerhin ist er Vampir geworden. Und Vampire leben ewig!« »Jedenfalls in Büchern«, sagte seine Mutter. »Ach ja, mein ›Dracula‹ Buch«, fiel Anton ein. »Das brauche ich dringend zurück!«
Dracula-Tourismus Der Tihutapaß war tatsächlich noch enttäuschender als die »Goldene Krone«, fand Anton. Eine gut ausgebaute Straße führte zu einem riesigen Hotelneubau mit einem entsprechend großen Parkplatz davor. Auf einer Leuchttafel las Anton »Night Bar«. 21
»Das ist nicht die Burg von Graf Dracula – das ist die Hochburg des Dracula-Tourismus«, witzelte sein Vater. »Dracula-Tourismus?« sagte Anton zweifelnd. »Allerdings! Damit wollte der Diktator Ceausescu die Touristen ins Land locken. Was ihm ja auch gelungen ist!« »So?« meinte Anton. Der Parkplatz war nicht gerade voll. Und Reisebusse sah er auch nicht. »Sind wir etwa keine Dracula-Touristen?« antwortete sein Vater. »Ich jedenfalls nicht!« stellte Anton klar. »Aber du wirst doch zugeben, daß wir dieselben Orte aufsuchen wie alle anderen Dracula-Touristen auch.« »Trotzdem bin ich kein Dracula-Tourist!« »Und was bist du dann?« fragte Antons Mutter. Er grinste. »Ich bin in Rumänien nicht als Tourist, sondern – genau wie du – aus Liebe zu den Vampiren!« Sein Vater lachte. »Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir gleich massenhaft Vampire sehen. Da drinnen gibt es nämlich ein Dracula-Restaurant.« Er zeigte auf ein Schild über dem Eingang des Hotels. »Ich schätze, dich täuscht alles«, bemerkte Anton. »Schließlich ist die Sonne noch gar nicht untergegangen!« Wie er erwartet hatte, saßen nur ganz normal aussehende Leute in der Gaststube, die mit einfachen Holztischen möbliert war. Anton und seine Eltern nahmen an einem Tisch in der Nähe des Fensters Platz. »Hoffentlich gibt es hier mehr Auswahl auf der Speisekarte«, sagte Antons Vater. »Ich bin richtig hungrig. Das Mittagessen in Bistritz war ja nicht besonders reichlich...« Doch es gab nur Schweineschnitzel oder Rinderbraten, vor Fett triefende Bratkartoffeln, Tomatensalat und Brechbohnen aus der Dose. »Da hat es Jonathan Harker besser gehabt«, sagte Antons Mutter. »Im Buch wird ausführlich beschrieben, wie er einen 22
leckeren Räuberbraten ißt und einen köstlichen einheimischen Wein trinkt. Und in Klausenburg hat er sogar das Nationalgericht bekommen: Paprikahuhn!« Nach dem Essen wollten sie einen Rundgang durch das Hotel machen. Doch weit kamen sie nicht: Die meisten Gänge waren abgesperrt, und es lagen Berge von Brettern, Steinen und Schutt herum. »Das ist ja die reinste Baustelle!« schimpfte Antons Mutter. Immerhin entdeckten sie einen Schalter, an dem es Porzellanteller mit der Aufschrift »Hotel Dracula Castle« gab. Anton kaufte sich einen Teller, obwohl er die darauf abgebildete Frau, hinter der ein Mann in einem schwarzen Umhang zu erkennen war, genauso kitschig fand wie seine Eltern. Anschließend fuhren sie nach Bistritz zurück. In der »Goldenen Krone« kam Anton plötzlich eine Idee: Hatte nicht Jonathan Harker bei seiner Ankunft eine Nachricht vorgefunden...? Er ging zur Rezeption und klopfte an die dicke Glasscheibe. Die ältere Frau dahinter musterte ihn finster. Er klopfte noch einmal. Nun öffnete sie die Scheibe einen winzigen Spalt breit und sagte etwas auf rumänisch. Anton zeigte auf sich. »Ich – Anton Bohnsack!« Dann machte er die Bewegung des Schreibens. »Brief! Haben Sie einen Brief für mich?« Die Frau reagierte nicht. »Nachricht, Post...« versuchte er es weiter. »Postala?« Sie kramte in einer Schublade. »Nu!« sagte sie. »Danke«, sagte Anton. Langsam stieg er die Treppen zu seinem Zimmer hoch. Es kam ihm plötzlich ziemlich verrückt vor, die weite Reise bis nach Transsylvanien gemacht zu haben – nur im Vertrauen darauf, hier den kleinen Vampir zu treffen! Und wenn er nun überhaupt nichts von Rüdiger und Anna hören würde?
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Aber nein! sagte Anton sich dann. Es bestand gar kein Grund, dermaßen schwarzzusehen. Morgen wollten sie In Schäßburg das Geburtshaus von Graf Dracula besichtigen, und anschließend würden sie weiterfahren nach Kronstadt. Und dort würde sich Rüdiger bestimmt mit ihm in Verbindung setzen! Denn in der Nähe von Kronstadt lag das berühmte Schloß Bran, das Dracula-Schloß schlechthin, wie Anton gelesen hatte. Jetzt war er sogar froh, daß seine Eltern nur eine einzige Übernachtung in der »Goldenen Krone« gebucht hatten, zumal ihre Zimmer, vor allem die Badezimmer, ausgesprochen schlicht waren! Aber ein solches Badezimmer hatte natürlich auch seine Vorteile: Niemand konnte von Anton verlangen, sich lange darin aufzuhalten...
In diesem Haus wohnte Vlad Dracul Mittags, um kurz nach eins, kamen sie in Schäßburg an. »Man tut Schäßburg, auf rumänisch Sighisoara, unrecht, wenn man es nur zu Ehren Draculas besucht«, las Antons Mutter aus ihrem Reiseführer vor. »Und warum?« fragte Anton. »Es soll hier noch ungefähr hundertfünfzig gut erhaltene Häuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert geben«, antwortete sie. »Aber das Dracula-Haus ist das interessanteste!« erklärte Anton. Dieser Meinung schien nicht nur Anton zu sein: Die Altstadt, durch die sie nun fuhren, war menschenleer, doch vor dem gelb gestrichenen Dracula-Haus mit der Gedenktafel und dem goldenen Familienwappen, einem Drachen, drängten sich die Touristen. Anton, der ein paar Fotos machen wollte, mußte immer wieder warten, bis die Leute im Haus verschwunden waren, 24
ehe er abdrücken konnte. »Verstehst du, was auf der Gedenktafel steht?« fragte er seinen Vater. »Sicher«, meinte Antons Vater. »Als Lateiner...« »Als alter Lateiner, hast du vergessen zu sagen«, bemerkte Antons Mutter – leicht gereizt; denn sie hatte, wie Anton wußte, keinen Lateinunterricht gehabt. »So alt bin ich doch gar nicht«, antwortete sein Vater in gespielter Entrüstung. »Also: Wenn ich alles richtig verstehe, heißt die Inschrift: In diesem Haus lebte von 1431-1435 der rumänische Fürst Vlad Dracul, der Sohn von Mircea cel Batrin.« »Wieso nur wohnte?« sagte Anton. »Ich dachte, es wäre das Geburtshaus!«
»Es gab zwei Vlad Draculs«, erklärte seine Mutter. »Zwei?« 25
»Ja!« Sie deutete auf ihren Reiseführer. »Es ist alles ein bißchen kompliziert. Vlad Dracul war der Vater des berüchtigten Grafen. König Sigismund hatte ihn 1418 zum Ritter des Drachenordens ›draco‹ gemacht. Fortan führte er den Beinamen ›Dracul‹, was auf rumänisch allerdings Teufel bedeutet.« »Ach, deshalb der Drachen«, meinte Anton mit dem Blick auf das Familienwappen über der Eingangstür. Seine Mutter nickte. »Und der Graf Dracula aus dem Roman ist der Sohn von Vlad Dracul«, fuhr sie fort. »Man nimmt an, daß er in diesem Haus geboren wurde – und zwar 1431. Eigentlich müßte man ihn Vlad Draculea nennen. Dracuela heißt auf rumänisch: Sohn des Dracul. Es hat sich aber ein anderer Name eingebürgert.« »Und welcher?« »Vlad Tepes. Tepes heißt: Der Pfähler. Im Reiseführer steht, daß er seine Gegner mit Holzpflöcken aufgespießt hat.« »Brrr!« »Ja, er war sehr grausam, noch grausamer als die meisten seiner Feinde, die auch nicht gerade – nun – zimperlich waren. Aber es waren ganz andere Zeiten. Auf Menschenleben wurde damals wenig Rücksicht genommen, und für kleinste Vergehen wurden fürchterliche Strafen verhängt.« »Jetzt sollten wir uns aber endlich das Geburtshaus ansehen!« Antons Vater lachte. »Das finde ich auch«, sagte Anton, der schon ganz ungeduldig war. Aber dann war er um so enttäuschter, als er in den beiden winzigen Räumen mit der gewölbten Decke nur schwarz gestrichene Tische und Stühle und einen Tresen voller Gläser sah. »Das ist ja eine Gastwirtschaft«, murmelte er. »Und keine bessere als im Dracula-Hotel – leider«, sagte sein Vater und zeigte auf das Essen, das an einem der Tische
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serviert wurde: Rinderbraten mit fettigen Bratkartoffeln, Tomatensalat und Brechbohnen. Aber weil sie hungrig waren, nahmen sie doch Platz und bestellten... Rinderbraten; denn etwas anderes gab es nicht. »Wenn ich hier der Wirt wäre, würde ich nur DraculaGerichte auf die Karte setzen«, meinte Antons Vater. »Steaks, die fast roh sind, mit viel rotem Ketchup, rote Beete, Blutwurst, Blutorangen...« »Ich glaube nicht, daß man diese Dinge zur Zeit in Rumänien bekommen kann«, erwiderte Antons Mutter. »Den Leuten hier soll es wirtschaftlich sehr schlecht gehen.« »In unserem Reiseführer steht es aber völlig anders«, entgegnete Antons Vater. »Hier: Die rumänische Küche dürfte zur besten und variationsreichsten Osteuropas gehören. Auch hier hat jedes Gebiet des Landes Typisches zu bieten. Nun sind wir durch halb Rumänien gefahren – und was kriegen wir zu essen? Wieder Rinderbraten mit Dosengemüse. Die locken einen ja unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ins Land!« »Das stimmt«, sagte Anton und warf einen finsteren Blick in die Runde. Viel von Dracula hatte er bisher wirklich nicht gehabt – und vom kleinen Vampir noch weniger... Aber dann erinnerte er sich an das, was er sich gestern abend vorgenommen hatte: nach vorn zu schauen und positiv zu denken! »Der Rinderbraten schmeckt hier besser«, behauptete er, um etwas Positives zu sagen. »Irgendwie saftiger.« »Saftiger?« sagte seine Mutter, nicht sonderlich überzeugt. »Ich finde das Fleisch eher noch zäher«, antwortete sein Vater. »Hoffen wir, daß das Essen in Kronstadt besser ist!« »Und die sanitären Einrichtungen«, ergänzte Antons Mutter. »In dem scheußlichen Bad in Bistritz habe ich nur Katzenwäsche gemacht.« Anton grinste. »Ach, du auch?« 27
Schloß Bran Von außen war das Hotel »Carpati« in Kronstadt – auf rumänisch hieß die Stadt »Brasov« – ein beeindruckender Bau. Ebenso eindrucksvoll war die Hotelhalle mit den vielen Kugellampen und den schweren Ledersesseln. Die Zimmer waren geräumig und, verglichen mit denen in Bistritz, geradezu luxuriös. Selbst die Badezimmer machten einen modernen Eindruck. Allerdings lief die Wasserspülung ununterbrochen, sofern man nicht, mutig wie Antons Vater, in den Wasserkasten griff und den Schwimmer feststellte. »Na ja, kleine Fehler gibt es überall«, versuchte sich Antons Mutter über diesen Mangel hinwegzutrösten.
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»Jetzt fängt unser Urlaub erst richtig an«, meinte Antons Vaters. Nur bei Anton wollte sich keine rechte Freude einstellen. Zwar wären in der schlecht beleuchteten, mit uralten Plüschsofas vollgestellten Empfangshalle der »Goldenen Krone« in Bistritz zwei kleine Vampire kaum aufgefallen. Aber in dieser betont »feinen« Atmosphäre konnte er sich Rüdiger und Anna gar nicht vorstellen. Außerdem – wie sollten sie ihn hier finden? Das Hotel mußte Hunderte von Zimmern haben. Trotzdem ließ Anton in der Nacht die Terrassentür offenstehen und stellte sein Dracula-Buch ins Fenster. Doch wie er befürchtet hatte: Rüdiger und Anna kamen nicht. »Dann sehen wir uns eben im Schloß!« machte er sich am nächsten Morgen selber Mut. Allerdings war es noch hell, als sie nach der Fahrt durch eine malerische Berglandschaft Schloß Bran erreichten, das weithin sichtbar auf einem Berggipfel lag. »Übrigens –« bemerkte Antons Mutter. »Im Reiseführer lese ich gerade, daß Vlad Tepes aller Wahrscheinlichkeit nach nie einen Fuß in dieses Schloß gesetzt hat.« »Wie...«, sagte Anton. »Ist das etwa nicht das Schloß von Graf Dracula?« »Nein! Es ist eine Grenzburg, die im Mittelalter zur Sicherung des Warenhandels gebaut wurde. Damals führte eine Handelsstraße von Transsylvanien über die Balkanländer bis in den Orient.« »Aber genauso stellt man sich Draculas Schloß vor!« entgegnete Anton und blickte zu dem imposanten Bauwerk hinauf, das mit dem Felsen verwachsen zu sein schien. »Deshalb wurde sie ja von cleveren Tourismusmanagern zum ›Dracula-Schloß‹ erklärt«, antwortete seine Mutter. »Weil sie genau den Erwartungen der zahlreichen Touristen entspricht!« »Zahlreich?« wiederholte Antons Vater und zeigte belustigt auf den fast leeren Parkplatz.
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»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Antons Mutter. »Ob die gerade Sommerferien machen?« »Sommerferien?« rief Anton erschrocken. »Meint ihr, das Schloß ist in den Sommerferien geschlossen?« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Doch als sie den Park betraten, kam ihnen ein Mann entgegen und sagte etwas auf englisch. »Was ist?« fragte Anton in banger Vorahnung. »Der Mann sagt, die volkskundlichen Ausstellungen –« Antons Vater deutete auf mehrere flache Gebäude, »können wir besichtigen. Aber Schloß Bran ist wegen Renovierung geschlossen.« »Geschlossen? Wegen Renovierung?« rief Anton. »Sie haben irgend etwas sehr Schlimmes in den alten Holzbalken entdeckt«, erklärte seine Mutter. »Was es ist, habe ich nicht verstanden. Aber jetzt müssen alle Balken, die davon befallen sind, ausgetauscht werden.« »Und wenn ihr ihm sagt, daß wir nur wegen Schloß Bran nach Rumänien gekommen sind?« drängte Anton. »Vielleicht läßt er uns dann ins Schloß?« Sie sprach wieder mit dem Mann. Anton sah, daß er den Kopf schüttelte. »Er sagt, wir können uns das Schloß von außen ansehen«, übersetzte Antons Vater. »Hineingehen können wir nicht.«
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»So eine Gemeinheit!« Anton ballte die Fäuste. »Aber du kannst doch Fotos machen«, meinte sein Vater. »Völlig umsonst sind wir nicht hergefahren.« Anton warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann marschierte er den Berg hoch, der zum Schloß führte. »Die Empfehlung von Herrn Schwartenfeger war wirklich gut«, hörte er seine Mutter sagen. »Diese Rumänienreise kann sich nur günstig auf Anton auswirken! Wenn wir nach Hause zurückkommen, wird von seinen romantischen Vorstellungen von Vampiren nicht mehr viel übrig sein.« Anton preßte die Lippen zusammen. Ja, es stimmte, er war enttäuscht. ›Aber noch ist nicht aller Tage Abend!‹ dachte er.
Die Schönen der Nacht Am nächsten Morgen fuhren sie nach Hermannstadt weiter, auf rumänisch »Sibiu«, zum Hotel »Imparatul Romanilor«. Weil Antons Mutter gelesen hatte, daß dort sogar der Sohn der Kaiserin Maria Theresia zu Gast gewesen war, hatten sie gleich vier Übernachtungen gebucht. Das Hotel wirkte tatsächlich wie aus einer anderen Welt mit seiner eleganten Empfangshalle, den schönen alten Möbeln und den langen, mit dicken Teppichen ausgelegten Fluren. Anton war auch sehr zufrieden mit seinem Zimmer. Vor allem freute er sich über den Fernsehapparat, mit dem er ein deutsches Satellitenprogramm und einen englischen Musiksender empfangen konnte. Nach einem Spaziergang durch die engen, verwinkelten Gassen von Hermannstadt hätte er sich am liebsten auf das breite Bett gelegt und gemütlich ferngesehen. Aber seine Eltern meinten, er dürfte auf keinen Fall die Modenschau versäumen, die von einer Tanzkapelle musikalisch untermalt werden sollte.
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»Klamottenschau mit Blasmusik, wie?« sagte Anton, nicht gerade begeistert. »Wenn dich die Mode und die Musik nicht interessieren, dann wird dir bestimmt das Essen schmecken«, antwortete sein Vater. »Ich habe erfahren, daß anläßlich der Modenschau besondere Spezialitäten serviert werden!« Und so war es auch. Es gab Cola, Champagner, Käse, Chateaubriand – ein doppeltes Filetsteak –, Hähnchenkeulen, Nudeln, richtige Pommes frites und zum Nachtisch Palatschinken. Anton aß fast so viel wie sein Vater. Als die Modenschau begann und junge Frauen in tief ausgeschnittenen Abendkleidern an ihrem Tisch vorbeipromenierten, ächzte er: »Ich glaube, mir wird schlecht...« »Die Schönen der Nacht sind dir wohl auf den Magen geschlagen, wie?« meinte sein Vater. »Nein, das viele Essen«, knurrte Anton. »Und die nervige Musik«, ergänzte er mit dem Blick auf die drei Musiker, die sich abmühten, westliche Popsongs nachzuspielen. »Möchtest du in dein Zimmer gehen?« fragte seine Mutter. »Ich weiß nicht –« murmelte Anton. »Die Luft hier drinnen ist jedenfalls sehr gut«, erklärte sie. »Das stimmt«, sagte sein Vater. »Wir sitzen gewissermaßen im Freien!« Das Restaurant, in dem die Modenschau stattfand, lag in einem Innenhof. Und dieser Innenhof hatte ein riesiges Glasdach – eine Art Schiebedach – das jetzt geöffnet war. Anton beugte sich vor und blickte nach oben. Er konnte einen Teil des Hotels erkennen und darüber den Nachthimmel, an dem er sogar ein paar Sterne funkeln sah. Auf einmal traute er seinen Augen nicht: Baumelten da nicht vier Beine vom Dach herunter? Ja, wirklich, dort oben saßen zwei kleine Gestalten in dunklen Wollstrumpfhosen, mit altmodischen Schuhen, und schauten sich heimlich die Modenschau an! 33
»Ich... ich geh’ doch lieber in mein Zimmer«, stotterte Anton, dem es nur mühsam gelang, seine Aufregung zu verbergen. Seine Mutter nickte ihm zu. »Du siehst wirklich etwas mitgenommen aus.« Aber Anton schlich sich nur auf die andere Seite des Saals, und mit stürmisch klopfendem Herzen spähte er zum Glasdach hinauf. Er sah den kleinen Vampir, der auf die langen, schlanken Hälse der Mannequins starrte, und Anna, die mit wehmütigem Lächeln die festlichen Kleider betrachtete. Offenbar hatten sie ihn, Anton, noch gar nicht bemerkt! Verstohlen hob er die Hand und machte ihnen Zeichen. Doch die beiden reagierten nicht. Irgendwie mußte es Anton gelingen, zu ihnen aufs Dach zu kommen! Plötzlich fiel ihm ein, daß er aus seinem Zimmerfenster auf einen Innenhof und auf ein Glasdach geblickt hatte... Fast hätte Anton einen Freudenschrei ausgestoßen; denn jetzt wußte er, daß es dieser Innenhof gewesen war und daß eins der Fenster, die man im Hintergrund erkennen konnte, sein eigenes war! Nun hatte er es sehr eilig, in sein Zimmer zu kommen.
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Gefühlspanzerung Mit zitternden Fingern öffnete Anton die Tür und rannte zum Fenster. Er seufzte erleichtert auf, als er die Vampire noch immer auf dem Dach sitzen sah. »Rüdiger, Anna!« rief er ihnen zu. Vor Freude war seine Stimme ganz heiser. Ihre Köpfe fuhren herum. »Anton!« Anna erhob sich und kam auf Anton zugelaufen. Doch der kleine Vampir war schneller: Er flog über Anna hinweg und landete im Zimmer. »Hallo, Anton«, meinte er mit einem freundlichen Grinsen. »Hallo, Rüdiger!« sagte Anton. »Hallo, Anna«, fügte er hastig hinzu, denn jetzt kletterte auch Anna ins Zimmer. »Willkommen in Transsylvanien!« Der kleine Vampir entblößte seine kräftigen, nadelspitzen Eckzähne und schielte auf Antons Hals. Anton machte einen Schritt zurück. »He...« sagte er. »Was hast du vor?« »Was sollte ich denn vorhaben?« tat der kleine Vampir ahnungslos und näherte sich Anton. »Rüdiger will dir nur einen Schreck einjagen«, erklärte Anna. »Damit du nicht merkst, wie sehr er sich über das Wiedersehen freut!« Der kleine Vampir grinste. »Du hast viel öfter von Anton gesprochen als ich«, antwortete er. Zu Anton gewandt, fügte er hinzu: »Nacht für Nacht hat sie gefragt, wann ihr Anton wohl endlich kommt.« »Mein Anton?« wiederholte Anna. »Heißt das, du verzichtest auf Anton?« »Natürlich nicht«, knurrte der kleine Vampir. »Schade«, meinte Anna. 36
»Rüdiger hat dich genauso sehnsüchtig erwartet wie ich«, verriet sie Anton. »Das will er bloß nicht zugeben.« Der kleine Vampir knackte verlegen mit seinen langen, sehnigen Fingern. »Er leidet nämlich an... Gefühlspanzerung!« Sie kicherte, und ehe Anton wußte, wie ihm geschah, hatte sie ihn auf die Nasenspitze geküßt. »Aber ich leide nicht an Gefühlspanzerung!« verkündete sie. »Dafür aber an etwas anderem«, bemerkte der kleine Vampir giftig. »Und das wäre?« »Du leidest an mangelndem Taktgefühl!« Anna war rot geworden. »Findest du das etwa auch?« fragte sie Anton. »Ähm –« Anton räusperte sich. »Ich weiß gar nicht genau, was das sein soll«, behauptete er. Und um Rüdiger versöhnlich zu stimmen, fügte er hinzu: »Und was Gefühlspanzerung sein soll, weiß ich auch nicht.« »Pah!« fauchte Anna. »Wahrscheinlich, weil du selbst daran leidest – genau wie Rüdiger!« Sie lief eilig zum Fenster. »Anna!« sagte Anton betroffen. »Laß sie doch«, sagte der kleine Vampir. »Sie ist bei uns sowieso nur das fünfte Rad am Wagen.« Anna schluchzte, dann breitete sie die Arme unter dem Umhang aus und flog davon. »Gefühlspanzerung kann auch ihre Vorteile haben«, bemerkte der kleine Vampir. »Im Gegensatz zu Anna, dieser beleidigten Dauerwurst, hab’ ich meine Gefühle unter Kontrolle!« »Leberwurst«, stellte Anton richtig. »Man sagt: beleidigte Leberwurst,« Der kleine Vampir schüttelte seine wilde Haarmähne. »Ich sage Dauerwurst – weil Anna andauernd beleidigt ist.« Er lachte krächzend. »So, und nun komm!« 37
»Wohin denn?« fragte Anton zögernd. »Ich will dir meine alte Heimat zeigen!« Der Vampir zog unter seinem Umhang einen zweiten hervor und reichte ihn Anton. »Hier, den Umhang schleppe ich schon eine kleine Ewigkeit mit mir herum. In der Zwischenzeit war ich mir allerdings nicht mehr sicher, ob du überhaupt noch auftauchst!« »Ich konnte schließlich nicht ahnen, daß du in Hermannstadt wohnst«, erwiderte Anton. »Meine Eltern und ich sind durch halb Rumänien gefahren auf der Suche nach dir.« »Im Ernst?« sagte der kleine Vampir geschmeichelt. »Und wo seid ihr überall gewesen?« »In Bistritz, auf dem Borgopaß, in Schäßburg, in Kronstadt, auf Schloß Bran...« »Dann seid ihr ja weit herumgekommen«, meinte der Vampir. »Übrigens – ich wohne nicht in Hermannstadt!« »Nicht? Und wo dann?« »Warum so ungeduldig?« antwortete der kleine Vampir. »Leg dein Herz vertrauensvoll in meine Hände! – Und zieh endlich den Umhang an.« Langsam streifte Anton den löchrigen Vampirumhang über, von dem ein durchdringender Geruch nach Moder und Mottenpulver ausging. »Was ist?« rief der kleine Vampir, der bereits draußen vor dem Fenster schwebte. »Ich komm’ ja schon!« Anton lief zu seiner Zimmertür und verschloß sie von innen. Dann stieg er aufs Fensterbrett. Mit Herzklopfen blickte er auf das geöffnete Dach unter sich. Noch immer promenierten dort die Mannequins, gab der Ansager auf rumänisch seine Kommentare ab. »Hast du Angst?« fragte der kleine Vampir grinsend. »Angst ist dazu da, daß man sie besiegt.« Anton bemühte sich, seine Stimme fest und entschlossen klingen zu lassen.
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Er bewegte die Arme unter dem Umhang auf und ab – und flog!
Heimaterde Schnell hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Die Gegend, die sie nun überflogen, wirkte ländlich. Im hellen Mondlicht erkannte Anton Felder, Wiesen und kleine Dörfer. »Sag mir doch, wohin wir fliegen«, bat er. »Das hab’ ich dir schon gesagt. Wir fliegen in meine alte Heimat. Du wirst gleich das jahrhundertealte Familiendomizil derer von Schlotterstein mit eigenen Augen sehen!« »Euer Familiendomizil?« murmelte Anton. Einerseits brannte er natürlich darauf, endlich jenen sagenumwobenen Ort zu sehen. Andererseits wurde ihm bei dem Gedanken, daß dieser Moment nun unmittelbar bevorstand, doch etwas mulmig zumute... »Oder möchtest du zuerst unseren alten Friedhof besuchen?« fragte der kleine Vampir. »Euren alten Friedhof?« »Ja. Viel zu sehen ist aber nicht, weil wir aus... nun, aus beruflichen Gründen unsere Särge wieder ausgraben mußten!« Anton spürte einen kalten Schauder. Mit den »beruflichen Gründen« spielte Rüdiger darauf an, daß ein Vampir gezwungen ist, immer in seinem eigenen Sarg zu schlafen. Der kleine Vampir verlangsamte seinen Flug und landete vor einem hohen, schmiedeeisernen Tor. »Ist das euer alter Friedhof?« fragte Anton, nachdem er neben dem kleinen Vampir gelandet war. »Ja!« Über dem Tor war eine vergoldete Inschrift zu erkennen. »Ort der Ruhe«, entzifferte Anton die Buchstaben, die im Mondlicht leuchteten. »Das ist ja deutsch«, wunderte er sich. 39
»Was dachtest du denn?« »Aber wir sind doch in Rumänien –« »Zu Rumänien gehört Transsylvanien – oder auch Siebenbürgen genannt – erst seit ungefähr siebzig Jahren«, erklärte der Vampir. »Die Siebenbürger Sachsen leben hier aber schon seit mehr als siebenhundert Jahren! Und sie sprechen alle deutsch.« »Du kennst dich aber gut aus«, bemerkte Anton. »Ich bin eben heimatverbunden!« Der kleine Vampir öffnete die Pforte und trat ein, »Komm«, forderte er Anton auf. Mit einem Friedhof hatte das hügelige Gelände allerdings nicht viel Ähnlichkeit. Der Rasen war gemäht, und Anton 40
entdeckte überhaupt keine Grabsteine oder Holzkreuze – nur eine frisch ausgehobene Grube. Sie war aber so flach, daß kein Sarg hineingepaßt hätte. Rüdiger machte eine weitausholende Bewegung mit den Armen und sagte feierlich: »Dies ist der Platz, zu dem wir kommen, um über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken – unser Ort der Stille und der Einkehr!« Anton zuckte zusammen. »Du meinst, auch noch andere Vampire kommen hierher?« »Sicher!« »Dann – dann sollten wir vielleicht doch jetzt zu eurem Familiendomizil fliegen«, schlug Anton hastig vor. Bestimmt gab es dort bessere Verstecke als hier, wo die halbhohen Bäume kaum Schutz boten! »Noch nicht« erwiderte der Vampir mit Grabesstimme. »Erst muß ich meiner Heimaterde die gebührende Ehre erweisen – und du auch!« »Ich auch?« sagte Anton voller Unbehagen. Der Heimaterde die Ehre erweisen – wie sollte das wohl geschehen? Etwa mit... Blut? Aber dann sah er zu seiner Erleichterung Rüdiger mehrere Male um die flache Grube herumgehen und dabei immer wieder: »Edle Heimaterde hier, ergebenst grüßt dich dein Vampir«, murmeln. »So, jetzt bist du an der Reihe«, erklärte Rüdiger. »Aber – ich kann doch nicht sagen: Ergebenst grüßt dich dein Vampir.« »Dann denk dir was anderes aus.« »Wenn es unbedingt sein muß...« Mit weichen Knien umkreiste Anton die Grube und sagte: »Edle Heimaterde hier, ergebenst grüßt dich... der Freund vom kleinen Vampir!« »Nicht übel«, meinte Rüdiger. Er rieb sich die knochigen Hände. »Und nun auf in unser Familiendomizil!« 41
»Ist es noch weit?«
»Wie man’s nimmt.« Der kleine Vampir flog über das
eiserne Tor und landete neben einem Kilometerstein. Anton folgte ihm. »Viscri, 8 Kilometer«, las er halblaut. »Heißt so das Dorf, in dem ihr wohnt?« »Ja. Aber ›Viscri‹ ist nur der rumänische Name«, antwortete der kleine Vampir. »Die Siebenbürger Sachsen nennen das Dorf ›Weißkirch‹, und wir Vampire sagen ›Schwarzgruft‹.« »Du magst die Rumänen nicht, stimmt’s?« fragte Anton. »Mögen?« Der Vampir entblößte sein kräftiges Gebiß. »Aber ja doch!« sagte er und knackte mit den Zähnen. Anton überlief es kalt – wie jedesmal, wenn der kleine Vampir ihn an seine... ähm, Eßgewohnheiten erinnerte.
Geister würde ich uns nicht nennen Aus der Ferne schien sich »Viscri« nicht von anderen Dörfern zu unterscheiden. Doch im Näherkommen hatte Anton den Eindruck, daß es hier mehr leerstehende, dem Verfall überlassene Häuser gab. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte Licht, und es war genauso still wie auf dem alten Friedhof eben, dem »Ort der Ruhe«. »Das ist ja ein Geisterdorf!« Unwillkürlich flüsterte Anton. »Geister würde ich uns nicht nennen...« entgegnete der kleine Vampir. »Gibt es hier denn überhaupt keine Menschen mehr?« fragte Anton beklommen. »Es gibt nicht zu wenige und nicht zu viele«, antwortete der kleine Vampir. »Das verstehe ich nicht!« »Oh, es ist ganz einfach zu verstehen. Früher, als in Schwarzgruft noch Hunderte von Siebenbürger Sachsen lebten,
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war dies kein sehr guter Ort für Vampire. Was glaubst du wohl, weshalb meine Familie und ich von hier weggezogen sind?« »Keine Ahnung«, sagte Anton wahrheitsgemäß. »Aber ich würde es gern wissen!« fügte er hinzu. »Siehst du die Türme da hinten, auf dem Berg?« fragte der kleine Vampir. »Sie gehören zur Kirchenburg.« »Kirchenburg?« »Ja. In Transsylvanien hat man die Kirchen früher zu riesigen Verteidigungsanlagen ausgebaut.« »Etwa zum Schutz vor euch Vampiren?« fragte Anton. Rüdiger lachte prustend. »Hast du vergessen, daß wir fliegen können? Nein, zum Schutz vor den Osmanen, die immer wieder in Transsylvanien eingefallen sind und ganze Landstriche niedergebrannt haben.« »Niedergebrannt?« sagte Anton betroffen. »O ja!« bestätigte der kleine Vampir. »Unser Schloß Schlotterstein, das nicht weit von hier auf einer Waldlichtung lag, haben sie bis auf die Grundmauern zerstört! Nur unsere Särge konnten wir retten. Völlig verzweifelt mußten wir in der Kirchenburg Zuflucht suchen. – Natürlich im Kellergewölbe!« ergänzte er, als er Antons ungläubiges Gesicht sah. »Hier waren wir zwar vor den Osmanen sicher.« Der kleine Vampir seufzte. »Aber dann fing das Glockenläuten an! Wir sind überhaupt nicht mehr zur Ruhe gekommen: Morgenläuten, Mittagläuten, Abendläuten – und wenn einer gestorben war, haben sie eine ganze Stunde lang geläutet. Meine Mutter, Hildegard die Durstige, hatte ununterbrochen Kopfschmerzen, mein Vater, Ludwig der Fürchterliche, bekam ein Magengeschwür, Tante Dorothee war ständig gereizt, mein Onkel Theodor wurde schwermütig, meine Großmutter, Sabine die Schreckliche, hatte Herzflattern, mein Großvater, Wilhelm der Wüste, litt unter völliger Appetitlosigkeit, Lumpi war so genervt, daß er Pickel kriegte... Ja, und als sie zuguterletzt – nein, zuschlechterletzt direkt über unserer Gruft Schlotterstein 43
auch noch ihre Schule eingerichtet haben... da sind wir endgültig aus Transsylvanien weggegangen!« Er schniefte. »Nur Großtante Brunhilde ist geblieben. Stell dir vor: Sie liebt das Glockenläuten! Aber sie ist fast taub und kann außer dem Glockenläuten nichts mehr hören.« »Du hast noch eine Tante?« sagte Anton, und voller Unbehagen dachte er an Rüdigers blutrünstige Tante Dorothee. »Keine richtige«, antwortete Rüdiger. »Sie stammt aus der Sippe derer von Fledderzahn. Und von ihr haben wir die wundervolle Botschaft bekommen!« »Welche Botschaft?« »Sie hat uns über Richard den Nachtragenden einen Brief geschickt, in dem stand, daß Schwarzgruft wieder ein ausgesprochen angenehmes Plätzchen für uns Vampire geworden ist!« Rüdiger kicherte. »Siehst du?« Er zeigte auf ein besonders baufälliges Haus unter ihnen. »Sie sind alle weg, die Siebenbürger Sachsen!« Anton erschrak. »Du meinst, ihr habt...« Er zögerte, seinen Verdacht auszusprechen. »Nein, nein«, beruhigte der kleine Vampir ihn. »Das haben die Rumänen getan.« »Die haben –« Rüdiger grinste. »Nein, nicht das, was du denkst! Die Rumänen haben den Siebenbürger Sachsen klargemacht, daß sie hier nicht mehr erwünscht sind und daß sie in das Land zurückgehen sollen, aus dem sie vor siebenhundert Jahren gekommen sind!«
Uneinsichtige Dickschädel Der kleine Vampir landete in einer Baumkrone. Anton folgte seinem Beispiel. »Ein paar uneinsichtige Dickschädel sind 44
allerdings noch da«, sagte der Vampir und deutete auf das erleuchtete Fenster.
»Aber die ekeln wir noch raus!« »Und du kannst uns dabei helfen«, setzte er leutselig hinzu. »Wieso ich?« wehrte Anton ab. »Möchtest du etwa nicht, daß wir – deine besten Freunde – uns in Schwarzgruft wohlfühlen?« erwiderte der Vampir vorwurfsvoll. »Schon –« sagte Anton gedehnt. »Aber gerade weil ihr meine besten Freunde seid... Also, ich dachte, ihr wolltet hier in Transsylvanien nur Urlaub machen!« »Urlaub?« Rüdiger schnaufte. »Erstens machen Vampire niemals Urlaub. Und zweitens haben wir mehr als hundert Jahre auf diesen glücklichen Moment gewartet, wo wir unsere
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gute, alte Heimaterde wieder unter den Fingernägeln spüren können.« »Und damit du’s weißt –« fügte er vertraulich hinzu. »Wir sind schon dabei, unser Schloß Schlotterstein wiederaufzubauen!« »Im Ernst?« Der Vampir nickte. »Es wird aber einige Jahrzehnte dauern.« »Dann werde ich es ja nicht mehr erleben«, meinte Anton. »Und warum nicht?« »Weil ich noch immer nicht... Vampir werden will!« »Ach, tatsächlich? Und warum bist du dann nach Transsylvanien gekommen, wenn du kein Vampir werden willst?« »Zum Beispiel, um deine alte Gruft zu sehen«, sagte Anton. »Zeigst du sie mir jetzt?« »Von mir aus –« brummte der kleine Vampir. »Obwohl ich eigentlich die Schnickschnacks noch ein bißchen ärgern wollte«, bemerkte er mit einem Blick auf das erleuchtete Fenster. »Die Schnickschnacks – sind das die Dickschädel, von denen du gesprochen hast?« »Ja. Albert und Gesine Schnack. Sie kümmern sich um die Kirchenburg, seit der Pfarrer das Weite gesucht hat – bedauerlicherweise!« »Wieso bedauerst du, daß der Pfarrer weggezogen ist?« fragte Anton verwundert. »Das bedaure ich doch nicht«, zischte der Vampir. »Im Gegenteil: Dem Pfarrer verdanken wir es ja, daß wir zurückkehren konnten! Als der Pfarrer seine Sachen gepackt hat, ist ihm fast die ganze Gemeinde gefolgt. Nur ein paar alte und kranke Leute sind geblieben – und die Schnickschnacks. Stell dir vor, für ihr kleines, verlorenes Häuflein läuten sie sogar die Glocken!« »Sie läuten die Glocken?« 46
»Ja! Großtante Brunhilde hatte uns zwar geschrieben, in Schwarzgruft wäre es jetzt herrlich grabesstill. Aber Brunhilde ist inzwischen so taub wie eine transsylvanische Haselnuß und hört das Glockenläuten nicht mehr!« »Müßt ihr jetzt wieder von hier wegziehen?« fragte Anton aufgeregt. Vielleicht, so sagte er sich, kehrten die Vampire ja auf den Friedhof von Geiermeier zurück! Doch der kleine Vampir schüttelte entschieden den Kopf. »Wenn jemand wegziehen muß, dann sind es die Schnickschnacks«, erklärte er. »Außerdem läuten sie nur noch ganz kurz«, fügte er hinzu. »Aber kriegt ihr dann nicht all diese schrecklichen Beschwerden, von denen du mir erzählt hast: Herzflattern, Magengeschwüre, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit?« wandte Anton ein. »Noch jedenfalls nicht«, antwortete Rüdiger. »Wahrscheinlich haben wir uns in den letzten hundert Jahren an den ständig zunehmenden Lärm gewöhnt, den ihr Menschen macht. Und bei dir zu Hause war es auch nicht gerade ruhig, oder?« »Nein«, mußte Anton zugeben. »Und verglichen mit dem Lärm von Düsenjägern, Lastwagen und Motorrädern sind Kirchenglocken fast eine Erholung.« Der kleine Vampir breitete die Arme aus. »So, und nun zeige ich dir, wo ich wohne!«
Mufti Transsylvanische Liebe Kirchenburg lag am Rand des Dorfes auf einem Hügel. »Versteck dich erst mal«, sagte der kleine Vampir, als sie die Ringmauer erreicht hatten. »Ich glaube nicht, daß jemand zu Hause ist, aber man kann nie wissen.« Anton nickte und flog zu den hohen Bäumen hinüber. 47
»Und verdirb dir nicht den Magen an den Nüssen«, rief ihm der Vampir zu. »Sie sind noch nicht reif.« »Welche Nüsse?« »Du sitzt in einem Walnußbaum«, erklärte der Vampir und lachte heiser. Jetzt entdeckte auch Anton die vielen Nüsse, die an den Ästen hingen. Er kannte Walnüsse nur in Beuteln verpackt und hatte sich nicht vorgestellt, daß sie an Bäumen wuchsen! Inzwischen war der kleine Vampir vor einem mächtigen Seitenturm mit einer niedrigen Tür gelandet. Er ging aber nicht hinein, sondern lief weiter an der Außenmauer entlang. Anton sah ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte. Dann musterte er den Turm. Ob sich dort im Keller die Gruft der Vampire befand? Im ersten Stock erkannte Anton zwei große Fenster mit zerbrochenen Scheiben. Vielleicht war das die Schule von Weißkirch gewesen? Über den Fenstern befanden sich schmale Öffnungen im Mauerwerk, vermutlich Schießscharten. Und geschossen hatte man früher bestimmt auch vom Wehrgang aus, der um den Turm herumlief: Anton blickte zu dem überdachten Gang hinauf – und bekam eine Gänsehaut: Dort oben war jemand! Aber nun ertönte ein vertrautes Kichern, und dann kam Anna vom Turm herabgeschwebt. »Hat Rüdiger dich mal wieder im Stich gelassen?« fragte sie. »Ja – äh, nein«, stotterte Anton. »Er... er will nachsehen, ob die Luft rein ist.« »Wo Rüdiger ist, kann die Luft doch niemals rein sein – bei seiner besonderen Duftnote!« Anna setzte sich neben Anton auf eine Astgabel. »Magst du meinen Duft?« fragte sie. »Er ist neu – von blutroten, transsylvanischen Friedhofsrosen!« Anton spürte, wie sein Herz schneller schlug. »J-ja.« »Das klingt aber nicht gerade begeistert!«
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Anton räusperte sich. »Ich finde ihn etwas – ähem – schwer.« ›Schwer‹ – diesen Ausdruck gebraucht seine Mutter gern, wenn ihr ein Parfüm nicht gefiel. »Weißt du, ich mag dich am liebsten so, wie du bist«, fügte er rasch hinzu. »Dann hätte ich mir den ganzen Aufwand ja sparen können«, fauchte Anna. »Wochenlang habe ich Rosenblätter gesammelt für mein Mufti Transsylvanische Liebe – und da kommst du und sagst, du magst mich so, wie ich bin!« »Sollte ich dich etwa nicht mögen?« entgegnete Anton. »Doch.« Anna schniefte. »Aber ich dachte, du würdest mich mit Mufti Transsylvanische Liebe noch mehr mögen!« »Das tue ich auch«, versicherte er – nicht sehr überzeugend, das merkte er selbst. Anna zupfte an ihrem langen, strubbeligen Haar. »Irgendwie hast du dich verändert!« »Ich hab’ mich verändert?« »Ja! Vielleicht –« Sie sah ihn aus großen Augen an. »Vielleicht wirst du langsam erwachsen.« »Ich und erwachsen werden?« Anton lachte ungläubig.
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Sie nickte. »Ja, irgendwann einmal«, gab Anton ihr recht. »Aber bis dahin ist noch viel Zeit!« Anna schwieg. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, als würde sie frieren. »Vielleicht hast du dich verändert«, bemerkte Anton. »Ich?« »Ja! Immerhin bist du jetzt wieder in Transsylvanien, eurer alten Heimat.« In diesem Augenblick erschien der kleine Vampir. »Alles in Ordnung«, verkündete er. »Du kannst kommen!« »Nichts ist in Ordnung, gar nichts!« rief Anna, dann flatterte sie hastig davon. Anton flog zu Rüdiger. »Streit?« fragte der kleine Vampir. »Ich weiß nicht«, sagte Anton. »Anna ist irgendwie komisch.« »Ach, hast du es auch schon gemerkt?« Der Vampir lachte glucksend. »Tja, was soll sie machen, wenn es keine Milch gibt!« »Wie meinst du das?« fragte Anton. »Hast du im Hotel etwa Milch bekommen?« erwiderte der kleine Vampir. »Nein –« »Na, siehst du! Und Anna kriegt auch keine.« »Heißt das, sie –« Anton sprach nicht weiter. Der kleine Vampir nickte. »Genau das!« sagte er. »Aber es wurde ja auch wirklich Zeit. Ein Vampir, der Milch trinkt, und das in Transsylvanien – das wäre nun wirklich eine Schande für die ganze Sippe!« »Diese neue Art sich zu – hihi – ernähren ist für Anna im Moment noch etwas ungewohnt«, fuhr der Vampir fort. »Einerseits will sie es, andererseits will sie es nicht. Sie ist
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richtig hin und her gerissen!« Er klickte mit den Zähnen. »Aber du könntest ihr die Umstellung natürlich erleichtern...« »Ich?« schrie Anton auf – lauter, als er eigentlich wollte. »Bestimmt nicht!« Zum Glück nahm ihm Rüdiger die Abfuhr nicht übel. Der kleine Vampir grinste sogar und sagte: »Du hast recht, sie muß es aus eigener Kraft schaffen. Schließlich nennt sie sich Anna die Mutige!« Er machte eine einladende Handbewegung. »Kommst du?« Anton zauderte. Nach dem Gespräch über Annas neue »Ernährungsgewohnheiten« hatte er es gar nicht mehr so eilig, die Gruft der Vampire zu sehen... »Na los«, meinte der kleine Vampir. »Oder willst du weniger mutig sein als meine kleine Schwester?« »Nein –«
Schneewittchen und die sieben Zwerge Zuerst gingen sie an der meterhohen, steil aufragenden Mauer entlang. Dann kletterten sie über einen Zaun und 51
durchquerten eine Wiese. Vor einem Häuschen ohne Türen blieben sie stehen. In seinem Innern erblickte Anton eine Art hölzerner Bank. »Ist das der Eingang zu eurer Gruft?« fragte er flüsternd. »Erkennst du wirklich nicht, was es ist?« entgegnete der kleine Vampir amüsiert. »Nein.« Anton spähte wieder in das Häuschen. »Mit der langen Bank könnte es das Haus von Schneewittchen und den sieben Zwergen sein!« »Schneewittchen und die sieben Zwerge...« Der kleine Vampir brach in wieherndes Gelächter aus. »Aber so falsch liegst du gar nicht mit deiner Vermutung!« »Was ist es denn nun?« »Es ist das, wo Schneewittchen und die sieben Zwerge zu Fuß hingehen.« Anton hatte das Gefühl, daß er knallrot geworden war. »Und das soll der Eingang zu eurer Gruft sein?« fragte er betont forsch, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Selbstverständlich nicht!« antwortete der Vampir würdevoll. »Wir haben den Eingang verlegt – notgedrungen.« »Aber eigentlich ist die Sache kein bißchen lustig«, fuhr er fort. »Wir Vampire hatten an dieser Stelle unseren gut getarnten Eingang zur Gruft – und zwar schon lange bevor die Weißkirchener auf die Idee gekommen sind, hier das – brrr! – Plumpsklo für ihre Schulkinder zu bauen!« Er ballte die Fäuste. »Direkt über unserem Eingang haben sie ihr Häuschen errichtet! Uns blieb nichts anderes übrig, als den Eingang ein Stück zu verlegen... Das haben wir allerdings nur getan, weil die Anlagen da unten absolut einmalig sind!« »Anlagen?« wiederholte Anton überrascht. »O ja! Vor ungefähr fünfhundert Jahren haben sich die Weißkirchener einen Zufluchtsort unter der Erde angelegt, mit vielen Gängen und Kammern. Irgendwann haben Angreifer den Haupteingang und den Notausgang zugeschüttet. Im Lauf 52
der Zeit geriet diese unterirdische Fluchtburg völlig in Vergessenheit – bis eines Nachts meine Großtante Brunhilde einen Ausflug nach Weißkirch machte und dabei ihr Hörrohr verlor – genau an der Stelle, wo heute das Häuschen steht! Verzweifelt suchte sie nach dem Hörrohr und räumte Stein um Stein zur Seite – und plötzlich entdeckte sie einen Gang, der in die Tiefe führte.« »Das klingt aufregend«, meinte Anton. »Es ist auch aufregend«, antwortete Rüdiger stolz. »Ich schätze, es wird dich total aus den Stiefeln hauen, wenn du die Anlage da unten siehst!« Er marschierte auf die hohen Tannen hinter dem Häuschen zu, und Anton folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Der kleine Vampir ging zu einer besonders großen Tanne und schob mit dem Fuß etwas Laub beiseite. Eine graue Steinplatte mit einem Ring kam zum Vorschein. »Das ist ja wie auf dem Friedhof von Geiermeier«, sagte Anton. »Was?« fragte der kleine Vampir, während er an dem Ring zog. »Na, daß euer Einstieg unter einer Tanne liegt!« »Ja, warum nicht? Wenn sich etwas bewährt hat, halten wir daran fest! Außerdem bleiben Tannen auch im Winter grün.« Der kleine Vampir machte eine einladende Geste. »Höflich wie ich bin, lasse ich dir den Vortritt!« Anton hüstelte. »Wäre es nicht besser, du würdest vorgehen?« »Und wer soll dann unser Einstiegsloch wieder verschließen?« entgegnete der kleine Vampir. »Oder möchtest du etwa, daß es offen bleibt?« »Natürlich nicht.« »Und ich glaube kaum, daß du in den Schacht hineinrutschen und dabei gleichzeitig diese schwere Steinplatte über das Loch ziehen könntest!« 53
»Nein«, gab Anton zu. »Aber wer weiß –« Der kleine Vampir grinste. »Kommt Zeit, kommt Vampirkraft...« Er stupste Anton. »Na los, mach schon!« »Und du meinst wirklich, da unten ist niemand?« vergewisserte sich Anton noch einmal, mit dem Blick auf das dunkel gähnende Loch. »Heißt das, du traust mir nicht?« schnaubte der Vampir. »Doch.« Anton nahm all seinen Mut zusammen und ließ sich in den Schacht gleiten.
Das Gästezimmer Er kam in eine Art Vorraum, der nur spärlich von einer schwarzen, weit heruntergebrannten Kerze an der Wand erhellt wurde. Als jetzt der kleine Vampir neben Anton landete, begann ihr Docht heftig zu zittern. ›Hoffentlich geht sie nicht aus...‹ dachte Anton beklommen. »Keine Sorge, wir haben reichlich Kerzen und Streichhölzer«, erklärte der kleine Vampir. Anscheinend hatte er Antons Gedanken erraten. »Wir sind hier unten mit allem Lebensnotwendigen reichlich versorgt.« »Nein, mit allem nicht«, korrigierte er sich und blickte auf Antons Hals. »Manche Dinge verderben einfach zu schnell...« »Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, behauptete Anton. »Ach nein?« sagte der kleine Vampir und machte einen Schritt auf Anton zu. »Und du hast deine Meinung immer noch nicht geändert?« »Welche Meinung?« Der kleine Vampir lachte heiser. »Ich wette: Wenn du erst mal unser Gästezimmer gesehen hast, wirst du sofort einziehen wollen!« Er lief in den Gang hinein und stieß eine niedrige Holztür auf. »Na? Ist unser Gästezimmer nicht supertoll?« 54
fragte er, nachdem er die Kerzen in dem dreiarmigen Leuchter auf dem Tisch angezündet hatte. »Hm, ja«, sagte Anton, der ihm zögernd gefolgt war. »Es... es ist nett eingerichtet.« Er mußte husten – so stark war der Geruch nach Moder und Mufti Transsylvanische Liebe, der ihm entgegenschlug.
»Nett?« rief der kleine Vampir entrüstet. »Ha, das solltest du Anna besser nicht hören lassen! Sie hat all diese Sachen zusammengetragen – und nur für dich!« Damit zeigte er auf den runden Tisch mit den drei Stühlen, auf den Ohrensessel und auf die große Truhe. Nein, es war gar keine Truhe. Beim genaueren Hinsehen erkannte Anton, daß es... ein Sarg war! Er schluckte. »Aber wieso hat Anna die Sachen für mich zusammengetragen?« fragte er mit belegter Stimme. »Du hast doch gesagt, es wäre euer Gästezimmer!«
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»Das ist es auch«, antwortete der kleine Vampir. »Aber einen anderen Gast als dich erwarten wir nicht!« »Ihr? Deine Verwandten wissen auch Bescheid?« »Nein! Nur ich, Anna und Lumpi. Ja, und Großtante Brunhilde.« »Was?« schrie Anton auf. »Ihr habt eurer Tante von mir erzählt?« Rüdiger nickte. »Aber sie hat kein Wort verstanden, so schwerhörig wie sie ist! So, und jetzt mußt du dir die anderen Zimmer ansehen.« Er ergriff den schweren Leuchter. »Das heißt, falls du nichts Wichtigeres vorhast...« »Was sollte ich denn Wichtigeres vorhaben?« »Nun –« Der kleine Vampir deutete auf den Sarg. »Könnte doch sein, daß du schon mal... probeliegen möchtest.« »O nein!« »Aber der Sarg ist ganz weich ausgepolstert«, pries der kleine Vampir ihn an. »Und die Kissen sind mit getrockneten Blüten vom Stinkbaum gefüllt. Ha, in dem Sarg würde ich selbst gern schlafen! Leider ist meine Großmutter, Sabine die Schreckliche, dagegen. Sie behauptet, durch das gemütliche Liegen würde ich ›verweichlicht‹ werden. Pah, verweichlicht – « Er schnaubte erbost. »Warum soll man sich das Vampirleben nicht ein bißchen angenehmer machen dürfen, wenn man die Möglichkeiten dazu hat? Aber unsere Eltern und Großeltern hängen an den alten Vampirbräuchen wie –« Rüdiger suchte nach einem passenden Ausdruck. »Wie du an deinem Menschsein«, erklärte er dann und kicherte, offenbar sehr angetan von diesem Vergleich. »Allerdings«, bekräftigte Anton. »Das tue ich!« »Warten wir ab, ob du das auch noch sagst, wenn du erst mal den Rest unserer Gruft gesehen hast«, antwortete der kleine Vampir und ging zur Tür. »Bestimmt!« sagte Anton – froh, daß er dem Gästezimmer den Rücken kehren konnte. 56
Der Sammlungsraum »Und das ist unser Sammlungsraum!« verkündete der kleine Vampir, als sie die Kammer nebenan betraten, »Euer Versammlungsraum?« wunderte sich Anton. Es gab überhaupt keine Sitzgelegenheiten – nicht einmal Särge, auf denen man hätte Platz nehmen können. »Sammlungsraum!« verbesserte der kleine Vampir und hielt den Leuchter mit den drei Kerzen höher, so daß Anton die Regale an den Wänden sehen konnte. Früher hatten sie vermutlich zur Lagerung von Weinflaschen gedient, aber jetzt waren sie mit den seltsamsten Dingen vollgestopft: Anton entdeckte Krückstöcke, Uhren ohne Zeiger, eingedrückte Hüte, Lumpen, löchrige Schuhe, rostige Vogelbauer... »In diesem Raum bewahrt jeder von uns seine Sammlung auf«, verriet der kleine Vampir. »Ach, tatsächlich?« sagte Anton, der sich unter einer »Sammlung« eigentlich nicht nur die Anhäufung von irgendwelchem Plunder vorstellte. »Und hast du auch so eine... Sammlung?« »Klar!« Der kleine Vampir stellte den Leuchter auf den Boden. Dann trat er an ein Regal und begann zu kramen. Nach einer Weile brachte er zwei schwarze Kämme zum Vorschein, die kaum noch Zinken besaßen. »Hier!« Mit einem stolzen Besitzerlächeln zeigte er sie Anton. »Das sind die beiden schönsten Stücke aus meiner berühmten Kammsammlung« prahlte er. Anton biß sich auf die Lippen. »Du sammelst Kämme?« sagte er, mit dem Blick auf Rüdigers wilde, ungebändigte Haarmähne. »Davon ist aber nicht viel zu merken...«
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»Pah!« fauchte der Vampir. »Sammlungen werden nicht angelegt, damit man die Sachen benutzt, sondern damit man sie hat – und damit die anderen sie nicht kriegen!« »Und außerdem«, fügte er unwirsch hinzu, »wollte ich ursprünglich gar keine Kämme sammeln.« »Nicht?« »Nein. Ich wollte Nagelfeilen sammeln, genau wie Lumpi. Aber Sabine die Schreckliche besteht darauf, daß jeder seine eigene, unverwechselbare Sammlung hat.« »Und wer von euch sammelt Kuhhörner?« Anton zeigte auf mehrere spitz zulaufende Gebilde. »Bei Dracula – Kuhhörner!« Rüdiger lachte meckernd. »Hast du keine Augen im Kopf?« »Doch, sogar zwei«, knurrte Anton. Der kleine Vampir klatschte sich auf die Schenkel. »Arme Großtante Brunhilde!« »Wieso Großtante Brunhilde?« »Weil das ihre Hörrohre sind, du Hornochse!« antwortete der Vampir. Anton hatte das Gefühl, daß er dunkelrot angelaufen war, »Trotzdem sehen sie wie Kuhhörner aus«, beharrte er. Um sich für den ›Hornochsen‹ zu rächen, fragte er: »Und Anna? Die sammelt bestimmt etwas sehr Interessantes, oder? Ich meine, interessanter als deine alten Läuseharken.« Der kleine Vampir kräuselte spöttisch die Lippen. »So, glaubst du? Ich für meinen Teil finde Spinnenbeine, Rattenschwänze und Fledermausdreck nicht besonders interessant...« »Igitt!« entfuhr es Anton. »Solche scheußlichen Sachen sammelt Anna?« »Allerdings!« bestätigte der kleine Vampir, der Antons Abscheu sichtlich genoß. »Oder was denkst du, woraus sie ihre Duftwässer mixt?«
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»Mir hat sie erzählt, daß sie die Blüten der Friedhofsrosen sammelt...« »Ach, die Mäuseknochen habe ich noch vergessen!« Der kleine Vampir tippte sich an die Stirn. »Zuerst werden die Mäuseknochen ganz fein zermahlen, dann werden sie mit den Spinnenbeinen und dem Fledermausdreck vermengt, und schließlich wird das Ganze mit dem Saft vom Stinkbaum verrührt.« »Hör auf, mir wird schlecht...« stöhnte Anton. »Was, jetzt schon?« tat der kleine Vampir verwundert. »Willst du nicht wissen, was Anna noch alles in ihrer Sammlung hat?« »Nein!« »Ja, sie hat manchmal wirklich einen komischen Geschmack.« Der kleine Vampir grinste zufrieden. »Komm, jetzt zeige ich dir, wo unsere Särge stehen!« Er nahm den Leuchter und öffnete die Tür. In diesem Augenblick fielen aus einem der Regale mehrere Krückstöcke, direkt vor Antons Füße. »He!« sagte Anton erschrocken und bückte sich. Es polterte wieder, aber diesmal war es die Tür, die hinter dem kleinen Vampir ins Schloß gefallen war. Nun herrschte im Sammlungsraum völlige Finsternis. »Rüdiger, warte!« rief Anton. Er schob die Krückstöcke zur Seite und tappte zur Tür.
Aus Freundschaft Als er sie geöffnet hatte, war der kleine Vampir verschwunden. Zögernd wandte sich Anton nach rechts. Auf einmal bemerkte er eine eiserne Tür, die nur angelehnt war, und hinter der Licht brannte. 60
»Rüdiger?« fragte er. »Wo ist es bloß, wo ist es bloß?« hörte er da eine Frauenstimme. »Bei allen bösen Geistern, ich weiß genau, daß ich es in meinen Sarg gelegt hatte!« fuhr die Stimme fort. »Auch wenn ich etwas schwerhörig bin – meine Augen sind noch sehr gut! Wahrscheinlich hat mir Rüdiger mal wieder einen Streich gespielt. Oder Lumpi, dieser Tunichtgut, ist es gewesen.« Anton sträubten sich die Haare. Das mußte... Großtante Brunhilde sein! Auf Zehenspitzen schlich er weiter. Endlich machte der Gang eine Biegung, und nach wenigen Schritten stand Anton vor einer Felstreppe. Mit Herzklopfen blickte er noch einmal zurück, aber Großtante Brunhilde war ihm nicht gefolgt. Dann stieg er langsam die schmalen, rutschigen Stufen hinunter. Er kam in eine weiträumige Höhle. Auf dem Boden stand der dreiarmige Leuchter, und im Licht der Kerzen erblickte Anton neun Särge – und den kleinen Vampir. Rüdiger saß auf seinem Sarg und grinste. »He –« meinte er. »Ich dachte schon, du wärst verlorengegangen.« »Das wäre ich auch um ein Haar«, knurrte Anton. »Fast hätte mich deine Großtante Brunhilde erwischt!«
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»Du hast Großtante Brunhilde getroffen?« sagte der kleine Vampir ungläubig. »Getroffen nicht. Ich hab’ aber gehört, wie sie etwas in ihrem Sarg gesucht hat.« »Ja, Großtante Brunhilde schläft nicht mit uns zusammen«, erklärte der kleine Vampir mit bedauernder Miene. »Schließlich ist sie seit mehr als einhundert Jahren Vampirsingle. Da kann man leicht etwas – nun, ungesellig werden!« Er kicherte. »Und was hat sie gesucht?« fragte er. »Ich glaube, ihr Hörrohr«, antwortete Anton. »Ihr Hörrohr?« wiederholte der kleine Vampir belustigt. »Ha, mit Hörrohr ist sie genauso taub wie ohne!« »Dafür kann sie aber um so besser riechen, oder?« entgegnete Anton. »Ja, wieso?« »Weil ich es ganz schön unvorsichtig von dir finde, einfach vorzulaufen und mich mit deiner Großtante Brunhilde alleinzulassen! Unvorsichtig und nicht sehr freundschaftlich!« Der kleine Vampir hatte eine beleidigte Miene aufgesetzt. »Erstens bin ich nur aus Freundschaft vorgelaufen, weil ich dir unsere Familiengruft zeigen wollte. Und zweitens würde ich dich nie mit Großtante Brunhilde alleinlassen. Dazu ist sie viel zu unberechenbar!« »Unberechenbar?« »O ja«, bestätigte der kleine Vampir. »Erst erzählt sie uns, sie würde sich heute abend mit Graf Dracula treffen, um ihn zu unserer Wiedervereinigungsfeier einzuladen – und dann kommt sie heimlich in die Gruft zurück und sucht ihr Hörrohr!« Anton stockte der Herzschlag. »Graf Dracula? Er ist hier?« »Leider nicht«, erwiderte der kleine Vampir. »In dieser wunderschönen Schwarzgruft ruhen nur Brunhilde von Fledderzahn und wir von Schlottersteins: Meine Großmutter, Sabine die Schreckliche, mein Großvater, Wilhelm der Wüste,
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mein Vater, Ludwig der Fürchterliche, meine Mutter, Hildegard die Durstige, Lumpi –« »So meinte ich das nicht«, unterbrach Anton ihn. »Ich wollte wissen, ob Graf Dracula in Transsylvanien ist!« »Du möchtest ihn wohl kennenlernen?« fragte der kleine Vampir, und dabei leuchteten seine Augen. »Nicht direkt... kennenlernen«, antwortete Anton. »Aber ich würde ihn gern mal sehen!« »Ja, wer möchte das nicht.« Rüdiger seufzte. »Seit wir in Transsylvanien sind, warte ich auf den großen Moment, wo mir unser berühmter Vorfahre leibhaftig gegenüberstehen wird!« »Dann ist Graf Dracula also nicht in Transsylvanien?« »Wer weiß das schon...« »Eben noch hast du gesagt, daß sich deine Großtante Brunhilde heute abend mit ihm treffen wollte.« »Ja, sie wollte sich treffen. Das bedeutet nur, daß sie durch die Gegend fliegt und nach ihm Ausschau hält.« »Dracula könnte aber kommen, oder?« Anton merkte, wie ihn bei dieser Vorstellung ein eiskalter Schauer überlief. »Sicherlich könnte Graf Dracula kommen«, bestätigte der kleine Vampir. »Und Großtante Brunhilde hat ihm natürlich durch Richard den Nachtragenden eine Einladung geschickt! Nur... verglichen mit Graf Dracula sind wir von Schlottersteins eine Vampirsippe wie viele andere auch. Und ob Graf Dracula sich soweit herabläßt, ausgerechnet an unserer Wiedervereinigungsfeier teilzunehmen –« In diesem Augenblick ertönten Schritte auf der Treppe. »Schnell, in meinen Sarg!« flüsterte der kleine Vampir. »Das ist Großtante Brunhilde!« »Aber kann ich nicht –« wollte Anton einwenden, doch da packte ihn der kleine Vampir, zog ihn zu seinem Sarg und schob ihn hinein. Dann schloß sich der schwere, hölzerne Deckel mit einem schauerlichen Ächzen über Anton. Und wieder war es pechfinster um ihn herum. 64
Diese Jugend von heute In Antons Ohren dröhnte das Blut, und wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme von Großtante Brunhilde: »Ich könnte Gift darauf nehmen, daß du es in deinem Sarg versteckt hast, Rüdiger!« »Dann tu’s doch!« antwortete der kleine Vampir. »Hast du etwas gesagt?« rief Großtante Brunhilde. »Ich habe es nicht in meinem Sarg!« brüllte der kleine Vampir – so laut, daß es Anton durch Mark und Bein ging. »Was hast du gesagt?« »Daß ich dein Hörrohr nicht in meinem Sarg habe!« »Na schön«, rief Großtante Brunhilde. »Wenn du nicht mit mir sprechen willst, muß ich eben selbst in deinem Sarg nachsehen.« »Nein, nicht!« schrie der kleine Vampir. Lautes Poltern, Ächzen und Schnaufen waren zu vernehmen. Es klang, als würden die beiden miteinander kämpfen. »Was hast du vor, Rüdiger?« rief Großtante Brunhilde mit schriller Stimme. »Kannst du mir nicht, um Draculas Willen, mit einem Sterbenswörtchen erklären, wieso du mich unbedingt die Treppe hochziehen willst?« »Weil dein Hörrohr oben ist, im Sammlungsraum!« schrie der kleine Vampir. »Diese Jugend von heute«, schimpfte Großtante Brunhilde. »Stumm wie die Fische... Unsereiner hatte wenigstens Respekt vor der älteren Generation! Wir haben noch geantwortet, wenn man uns etwas gefragt hat.« Die Schritte entfernten sich. Anton seufzte erleichtert. Mit beiden Händen drückte er gegen den Sargdeckel, um ihn zur Seite zu schieben. Doch der Deckel rührte sich nicht, so sehr Anton sich auch anstrengte. 65
Er spürte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Wenn der kleine Vampir ihn nun hier unten vergaß – müßte er dann nicht... ersticken? Plötzlich durchzuckte ihn ein entsetzlicher Verdacht: Was wäre, wenn Rüdiger ihn mit Absicht im Sarg liegenließ, damit Anton auf diese Weise Vampir wurde? Aber nein! Energisch verscheuchte Anton diesen Gedanken wieder. Rüdiger war zwar ein Vampir – doch zuallererst und vor allem anderen war er Antons Freund! Und wirklich wurde gleich darauf der Sargdeckel geöffnet, und Anton blickte in das freundlich grinsende Gesicht des kleinen Vampirs. »Junge, Junge«, meinte Rüdiger. »Du bist ja weiß wie ein Leichentuch!« Mit zitternden Beinen erhob Anton sich. »Dein Sarg ist nicht unbedingt ein Luftkurort...« »Willst du etwa andeuten, daß es in meinem Sarg mieft?« tat der kleine Vampir empört. »Na ja –« Anton räusperte sich.
»Das darfst du ruhig«, meinte Rüdiger. »Für einen Vampir ist es keine Beleidigung, wenn es in seinem Sarg zünftig riecht!« »Zünftig ist genau der richtige Ausdruck«, sagte Anton. »Zünftig wie im Raubtierkäfig!«
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Der kleine Vampir lächelte erfreut. »Übrigens – dich hab’ ich noch gar nicht zu unserer Wiedervereinigungsfeier morgen nacht eingeladen, oder?« »Nein...« »Es wird ein riesiges Fest werden«, schwärmte der kleine Vampir. »Mit Tanz, Mister-Vampir-Wahl und Wettspielen. Das darfst du dir nicht entgehen lassen!« »Hm, will ich auch nicht«, sagte Anton. »Aber wenn all deine Verwandten dabei sind...« »Kein Problem.« Der kleine Vampir machte eine abwinkende Handbewegung. »Wir werden dir eine unserer uralten transsylvanischen Trachten ausleihen, und dann merkt kein Mensch, daß du ein Vampir bist!« »Was?« schrie Anton auf. »Ich – ein Vampir?« »Entschuldige!« Rüdiger grinste breit. »Ich wollte es natürlich andersherum sagen: Dann merkt kein Vampir, daß du ein Mensch bist! Obwohl –« ergänzte er »– es nicht schaden könnte, wenn du vorher einige Zeit in meinem Sarg gelegen hättest, damit du einen richtig – hihi! – zünftigen Geruch bekommst!« »Das kriege ich auch so hin«, erwiderte Anton. »Bei den Badezimmern hier in Rumänien...«
Biorhythmus »Du kommst also?« fragte der kleine Vampir. »Ich weiß nicht –« murmelte Anton. »Oder fahrt ihr etwa morgen schon wieder ab?« »Nein, erst in drei Tagen.« »Dann steht der Feier ja nichts mehr im Wege«, bemerkte der kleine Vampir. Anton zögerte. »Wenn du meinst, daß mir nichts passieren kann –« 67
»Passieren kann viel«, antwortete der kleine Vampir. »Du kannst dich verlieben, du kannst beim Tanzen einen Drehwurm kriegen, du kannst dir bei den Wettspielen den Fuß verstauchen... Ja, und du kannst sogar zum Mister Vampir gewählt werden!« »Ich?« »Warum nicht? So stark, wie du auf das weibliche Geschlecht wirkst! Großtante Brunhilde wird dich bestimmt wählen. Und Anna sowieso und Tante Dorothee und meine Mutter, Hildegard die Durstige –« »Nein, danke«, sagte Anton hastig. »Ich hab’ nichts übrig für Schönheitswettbewerbe.« »Wer behauptet denn, daß es um Schönheit geht? Das Entscheidende ist die persönliche Ausstrahlung. Und du hast eine Wahnsinnsausstrahlung!« »Findest du?« »Klar! Allerdings – im Moment siehst du nicht besonders strahlend aus...« Der kleine Vampir lachte krächzend. »Ich bin ja auch todmüde«, antwortete Anton. »Todmüde? Im Ernst?« rief der kleine Vampir. »Nicht so, wie du denkst«, widersprach Anton, erschrocken über seine Unvorsichtigkeit. »Das... das ist nur eine Redensart, wenn man furchtbar müde ist. Und ich bin schließlich schon etwas länger wach als du!« »Warum stehst du auch vor Sonnenuntergang auf?« entgegnete der kleine Vampir. »Warum? Weil mich meine Mutter jeden Morgen weckt. Angeblich entspricht es unserem Biorhythmus, frühmorgens mit den ersten Sonnenstrahlen aufzustehen.« »Biorhythmus?« Der kleine Vampir machte wackelnde Bewegungen mit den Hüften. »Ist das ein neuer Tanz? He, den mußt du mir unbedingt zeigen! Das wäre ein Knüller für unsere Wiedervereinigungsfeier!« Anton biß sich auf die Zunge, um nicht zu lachen. 68
»Biorhythmus ist so etwas ähnliches wie die innere Uhr«, erklärte er. »Aber wenn du willst, kann ich dir ein paar ganz neue Tanzschritte zeigen. Sobald wir im Hotel sind!« fügte er listig hinzu. »Und warum nicht hier?« »Weil wir hier keine Musik haben.« »Stimmt«, sagte der kleine Vampir. »Bei dir im Hotel spielt ja diese unglaublich tolle Musikkapelle!« ›Unglaublich toll‹ hatte Anton die Kapelle und ihre Musik nicht gefunden. Aber das würde er Rüdiger natürlich nicht verraten. »Genau!« sagte er.
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»Ja, dann –« Der kleine Vampir wippte unternehmungslustig in den Knien. »Beeilen wir uns!« Sie verließen die Gruft durch den Notausgang. Er begann in der Schlafkammer von Großtante Brunhilde – gut versteckt hinter einer mannshohen Grabplatte. Nachdem der kleine Vampir die Grabplatte ein Stück zur Seite geschoben hatte, kamen sie in einen schmalen Gang, in dem sie nur gebückt gehen konnten. Vor einer schweren Holztür mit einem großen, neu aussehenden Schloß endete der Notausgang. Im Licht 70
seiner Kerze beobachtete Anton, wie der kleine Vampir einen Schlüssel vom Boden aufhob und damit das Schloß aufsperrte. Zu seiner Überraschung öffnete sich die Tür vollkommen lautlos, als wäre sie erst kürzlich geölt worden. Sie gelangten in einen mit Gerümpel vollgestellten Kellerraum. Der kleine Vampir versperrte das Schloß wieder und steckte den Schlüssel durch einen Spalt im Holz. Anton hörte, wie er auf der anderen Seite der Tür, im Notausgang, zu Boden fiel. Dann breitete der kleine Vampir die Arme unter dem Umhang aus und schwebte elegant zur Kellertreppe, während Anton über Berge von kaputten Möbeln und verrostetem Werkzeug steigen mußte.
Eine Schule für Vampire »Warum bist du zu Fuß gegangen?« wunderte sich der kleine Vampir, als Anton draußen ankam. »Weil ich mit einer Hand nicht fliegen kann.« Anton pustete die Kerze aus. »Tatsächlich?« Der kleine Vampir grinste. »Ich vermute, du wolltest dir da unten nur in Ruhe etwas Hübsches aussuchen!« »Du hast es erraten«, knurrte Anton und rieb seinen Knöchel, den er sich ziemlich schmerzhaft an einem zerbrochenen Bilderrahmen gestoßen hatte. »Also, wenn du für Antiquitäten schwärmst, mußt du dir auf jeden Fall die alten Schulmöbel ansehen!« Der kleine Vampir zeigte auf die beiden Fenster im ersten Stock des mächtigen Turms. »Unsere Bänke und das Lehrerpult sind echt antik.« »Eure?« »Ja. Wir sollen jetzt eine Schule bekommen!« »Ihr bekommt eine Schule?« sagte Anton ungläubig. »Eine Schule für Vampire?« 71
Der kleine Vampir nickte. »Das war eine Idee von Tante Dorothee. Sie hat sich auch schon um die Lehrerstelle beworben. Ha, sie will mit uns die alten Griechen lesen, damit wir ›gebildet‹ werden! Gebildet, wenn ich das schon höre... Annas Lehrmethoden gefallen mir tausendmal besser!« »Anna unterrichtet?« »Nicht direkt«, antwortete der kleine Vampir. »Aber es macht riesig viel Spaß mit ihr! Gestern zum Beispiel hat sie unseren Vater, Ludwig den Fürchterlichen, überredet, mitzumachen. Er mußte einen Lehrer spielen, der dauernd mit dem Rohrstock durch die Luft fuchtelt und ›Ruhe‹ brüllt. Zur Strafe hat ihm Anna einen nassen Schwamm auf den Sitz gelegt, Lumpi hat ›In die Särge mit den Paukern‹ auf die Tafel geschrieben, und ich hab’ unsere Diktatzettel zerrissen!« Er lachte meckernd. »Am besten ist es allerdings, wenn Großtante Brunhilde die Lehrerin spielt«, fuhr er fort. »Dann können wir nach Herzenslust Krach machen, fluchen, rülpsen, Witze erzählen, vorsagen... und unsere Lehrerin merkt überhaupt nichts!« »Das hört sich gut an«, meinte Anton. »Nicht wahr?« sagte der kleine Vampir. »Los, wir beide spielen auch ’ne Runde! Du bist der Schüler, und ich bring’ dir mit dem Rohrstock Manieren bei. Ich zieh’ dir die Ohren lang, laß dich eine halbe Stunde in der Ecke stehen, und zum Schluß sperr’ ich dich in den dunklen Keller!« »Nein, danke«, erwiderte Anton. »Für heute ist mein Bedarf an dunklen Kellern gedeckt. Ich möchte auf dem schnellsten Weg ins Hotel zurück.« »Und wenn wir nicht bald losfliegen, spielt die Kapelle vielleicht gar nicht mehr«, ergänzte er. »Was?« schrie der kleine Vampir. »Du glaubst, die machen so früh Schluß?« »Früh...?« Anton deutete mit einem Kopfnicken an die Uhr am Glockenturm. »Es ist gleich Mitternacht.« 72
»Dann sollten wir aber einen Zahn zulegen!« rief der kleine Vampir. Er schwang sich in die Luft und flatterte davon – so eilig, daß Anton Mühe hatte, ihm zu folgen.
Gespensterwalzer Nach einem Flug, der im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend war, tauchte das Hotel unter ihnen auf. Der kleine Vampir verlangsamte seinen Flug und zeigte auf das Restaurant. Anklagend rief er: »Das bunte Licht ist aus!« »Vielleicht haben sie einen Kurzen«, meinte Anton. »Einen was?« »Einen Kurzschluß. Den haben wir zu Hause auch manchmal. Dann ist es in der ganzen Wohnung zappenduster.«
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»In deinem Gehirn ist es anscheinend zappenduster«, bemerkte der kleine Vampir. »Siehst du nicht, daß in dem Zimmer da drüben Licht brennt?« »Doch«, gab Anton ihm recht. Zum Glück war es nicht sein Zimmer, in dem Licht brannte! Sie landeten auf dem Glasdach, das noch immer weit offenstand. Aber niemand tanzte mehr dort unten, die Instrumente auf der Bühne waren zugedeckt, und nur das Mondlicht spiegelte sich auf dem Parkettfußboden. »Schöne Musik!« knurrte der kleine Vampir. »Gespensterwalzer, wie?« Anton verkniff sich ein Grinsen. »Wie ich befürchtet hatte: Die machen hier früh Schluß.« »Befürchtet?« zischte der Vampir. »Ich wette, daß du es gewußt hast!« »Ich habe es selbstverständlich nicht gewußt«, widersprach Anton. »Immerhin sind wir erst heute mittag in Hermannstadt angekommen.« »Aber du –« fügte er hinzu. »Du hättest es wissen müssen. Schließlich lebst du schon länger in Transsylvanien und kennst die allgemeinen Öffnungszeiten.« »Leben... Öffnungszeiten...« machte der kleine Vampir ihn verärgert nach. »Ich weiß nur, wann ich meinen Sarg öffne: Wenn die Sonne untergegangen ist und wenn mein Magen knurrt.« Er musterte Antons Hals. »Und jetzt knurrt mein Magen!« »Ach, dann willst du gar nicht mehr, daß ich dir die neuen Tanzschritte zeige?« tat Anton überrascht. »Ha, wie wohl – ohne Musik«, sagte der Vampir. »Ich fliege!« »Und was ist mit morgen abend?« fragte Anton. »Du holst mich doch ab zu eurer Wiedervereinigungsfeier?« »Ja!« zischte der kleine Vampir und segelte davon.
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Anton flog zu seinem Fenster. Ein helles Kichern begrüßte ihn, als er sich ins Zimmer gleiten ließ. »Anna?« fragte er mit Herzklopfen. Die Nachttischlampe wurde eingeschaltet. »Hallo, Anton.« Anna saß im Schneidersitz auf Antons Bett und lächelte. »Ich hab’ medivampirt!« »Medi – was?« »Medivampirt. Eine neue Wortschöpfung von mir: Ein Vampir, der meditiert!« »Aha«, sagte Anton – nicht sehr originell, das merkte er selbst. Anna machte einen Schmollmund. »Willst du denn gar nicht wissen, worüber ich medivampirt habe?« »Doch«, beeilte er sich zu versichern. »Ich habe über die Zukunft medivampirt«, verriet sie. »Über eure Zukunft in Transsylvanien?« fragte Anton. »Auch.« Sie strich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. »Es ist wunderschön hier, findest du nicht?« »Hm, ja –« Er räusperte sich. »Nur das Essen ist etwas – ähem – einseitig.« »Ja, das stimmt!« Anna lachte laut. Dann hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund – allerdings zu spät, denn Anton hatte ihre kräftigen Eckzähne bereits gesehen. Sie senkte den Kopf. »An meiner Zukunft wird sich nichts mehr ändern lassen – leider«, gestand sie beschämt. »Obwohl ich alles versucht habe, kein richtiger Vampir zu werden!« »Ich weiß«, sagte Anton mit belegter Stimme. »Jetzt gibt es nur noch eine Möglichkeit...« Sie schaute ihn an und seufzte leise. Anton hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Nur noch eine einzige Möglichkeit?« wiederholte er. Sie nickte. »Du weißt, welche!« »Nein«, behauptete er.
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»O doch«, erwiderte sie sanft. Dann lächelte sie. »Es wird nicht weh tun, das verspreche ich dir. Und lange dauern wird es auch nicht.« Anton wollte etwas entgegnen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. »Und danach dauert unser Glück um so länger – eine ganze Ewigkeit lang!« flüsterte sie leidenschaftlich. »Nein!« schrie Anton, Und noch einmal: »Nein...« »Nein?« Zwei große Tränen rollten über Annas bleiche Wangen. Da klopfte es an Antons Zimmertür, und die Stimme seiner Mutter ertönte: »Anton? Ist dir nicht gut?« »Ich hab’ geträumt«, antwortete er nach einer Schrecksekunde. »Von Vampiren!« fügte er hinzu. Die Klinke bewegte sich. Nun hörte Anton die Stimme seines Vaters: »Ist etwas passiert, Helga?«
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»Unser Sohn hat mal wieder von Vampiren geträumt«, sagte Antons Mutter in gereiztem Ton. »Und jetzt will er noch nicht mal die Tür aufschließen!« »Ja, weil ich schon fast wieder schlafe.« Anton machte Anna, die aufs Fensterbrett gestiegen war, Zeichen, daß sie bleiben sollte. »Wären wir nur woanders hingefahren«, schimpfte Antons Mutter. »An die See oder in die Berge – bloß nicht in dieses gräßliche Transsylvanien!« Die Stimmen entfernten sich, eine Tür fiel zu. »Gräßlich...« Annas Lippen bebten. »Findest du Transsylvanien auch gräßlich!« »Nein«, versicherte Anton. »Aber hierbleiben willst du nicht!« »Na ja, weil –« Anton wollte sie auf keinen Fall kränken. »Weil ich nicht hierher gehöre.« Anna warf Anton einen finsteren Blick zu. »Manchmal muß man die Menschen zu ihrem Glück zwingen, sagt meine Mutter, Hildegard die Durstige«, erklärte sie. Dann flog sie in die Nacht hinaus. Anton lief zum Fenster. »Anna!« rief er – doch sie war verschwunden.
Verblüffend gute Ortskenntnisse Als ihn sein Vater am nächsten Morgen weckte, hatte Anton das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein. »Halb neun – Zeit zum Frühstück!« rief sein Vater durch die Tür. Anton zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Erst halb neun?«
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»Erst?« Sein Vater lachte. »Mutti ist schon ganz ungeduldig. Wir wollen heute eine Rundfahrt durch Siebenbürgen machen und uns ein paar Kirchenburgen ansehen!« »Kirchenburgen?« Auf einmal war Anton hellwach. »Etwa Weißkirch?« Doch sein Vater sagte nur: »Beeil dich!« und ging. »Fahren wir auch nach Weißkirch?« fragte Anton beim Frühstück aufgeregt. »Weißkirch?« wiederholte seine Mutter. »Soll das eine Kirchenburg sein?« »Ja! Und eine sehr interessante!« Sie blickte in den Reiseführer, der aufgeschlagen neben ihrem Teller lag. »Hier werden viele interessante Kirchenburgen vorgestellt«, sagte sie, »Aber eine mit dem Namen Weißkirch ist nicht dabei.« »Viscri«, fiel Anton ein. »Der rumänische Name ist Viscri!« Seine Mutter schüttelte den Kopf. »In diesem Plan stehen nur die alten deutschen Namen. Aber warte mal –« Sie beugte sich vor. »Tatsächlich, jetzt hab’ ich den Ort... Er liegt in der Nähe der großen Bauernburg von Reps, die wir auf jeden Fall besichtigen wollen!« Sie schaute Anton überrascht an. »Woher kennst du Weißkirch?« »Kennen nicht gerade«, erwiderte Anton – durchaus wahrheitsgemäß; denn nach seinem kurzem nächtlichen Besuch konnte er wohl kaum sagen, daß er den Ort kannte! »Ich hab’ Fotos von der weißen Kirche gesehen«, behauptete er. »Sie ist... äh... ganz toll!« »Du hast Fotos gesehen?« wiederholte seine Mutter – eher ungläubig. »Wenn dieses Weißkirch in der Nähe von Reps liegt, können wir doch ruhig mal vorbeifahren«, schlug Antons Vater vor. »Falls wir den Weg finden«, fügte er hinzu.
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»Man muß über Dacia fahren«, warf Anton ein – sehr unvorsichtig, wie er gleich darauf merkte. Seine Mutter sah ihn argwöhnisch an. »Du scheinst ja verblüffend gute Ortskenntnisse zu haben«, bemerkte sie. »Fast so, als wärst du schon dort gewesen...« Anton spürte, daß er rot geworden war. Schnell nahm er einen großen Schluck von dem scheußlich süßen »Orangensaft«, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Wahrscheinlich macht unser Sohn nachts heimliche Ausflüge«, scherzte Antons Vater. »Mit transsylvanischen Vampiren!« Er lachte – so laut und vergnügt, daß ihm die dunkelhaarige Frau, die mit mürrischem Gesicht das karge Frühstück serviert hatte, einen noch unfreundlicheren Blick zuwarf. »Bei Antons übernächtigtem Aussehen könnte man das durchaus glauben«, sagte seine Mutter spitz. »Ach –« meinte Anton. »Wenn wir im Auto sind, bin ich garantiert putzmunter.« Doch kaum fuhren sie, schlief Anton ein. Er wachte erst auf, als ihn sein Vater an der Schulter rüttelte und fragte: »Hast du Knoblauch dabei?« »Kno-noblauch?« stotterte er. »Ja. Wir brauchen Knoblauch, weil wir gleich ein Vampirschloß besichtigen werden!« Anton rieb sich die Augen. Sie hielten auf einem Dorfplatz unter großen, schattigen Bäumen. Mit einem anzüglichen Grinsen zeigte er auf einen eingestürzten Holzschuppen. »Soll das dein Schloß sein?« »Natürlich nicht«, antwortete sein Vater gutgelaunt. »Zuerst müssen wir einen dunklen Wald durchqueren! Oder glaubst du etwa, man wurde bei einem Vampirschloß mit dem Auto vorfahren?«
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»Nun reicht es aber«, sagte Antons Mutter. »Ich bin überhaupt nicht damit einverstanden, daß du Anton ständig diesen Vampirunsinn erzählst!« Sein Vater lachte unbekümmert. »Aber es ist doch viel spannender, sich vorzustellen, daß wir jetzt gleich ein uraltes Vampirschloß besichtigen werden.« »Ich finde die historische Wahrheit immer noch am spannendsten«, erklärte Antons Mutter. Sie schlug ihren Reiseführer auf. »Zum Beispiel dies –« sagte sie und las vor: »›1324 eilte König Karl Robert selbst nach Siebenbürgen, aber die Burg Reps, in der sich die Aufständischen verteidigten, trotzte der Belagerung.‹ Das finde ich spannend: Eine Burg, die so befestigt war, daß sie zu der damaligen Zeit praktisch von niemandem erobert werden konnte!« »Ach, dann sind wir bei der Bauernburg?« fragte Anton. Sie nickte. »Aber dein Vater möchte daraus ja unbedingt ein Vampirschloß machen...« »Wenn es nur diese Bauernburg ist, schlafe ich noch ein bißchen.« Anton lehnte sich in die Polster zurück. »Und träume von Vampiren«, sagte er und zwinkerte seinem Vater zu. »Das könnte dir so passen«, antwortete seine Mutter. »Nein, du wirst jetzt aussteigen und dir mit uns diese alte Fluchtburg ansehen!« »Zu Befehl...« Laut gähnend verließ Anton den Wagen. Aber dann gefiel ihm die Burg doch sehr gut. Es war eine beeindruckende Anlage, die den gesamten Berggipfel umschloß. Natürlich entdeckte Anton keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit von Vampiren. »Übrigens –« sagte er, nachdem sie sich alles angesehen hatten und wieder vor dem Torhaus standen. »Den Knoblauch hätten wir durchaus gebrauchen können.« »Ach, glaubst du jetzt auch, daß es hier Vampire gibt?« fragte sein Vater geschmeichelt.
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»Das nicht...« Anton verkniff sich ein Grinsen. »Aber Schafe!« Er deutete auf die vier Schafe, die auf einem Rasenstück grasten. »Und für Schafskäse braucht man doch Knoblauch, oder?« Antons Mutter lachte leise, hinter vorgehaltener Hand. Sein Vater verzog die Mundwinkel, sagte jedoch nichts.
Land im Umbruch Auf der Landstraße fragte Antons Vater: »Und wo geht es nun zu deinem sagenumwobenen Atlantis – äh, Verzeihung, Weißkirch?« Anton blickte angestrengt aus dem Fenster. »Da war eben ein Schild: Viscri!« rief er. »So?« sagte sein Vater zweifelnd. »Ja! Fahr’ noch mal zurück!« Antons Vater brummte etwas und wendete. Und tatsächlich: Auf einem alten, verwitterten Holzschild, das nach rechts zeigte, stand »Viscri, 4 km«. Also bogen sie in die Straße ein. Sie war schmal und voller Schlaglöcher. Ein paar alte Frauen, die vor ihren Häusern saßen, starrten fast feindselig zu ihnen herüber. »Eigenartig«, meinte Antons Mutter. »Hier kommen wohl nicht sehr oft Fremde vorbei...« »Na, bei der Straße –« antwortete Antons Vater. Jetzt tauchte vor ihnen eine Barackensiedlung auf, und dann stürzten plötzlich zwanzig oder noch mehr Kinder in zerlumpten Kleidern johlend und gestikulierend auf ihren Wagen zu. »Schnell! Fahr weiter!« rief Antons Mutter. Antons Vater gab Gas. »Warum habt ihr denn nicht angehalten?« fragte Anton verwundert. Sie hatten extra eine Tüte Kaugummis, Kekse und 81
Bonbons im Wagen, die sie an rumänische Kinder verschenken wollten. »Das wäre bestimmt nicht sehr klug gewesen«, antwortete seine Mutter mit einem besorgten Blick zurück. »Siehst du nicht: Jetzt werfen sie uns sogar Steine hinterher!« Zum Glück waren sie mit ihrem Wagen inzwischen weit genug entfernt, so daß die Steine nicht mehr trafen. »Glaubt ihr, die Kinder hätten uns was getan, wenn wir angehalten hätten?« fragte Anton beklommen. »Schon möglich«, sagte sein Vater. »Man hört jedenfalls schreckliche Geschichten.« »Schreckliche Geschichten?« wiederholte Anton. »Gestern auf der Modenschau haben wir uns mit einem Mann vom Roten Kreuz unterhalten«, berichtete Antons Mutter. »Er hat gesagt, daß erst vor wenigen Tagen eine Pfadfindergruppe aus Deutschland, die im Wald gezeltet hat, überfallen und ausgeraubt worden ist. Die Pfadfinder können von Glück sagen, daß sie mit dem Leben davongekommen sind!« »Und Diebstähle und Autoaufbrüche sollen ebenfalls erschreckend zugenommen haben«, ergänzte Antons Vater. »Weißt du, Ceausescu hatte in Rumänien ein totales Überwachungs- und Bespitzelungssystem aufgebaut. Unter ihm gab es kaum Kriminalität und Gewalt – außer von Ceausescu und seinen Leuten selbst! Ja, und seit dem Tod von Ceausescu macht so ziemlich jeder, was er will, und alles fällt auseinander.« »Du meinst, in Rumänien herrscht Anarchie?« fragte Anton fachkundig. »Anarchie würde ich es nicht nennen«, sagte Antons Mutter mit einem erstaunten Blick auf ihren Sohn. Daß Anton das Wort »Anarchie« kannte, hatte sie wohl nicht erwartet. »Rumänien ist ein Land im Übergang – im Übergang zum Besseren, wie man nur hoffen kann! – Schon wegen der 82
notleidenden Bevölkerung muß man das hoffen«, fügte sie hinzu und warf einen Blick zurück. Doch von den Kindern war nichts mehr zu sehen. »Vielleicht werden dann auch irgendwann einmal die Straßen ausgebessert«, meinte Antons Vater. »Das ist ja die reinste Schlaglochpiste!« »Aber wir haben doch einen Geländewagen«, wandte Anton ein. »Auch bei einem Geländewagen können Reifen platzen, wenn man über spitze Steine fährt«, antwortete sein Vater. »Mal nicht den Teufel an die Wand!« sagte Antons Mutter erschrocken. »Vati sollte lieber den Vampir an die Wand malen«, bemerkte Anton. »Jetzt ist wirklich nicht der richtige Moment für deine Späße«, entgegnete sein Vater. Sie mußten gerade durch ein besonders tiefes Schlagloch gefahren sein, denn ihr Wagen schaukelte bedenklich. »Wieso Späße?« sagte Anton. »Mit Vampirumhängen könnten wir nach Weißkirch fliegen!« Doch nun erblickten sie in der Ferne ein Dorf, über dem sich majestätisch eine Kirche erhob. »Die weiße Kirche!« rief Anton.
Werwölfe Auf einer lehmigen Straße fuhren sie ins Dorf hinein. Links und rechts der Straße standen kleine, bunt gestrichene Häuser, an denen sich Wein emporrankte, Hühner und Gänse liefen frei herum, und in den Vorgärten blühten Blumen. ›Eine richtige Idylle!‹ dachte Anton, der eine gewisse Enttäuschung verspürte. Gestern nacht war ihm der Ort viel ungewöhnlicher und vor allem... viel gruseliger vorgekommen! 83
Aber nun, im hellen Sonnenlicht, schien sich Weißkirch durch nichts von den anderen Dörfern in Transsylvanien zu unterscheiden.
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»Und um hierher zu kommen, mußten wir Kopf und Kragen riskieren?« sagte Antons Mutter unzufrieden, während Antons Vater einem mit zwei Pferden bespannten Erntewagen auswich, der so viel Heu geladen hatte, daß er fast umzukippen drohte. »Kopf und Kragen riskieren?« Anton grinste. »Bis Sonnenuntergang sind wir hier völlig sicher.« »Sicher wovor?« fragte sie. »Vor den Vampiren natürlich!« Antons Vater schmunzelte. »Eins ist doch klar: Wenn hier nicht irgendwelche Vampire ihr Unwesen treiben würden, hätte uns Anton bestimmt nicht in dieses weltvergessene Nest gelockt! Und für Kirchen hat sich unser Sohn noch nie interessiert. Stimmt’s?« »Vampire?« spielte Anton den Ahnungslosen. »Wie kommst du ausgerechnet auf Vampire?« »Was sollte es denn sonst sein, vor dem wir nach Sonnenuntergang nicht mehr sicher sind?« Anton zeigte auf einen mittelgroßen Hund am Straßenrand. »Könnte doch sein, daß in dieser Gegend noch Wölfe leben...« »Werwölfe«, korrigierte sein Vater. »Die passen besser zu den Vampiren!« Die Mutter seufzte demonstrativ. Anton biß sich auf die Lippen. »Übrigens – ich interessiere mich durchaus für Kirchen.« »So?« meinte sein Vater ungläubig. »O ja! Schließlich gehört zu jeder Kirche ein Friedhof. Und für den Weißkirchener Friedhof interessiere ich mich besonders.« »Worauf warten wir dann noch?« sagte Antons Vater unternehmungslustig. »Sehen wir uns den Friedhof an! – Und Mutti kann ja solange in die Kirche gehen«, ergänzte er. Mit Schwung bog er nach rechts ab – in einen lehmigen Weg, der zur Kirchenburg führte.
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»Wollen wir nicht lieber zu Fuß gehen?« fragte Antons Mutter und zeigte auf die tiefen Rillen, die vermutlich der Regen ausgewaschen hatte. »Ach –« meinte Antons Vater unbekümmert. »Ich bin jetzt erst richtig auf den Geschmack gekommen, was Abenteuerfahrten betrifft. Und wozu hat man schließlich einen Geländewagen?«
»Eben!« sagte Anton. Nach kurzer Fahrt hielten sie vor einem schmiedeeisernen Zaun und stiegen aus. »Und wo ist nun deine berühmte weiße Kirche?« fragte Antons Vater und blickte absichtlich in die falsche Richtung. »Oben auf dem Berg natürlich«, sagte Anton. »Oben auf dem Berg?« wiederholte sein Vater. »Ich sehe nur Bäume!«
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Tatsächlich war durch die großen Walnußbäume nicht viel von der Kirchenburg zu erkennen.
Hotel Weißkirch Nun kam eine Frau aus dem gegenüberliegenden Haus. Sie trug eine helle Bluse und einen geblümten Rock, über den sie eine Schürze gebunden hatte. »Sie möchten die Kirche besichtigen?« fragte sie – auf deutsch. Ihre Aussprache klang allerdings etwas fremdartig, fand Anton. »Sehr gern!« sagte Antons Mutter eifrig. »Falls das möglich ist«, fügte sie hinzu. »Wir freuen uns über jeden Besucher«, antwortete die Frau. ›Über jeden wohl nicht!‹ dachte Anton. Obwohl... genaugenommen waren die von Schlottersteins keine Besucher, sondern – wie nannte man das noch? – ja, »Spätheimkehrer«! Jedenfalls hatten die Vampire in Weißkirch ein sehr viel älteres Wohnrecht als die Frau, die sich nun als »Burghüterin« und »Kirchenmutter« vorstellte. Der Pfarrer von Weißkirch, so erzählte sie, sei vor einem Jahr nach Deutschland gegangen, und seitdem kümmerten sie und ihr Mann sich um die Kirche und um die verlassene Gemeinde. »Dann sind Sie Frau Schnack?« rief Anton – und hätte sich gleich darauf wegen dieser Unbedachtheit ohrfeigen können. »Ja«, sagte sie und schaute ihn überrascht an. »Aber woher weißt du meinen Namen?« Noch überraschter sahen ihn seine Eltern an. »Ja, woher kennst du den Namen?« fragte Antons Mutter. »Ich, äh –« Anton war rot geworden. »Ich hab’ mich in Hermannstadt mit jemandem unterhalten, und der kannte Frau Schnack.« 88
»Soso«, sagte seine Mutter. »Und wer war dieser geheimnisvolle Jemand?« Anton grinste. »Ein Vampir!« erklärte er – im Bewußtsein, daß ihm die Wahrheit oft am allerwenigsten geglaubt wurde. Tatsächlich gab seine Mutter nur einen verärgerten Laut von sich und wandte sich Frau Schnack zu. »Und rechnen Sie damit, daß der Pfarrer eines Tages zurückkehrt?« wollte sie wissen. Frau Schnack schüttelte den Kopf. »Nein. Trotzdem halten wir das Pfarrhaus in Ordnung – falls er eines Tages doch wiederkommt.« Sie öffnete die Pforte, und dann folgten sie dem gewundenen, mit Feldsteinen gepflasterten Weg zur Burg hinauf. Anton spürte, wie sein Herz schneller schlug. Selbst am Tage war es ein gewaltiger, furchteinflößender Bau. Richtig unheimlich aber fand Anton den mächtigen Seitenturm mit den zerbrochenen Fensterscheiben – den »Vampirturm«. Wie magisch schien der Turm ihn anzuziehen... »Anton!« rief da seine Mutter: »Wohin willst du?« »Ich? Äh, nirgendwohin!« antwortete er hastig und kehrte wieder um. Seine Eltern waren hinter Frau Schnack in dem weißgestrichenen Haus verschwunden, das draußen vor den Burgmauern lag. Anton folgte ihnen.
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»Dies ist unser Weißkirchener Hotel«, hörte er bei seinem Eintreten Frau Schnack sagen. ›Hotel‹? Zweifelnd blickte Anton auf die Möbelstücke im vorderen Raum: ein Metallbett und einen Kanonenofen. Im zweiten Raum gab es außer einem Holzbett nur einen langen Tisch, drei Stühle und einen Blumenständer. »Dagegen war die ›Goldene Krone‹ in Bistritz ja first class!« bemerkte er. 90
Frau Schnack lächelte. »Große Ansprüche darf man hier nicht stellen«, gab sie ihm recht. »Aber die Texaner waren ganz begeistert und wollten alles genau so haben, wie es ist!« »Die Texaner?« wiederholte Antons Mutter fragend. »Bis vor kurzem haben hier zwei Texaner gewohnt«, berichtete Frau Schnack. »Sie planen, ein Buch über die Siebenbürger Wehrkirchen zu schreiben.« »Es kommen wohl sehr viele Besucher nach Weißkirch?« erkundigte sich Antons Vater. »Eigentlich nicht«, antwortete Frau Schnack. »Mein Mann findet sogar, daß wir mehr tun müßten, um Weißkirch bekannter zu machen. Er möchte in der ehemaligen Schule ein Museum einrichten.« »Nein!« rief Anton aus. Frau Schnack warf ihm einen irritierten Blick zu und sagte: »Die Bänke und das Pult in unserem Schulzimmer stammen noch aus dem vorigen Jahrhundert.« »Das interessiert doch niemanden«, behauptete Anton. »Kein Mensch würde deswegen bis nach Weißkirch fahren. Schulbänke, Lehrerpult... so was gehört auf den Sperrmüll!« »Anton!« sagte seine Mutter betreten. »Unser Sohn schließt immer von sich auf andere.« Antons Vater schmunzelte. »Weil er nicht gern zur Schule geht, denkt er, alle anderen würden genauso empfinden.« »Ihr Sohn geht nicht gern zur Schule?« wunderte sich Frau Schnack. »Ich habe die Schule geliebt! Aber leider mußte ich schon nach der vierten Klasse abgehen. Dann wurde mein Bruder eingeschult, und für zwei Kinder reichte das Geld nicht. Wissen Sie, das Schulgeld war damals sehr hoch.« »Schulgeld?« staunte Anton. »O ja«, antwortete seine Mutter. »In den meisten Ländern kostet es die Eltern viel Geld, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken wollen.«
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Frau Schnack blickte gedankenverloren aus dem weit geöffneten Fenster. »Mein Lieblingsfach war Erdkunde«, sagte sie. »Fremde Länder zu sehen, das war mein größter Wunsch. Leider bin ich nie aus Weißkirch herausgekommen...« »Aber jetzt könnten Sie doch Reisen machen«, sagte Anton. »Zum Beispiel nach Deutschland, wo Ihr Pfarrer auch schon ist!« »Und was soll dann aus unserer Kirchenburg werden?« antwortete Frau Schnack. »Und die alten Leute in der Gemeinde – wer soll sich um die kümmern?« »Ach –« meinte Anton und biß sich auf die Lippen. »Da finden sich schon welche...« »Jetzt bist du aber reichlich vorlaut!« tadelte ihn seine Mutter. »Wir bewundern Sie und Ihren Mann, daß Sie diese Verpflichtung auf sich genommen haben«, sagte sie, zu Frau Schnack gewandt. Anton lag eine Entgegnung auf der Zunge: »Den letzten beißen die Vampire!« Doch das verkniff er sich lieber.
Die Ehre der Familie Das Innere der Kirchenburg fand Anton nicht besonders aufregend. Oder vielleicht war es auch nur der fehlende Schlaf? Er mußte immer wieder gähnen, während er hinter seinen Eltern hertrottete, die alles »großartig« und »einmalig« fanden, was Frau Schnack ihnen zeigte. Natürlich war es beachtlich, was die Weißkirchener hier vor Hunderten von Jahren – und ohne Maschinen – geschaffen hatten: die meterhohen Mauern, die mit einem überdachten Wehrgang versehen waren, die Türme und schließlich die Kirche. Trotzdem erschien Anton die Bewunderung seiner Eltern etwas übertrieben. 92
Vor dem riesigen, an die Kirche angebauten Hauptturm, dem sogenannten »Bergfried«, blieben sie stehen. »Die Errichtung dieses Turms ist die größte bauliche Leistung«, erklärte Frau Schnack. »Anfangs hatte er fünf Stockwerke, später kam noch ein sechstes dazu. Eine Treppe aus schweren Steinplatten führt vom Erdgeschoß bis in die oberen Stockwerke.« Anton gähnte. »Kann man dieses eindrucksvolle Bauwerk auch besichtigen?« fragte sein Vater. »Ja, aber dann dürfen Sie sich nicht vor Fledermäusen fürchten!« »Oh, wir sind eine mutige Familie«, behauptete Antons Vater, »Wir fürchten uns weder vor Fledermäusen noch vor Vampiren!« »Ich schon«, entgegnete Anton. Sein Vater lachte. »Du fürchtest dich vor Fledermäusen?« »Nein, vor Vampiren – zumindest vor manchen...« sagte Anton mit einem Blick auf den »Vampirturm«. »Aber Vampire haben Sie keine da drinnen, oder?« witzelte Antons Vater und zeigte auf den Bergfried. Frau Schnack machte ein verlegenes Gesicht. »Ich verstehe leider gar nichts von Vampiren«, sagte sie entschuldigend. »Amerikanische Filme werden bei uns in Rumänien nicht gezeigt, wissen Sie.« »Na, bitte!« rief Antons Mutter. »Ich bin richtig erleichtert, daß es noch ein paar Orte auf der Welt gibt, die nicht von diesem Vampirbazillus angesteckt sind!« Anton mußte sich abwenden, um nicht loszulachen. Er hörte, wie Frau Schnack fragte: »Möchten Sie jetzt in den Turm gehen?« »Ja!« antwortete sein Vater. »Komm, Anton«, rief er. »Nein, danke«, wehrte Anton ab. »Mit Fledermäusen hab’ ich nichts am Hut.« 93
»Am Hut?« sagte sein Vater in gespielter Entrüstung. »Habt ihr in der Schule nicht gelernt, daß Fledermäuse Ultraschallwellen aussenden? Sie umfliegen jedes Hindernis.« »Ich warte lieber draußen.« »Ich auch«, schloß sich Antons Mutter an. »Na, dann muß ich wohl ganz allein die Ehre der Familie retten!« Antons Vater folgte Frau Schnack in die Kirche. Von dort gelangte man durch eine eisenbeschlagene Tür in den Turm, hatte Frau Schnack gesagt. Doch es dauerte keine fünf Minuten, da kam Antons Vater laut hustend wieder aus der Kirche gerannt. »Puh!« stöhnte er. »Das müssen ja Tausende von Fledermäusen sein! Und wie das stinkt...« Er schüttelte sich. Nun erschien auch Frau Schnack. »Warum sind Sie denn nicht weitergegangen?« fragte sie. »Die Fledermäuse tun Ihnen doch nichts.«
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Anton grinste. »Das war ja wohl ein Reinfall mit der Ehrenrettung der Familie...« »Halt du mal diesen Gestank aus«, erwiderte sein Vater. »Und dann noch mit leerem Magen –« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Das Frühstück war nicht gerade üppig, und inzwischen ist es halb fünf...« »Kann man hier etwas zu essen bekommen?« frage er Frau Schnack. »Gibt es vielleicht einen Laden oder eine Gastwirtschaft?« »Nein, eine Gastwirtschaft haben wir nicht. Und unser kleiner Dorfladen ist meistens geschlossen. Aber ich würde Sie gern zu mir nach Hause einladen«, sagte Frau Schnack. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, daß bei mir alles sehr einfach ist...« »Oh, ganz bestimmt nicht«, versicherte Antons Mutter. »Wir haben ja auch das Wichtigste von der Burg gesehen, was meint ihr?« fragte Antons Vater. »Doch«, sagte Antons Mutter. ›Das Wichtigste?‹ Anton grinste. Aber natürlich würde er seine Eltern nicht in den Keller des »Vampirturms« führen oder ihnen gar das Einstiegsloch zur Gruft zeigen!
Wir haben zu danken Kurz darauf nahmen Anton und seine Eltern an Frau Schnacks Küchentisch Platz. Neugierig blickte Anton sich um. Auch wenn die Küche einfach war – mit den hellen Holzmöbeln, der bunten Tischdecke und den vielen Blumentöpfen auf der Fensterbank wirkte sie sehr gemütlich. So komfortabel wie die Küche bei Anton zu Hause war sie allerdings nicht. Es gab zwar Strom, und Frau Schnack hatte einen kleinen Kühlschrank. Aber das Wasser für den Kaffee mußte sie aus dem Brunnen im Hof holen. 96
Und Antons Vater, der – wie er sich ausdrückte – »ein dringendes Bedürfnis verspürte«, wurde zu dem kleinen Holzhäuschen geschickt, das hinten im Garten stand. Dafür war das Essen unglaublich lecker: Sie bekamen Schafskäse und Schinkenspeck, knuspriges Brot, Butter und Pflaumenmus und Schokoladenkuchen – »alles selbstgemacht«, wie Frau Schnack stolz erzählte. Und sogar Milch gab es. »Das ist Wasserbüffelmilch«, erklärte Frau Schnack und stellte einen kleinen Krug auf den Tisch. »Wasserbüffelmilch?« wiederholte Antons Vater. »Ja, wir haben zwei Wasserbüffel«, sagte Frau Schnack. »Mein Mann ist gerade mit ihnen auf dem Feld.« »Auf der Reise mußten wir unseren Kaffee immer schwarz trinken.« Antons Mutter goß etwas Milch in ihre Tasse. »Möchtest du die Wasserbüffelmilch probieren?« fragte Frau Schnack Anton. »Ich weiß nicht –« Anton zögerte. Sie füllte ein kleines Glas und reichte es ihm. »Man sollte nicht zuviel auf einmal trinken«, warnte sie. »Oh, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, antwortete er, und vorsichtig nahm er einen Schluck. Die Milch schmeckte kräftiger als Kuhmilch, aber sehr gut. »Das war das beste Essen, das wir bisher in Rumänien bekommen haben«, schwärmte Antons Vater, als sie fertig waren. »Ja, das stimmt«, sagte Antons Mutter. »Das Brot, der Käse, der Schinken, der Kuchen – alles war köstlich!« »Danke!« freute sich Frau Schnack. »Wir haben zu danken«, antwortete Antons Mutter. Anton, der glaubte, das seien die üblichen Abschiedsfloskeln, stand auf. »Fahren wir?« »Wie kommst du denn darauf? Nein!« sagte seine Mutter.
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»Frau Schnack will uns jetzt ihr Haus zeigen – und die alten Weißkirchener Trachten. Wahrscheinlich verkauft sie uns sogar eine!« Anton horchte auf. »Sie haben alte Trachten?« Über die Trachten mußten seine Eltern vorhin, in der Kirche, mit Frau Schnack gesprochen haben! »Ja«, bestätigte Frau Schnack. Doch zuerst einmal zeigte sie Anton und seinen Eltern ihren Gemüse- und Kräutergarten, den Stall mit den beiden Schweinen und die Speckkammer. Erst danach betraten sie die gute Stube.
Die Trachten Frau Schnack ging zu einer ungewöhnlich großen Kommode. »Das war früher unser Bett«, sagte sie. »Ihr... Bett?« staunte Antons Mutter. »Ja. In der untersten Schublade schliefen die Schwiegereltern. Und in der Schublade darüber schliefen mein Mann und ich.« »Nein!« »Doch, das war früher so.« Frau Schnack lächelte. »Aber man mußte sich schon sehr gut verstehen in einem solchen Bett.«
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Sie zog die unterste Schublade auf. Darin lagen, säuberlich zusammengefaltet, die Trachten. »Oh!« rief Antons Mutter. Behutsam holte Frau Schnack Stück für Stück der alten Trachten heraus und legte sie auf die Truhe am anderen Ende des Zimmers: schwarze Röcke, weiße Schürzen mit Spitzenbesatz, Westen aus dunkelblauem Samt, weiße Blusen mit weiten, am Handgelenk bestickten Ärmeln, weiße Tüllschleier, lange schwarze Seidenbänder, perlenbestickte Samthauben, hohe, wie Zylinder geformte schwarze Hüte – und nachtblaue Capes mit leuchtend rotem Innenfutter, die Anton sogleich an Vampirumhänge denken ließen. »Das ist der Krause Mantel«, erklärte Frau Schnack. »Er soll nur den Rücken bedecken.« »Den schweren Stoff in diese winzigen Fältchen zu legen, muß ja eine unglaublich schwere Arbeit gewesen sein«, sagte Antons Mutter.
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Frau Schnack nickte. »Und das tragen bei uns an Festtagen die Männer.« Sie legte eine schwarze Hose, einen halblangen schwarzen Mantel, hohe schwarze Schaftstiefel, ein weißes, mit Stickereien verziertes Hemd und einen schwarzen, breitkrempigen Hut zu den übrigen Sachen auf die Truhe. Antons Mutter räusperte sich. »Und von einigen dieser wunderschönen Kleidungsstücke wollen Sie sich... ähm... trennen?« »Wissen Sie –« Frau Schnack strich über den Spitzensaum einer Schürze. »Viele Weißkirchener, die weggegangen sind, haben ihre Trachten verkauft – zu Schleuderpreisen. Mein Mann und ich fanden das schrecklich. Teile unserer Siebenbürger Tracht sind noch genau wie vor über 800 Jahren – und damit die ältesten in ganz Europa!« »So alt?« sagte Antons Mutter. »Ja! Und Tracht zu tragen, das war immer ein Zeichen der Verbundenheit. Aber jetzt –« Frau Schnack seufzte. »Jetzt bleibt von uns Siebenbürger Sachsen wahrscheinlich gar nichts mehr – nicht einmal unsere Trachten.« Antons Eltern wechselten betretene Blicke. »Dann... dann sollten Sie Ihre Trachten unbedingt behalten«, meinte Antons Vaters. Doch nun lächelte Frau Schnack wieder. »Nein, eine Mädchentracht kann ich Ihnen auf jeden Fall geben«, erklärte sie. »Davon habe ich zwei.« »Eine Mädchentracht?« wiederholte Anton enttäuscht.
»Du wolltest die Tracht doch nicht etwa anziehen?«
entgegnete seine Mutter.
»Na ja, zum Fasching...«
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»Zum Fasching?« Sie schnappte nach Luft. »Die Tracht werden wir zu Hause ausstellen!« »Ausstellen?« »Ja. Wir besorgen uns eine Schneiderpuppe, und der ziehen wir die Weißkirchener Tracht an.« Frau Schnack hatte begonnen, die Sachen herauszusuchen. »Den Borten – das ist der runde, hohe Hut, den die Mädchen nach der Konfirmation tragen – kann ich ihnen leider nicht mitgeben«, meinte sie bedauernd. »Ich habe nur einen einzigen.« Aber Antons Eltern waren auch so ganz begeistert. Nachdem sie hundert Mark bezahlt hatten – für Frau Schnack »ein kleines Vermögen«, wie sie sagte, verabschiedeten sie sich. Als sie schon im Auto saßen, kam Frau Schnack auf die Straße gelaufen und überreichte ihnen noch ein halbes Brot und ein großes Stück Schinken. »Und kommen Sie bald wieder nach Weißkirch!« bat sie.
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Fachmann für Vampire »Ich glaube kaum, daß wir noch einmal hierherkommen werden«, bemerkte Antons Mutter, als die letzten Häuser von Weißkirch hinter ihnen lagen. Sie fuhren jetzt auf einer weniger holprigen Straße in Richtung Dacia. ›Wir‹ nicht, gab Anton ihr insgeheim recht. Er würde allerdings schon sehr bald zurückkommen! Und dabei dachte er an die Wiedervereinigungsfeier heute nacht... Plötzlich rüttelte ihn jemand an der Schulter, und dann hörte er die Stimme seines Vaters: »Aufwachen, Anton! Oder willst du die Nacht im Auto verbringen?« »N-nein...« Zu seiner Verwunderung sah er, daß sie direkt vor dem »Hotel Imparatul Romanilor« hielten, »Wir sind schon da?« »Ja, und du hast eben etwas sehr Interessantes verpaßt«, antwortete sein Vater. »So?« Anton hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. »Allerdings! Wir haben einen uralten Friedhof entdeckt mit dem geheimnisvollen Namen ›Ort der Ruhe‹!« »Was? Ihr wart auf dem Friedhof?« rief Anton bestürzt. »Ich wäre ja weitergefahren«, sagte seine Mutter. »Aber Vati war nicht davon abzubringen, daß es sich um einen Vampirfriedhof handeln würde! Dabei war fast nichts zu sehen – bis auf diese Inschrift ›Ort der Ruhe‹ und eine flache Grube mit scheußlicher schwarzer Erde.« »Wieso scheußlich?« entgegnete Antons Vater. »Mit dieser erstklassigen Blumenerde wird aus meinem Orangenbäumchen im Büro bestimmt noch ein richtig schöner, großer Baum!« »Hast du etwa Erde mitgenommen?« fragte Anton alarmiert. »Ja, leider«, sagte seine Mutter. »Vati hat eine Keksdose ausgeleert und sie mit Friedhofserde gefüllt.« »Nein!« »Doch.« 102
»Das kann man doch nicht machen«, stammelte Anton. »Vielleicht passiert jetzt etwas Schreckliches...« »Was sollte denn passieren?« fragte sein Vater. »Vielleicht wird man Vampir, wenn man die Erde mitnimmt...« »Dann glaubst du also auch, daß es ein Vampirfriedhof war?« »So ein Unsinn«, schimpfte Antons Mutter. »Er hat den Friedhof überhaupt nicht gesehen!« »Und wo ist die Erde jetzt?« fragte Anton mit vor Aufregung ganz heiserer Stimme. »Die Vampirerde?« sagte sein Vater. »Hinten im Auto. Du darfst sie dir gern ansehen. Schließlich bist du in unserer Familie der Fachmann für Vampire! – Und falls man durch die Erde wirklich Vampir werden sollte, wärst du – finde ich – von uns dreien der geeignetste«, ergänzte er schmunzelnd. »Ich will aber kein Vampir werden!« erwiderte Anton, mit einem beklommenen Blick über die Rücklehne. Da stand die Keksdose – und auf dem geschlossenen Deckel waren sogar noch ein paar schwarze Erdkrumen zu erkennen... »Du hast ihr bestimmt nicht die nötige Ehre erwiesen, oder?« fragte er mit Herzklopfen. »Was soll ich haben?« »Man muß einen Spruch aufsagen, wenn man mit Vampirerde in Berührung kommt«, erklärte Anton. »Edle Heimaterde hier, ergebenst grüßt dich ein Vampir.« »Langsam habe ich aber genug davon!« rief Antons Mutter, und verärgert machte sie die Wagentür auf. »Von mir aus könnt ihr alle beide... Vampire werden!« Mit hoch erhobenem Kopf verschwand sie im Hotel. »Was hatte Mutti denn?« fragte Antons Vater in gespielter Unschuld. »Recht«, sagte Anton. »Recht? Womit?« 103
»Sie hatte recht damit, daß es besser gewesen wäre, die Erde auf dem Friedhof zu lassen!« »Nun hab’ ich ja ein ganz schlechtes Gewissen«, witzelte Antons Vater. »Das solltest du auch!« bekräftigte Anton ohne zu lachen. »Aber jetzt, wo man nichts mehr ändern kann, ist es wohl wirklich das Beste, wenn ich die Erde nehme...« sagte er nach kurzem Überlegen. »Ja, nimm du die Dose«, stimmte sein Vater erleichtert zu. »Ich möchte nicht, daß Mutti und ich wegen dieser albernen Erde noch einen Ehekrach kriegen.« ›Albern!‹ dachte Anton. Die Heimaterde der Vampire war alles andere als »albern«; möglicherweise war sie sogar... lebensgefährlich! Vorsichtig nahm er die Dose und trug sie in sein Zimmer. Nachdem er die Tür verschlossen hatte, stellte er die Dose auf die Fensterbank. Dann legte er sich, angezogen wie er war, auf sein Bett, um noch ein paar Stunden zu schlafen.
Ein ganz besonderer Muntermacher »Kumpel, mach die Augen auf!« Anton blinzelte. Er sah eine große kräftige Gestalt in einem schwarzen Umhang am Fußende seines Bettes – und diese Gestalt war mit Sicherheit nicht der kleine Vampir... Hätte ich bloß das Fenster zugemacht! durchzuckte es ihn. »Schläfst du? Oder bist du tot?« Die Gestalt lachte krächzend, und mit wiegenden Schritten kam sie um das Bett herum. »Ich... ich bin wach«, sagte Anton mit zittriger Stimme und fügte hinzu: »Hallo, Lumpi!«
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Denn mittlerweile hatte er erkannt, daß es Lumpi war, Rüdigers streitlustiger, äußerst reizbarer großer Bruder. In diesem Augenblick setzte unten im Saal die Musik wieder ein. »Bei euch ist ja richtig was los!« meinte Lumpi anerkennend. Er stand jetzt direkt neben dem Bett, den Mund zu einem breiten Grinsen verzogen. »Du brauchst wohl einen ganz besonderen Muntermacher, wie?« fragte er und knackte mit den Zähnen. »Nein!« »Bist du sicher?« Lumpi musterte seine spitz zugefeilten Fingernägel. »Bei mir bewirken Kopfnüsse immer wahre Wunder!« »Kopfnüsse?« »Ja, solche!« sagte Lumpi, und ehe Anton wußte, wie ihm geschah, traf ihn Lumpis Fingerknöchel an der Stirn. »Au!« protestierte Anton. »Das hat weh getan!« »Aber wenigstens bist du jetzt wach.« Lumpi lachte dröhnend.
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»Fliegen wir?« »Du... du willst mich abholen?« fragte Anton ungläubig. »Was sollte ich sonst hier wollen?« antwortete Lumpi. »Ich –« Anton räusperte sich. »Und warum ist Rüdiger nicht gekommen? Wir waren verabredet, Rüdiger und ich.« »Willst du damit andeuten, daß du die Gesellschaft dieses Langweilers meiner Gesellschaft vorziehst?« schnaubte Lumpi. »Nein«, sagte Anton hastig. »Ich wundere mich nur, daß du gekommen bist. – Aber ich freue mich natürlich«, ergänzte er, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Diplomatie – oder, besser gesagt, Diplovampie – war im Fall von Lumpi noch wichtiger, noch lebenswichtiger, als bei seinen Geschwistern! »Na, wunderbar«, sagte Lumpi geschmeichelt. »Und ich freu’ mich auch – Kumpel!« Er kicherte leise, und dabei fixierte er Anton, als wollte er ihn hypnotisieren. 106
Doch Anton drehte schnell den Kopf weg. »Ich hol’ dann meinen Umhang«, sagte er und stieg aus dem Bett. »Warum so eilig?« antwortete Lumpi. »Ich dachte, wir würden uns noch ein bißchen unterhalten.« »Das können wir doch auch unterwegs«, sagte Anton, während er unter seinen T-Shirts im Schrank den Vampirumhang hervorzog. »Aber wir beide haben uns überhaupt noch nicht richtig kennengelernt«, beschwerte sich Lumpi. »Immer hat sich Rüdiger zwischen uns gedrängt!« »Findest du?« »Ja! Nur heute abend wird ihm das nicht gelingen – da muß Rüdiger schuften.« Lumpi lachte schadenfroh. »Ha, er muß die Gruft dekorieren! Gestern nacht, auf einer Sondersitzung des Familienrats, habe ich ihn für diese Aufgabe vorgeschlagen. Und das Dekorieren ist eine Ehre, die man nicht ablehnen darf, hihi!« »Ihr hattet eine Sondersitzung gestern nacht?« sagte Anton betroffen. »In eurer Schwarzgruft?« »Wo sonst? Allerdings haben wir uns erst kurz vor Morgengrauen zusammengefunden, weil wir vorher noch ein paar –« Lumpi bleckte die Zähne, »– noch ein paar Dinge zu erledigen hatten, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.« Anton gab keine Antwort, aber er zog den Vampirumhang fester um den Hals. Nur gut, daß er sich gestern nicht länger in der Gruft der Vampire aufgehalten hatte! »Und was ist mit Anna?« fragte er. »Mit Anna? Was soll mit ihr sein?« »Ist sie nicht mehr Mitglied im Familienrat?« »Nein! Ich hab’ ihren Platz übernommen.« Lumpi kicherte. »Anna hat jetzt andere Sorgen...« Anton zuckte zusammen.
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Schmeiß dich in Schale »Na los« sagte Lumpi. »Du mußt dich noch anziehen!« Freundschaftlich knuffte er Anton. »Anziehen?« Anton blickte an sich herunter. »Ich bin doch angezogen!« »Du scheinst unsere Wiedervereinigungsfeier mit einem Sportfest zu verwechseln!« Lumpi zeigte auf Antons Turnschuhe. »Das tue ich bestimmt nicht«, versicherte Anton. »Na, dann schmeiß dich in Schale, Kumpel!« »In welche Schale?« »Dracula noch mal, bist du umständlich«, stöhnte Lumpi. »Du sollst deine Tracht anziehen.« »Meine Tracht?« »Ja! Rüdiger hat mir erzählt, du erscheinst in Tracht, genau wie wir!« Lumpi trat ans Fenster, so daß das Mondlicht auf ihn fiel, und schlug seinen Vampirumhang zurück. Darunter trug er die Weißkirchener Männertracht: eine schwarze Hose, ein weißes besticktes Hemd und hohe schwarze Schaftstiefel. »Aber ich hab’ überhaupt keine Tracht«, erwiderte Anton. Lumpi drehte sich, selbstgefällig lächelnd, einmal um sich selbst. »Nicht?« sagte er. »Wolltest du in deinen Jeans zu unserer Wiedervereinigungsfeier gehen?«
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»Nein. Ich hab’ mich darauf verlassen, daß Rüdiger mir eine Tracht mitbringt!« »Jaja, wer sich auf meinen kleinen Bruder verläßt, ist wirklich verlassen – von allen guten Vampiren verlassen«, meinte Lumpi. »Hat Rüdiger dir nicht gesagt, daß wir gar keine Tracht übrig haben, die wir ausleihen könnten?« »Ihr habt keine Tracht übrig?« wiederholte Anton betroffen. »Und was ist mit der Tracht von Onkel Theodor?« »Du würdest Onkel Theodors Tracht anziehen?« rief Lumpi. Anton nickte. »Ja!« »Weißt du denn nicht, was Tante Dorothee geschworen hat?« »Nein –« »Sie will denjenigen heiraten, dem die Tracht ihres geliebten Theodors paßt! Würdest du die Tracht von Onkel Theodor immer noch anziehen?« »Natürlich nicht«, antwortete Anton hastig. »Und sie würde mir auch nicht passen« fügte er hinzu.
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»Und was machen wir jetzt?« In gespielter Verzweiflung rang Lumpi seine Hände. »Ich wüßte vielleicht, was ich anziehen könnte...« sagte Anton zögernd. »Meine Mutter – sie hat von Frau Schnack eine Weißkirchener Tracht gekauft.« »Im Ernst? Na, dann leg’ sie doch an, die Edeltracht von Frau Schnickschnack!« Anton räusperte sich. »Es ist eine... Mädchentracht.« »Aber das ist doch wunderbar.« Lumpi kicherte. »In einer Mädchentracht wirst du ungeahnte Chancen haben, zum Beispiel bei... mir!« »Bei dir?« wiederholte Anton zweifelnd. »Sicher. Ich kenne ja dein Geheimnis: daß du ein Junge im Mädchenpelz bist, hihi!« »Hm, ich weiß nicht, ob die Idee so gut ist...« »Klar ist sie gut. Ha, warte nur ab, wie höflich und zuvorkommend dich alle behandeln werden! Wir von Schlottersteins wurden schließlich noch zu einer Zeit geboren, als Ritterlichkeit die wichtigste männliche Tugend war.« Lumpi stieß Anton aufmunternd, aber ziemlich grob in die Seite. »Au, du tust mir weh«, beschwerte sich Anton. »Siehst du?« meinte Lumpi. »Bei einem Mädchen würde ich so etwas niemals machen!« Und damit stieß er Anton zum zweitenmal. »Na schön«, sagte Anton zähneknirschend. »Holen wir die Tracht.« »Holen? Ist sie etwa noch bei Frau Schnickschnack?« »Nein, bei meinen Eltern im Zimmer.« »Und wie sollen wir dann an die Tracht kommen?« fragte Lumpi unzufrieden.
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»Ganz einfach – wir fliegen rüber«, antwortete Anton. »Meine Mutter ist Frischluftfanatikerin und läßt fast immer ihr Fenster offenstehen.« »Oh...« Lumpi grinste breit. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?« Anton erwiderte sein Grinsen. »Warum? Weil meine Mutter obendrein auch noch... Knoblauchfanatikerin ist!« »Knoblauch?« schrie Lumpi auf und faßte an sein Kinn. »Pfui Teufel. Davon kriege ich Pickel!«
Irre Klamotten »Aber hier mieft es überhaupt nicht nach – brrr! – Knoblauch«, bemerkte Lumpi, als sie im Zimmer von Antons Eltern gelandet waren. »Das kann es auch gar nicht«, erwiderte Anton. »Meine Eltern sind ja noch im Restaurant – bei ihren Knoblauchsteaks!« Lumpi und Anton waren zuerst eine Runde über dem Innenhof geflogen, und dabei hatten sie Antons Eltern an einem Tisch direkt neben der Tanzfläche sitzen sehen. »Igitt! Die essen Knoblauchsteaks?« Lumpi schüttelte sich. »Ja«, behauptete Anton. In Wirklichkeit hatte er natürlich nicht erkennen können, was auf den Tellern seiner Eltern lag. Aber vermutlich wurde nur der übliche Rinderbraten serviert. Er schaltete die Lampe im Flur ein und öffnete die Schranktür. Lumpi pfiff durch die Zähne. »Dein Vater hat ja irre Klamotten!« Bewundernd strich er über die beiden schwarzen Seidenhemden, die Antons Mutter seinem Vater extra für die Rumänienreise gekauft hatte. »Sei vorsichtig«, warnte Anton. »Mit den neuen Hemden versteht mein Vater keinen Spaß.« 111
»Aber anprobieren kann ich sie doch mal, oder?« »Nein!« Anton ergriff den Bügel, auf dem die Tracht hing, und schloß den Schrank wieder. »Und du meinst wirklich, ich soll diese Mädchentracht anziehen?« fragte er. Lumpi nickte. »Annas Tracht sieht genauso aus – mit einem Unterschied –« »Mit einem Unterschied?« »Ja! Ihre Sachen sind schon etwas abgewetzter!« Lumpi kicherte. »Vielleicht sollten wir ein paar Löcher hineinschneiden...« »Löcher hineinschneiden? Bist du wahnsinnig?« rief Anton. »Wieso?« tat Lumpi überrascht. »Weil die Tracht sehr wertvoll ist«, erwiderte Anton. »Meine Mutter will sie sogar bei uns zu Hause ausstellen.« »Na, dann wird sie sich doch freuen, wenn die Tracht schön antik aussieht«, meinte Lumpi. »Los, bring mir eure Nagelschere!« »Nein«, sagte Anton mit fester Stimme. »Die Tracht bleibt heil!« Lumpi ächzte und schlug sich an die Stirn. »Du mit deiner dämlichen Tracht! Kannst du denn an gar nichts anderes mehr denken? Ich brauche die Schere für meine Fingernägel.« »Ach so –« Anton spürte, daß er rot geworden war. Er ging ins Bad und kehrte mit dem Lederetui zurück. »Oh...« machte Lumpi, nachdem er das Etui geöffnet und die beiden Nagelfeilen herausgenommen hat. »Saphir fein und Saphir grob! Und der Griff echt Irisch Horn... Deine Mutter hat einen verdammt guten Geschmack – zumindest, was die Nagelpflege betrifft, hihi!« »Das Etui gehört meinem Vater«, stellte Anton klar. Lumpi gab keine Antwort. Mit andächtiger Miene hatte er begonnen, den schätzungsweise eineinhalb Zentimeter langen Nagel seines rechten Zeigefingers zu feilen. 112
»Ich zieh’ jetzt die Tracht über«, kündigte Anton an. »Jaja«, sagte Lumpi ohne aufzusehen. »Laß dir ruhig Zeit.«
Antonia Anton verschwand im Badezimmer. Das Mädchen, dem die Tracht früher einmal gehört hatte, mußte seine Größe gehabt haben; denn der Rock, die Schürze und die Weste paßten perfekt. Nur die Ärmel der Bluse waren etwas zu lang. Als er in den Flur zurückkam, feilte Lumpi noch immer an seinen Nägeln und schien alles um sich herum vergessen zu haben. »Na, wie gefalle ich dir?« fragte Anton. Lumpi hob den Kopf – und stieß einen Schrei aus. »Bei Dracula, hast du mich erschreckt!« »Sehe ich so schlimm aus?« »Nein.« Lumpi grinste. »Du siehst absolut vampirisch aus!« »Nicht wahr?« sagte Anton, der sich große Mühe beim Schminken gegeben hatte. Mit weißer Babycreme hatte er seine Sonnenbräune überdeckt, dann hatte er sich dunkle Augenränder gemalt, seine Lippen rot nachgezogen, und zum Schluß hatte er sich die Haare toupiert. »Aber findest du auch, daß ich wie ein Mädchen aussehe?« wollte er wissen. Lumpi grinste noch breiter. »Klar doch... Antonia!« Anton räusperte sich verlegen. »Fliegen wir?« »Schon?« murrte Lumpi und betrachtete seine Fingernägel. »Ich muß erst noch zu Ende feilen! Es sei denn –« Er lächelte süßlich. »Es sei denn, du leihst mir dieses nette kleine Etui mal für ein paar Nächte...« »Ganz bestimmt nicht«, sagte Anton. »Erstens gehört mir das Etui nicht. Und zweitens weiß ich genau, was ihr Vampire unter ›Leihen‹ versteht.« 113
»So, was denn?« tat Lumpi ahnungslos. »Leihen ist bei euch dasselbe wie verschenken!« »Stimmt! Dann sind wir uns einig?« »Einig? Worüber?« »Daß du es mir schenkst, hihi!« Schon wollte Lumpi das Etui unter seinem Umhang verschwinden lassen. »Halt«, rief Anton. »Wir sind uns überhaupt nicht einig!« Mit beleidigter Miene reichte ihm Lumpi das schwarze Etui. »Da... Geizhals!« Anton brachte das Etui ins Badezimmer zurück. »Ha, wenn du ein bißchen großzügiger gewesen wärst, hätte ich dir den Tip gegeben, daß deine Turnschuhe unmöglich zu der Tracht aussehen«, zischte Lumpi. »Aber so...«
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»Meine Turnschuhe? Ich hab’ gar keine anderen Schuhe mitgenommen«, sagte Anton. »Nur Sandalen und Gummistiefel.« »Und was ist mit deiner Mutter? Geht die immer barfuß?« »Nein –« Antons Blick fiel auf die schwarzen Pumps seiner Mutter, die im Flur standen. »Oder hat sie Fußpilz?« Lumpi lachte heiser. »Nein!« Anton zog seine Turnschuhe aus und schlüpfte in die Pumps. »Hab’ ich’s doch gewußt«, sagte Lumpi. »Fabelhaft!« »Fabelhaft eng«, knurrte Anton. Er machte ein paar vorsichtige Schritte. Seine Mutter trug zwar dieselbe Größe wie er, aber ihre Füße waren viel schmaler. Wenigstens hatten die Pumps keine hohen Absätze... »Jetzt brauchst du nur noch schöne, löchrige Wollstrumpfhosen«, meinte Lumpi kichernd. »Wollstrumpfhosen?« wiederholte Anton, nicht gerade begeistert. »Oder wolltest du etwa deine weißen Söckchen anbehalten?« fragte Lumpi. »Nein! Ich wollte schwarze Kniestrümpfe anziehen. Schließlich reicht mir der Rock fast bis auf die Knöchel.« »Oh –« Lumpi verdrehte die Augen. »Dracula sieht alles...« »Dracula?« rief Anton erschrocken. »Heißt das, er kommt nun doch zu eurer Feier?« »Nein, nein«, beruhigte Lumpi ihn. »Sollte nur ein kleiner Scherz sein.« Er schlug Anton auf die Schulter. »Aber für Humor hast du nicht viel übrig, was?« Anton preßte die Lippen zusammen. »Im Moment hab’ ich nur ein paar Sachen übrig.« Er holte seine Jeans und das Sweatshirt aus dem Bad. »Und die muß ich jetzt erst mal in mein Zimmer bringen.« »Warum denn das?«
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»Weil es nicht gut wäre, wenn meine Eltern die Sachen hier finden. Und ich glaube nicht, daß sie die ganze Nacht im Restaurant verbringen werden.« Lumpi ging zum Fenster. »Du hast recht! Die Jungs von der Band packen schon ihre Blockflöten ein, hihi.« »Was? Sie packen schon ein?« »Ja!« Anton blickte sich besorgt um. Doch bis auf seine Turnschuhe lag nichts mehr herum. Schnell hob er sie auf, dann löschte er das Licht und lief zu Lumpi.
Hucke-Vampir Minuten später befanden sich Anton und Lumpi dem Flug nach Schwarzgruft. »He –« meinte Lumpi. »Besonders fröhlich siehst du nicht aus! Freust du dich denn gar nicht auf unsere Wiedervereinigungsfeier?« »Doch«, sagte Anton. »Aber richtig froh werde ich erst sein, wenn ich angekommen bin.« Lumpi gab ein heiseres Lachen von sich. »Das hört man gern, vor allem von einem... Menschen!« »Von einem Mädchen«, verbesserte Anton. »Ach ja«, tat Lumpi schuldbewußt. »Sicherlich erwartest du, daß ich dir beim Fliegen behilflich bin, Antonia? Ihr Mädchen seid schließlich stark benachteiligt beim Fliegen, hihi!« »Du willst mir behilflich sein?« Anton zögerte. Aber er hatte tatsächlich einige Probleme mit dem Fliegen: Der Wind verfing sich in seinem langen Rock, wehte ihm die Schürze ins Gesicht und blähte die weiten Ärmel der Bluse unter dem Umhang. »Ja! Du hältst dich einfach bei mir fest, und dann fliegen wir Hucke-Vampir«, bot Lumpi leutselig an. »Und du glaubst, das funktioniert?« 117
»Klar! Bei mir könnte sich ein halbes Dutzend von deiner Sorte festhalten!« Lumpi verringerte seine Flughöhe, und Anton legte seine Arme um Lumpis Hals. Derart auf Tuchfühlung zu gehen, war zwar nicht sehr angenehm – aber wenigstens konnte Anton so seine Kräfte für den Rückflug schonen! Endlich tauchten vor ihnen die Türme von Weißkirch auf. »Willst du mich nicht absetzen?« fragte Anton, der das letzte Stück lieber zu Fuß gegangen wäre. »Wieso absetzen?« antwortete Lumpi. »Ich könnte mit dir ewig so weiterfliegen. Wir beide sind das absolute Traumpaar, die geborenen Nachtschwärmer!« »Aber da unten ist schon Weißkirch – äh, Schwarzgruft!« »So?« Lumpi kicherte, und dann startete er einen halsbrecherischen Tiefflug über die Dächer. Anton, der fürchtete, sie würden einen der Schornsteine umreißen, blieb fast das Herz stehen. »Wir sollten heute nacht auch einen Hucke-VampirWettbewerb veranstalten. Den würden wir beide glatt gewinnen!« meinte Lumpi. Er umflog die Walnußbäume und landete auf der Rückseite der Kirchenburg. Anton fiel ins Gras, stand aber gleich wieder auf. »Spitze, was?« sagte Lumpi und blickte ihn beifallheischend an.
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Anton bewegte seine Arme und Beine, um festzustellen, ob er verletzt war. Doch ihm schien nichts passiert zu sein. »Und was würdest du machen, wenn ich mir jetzt ein Bein gebrochen hatte?« knurrte er. »Du meinst, wenn du nicht mehr weglaufen könntest?« fragte Lumpi. »Ja, genau!« »Kannst du dir das wirklich nicht denken?« antwortete Lumpi und klapperte mit den Zähnen. Anton bekam eine Gänsehaut. »Nein!« behauptete er. »Nun...« Lumpi grinste. »Hättest du ein gebrochenes Bein, würde ich dich natürlich, ritterlich wie ich bin, vor meinen Verwandten beschützen, Antonia!« Erschrocken sah Anton sich um, konnte jedoch niemanden entdecken. »Die Wiedervereinigungsfeier –« begann er. »Sie hat doch sicher längst angefangen? Von deinen Verwandten streift bestimmt keiner mehr hier draußen herum,.,« »Oh, das kann man nie ganz ausschließen«, antwortete Lumpi. »Wenn einer mal was schnappen möchte, zum Beispiel: frische Luft...« »Aber jetzt, in diesem Augenblick, schnappt niemand hier draußen frische Luft, oder?« vergewisserte sich Anton. 119
»Nein, niemand«, bestätigte Lumpi. »Es könnte allerdings jederzeit einer kommen« sagte er nach einer Pause. »Oder, schlimmer noch für dich, eine!«
Konkurrenz aus dem eigenen Lager »Eine?« wiederholte Anton. »Etwa... Tante Dorothee?« »Oder Großtante Brunhilde oder Hildegard die Durstige oder Sabine die Schreckliche!« Lumpi kicherte. »Auf Konkurrenz aus dem eigenen Lager sind sie nicht sehr gut zu sprechen.« »Welche Konkurrenz aus dem eigenen Lager?« »Mädchen. Hübsche, blutjunge Mädchen – so wie du!« »Auf mich müssen sie nicht eifersüchtig sein«, erwiderte Anton. »Ich werde ihnen mit Sicherheit niemanden ausspannen.« »Nein? Und was ist mit mir?« entgegnete Lumpi. »Ich freue mich schon den ganzen Abend darauf, mit dir die transsylvanische Polo-Nase zu tanzen!« »Die was?« »Du kannst es auch Polonaise nennen. Aber die bist du mir schuldig. Immerhin habe ich dich gut und sicher hierhergebracht!« »Wenn du darauf bestehst...« »Ja, ich bestehe darauf! So, und jetzt solltest du meinen Rat befolgen und dich in dem kleinen Häuschen verstecken, bis ich aus der Gruft zurück bin!« »Verstecken? Im Plumpsklo? Das hat doch nicht mal Türen!« »Wie kommst du denn auf das Plumpsklo?« »Auf sowieso nicht«, erwiderte Anton würdevoll. »So nötig ist es bei mir nicht.« »Du sollst doch nicht ins Plumpsklo – du sollst zu Arthur und Isolde.« Lumpi deutete auf einen Bretterverschlag. 120
»Zu Arthur und Isolde?« wiederholte Anton mißtrauisch. »Sind das Verwandte aus Transsylvanien?« »Ha, wofür hältst du mich!« Lumpi schob die Kinnlade vor. »Wenn ich auch äußerst gutmütig und menschenfreundlich bin, so muß ich deshalb noch lange kein Schaf sein«, schnaubte er. Anton lachte nur trocken. »Willst du damit andeuten, daß ich nicht menschenfreundlich bin?« rief Lumpi und packte ihn bei den Schultern. »Nein, nein«, sagte Anton rasch. »Ich – ich konnte mir bloß nicht vorstellen, daß es hier Schafe geben soll.« »Inzwischen gibt es ja auch keine mehr.« Lumpi grinste. »Armer Arthur, arme Isolde, jeder wollte etwas von ihnen: Die Rumänen das Fleisch, die Schnickschnacks die Milch und die Wolle – na, und wir...« »Nun geh schon«, sagte er und stieß Anton voran, in Richtung auf den Bretterverschlag. »Und paß auf, daß du deine edlen Klamotten nicht ruinierst!« Diese Ermahnung hätte er sich sparen können; denn Anton dachte nicht daran, in die winzige, noch immer nach Schaf riechende Hütte zu kriechen. Er blieb vor der Hütte stehen, und dort, im Schatten eines alten, knorrigen Baums erwartete er Lumpis Rückkehr. Es dauerte nicht lange, und Lumpi tauchte wieder auf. »Das Fest ist schon in vollem Gange«, verkündete er, »Ha, gerade haben meine Eltern, Hildegard die Durstige und Ludwig der Fürchterliche, den Vampirtango getanzt!« »Und wer ist sonst noch da unten?« wollte Anton wissen. »Wer sonst? Alle natürlich! Schließlich feiern wir unsere Wiedervereinigung!« »Und sind... ähm... auch Vampire aus Transsylvanien dabei?« »Aber sicher!« Anton schluckte. »Und welche?«
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»Welche?« Lumpi lachte heiser. »Na – ich, meine kleine Schwester, mein kleiner Bruder, meine Eltern, meine Großeltern, meine Tanten... Wir wurden schließlich hier, in Transsylvanien, geboren!« »Und andere Vampire sind nicht in der Gruft?« »Das reicht doch wohl, oder?« »Ja, allerdings«, stimmte Anton zu. »Das reicht mir wirklich!« Sie gingen zu der großen Tanne, und Lumpi entfernte die Steinplatte. Gedämpftes Licht drang herauf – und die Klänge eines Cembalos. Lumpi machte eine einladende Geste. »Hinein, wenn’s kein Halsabschneider ist«, witzelte er. Anton setzte sich auf den Rand des Einstieglochs, und mit dem Rock voran ließ er sich in den Schacht gleiten.
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Eine von uns »Was kommt denn da für eine entzückende junge Dame in unsere Gruft geschwebt?« begrüßte ihn eine tiefe Stimme. Anton durchrieselte ein eisiger Schreck. Im Vorraum stand... Wilhelm der Wüste! Er war groß und kräftig, hatte ein weißes Gesicht voller Runzeln und einen breiten Mund, der jetzt allerdings freundlich lächelte. »Gu-guten Abend«, stotterte Anton. »Je früher der Abend, desto hübscher die Gäste!« meinte Wilhelm der Wüste. Anton fiel ein, was Anna und Rüdiger über ihren Großvater erzählt hatten: Daß er immer besonders hungrig sei... Doch da landete zum Glück Lumpi neben ihm. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, legte er einen Arm um Antons Schultern und sagte: »Kennst du schon meine Freundin Antonia, Großväterchen?« »Deine Freundin?« wiederholte Wilhelm der Wüste, sichtlich überrascht. »Ja«, bestätigte Lumpi. »Und wir sind einander schon ein großes Stück nähergekommen, nicht wahr, Antonia?« Dabei kniff er Anton. »Ziemlich nah«, sagte Anton und stieß Lumpi seinen Ellenbogen in die Seite. »Zu nah ist nie gut!« »Das Leben ist doch eigenartig«, bemerkte Wilhelm der Wüste mit einem Kichern. »Kaum sind wir in Transsylvanien, wendet sich in unserer Familie alles zum Guten: Anna hört endlich auf, Milch zu trinken, Lumpi findet eine Freundin, Rüdiger macht sich nützlich...« »Ach ja –« Lumpi deutete auf die schwarzen, mit Strichmännchen bemalten Papptafeln, die an den Wänden lehnten. »Mit seiner Ahnengalerie hat Rüdiger sich richtig verausgabt, hihi!«
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»Das soll eine Ahnengalerie sein?« Anton hatte Mühe, nicht zu grinsen. »Ja, unser Rüdiger hat von jedem Familienmitglied ein Porträt angefertigt«, erzählte Wilhelm der Wüste mit großväterlichem Stolz. »Nur Sie sind bedauerlicherweise nicht dabei, Antonia.« »Du kannst ruhig ›du‹ zu ihr sagen, Großväterchen, Antonia ist schließlich eine von uns«. Lumpi zwinkerte Anton zu. »Jedenfalls... fast!« »Aber auf das ›fast‹ lege ich großen Wert!« betonte Anton. »Wie schön«, seufzte Wilhelm der Wüste. »Die gute alte Tugend der Sittsamkeit ist also doch noch nicht ganz in Vergessenheit geraten! – Auf manche Dinge sollte man warten können«, sagte er, zu Anton gewandt. »Das stimmt«, gab Anton ihm recht. »Aber ich kann jetzt nicht länger warten.« Wilhelm der Wüste fuhr sich mit der Zungenspitze einmal rasch über die Vampirzähne. »Mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen, haha! Willst du nicht mit mir kommen, Antonia?« Anton erschrak. »Äh – ich?« »Ja. Ich würde dich gern zu einem kleinen Umtrunk einladen!« »Das ist nicht fair, Großväterchen«, protestierte Lumpi. »Zum allererstenmal bringe ich eine Freundin mit nach Hause – und du hast nichts Eiligeres zu tun, als sie mir abspenstig zu machen!« »Wer spricht denn von ›abspenstig machen‹?« tat Wilhelm der Wüste empört. »Ich hab’ mir nur gedacht, Antonia könnte eine kleine Erfrischung vertragen. Sie sieht so blaß aus...« »Ich b-bin überhaupt nicht hungrig!« stotterte Anton. »Und falls Antonia Hunger bekommen sollte, kann sie sich am Büfett bedienen«, erklärte Lumpi. »Ihr mit eurem neumodischen Büfett...« Wilhelm der Wüste schnaufte verächtlich. 124
»Diese abgestandenen Konserven sind doch entsetzlich fade! Also, für mich kommt nur das absolut Frische in Frage, das Unverfälschte, das Natürliche...« Er hustete. »Nun muß ich aber wirklich gehen.« »Laß dich durch uns nicht aufhalten, Großväterchen«, meinte Lumpi. »Bis nachher, Antonia!« sagte Wilhelm der Wüste, dann schwebte er den Schacht hinauf. Anton seufzte erleichtert – als plötzlich eine hohe, dünne Stimme hinter ihm fragte: »Wißt ihr, wo Wilhelm steckt? Er hat mir den nächsten Tanz versprochen!« Er fuhr herum – und blickte in das runzlige Gesicht von Sabine der Schrecklichen! »Großväterchen ist ausgeflogen«, antwortete Lumpi. »Aber er kommt bestimmt gleich zurück.« Dann, mit seiner liebenswürdigsten Stimme, sagte er: »Kennst du schon meine Freundin? Sie heißt Antonia!« »Du hast eine Freundin?« Sabine die Schreckliche musterte Anton. Unter ihrem prüfenden Blick wurde ihm abwechselnd heiß und kalt; doch zum Glück schien sie nichts festzustellen, was ihren Verdacht erregte. »Du hättest lieber jemanden aus deiner Männergruppe mitbringen sollen«, bemerkte sie. »Du wußtest doch, daß wir Damenüberschuß haben!« »Aber Großmütterchen, die Männergruppe hatte ich in Deutschland«, sagte Lumpi. »Hier, in Transsylvanien, habe ich ein völlig neues – hihi – Leben angefangen!« Er sah Anton an und grinste. »Übrigens, Großvater hat sich gefreut, als ich ihm Antonia vorgestellt habe...« »Das kann ich mir denken«, zischte Sabine die Schreckliche. »Diesem blutjungen Gemüse muß er natürlich den Hof machen! Aber wenn ich mit ihm tanzen will, nimmt er Reißaus. Na warte, den knöpfe ich mir vor!«
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Sie ließ ihren Krückstock unter dem Umhang verschwinden und folgte Wilhelm.
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Meine Eltern, deine Eltern »Soll ich nicht lieber wieder gehen?« murmelte Anton, und voller Unbehagen blickte er in den Gang hinein. Noch immer spielte das Cembalo, und er hörte Lachen und Rufen. »Was? Du willst gehen?« rief Lumpi entrüstet. »He, wozu bin ich wohl die vielen Kilometer mit dir Hucke-Vampir geflogen? Damit wir ein bißchen Spaß zusammen haben, deshalb – aber nicht, damit du beim ersten kleinen Problem die Flucht ergreifst!« »Kleines Problem?« wiederholte Anton. »Deine Großmutter war meinetwegen ganz schön wütend auf deinen Großvater! Und wenn jetzt deine Mutter und Tante Dorothee und Großtante Brunhilde genauso reagieren...« »Das werden sie bestimmt nicht«, antwortete Lumpi. »Schließlich haben sie kein – hihi – Großväterchen, mit dem sie deinetwegen in Streit geraten könnten!« »Aber du hast selbst gesagt, daß sie auf Konkurrenz aus dem eigenen Lager nicht gut zu sprechen sind!« entgegnete Anton. »Na, und? Solange du mich hast, kann dir das doch völlig egal sein.« Lumpi faßte Anton am Arm und zog ihn mit sich. Da tauchte am Ende des Gangs eine kleine Gestalt auf. Es war Anna! Sie blieb stehen. »Wer ist das?« fragte sie mißtrauisch. »Meine Freundin«, antwortete Lumpi. »Deine – Freundin?« »Ja!« »Nein!« widersprach Anton – sehr unvorsichtig, wie ihm gleich darauf klar wurde. Lumpi gab ihm einen Stoß in die Seite und flüsterte: »He, paß auf, was du sagst! Vampir hört mit!« 128
Dann verkündete er extra laut: »Sie ist noch etwas schüchtern, meine Antonia.« »Anton-nia? Das ist ein ungewöhnlicher Name«, meinte Anna, und jetzt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Anton atmete auf. Offenbar hatte sie ihn erkannt, trotz seiner Verkleidung! »Antonia ist auch ein sehr ungewöhnliches Mädchen«, erklärte Lumpi. »Und genau deshalb passen wir so gut zusammen! Aber ich muß euch ja noch bekannt machen...« Er kicherte, »Antonia, das ist meine kleine Schwester Anna.« »Sehr angenehm!« sagte Anton, mit der Betonung auf »sehr«. Anna errötete. »Ebenfalls.« »Wo ihr euch jetzt kennt, habt ihr sicher nichts dagegen, wenn ich euch mal kurz allein lasse, oder?« fragte Lumpi. »Ich möchte nämlich einen Blick aufs Büfett werfen.« »Du kannst auch ruhig zwei Blicke werfen«, antwortete Anna und lächelte Anton zu. »Wir werden uns schon die Zeit vertreiben.« »Aber übertreibt es nicht«, ermahnte Lumpi sie. »Antonia ist meine Freundin! Und der erste Tanz gehört mir!« Mit diesen Worten stieß er die niedrige Holztür auf, die – soweit Anton sich erinnern konnte – zum Gästezimmer führte. »Guten Abend, Anton«, flüsterte Anna, als Lumpi verschwunden war. Dabei schaute sie Anton so liebevoll an, daß ihm ganz seltsam zumute wurde. »Hallo, Anna«, murmelte er. »Sieh nur: Wir sind Zwillinge!« Mit einem Lächeln zeigte Anna auf ihre Tracht. Auch sie trug unter ihrem Umhang einen langen schwarzen Rock, eine weiße Schürze, eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln und eine dunkelblaue Weste.
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»Aber deine Sachen sind kleiner«, entgegnete Anton. »Die Größe ist bei Zwillingen nicht so wichtig«, behauptete Anna. »Wichtig ist vor allem, daß sie sich innerlich als Zwillinge fühlen!« »Und ich dachte immer, etwas anderes wäre viel wichtiger...« »So? Und was?« »Daß sie dieselben Eltern haben!« Anton grinste. »Wenn es weiter nichts ist –« antwortete Anna. »Meine Eltern würden dich sofort adoptieren, darauf wette ich!« Anton erschrak. »Adoptieren? Mich?« »Ja! So süß, wie du bist!« »Aber ich habe doch eine Familie«, erwiderte Anton beklommen. »Und ich mag meine Eltern eigentlich sehr gern«, fügte er hastig hinzu. »Sie sind auch viel verständnisvoller geworden. Jetzt haben sie sogar die Rumänienreise mit mir gemacht. Und mein Vater sagt, meine Mutter hätte in Transsylvanien ihre Liebe zu den Vampiren entdeckt.«
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»Ihre Liebe zu den Vampiren?« wiederholte Anna mit bebender Stimme. Und dann – für Anton völlig unerwartet – liefen Tränen über ihr Gesicht. »Ich mag deine Eltern auch so gern!« schluchzte sie. »Viel, viel lieber als meine eigenen! Und für mich wäre es das Allerschönste auf der Welt, wenn deine Eltern mich adoptieren würden. Aber das geht ja nicht, nur andersherum ginge es. Und deshalb –« Ihre Stimme erstarb. »Anna!« sagte Anton betroffen. »Laß mich!« Sie raffte ihren Rock und lief an ihm vorbei. »Anna«, sagte Anton noch einmal. Aber da war sie bereits im Schacht verschwunden. Gleich darauf klapperte der Stein über dem Einstiegsloch. In diesem Augenblick öffnete sich die Holztür wieder, und Lumpi trat heraus. »He, wo ist Anna?« fragte er. »Weggeflogen«, antwortete Anton. Lumpi kicherte. »Jaja, sie ist genau wie unser Großvater: Ihr schmeckt nur das Frische!« Er zog ein schmuddeliges Tuch aus der Hosentasche und wischte sich den Mund ab. »Aber ganz unrecht hat sie damit nicht. Diese Konserven sind wirklich etwas fade im Geschmack.« Er machte einen Schritt auf Anton zu. »So, und nun bist du dran! – Mit Tanzen!« fügte er hinzu, als er Antons erschrockenes Gesicht sah. »Aber ich kann nicht besonders gut tanzen«, warnte Anton. »Oh, das macht überhaupt nichts.« Lumpi kicherte. »Als Mädchen mußt du nichts anderes tun, als dich vertrauensvoll von mir führen zu lassen.« »Das tue ich doch schon die ganze Zeit«, bemerkte Anton. Jetzt hatten sie die Treppe erreicht, die zur Gruft der Vampire führte. Und ob es nun der starke Modergeruch war oder die drohende Begegnung mit den Vampiren... auf einmal hatte Anton das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er lehnte 131
sich an die Felswand und atmete ein paarmal keuchend aus und ein. »Ist dir das Herz in den Rock gerutscht?« fragte Lumpi. »Mir... mir ist so komisch«, ächzte Anton. »Du hättest doch ans Büfett gehen sollen«, meinte Lumpi. »Aber so seid ihr Mädchen nun mal: Immer auf Diät, hihi!« »Lumpi?« ertönte da eine helle, durchdringende Stimme aus der Gruft. »Bist du das?« »Ja«, antwortete Lumpi. »Und ich bringe noch jemanden mit, Muttilein!« »Du bringst jemanden mit?« rief eine tiefe Stimme. »Einen von uns?« »Eine von uns«, antwortete Lumpi. »Meine Freundin!« »Ist sie hübsch?« »Ludwig!« rief die helle Stimme. »Sie ist sogar sehr hübsch, Vatilein«, antwortete Lumpi. »Na dann –« meinte Ludwig der Fürchterliche. »Wir sind gespannt, haha!« »Los!« Lumpi knuffte Anton. »Laß deine Schwiegereltern nicht warten.« Langsam, mit weichen Knien tappte Anton hinter Lumpi die Stufen hinunter.
Der Tanz auf dem Vulkan »Darf ich vorstellen: meine Freundin Antonia!« Lumpi war am Fuß der Treppe stehengeblieben, und mit einer ziemlich übertriebenen Geste zeigte er auf Anton, der sich wie auf dem Präsentierteller fühlte – nein, eher wie auf dem Servierteller... Doch zumindest Ludwig der Fürchterliche schien ihm wohlgesonnen zu sein. Er schüttelte Anton die Hand und schnarrte: »Herrrzlich willkommen!« »D-danke«, sagte Anton. 132
Besorgt richtete er den Blick auf Tante Dorothee und Hildegard die Durstige, die ebenfalls zum Eingang gekommen waren. Sie erweckten nicht den Anschein, als wollten sie ihn willkommen heißen... Nur die rundliche Frau mit den schulterlangen weißen Locken nahm keine Notiz von Anton, Sie saß im hinteren Teil der Gruft – dort, wo die Vampire ihre neun Särge übereinander gestapelt hatten – und spielte auf einem uralt aussehenden Cembalo. Das mußte Großtante Brunhilde, sein: Jetzt drängte sich eine Gestalt zwischen Tante Dorothee und Hildegard der Durstigen hindurch. Es war... der kleine Vampir! Er musterte Anton, und plötzlich begann er zu lachen – erst leise, dann immer lauter, bis er sich vor Lachen bog. »Rüdiger!« sagte Tante Dorothee in scharfem Ton. »Würdest du uns – bitte! – erklären, was du dermaßen erheiternd findest?« »Die... Freundin«, lachte der kleine Vampir. »Erheiternd können wir die Freundin ganz und gar nicht finden«, fauchte Tante Dorothee. »Im Gegenteil, sie verdirbt uns die gesamte Feier!« »Das stimmt.« Hildegard die Durstige nickte. »Wie bitte?« empörte sich Lumpi. »Endlich habe ich eine Freundin gefunden –« Der kleine Vampir erlitt einen neuerlichen Lachanfall. »Endlich habe ich eine Freundin gefunden«, fuhr Lumpi mit erhobener Stimme fort. »Und familienverbunden wie ich nun einmal bin, lade ich sie gleich nach Hause ein, um sie euch vorzustellen –« »Familienverbunden, du?« rief Tante Dorothee spöttisch. »Ha, wenn du das wärst, hättest du ein paar knackige junge Männer mitgebracht!« »Genau!« sagte Hildegard die Durstige und nestelte an dem weißen Tüllschleier, den sie, ebenso wie Tante Dorothee, um
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den Kopf trug. »Wozu haben wir wohl sonst unsere schöne Festtracht angelegt?« »Jedenfalls nicht für die da!« Tante Dorothee zeigte auf Anton. »Also, mir verdirbt Antonia nicht die Feier«, erklärte der kleine Vampir. »Ich finde es öde, wenn man nur mit seiner Großmutter, seiner Mutter oder seiner kleinen Schwester tanzen kann!« »Rüdiger!« riefen Tante Dorothee und Hildegard die Durstige wie aus einem Mund. »Ha, das könnte dir so passen«, sagte Lumpi, zum kleinen Vampir gewandt. »Antonia ist meine Freundin! Und ich hab’ ihr nicht nächtelang den Hof gemacht, damit du sie mir wegschnappst!« »Und womit hast du bei ihr... den Hof gefegt?« fragt der kleine Vampir und grinste frech. Lumpi fuchtelte mit seinen großen Händen durch die Luft. »Na warte, du –« »Sehr ihr?« rief Tante Dorothee. »Dieses Mädchen bringt nur Streit und Zwietracht in unsere friedliche Familie!« »Zwietracht?« wiederholte Ludwig der Fürchterliche. »O ja! Wenn zwie – äh, zwei Vampire sich streiten, freut sich der dritte, hihi!« »Aber wir haben uns nicht gestritten, Väterchen«, beeilte sich Lumpi zu versichern, und Rüdiger pflichtete ihm bei: »Kein bißchen haben wir uns gestritten!« Doch da hatte Ludwig der Fürchterliche Anton bereits untergehakt und in die Mitte der Gruft geführt – zum »Tanz auf dem Vulkan«, wie er Anton zuraunte. Hilfesuchend blickte Anton zu Rüdiger und Lumpi hinüber, aber die zuckten nur verlegen mit den Schultern. »Darf ich um den nächsten Tanz bitten, schöne Antonia?« fragte Ludwig der Fürchterliche jetzt mit vor Freundlichkeit fast überfließender Stimme und machte eine tiefe Verbeugung. 134
Anton setzte ein »mädchenhaftes« Lächeln auf und lispelte: »Gern.« »Es ist mir eine Ehre!« sagte Ludwig der Fürchterliche und legte eine seiner Pranken um Antons Taille, mit der anderen packte er Antons Hand. Und dann begann der Tanz – nein, der Vulkanausbruch! durchfuhr es Anton; denn Ludwig der Fürchterliche wirbelte ihn im Kreis herum, daß ihm Hören und Sehen verging. Die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten, bis Ludwig der Fürchterliche endlich eine Pause einlegte. »Ist dir nicht gut, Antonia?« fragte er, und dabei verzog er seine vollen roten Lippen zu einem Lächeln. »Nicht b-besonders«, stotterte Anton, um den sich alles drehte.
»Sie hat noch nicht richtig gegessen«, warf Lumpi ein.
»Das solltest du aber, Antonia«, sagte Ludwig der
Fürchterliche. »Sonst fällst du uns noch vom Fleisch, hihi!« »Ich werde mit ihr ans Büfett gehen«, kündigte Lumpi an. »Nein, ich!« rief der kleine Vampir. »Dann gehen wir eben zu dritt«, meinte Lumpi. 135
»Nein, Rüdiger geht«, bestimmte Tante Dorothee, »Wir beide werden jetzt das Tanzbein schwingen, Lumpi!« »Und wir beide auch«, sagte Hildegard die Durstige und zog Ludwig den Fürchterlichen zur Tanzfläche. »Was, schon wieder?« brummte Ludwig der Fürchterliche. »Und warum tanzt du nicht mit Rüdiger?« wandte sich Lumpi mißvergnügt an Tante Dorothee. »Mit Rüdiger habe ich bereits getanzt«, antwortete Tante Dorothee. »Dein Bruder war schließlich nicht den ganzen Abend auf der Pirsch, so wie du.« »Ich war auf Brautschau!« widersprach Lumpi. Mit einem Grinsen fügte er hinzu: »Den Unterschied müßtest du doch eigentlich kennen, Tantchen...« »So?« »Ja! Immerhin hattest du wochenlang einen Verehrer – bis sich herausgestellt hat, daß dein Igno von Rant gar kein Vampir, sondern ein Mensch war!« Tante Dorothee gab ein zorniges Schnaufen von sich. »Erwähne diesen Verräter niemals wieder in meiner Gegenwart!« Damit schob sie Lumpi in Richtung Tanzfläche. »Los, komm«, flüsterte der kleine Vampir und zupfte Anton am Ärmel. »Und wohin?« »Erst mal weg von hier!«
Schnell! Ihr müßt fliehen! »Ich will auf gar keinen Fall ans Büfett«, erklärte Anton oben im Gang. Auch wenn es ihm inzwischen wieder besser ging – dem Anblick eines Vampirbüfetts fühlte er sich nicht gewachsen! »Du willst nicht ans Büfett?« tat der kleine Vampir überrascht. »Aber wir haben eine Riesenauswahl, ehrlich! Nur 136
beim Haltbarkeitsdatum – da solltest du besser nicht so genau hinsehen...« »Beim Haltbarkeitsdatum?« »Glaubst du, die Apotheker würden uns Blutkonserven schenken, die noch in Ordnung sind?« »Die Apotheker schenken euch Blutkonserven?« sagte Anton ungläubig. »Na ja, ein bißchen gut zureden muß man manchmal schon.« Der kleine Vampir war vor einer Tür stehengeblieben. »Wenn du nicht ans Büfett gehen möchtest, interessierst du dich bestimmt für meine neue Sammlung!« sagte er und blickte Anton bohrend an. »Sammelst du denn keine Kämme mehr?« »Nein! Du hattest ganz recht, diese Läusezinken waren unter meiner Würde.« Der kleine Vampir stieß die Tür auf. Im Sammlungsraum brannten mehrere dicke Kerzen, und so sah Anton die »Schätze«, die die Vampire hier lagerten, in ihrer ganzen Schäbigkeit. Irgend etwas Neues konnte er allerdings nicht entdecken. »Ja, ich habe sie gut versteckt«, sagte Rüdiger. Er breitete die Arme unter dem Umhang aus und schwebte zum obersten Regal. Dort wühlte er hinter einem Stapel uralter Kartons. Mit einem wurmstichigen Holzbrett, auf dem ein starker Draht befestigt war, kehrte er zurück. »Hier«, sagte er und hielt es Anton hin. »Erkennst du, was es ist?« »Eine Mausefalle?« »Irrtum. Eine Rattenfalle!« »Igitt!« entfuhr es Anton. »Du fängst Ratten?« »Um Teufels willen, nein!« rief der kleine Vampir. »Niemals würde ich diesen netten Tierchen etwas antun. Ich sammle nur die Fallen – und zwar aus Zuneigung zu den Ratten!«
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»Wie rührend von dir«, meinte Anton spöttisch. »Die armen Ratten sind ja auch schon fast vom Aussterben bedroht...« »Im Ernst?« sagte der kleine Vampir erschrocken. Anscheinend hatte er die Ironie in Antons Worten nicht bemerkt. »Aber hier in Schwarzgruft wird es bald wieder viele, viele Ratten geben«, versicherte er. »Jetzt, wo die Schnickschnacks ihre Rattenfalle nicht mehr haben!« »Die Falle stammt von den Schnickschnacks?« Der kleine Vampir nickte. »Aber dann werden sich die Schnickschnacks garantiert eine neue Falle bauen« wandte Anton ein. »Hoffentlich!« sagte der Vampir. »Denkst du vielleicht, ich will eine Sammlung mit nur einer Falle haben?« Er brach in ein heiseres Gelächter aus – doch plötzlich hielt er inne und horchte. »Was ist?« fragte Anton alarmiert. Bevor der kleine Vampir antworten konnte, flog die Tür auf, und Anna stürzte herein. »Schnell«, sprudelte sie heraus. »Ihr müßt fliehen! Dracula kommt!«
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Anton stockte das Blut in den Adern. »D-Dracula kommt? In eure Gruft?« »Ja!« rief Anna. »Beeilt euch!« »Wieso sollten wir vor unserem berühmten Verwandten davonlaufen?« Der kleine Vampir stemmte die Arme in die Hüften. »Wieso? Wegen Anton natürlich!« Vor Aufregung hatte Anna rote Flecken im Gesicht bekommen. »Anton, welcher Anton?« Der kleine Vampir drehte den Kopf in alle Richtungen. »Ich sehe nur ein reizendes junges Mädchen in unserer alten transsylvanischen Tracht! Nein, entschuldige, ich sehe zwei reizende junge Mädchen in Tracht.« Breit grinsend deutete er auf Anna. »Sehr lustig«, fauchte sie ohne zu lachen. »Leider suchst du dir für deine Witze immer den falschen Zeitpunkt aus!« Der kleine Vampir verzog die Mundwinkel. »Den falschen Zeitpunkt? Im Gegenteil. Ich will bloß verhindern, daß wir hier völlig grundlos in Panik geraten!« »Grundlos sollen wir in Panik geraten?« rief Anton mit sich überschlagender Stimme. »Und was ist, wenn Dracula merkt, daß ich ein Mensch bin?« »Da meine Eltern und meine Großeltern nichts gemerkt haben, wird es Dracula auch nicht auffallen«, entgegnete der kleine Vampir gelassen. »Und immerhin hast du heute abend sämtlichen Vampirmännern den Kopf verdreht. Mit Sicherheit wirst du bei Graf Dracula genauso erfolgreich sein!« Anna schüttelte ihre Fäuste. »Du bist ganz schön leichtsinnig, Rüdiger!« »Stimmt.« Er kicherte. »Meine Sinne sind wunderbar leicht heute nacht. Das macht die Vorfreude auf Graf Dracula!« »Egoist.«, zischte Anna. »Du denkst nur an dich!« »Ich soll ein Egoist sein?« rief der kleine Vampir in gespielter Empörung. »Ha, mein Herz fließt förmlich über vor Nächstenliebe!« 139
»Und welche Nächsten wären das, die du so liebst?« fauchte sie. »Die Schnickschnackschen Ratten zum Beispiel.« Der kleine Vampir schwenkte die Rattenfalle. »Rüdigers neue Sammlung«, bemerkte Anton grimmig. »Irrtum!« sagte der Vampir und warf die Falle in den hinteren Teil des Raums. »Ab jetzt sammle ich nur noch Andenken von Graf Dracula höchstpersönlich!« »Und wann, sagtest du, kommt Graf Dracula?« wandte er sich betont freundlich an Anna. »Vermutlich ist er schon da!« antwortete sie. »Was?« schrie Anton. Der kleine Vampir lief zur Tür und riß sie auf. »Tatsächlich –« seufzte er. »Da, im Vorraum...« Dann schlug die Tür hinter ihm zu, und er war verschwunden.
Graf Dracula »Und nun?« fragte Anton. Ratsuchend blickte er Anna an. Doch sie wirkte fast noch nervöser und ängstlicher als er selbst. »Vielleicht sollten wir nach unten gehen, zu den anderen«, meinte sie und blickte besorgt zur Tür. »Ich glaube, dort bist du einigermaßen sicher...« »Und was ist mit dem Notausgang?« Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre zu gefährlich. Wenn Dracula beobachtet, wie wir von einer Kammer in die andere schleichen, wird er erst recht mißtrauisch. Und im Notausgang kommen wir nicht schnell genug voran. Nein, wir gehen in die Gruft, tanzen und tun so, als wäre alles ganz normal.« Ganz normal...? Antons Herz hämmerte wie wild, als er Anna nun auf den Gang hinaus folgte. Ängstlich spähte er nach links. Im Vorraum erkannte er den kleinen Vampir, der sich 140
vor einem Mann in einem schwarzen Cape verbeugte. Anton kniff die Augen zusammen. Dieser bullig wirkende Mann mit der Adlernase, der kaum größer als Rüdiger war – sollte das wirklich Graf Dracula sein? In den Vampirfilmen, die Anton aus dem Fernsehen kannte, war Dracula immer hochgewachsen und hager gewesen. Und er hatte auch keine schulterlangen schwarzen Locken gehabt, sondern kurzes, graues Haar... Nun drehte der Mann den Kopf herum, und mit seinen auffallend großen Augen musterte er Anton. Sein Blick traf Anton wie ein elektrischer Schlag. »Starr ihn nicht so an«, hörte er Anna flüstern. »Das wirkt verdächtig.« »J-ja«, stotterte Anton, der nur mit Mühe die Augen abwenden konnte. »Komm!« Anna faßte ihn am Umhang und zog ihn nach rechts, in Richtung auf die Gruft. »Und das war Graf Dracula?« fragte Anton mit zitternder Stimme. »Ja«, antwortete sie. Auch ihre Stimme zitterte. »Er hat so unheimliche Augen!« flüsterte Anton. Sie nickte. »Mit seinem Blick hypnotisiert er die Menschen.« »Meinst du, er hat mich jetzt auch... hypnotisiert?« »Nein!« Anna versuchte zu lächeln. »So schnell geht das nicht.« »Und du meinst, wenn wir uns unter deine Verwandten mischen, schöpft Dracula keinen Verdacht?« »Hoffen wir es!« antwortete sie. »Etwas Besseres fällt mir im Moment jedenfalls nicht ein«, fügte sie nach einer Pause hinzu. Anton preßte die Fingernägel in die Handflächen, bis es weh tat. Anna so durcheinander und hilflos zu erleben, steigerte seine Angst ins fast Unerträgliche! Erst als sie in der Gruft ankamen und Ludwig der Fürchterliche freudig: »Antonia!« 141
rief, spürte Anton, wie der quälende Druck auf seiner Brust ein wenig nachließ. Immerhin war Ludwig der Fürchterliche nicht gerade klein und schmächtig. Und wenn es hart auf hart gehen sollte, würde er ihn, Anton, bestimmt vor Dracula beschützen! »Halt! Du bleibst hier«, fauchte Hildegard die Durstige und hielt Ludwig den Fürchterlichen am Vampirumhang fest. »Antonia!« Lumpi eilte auf Anton zu. »Nun tanzen wir beide.« »Und was ist mit mir?« beschwerte sich Tante Dorothee. »Bin ich jetzt abgemeldet?« »Ich tanze mit dir!« rief Anna geistesgegenwärtig. »Du?« Tante Dorothee rümpfte die Nase. »Flohhüpfen, wie?« »Nein, La Vamba!« »La Vamba? Noch nie davon gehört!« »Der Tanz ist ja auch ganz neu«, behauptete Anna, und mutig dirigierte sie die fast doppelt so breite Tante Dorothee auf der Tanzfläche hin und her, während Großtante Brunhilde fortfuhr, auf dem Cembalo zu spielen. Lumpi hatte begonnen, Anton im Kreis herumzuwirbeln. »Warte! Ich muß dir unbedingt etwas sagen«, flüsterte Anton. »Graf Dracula –« Doch weiter kam er nicht: nun polterten schwere Stiefel die Treppen herab und eine tiefe, ölig klingende Stimme rief: »Teufel noch mal! Ist das eine müde Gesellschaft hier unten!« Einen Moment lang waren die Vampire wie versteinert – dann hasteten sie, sich gegenseitig schubsend, zum Ausgang der Gruft. Sogar Lumpi war dabei, obwohl Anton ihm beschwörend zugeflüstert hatte, ihn jetzt nicht im Stich zu lassen. Aber durch das völlig unerwartete Erscheinen von Graf Dracula schien keiner der Vampire mehr Herr seiner selbst zu sein, nicht einmal Anna. Auch sie stand bei Graf Dracula, der
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nun von allen Seiten mit begeisterten Ausrufen begrüßt wurde: »Nein, welche Überraschung!« – »So eine höllische Freude!« »Willkommen in unserer Mitte, hochgeschätzter Meister!« »Wir fühlen uns durch Ihren Besuch ja so geehrt!« Plötzlich brach die Musik ab, und mit den Worten: »Ja, ist das die Möglichkeit? Unser bewundernswürdiger Ahnherr!« eilte Großtante Brunhilde auf Graf Dracula zu.
Wer nicht hören will... »Brunhilde! Die Musik!« wies Tante Dorothee sie in scharfem Ton zurecht. »Was hast du gesagt?« Großtante Brunhilde zückte ein goldenes, mit Edelsteinen besetztes Hörrohr. »Du sollst an dein Cembalo gehen!« rief Tante Dorothee. »Wir möchten tanzen!« »Wie bitte?« fragte Großtante Brunhilde. »Graf Dracula und ich wollen tanzen!« brüllte Tante Dorothee direkt in das Hörrohr hinein. »Ach so, tanzen...« Offenbar hatte Großtante Brunhilde nun doch etwas verstanden. Sie nickte und lächelte. Dann machte sie eine Verneigung vor Graf Dracula und lispelte: »Darf ich Sie zum Tanz bitten, allerwertester Meister?« »Du doch nicht!« keifte Tante Dorothee, und mit dem Absatz ihres Stöckelschuhs trat sie Großtante Brunhilde auf den nur mit einem seidenen Pantoffel bekleideten Fuß. »Au!« heulte Großtante Brunhilde auf. »Meine Hühneraugen! Meine Warzen!« »Wer nicht hören will, muß fühlen«, erwiderte Tante Dorothee ungerührt. Dann sagte sie mit süßer Stimme: »Sie würden mich überglücklich machen, hochverehrter Herr von Dracula, wenn Sie mir einen Tanz schenken würden!«
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Graf Dracula schob seine breite, wulstige Unterlippe vor und näselte: »Später.« Anton, der ihn verstohlen musterte, fand, daß von dem bleichen Gesicht des Grafen etwas sehr Unsympathisches, ja Abstoßendes ausging – obwohl Dracula mit seinen grünen Augen, den langen seidigen Wimpern und den schulterlangen schwarzen Locken eigentlich gar nicht schlecht aussah. Vielleicht lag es an seinem kantigen, brutal wirkenden Kinn? Oder waren es seine vorstehende Augen, die eindringlich und kalt zugleich wirkten? Nun richtete Graf Dracula seinen Blick auf Anton. Wie rasend begann Antons Herz zu schlagen. Plötzlich kam es ihm vor, als hätte Dracula seine Maskerade durchschaut...
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»Ei, wen haben wir denn da?« sagte Graf Dracula und machte einen Schritt auf Anton zu. »An-Antonia«, stotterte Anton. »Ein ausgesprochen appetitliches junges Ding!« meinte Dracula. »Und woher kommst du?« »Aus... Deutschland.« »Soso, aus Deutschland.« Jetzt lächelte Graf Dracula, und Anton sah seine Vampirzähne – die längsten und schärfsten Fangzähne, die ihm jemals begegnet waren. Fast wurde ihm schwarz vor Augen. »Jaja«, bemerkte Graf Dracula, dem nichts zu entgehen schien. »Die Nerven sind noch etwas schwach. Aber das gibt sich mit den Jahrzehnten.« »Wir haben diese Person nicht eingeladen, das müssen Sie uns glauben, werter Herr von Dracula«, versicherte Tante Dorothee eilig. »Lumpi hat sie hier eingeschleppt!« »Eingeschleppt?« wiederholte Graf Dracula. »Das klingt ja, als würde es sich um einen Grippevirus handeln, einen – Grippevampirus!« Er lachte dröhnend, und alle Vampire stimmten fröhlich mit ein. »In diesem Fall braucht unser süßes junges Ding bestimmt eine kleine Schutzimpfung!« Teuflisch grinsend streckte Dracula seine breiten Hände mit den krallenartigen Nägeln nach Anton aus – da rief eine hohe Stimme von der Treppe her: »Sehe ich richtig? Wir haben Besuch bekommen?« »Wundervollen Besuch, liebste Sabine!« flötete Tante Dorothee. »Es ist unser Graf Dracula!« »Graf Dracula –« rief Sabine die Schreckliche entzückt aus, und mit ihrem Stock bahnte sie sich einen Weg durch die umstehenden Vampire. »Ich bin ja so gerührt, daß Sie uns mit Ihrer hochgeschätzten Anwesenheit beehren!« Anton, der geglaubt hatte, schon mit einem Bein im Sarg zu stehen, wich zitternd ein Stück zurück. 146
»Sie, Graf Dracula?« rief nun auch Wilhelm der Wüste. Er war noch auf der Treppe. »Welch eine Freude!« »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, antwortete Graf Dracula. Dabei wirkte er keineswegs erfreut, sondern eher verärgert über die Störung. »Wie gut Sie aussehen!« Sabine die Schreckliche hatte Draculas Hand ergriffen. »Wie gesund und frisch...« »Danke«, knurrte Graf Dracula. »Du bist auch nicht älter geworden.« »Sie schmeicheln mir«, trällerte Sabine die Schreckliche. »Im Gegenteil«, erwiderte Graf Dracula und streifte Anton mit einem gierigen Blick. »Dann können wir ja gleich mit der Zeremonie beginnen!« sagte Sabine die Schreckliche. Graf Dracula runzelte seine schwarzen Augenbrauen. »Mit welcher Zeremonie?« »In unserer Chronik von Schlotterstein heißt es, daß stets dem ältesten weiblichen Vampir der erste Tanz mit unserem lieben Ahnherrn Graf Dracula gebührt. Und deshalb bitte ich Sie, hochverehrter Graf, um diesen ersten Tanz!« »Das steht in eurer Chronik?« Graf Dracula schien keineswegs begeistert. »Ja!« bestätigte Sabine die Schreckliche, und kichernd zupfte sie an ihren weißen Löckchen. »Juhu, und ich bin die Zweitälteste!« rief Hildegard die Durstige. »Mir gebührt der zweite Tanz mit Ihnen, Herr von Dracula.« »Und mir der dritte!« verkündete Tante Dorothee. Sie ergriff das Hörrohr von Großtante Brunhilde, hielt es ans Ohr und brüllte hinein: »Musik, Brunhilde!« »Du brauchst nicht so zu schreien«, entgegnete Großtante Brunhilde hoheitsvoll. »Ich kann dich sehr gut hören.« Mit beleidigter Miene humpelte sie zu ihrem Cembalo zurück.
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»Brunhilde hört wirklich sehr gut!« sagte Tante Dorothee leise zu Hildegard der Durstigen. »So gut, daß sie überhaupt nicht mitgekriegt hat, daß ihr der erste Tanz mit Graf Dracula zugestanden hätte. Schließlich ist sie zehn Jahre älter als Sabine, hihi!« Hildegard die Durstige nickte und lachte schadenfroh.
Ich bin kein Held Graf Dracula und Sabine die Schreckliche hatten die Tanzfläche betreten. Die Vampire bildeten einen Kreis um die beiden, und als Großtante Brunhilde jetzt zu spielen begann, klatschten sie im Takt, selbst Anna und Lumpi. Sie schienen alle völlig unter dem Bann von Graf Dracula zu stehen. Nein, alle nicht... plötzlich berührte jemand Anton von hinten, und als er sich umdrehte, blickte er in das Gesicht des kleinen Vampirs. »Du?« stammelte er. »Ja!« Rüdiger war kreidebleich, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Du darfst keine Sekunde länger hierbleiben!« Anton nickte. Er war zu aufgewühlt, um etwas zu erwidern. »Los, komm!« flüsterte der kleine Vampir. Graf Dracula hatte gerade eine schwungvolle Drehung vollführt, und für einen Moment kehrte er ihnen seinen breiten Rücken und den Stiernacken zu. Sie hasteten zum Ausgang der Gruft, die Treppen hinauf, den engen Gang entlang – bis in die Schlafkammer von Tante Brunhilde. »Lauf!« rief der kleine Vampir und zeigte auf den offenen Notausgang. Die schwere Grabplatte lehnte an der Wand; offenbar hatte Rüdiger sie schon vorher zur Seite geschoben. »Und was ist mit dir?« fragte Anton beklommen. »Gehst du nicht mit?« Der kleine Vampir schüttelte stumm den Kopf. 148
»Aber –« Anton fühlte Panik in sich aufsteigen. »Ich finde den Rückweg nicht allein!« »Doch, du wirst ihn finden!« Der kleine Vampir reichte ihm die brennende Kerze. »Weil du ab heute nicht mehr Anton Bohnsack bist, sondern Anton der Held!« »O nein«, widersprach Anton heftig. »Ich bin überhaupt kein Held.« »Doch«, antwortete Rüdiger. »Wer als Mensch so lange mit Vampiren befreundet war wie du, der ist wirklich ein Held!« »War?« Anton fühlte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. »Heißt das, wir sind jetzt keine Freunde mehr?« »Natürlich sind wir noch Freunde!« versicherte der kleine Vampir. »Und gerade deshalb mußt du sofort verschwinden. Meine Verwandten..., sie sind schon auf der Treppe!« Anton holte noch einmal tief Luft. »Ich bin nicht Anton der Held«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich bin Anton der Vampirliebende – für immer!« Er zog den Kopf ein und kletterte in den Notausgang. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, daß der kleine Vampir etwas auf die Erde legte. Anschließend wurde die schwere Grabplatte wieder vor die Öffnung geschoben.
Dann hatte Anton die Holztür mit dem großen, neu aussehenden Schloß erreicht. Beim Anblick des Schlüssels, der auf dem Boden lag, machte sein Herz vor Freude und Erleichterung einen Sprung. Schnell bückte er sich und hob ihn auf. 149
Da ertönte hinter ihm ein lautes Krachen und Rumpeln, gefolgt von einem Schmerzensschrei. »Zur Hölle, mein Fuß!« rief eine tiefe Stimme. »Wer von euch war so dämlich, diese riesige Falle aufzustellen!« »Das war ich«, antwortete der kleine Vampir. »Du warst der Dummkopf?« donnerte Graf Dracula. »Kein Dummkopf«, erwiderte Rüdiger. »Wir haben im Notausgang Ratten.« »Rüdiger!« keifte Tante Dorothee. »Wie konntest du uns diese Schande antun? Unser lieber, guter Herr von Dracula – durch deine Schuld hat er sich den edlen Fuß verletzt!« »Aber ich wußte doch nicht, daß Graf Dracula –« verteidigte sich der kleine Vampir. Was er noch sagte, hörte Anton nicht mehr. Mit zitternden Fingern hatte er den Schlüssel im Schloß umgedreht und die Tür aufgestoßen. Dann bahnte er sich einen Weg durch das Gerümpel bis zur Kellertreppe. Es war wie eine Erlösung, als ihn draußen der Nachtwind ergriff und davontrug – weg von Graf Dracula, weg von Schwarzgruft! Mit letzter Kraft erreichte Anton das Hotel. In seinem Zimmer schaffte er es gerade noch, sich aufs Bett zu legen, bevor ihn der Schlaf überwältigte.
Der Abschiedskuß »Laß mich«, stöhnte Anton. »Ich bin so müde...« Er lag in Rüdigers Sarg. »Nein, nicht aufstehen. Ich muß mich ausruhen...« Der kleine Vampir fuhr fort, ihn zu rütteln und ihm etwas zuzurufen, das Anton nicht verstand.
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Mit großer Anstrengung öffnete er die Augen – und schrie auf: Drei dunkle Gestalten mit weißen Gesichtern standen neben seinem Bett im Hotelzimmer! »Du schläfst ja schon wie ein Toter«, meinte der kleine Vampir kichernd. Anton richtete sich auf. »Darf ich – darf ich Licht machen?« »Klar«, sagte Lumpi leutselig. »Kennst du nicht den alten Vampirspruch: Im Dunkeln/ ist gut munkeln./ Aber beim Abschiedskuß/ die Lampe brennen muß?« Anton schauderte. »Abschiedskuß? Ihr wollt doch nicht etwa bei mir...?« »Nein, nein«, beruhigte ihn der kleine Vampir. »Dafür wäre es jetzt sowieso zu spät. Mehr als drei Lehrlinge kann der Graf auf gar keinen Fall gebrauchen.« »Lehrlinge?« Anton schaltete die Nachttischlampe ein. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, daß die drei Vampire wieder ihre alten, mottenzerfressenen Sachen trugen. »Allerdings!« bestätigte Lumpi. Er räusperte sich feierlich, und dann verkündete er: »Wir gehen mit Graf Dracula auf Wanderschaft.« »Und noch heute nacht«, ergänzte der kleine Vampir. »Nein!« stammelte Anton.
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»Doch«, sagte Anna. »Ist das nicht wunderbar?« »Wunderbar?« »Und alles nur, weil Rüdiger die Rattenfalle im Notausgang aufgestellt hatte.« Anna lachte prustend. »Graf Dracula hat gesagt: Wer als junger Vampir zum Rattenfangen eine Falle braucht, der ist so verzärtelt, daß ihm nur noch eine Lehre beim obersten aller Vampire helfen kann!« »Dracula hat aber noch einiges mehr gesagt...« erinnerte der kleine Vampir sie. »So?« tat Anna ahnungslos. »Ja! Er hat auch von milchtrinkenden jungen Vampiren gesprochen, denen eine Lehrzeit bei ihm nicht schaden könnte.« Anna reckte sich. »Seit wir in Transsylvanien sind, habe ich nicht einen einzigen Tropfen Milch getrunken!« »Aber wir sind noch nicht sehr lange hier, stimmt’s?« entgegnete der kleine Vampir. »Lange genug!« antwortete sie selbstbewußt.
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»Und mir will Graf Dracula Unterricht in Ritterlichkeit geben«, berichtete Lumpi kichernd. »Er findet, bei unserer Wiedervereinigungsfeier hätte ich meine Vampirfreundin Antonia sträflich vernachlässigt. Und nur deshalb wäre sie so überstürzt aufgebrochen – bevor er, Graf Dracula, die Gelegenheit gehabt hätte, sie näher kennenzulernen!« »Na, was sagst du dazu?« wandte er sich an Anton. »Ich?« Anton fuhr zusammen. Er war viel zu durcheinander, um etwas zu sagen. »Meiner Meinung nach sollen wir noch aus einem anderen Grund bei Graf Dracula in die Lehre gehen...« bemerkte der kleine Vampir geheimnisvoll. »Und aus welchem?« fragte Anna. Rüdiger grinste. »Schließlich braucht er irgendwann einmal einen würdigen Nachfolger!« »Stimmt!« rief Lumpi. »Oder eine Nachfolgerin?«, erwiderte Anna. Anton schluckte. »Und ihr geht wirklich.., mit Graf Dracula auf Wanderschaft? Und schon heute nacht?« Alle drei nickten stolz. »Es ist eine große Ehre für unsere ganze Sippe von Schlotterstein!« erklärte der kleine Vampir. »Aber...« Anton suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Man läßt doch einen Freund nicht einfach im Stich!« »Möchtest du uns jetzt doch begleiten?« fragte der kleine Vampir freudig überrascht, und Anna meinte: »Wir können ja noch mal mit Graf Dracula sprechen!« »Nein.« Anton schüttelte den Kopf. »Ich will euch nicht begleiten, auf gar keinen Fall. Ich möchte nur, daß alles so bleibt, wie es ist.« Er holte tief Luft. »Und dazu gehört, daß ihr meine Freunde seid!«
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»Daran ändert sich auch nichts«, antwortete Anna. »Wirkliche Freunde kann man gar nicht verlieren! Man behält sie immer – in seinem Herzen!« Sie trat ans Bett und gab Anton einen Kuß auf die Wange. Es war kaum mehr als ein Hauch, aber Anton spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. »Wir müssen jetzt aufbrechen«, meldete sich da Lumpi zu Wort. »Graf Dracula erwartet uns!« Mit federnden Schritten ging er zum Fenster. »Mach’s gut, Anton – äh, Antonia!« Er lachte krächzend. Anna war Lumpi gefolgt. Nun hob sie die Hand und winkte Anton. »Vergiß mich nicht...« bat sie. »Und du mich nicht!« sagte er – doch da war Anna bereits mit Lumpi in die Nacht hinausgeflogen. Der kleine Vampir drückte Anton mit einem freundlichen Grinsen in die Kissen zurück. »Schlaf weiter«, meinte er. »Dann denkst du morgen, daß alles nur ein Traum war.« »Nein, es war kein Traum«, widersprach Anton. »Es ist kein Traum!« Der kleine Vampir lächelte. Den Blick fest auf Anton gerichtet, bewegte er sich langsam auf das Fenster zu. Anton wollte ihm nachlaufen, aber er war wie gelähmt. »Leb’ wohl, Anton«, sagte der kleine Vampir ganz sanft. »Du... erst recht, Rüdiger!« Antons Stimme zitterte. »Der Umhang –« fiel ihm plötzlich ein. »Du kannst ihn behalten.« Der kleine Vampir breitete die Arme aus. »Denn was wäre Anton der Vampirliebende ohne Vampirumhang?« Mit einem Kichern schwebte er davon. Erst jetzt konnte Anton vom Bett herunterspringen. Er stürzte zum Fenster und rief: »Nein! Es muß anders heißen: Was wäre Anton der Vampirliebende ohne den kleinen Vampir!«
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Doch Rüdiger gab keine Antwort mehr, und das letzte, was Anton sah, waren drei dunkle Gestalten, die sich im silbernen Licht des Mondes rasch entfernten.
Das hört nie auf! »Nun, Anton?« fragte sein Vater, als sie drei Tage später glücklich die rumänische Grenze passiert hatten und auf dem 155
Weg nach Hajduszoboszlo in Ungarn waren. »Hat Herr Schwartenfeger recht behalten?« »Recht? Womit?« »Mit seiner Überzeugung, durch die Dracula-Reise würdest du endgültig von deiner Vampirleidenschaft geheilt werden.« »Na ja –« sagte Anton betont geheimnisvoll. »Kommt Zeit, kommt Zahn...« Seine Mutter gab einen verärgerten Laut von sich. »Willst du damit andeuten, daß wir die ganzen Unbequemlichkeiten – die anstrengenden Fahrten, die primitiven Badezimmer, das schlechte Essen –, daß wir all diese Dinge auf uns genommen haben für nichts?« »Wieso für nichts?« entgegnete Anton. »Es war doch eine tolle Reise!« »Ja, das finde ich auch«, stimmte sein Vater zu. »Und selbst wenn Anton noch nicht vollständig geheilt sein sollte, so sind wir uns doch ein großes Stück nähergekommen.« Er drehte sich zu Anton um und zwinkerte ihm zu. »Genau«, sagte Anton. »Und falls du noch ein bißchen abnimmst, Vati, dann lasse ich dich auch mal mit meinem Vampirumhang fliegen!« Antons Mutter seufzte tief. »Hört das mit den Vampiren denn nie auf...?« »Nein!« Grinsend blickte Anton auf die Dose mit der Vampirerde, die in seiner Reisetasche neben dem »Dracula« Buch stand. »Das hört nie auf!«
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Angela Sommer-Bodenburg wurde 1948 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach dem Studium der Soziologie und Pädagogik war sie zwölf Jahre Grundschullehrerin. Seit 1984 ist sie freischaffende Autorin, heute lebt sie in Kalifornien. Aus ihrer Feder stammt u. a. die Figur des kleinen Vampirs, mit der sie sich weltweit in die Herzen von Millionen junger Leser geschrieben hat.
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