Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.417 � .417
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Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.417 � .417
Frederic Collins �
Die Satansfalle �
2 �
Die drei jungen Leute waren erfahrene Moorwanderer. Jake, seine Freundin Jenny und sein jüngerer Bruder Bob kannte diesen Teil des schottischen Hochmoores wie ihre eigene Westentasche. Bei Einbruch der Dämmerung entdeckten sie die Hütte im Moor. Sie beschlossen zu lagern. Damit war ihr Schicksal entschieden. Sie schlugen ihr Zelt nämlich genau in der Satansfalle im Moor auf. Der Vollstrecker war schon unterwegs… *** »Wie lange dauert denn das noch?« rief Jenny. »Ich sehe kaum die Hand vor den Augen. Wenn ihr euch nicht beeilt, wird das Zelt nicht mehr fertig. Ich habe keine Lust, im Freien zu übernachten!« »Schon gut«, meinte der neunzehnjährige Jake und ergriff lächelnd den Arm seiner um ein Jahr jüngeren Freundin. Jenny Thrompton wehrte sich. »Laß das«, sagte sie schroff. »Nicht jetzt!« »Stell dich nicht so an!« murmelte Jake Dermoth gereizt. »Du hast eine Laune! Was ist denn los?« »Nichts«, gab Jenny Thrompton zurück. »Eingeschnappt?« fragte der sechzehnjährige Bob Dermoth. »Halt bloß den Mund und fang nicht auch an, auf mir herumzuhacken!« schrie Jenny unbeherrscht los. »Ich habe die Nase von euch voll! Ihr geht mir auf die Nerven!« Sie schleuderte eine Zeltstange auf den Boden und lief weg.
Trotz ihres Zorns achtete sie darauf, daß sie die feste Stelle mitten im Moor nicht verließ. Es hätte ihren Tod bedeutet. Auch ihre beiden Begleiter wären machtlos gewesen. Ringsum gab es nur tückischen Sumpf, der seine Opfer nicht mehr losließ. Jake und Bob sahen einander betroffen an. »Was ist mit Jenny los?« fragte Bob leise. »Habt ihr Streit gehabt?« Jake schüttelte den Kopf. »Nein! Ich verstehe es auch nicht. Mach du mit dem Zelt weiter und zünde die Lampe an.« »Wir wollten mit dem Gas sparsam umgehen«, erinnerte ihn sein jüngerer Bruder. »Wir müssen erst neues besorgen.« »Das Licht beruhigt Jenny vielleicht«, antwortete Jake. »Also mach schon.« Er ging zu seiner Freundin, die am Rand der festen Insel stand und auf das Moor hinaus starrte. Sie blickte in die Richtung, in der sie die Hütte 3 �
gesehen hatten. Jetzt wurde die Hütte bereits von der Dunkelheit verschluckt. Hinter ihnen flammte ein Streichholz auf. Gleich darauf verbreitete die Campinglampe weiches, gelbes Licht. »Jenny«, sagte Jake leise. »He, Jenny!« Jenny Thrompton tat, als habe sie ihn nicht gehört. »Warum bist du so wütend?« fragte Jake. »Ich bin nicht wütend«, antwortete Jenny leise. »Ich habe Angst, verstehst du?« »Nein!« Jake trat neben seine Freundin und legte einen Arm um ihre Schultern. »Du zitterst ja! Was hast du? Wir waren schon so oft im Moor. Wir haben uns nicht verirrt. Wir haben ein sicheres Nachtquartier gefunden. Wovor hast du Angst?« Mit einem Kopfnicken deutete Jenny in die Dunkelheit hinaus. »Vor der Hütte«, sagte sie. »Vor zwei Jahren waren wir schon einmal hier. Damals haben wir die Hütte nicht gesehen.« »Na und?« fragte Jake verwirrt. »Jemand hat die Hütte in der Zwischenzeit gebaut.« »Nein«, widersprach sie energisch. »Oh nein, Jake, diese Hütte ist alt. Sie steht bestimmt schon viele Jahre. Warum haben wir sie damals nicht gesehen?«
»Was weiß ich«, tat Jake ihre Bedenken ab. »Ist doch egal. Komm jetzt. Bob ist mit dem Zelt fertig.« Langsam drehte sich Jenny zu ihrem Freund um. »Ich fühle ganz deutlich, daß etwas nicht stimmt. Hier droht uns eine fürchterliche Gefahr! Laß uns weggehen.« »Weggehen?« rief Bob, der ihre letzten Worte gehört hatte. »Bist du verrückt? Weißt du nicht, was passiert, wenn wir diese Insel verlassen?« »Wir versinken im Moor«, bestätigte Jake. »Wenn wir hierbleiben, überleben wir die Nacht nicht«, behauptete Jenny. Die beiden jungen Männer starrten sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Setz dich und iß«, sagte Jake achselzuckend. »Danach fühlst du dich besser.« Jenny setzte sich. Sie hatte erkannt, daß sie nicht mehr wegkam. Jake und Bob hatten recht. Nachts wäre eine Wanderung durch das Moor Selbstmord gewesen. Es ging auf Mitternacht zu. Die drei jungen Leute wollten sich soeben im Zelt ausstrecken, als ein seltsamer Ton über das Moor schwebte. Es hörte sich wie ein langgezogener Seufzer an, der mit einem gepreßten Aufschrei abbrach. Gleich darauf flüsterte von allen 4 �
Seiten eine heisere, brüchige Stimme. Das geisterhafte Wispern war so eindringlich, daß sie sich aufschreiend die Ohren zuhielten. Dennoch verstanden sie jedes Wort der unheimlichen Botschaft. Ich bitte meinen Großmeister dringend um Hilfe! Meine Hütte wird angegriffen! Ich versuche, mich zu halten! Helft dem Alten aus dem Moor! Danach herrschte tödliche Stille. Und mitten in dieser Stille hörten die vor Entsetzen erstarrten jungen Leute gurgelndes Schnaufen und schmatzendes Stampfen. Den Geräuschen nach zu urteilen, näherte sich ihrem Zelt ein unbeschreibliches Ungeheuer… * Großbritannien hatte selten einen so schönen Sommer erlebt wie in diesem Jahr. Anfang Juli hatten vor allem die Badeorte an der englischen Südküste Hochsaison. Alle Hotelzimmer waren überfüllt. An den Stränden drängten sich die Urlauber. Das galt auch für Brighton, das in diesen Tagen ein buntes Bild bot. Peter Winslow genoß das fröhliche Treiben. Das ganze Jahr über war es hier sehr einsam, und der junge Mann sehnte sich nach Unterhaltung und Gesellschaft. Er war in einem Alter, in dem andere junge Leute in
Gruppen verreisten, Discos besuchten oder Großstädte entdeckten. Für Peter Winslow kam das alles nur sehr beschränkt in Frage. Er war der Großmeister des Ordens der Weißmagiers. Das Böse in der Welt hatte eine starke Leitgestalt, nach der sich alles orientierte. Das Gute hingegen war zersplittert. Viele Menschen bemühten sich, dem Bösen die Stirn zu bieten. Zahlreiche Weißmagier hatten sich dieses Ziel gesteckt. Aus unerfindlichen Gründen schlossen sie sich jedoch nie zu dauerhaften Gruppen zusammen. Weißmagier waren Einzelkämpfer. Um so wichtiger war der Orden der Weißmagier. Dieser lockere Bund sorgte wenigstens für Erfahrungsaustausch und Hilfe, wenn ein Mitglied in Not geriet. Gerade weil es keinen festen Zusammenhalt gab, war die Person des Großmeisters so wichtig. Er einte den Bund. An ihn wandten sich die Mitglieder um Rat und Hilfe. An diesem Juliabend dachte Peter Winslow nicht daran, welche Stellung er bekleidete. Er tanzte schon seit Stunden in der besten Disco der Stadt, und die Mädchen rissen sich um den groß gewachsenen, blendend aussehenden jungen Mann mit den tiefblauen Augen und der wilden, blonden Haarmähne. 5 �
Er tanzte soeben mit einer Schwarzhaarigen, die er auf eine Italienerin oder Spanierin schätzte. Ihre Augen waren schwarz wie Kohle, ihr Teint dunkel. Peter kannte sich aus. Das war keine Sonnenbräune und stammte auch nicht von der bunten Beleuchtung in der Disco. Die Schwarzhaarige legte ihm die Hände auf die Schultern und lächelte ihn verlockend an. Sie trug knappe Shorts, Riemensandalen und ein T-Shirt, das mehr zeigte als verhüllte. Sie hatten noch kein Wort miteinander gesprochen. Die Musik brüllte und hämmerte aus riesigen Lautsprechern auf die Tänzer herunter. Verständigung fand nur mit Blicken statt. Bei der Schwarzhaarigen genügten die Blicke. Peter sah ihr in die Augen. Er lächelte, und ihre Hände strichen über seine Schultern an seine Wangen. Er beugte sich vor, als ein Ruck durch seinen sehnigen Körper ging. Keuchend taumelte er gegen das Mädchen und klammerte sich kraftlos fest. Die anderen Tänzer auf der erleuchteten Fläche merkten nichts. Nur einige in unmittelbarer Nähe sahen, daß sich der blonde junge Mann verzweifelt an seiner Partnerin festklammerte und trotzdem langsam in die Knie ging. Peter Winslow sah und hörte in
diesen Sekunden nicht, was um ihn herum vorging. Seine Blicke verloren sich in bodenloser Schwärze. Ein langgezogener Seufzer drang an seine Ohren und brach mit einem Schrei ab. Und dann schlich sich geisterhaftes Wispern in seine Gedanken… Ich bitte meinen Großmeister dringend um Hilfe! Während Peter die Botschaft empfing, sprang ein Mann hinzu und half der Schwarzhaarigen, Peter zu stützen. Die beiden glaubten an einen Schwächeanfall. Allerdings konnten sie sich die erschlafften Gesichtszüge und die starren Augen nicht erklären. Helft dem Alten aus dem Moor! Die Botschaft war zu Ende. Peter richtete sich auf und strich sich fahrig über die Stirn. Er drängte den Helfer zurück, sah die Schwarzhaarige bedauernd an und zuckte die Schultern. Ohne ein Wort der Erklärung drängte er sich zwischen den Tänzern durch und verließ überstürzt die Disco. Es hatte keinen Sinn, dem Mädchen etwas zu erklären. Wenn er ihr erzählte, daß er Großmeister des weißmagischen Ordens war, glaubte sie höchstens, er mache sich wichtig. Und die Story mit der telepathischen Botschaft nahm sie ihm schon gar nicht ab. Diese Nacht verlief ohnedies anders, als sie beide sich das vorge6 �
stellt hatten. Durch Peters schnelles Verschwinden hatte sie wenigstens noch Gelegenheit, eine andere Bekanntschaft zu schließen. Tief aufatmend trat Peter Winslow vor die Disco. Vom Meer wehte erfrischender Wind landeinwärts und brachte das Geräusch der Wellen mit sich. Unten am Strand liefen lachende Menschen in der Dunkelheit zum Wasser. Peter beneidete sie. Alle diese Leute konnten ihr Leben unbeschwert genießen. Er hingegen mußte dafür sorgen, daß es so blieb. Gab es nämlich niemanden, der die Mächte der Hölle zurückdrängte, würden diese bald die Herrschaft übernehmen. Peters Wagen war in einer Seitenstraße abgestellt. Gewohnheitsmäßig blickte er einmal in die Runde. Da er nichts Verdächtiges bemerkte, stieg er in den Wagen und startete. Der Großmeister war eine verlockende Zielscheibe für Schwarzmagier und Dämonen. Daß sie nur selten einen offenen Angriff wagten, lag an Peters Fähigkeiten. Die Mächte des Bösen versuchten es lieber mit List und Tücke. So hatten sie größere Chancen, ihr Ziel zu erreichen. Die Scheinwerfer fraßen sich durch die Dunkelheit, als der Wagen Brighton hinter sich ließ. Er schraubte sich auf einer schmalen,
kurvenreichen Landstraße in das hügelige Hinterland der Dünen. Das Licht erfaßte eine Weggabelung. Eine verwilderte Straße führte nach Mortland, einem ehemaligen Herrenhaus, das heute ein Sitz des Bösen war. Die andere Straße endete bei Sagon Manor. Der Name stammte aus der Sprache der Weißmagier und bedeutete ›Glückshaus‹. Peter war in dieser Nacht nicht so sicher, daß er darüber glücklich sein sollte, der Familie Winslow anzugehören. Als der Wagen vor dem Gutshaus hielt, wartete schon die gesamte Familie einschließlich der Dienerschaft auf den jungen Großmeister. Peter wußte Bescheid. Der Hilferuf war auch hier gehört worden. Noch in dieser Nacht mußte sich der Großmeister auf den Weg nach Norden machen. Sein Ziel war eine einsame Hütte inmitten des schottischen Hochmoores. Das stand fest. Peter hätte nur gern gewußt, ob er auch jemals wieder hierher nach Sagon Manor zurückkehren würde. Das stand nämlich nicht fest. * »Was ist das?« fragte Bob Dermoth bebend. Der Sechzehnjährige griff nach seinem Fahrtenmesser. Die schmatzenden und schlürfenden Geräusche mußten von einem so 7 �
großen Wesen stammen, daß seine Waffe dagegen lächerlich wirkte. Dennoch fühlte sich Bob besser, als er den Griff in seiner Hand spürte. Jenny Thrompton drängte sich an ihren Freund Jake und umkrallte seinen Arm. »Ich habe es gewußt!« flüsterte sie. »Ich habe es sofort gewußt!« Jake Dermoth fühlte sich für seine Begleiter verantwortlich. Er hatte keine Ahnung, was geschehen war, aber er wollte wenigstens draußen nachsehen. Während er nach seinem Feuerzeug tastete, überlegte er, woher das Seufzen, der Schrei und das Flüstern gekommen waren. Vor allem die um Hilfe flehende Stimme war so eindringlich und laut gewesen, daß sie es kaum ertragen hatten. Jake fand keine Erklärung. Er war ein praktisch denkender junger Mann, der keine Angst kannte. Da er im Moment nicht hinter das Geheimnis kam, schob er sich furchtlos ins Freie. Er dachte an eines der zotteligen schottischen Rinder, die an Bisons in Nordamerika erinnerten. Vielleicht hatte sich ein solches Tier in ihre Nähe verirrt. Zuerst erkannte er gar nichts, weil sich der Himmel mit Wolken überzogen hatte. Er hörte nur das Gurgeln und Schmatzen noch lauter als vorher. Erst als er sein Feuerzeug auf-
schnappen ließ, entdeckte er einen dunklen Körper, der soeben den Rand der festen Fläche erreichte. Etwas schob sich aus dem Moor! »Die Lampe!« zischte Jake seinem Bruder zu. Bob drückte ihm die Campinglampe mit der Gasbombe in die Hand. Mit bebenden Fingern drehte Jake das Gas auf und hielt das Streichholz an den Brenner. Hastig schirmte er die Augen gegen die Helligkeit ab. Dennoch wurde er für Sekunden geblendet. Neben ihm schrie Jenny auf. Er zuckte heftig zusammen und hob die Lampe. Das Ungeheuer hatte sich schon so weit auf den festen Boden geschoben, daß man seine Umrisse erahnen konnte! Das war kein Rind! Es war überhaupt kein Tier, das Jake kannte. Es mochte die Größe eines ausgewachsenen Elefanten erreichen. Von einem mächtigen Körper hingen zahlreiche Hautlappen herunter. Oder waren es Grasbüschel aus dem Moor? Schwarzes Wasser floß von der unförmigen Gestalt ab und klatschte in das Moor zurück. Jake sah weder Kopf, noch Beine. Jenny schrie noch immer. Die jungen Männer konnten sich nicht um sie kümmern. Sie waren selbst vor Grauen wie erstarrt. 8 �
Plötzlich wuchs das Monster turmhoch aus dem Moor. Es schnellte sich auf die Grasinsel im Sumpf. Mitten aus dem schwarzen Körper erscholl ein schriller Schrei. Aus der formlosen Masse wuchsen lange Tentakel. Die Schreie der Überfallenen brachen wie abgeschnitten ab, als das Ungeheuer auf das Zelt fiel. Eine Weile bewegte sich die schwarze Masse pulsierend über dem begrabenen Zelt. Die Tentakel peitschten durch die Luft, schleuderten Teile der Ausrüstung weit durch die Luft und packten die drei Augenzeugen der Satansfalle. Die dichten Wolken am Himmel senkten sich tiefer, als sich das mächtige schwarze Ungeheuer in sich zusammenzog. Die Bestie wurde kleiner, schrumpfte bis zur Größe eines Menschen und nahm die Gestalt eines Mannes an. Mit traumwandlerischer Sicherheit schritt der Mann über das Moor davon. Er kannte sein Ziel und steuerte es ohne Umwege an. Das Moor konnte ihm nichts anhaben. Es war sein Verbündeter. Zurück blieb der verwüstete Zeltplatz der drei jungen Moorwanderer…
von Sagon Manor an, daß sie schon geschlafen hatten. Sie waren offenbar durch den Hilferuf geweckt worden. Dennoch war niemand im Pyjama. Alle hatten sich in höchster Eile angezogen. Lord Hubbard Winslow, Peters Vater, trat vor. »Unser Telefon steht seither nicht still«, sagte er und setzte damit voraus, daß auch Peter den Hilferuf empfangen hatte. »Die Frau mit den vier Augen und der Satansspürer haben schon angerufen. Auch andere Mitglieder des Ordens meldeten sich.« »Was hast du ihnen geantwortet?« fragte Peter knapp. »Daß wir Bescheid wissen und daß du dich darum kümmern wirst«, entgegnete sein Vater, der vor Peter Großmeister gewesen war. »Der Alte aus dem Moor hat ausdrücklich nach dir verlangt. Wenn der Ordensälteste einen solchen Wunsch ausspricht, hat er seine Gründe.« »Verzeihung, Sir«, wandte der Butler Harvey ein. »In Schottland wohnen zahlreiche Ordensmitglieder. Sie könnten dem Alten aus dem Moor schnellere Hilfe bringen.« »Vermutlich könnten sie gar nichts tun, sonst hätte der Alte aus dem Moor nicht nach dem Großmeister gerufen«, entgegnete Lord Hubbard ungeduldig. »Gehen wir hinein. Warum stehen wir hier draußen * herum? Wir haben Vorbereitungen Peter Winslow sah den Bewohnern � zu treffen!« 9 �
Alicia, Peters Schwester, kam zu ihm. »Nimmst du mich mit?« bat sie. »Ich bin fast immer auf Sagon Manor. Ich will einmal von hier wegkommen.« »Dann fährst du am besten nach London und verbringst dort ein Wochenende«, riet Peter ohne den geringsten Spott. »Ich muß nach Schottland. Das ist ein weiter Weg. Und es sollte mich wundern, wenn unsere Feinde unterwegs keine Fallen aufgebaut haben.« »Das ist doch kein Grund, daß du mich hier läßt«, beklagte sich seine ältere Schwester Alicia. »Für mich schon«, entgegnete er mit einem müden Lächeln. Peter nickte Maud Orwell zu. Offiziell arbeitete Maud als Hausmädchen auf Sagon Manor. Sie war jedoch ein wichtiges Mitglied des Ordens und hatte die Aufgabe übernommen, über den Großmeister zu wachen. Peter fehlte noch jene Erfahrung, die Maud bereits besaß. Maud lächelte zurück. Ihre roten Haare schimmerten im Schein der Außenbeleuchtung wie Kupfer. Und wieder einmal fragte sich Peter, ob das Funkeln ihrer grünen Augen von Temperament oder von Zuneigung stammte. Zwischen den beiden herrschte ein sonderbares Verhältnis, das ihre Zusammenarbeit nicht gerade erleichterte. Die einige Jahre ältere Maud fühlte sich zu Peter hingezogen, schreckte jedoch vor seiner
Stellung als Großmeister zurück. Und Peter mochte Maud zwar mehr als andere Frauen, wollte sie jedoch nicht durch eine zu enge Bindung in Gefahr bringen. Wer dem Großmeister am nächsten stand, war Zielscheibe für die Feinde aus dem Reich des Bösen. Zwei Familienmitglieder fehlten in der Runde. Peters Mutter war schon vor fast zwanzig Jahren durch Schwarze Magie ums Leben gekommen. Und seine zweite Schwester Marthe war verschwunden, nachdem sie sich der Schwarzen Magie verschrieben hatte. Die Besprechung dauerte bis in den frühen Morgen. Die Entscheidung löste Mauds Protest aus. »Warum soll ich nicht mitfahren, Sir?« fragte sie heftig. Dabei sprach sie Peter Winslow so förmlich an, wie sie das immer in Gegenwart anderer Leute tat. Nur wenn sie allein waren, fielen sie in einen vertraulichen Ton. »Ich bin sicher nicht schlechter als Harvey! Warum soll er Sie begleiten?« »Ich brauche eine tüchtige Helferin auf Sagon Manor«, entgegnete Lord Hubbard anstelle seines Sohnes. »Das ist die Erklärung! Sie werden auf Sagon Manor gebraucht, Maud.« Das Argument überzeugte Maud Orwell keineswegs. Alicia kam ihr zu Hilfe. »Ich bin doch zu Hause«, meinte Peters Schwester. »Ich gehöre eben10 �
falls dem Orden an. Soll doch Maud mitfahren, während ich dir helfe, Dad!« »Ich habe entschieden«, erklärte Peter energisch. »Harvey begleitet mich.« Er behielt seine Gedanken für sich. Er hätte Maud gern an seiner Seite gehabt, aber er wollte Harvey nicht vor den Kopf stoßen. Der Butler arbeitete schon so lange für die Familie Winslow und für den Orden, daß er auch wieder einmal an einem Einsatz teilnehmen mußte. Er hätte sich sonst zurückgesetzt gefühlt. Als sich die Sonne über den Horizont hob, fuhr ein Wagen mit Butler Harvey am Steuer von Sagon Manor ab. Peter Winslow lag auf den Rücksitzen und versuchte zu schlafen. »Wecken Sie mich ungefähr zehn Minuten, bevor wir in Heathrow ankommen«, bat er seinen Butler. »Ich möchte nicht halb schlafend durch die Halle des Airports stolpern.« »Sehr wohl, Sir«, erwiderte Harvey, »ich werde mich strikt an Ihre Anweisungen halten; Für den Fall, daß wir unterwegs überfallen werden sollten, werde ich mir erlauben, Sie dennoch vorzeitig zu wecken.« »Ja, Harvey«, erwiderte Peter grinsend. »Dafür wäre ich Ihnen auch dankbar!« Harvey, der seinen sechzigsten Geburtstag schon hinter sich hatte
und seit Jahrzehnten für die Winslows arbeitete, war ein hervorragender Kämpfer. Außerdem war er ein Weißmagier von Rang. Da er aber nun schon vierzig Jahre lang die Rolle des Butlers spielte, war sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er konnte nicht mehr aus seiner Rolle heraus. Als Peter die Augen schloß und Minuten später in tiefen Schlaf fiel, fühlte er sich absolut sicher. So lange Harvey über ihn wachte, kam kein Schwarzmagier an ihn heran. Es geschah auf halber Strecke zwischen Brighton und London. Peter Winslow setzte sich plötzlich auf, ohne daß der Butler ihn geweckt hatte. »Halt!« befahl er, schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Botschaft aus einer anderen Dimension. Sie war schwer verständlich und bruchstückhaft. Peter wiederholte die Worte, die er trotzdem verstand. »… Auto… nicht fliegen… nur Auto…!« Er schüttelte den Kopf. »Eine Warnung, Harvey. Wir ändern unseren Plan und fliegen nicht. Ich weiß nicht, warum ich das Auto nehmen soll, aber ich halte mich daran, was sie sagt.« »Sehr wohl, Sir«, entgegnete Harvey. »Schlafen Sie wieder! Ich werde Sie wecken, sobald ich zu müde zum Fahren bin.« Peter rollte sich erneut auf den Rücksitzen zusammen. Bevor er 11 �
diesmal einschlief, dachte er an den Geist seiner Mutter. Er war sicher, daß die Warnung von ihr gekommen war. Peter Winslow schlief ein, ohne noch einmal Kontakt zu bekommen. Er träumte auch nicht, und als Harvey ihn endlich weckte, fühlte er sich ausgeruht. »Schlafen Sie jetzt, Harvey«, sagte der junge Großmeister. »Wir werden versuchen, ohne Pause durchzufahren. Ich muß den Zeitverlust ausgleichen.« Trotz seiner vor Müdigkeit rot geränderten Augen, deutete Harvey eine Verbeugung an, ehe er es sich auf den Rücksichten bequem machte. Peter fuhr ohne Zwischenfall weiter. Sie kamen gut voran. Um sich zu unterhalten, schaltete er das Autoradio ein. Um zwölf Uhr mittags kam die Meldung, daß die Maschine Heathrow – Edinburgh abgestürzt war… * »Ich möchte es als ausgesprochen verdächtig bezeichnen«, meinte Harvey zwei Stunden später, »wie reibungslos die Fahrt verläuft. Der Umstand, daß wir noch nicht angegriffen wurden…« »Schon gut!« unterbrach ihn Peter Winslow grinsend. »Ich weiß, was Sie sagen wollen.«
»Sir, wir sollten auf der Hut sein«, riet der Butler in seiner steifen Art. »Was glauben Sie, Harvey, worauf ich die ganze Zeit bin«, antwortete Peter seufzend. »Auf der Hut!« Er konnte nicht einmal selbst über seinen eigenen Witz lachen. Dafür zog er den Wagen auf den Parkplatz der nächsten Raststation. Bei dem verspäteten Mittagessen sagte er Harvey, was mit dem Flugzeug geschehen war. »Wir wären an Bord dieser Maschine gewesen, hätten Sie nicht gewarnt, Sir«, sagte Harvey kreidebleich. »Ja, allerdings«, bestätigte Peter und schwieg darüber, daß es der Geist seiner Mutter gewesen war. Er wäre ahnungslos an Bord gegangen. »Ob es ein Anschlag war?« meinte Harvey, der sich langsam von seinem Schreck erholte. »Das möchte ich auch gern wissen. Warten Sie hier auf mich, Harvey. Ich rufe zu Hause an.« Der junge Großmeister verließ den Tisch und ging zu den Telefonkabinen. Er brauchte nicht lange auf die Verbindung zu warten. Es klappte schon beim zweiten Versuch. »Hallo, Maud«, sagte Peter, als er die Stimme des Hausmädchens erkannte. »Wie geht es bei euch?« »Peter!« schrie Maud auf und brach im nächsten Moment in Tränen aus. Er versuchte mehrmals, sie nach 12 �
dem Grund für ihren Ausbruch zu fragen, kam jedoch nicht zu Wort. Maud konnte sich nicht beruhigen. Sekunden später wurde ihr der Hörer abgenommen. »Peter, bist du das?« rief Lord Hubbard. »Ja, Dad«, antwortete Peter verwundert. »Was ist denn bei euch los? Was hat Maud?« »Weißt du nicht, daß wir euch für tot halten?« schrie sein Vater. »Wir dachten, ihr wärt in dem Flugzeug!« Erst jetzt ging Peter ein Licht auf. »Um alles in der Welt, daran habe ich gar nicht gedacht«, räumte er ein. »Habt ihr denn nicht bei der Fluggesellschaft angerufen? Die hätte euch doch gesagt, daß wir nicht an Bord gegangen sind.« »Was denkst du, was wir sofort getan haben, als die Meldung kam?« fragte sein Vater. »Du hattest für euch beide gebucht. Am Schalter wurde offenbar ein Fehler gemacht. Eure Namen standen auf der Passagierliste.« »Auch das noch!« Peter seufzte. »Das tut mir aufrichtig leid, Dad! Das konnte ich nicht wissen. Ich habe vorher eine Warnung erhalten und beschlossen, mit dem Wagen weiterzufahren.« »Hat… sie… dich gewarnt?« fragte sein Vater stockend. »Ja, Dad!« Peter sprach schnell weiter, damit sein Vater nicht zu sehr an seine verstorbene Frau
dachte, die Opfer von Schwarzmagiern geworden war. »Du mußt unbedingt die Ursache für den Absturz herausfinden! Ich will wissen, ob es ein Anschlag auf uns war!« »Zusammenstoß mit einem Sportflugzeug«, erwiderte sein Vater. »Ich weiß natürlich nicht, ob der Pilot des Sportflugzeuges unter dem Einfluß der Hölle stand, aber es sieht nach einem gewöhnlichen Unfall aus.« »Okay, Dad! Wenn du etwas Neues erfährst, gib es an mich weiter. Ich melde mich in regelmäßigen Abständen bei euch.« »Wir können dich nicht erreichen?« fragte der Lord. »Ich weiß es noch nicht.« Peter hatte es eilig. Er war kein Hellseher, aber wenn er im Einsatz war, erhielt er aus unbekannten Quellen verstärkte Fähigkeiten. Alle seine Sinne funktionierten dann besser – als sonst. Jetzt war er ohne ersichtlichen Grund auf einmal sehr nervös und wollte rasch zu Harvey zurück. »Du hörst wieder von mir!« Er legte auf und hastete in das Restaurant zurück. Sein eigener leerer Teller stand an seinem Platz. Harveys nur halb leerer Teller stand genau gegenüber. Von Harvey fehlte jedoch jede Spur. Es war ein Selbstbedienungsrestaurant. Kellner mit ihrem guten Personengedächtnis wären besser gewesen. Dennoch versuchte Peter sein Glück an der Theke für die 13 �
Essensausgabe. Eine junge Farbige bediente dort, die Peter vorhin mit einem interessierten Blick gestreift hatte. »Ihr Begleiter?« Sie sah ihn aus großen Augen an. »Keine Ahnung! Ich habe nicht auf ihn geachtet.« Peter war im Moment für ihr Lächeln nicht empfänglich. Dafür machte er sich um Harvey zu große Sorgen. Er fragte noch die Kassiererin und Gäste an den umliegenden Tischen. Alle sahen ihn nur verwirrt und achselzuckend an. Beim Wagen war Harvey nicht. Das Auto parkte in Sichtweite. Peters Blick fiel auf die Tür zu den Waschräumen. Er stieß sie auf und stand in einem langen Korridor. Vorsichtig ging er weiter. Seine Nackenhaare kribbelten, als er die Hand nach der nächsten Tür ausstreckte. Beinahe hätte er sie berührt, doch im letzten Moment zuckte er zurück. Der junge Großmeister biß die Zähne zusammen. Sein sechster Sinn sagte ihm, daß etwas nicht stimmte. In einer Ecke lehnte ein Schrubber. Peter packte ihn an einem Ende und stieß damit die Schwingtür auf. Im nächsten Moment gab es einen schmetternden Krach. Die Tür flog aus den Angeln, brach in der Mitte durch und splitterte, als sie gegen die Wand; prallte. Peter sprang zurück und ließ den
Schrubber fallen. Ohne seinen Trick wäre er von dem fürchterlichen Schlag getötet worden, der die Tür zerstört hatte. Geduckt und die Arme leicht gespreizt, blieb Peter Winslow vor der Türöffnung stehen. Er hatte nicht gesehen, was die Tür getroffen hatte. Ein schwarzmagischer Bann? Oder ein Angreifer, der sich hinter dem Mauervorsprung verbarg? Und wo war Harvey? Draußen im Lokal schrien Menschen durcheinander. Hastige Schritte näherten sich. Peter Winslow hatte keine Wahl. Wenn er etwas herausfinden wollte, mußte er sofort handeln. Er durfte nicht warten, bis Gäste und Personal auftauchten. Die Mächte des Bösen zogen die Heimlichkeit vor. Der Großmeister wollte den heimtückischen Angreifer jedoch nicht entkommen lassen. Mit einem weiten Satz schnellte sich Peter durch die Türöffnung, kam federnd auf und wirbelte herum. Im nächsten Moment traf ihn ein Schlag… * Trotz der guten Nachricht kam auf Sagon Manor keine Feststimmung auf. Unbeschwerte Heiterkeit kannte man in diesem alten Herrenhaus ohnedies seit vielen Jahren nicht 14 �
mehr. »Kommen Sie, Maud!« forderte Lord Hubbard Winslow das Hausmädchen auf. »Die beiden leben! Das ist wunderbar! Aber jetzt reißen Sie sich zusammen.« Maud wischte die Tränen weg und lächelte. »Ja, Sir«, antwortete sie gehorsam. »Ich dachte nur… es wäre endgültig aus…!« Es war Lord Hubbard nicht entgangen, wie Maud und sein Sohn zueinander standen. Daher konnte er die Erleichterung der jungen Frau durchaus verstehen. Der ehemalige Großmeister, Vorgänger seines Sohnes, zeigte jedoch höchst selten Gefühle. »Ich habe einen Auftrag für Sie«, sagte er. Lord Hubbard hielt es für besser, Maud Orwell zu beschäftigen. »Fahren Sie nach London und besuchen Sie den Satansspürer. Wie Sie wissen, ist er ein besonders wertvolles Mitglied unseres Ordens, weil er die Spur des Bösen verfolgen kann.« »Ich weiß, Sir«, entgegnete Maud. »Er sieht oder riecht förmlich die Spuren, die Schwarzmagier und Dämonen hinterlassen. Und was soll ich bei dem Satansspürer?« Um den verhärmten Mund des Lords erschien ein schwaches Lächeln. »Ich denke, Mr. Baker hat ebenfalls den Hilferuf aufgefangen und bedauert, daß er nicht nach Schottland fahren soll. Meinen Sie
nicht, daß Sie sich mit ihm unterhalten sollten?« Maud verstand. Peter Winslow hatte ausdrücklich gewünscht, nur zusammen mit Harvey nach Schottland zu reisen. Sein Vater wollte nicht offen gegen die Anordnungen des regierenden Großmeisters verstoßen. »Ich werde bestimmt gemeinsame Interessen mit Mr. Baker entdecken«, sagte Maud. »Danke, Sir!« »Wofür?« stellte sich Lord Hubbard erstaunt. »Für den bezahlten Urlaub, den Sie mir zwangsweise gewähren müssen!« rief sie lachend und lief in ihr Zimmer, um sich auf die Reise vorzubereiten. Lord Hubbard blickte nachdenklich hinter seinem Hausmädchen her. Maud erfüllte tatsächlich die Pflichten einer Hausangestellten, sofern sie nicht gerade in einem Einsatz gegen Schwarzmagier war. Aber nicht dieser Tätigkeit wegen hoffte Lord Hubbard, daß es zu keiner Bindung seines Sohnes an diese Frau kam. Der Lord hatte noch deutlich das Schicksal seiner eigenen Frau in Erinnerung, obwohl nun etwa zwanzig Jahre verstrichen waren. Schwarzmagier, darunter ihr eigener Vater, hatten sie in ihre Gewalt gebracht und sie gezwungen, ein ganz bestimmtes Flugzeug zu neh15 �
men. Louise Winslow hatte unter schwarzmagischem Zwang dieses Flugzeug zum Absturz gebracht. Der Anschlag war auf einen Gegner der Schwarzmagier gezielt gewesen. Dabei waren allerdings auch Louise Winslow und eine ganze Reihe unbeteiligter Passagiere gestorben. Mit düsterer Miene trat Lord Hubbard an eines jener Fenster, von denen aus man Mortland sah. Die Türme des nahe gelegenen Herrenhauses ragten über die Bäume hinaus. Mortland hatte einst seiner Frau gehört. Jetzt befand es sich im Besitz der Winslows, aber es war ein verfluchter Ort, eine Stätte Satans. Als ständige Bedrohung waren die Türme zu sehen, von denen der Feind Sagon Manor und die Familie des Großmeisters belauerte. Wie sollte unter solchen Umständen Peter jemals ein normales Leben führen? Lord Hubbard dachte auch an seine verschwundene Tochter Marthe. Sie war in das Lager der Schwarzmagier gewechselt. Wo war sie? Was plante sie? »Ich bin fertig, Sir«, erklang Mauds Stimme hinter ihm. Der Lord drehte sich hastig um. Er musterte die hübsche rothaarige Frau mit den fröhlichen Sommersprossen und den geheimnisvollen grünen Augen und seufzte. Ganz gegen ihre Rolle als Haus-
mädchen, kam Maud hastig auf den Lord zu und drückte seine Hand. »Ich werde gut auf ihn aufpassen, das verspreche ich«, sagte sie leise, wandte sich ab und hastete aus dem Raum. Gleich darauf fuhr der Jeep mit Maud am Steuer ab. Lord Hubbard Winslow seufzte noch einmal, als der Wagen verschwand. Hoffentlich kam sie noch rechtzeitig, dachte er besorgt. Bis Schottland war es weit. Es konnte eine ganze Menge passieren! Irgendwie fühlte Lord Hubbard auch ohne telepathische Begabung, daß sein Sohn in diesen Momenten um sein Leben kämpfte. * Der Mann lauerte in einer Nische hinter der Tür. Ein Blick in das leblose Gesicht genügte dem Großmeister. Peter Winslow stand einem Untoten gegenüber. Normalerweise entwickelten lebende Leichen keine besondere Wendigkeit. Dieses Monster jedoch zögerte keinen Moment. Peter überschlug sich in der Luft. Der Schlag hätte ihm das Genick gebrochen, wäre er nicht elastisch ausgewichen. Dennoch konnte er den Treffer nicht ganz vermeiden. Er prallte mit der Schulter gegen die Wand. 16 �
Der Untote blieb nicht in seinem Versteck, sondern setzte sofort nach. Peter entdeckte hinter dem lebenden Leichnam in der Nische seinen Butler. Harvey kauerte zusammengesunken am Boden. Peter konnte nicht unterscheiden, ob er nur bewußtlos oder schon tot war. Er konnte sich jetzt auch nicht um Harvey kümmern. Die Pranken des Untoten stachen nach ihm. Peter stemmte sich vom Boden ab und warf sich gegen die Beine des Zombies. Dieser hatte nicht mit dem direkten Angriff gerechnet, verfehlte den jungen Großmeister und traf die gekachelte Mauer. Es krachte, als wäre ein Geschoß eingeschlagen. Die Kacheln platzten, die einzelnen Splitter pfiffen wie Querschläger nach allen Seiten davon. Es knallte. Aus der Wand schlug ein bläulicher Blitz. Der Untote hatte eine Stromleitung getroffen und zerrissen. Ein lebender Mensch wäre von diesem Schlag getötet worden, nicht so der Untote. Ihm konnte der Strom nicht schaden. Allerdings wurde er durch den Zwischenfall aufgehalten. Das gab Peter Winslow einen Vorsprung. Der junge Großmeister rettete sich aus der unmittelbaren Reichweite des Untoten, preßte sich an die gegenüberliegende Wand und stieß
sich ab. Todesmutig warf er sich dem Zombie entgegen, als dieser herumschwang und die Hände erneut zum Schlag hob. Peter prallte mit dem Angreifer zusammen und brachte ihn ins Wanken. Er hatte schon mehrmals gegen Zombies gekämpft und kannte sie gut. Dennoch lief ihm ein eisiger Schauder über den Rücken. Aus dem Mund dieses Mannes drang kein Laut. Die Augen waren halb geschlossen. Über das Gesicht lief eine breite Narbe von der Stirn bis zum Kinn. Der Untote verzog keine Miene. Jeder andere Gegner hätte gekeucht und gestöhnt. Dem Zombie war keine Anstrengung anzumerken. Seine nervigen Fäuste schossen hoch. In solchen Momenten entwickelte der junge Großmeister seine besonderen Fähigkeiten, die er mit seinem Amt erhalten hatte. Er reagierte einen Sekundenbruchteil schneller als der Untote, riß den Kopf zur Seite, tauchte unter dem Schlag durch und rammte beide Fäuste in die Achselhöhle des Zombies. Der Arm schlenkerte unkontrolliert nach oben und traf die Deckenlampe. Das Schutzglas splitterte und regnete auf Peter herunter. Wieder gellten Schreie draußen 17 �
auf dem Korridor. Zahlreiche Gäste starrten schreckensbleich in den Raum, in dem der Kampf tobte. Endlich zeigte der Untote Wirkung – aber nicht auf Peters Schläge, sondern auf die unerwünschten Augenzeugen. Er wandte das Gesicht ab. Von hinten konnte niemand erkennen, daß er aus einem Grab gestiegen war. Seine Kleidung war noch gut erhalten. Wer das Gesicht nicht erblickte, ahnte nicht, mit wem er es zu tun hatte. Der Untote ließ die Arme sinken. Peter blieb in Wartestellung. Er ließ sich nicht täuschen. In atemloser Spannung wartete er darauf, ob sich der Zombie wirklich von den Zuschauern verscheuchen ließ. Peter hielt sich bereit, um ein Blutbad zu verhindern. Falls der Zombie durch die Menge der Gaffer brach, mußte es Verletzte und Tote geben. Es wäre die Aufgabe des Großmeisters gewesen, rechtzeitig einzugreifen und die Bestie abzulenken. Hinter Peter Winslow erklang leises Stöhnen. Der Großmeister atmete erleichtert auf. Wenigstens lebte Harvey! Endlich bewegte sich der Untote. Peter erschien es, als wären seit dem letzten Angriff Minuten vergangen. In Wirklichkeit waren nur wenige Sekunden verstrichen. »Sir, schalten Sie ihn aus!« rief Harvey keuchend.
Peter hütete sich, den Kopf zu wenden. Der Zombie hätte zu leicht die Gelegenheit nutzen können. »Und wie?« rief er zurück. »Soll ich ihn bitten, uns zum Wagen zu folgen?« Darauf hatte Harvey keine Antwort. Sie wäre auch zu spät gekommen, denn aus dem Stand heraus warf sich der Untote gegen die Mauer. Was wie ein sinnloser Zerstörungsversuch aussah, wurde zur gelungenen Flucht. Unter der unheimlichen Kraft des Untoten barst die Mauer vom Boden bis zur Decke. Ziegel fielen nach draußen. Sonnenlicht flutete herein. Ehe Peter etwas gegen den Zombie unternehmen konnte, brach sich der Killer aus dem Jenseits eine Bahn und verschwand hinter der Raststätte. Erst jetzt drehte sich Peter kurz nach seinem Butler um. »Sind Sie okay, Harvey?« fragte er knapp. Harvey verzog zwar schmerzlich das Gesicht, nickte jedoch. Peter Winslow drängte sich durch die Öffnung in der Mauer. Er sah eben noch den Untoten zwischen den dichten Büschen hinter der Raststätte verschwinden und hetzte hinterher, fand den Angreifer jedoch nicht mehr. Kurz danach traf Polizei ein. Hinterher erfuhr Peter Winslow, daß der Streifenwagen in Rekordzeit gekom18 �
men war. Der ganze Kampf hatte höchstens zwei Minuten gedauert. Er und Harvey mußten zur nächsten Polizeistation mitfahren und ihre Aussagen machen. Beide behaupteten, sie wären von einem Unbekannten überfallen worden. Sie verschwiegen allerdings, um was für einen Angreifer es sich gehandelt hatte. Sie hätten nur noch mehr Zeit verloren, da ihnen niemand ihre Geschichte abgekauft hätte. Als sie endlich weiterfahren konnten, sank die Sonne bereits. »Wie fühlen Sie sich?« erkundigte sich Peter bei seinem Begleiter. »Sehr erschöpft«, gestand Harvey. »Erzählen Sie mir kurz, wie es dazu kam«, sagte der Großmeister. »Danach schlafen Sie sich aus!« Bisher hatte Harvey nur die offizielle Version für die Polizei gegeben. Jetzt schilderte er, daß er Peter Winslow in der Tür zu den Waschräumen gesehen hatte. »Ich war hundertprozentig überzeugt, daß Sie es waren, Sir«, versicherte er. »Sie winkten mir zu.« »Keine Rede«, erklärte Peter. »Ich habe telefoniert.« »Dann haben unsere Feinde den Untoten mit einer gefährlichen Fähigkeit ausgestattet«, meinte Harvey. »Er kann eine andere Gestalt annehmen. Nun, ich wollte zu Ihnen gehen. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, als ich einen Schlag auf den Kopf erhielt und das
Bewußtsein verlor. Das ist alles.« »Schlafen Sie jetzt«, sagte Peter. Dem Butler mußte es schon sehr schlecht gehen, daß er auf seine geschraubte Ausdrucksweise verzichtete. »Ich wecke Sie morgen früh.« »Wollen Sie die ganze Nacht durchfahren?« fragte Harvey besorgt. »Sie muten sich zuviel zu.« »Ich muß so weit fahren, wie es geht«, antwortete Peter ungeduldig. »Wir haben zuviel Zeit verloren, und der Hilferuf war mehr als dringend.« Harvey verzichtete auf Widerrede. Vor allem war er wirklich zu erschöpft, um sich mit dem Großmeister zu streiten. Kaum hatte er sich auf den Rücksitzen zur Seite gelegt, als er auch schon schlief. Peter Winslow nahm sich fest vor, sein Bestes zu geben. Auf der Autobahn kam er zügig voran, auch wenn es doppelt ermüdend war. Stundenlang fuhr er, ohne in seiner Konzentration nachzulassen. Manchmal hatte er das Gefühl, daß ihm ein Wagen folgte, doch nach einer Weile waren die Scheinwerfer verschwunden. Tauchte danach ein Fahrzeug im Rückspiegel auf, besaßen die Scheinwerfer zueinander eine ganz andere Stellung. Peter war beruhigt. Er hätte einen Trick gewittert, wäre er selbst nicht ebenfalls schon müde geworden. Da er Harvey nicht 19 �
wecken wollte, fuhr er trotzdem weiter. Gegen zwei Uhr nachts gab er den Kampf auf. Er überzeugte sich, daß im Moment hinter ihm kein Fahrzeug war. Dann zog er seinen Wagen auf einen Parkplatz, schaltete Motor und Lichter aus und ließ das Auto hinter ein dichtes Gebüsch rollen. Hier konnte er sich einigermaßen sicher fühlen. Er verriegelte alle Türen von innen und schloß die Fenster, kippte die Rückenlehne und schloß die Augen. Da er auf der Stelle einschlief, sah er nicht mehr den Wagen, der am Beginn des Parkplatzes hielt. Die Insassen brauchten die Lichter nicht zu löschen, da sie die letzten Meilen ohne Licht gefahren waren. Sie begannen zu warten… * In Schottland wurden die drei jungen Moorwanderer nicht vermißt. Sie hatten sich nirgendwo abgemeldet und wurden nicht erwartet. Die einsame Hütte im Moor kannte niemand. Der greise Besitzer der Hütte war völlig unbekannt. Daher sorgte sich auch niemand, als über diesem Teil des Moors heftige Unwetter niedergingen. Sturm verwüstete zusammen mit Hagel weite Teile des Moores. Stundenlang war trotz der hochsommer-
lichen Temperaturen ein weites Gebiet von einem dicken Eispanzer bedeckt. Der Sturm erreichte solche Stärken, daß er mächtige alte Bäume entwurzelte und wie Grashalme über das kahle Land trug. Nach dem Hagel kam der Regen, und er peitschte mit solcher Heftigkeit auf die Moore nieder, daß innerhalb weniger Minuten alle Wege unpassierbar wurden. Die Menschen in den umliegenden Dörfern nahmen diese Erscheinungen als Naturkatastrophe hin. Rundfunk und Fernsehen berichteten bis spät in die Nacht aktuell aus dem Katastrophengebiet. Es gab praktisch kein Durchkommen mehr. Auch alle Straßen waren überflutet oder unterspült. In den letzten Abendnachrichten um ein Uhr nachts berichtete das Fernsehen auch von einem rätselhaften Überfall in einer Raststätte an der Autobahn. Auf diese Weise erfuhren die Bewohner von Sagon Manor von diesem Kampf. Lord Hubbard Winslow ahnte, daß es etwas mit seinem Sohn zu tun hatte. Er beschloß, von sich aus etwas zu unternehmen. Maud hatte sich seit ihrer Abreise nicht mehr gemeldet. Lord Hubbard nahm es als gutes Zeichen. Wäre etwas geschehen, hätte sie ihm Nachricht gegeben. Dennoch wollte er nicht herumsit20 �
zen und abwarten. »Sie gehen noch einmal weg?« fragte Mrs. Applegast, die Köchin von Sagon Manor. Trotz ihres beträchtlichen Leibesumfanges und des stets freundlichen Lächelns und ihrer scheinbaren Unbeholfenheit gehörte sie zum Orden der Weißmagier. »Ja«, antwortete Lord Hubbard. »Ich will frische Luft schnappen, Mrs. Applegast.« »So!« Die Köchin stemmte die Fäuste in die Hüften. »Luft schnappen! Mit der Armbrust und den Silberpfeilen?« Lord Hubbard wußte, daß er seiner Helferin nichts vormachen konnte. »Ich muß immer auf alles vorbereitet sein«, sagte er dennoch ausweichend. »Unsinn!« fuhr ihn die Köchin energisch an. »Sagon Manor ist durch einen unüberwindlichen weißmagischen Bann geschützt! Sie brauchen keine Armbrust, solange Sie sich auf Ihrem eigenen Besitz aufhalten! Wohin gehen Sie?« Seufzend lenkte Lord Hubbard Winslow ein. Gegen seine Köchin kam er nicht auf. »Ich will Mortland einen Besuch abstatten«, sagte er grimmig. »Ich war schon lange nicht drüben!« Mrs. Applegast riß die kleinen Augen entsetzt auf. »Bleiben Sie doch hier, Sir!« rief sie. »Was wollen Sie da drüben? Sie wissen doch, daß
es dort drüben nur so von Feinden wimmelt!« »Genau deshalb gehe ich hinüber«, sagte der Lord leise. »Es wird Zeit, diesen Stall wieder einmal gründlich auszumisten!« »Nehmen Sie mich mit«, bat die Köchin. »Nein!« entschied Lord Hubbard. »Sie halten hier die Stellung, Mrs. Applegast.« Die Köchin war gar nicht zufrieden, konnte jedoch ihren ehemaligen Großmeister nicht zurückhalten. Mit geballten Fäusten und fest zusammengepreßten Lippen blickte sie ihm nach, als er in der Dunkelheit verschwand. Sie wußte genau wie der Lord, daß sein nächtliches Unternehmen sinnlos war. Genau so gut hätte er versuchen können, in Brighton am Strand das Meer leerzuschöpfen. Mortland war ein Stützpunkt des Bösen, und wenn er zehn Helfer der Hölle ausschaltete, kamen zwanzig andere nach. Mortland war nicht so einfach auszulöschen. Wenige Minuten nach Lord Hubbards Aufbruch erklang von Mortland herüber ein häßlicher Schrei. Totenvögel krächzten in den Zweigen. Von den Türmen zuckten rote Blitze. Mrs. Applegast hielt es nicht mehr aus. Sie eilte in das Herrenhaus, bewaffnete sich und folgte dem 21 �
Lord. Wieder ertönte ein Schrei. Diesmal erkannte sie die Stimme sofort. »Lord Hubbard!« schrie sie entsetzt. Und noch ein Schrei… Lord Hubbard Winslow schwebte in höchster Lebensgefahr! * Ein hartnäckiges Geräusch drängte sich in Peter Winslows tiefen und gleichmäßigen Schlaf. Er wischte sich unwillig über das Gesicht, als könne er damit die Störung beseitigen. Das Geräusch blieb, und es jagte ihn schließlich hoch. Erschrocken erkannte er seinen Leichtsinn. Er und Harvey, allein auf einem stockdunklen Parkplatz neben der Autobahn! Das mußte ihre Feinde geradezu herausfordern. Es war so gut wie nichts zu erkennen. Der Himmel war bedeckt. Dennoch bildete er einen etwas helleren Hintergrund, vor dem sich drei Gestalten abhoben. Eine Person klopfte gegen die Seitenscheibe. Das war das Geräusch, das den jungen Großmeister geweckt hatte. »Was ist?« murmelte Harvey schlaftrunken von den Rücksitzen. Er war noch nicht ganz bei sich. »Still!« zischte Peter.
Er tastete nach der Taschenlampe in der Ablage, richtete sie auf den nächtlichen Störenfried und drückte den Schalter. Der Lichtstrahl stach der Person vor dem Wagen direkt ins Gesicht. Peter hatte damit gerechnet und die Augen halb geschlossen. Dennoch wurde er geblendet und sah sekundenlang gar nichts. Als er die Augen wieder aufschlug, blickte er in ein sehr junges Männergesicht. Die beiden Begleiter des jungen Mannes, ein hübsches Mädchen um die Achtzehn und ein gleichaltriger Mann, hielten die Hände schützend vor die Augen. Die beiden Männer sahen einander ähnlich, stellte Peter fest, ehe er die Scheibe ein kleines Stück herunterkurbelte. »Was gibt es?« fragte er schroff. »Verzeihung«, sagte der Jüngste in der Runde mit heller Stimme, »könnten Sie uns mitnehmen? Wir wollen nach Schottland.« »Und das fragt ihr mich mitten in der Nacht?« Peter leuchtete für einen Moment auf das Armaturenbrett. »Um drei Uhr morgens? Wo kommt ihr her?« »Aus London«, antwortete das Mädchen. Peter winkte ungeduldig ab. »Ich meine, jetzt! Wo kommt ihr jetzt her?« »Autostop«, antwortete der Jüngste. »Ein Autofahrer hat uns bis 22 �
zur letzten Raststätte mitgenommen. Dort hat er uns abgesetzt.« »Na und?« Peter wurde immer mißtrauischer. Er erinnerte sich allerdings, daß drei Meilen hinter ihnen eine Raststätte lag. »Wie kommt ihr auf diesen Parkplatz?« »Wir sind zu Fuß gegangen«, erklärte der ältere der beiden jungen Männer. Er mochte knapp zwanzig sein. »Wir wollten das Geld für das Motel sparen. Also sind wir hierher gegangen und haben weiter drinnen in der Anlage auf Bänken geschlafen. Mein Bruder ist vor einigen Minuten wach geworden und hat Ihren Wagen gesehen.« Harvey beugte sich nach vorne. »Vorsicht, Sir«, raunte er seinem jungen Herrn ins Ohr. »Die sind schon unter normalen Umständen verdächtig.« »Sie belieben, die Wahrheit unverblümt auszusprechen, Harvey«, sagte Peter grinsend und ahmte den üblichen Tonfall seines Butlers nach. »Was ist nun?« erkundigte sich der Jüngste gähnend. »Nehmen Sie uns mit, wenn Sie weiterfahren?« »Ja, okay«, entschied Peter. Er erinnerte sich daran, daß auch er gern völlig ungebunden durch das Land getrampt wäre, es aber nie mehr tun konnte. Nur deshalb gab er nach. »Wir schlafen noch eine Runde. So lange müßt ihr schon auf den Bänken bleiben. Aber keine Angst, wir fahren nicht ohne euch ab.«
»Vielen Dank!« sagte das Mädchen mit einem Lächeln, das Peter unter die Haut ging. »Ich heiße übrigens Jenny. Jenny Thrompton. Diese beiden sind Brüder.« »Jake Dermoth«, stellte sich der Ältere vor. »Und das ist Bob, mein kleiner Bruder! Und Sie?« »Ich heiße Frank Potter«, antwortete Peter, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das ist mein Vater!« »Okay!« Jake Dermoth nickte den beiden Männern im Auto zu. »Dann schlafen Sie noch ein paar Stunden!« »Und vergessen Sie uns nicht!« rief Bob, als sie schon zu den Bänken gingen und sich darauf ausstreckten. »Wir sind für jede Meile dankbar, die Sie uns mitnehmen!« Peter schaltete die Taschenlampe aus. Am Horizont erschien der erste graue Streifen. Das Licht reichte aus, um die drei Gestalten auf den Bänken zu erkennen. »Haben Sie keinen Fehler gemacht, Sir?« fragte Harvey sorgenvoll. »Wenn das nur keine Feinde sind!« »Warum sollten sie?« Peter Winslow schüttelte den Kopf, während er es sich wieder bequem machte. »Wir parken hier an einer völlig einsamen, dunklen Stelle. Hätten Sie uns umbringen wollen, wären wir vermutlich nicht mehr am Leben.« »Ich meine nur, daß…«, setzte Butler Harvey an. »Okay!« Peter schloß die Augen. 23 �
»Schlafen Sie… Daddy!« Wegen der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, welches Gesicht sein Butler im Moment machte. Er hätte es nur zu gern gesehen. Seit er Großmeister war, kam er ohnedies viel zu selten zum Lachen. * Ohne auf Hindernisse zu achten, brach Mrs. Applegast durch die Büsche an der Grundstücksgrenze. Sie verließ den sicheren Boden von: Sagon Manor und wagte sich auf das trügerische Gebiet. von Mortland. »Lord Hubbard!« rief sie ängstlich. »Wo sind Sie?« Der Lord antwortete nicht. Sie war vernünftig genug, von jetzt an genau darauf zu achten, wohin sie ging. Überall gab es Fallgruben, ehemalige Gewölbe, deren Decken eingestürzt waren. Ein falscher Tritt, und sie landete in der Unterwelt von Mortland. Und dort lauerten Monstren, von denen sich gewöhnliche Menschen keine Vorstellung machten. Sie erreichte die erste dieser Gruben und hob den abgebrochenen Speer. Sie hatte sich die alte Waffe aus dem Arbeitszimmer des Lords geholt. Dort hing sie an der Wand und erinnerte an einen Verteidiger des Guten. Mrs. Applegast wußte nicht, wem der Speer einmal gehört
hatte. Sie wußte nur, daß er gut in der Hand lag und gegen Helfer des Bösen wirkte! Und darauf kam es ihr an. In der Tiefe der Grube krochen Gestalten übereinander wie Schlangen in einer Schlangengrube. Es waren Untote. Als die Köchin von Sagon Manor genauer hinsah und erkannte, in welchem Zustand sich die Zombies befanden, prallte sie entsetzt zurück. Kein Bewohner von Sagon Manor kam oft nach Mortland. Es war einfach zu gefährlich und selbstmörderisch. Deshalb hatte Mrs. Applegast noch nie solche Untote gesehen. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie weitereilte. Von Lord Hubbard kam kein Lebenszeichen mehr. Entsetzliche Angst trieb die Frau an. Wenn sie nun zu spät kam! Nicht auszudenken! Vor ihr klafften zwei tiefe und breite Löcher im Rasen vor dem ausgebrannten Hauptgebäude von Mortland. Wegen der dichten Büsche konnte sie die Gruben nicht umgehen, sondern mußte den schmalen Weg zwischen ihnen nehmen. Sie packte den abgebrochenen Speer fester, richtete die Spitze nach unten und balancierte über den schmalen Steg. Trotz ihrer Leibesfülle gelang es ihr ausgezeichnet. Sie wäre auch 24 �
ohne Zwischenfall auf die andere Seite gelangt, hätte sich nicht in diesem Moment aus der rechten Grube ein Skelett hochgeschnellt. Mrs. Applegast schrie auf, als sich harte, eisige Finger wie ein Schraubstock um ihren Knöchel legten. Das Skelett versuchte, sie in die Grube zu zerren. Das wäre ihr Tod gewesen! Trotz ihres Entsetzens rammte Mrs. Applegast den Speer nach unten und traf das Skelett. Die Spitze glitt durch den Knochenmann hindurch, als wäre er gar nicht vorhanden. Im nächsten Moment löste sich das Gerippe in seine Einzelteile auf, die klappernd in die Grube polterten. Der Speer hatte seine weißmagische Kraft noch immer nicht verloren. Nach drei Schritten stockte Mrs. Applegast erneut. Zu spät entdeckte sie die Fangarme, die aus der linken Grube auf sie zuschnellten. Sie waren schwarz wie die Nacht, die über Mortland lastete, und gehörten einer überdimensionalen Spinne. Die Bestie hockte in sicherer Entfernung auf dem Grund der Grube. Der mit schwarzem Pelz bedeckte Körper der Spinne blähte sich auf und zog sich pulsierend zusammen. Das Monster war etwa so groß wie ein ausgewachsenes Schaf. Dazu kamen noch die langen Beine, die unruhig vibrierten. Es brannte, als
sich zwei Fangarme um Mrs. Applegasts Beine legten. Sie schrie schrill auf und versuchte, mit der Speerspitze die Arme zu treffen. Da die Spinne sie jedoch im selben Moment von den Beinen riß, verfehlte sie die Fangarme, stürzte und krallte sich mit bloßen Fingern im weichen Untergrund fest. Es half nichts. Sie fand keinen Halt. Die Spinne besaß ungeheure Kräfte. Noch ein Ruck hätte genügt, um Mrs. Applegast in den Rachen des Ungeheuers zu schleudern. Die Luft blieb ihr weg. Sie gab sich verloren. Neben ihr ertönte ein helles Zischen und das singende Geräusch einer zurückschnellenden Sehne. Aus der Grube erscholl schrilles Heulen. Der Druck an ihren Beinen ließ nach, das Brennen auf ihrer Haut verschwand. Ihre Finger gruben sich wieder in den Boden, und sie konnte sich langsam hochstemmen. Ihr erster Blick fiel auf ihre Knöchel. Wo die bepelzten Spinnenbeine ihre Haut berührt hatten, war sie rot verfärbt. Der zweite Blick galt den Fangarmen. Sie lösten sich zuckend und glitten in die Grube hinunter. Mit dem dritten Blick schließlich erfaßte sie das pulsierende Scheusal, das von einem silbernen Pfeil getroffen worden war. Gegen das weißmagische Metall 25 �
kam die Spinne nicht an, mochte sie auch aus einer anderen Dimension stammen und direkt aus der Hölle gesandt worden sein! Sie blähte sich noch einmal auf und zerplatzte… »Sir!« Unendlich erleichtert ließ sich Mrs. Applegast von Lord Hubbard auf die Beine helfen. Ein wenig schwankend stand sie auf sicherem Untergrund und stützte sich schwer auf seinen Arm. »Ich hörte Ihre Schreie. Was war denn los? Ich habe schon gedacht, Sie wären… Sie wissen schon!« »Ich wurde auch angegriffen«, erwiderte der Lord. Er trug eine Taschenlampe bei sich. In ihrem Schein sah die Köchin, daß er leichenblaß war. »Sie hätten auf mich hören sollen«, sagte Mrs. Applegast resolut. »Aber nein, Sie glauben, daß Ihre Köchin dumm ist und sich nur um die Küche kümmern soll!« »Hören Sie auf«, murmelte der Lord niedergeschlagen. »Kommen Sie mit!« Er führte sie zu dem Eingang des Hauptgebäudes, und Emily Applegast sah schon von weitem, daß dort etwas nicht stimmte. Mehrere Brände hatten auf Mortland gewütet, aber keiner hatte das Gebäude zerstört. Es war zu stabil gebaut und stand unter einem unheiligen, mächtigen Schutz. Die Außenmauern waren
geschwärzt. Neben dem Hauptportal war diese Schwärze unterbrochen. Dort erkannte die Köchin ein lebensgroßes Abbild des jungen Großmeisters. Es war ein Bild und nicht Wirklichkeit. Dennoch jagte es eisige Schauder über Mrs. Applegasts Rücken. Sie konnte sich leicht ausmalen, welchen Eindruck das magische Bild auf den Lord machte. Lord Hubbard Winslow sah nämlich ein Abbild seines Sohnes vor sich, das den jungen Großmeister als Leiche zeigte. Er lag in einer düsteren Moorlandschaft neben der Leiche des Butlers Harvey. Beide Männer mußten einem übermächtigen Feind in die Hände gefallen sein. Einem Feind, der sich schauerlich für alles gerächt hatte, was die beiden dem Bösen zugefügt hatten. »Um Himmels willen!« Mrs. Applegast schlug die Hände vor das Gesicht. Sie wagte kaum, die Abbildungen der beiden Toten anzusehen. »Kommen Sie bloß schnell weg, Sir! Das ist eine Botschaft! Eine Warnung! Schnell, kommen Sie!« Als sich Lord Hubbard nicht von der Stelle rührte, packte sie ihn einfach am Arm und zerrte ihn mit sich. Sie mußte zwei Skelette mit dem Speer abwehren, und der Lord traf mit seiner Armbrust einen Zombie. Dann überschritten sie wieder die Linie zwischen Mortland und Sagon 26 �
Manor und befanden sich in Sicherheit. Aber das Bild der beiden Toten an der Hausmauer nahmen sie mit sich. Das konnten sie nicht mehr vergessen. »Sir!« Mrs. Applegast legte dem verstörten Lord die Hand auf den Arm. »Sir, nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen. Ihre Feinde wollten Ihnen eins auswischen, das ist alles. Den beiden ist schon nichts passiert. Peter ist so ein kluger Junge! Ich kenne ihn doch seit vielen Jahren, und ich weiß, daß ihm nichts zustoßen kann!« Lord Hubbard Winslow sah seine treue Helferin seufzend an. »Sie haben recht, Mrs. Applegast«, sagte er wider sein besseres Wissen. »Ja, Sie haben recht. Den beiden kann gar nichts zustoßen!« Mit hängenden Schultern betrat er das Herrenhaus und zog sich nach oben in seine Räume zurück. Mrs. Applegast versuchte auch noch, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Sie wälzte sich jedoch unruhig in ihrem Bett hin und her. Der Lord hatte genau gewußt, daß sie ihm nur Mut machen wollte. Er hatte sie durchschaut. Hätte sie doch bloß selbst daran glauben können, daß dem Großmeister nichts zustoßen würde. Sie befürchtete jedoch, daß dieses magische Bild an der Mauer von Mortland ein Blick in die Zukunft gewe-
sen war. In die allernächste Zukunft sogar. Peter Winslow und Harvey waren schließlich zu einem Moor unterwegs. Wenn die Prophezeiung von Mortland eintraf, sollte das Moor zu ihrem Grab werden! * Gähnend versuchte Peter Winslow, sich zu recken. Sonst klappte das nach dem Aufwachen immer sehr gut. Nur diesmal hatte er Schwierigkeiten, weil er überall gegen Wände stieß. Das brachte ihn endlich in die Wirklichkeit. Er setzte sich auf dem Fahrersitz auf und gähnte herzzerreißend. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sich jeden Morgen ungefähr zwei Stunden zum Aufwachen Zeit genommen. Diesmal mußte es schneller gehen. Butler Harvey stand bereits neben dem Wagen und beugte sich jetzt zu Peter. Der junge Großmeister kurbelte das Fenster herunter. »Einen schönen guten Morgen, Sir«, grüßte Harvey. »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Autostopper noch immer hier sind und warten?« »Guten Morgen, Harvey.« Peter lächelte unbekümmert. »Warum sollten sie nicht warten? Sie wollen mitfahren.« 27 �
»Darf ich noch einmal darauf hinweisen, daß die Gefahr…«, mahnte der Butler. »Ja, Sie dürfen«, antwortete Peter, stieg aus und brachte sich mit einem kurzen Waldlauf in Form. »Fahren wir!« rief er den drei jungen Leuten zu. Insgeheim beneidete er sie. Sie waren nur wenig jünger als er und können ihr Leben unbeschwert genießen. Er zwang sich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken. Es brachte nichts ein, wenn er Vergleiche zwischen sich und Gleichaltrigen zog. Er wurde höchstens unzufrieden. Peter übernahm das Steuer. Die Autobahn war wie leergefegt. Es war noch so zeitig am Morgen, daß die große Reisewelle nicht eingesetzt hatte. »Du wollst in die schottischen Moore?« erkundigte sich Peter, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Butler Harvey schwieg beharrlich. Er saß hinten, um die Autostopper ununterbrochen im Auge behalten zu können. »Ja, wir wollen wandern«, erklärte Jenny Thrompton. »Wir waren schon ein paarmal in Schottland und kennen uns in den Mooren aus. Ich bin sogar in Schottland geboren und erst später nach London umgezogen. Darum kehre ich immer wieder in meine ursprüngliche Heimat zurück. Ich habe Sehnsucht nach der
düsteren Landschaft.« »Ich kenne mich in Schottland auch ganz gut aus«, erklärte Peter Winslow. Bald kam ein interessantes Gespräch zustande. Harvey schwieg eisern. Es war schon richtig peinlich. Die drei Autostopper störten sich jedoch nicht daran. Sie plauderten fröhlich drauflos, als wären sie und Peter alte Freunde. Der Großmeister wiegte sich völlig in Sicherheit. Harvey war bei ihm, und die drei jungen Leute gefielen ihm. Am liebsten hätte er sich ihnen bei ihrer Moorwanderung angeschlossen. Das Wort Moorwanderung brachte ihn jedoch auf den Boden der Tatsachen zurück. Er mußte sich um den Ältesten des Ordens der Weißmagier kümmern. Der Alte aus dem Moor war ein unersetzlicher Ratgeber und eine solche Respektsperson, daß jedes Ordensmitglied für ihn sein Leben gewagt hätte. »Sie sagen gar nichts?« fragte Jake Dermoth. »Haben Sie nicht gehört, was mein Bruder gefragt hat?« »Nein, tut mir leid«, entschuldigte sich Peter Winslow. »Ich war mit meinen Gedanken so weit weg! Was war es denn?« »Ich wollt wissen, ob…«, begann Bob Dermoth. Er konnte den Satz nicht vollenden. Der Wagen wurde von einem 28 �
fürchterlichen Schlag getroffen. Es war, als wäre das Auto von einem unsichtbaren Truck gerammt worden. Peter wurde im ersten Schock das Steuer aus der Hand geprellt. Er packte es und klammerte sich verzweifelt daran fest, während der Wagen schräg auf die seitliche Leitplanke zuschlitterte. Die Reifen kreischten ohrenbetäubend auf dem Asphalt. Die Autostopper schrien entsetzt. Nur Harvey und Peter schwiegen in diesen kritischen Sekunden. Peter bekam endlich das Lenkrad unter Kontrolle und versuchte, gegenzusteuern und den Wagen abzufangen. Er war ein ausgezeichneter Autofahrer, doch der Wagen reagierte nicht normal. Er drehte sich in die falsche Richtung! Harvey zog den Kopf ein, als sie direkt auf die seitliche Leitplanke zurasten. Peter drehte blitzschnell das Steuer in die andere Richtung, doch das Auto reagierte gar nicht. Die Lenkung war ausgefallen! Er konnte den Wagen überhaupt nicht mehr steuern. Sein Fuß preßte sich mit aller Kraft auf die Bremse. Der Wagen brach aus und raste wieder auf die Mittellinie zu. Hastig löste der Großmeister ein wenig den Pedaldruck, und der
Wagen schwenkte ungefähr auf eine gerade Linie. Dabei bremste er stark ab. Doch dann kam der nächste Stoß des unsichtbaren Feindes, und diesmal wurde der Wagen von der Fahrbahn hochgehoben. In einem flachen Winkel schoß er mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Leitplanke hinaus und prallte auf ein Feld neben der Autobahn. Peter fiel in den Gurt, spürte einen unerträglichen Druck auf der Brust, stemmte sich von dem Lenkrad ab, so gut er konnte, und verlor die Orientierung. Der Wagen drehte sich mehrmals auf der Stelle und überschlug sich, ratschte auf dem Dach weiter, kippte auf die Seite und blieb liegen. Dabei stieß Peter mit dem Kopf gegen den Seitenholm der Tür. Er verlor nicht das Bewußtsein, aber er war benommen. Sein einziger Gedanke war, daß er aus dem Wagen hinaus mußte. Nur von draußen konnte er Harvey helfen. Und es mußte schnell gehen, falls das Wrack Feuer fing. Er stemmte sich hoch. Alles Weitere erlebte er nur durch einen dichten Nebel hindurch. Er kletterte über jemanden, hörte keine Schreie und kein Stöhnen, erreichte das jetzt nach oben zeigende Seitenfenster und kletterte hindurch. 29 �
Draußen ließ er sich auf den Boden sinken, der unter seinen Füßen nachgab. Instinktiv erkannte er, daß ihnen das weiche Feld das Leben gerettet hatte. Die Erde hatte ihre Amokfahrt gebremst und die schlimmsten Auswirkungen gemildert. Irgendwo knisterte es verdächtig. Es stank nach Benzin. Das brachte Peter ganz zu sich. »Harvey!« schrie er und beugte sich über die Seite des Wagens, die nun zum Himmel zeigte. Durch das geborstene hintere Seitenfenster sah er seinen Butler. Harvey stand unter einem Schock, schien aber unverletzt zu sein. Peter streckte ihm die Hand entgegen, doch der Butler griff nicht danach. Kurz entschlossen krallte Peter seine Finger in die Jacke seines Begleiters und hievte ihn keuchend aus dem Wrack. Im letzten Moment kam Harvey auch wieder zu sich und half nach. Erschöpft fielen die beiden Männer auf das Feld. Oben auf der Autobahn hupte ein Wagen schrill und langgezogen. Peter kümmerte sich nicht darum. Er sah nämlich den Rauch, der unter der zerknautschten Motorhaube hervorquoll. »Die Autostopper!« rief er erschrocken. »Bleiben Sie hier, Sir!« warnte Harvey und wollte seinen jungen Herrn
zurückhalten. Der Wagen geriet schnell in Brand. Dem Rauch folgten Flammen. Noch hatten sie das Wageninnere nicht erreicht, aber es war nur eine Frage von höchstens einer Minute, bis sie den Benzintank erfassen würden. Peter Winslow stolperte auf den Wagen zu, krallte sich am Dachholm fest und blickte in das Innere. Er blickte nicht – er starrte! Ungläubig stierte er in das leere Auto… * Hände packten Peter Winslow und zerrten ihn von dem brennenden Wagen zurück. Keine Sekunde zu früh. Mit einem gedämpften Knall platzte der Tank. Der Wagen explodierte nicht, aber eine breite Feuersäule stieg in den Himmel. Schwarzer Qualm wälzte sich über das Feld. »Schnell, Peter, komm!« Eine hübsche junge Frau, rothaarig, Sommersprossen, grüne Augen… Sie zerrte Peter weiter. Er blickte sie an, ohne zu begreifen, starrte zurück zu seinem Auto, dann wieder auf die Frau. Endlich verstand er. »Maud?« Peter blieb stehen. »Was machst du hier?« »Unwichtig«, wehrte Maud Orwell ab. »Es ist besser, wir ziehen uns noch ein Stück zurück.« 30 �
»Die Autostopper!« Peter schüttelte den Kopf. »Denen kann jetzt niemand mehr helfen«, sagte Maud heiser. »Sie sind verschwunden!« Peter räusperte sich. »Sie haben sich in Luft aufgelöst. Also war es doch eine Falle! Sie haben mit magischen Kräften den Wagen von der Straße katapultiert.« »Schon gut, Peter, komm jetzt!« Maud rannte in Richtung Autobahn und zog Peter mit sich. Sie merkte deutlich, daß bei ihm der Schock des Unfalls nachwirkte. Sonst war er nämlich reaktionsschneller als alle anderen. Im Laufen drehte Peter sich um und sah, daß sich ein Mann um Harvey kümmerte, ihm auf die Beine half und ihn halb führte, halb trug. Peter kannte den Mann. Sein Gehirn war aber noch so vernebelt, daß er nicht auf den Namen kam. Sie erreichten die Böschung der Autobahn. Peter ließ sich seufzend ins Gras fallen und rollte sich herum. Harvey stolperte auf ihn zu. Jetzt erkannte der Großmeister auch den Helfer. Mark Baker wurde Satansspürer genannt, weil er die Spur des Bösen verfolgen konnte. »Alles in Ordnung, Sir?« rief Butler Harvey und ließ sich neben Peter fallen. »Ich habe mich noch nie so blendend gefühlt«, gab Peter grimmig
zurück. Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der Erdboden erzitterte. Das Wrack flog mit einer gewaltigen Explosion in die Luft. Eine riesige Stichflamme erhob sich brüllend aus dem Feld und jagte haushoch gegen den Himmel. Der Boden hob und senkte sich wie bei einem Erdbeben. Der Luftdruck schleuderte Peter Grasbüschel und Erde ins Gesicht. Es schepperte hinter dem Großmeister. Ein Teil der Karosserie war gegen die Leitplanke geprallt. Andere Trümmer sausten wie Geschosse durch die Luft. Oben auf der Autobahn erklangen Schreie. Zahlreiche Helfer und Neugierige hatten angehalten. Viele wurden durch die Explosion umgeworfen. »Das war knapp, vielen Dank!« Peter legte Maud die Hand auf die Schulter. »Wieso hast du gewußt, daß die alte Karre doch noch in die Luft fliegt?« »Weil das keine gewöhnliche Explosion war«, erwiderte Maud. »Und weil der Satansspürer euren Wagen seit London praktisch nur mit seiner speziellen Begabung verfolgt hat.« Peter wandte erstaunt den Blick von dem glühenden Wrack und sah Maud an. »Was soll das heißen?« »Der Satansspürer verfolgt die Spur von Schwarzmagiern und 31 �
Dämonen«, erklärte Maud. »Weiß ich!« fuhr Peter nervös auf. »Euer Wagen wurde ununterbrochen von Schwarzmagiern und Dämonen verfolgt.« Maud zuckte die Schultern. »Wir haben letzte Nacht am Rand des Parkplatzes Wache gehalten. Du kannst dir kaum vorstellen, Peter, wie aktiv die Gegenseite war. Der gesamte Parkplatz war mit Schwarzer Magie verseucht.« Der Satansspürer nickte Peter zu. Er hatte Mauds letzte Worte gehört. »Ich konnte nicht feststellen, ob die Autostopper auch zur Gegenseite gehörten«, meinte er. »Es gab einfach zu viele Hinweise. Jetzt wissen wir es sicher, Sie gehörten zur Gegenseite!« »Danke, das kommt etwas zu spät«, sagte Peter sarkastisch. Er beobachtete das Eintreffen von Polizei und Krankenwagen. Auch die Feuerwehr rückte an. Der Großmeister schickte die Sanitäter zu Harvey, der sich einige Beulen und Schrammen geholt hatte. Er selbst war schon wieder in Ordnung. »Wessen Idee war es eigentlich, mir zwei unserer besten Leute auf die Fersen zu heften?« erkundigte sich Peter. Maud lächelte. »Dein Vater hat sich Sorgen gemacht. Er gab mir nicht direkt den Auftrag, aber er deutete es an, ich sollte Mr. Baker
besuchen.« Peter lächelte in sich hinein, als Maud einen tadelnden Blick von Harvey auffing. Es gefiel dem Butler überhaupt nicht, daß sie Peter Winslow so vertraulich ansprach. Ändern konnte er es jedoch nicht, da Peter selbst es wünschte. »Der gute Daddy«, murmelte Peter. »Ich rufe ihn von der nächsten Raststätte aus an. Und Sie passen dann auf sich auf, Harvey«, sagte er grinsend zu seinem Butler. »Ich möcht mich nicht wieder Ihretwegen herumprügeln müssen.« »Ich werde mir Mühe gehen, Sir«, antwortete Harvey, »schwierige Situationen zu vermeiden.« Ein Polizeioffizier kam die Böschung herunter. Er blieb vor Peter und Harvey stehen. »Sie schon wieder?« rief er. »Was machen Sie hier?« »Picknick«, antwortete Peter Winslow. »So machen wir das immer. Wir verbrennen zuerst unseren Wagen.« Mißtrauisch betrachtete er den Polizisten. Er konnte sich gut an den Mann erinnern. Bei den Verhören wegen des Überfalls in der Raststätte war er dabei gewesen, hatte sich allerdings im Hintergrund gehalten. Was machte er jetzt an der Unfallstelle, die viele Meilen weiter nördlich lag? »Ich sehe mir den Wagen an«, entschied der Polizist. »Anschließend 32 �
unterhalten wir uns genauer.« »Das weiß ich noch nicht«, antwortete Peter scharf. »Ich möchte erst wissen, wieso Sie scheinbar überall gleichzeitig sind.« »Das werden Sie bei Gelegenheit schon erfahren, Mr. Winslow«, erwiderte der Polizist. Später auf der Polizeiwache stellte sich heraus, daß alles stimmte. Es handelte sich um keinen Trick von Peters Feinden. »Ich war auf der Rückfahrt von London«, erklärte der Polizeioffizier. »Da ich Augenzeuge der Auseinandersetzung in der Raststätte war, zog mich die örtliche Polizei zu den Befragungen hinzu. Sind Sie zufrieden, Mr. Winslow?« Peter zuckte die Schultern. »Meinetwegen«, sagte er gespielt gleichgültig. »Aber was haben Sie jetzt mit uns vor? Wir hatten einen Unfall. Vermutlich versagte die Lenkung. Ich konnte das Lenkrad nach allen Richtungen drehen, ohne daß der Wagen reagierte.« »Was nicht mehr zu beweisen ist.« Der Polizist trat an das Fenster und deutete ins Freie. »Dort kommt Ihr Wagen.« Auf einem Lastwagen wurde ein Klumpen verbogenen und geschmolzenen Metalls in den Hof des Polizeigebäudes gefahren. »Wie erklären Sie sich diesen Unfall?« forschte der Polizeioffizier. »Genau so, wie ich es Ihnen schon
gesagt habe«, entgegnete Peter. Er blieb bei dieser Aussage, und einige Stunden später durften sie endlich gehen. Die Polizei glaubte ihnen kein Wort, konnte jedoch auch nichts beweisen. »Eines gebe ich Ihnen allerdings mit auf den Weg, Mr. Winslow«, kündigte der Chef der Polizeistation an. »Ich sage meinen Kollegen im ganzen Land Bescheid. Wo immer Sie auftauchen, werden Sie beobachtet. Mit Ihnen stimmt etwas nicht. Davon bin ich restlos überzeugt.« »Wie gut, daß Sie nicht wetten wollen, daß mit mir etwas nicht stimmt«, antwortete Peter mit ernstem Gesicht. »Sie hätten sonst jetzt schon verloren.« Grinsend verließ er die Polizeistation. »Es war nicht nötig, Sir, den Mann zu reizen«, bemerkte Harvey, während sie die Straße überquerten. »Er tut nur seine Pflicht.« »Ach was?« fuhr Peter auf. »Wir haben Stunden verloren! Der Alte aus dem Moor lebt vielleicht nicht mehr! Haben Sie das vergessen? Er kennt alle Tricks und Kniffe der Weißen Magie und kann sich gegen Angriffe verteidigen! Aber er kann nicht ewig warten!« Harvey sah ein, daß sich sein Großmeister mit Grund geärgert hatte, und schwieg lieber. »Na endlich!« rief Maud, die in einer Teestube gewartet hatte. »Das 33 �
hat lange gedauert!« »Nehmt ihr uns mit?« fragte Peter knapp. Er wollte keine Minute mehr verlieren. »Selbstverständlich«, mischte sich der Satansspürer ein. »Ich habe unseren Wagen schon auftanken und überholen lassen. Wir können bis Edinburgh durchfahren.« »Dann los!« Peter nickte seinen Begleitern zu. »Eigentlich sollte nur ich dem Alten aus dem Moor zu Hilfe kommen, aber vier sind besser als keiner. Wir werden alle aufpassen, daß uns die Gegenseite keine weitere Falle stellt. Vor allem dürfen wir uns nicht mehr aufhalten lassen.« So genau sie auch aufpaßten, es war kein einziger Gegner zu entdecken. Mauds Jeep war zum Glück ein rundum geschlossenes Modell, so daß sie wenigstens nicht dem Fahrtwind ausgeliefert waren. Dafür wurde es für vier Personen unangenehm eng. Hätte Peter Winslow es nicht so eilig gehabt, endlich zu der Hütte des Alten vorzudringen, wäre er mit dem Jeep nicht zufrieden gewesen. Stunden vergingen ohne Zwischenfall. Sie umgingen Edinburgh, jagten weiter durch das schottische Bergland und hofften, die Moore in Rekordzeit zu erreichen. In der Abenddämmerung stellte Harvey eine Frage, die den anderen den Atem verschlug, Peter Winslow
ausgenommen. »Wie finden wir die Hütte des Alten aus dem Moor überhaupt?« Maud wandte sich an den Großmeister. »Wissen Sie das nicht, Sir?« Peter schüttelte den Kopf. »Die Hütte kennt niemand außer dem Alten selbst«, erklärte er. »Der Ordensälteste geht sogar so weit, daß er seine Hütte zeitweise unsichtbar werden läßt, wenn sich zufällig jemand nähert.« »Aber, Sir!« rief nun auch Mark Baker, der Satansspürer. »Wie wollen Sie dann wirklich zu dieser geheimnisvollen Hütte finden?« »Ich weiß ungefähr, in welcher Gegend sie liegt«, erklärte Peter. »Dabei handelt es sich um eines der größten Moore Schottlands. Wir werden den Wagen unterstellen und zu Fuß weitergehen. Und dann müssen wir uns darauf verlassen, daß der Alte aus dem Moor eine Spur gelegt hat, die wir finden.« Maud nickte. »Das hört sich schon besser an. Vielleicht hat er deshalb nach dem Großmeister persönlich gerufen.« Peter wollte sich nicht in Spekulationen verrennen. »Möglich«, sagte er. Damit war die Diskussion über diesen Punkt beendet. Sie hatten schon längst die Autobahnen verlassen. Der Jeep jagte über gut ausgebaute Hauptstraßen. »Dort vorne ist eine Raststation«, sagte der Satansspürer. »Wollen wir 34 �
nicht eine letzte Pause einlegen und etwas essen? Ich bin hungrig, und wir haben keinen Proviant.« »Einverstanden«, stimmte Peter zu. »Passen Sie nur genau auf, wenn wir das Gebäude betreten. Ich möchte nicht schon wieder in eine Falle laufen.« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Mark Baker. »Ich fühle es, wenn etwas nicht stimmt.« Als sie das moderne Motel betraten, in dem sich zahlreiche Gäste aufhielten, nickte der Satansspürer seinem Großmeister zu. Das bedeutete, daß alles in Ordnung war. Zufrieden suchten sich die Verbündeten einen Tisch mit Ausblick auf die düstere Bergwelt. Sie hatten sich eine Pause verdient. Niemand ahnte, daß dieses Rasthaus zu einem gigantischen Grab ausgebaut worden war. * Nachdem die vier Spitzenmitglieder des Weißmagischen Ordens ihre Bestellung aufgegeben hatten, erhob sich Peter Winslow. »Ich telefoniere mit Sagon Manor«, sagte er. »Ich komme mit«, erklärte Maud. »Als Rückendeckung.« »Meinst du, ich kann nicht allein telefonieren?« fragte Peter halb ärgerlich, halb amüsiert. Maud zuckte nur die Schultern,
und der Großmeister fügte sich. Die Telefone waren in der Eingangshalle des modernen Gebäudes untergebracht. Sechs von sieben Telefonen waren besetzt. Peter betrat die freie Kabine, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß darin keine Falle aufgebaut war. Sein Vater hob nach dem zweiten Klingelzeichen ab. »Ich habe schon neben dem Telefon gewartet«, erklärte Lord Hubbard Winslow. »Ich habe von eurem Unfall gehört. War es sehr schlimm, Peter?« »Ich habe mich selten so köstlich unterhalten«, gab Peter mit Galgenhumor zurück. Er schauderte noch jetzt bei der Erinnerung. »Dad, du mußt dich um drei Personen kümmern. Ich gebe dir die Namen. Es sind Jake und Bob Dermoth, zwei Brüder, und Jenny Thrompton. Sie sind vermutlich nach Schottland unterwegs. Du mußt unbedingt feststellen, wo sie sich aufhalten, und sie beobachten lassen. Falls ich keine völlig frei erfundenen Personen gesehen habe, wurden diese drei nämlich von Dämonen kopiert. Sie fuhren als angebliche Autostopper in meinem Wagen mit und waren nach dem Unfall verschwunden. Vielleicht haben die echten Personen nichts mit Schwarzer Magie zu tun, aber man kann nie wissen.« »In Ordnung, ich habe die Namen notiert«, antwortete Lord Hubbard 35 �
und zählte sie auf. »Die Frau mit den vier Augen wird vermutlich bald die jungen Leute finden. Eines ihrer Augen blickt in die Vergangenheit und eines in die Zukunft. Das müßte genügen.« »Wir melden uns wieder, Dad«, versprach Peter. »Oder hast du noch etwas?« Lord Hubbard zögerte. »Der Wagen, den ihr zu Schrott gefahren habt, war ziemlich teuer«, sagte er. »Paßt in Zukunft besser auf, sonst können wir die Spesen nicht bezahlen. Niemand ersetzt sie uns, und ich möchte unsere Mitglieder nicht wieder zu Spenden aufrufen, nicht wahr, Peter? Das willst du doch auch nicht.« »Nein, Dad«, erwiderte Peter und legte verwundert auf. »Stimmt etwas auf Sagon Manor nicht?« fragte Maud, als der Großmeister die Telefonkabine verließ. »Ich weiß nicht.« Peter schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mir noch nie Vorhaltungen gemacht, weil ein Auto während eines Einsatzes verloren ging.« Er berichtete kurz, was der Lord gesagt hatte. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, meinte Maud. »Dein Vater wird auch älter, und er hat in seinem Leben viel mitgemacht.« »Aber er wird nicht sonderbar, wenn du das andeuten willst«, fuhr Peter seine Begleiterin an. Maud verzichtete auf eine Ant-
wort, um einem Streit aus dem Weg zu gehen. Sie war nämlich überzeugt, daß Lord Hubbards sonderbare Antwort etwas mit seiner Gemütsverfassung zu tun hatte. Zur selben Zeit betrachtete Lord Hubbard im fernen Sagon Manor verwundert den Telefonapparat. Er rief seinen Privatsekretär zu sich, der ebenfall zum Bund der Weißmagier gehörte. »Notieren Sie«, bat der Lord. »Dringende Nachforschung nach drei greisen Personen, die sich derzeit in London aufhalten. Ihre Namen sind Emily und Paula Clinton sowie Frank Netherly. Mein Sohn möchte, daß sie beobachtet werden.« Der Privatsekretär zog sich zurück und gab an Londoner Mitglieder des Ordens die Befehle weiter. »Ich verstehe nur eines nicht«, meinte der Lord später zu seinem Privatsekretär. »Weshalb reagierte mein Sohn so sonderbar, als ich ihm zuletzt von der Prophezeiung erzählt habe, die ich drüben auf Mortland gesehen habe.« »Was antwortete der Großmeister?« erkundigte sich der Sekretär gespannt. »Er lachte und meinte, ich solle ausspannen und wieder einmal nach Brighton fahren.« Lord Hubbard schüttelte den Kopf. »Er meinte, ein kleiner Urlaub täte mir gut.« »Womit er nicht so unrecht hat«, 36 �
warf sein Sekretär ein. »Ja, das stimmt schon«, räumte der Lord ein. »Man merkt, daß Sie meinen Sohn noch nicht so gut kennen. Wenn es um Mortland geht, macht er keine Scherze. Ich verstehe nicht, wieso er auf einmal so ganz anders reagiert.« »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Sir«, meinte der Sekretär. »Der Großmeister hat eine Menge Aufregung hinter sich. Kein Wunder, wenn Sie ihn verändert finden.« Der Lord gab sich damit zufrieden. Es beunruhigte ihn auch nicht weiter, daß die angeblich gesuchten Personen in London völlig unbekannt waren. »Schwarzmagier schreiben sich für gewöhnlich nicht mit ihrer vollen Berufsbezeichnung im Telefonbuch ein«, meinte sein Sekretär, doch der Lord konnte über den Scherz nicht lächeln. Auch wenn er nicht ahnte, wieso er und sein Sohn ein so sonderbares Telefongespräch geführt hatten, machte er sich Sorgen. Wie immer in solchen Situationen zog er sich in grüblerische Gedanken an seine Frau und seine verschwundene Tochter zurück. Er kapselte sich von seiner Umwelt ab. Wer Lord Hubbard genau kannte, ahnte auch den wahren Grund. Der Lord von Sagon Manor war ein gebrochener Mann. Die Schicksalsschläge waren für ihn zu schwer
gewesen. Dreißig Jahre als Großmeister des Ordens und der Verlust zweier engster Angehöriger hatten ihm jede Energie geraubt. Seine ganze Hoffnung für die Zukunft ruhte jetzt auf seinem Sohn. * Während des Telefongesprächs hatte Mark Baker die Straßenkarte studiert. Er blickte kurz auf, als Maud und Peter Winslow an den Tisch kamen. Harvey sah man die Anstrengung der langen Fahrt an. Er konnte die Augen kaum offen halten, obwohl er im Wagen geschlafen hatte. Peter sagte nichts darüber. Er hoffte nur, daß Harvey durchhalten würde. »Wir sollten uns Zimmer nehmen«, schlug Peter allerdings vor. Er wußte, daß Harvey nie von sich aus auf diese Idee kommen würde. »Wie können wir dem Alten aus dem Moor helfen, wenn wir zum Umfallen müde sind.« Die drei Begleiter des Großmeisters protestierten so heftig, daß Peter auf eine Übernachtung in diesem Motel verzichtete. Danach vertiefte sich der Satansspürer wieder in die Straßenkarte und kümmerte sich nicht einmal um das Essen. Maud mußte ihn mahnen, sonst wäre es kalt geworden. »Was ist denn an diesem Plan so 37 �
interessant?« erkundigte sich Peter. »Es ist eine ausgezeichnete Karte«, erklärte der Satansspürer. »Aber dieses Motel ist nicht darin verzeichnet.« »Der Plan ist ebenfalls neu«, sagte Mark Baker. Peter sah sich forschend um. Es gab nichts Verdächtiges. Fast alle Tische waren besetzt. Auf dem Parkplatz hatten sie neben Personenwagen auch einige Fernlaster gesehen. Unverfänglicher konnte ein Motel gar nicht wirken. »Straßenkarten müssen immer eine ganze Weile vor ihrem Erscheinen fertig gezeichnet sein«, sagte Harvey. »Kein Wunder, wenn ein so neues Gebäude nicht aufscheint.« Das Essen verlief schweigend. Peter zerbrach sich den Kopf über die unerklärlichen Bemerkungen seines Vaters über die Kosten des Autos. Mark Baker starrte ununterbrochen auf die Straßenkarte. Harvey war ohnedies schweigsam. Und Maud merkte, daß sich niemand unterhalten wollte. »Die Straße sollte ein Stück weiter westlich verlaufen«, sagte Mark Baker plötzlich. »Zwei Meilen vor diesem Motel hätten wir nach links und nicht nach rechts schwenken sollen.« »Meine Güte, Mr. Baker!« rief Maud unterdrückt. »Was wollen Sie denn? Es gab keine Abzweigung. Ich frage Sie, wie sollten wir uns ohne
Abzweigung verirren? Wir sind immer der Straße gefolgt.« »Ich mache darauf aufmerksam«, mischte sich Harvey ein, »daß diese Karte keineswegs das Evangelium ist. Es handelt sich lediglich um einen Straßenatlas.« Baker war eingeschnappt. Er schwieg beleidigt. »Geben Sie her!« bat Peter Winslow. Er nahm dem Satansspürer die Karte aus der Hand und überprüfte sie. Er hatte den Wagen als Letzter gesteuert. Daher hatte er sich die Straße am besten eingeprägt. »Sie haben nichts gefühlt? Keinerlei Einflüsse Schwarzer Magie?« Der Satansspürer schüttelte den Kopf. »Damit ist alles klar«, entschied Peter und gab ihm die Karte zurück. »Es stimmt schon, die Straße ist auf diesem Plan anders eingezeichnet. Das hat aber nichts zu sagen. Irrtümer kommen vor.« Mark Baker faltete den Plan zusammen und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden. »Neben dem Eingang gibt es einen kleinen Laden«, sagte er deutlich beleidigt. »Ich werde etwas für die Weiterfahrt kaufen.« Er stand auf und verließ den Tisch. »Den haben Sie aber schwer gekränkt«, meinte Maud leise und unterdrückte das Lachen. »Wie kann man nur so an die Richtigkeit einer 38 �
Straßenkarte glauben?« »Ich wundere mich auch Sir«, hieb Harvey in dieselbe Kerbe. »Der Satansspürer mißtraut eher seinen eigenen Fähigkeiten als diesem Plan. Ein ehemaliger Vorgang.« »Sprechen wir nicht mehr darüber«, entschied der Großmeister, der keinen Streit in ihrer Gruppe wollte. Sie beendeten in Ruhe das Essen. »Ich zahle schon einmal«, meinte Peter Winslow, »damit wir sofort aufbrechen können, wenn Mr. Baker zurückkommt.« Er winkte die Kellnerin an den Tisch und beglich die ganze Rechnung. Während sie ihm das Wechselgeld herausgab, betrat Mark Baker wieder das Restaurant. Er schwankte leicht, stützte sich an einem Tisch ab und richtete sich kerzengerade auf. Seine Freunde sahen ihm gespannt entgegen, als er zu ihnen kam. Sein Gesicht wirkte unbeweglich, als wäre es aus Stein gemeißelt. »Ihr wollt schon gehen?« fragte er und streifte die Kellnerin mit einem flüchtigen Blick. »Wir sollten einen Nachtisch nehmen. Die Fahrt ist noch lange.« Peter Winslow schaltete sofort richtig. »Also gut, bringen Sie uns noch etwas.« Er suchte rasch auf der Karte aus. »Und beeilen Sie sich.« Die Kellnerin nickte und ging hastig weg.
»Unauffällig benehmen«, verlangte der Satansspürer, als sie außer Hörweite war. »Wir sitzen in der Falle. Und diesmal geht es ums Ganze. Wißt ihr, wo wir sind?« »Sicher nicht in einem Rasthaus«, sagte Peter Winslow ruhig, »sonst würden Sie kein solches Gesicht machen.« »Sehr richtig«, sagte Mark Baker grimmig. »Wir sitzen mitten auf einem Friedhof!« * Nach der düsteren Ankündigung des Satansspürers waren sie auf einiges gefaßt. Diese Eröffnung war dennoch zu viel. Damit hatte keiner gerechnet. Es fiel Peter Winslow, Maud und Harvey schwer, unbewegte Gesichter zu zeigen. »So lange wir hier sitzen bleiben und tun, als hätten wir nichts gemerkt, sind wir vermutlich in Sicherheit.« Mark Baker lachte kurz auf, um Beobachter zu täuschen. »Ich habe vorhin eingekauft. Durch den Haupteingang sieht man die Straße, den Parkplatz und die Nebengebäude. Alles ist wunderbar in Ordnung. Aber hinter dem kleinen Laden gibt es ein Fenster. Dahinter sieht man den aufgelassenen Friedhof.« Maud atmete auf. »Ach so«, sagte sie leise. »Neben dem Motel gibt es 39 �
einen Friedhof!« »Wir haben bei unserer Ankunft keinen gesehen«, sagte der Satansspürer. »Das ist richtig«, bestätigte Harvey. »Ich habe die Verkäuferin in das Lager geschickt, um nach einer bestimmten Sache zu suchen.« Baker sprach hastig weiter, weil die Serviererin den Tisch ansteuerte. »Ich habe aus dem Fenster gesehen. Ringsum liegt dieser Friedhof – und noch dazu befinden wir uns auf einer Felsklippe. Es gibt nur einen schmalen Zugang. Auf allen anderen Seiten habe ich nur Steilwände entdeckt.« Die Serviererin brachte den Nachtisch. »Eine Falle.« Peter Winslow musterte die übrigen Gäste. »Eine perfekte Falle! Sogar die Gäste haben gewechselt, gegessen und bezahlt! Wir sollten nichts merken.« »Wir haben auch nichts bemerkt«, erklärte Harvey. »Mr. Baker ausgenommen. Wieso spricht Ihre besondere Gabe nicht an?« »Keine Ahnung«, räumte der Satansspürer ein. »Sir, was machen wir jetzt?« Peter Winslow wußte, daß die Entscheidung an ihm hängen blieb. »Wir verlassen geschlossen das Restaurant und versuchen, ins Freie zu gelangen. Ich kann keinen Plan machen. Wir müssen uns zum
Wagen durchschlagen. Das ist alles. Hat jeder eine Waffe?« Sie nickten. »Okay.« Peters Kehle wurde eng. »Gehen wir.« Sie standen auf, als wäre nichts geschehen. Peter legte Geld auf den Tisch. Sie hatten hastig aufgegessen, und es war nicht ungewöhnlich, daß Peter nicht auf die Serviererin wartete. Gäste in Raststätten hatten es manchmal sehr eilig. Dennoch half ihnen der scheinbar harmlose Aufbruch nichts. Kurz vor dem Hauptausgang wurden sie von einem ungefähr vierzigjährigen Mann in grauem Nadelstreifenanzug angesprochen. »Der Manager bittet Sie in sein Büro«, sagte er mit einer höflichen Verbeugung. »Es ist wichtig! Bitte, kommen Sie mit!« Peter widersprach zum Schein und wollte den Grund wissen, aber der vermeintliche Angestellte des Motels wich aus. »Es ist wichtig«, wiederholte er. Peter zermarterte sich den Kopf darüber, was dieser Schachzug seiner Gegner bedeutet. Wenn dieses ganze Motel eine riesige Falle war, konnten sie doch einfach über ihre vier Opfer herfallen. Vier Personen gegen so viele Feinde! Es mußte eine besondere Absicht dahinterstecken. Peter hielt die Augen offen. Vergeblich wartete er auf Hilfe aus einer anderen Dimen40 �
sion. Der Geist seiner Mutter meldete sich nicht bei ihm. Es war schwierig, eine Verbindung zwischen den beiden Welten herzustellen. Oft waren so starke Strömungen am Werk, daß Peter sich auf sich allein verlassen mußte. Der angebliche Angestellte des Motels blieb stehen und deutete einen mit roten Teppichen ausgelegten Korridor entlang. Er endete nach ungefähr sieben Schritten an einer Mahagonitür. »Der Manager erwartet Sie bereits«, erklärte er. »Bitte!« »Nach Ihnen«, sagte Peter spöttisch. »Wir sind daran gewöhnt, daß man uns anmeldet.« Im Gesicht des Mannes zuckte es. Dennoch widersprach er nicht, sondern schob sich an Peter vorbei und klopfte. »Ja, bitte!« erklang von drinnen eine kräftige Stimme. Der Angestellte öffnete die Tür, trat ein und wandte sich nach links. »Die Gäste, die Sie sprechen wollten«, erklärte er. »Ich lasse bitten!« rief jemand von drinnen. Peter Winslow näherte sich der Tür. Maud und Harvey waren an seiner Seite. Der Satansspürer blieb einen Schritt zurück. Peter war auf den angeblichen Manager gespannt. Vielleicht kannte er sogar den Mann. Er hob den Fuß, um ihn über die
Schwelle des Büros zu setzen. Maud stand schon auf dem Teppich des Büros. Harvey ließ den beiden den Vortritt. Der Satansspürer stand dicht an der Schwelle. Bevor Peter seinen Fuß auf den Teppich des Büros setzte, stieß der Satansspürer einen gellenden Schrei aus, der mit einem Stöhnen abbrach. Peter wirbelte herum und sah, wie sein Begleiter in die Knie ging und sich zur Seite wälzte. Peter Winslow hatte keine Ahnung, was geschehen war. Er reagierte jedoch mit jener traumwandlerischen Schnelligkeit, die er in seiner Eigenschaft als Großmeister entwickelte. Er versetzte dem Butler einen Stoß, der Harvey zurück in den Korridor trieb, und packte Maud. Für einige Momente wirkte ein unvorstellbar starker Sog auf Peter und Maud, Der Großmeister hatte das Gefühl, als würde es ihm beide Arme abreißen. Vor seinen Augen wurde es dunkel. Er sah nur noch den Angestellten, der sie in das Büro hatte locken wollen. Der Mann schwebte frei in der Luft! Das Gesicht des Angestellten verzog sich! Aber es zeigte keinen entsetzten Ausdruck, kein Grauen, kein Erschrecken. Es wandelte sich zu einer höhnischen Grimasse. 41 �
Dem jungen Großmeister wurde bewußt, daß sich alles innerhalb von Sekundenbruchteilen abspielte. Es kam nur ihm so lange vor! Dann löste sich auch die höhnische Fratze auf. Das Gesicht verschwand. Darunter kam schwarze, schuppige Haut zum Vorschein. Auch das war eine Bestätigung für den fürchterlichen Verdacht des Großmeisters. Und tatsächlich stürzte der Dämon, der sich bisher unter der Maske eines Menschen verborgen hatte, haltlos in die Tiefe. Er verschwand ohne einen Schrei in dem Abgrund, an dessen Rand Peter Winslow stand. Maud aber, die er noch immer an der Hand hielt, schwebte ebenfalls frei über der bodenlosen Schlucht! Im nächsten Augenblick stürzte auch sie ab! * Bud und Jane Somers waren seit einem Jahr verheiratet und holten erst jetzt die Hochzeitsreise nach. Ihre Eltern waren gegen die Heirat gewesen und hatten deshalb jede Unterstützung verweigert. Das Geld hatte gerade noch gereicht, um Janes Wohnung für zwei Personen herzurichten. »Diese Fahrt haben wir uns verdient«, meinte Bud und tastete nach der Hand seiner jungen Frau.
Sie schob lächelnd seine Hand wieder an das Lenkrad zurück. »Die gehört ans Steuer«, sagte sie. »Du bist so weit weg«, beklagte er sich in komischer Verzweiflung. Jane sah ihn liebevoll von der Seite an und fuhr kurz über seine krausen Haare. »Du bist mir vielleicht einer«, sagte sie leise lachend. »Ich sitze direkt neben dir!« »Das ist viel zu weit weg.« Bud schmollte. »Ich wollte, wir hätten ein Hotel gefunden.« »Ja, das wäre schön«, sagte sie seufzend. Er warf ihr einen besorgten Blick zu. »Bist du schon sehr müde, Darling?« »Aber nein, mach dir um mich keine Sorgen«, wehrte Jane ab. »Ich bin schon in Ordnung. Und so weit kann es bis zur nächsten Siedlung nicht mehr sein. Vorhin haben wir das Schild gesehen. Acht Meilen stand darauf.« »Sechs Meilen«, widersprach Bud. »Nein, es waren acht Meilen!« Jane funkelte ihn an. »Willst du dich mit mir auf unserer verspäteten Hochzeitsreise streiten?« »Bloß nicht!« rief Bud. »Ich… Moment, dort vorne sind doch Lichter, oder täusche ich mich?« Die Straße beschrieb eine enge Kurve. Felsen schoben sich störend dazwischen. Erst als der Wagen die nächste Biegung nahm, sahen sie beide deutlich die Neonlampen, die 42 �
einen großen Parkplatz beleuchteten. »Na, also, ein Motel«, meinte Jane zufrieden. »Hier können wir bleiben, falls sie noch ein freies Zimmer haben.« Bud musterte die zahlreichen Wagen auf dem Parkplatz, danach betrachtete er das moderne Gebäude. »Meinst du nicht, daß es für uns zu teuer ist?« Er dachte an die schmale Reisekasse, die Jane verwaltete. So war das bei ihnen mit allem Geld. In finanziellen Angelegenheiten war Jane zuständig, weil er nicht mit Geld umgehen konnte. »Eine Nacht können wir uns auf jeden Fall leisten«, beruhigte ihn seine junge, hübsche Frau. »Falls es wirklich sehr teuer ist, suchen wir uns morgen ein anderes Quartier. Zufrieden?« »Immer, wenn du etwas möchtest«, versicherte Bud und zog den Wagen auf den Parkplatz. Er fuhr dicht an einen Jeep heran, schaltete Scheinwerfer und Motor aus und wollte aussteigen. »Hast du nichts vergessen?« fragte Jane lachend. »Nein, was denn?« erkundigte sich Bud verwirrt. Sie beugte sich zu ihm. Ihre Lippen kamen näher. »Nun, hast du wirklich nichts vergessen?« Bud grinste, legte seine Arme um Jane und zog sie an sich. Wie ein jungverliebtes Paar blieben sie noch
eine Weile sitzen. Dann stiegen sie aus, Jane auf der Seite des Jeeps, Bud auf der entgegengesetzten Seite. Er kam um den Wagen herum. Der Jeep war hochbeinig und deckte sie beide gegen Sicht vom Motel. Bud wußte, daß Jane Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht mochte. Deshalb sah er sich vorher um, ehe er seine Arme noch einmal um sie legte. Jane wehrte sich einen Moment, lehnte sich dann jedoch lachend gegen ihren Wagen und ließ es zu, daß Bud sich zu ihr vorneigte und sie küßte. »Gehen wir doch endlich hinein«, sagte sie ein wenig atemlos, als er sie freigab. Bud nickte. »Okay, gehen wir hin…« Das letzte Wort blieb ihm im Hals stecken. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen. Ihr Wagen stand mitten auf dem großen, asphaltierten Parkplatz. Doch plötzlich neigte er sich nach hinten und kippte weg. Es geschah so schnell, daß Bud nichts mehr unternehmen konnte. Er sah zwar, daß die Asphaltdecke des Parkplatzes verschwand, aber das war so unglaublich, daß er es nicht verstand. In großen Platten verflüchtigte sich der glatte Asphalt. Darunter kam rauher Fels zum Vorschein. An man43 �
chen Stellen gähnte Leere. Der Wagen hatte an einer solchen Stelle gestanden. Jane hatte sich gegen den Wagen gelehnt. Sie bekam überhaupt nicht mit, was mit dem Parkplatz geschah. Sie fühlte nur, wie der feste Halt wich, konnte sich nicht mehr aufrichten und streckte ihrem Mann verzweifelt die Arme entgegen. Bud griff nach ihr. Jane krallte sich an seinem Ärmel fest, doch ihre Finger fanden nicht genügend Halt. Sie rutschten ab. Buds Hände schlossen sich um Janes rechtes Handgelenk. Als der Wagen in einer bodenlosen Schlucht verschwand, gelang es Bud noch, seine Frau festzuhalten. Er klammerte sich mit einer Hand an dem Jeep fest und zog mit der anderen Jane zu sich. »Halt dich fest«, rief er atemlos. »Bud, hilf mir!« Janes Stimme erstickte in einem langgezogenen Schrei. Als Bud die Ursache erkannte, war es schon zu spät. Genau unter Janes Füßen löste sich die Asphaltdecke ebenfalls auf. Darunter war – nichts. Wie Butter, die an der Sonne schmolz, löste sich der Asphalt auf. Er lief auch unter Buds Füßen weg. Das löste die endgültige Katastrophe aus. Genau in dem Moment von Janes
Absturz sackte Bud fast einen halben Meter in die Tiefe. Seine Füße trafen wieder auf Felsen. Er stand ganz knapp an der Abbruchkante der Schlucht. Dabei lockerte er den Griff an dem Jeep nicht, sonst wäre auch er verloren gewesen. Jane aber hing für einen Augenblick frei in der Luft, schwang an Buds Hand hin und her, schrie noch einmal auf und entglitt ihm. Er griff nach ihr, doch da war sie schon in der Schwärze der Schlucht verschwunden… * Maud Orwell sackte mit ihrem ganzen Gewicht ab. Sie konnte sich nirgends abstützen. Ihre Beine hingen frei über dem Abgrund. Ihre und Peters Hand krallten sich ineinander. Sie waren förmlich zusammengeschweißt. Nur so verhinderte der Großmeister, daß seine Helferin zu Tode stürzte. Aber gerettet war Maud noch lange nicht. Peter schwankte. Der Blick in den Abgrund zog ihn magisch an. Er hatte das Gefühl, selbst kopfüber in die Tiefe zu stürzen. Stöhnend bog er sich rückwärts durch, um sich ein wenig von der Schlucht zu entfernen. Gleichzeitig drehte er den Kopf und blickte zu Harvey und dem Satansspürer 44 �
zurück. Das half. Er sah den Abgrund nicht mehr und schloß seine Gedanken ab. Er wollte nicht an die unmittelbare tödliche Gefahr denken. Und das brachte die Wende. Mit aller Kraft zog er Maud höher, und sie fand festen Boden unter ihren Füßen. Mit einem letzten Ruck stemmte sie sich über die Kante. Peter Winslow zog sie zu sich heran und fing sie auf. Keuchend lagen sie auf der Felsplatte. Das vermeintliche Büro war vollständig verschwunden. Wo es sich vorher befunden hatte, gab es nur Luft. »Eine perfekte Illusion«, rief Peter keuchend. »Harvey, was ist mit Baker?« Der Butler war so geschockt, daß er sich erst jetzt um den Satansspürer kümmerte. Mark Baker lag auf dem Felsen. Er war auf die Seite gerollt und krümmte sich, als habe er heftige Schmerzen. »Er lebt und ist bei Bewußtsein, Sir«, meldete Harvey. »Aber er ist nicht ansprechbar.« »Magischer Schock«, vermutete Peter. »Als unsere Feinde die Illusion eines Motels aufgaben, wurde die gesamte schwarzmagische Energie auf einen Schlag frei. Sein Warnschrei hat uns gerettet. Ohne Bakers Hilfe lägen wir jetzt alle da unten.«
Maud bewies in solchen Situationen, was für ein wertvolles Mitglied des Ordens sie war. Sie erlitt keinen Weinkrampf oder Nervenzusammenbruch, sondern stemmte sich vom Boden hoch. »Bringen wir Baker zum Wagen«, sagte sie energisch. »Falls der Wagen nicht wie das ganze Gebäude verschwunden ist«, fügte sie hinzu, und das mit gutem Grund. Von dem scheinbar so modernen, gut ausgestatteten Motel mit seinen Gästen war buchstäblich nichts übrig geblieben. »Alles nur Täuschung«, murmelte Butler Harvey erschüttert. »Sogar die Gäste, die sich so gut unterhalten und so viel gegessen haben. Der Feind hat sich viel Mühe gegeben.« »Die Lastwagen und die Personenautos… alles weg«, murmelte Peter Winslow. »Sogar der Parkplatz hat sich… Moment, was ist das? Horcht!« Auf dem kahlen Felsplateau herrschte absolute Stille. Deshalb hörten sie deutlich ein leises Wimmern. »Kümmert euch um Baker«, befahl Peter noch einmal und rannte zu ihrem Jeep, der als einziges Fahrzeug übrig geblieben war. Ein kalter Schauer lief über den Rücken des Großmeisters. Ihr Auto stand unmittelbar an der Bruchkante. Der Felsen stellte ein kleines Hochplateau dar, das nicht viel grö45 �
ßer als das vorgespiegelte Rasthaus war. Ringsum fiel der Fels senkrecht in die Tiefe. Das Plateau hatte vor Jahrhunderten als Friedhof gedient. Überall ragten verwitterte Grabsteine gegen den Nachthimmel. Es gab nur einen sehr schmalen Grat, der waagrecht zu einer großen Hochebene verlief. Von dort waren sie gekommen, und dorthin mußten sie wieder, wenn sie sich aus dieser Falle befreien wollten. Das alles stellte der Großmeister mit einem einzigen raschen Rundblick fest. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Wimmern oder Schluchzen. Es hörte sich nach einem Kind an, das lautes Weinen zurückhalten wollte. Sollten doch nicht alle Gäste des satanischen Motels Dämonen gewesen sein? Peter wagte nicht, sich die Folgen auszumalen. Falls noch andere Menschen in die Falle gegangen waren, lebten sie jetzt nicht mehr. Er hätte sie sonst auf dem Plateau sehen müssen. Doch da war dieses Wimmern! »Hallo!« rief Peter. »Ist hier jemand?« Als keine Antwort erfolgte, wagte er sich näher an den Jeep heran, sah aber noch immer nichts. Der Mond stand hoch am Himmel und spendete kaltes Licht. Die Sicht wurde nicht durch Nebel behindert. Einer Eingebung folgend, ließ sich Peter auf Hände und Knie nieder
und legte den Kopf auf den Boden. Er traute seinen Augen nicht, als er hinter dem Jeep einen Arm entdeckte. Auf der anderen Seite des Fahrzeuges stand jemand und klammerte sich daran fest! »Ich kann Sie sehen«, sagte er gedämpft, um den Mann oder die Frau nicht zu erschrecken. »Ich bin ein Freund. Ich will Ihnen helfen. Halten Sie noch einen Moment durch!« Er winkte seinen Freunden heftig zu, sie sollten nicht näher kommen. Wer immer sich hinter den Jeep geflüchtet hatte, mußte unter Schockeinwirkung stehen. Das Auftauchen mehrerer Personen konnte tödlich wirken. »Ich komme näher«, sprach Peter leise weiter. »Nur noch ein paar Sekunden, dann kann ich Sie heraufziehen. Keine Angst, wir schaffen es schon!« Er redete ununterbrochen und schob sich an die Kante heran. Am Vorderrad des Jeeps vorbei blickte er schaudernd in den Abgrund, ehe er den Kopf drehte. Er atmete erleichtert auf. Ein junger Mann stand auf einem Felsvorsprung, der einen stabilen Eindruck machte und ihn sicher trug. Zusätzlich hielt sich der Fremde am Türgriff des Jeeps fest. Doch dann sah Peter das Gesicht des Mannes und erschrak. Es war von so wildem Schmerz gezeichnet, 46 �
daß Peter ahnte, was geschehen war. »Ich helfe Ihnen, bleiben Sie ganz ruhig«, sprach Peter weiter und streckte dem Fremden die Hand entgegen. »Packen Sie zu, ich ziehe Sie herauf!« Der Fremde sah ihn an, doch der verzweifelte Blick seiner Augen ging durch Peter hindurch. »Sie ist abgestürzt«, murmelte der Mann. »Sie ist tot…« »Wer denn?« fragte Peter und zog sich langsam zurück. »Ich schiebe mich durch den Jeep, mache die Tür auf und ziehe Sie nach oben! Warten Sie ab!« »Sie ist abgestürzt, Jane ist tot«, murmelte der Fremde verstört. »Jane ist tot!« »Wer ist das?« fuhr Peter fort. Solange der Mann sprach, bestand eine Chance. »Wir haben die Hochzeitsreise nachgeholt! Wir wollten zwei Wochen durch Schottland fahren. Aber sie ist abgestürzt!« Es schnürte Peter die Kehle zu, wie verzweifelt dieser Mann war. Und er konnte ermessen, wie groß der Schmerz des jungen Ehemannes sein mußte. Dennoch war er fest entschlossen, den Fremden zu retten. Er zog die Seitentür auf, obwohl er nicht wußte, wie fest der Jeep stand. Wenn er Pech hatte, kippte das Fahrzeug über die Kante in die Tiefe, und Peter konnte sich dann kaum
aus dem Wagen befreien. Aber dieses Risiko ging er gern ein, wenn er dafür einen Menschen retten konnte. Unter beruhigenden Worten glitt Peter über die Sitze und öffnete die andere Tür. Der Fremde hing genau unter ihm. Er hielt sich am Griff der hinteren Tür fest. Auch das war ein Glücksfall. Der Jeep war eine lange Ausführung. Nur deshalb wackelte er nicht einmal, als Peter sich weiter vor neigte. Er streckte dem Fremden die Hand entgegen. »Sie ist abgestürzt«, sagte der Unbekannte noch einmal schluchzend. Dann ließ er den Türgriff los… Peter wollte nicht hinsehen und tat es doch. Er wußte, daß ihn dieser Anblick bis an sein Lebensende verfolgen würde, auch wenn er nichts dafür konnte. Der Mann hatte einfach nicht mehr leben wollen und war seiner Frau in den Tod gefolgt. Dennoch fühlte sich Peter leer und ausgehöhlt, als er sich zurückzog. Maud und Harvey wußten nicht, was geschehen war. Sie standen noch immer in einigem Abstand von dem Jeep und wagten sich nicht näher heran. Peter ging zu ihnen und hob die Schultern, als friere er. »Ein junger Mann«, sagte er tonlos. »Seine Frau ist abgestürzt. Er wollte auch nicht mehr leben. Ich konnte ihn nicht halten.« 47 �
Maud legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe, Peter«, sagte sie leise, und diesmal zog Harvey die Augenbrauen nicht hoch. In einer solchen Lage störte sich auch der auf Umgangsformen bedachte Butler nicht an dem vertraulichen Ton. Er deutete jedoch auf den Satansspürer. »Wenn wir ihm nicht helfen, lebt er nicht mehr lange«, sagte Harvey knapp. »Die schwarzmagischen Einflüsse sind auf diesem Friedhof für ihn zu stark.« Peter nickte und ging auf den schmalen Grat zu, der sie mit dem festen Boden verband. Er wollte das Felsband untersuchen. Vielleicht half ihm das wenigstens während der nächsten Minuten, das schreckliche Erlebnis zu überwinden. * Während Peter Winslow auf das Felsband starrte, das für sie die Rettung bedeutete, wartete er auf Hilfe. Bisher hatte sich der Geist seiner Mutter in jeder lebensgefährlichen Situation gemeldet. Jetzt blieb es still. Peter wurde hin und her gerissen. Er wußte nicht, ob er sich um den Geist seiner Mutter Sorgen machen sollte. Sie existierte noch, obwohl sie damals bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war. Doch sie
existierte als Geist auf einer Ebene, die für Peter unerreichbar blieb. Hatte es überhaupt eine Berechtigung, sich um einen Geist Sorgen zu machen? Maß man dort, wo seine Mutter jetzt war, nicht mit ganz anderen Maßstäben? »Was ist, Peter?« Mauds Stimme drang in sein Bewußtsein und schreckte ihn auf. »Träumst du? Wenn ja, hast du dir einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt dafür ausgesucht.« Sie schlug absichtlich einen leicht spöttischen Ton an, um seinen Widerspruch zu reizen. Er mußte sich zusammennehmen und durfte sich keinen Gefühlen hingeben. Nicht jetzt! »Schon gut«, fuhr er wunschgemäß auf. »Ich kümmere mich darum! Bringt den Satansspürer hierher!« Er ließ sich auf die Knie sinken und betastete das Felsband. Es schien fest zu sein. Peter mußte sich darauf verlassen, daß es kein Blendwerk war. Sie befanden sich auf dem Gipfel einer Felsspitze. Der Friedhof war vermutlich einmal die letzte Ruhestätte eines ganzen Clans gewesen. In seiner rauhen geschichtlichen Zeit hatte Schottland zahlreiche solche Friedhöfe besessen. Sogar die Toten hatten geschützt werden müssen. Die Streitigkeiten unter den einzelnen Clans hatten sich über den Tod 48 �
hinaus fortgesetzt. Peter vermutete, daß dieser Zugang real war. Irgendwie waren die Toten schließlich auf den Friedhof geschafft worden. Maud und Harvey brachten Mark Baker. Der Satansspürer stand auf seinen eigenen Beinen, hatte jedoch selbst keine Kraft. Die beiden mußten ihn stützen und mehr tragen, als daß er selbst ging. Sein Zustand war noch immer schlecht. »Ich gehe voran«, bestimmte Peter. »Ich erkunde den Weg. Harvey, Sie stützen Baker von hinten. Wenn er stürzt, bleiben wir nicht stehen. Dann ziehe ich ihn, und sie heben ihn an, so weit es geht. Maud, du greifst ein, falls es Harvey zuviel wird.« »Okay«, bestätigte Maud. »Es wird mir nicht zuviel«, versicherte Harvey. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Held zu spielen«, wies Peter ihn zurecht. Harvey wagte keinen Widerspruch. Das Wort des Großmeisters galt für jedes Ordensmitglied als Befehl. Zögernd setzte Peter Schritt um Schritt seinen Fuß auf den Felsgrat. Seine Vorsicht erschien übertrieben, denn der Weg war ziemlich breit, breiter jedenfalls, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Doch der Mond wurde von Wolken verhüllt. Es wurde stockdunkel.
Sie erreichten die Mitte des Felsbandes. Je weiter sich der Satansspürer von dem Plateau entfernte, desto kräftiger wurde er. Das letzte Drittel ging er aus eigener Kraft. Peter und Harvey stützten ihn nur noch für den Fall einer plötzlichen Schwäche. Aufatmend ließen sie sich auf der anderen Seite zu Boden sinken und starrten düster zu dem Plateau zurück. »Wir sind meilenweit von der richtigen Straße entfernt«, sagte Peter. »Seht euch um. Hier gibt es keine Straße, nur einen Weg.« »Wir brauchen unseren Wagen, Sir«, erwiderte Harvey mit unerschütterlicher Ruhe. »Der Jeep wird uns hier gute Dienste leisten. Ich hole ihn.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, bestimmte Peter. »Ich hole den Wagen.« »Ihr habt Mr. Baker in Sicherheit gebracht«, widersprach Maud. »Jetzt bin ich an der Reihe!« Sie konnten sich nicht einigen, und Peter verzichtete auf ein Machtwort. Schließlich gingen sie zu dritt auf das Plateau zurück. Nur Mark Baker beteiligte sich nicht. »Sie würden sofort wieder unter den Einfluß der Schwarzen Magie geraten und zusammenbrechen«, warnte Peter. »Sie bleiben!« Zähneknirschend fügte sich der Satansspürer. Er sah ein, daß der 49 �
Großmeister recht hatte. Peter betrat das Plateau. Die beiden anderen folgten ihm. Im nächsten Moment brach die Hölle los. Und zwar buchstäblich! Maud stieß einen Warnschrei aus, doch es war zu spät. Alle Felsengräber platzten auf. Der Fels öffnete sich. Nach allen Seiten brachen Geröllawinen los, wenn sich ein Grab nahe der Kante befand. An manchen Stellen hob sich eine mächtige Steinplatte, die bis jetzt eine letzte Ruhestätte bedeckt hatte. Diese Platten flogen wie leichtes Papier durch die Luft und verschwanden trudelnd im Abgrund. * Es war ein Schauspiel von unvorstellbaren Ausmaßen. Die Feinde zeigten endlich ihr wahres Gesicht. Nicht die Toten des Gräberfelsens hatten die Falle errichtet. Dafür waren die Mächte der Finsternis verantwortlich. Aber die Toten erhielten die Aufgabe, die Rache zu vollstrecken. »Nicht in den Wagen!« rief Peter Winslow seinen Begleitern zu. Das Auto stand zu dicht am Abgrund. Es wäre ein lohnendes Ziel für die Angreifer gewesen. Maud schien ihn nicht gehört zu haben. Sie lief trotzdem auf den Jeep
zu. Peter hetzte in weiten Sprüngen hinter ihr her, und Butler Harvey schloß sich ihnen an. Er wollte sich nicht allein den Angreifern in den Weg stellen. »Maud bleib hier!« schrie Peter. Sie erreichte den Jeep und beugte sich vorsichtig hinein. »Hier, fang!« rief sie Peter zu. Ein dunkler Gegenstand flog in seine Richtung. Der Großmeister fing ihn geschickt auf. Es war eine Pistole. Ohne zu überlegen, wirbelte Peter herum, riß die Waffe hoch, entsicherte und drückte ab. Die Kugel fegte dicht an Harvey vorbei und traf einen Untoten, der den Butler verfolgte. Der lebende Leichnam war völlig mumifiziert. Peters Vermutung stimmte. Der Tote war in eine Decke mit Clanfarben eingehüllt. Es war ein typisches Karomuster, wie es von einem bestimmten Clan verwendet wurde. Viel Zeit hatte der Großmeister für seine Beobachtungen nicht. Die Kugel zerstörte den Untoten. Sie traf ihn an der Schulter. Normale Kugeln konnten einem Zombie nichts anhaben. Dieses Geschoß jedoch wirbelte ihn herum. Er geriet an die Felskante und versuchte, sich auf dem Plateau zu halten. Es gelang ihm nicht. Sein mumifizierter Körper löste sich auf. Lautlos kippte der Zombie über die Kante in 50 �
die Tiefe. »Harvey«, schrie Maud. Aus den Augenwinkeln sah Peter eine zweite Waffe durch die Luft fliegen. Der sonst so steife und würdevolle Butler von Sagon Manor fing die Pistole wie ein routinierter Kämpfer auf, ging in Schußposition und traf mit drei rasch hintereinander abgegebenen Schüssen drei Untote. Vorläufig hatten sie Luft. Die anderen Zombies waren noch weiter entfernt. Maud nutzte die Gelegenheit, hetzte zu Peter und Harvey und drückte jedem zwei Ersatzmagazine in die Hände. »Weißmagisch besprochene Geschosse«, sagte sie keuchend. »Im Wagen liegt noch mehr. Wir dürfen ihn nicht verlieren!« Hoch oben aus den Lüften erklang ein heiserer Schrei. Er hörte sich wie eine Mischung aus dem Krächzen eines Raubvogels und dem Brüllen eines Tigers an. Peter drückte ab. Seine Kugel erledigte eine weitere schwankende Gestalt. Auch sie war in die Clanfarben gehüllt. »Bleiben noch zwölf Gegner«, sagte Harvey heiser. »Ich übernehme das, Sir! Beobachten Sie den Himmel.« Peter Winslow nickte. Er machte sich große Sorgen wegen des Schreis, den sie gehört hatten. Das
war kein Tier gewesen. Er ahnte bereits, welche Gefahr ihnen drohte. »Hast du auch gegen unseren geflügelten Freund etwas mitgebracht?« fragte Peter und blickte in Mauds angespanntes Gesicht. Das Hausmädchen nickte. »Unter der hinteren Sitzbank«, sagte sie. »Ich gebe dir Rückendeckung.« Peter nickte und öffnete die hintere Tür des Jeeps. Er schauderte, wenn er an den abgestürzten jungen Mann dachte. Der Jeep stand so dicht an der Kante, daß ein kräftiger Stoß genügte, um ihn in den Abgrund zu befördern. Peter sah sich um. Harvey hielt sich gut. Er jagte den angreifenden Zombies Schuß um Schuß entgegen und traf mit jeder Kugel. Die weißmagischen Geschosse vernichteten die Untoten auf der Stelle. Keine der schwarzmagisch belebten Leichen erreichte ihn. »Halte die Augen offen«, bat Peter seine Begleiterin und beugte sich in das Wageninnere. Er löste die Verriegelung der Sitzbank, klappte sie hoch und entdeckte ein wahres Waffenarsenal. Er wußte, wieso Maud nicht sofort darüber gesprochen hatte. Er mochte keine Waffen, aber manchmal konnte auch er nicht auf sie verzichten. Geschickt und schnell wählte Peter die nötigen Waffen aus, und er war 51 �
fast schon fertig, als Maud gellend aufschrie. Im nächsten Augenblick hob sich der Jeep, als wäre er eine Sänfte auf dem Rücken eines Elefanten. Peter konnte nichts tun. Er hing hilflos in dem Jeep und krallte sich fest, um nicht herauszufallen. Der Wagen schaukelte wie eine Nußschale auf dem Meer. »Tu doch was!« schrie er. Eine Pistole knallte dreimal. Der Jeep sackte hart auf den Untergrund zurück, neigte sich ein wenig zu dem Abgrund hin und bewegte sich nicht mehr. »Peter, alles in, Ordnung?« fragte Maud ängstlich hinter ihm. »Nimm die Waffen«, sagte er heiser. Er reichte Maud die Gewehre hinaus. Danach schob er sich selbst behutsam ins Freie. Der Großmeister rechnete damit, daß der Jeep jetzt in den Abgrund rollen würde. Sie hatten jedoch unglaubliches Glück. Das Auto blieb stehen. Mit einem raschen Blick stellte Peter die Ursache für den Zwischenfall fest. Genau unter dem Jeep hatte sich noch ein Grab geöffnet. Der auferweckte Zombie hatte versucht, den Jeep in die Tiefe zu stoßen. Maud hatte Peter im letzten Moment gerettet. »Danke, Maud«, sagte der Groß-
meister und lächelte ihr knapp zu. »Weiter jetzt!« Maud war die Erleichterung deutlich anzusehen. Trotzdem vergaß sie keinen Moment die Gefahren. Sie lief zu Harvey, der soeben mit zwei gut gezielten Schüssen die letzten Zombies des Felsenfriedhofs erledigte. Sie drückte ihm ein Druckluftgewehr in die Hand. Peter hielt sein Gewehr schon schußbereit. Er versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Es gelang ihm nicht. Über der Felsnadel lastete die Schwärze der Hölle. »Ich komme zu euch!« schrie Mark Baker von der anderen Seite des Abgrunds. Peter widersprach nicht. Wahrscheinlich hatte die schwarzmagische Ausstrahlung des Felsens nach dem Zombieangriff nachgelassen. Der Satansspürer nahm kaum Schaden, wenn er die Felszinne betrat. Und so ganz allein und unbewaffnet war er viel gefährdeter. »Aufpassen«, murmelte Maud. »Wenn Baker über das Felsband…« Sie sprach nicht weiter, sondern riß ihr Gewehr hoch, zielte und drückte ab. Peter sah den heranrasenden Schatten, der sich kaum vom Nachthimmel abhob. Mit einem feinen Zischen jagte ein Stahlbolzen aus dem Gewehr. Peter brauchte nicht zu fragen. Auch dieser Bolzen war mit einem weißmagi52 �
schen Bann belegt. Maud verfehlte den heranrasenden riesigen Vampir. Peter kannte die Treffgenauigkeit dieser Druckluftgewehre, und Maud war eine hervorragende Schützin. Doch es war nicht einfach, den Vampir zu treffen. Er flog einen wilden Zickzackkurs und steuerte das Felsband mit Mark Baker an. Peter ließ die Kupplung kommen und drückte ab. Es war, als würde er von einer unsichtbaren Hand geleitet. Das Gewehr schwenkte ein Stück nach rechts, obwohl Peter nach links zielen wollte. Sein Finger krümmte sich. Der Stahlpfeil sauste los. Der Vampir schlug einen Haken nach rechts und geriet in die Bahn des Bolzens. Der Schrei des Monsters hallte durch die Nacht. Der Vampir war etwa doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mann. Seine Fledermausschwingen flatterten noch ein paarmal und trugen ihn gegen das Sims. Er schlug gegen die Kante und rollte dicht neben Mark Baker auf den schmalen Weg. Baker hatte sich rechtzeitig geduckt, als er Peters Warnschrei hörte. Jetzt sprang er auf und rannte weiter. Er handelte keine Sekunde zu früh. Der Vampir war tödlich getroffen.
Dennoch gab er noch nicht auf. Seine Schwingen wischten über das Felsband und verfehlten Mark Baker nur um Haaresbreite. Hinter dem Schlag lag genügend Kraft, um den Satansspürer in die Tiefe zu fegen. Zu einem zweiten Schlag reichte die Kraft des Vampirs nicht mehr aus. Er kroch zwar noch auf seinen kurzen Beinen mit den mörderisch blitzenden Krallen hinter Mark Baker her, war jedoch zu langsam. Der Zerfallsprozeß hatte schon eingesetzt. Der linke Fledermausflügel hing lahm herunter, löste sich von dem mausähnlichen Körper und zerflatterte wie Staub. Der rechte Flügel folgte. Ehe es die Bestie endgültig am Rand des Hochplateaus erwischte, warf Peter noch einen Blick in das Gesicht des Ungeheuers. Er wich fröstelnd zurück. Die Augen glühten in unbeschreiblichem Haß. Das Maul stand weit offen und entblößte die langen, nadelspitzen Vampirzähne. Aus dem Rachen des Ungeheuers drang gefährliches Fauchen und Knurren. Dann war es vorbei. Der Körper sank wie ein leerer Sack in sich zusammen und zerfiel zu Staub. Ein Lufthauch wehte ihn für immer davon. Auch der Stahlpfeil hatte sich aufgelöst. Er war von dem Vampir auf53 �
gesogen worden. »Holen wir den Wagen«, entschied Peter Winslow. »Und dann nichts wie weg von hier!« »Denken Sie, Sir, daß unsere Feinde schon aufgeben?« fragte Harvey warnend. »Nein, natürlich nicht«, sagte Peter. »Aber haben Sie einen besseren Vorschlag? Wir holen jetzt den Wagen. Sie achten auf unsere Umgebung.« Mark Baker war schon vorausgegangen und sah sich den Jeep von drei Seiten an. An die vierte Seite kam er nicht heran. »Ich würde mich um keinen Preis der Welt hineinsetzen«, sagte er, als der Großmeister neben ihn trat. »Der Wagen steht viel zu unsicher.« »Dann werde ich es versuchen«, sagte Peter entschlossen. »Nein«, widersprach der Satansspürer. »Sie auch nicht! Notfalls halten wir alle Sie mit Gewalt zurück. Das wäre nämlich ein Selbstmordunternehmen.« »Unsinn«, versuchte Peter, die Bedenken zu zerstreuen. »Es wird schon klappen.« »Nein«, widersprach der Satansspürer noch einmal. »Ich habe aber eine bessere Idee. Wir ziehen den Wagen von der Kante weg.« Er erklärte ihnen, wie er sich das vorstellte. Peter war einverstanden. Sie befestigten das Abschleppseil am Vorderteil des Jeeps. Peter kroch
noch einmal in den Wagen und löste Handbremse und Gang. Der Jeep rollte ein kleines Stück zurück und somit näher an die Kante heran. Dann packten Harvey, Maud und Mark Baker zu und hielten den Jeep fest. Peter wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sie hatten aus dem anderen Ende des Stahlseils eine Schlaufe gebildet, in die Peter Winslow wie die anderen griff. Gemeinsam begannen sie zu ziehen. Schwerfällig rollte der Jeep einige Zoll vorwärts. »Wir schaffen es!« rief Peter keuchend. »Zugleich!« Wieder mahlten die Räder knirschend durch das Geröll. Plötzlich ließ Maud die Schlinge des Seils los, warf sich zur Seite und stieß einen Schrei aus. »Nicht loslassen!« rief sie. Ihre Hände schlossen sich um eines der Gewehre. Der Lauf zielte flach über das Felsplateau. Peter krallte die Finger um das Stahlseil und wandte den Kopf. Sein Herz erstarrte zu Eis, als er den Vampir entdeckte. Das Ungeheuer raste lautlos nur eine Handbreit über dem Boden daher. Diesmal hatte sich der Vampir nicht durch einen Schrei angekündigt. Dieser Blutsauger war vorsichtiger als sein Artgenosse. 54 �
Peter hörte das Zischen der Druckluft. Wenn Maud jetzt daneben schoß, war alles aus! Der Vampir zeigte keine Wirkung. Das aufgerissene Maul mit den Killerzähnen kam rasend schnell näher. Peter sah das Funkeln der schwarzen Augen und zog den Kopf ein, obwohl das sinnlos war. Doch dicht vor Maud drehte der Vampir ab. Peter entdeckte den Stahlpfeil! Er hatte wirklich getroffen! Maud packte ein zweites Gewehr und jagte noch zwei Pfeile hinter der flüchtenden Bestie her. Mitten in der Luft bäumte sich der Vampir auf, flatterte und stürzte reglos wie ein Stein in die Tiefe. »Nachladen!« rief Peter seiner Helferin zu. Der Rat war überflüssig. Maud dachte selbst daran. In größter Hast lud sie die Gewehre. Dann erst sprang sie auf und kam den Männern zu Hilfe. »Großartig«, murmelte Harvey. Ein Lob aus seinem Mund zählte fast noch mehr, als wäre es von dem Großmeister selbst gekommen. Harvey war mit Lob mehr als geizig. »Schnell, bevor der nächste Vampir kommt!« rief Peter keuchend. »Wir brauchen den Jeep! Zugleich!« Er gab den Takt an, und gemeinsam schleppten sie das schwere Fahrzeug in die Mitte des Plateaus.
Während die anderen den Wagen sicherten, schob Peter sich auf den Fahrersitz, blockierte die Handbremse und legte den Gang ein. »Jetzt müssen wir den Wagen noch nach drüben bringen«, sagte Mark Baker. »Das wird ein hartes Stück Arbeit.« Peter nickte. Sein Gesicht war verkrampft. »Ich übernehme das Steuer«, sagte er. »Das Sims könnte gerade breit genug sein. Harvey, Sie gehen vor und weisen mich ein. Mr. Baker, sie gehen auf die andere Seite voraus. Maud, du folgst dem Jeep. Vorwärts!« Unter dem Feuerschutz seiner Freunde lief Mark Baker auf die feste Hochfläche hinüber. Er hatte sich mit Waffen versehen, um jeden Angriff zurückzuschlagen. Auch Maud kümmerte sich nicht um den Jeep, sondern blickte nach allen Seiten. Ihre Sinne waren zum Zerreißen angespannt. Sie fühlte, daß der Feind noch einen Trumpf besaß, den er jederzeit ausspielen konnte. Peter startete. Butler Harvey schritt rückwärts über das Felsband und leuchtete mit seiner Taschenlampe unter den Jeep. Auf Harveys Stirn standen dicke Schweißtropfen. Die Reifen erreichten links und rechts genau die Felskante. Er nickte dem Großmeister zu. Peter ließ die Kupplung kommen 55 �
und manövrierte den Jeep Zoll für Zoll über das Felsband. Dabei versuchte er, das Zittern in seinen Händen unter Kontrolle zu halten. Unsicherheit war das Letzte, das er jetzt brauchen konnte. Eine falsche Bewegung, und der Jeep landete im Abgrund… * Lord Hubbard Winslow hielt sich ständig in der Nähe eines Telefons auf. Er wollte sich nicht auf seine Mitarbeiter im Herrenhaus verlassen. Möglicherweise mußte in einer Notsituation sofort gehandelt werden. Das Telefon stand kaum still. Verschiedene Ordensangehörige aus London riefen an und teilten dem Großmeister mit, daß sie alle in Frage kommenden Personen überprüft hatten. »Sie haben mir die Namen genannt, Sir«, sagte zum Beispiel eine Frau, die neben ihrem Beruf als Sekretärin für den Orden der Weißmagier arbeitete. »Ich habe zwei Frauen dieses Namens aufgetrieben. Die eine lebt in einem Altersheim und ist bettlägerig. Die andere ist erst sieben Jahre alt und bestimmt nicht mit Schwarzer Magie verbunden. Was soll ich tun?« »Weitersuchen«, entschied der ehemalige Großmeister. Von allen anderen Mitgliedern des
Ordens erhielt er ähnliche Auskünfte. Mittlerweile war er überzeugt, daß mit Peters Anruf etwas nicht stimmte. Er hütete sich jedoch, das am Telefon auszusprechen. Darum forderte er seine Leute auf, die Augen offen zu halten. Gegen Mitternacht erhielt Lord Hubbard Winslow noch einen Anruf. »Peter!« rief er erfreut, als er die Stimme seines Sohnes erkannte. »Wo bist du? Wie geht es bei euch?« »Schlecht geht es!« Peter stöhnte unterdrückt. »Wir sind in dem Motel in einen Hinterhalt geraten. Es hat mich erwischt! Warte, Harvey will mit dir sprechen!« Lord Hubbard erbleichte. Er hörte, wie der Hörer wechselte. Dann räusperte sich jemand. »Sir, es tut mir leid, aber Ihren Sohn hat es böse erwischt.« Das war eindeutig Butler Harveys Stimme. »Ein Vampir hat ihn so schlimm in die Schulter gebissen, daß ich ihn jetzt ins Krankenhaus nach Edinburgh bringen muß.« »Um Himmels willen«, murmelte Lord Hubbard. »Was meinen Sie, Harvey? Soll ich nach Edinburgh kommen? Oder braucht Peter mich nicht?« »Ich würde Ihre Anwesenheit dringend empfehlen, Sir«, antwortete der Butler. »Die Verletzung an sich ist nicht so schlimm, aber wenn Sie daran denken, wem sie gelungen 56 �
ist…« »Ja, ich verstehe«, erwiderte der Lord. »Ich mache mich sofort auf den Weg und nehme die nächste Maschine nach Edinburgh. Sie können mich vom Flughafen abholen und mir bei dieser Gelegenheit sagen, in welchem Krankenhaus mein Sohn liegt.« »Selbstverständlich, Sir«, versicherte der Butler. »Maud und Mr. Baker sind übrigens zu uns gestoßen. Sie konnten jedoch den Angriff des Vampirs nicht mehr abwehren.« »Ja, ich verstehe«, schloß Lord Hubbard das Gespräch. »Ich mache niemandem einen Vorwurf. Achten Sie gut auf meinen Sohn, Harvey! Sie sind für ihn verantwortlich!« »Ich werde mein Bestes geben, Sir«, versicherte Harvey, ehe er auflegte. Lord Hubbard blickte auf, als sein Privatsekretär zu ihm trat. »Sie fahren nach Edinburgh, Sir?« erkundigte sich der Sekretär. »Soll ich ein Ticket bestellen und mich nach den Abflugzeiten erkundigen?« »Nein«, erwiderte der Lord schroff. »Das mache ich selbst. Lassen Sie mich allein.« Der Sekretär hatte den Inhalt des Gesprächs mitbekommen. Daher verstand er die begreifliche Erregung des Lords und nahm ihm sein schroffes Verhalten nicht übel. Kaum hatte sich die Tür hinter sei-
nem Mitarbeiter geschlossen, als Lord Winslow eine Londoner Nummer wählte. Eine der Stimme nach noch junge Frau meldete sich. Lord Hubbard erinnerte sich gut an sie. Obwohl schon sechsundzwanzig, wirkte sie mit ihrer zierlichen Figur, kurzen schwarzen Haaren und kindlich blauen Augen wie fünfzehn. »Kommen Sie so schnell wie möglich nach Sagon Manor«, befahl Lord Hubbard. »Ich komme«, sagte die Angerufene nur. Lord Hubbard lief in seinem Arbeitszimmer wie ein gefangenes Raubtier auf und ab. Bei diesem Anruf hatte der Butler gesagt: Die Verletzung ist an sich nicht so schlimm, aber wenn Sie daran denken, wem sie gelungen ist… Lord Hubbard kannte den Butler seit vielen Jahren. Genau genommen waren es vierzig Jahre. Daher kannte er auch Harveys geschraubte, altmodische Ausdrucksweise. Harvey mochten hundert Möglichkeiten einfallen, über Peters Verletzung zu sprechen. Er hätte jedoch niemals gelungen gesagt. Das klang danach, als freue er sich darüber. Bei allen Schrullen, die Harvey besaß oder auch nur spielte, hätte man seine Empörung über eine solche Verletzung aus jedem seiner Worte herausgehört. 57 �
Eines stand fest. Nicht Harvey hatte angerufen, sondern ein Mitglied des feindlichen Lagers. Es machte Lord Hubbard fast wahnsinnig, daß er nicht wußte, ob sein Sohn wirklich verletzt war. Er wußte nur, daß ihm die Gegenseite eine Falle stellte. Deshalb wartete er mit Ungeduld auf seine Helferin aus London. Sie mußte Klarheit in diesen verworrenen Fall bringen. * Butler Harveys äußerliche Ruhe übertrug sich auf den Großmeister. Peter Winslow hielt das Steuer fest, aber nicht verkrampft. Er zwang sich dazu, nicht nach links oder rechts zu sehen. Ein Blick in den Abgrund hätte ihn nur unsicher gemacht. Er starrte auf Harveys Hände, die ihm mit knappen Zeichen andeuteten, wie er steuern mußte. Die Reifen des Jeeps knirschten auf dem unebenen Untergrund. Die Breite des Felsbandes reichte eben noch aus, um dem Jeep Halt zu bieten. An manchen Stellen wurde das Sims jedoch so schmal, daß jeweils ein Teil des Reifens schon über die Kante hinaus reichte. Harvey atmete schwer. Wenn jetzt ein Stück aus dem Sims brach, war der Großmeister verloren. Sie hatten die Mitte des Bandes
erreicht. Auch Mark Baker und Maud Orwel waren vor Aufregung naßgeschwitzt. Beide konzentrierten sich auf mögliche Angriffe. Die absolute Schwärze der Nacht erschwerte es ihnen, Feinde rechtzeitig zu erkennen. Immer wieder suchten ihre Blicke den Himmel ab. Dort zeigte sich kein Vampir. Auf dem Plateau und dem festen Boden rührte sich nichts. Schon glaubten sie an einen friedlichen Verlauf des gefährlichen Unternehmens, als ein lauter Ruf durch die Nacht gellte. »Peter! Peter Winslow! Hier bin ich! Sieh her zu mir!« Maud und Harvey erkannten die Stimme sofort und zuckten wie unter Peitschenhieben zusammen. Mark Baker, der Satansspürer, hatte eine vage Erinnerung an diese junge Frauenstimme, konnte sie jedoch nicht einordnen. Dennoch erschrak er über den Klang. Kein Zweifel, diese Stimme gehörte einer Feindin. Peter rammte den Fuß auf die Bremse. Der langsam rollende Jeep nickte in der Federung. In seiner Aufregung würgte Peter den Motor ab. Er saß wie zu Eis erstarrt am Steuer. Seine Augen weiteten sich, als er die bleiche Gestalt auf einem Hügel des Festlandes entdeckte. »Ja, ich bin es!« rief die Frau. Ihre 58 �
Stimme trug über eine Strecke von ungefähr einer Meile. Näher kam sie nicht heran. »Peter, ich hole dich jetzt in mein Reich! Du kannst dich nicht mehr wehren! Es ist Zeit!« Peter Winslow wischte sich über die Augen, als könne er das Bild seiner Schwester Marthe aus seinem Gedächtnis verbannen. Als die Ordensmitglieder ihn zum neuen Großmeister gewählt hatten, war Marthe Winslow in das Lager der Schwarzmagier übergelaufen. Seither war sie spurlos verschwunden! Und bis heute hatte Peter nicht herausgefunden, wo sie sich aufhielt. War sie in eine andere Dimension übergewechselt? Er schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Gegenwart. »Was willst du?« sagte er in normaler Lautstärke. Er war sicher, daß Marthe ihn trotz der großen Entfernung hörte. »Ich will nicht, daß du Großmeister bist«, antwortete Marthe. »Wir werden die Herren der Welt sein, nicht ihr! Die Schwarze Magie wird siegen, nicht die Weiße!« »Marthe«, sagte Peter bitter. »Unsere Mutter starb damals durch Schwarzmagier.« »Unsere Mutter hat ein Flugzeug mit einem Feind an Bord zum Absturz gebracht!« geiferte Marthe triumphierend. »Unsere Mutter hat es nur unter
Zwang getan«, schleuderte Peter seiner Schwester entgegen. »Freiwillig hätte sie niemals mitgemacht. Aber du bist freiwillig in das andere Lager übergelaufen! Das war Verrat, Marthe!« »Sei still!« Ihre Stimme überschlug sich. »Ich wollte auf der Seite der Mächtigen stehen! Dort bin ich jetzt! Und du kommst zu uns! Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich hole dich!« »Nein!« wehrte Peter ab. »Das kommt niemals in Frage!« »Dann hole ich dich mit Gewalt!« Marthes Gestalt verblaßte. Peter blieb sekundenlang wie erstarrt sitzen, ehe er sich aufraffte und den Motor anließ. Auch Harvey nahm sich zusammen und wies seinen Großmeister ein. Mark Baker wischte sich den Schweiß von der Stirn und verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Die Ankündigung der Schwester des Großmeisters war eine glatte Drohung gewesen. Peter Winslow schwebte in höchster Gefahr. Genau das sagte sich auch Maud, aber sie ging noch einen Schritt weiter. Sie kannte Marthe Winslow von früher. Die Schwestern des Großmeisters hatten immer ein Schattendasein geführt. Ihr Vater hatte sie von allem abgeschirmt und ihnen kein normales Leben gestattet. Lord Hubbard hatte befürchtet, daß sich 59 �
das tragische Schicksal seiner Frau an einer seiner Töchter wiederholen könne. Während Alicia Winslow sich gefügt hatte, war Marthe zur Verräterin geworden. Und keine kannte sich in der Familie Winslow besser aus als Marthe. Sie war eine viel gefährlichere Gegnerin als alle Untoten und Vampire, weil sie die Schwachstellen ausnutzen konnte. Mauds Gedanken überschlugen sich. Eine Schwachstelle des jungen Großmeisters war seine Ehrlichkeit. Heimtücke und List waren ihm ein Greuel. Daher erwartete er stets einen offenen Angriff seiner Feinde, obwohl diese aus dem Lager des Bösen kamen. Hier auf dieser Felsnadel war ihnen eine heimtückische Falle gestellt worden. Danach waren offene Angriffe durch Untote und Vampire erfolgt. Alles hatte keinen Erfolg gebracht. Maud folgerte, daß es nun wieder zu einem hinterlistigen Angriff kommen mußte. Ihr Blick fiel in die Tiefe. Nur von dort erwarteten sie keinen Feind. Ihre Überlegung war richtig. Zuerst glaubte sie an eine optische Täuschung, doch nach einigen Sekunden war sie sicher. An der Felswand, auf deren Krone der Jeep dahinschlich, kroch ein dunkler Schatten hoch.
Maud blieb ganz ruhig stehen und konzentrierte sich. Dennoch konnte sie nicht erkennen, was sich von unten näherte. Es war groß und veränderte ständig seine Form. Maud schätzte, daß es etwa drei Meter im Quadrat maß. Das Wesen stieg mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und sehr langsam, aber es konnte sich auch Zeit lassen. Der Jeep rollte nämlich noch langsamer weiter. Maud schätzte, daß der Schatten ungefähr in einer halben Minute den Jeep erreichen würde. Hätte sie den Großmeister durch einen Zuruf gewarnt, hätte sie auch den Angreifer alarmiert, und er wäre über den Jeep hergefallen. Sie schob die Pistole mit den weißmagisch besprochenen Kugeln in den Gürtel ihrer Hose und nahm das Gewehr von der Schulter. Nach der Größe des Schattens tippte sie auf einen Vampir, der keinen Angriff aus dem Flug riskierte, sondern die Felswand ausnutzte. Mit den krallenbewehrten Beinen waren diese Bestien hervorragende Kletterer. Mark Baker wurde auf Mauds Verhalten aufmerksam. Auch er wechselte die Waffe. Er blickte ununterbrochen zu Maud, um sich nach ihr zu richten. Er selbst hatte den Feind nicht entdeckt. Maud überprüfte mit einem knappen Blick, ob das Gewehr einsatzbereit war. Ruckartig riß sie es hoch. 60 �
Der Lauf zeigte abwärts. Der Schuß war ungeheuerlich schwierig, weil der Schatten flach an der Felswand klebte und Maud schräg nach unten zielen mußte. Die Druckluft trieb den Stahlpfeil durch den Lauf, aber gleich darauf sah Maud die Funken an der Felswand. Der Pfeil hatte eine herausragende Steinzacke getroffen! Der Schatten löste sich lautlos von der Wand. Ein Vampir, größer und mächtiger als die beiden anderen! Maud stockte für einen Moment der Atem. Das Entsetzen lähmte sie. Dieser Vampir hatte zwei Köpfe! Beide waren viel größer als bei anderen Vampiren! Aus den Mäulern ragten Zähne, die etwa die Länge eines Männerarmes erreichten. Als sie endlich abdrückte, schwang sich der Vampir bereits hoch in die Luft. Ihr Pfeil verfehlte den Vampir genau wie der des Satansspürers. Doch sie schossen sofort wieder und trafen. Allerdings wich der Vampir so schnell aus, daß sich die Pfeile nur in seine Schwingen bohrten. Es machte dem Vampir nichts aus. Er schüttelte sich, und die Pfeile fielen wirkungslos von ihm ab. Dann ließ er sich fallen und prallte auf den Jeep. Glas splitterte. Peter zog den Kopf ein. Er hatte das typische Zischen der Gewehre
gehört und schon geahnt, daß ein Vampir angriff. Aber auch er hatte nicht damit gerechnet, daß der Feind so mächtig war. Harvey ließ sich fallen, als er das Rauschen der Schwingen hörte. Das rettete ihm das Leben. Der Vampir wollte zwei Fliegen mit einem Streich treffen. Während der Vampir nämlich auf dem Jeep hockte, schlug er mit einem Flügel nach dem Butler und verfehlte ihn nur knapp. Harvey schoß und traf. Der Vampir brüllte wütend auf und rüttelte heftig an dem Jeep. Peter blieb die Luft weg. Er fühlte, wie der Wagen ein Stück wegrutschte, obwohl er den Fuß auf die Bremse preßte. Noch ein Ruck, und es war aus! Seine Hand zuckte zum Nebensitz. Dort lag seine Pistole mit den präparierten Kugeln. Maud schluckte vor Aufregung und zwang sich, ruhig und genau zu zielen. Sie mußte den Körper des Vampirs treffen, wenn sie Peter retten wollte. Auch Mark Baker ließ sich für diesen Schuß mehr Zeit, als er eigentlich zur Verfügung hatte. Harvey schoß, bis das Magazin der Pistole leer war. Doch der Vampir besaß unglaubliche Fähigkeiten. Er wich jedem Schuß so geschickt und schnell aus, daß ihn die Kugeln nur streiften oder gar verfehlten. 61 �
Durch die ruckartigen Bewegungen des auf dem Dach hockenden Vampirs schwankte der Jeep so heftig, daß Peter schon mit seinem Leben abschloß. Der Großmeister griff zu einem letzten Mittel. Er richtete die Pistole senkrecht nach oben, hoffte, daß die Kugeln das Dach überhaupt durchdrangen, und drückte ab. In dem engen Wageninneren betäubte ihn der Knall fast. Aber die Kugel durchdrang das Blech des Daches und prallte nicht als Querschläger ab. Peters Zeigefinger krümmte sich immer wieder, bis die Pistole leergeschossen war. Über sich hörte er einen langgezogenen klagenden Laut. Eine Kralle rutschte mit einem durchdringenden Geräusch über die Windschutzscheibe. Der Vampir mit dem Doppelkopf versuchte vergeblich, sich auf dem Wagendach zu halten. Immer wieder glitt er ab, krallte sich fest, rutschte noch einmal ab. Dabei geriet der Wagen gefährlich ins Wanken. Peter hatte seine ganze Munition verschossen. Wenn der Vampir nicht bald losließ, riß er den Großmeister mit in den Tod. Maud und der Satansspürer schossen pausenlos, und jetzt trafen die Stahlbolzen. Der Dämon konnte nicht mehr ausweichen! Noch ein Aufschrei, die Krallen
fanden am Jeep keinen Halt. Der Dämon kippte seitlich in die Tiefe. Erschöpft sank Peter über dem Steuer zusammen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er fühlte sich wie erschlagen. Der pausenlose Kampf gegen seine Feinde, dazu die endlose lange, schwierige Fahrt! Er konnte nicht mehr. »Alles in Ordnung?« rief Maud. »Peter, antworte!« Der Klang ihrer Stimme brachte ihn zur Besinnung. Er richtete sich auf und hob winkend die Hand. Harvey erhob sich von dem schmalen Felsband. Er hob die Hände, um den Großmeister einzuweisen. Mark Baker lud seine Waffen nach und ließ keine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit nach. Er beobachtete pausenlos die Umgebung. Peter fragte sich, ob sich seine Schwester Marthe noch einmal melden würde. Sie zeigte sich aber nicht mehr. Ungestört erreichte er das Ende des Felsbandes und fuhr den Jeep ein Stück auf festen Untergrund. Diese Runde hatten seine Feinde und Marthe verloren. Sie waren jedoch noch lange nicht am Ziel. Der Alte im Moor wartete vorläufig vergeblich auf ihre Hilfe. Das wußten auch seine Begleiter. Deshalb gab es keine Glückwünsche und keinen Freudentaumel, als sie in 62 �
den Jeep stiegen. Peter räumte seinen Platz für den Satansspürer. Er war einfach zu erschöpft, um jetzt den Wagen zu steuern. Eine halbe Stunde fuhren sie auf einem schmalen Weg, der sogar dem Jeep große Schwierigkeiten bereitete. Dann endlich erreichten sie die asphaltierte Straße. Von jetzt an folgten sie dem richtigen Straßenverlauf. Sie erreichten ein Dorf, dessen verwittertes Schild sie nicht einmal entziffern konnten. »Halt«, sagte Peter, als er eine Telefonzelle entdeckte. Er meldete den Absturz der beiden Fremden bei der Polizei und beschrieb die Stelle, so gut es ging. Seinen Namen verschwieg er jedoch. Es war sonst nicht seine Art, anonym anzurufen. Doch sie hatten schon viel zu viel Zeit verloren. Sie durften sich keine Stunde mehr irgendwo aufhalten, sondern mußten in einem Stück durchfahren. Niemand fragte, wen er angerufen hatte, als er wieder einstieg. Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück und dachte an seine Schwester Marthe. Es schmerzte ihn, in der Familie eine Verräterin zu haben. Und er gab die Hoffnung nicht auf, Marthe eines Tages doch auf den richtigen Weg zurückholen zu können. *
Ein grauer, trüber Morgen dämmerte über Sagon Manor herauf. Lord Hubbard Winslow stand am Fenster seines Arbeitszimmers und starrte in den Nebel hinaus. »Du hast keine Minute geschlafen, Dad«, erklang die Stimme seiner Tochter Alicia. Lord Hubbard drehte sich um und zuckte heftig zusammen. Alicia tat, als habe sie nichts bemerkt. Sie war daran gewöhnt, daß ihr Vater so reagierte, wenn er in Gedanken versunken war. Alicia kannte die große Ähnlichkeit, die sie mit ihrer früh verstorbenen Mutter hatte. Schwarze Haare und schwarze Augen fielen an Alicia sofort auf, dazu ein bescheidenes, zurückhaltendes Wesen. Viele Leute trauten ihr nichts zu. In Wirklichkeit war Alicia hochintelligent und tatkräftig. Sie bekam nur viel zu selten Gelegenheit, ihre Fähigkeiten einzusetzen. »Guten Morgen, Alicia.« Lord Hubbard rieb sich die Augen und massierte leicht sein Gesicht. »Du solltest eine kalte Dusche nehmen und starken Tee trinken«, riet Alicia und überspielte mit einem Lächeln die tiefen Sorgen, die sie sich um Vater und Bruder machte. »Ich habe keine Zeit«, antwortete Lord Hubbard gereizt. »Ich warte.« »Auf die Dopplerin?« Der Lord zuckte zusammen. »Woher weißt du das?« rief er. »Ich 63 �
habe mit niemandem darüber gesprochen.« Alicia lächelte schmerzlich. »Du solltest endlich einsehen, Dad, daß ich kein kleines Mädchen bin. Ich bin sogar schon älter als fünfundzwanzig.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über die verhärmten Züge des Lords. »Du hast sicherlich recht, Alicia. Also gut, es stimmt, ich warte auf die Dopplerin.« »Und wen soll sie verdoppeln?« Alicia deutete auf ihren Vater. »Dich? Warum?« »Du gibst ja doch keine Ruhe.« Der Lord seufzte. »Ich habe einen Anruf erhalten. Einen fingierten Anruf. Man will mich von Sagon Manor weglocken. Nun wird keiner unserer Feinde denken, daß er Sagon Manor überfallen kann. Unser Haus ist durch einen mächtigen Bannspruch geschützt. Daher geht es darum, daß ich den Schutzbereich verlasse.« Alicia wurde blaß. »Man will dich umbringen.« Der Lord nickte. »Vermutlich.« Er wandte sich wieder dem Fenster zu. »Sie kommt«, sagte er und hastete nach unten. Alicia blieb im Arbeitszimmer stehen und hörte von unten die Stimmen ihres Vaters und einer mädchenhaft wirkenden Frau. Sie kannte die Fähigkeiten der zarten, unscheinbaren Frau. Sie hatte schon einmal in einem Kampf gegen die Geister und Dämonen von Mort-
land eine wichtige Rolle gespielt. Langsam ging Alicia in ihr Zimmer und öffnete den Schrank. Ihr Vater wußte nicht, daß sie Waffen sammelte. Er wollte verhindern, daß sie an dem Kampf gegen das Böse teilnahm. Sie sollte nicht auch in Gefahr geraten. Alicia Winslow griff zu einem Blasrohr, einer einfachen und altmodischen Waffe, die jedoch sehr wirkungsvoll war. Die dazugehörigen Pfeile hatte sie selbst gefertigt, weißmagisch präpariert und in einem Köcher aufbewahrt. Sie verließ leise ihr Zimmer und beugte sich über die Brüstung im ersten Stock. Ihr Vater hatte es wirklich sehr eilig. Er zog sich mit der Dopplerin nicht zurück, sondern führte die sonderbare Zeremonie gleich in der Halle aus. Die Dopplerin legte ihm leicht die Hände auf die Schultern, sah ihn eindringlich an und wandte sich zur Seite. Für einen Moment wirkte Lord Hubbard wie ein lebensgroßes Foto, das unscharf wurde. Seine Konturen lösten sich auf, und neben ihm entstand in gleicher Größe eine zweite Gestalt. Alicia kannte dieses Phänomen. Trotzdem beobachtete sie es mit Staunen und Bangen. Zuletzt stand ihr Vater zweimal in der Halle, und sie selbst hätte nicht unterscheiden können, wer der Richtige war. 64 �
Lord Hubbard und die Dopplerin traten an ein Fenster der Halle, während die Kopie Sagon Manor verließ. Das war für Alicia Winslow das Signal. Sie hastete zur Hintertreppe, eilte ins Erdgeschoß und durch die Küche. »Wohin wollen Sie denn?« rief Mrs. Applegast. Alicia winkte der Köchin zu, lief durch den Küchengarten und schlug einen weiten Bogen. Nach einer Weile hörte sie einen Automotor. Sie hatte fast schon die Grenze des Besitzes von Sagon Manor erreicht, als der Wagen ihres Vaters auf der schmalen Straße auftauchte. Scheinbar saß er selbst am Steuer. Alicia, nahm das Blasrohr hoch und legte einen Pfeil ein. Ihre Blicke streiften über die Büsche an der Grenze zu Mortland. Sie glaubte, dort drüben eine Bewegung zu sehen. Sicher war sie nicht. Das Auto rollte über die unsichtbare Grenze von Sagon Manor und erreichte das Niemandsland. Wie erwartet, stürzte sich eine ganze Meute von Feinden auf das Auto. Vor dem Kühler wölbte sich die Asphaltdecke hoch auf und platzte. Aus der Tiefe tauchten mehrere schwarze Gestalten auf, die keine bekannte Form hatten. Sie wirkten wie dicke Quallen, die mit ihren
Fangarmen das Erdreich aufwühlten. Erddämonen! Ihre Aufgabe war erfüllt. Sie sollten dem Wagen die Flucht versperren. Hinter dem Auto wiederholte sich der gleiche Vorgang. Das Auto saß in der Falle. Der falsche Lord griff zu einer Pistole und richtete sie auf die anstürmenden Gestalten. Mortland sandte die besten Kämpfer. Riesenhafte Untote rückten an der Seite von Skeletten heran. Schlangen und schuppige Ungeheuer glitten rasend schnell durch das Unterholz. Alicia hütete sich, das sichere Gebiet von Sagon Manor zu verlassen. Sie zielte mit dem Rohr, blies hinein und verfolgte den Flug des kleinen, schimmernden Pfeils. Er fand sein Ziel und senkte sich in eines der schuppigen, formlosen Wesen, einen Dämon der niedrigsten Stufe. Das Wesen platzte förmlich auseinander. Der Erfolg ermutigte Alicia. Pfeil um Pfeil schickte sie den Angreifern entgegen. Sie steigerte sich in blinden Zorn. Sie vergaß sogar, daß diese Monstren nur eine Kopie ihres Vaters angriffen. Sie sah nur noch ihren Vater, der in seinem Auto eingekeilt war. Die Untoten zertrümmerten das Auto mit mörderischen Schlägen und bogen das Blech auseinander, als 65 �
wäre es Papier. Die Skelette packten die Kopie und zerrten sie aus dem zerstörten Wagen. Sie fielen über den vermeintlichen Lord her. Alicia schrie gellend auf, als sie das Ende des Kampfes miterleben mußte. Ihre Pfeile richteten zwar große Verluste unter den Wesen von Mortland an, konnten die Kopie jedoch nicht retten. Einer der Untoten holte zum letzten Schlag aus. Er traf… Die Kopie verwandelte sich im selben Moment in eine gleißende weiße Feuerkugel, die sich rasend schnell ausbreitete. Das unerträglich helle Feuer erfaßte alle Angreifer, die von Mortland herangeströmt waren. Die weißmagische Glut wütete nur wenige Sekunden, dann erlosch sie. Zurück blieb… nichts. Nicht einmal das Autowrack! Sogar die Straße befand sich wieder im Urzustand. Verwirrt richtete sich Alicia auf. »Du hast tapfer, aber vergeblich gekämpft«, ertönte die Stimme ihres Vaters. Sie fuhr herum. Ihr Vater stand lächelnd neben ihr. »Du gehst mit dem Blasrohr sehr geschickt um, Alicia«, fuhr Lord Hubbard fort. »Ich sehe schon, du wirst wirklich ein wertvolles Mitglied des Ordens sein. Aber du mußt lernen, deine Kräfte richtig einzuset-
zen.« »Für eine einzelne Person habe ich doch genug erreicht!« rief sie ärgerlich. Die ruhige Haltung ihres Vaters forderte ihren Widerspruch heraus. »Du bist tüchtig«, wiederholte ihr Vater. »Hättest du mir jedoch vorher gesagt, was du vorhast, hätte ich es dir ausgeredet. Ich hatte den Wagen und mein Duplikat mit einem weißmagischen Bann belegt. Auf diese Art wurden zahlreiche Angreifer ausgeschaltet.« »Und was hätte ich dabei tun können?« Alicia schüttelte heftig den Kopf, daß ihre schwarzen Haare in die Stirn fielen. »Du hättest mich daneben stehen lassen. Ich hätte wieder nichts unternehmen können.« »Du hättest zum Beispiel die weißmagische Formel lernen können, die ich anwandte.« Lord Hubbard lächelte seiner Tochter beruhigend zu. »Du weißt, daß ich dich bisher nicht tiefer in unsere Geheimnisse einweihte, weil ich dich schützen will. Aber jetzt sehe ich ein, daß du dich nicht zurückhalten läßt.« Alicia sah ihren Vater gespannt an. »Bedeutet das, daß du mich als vollwertiges Mitglied des Ordens behandeln wirst?« »Ich werde mir zumindest Mühe geben«, versprach Lord Hubbard. »Es wäre mir allerdings lieber, du würdest dich zurückhalten.« »Im Zeitalter der Gleichberechti66 �
gung kannst du das kaum ernsthaft erwarten«, entgegnete Alicia lächelnd. Ihr Vater seufzte. »Nein, das tue ich auch nicht. Mir wäre nur wohler, wenn die ganze Familie nichts mit diesen fürchterlichen Kämpfen zu tun hätte.« »Mir auch, Dad«, versicherte Alicia hastig. »Wir haben es uns nicht ausgesucht. Es ist so, und wir müssen damit leben.« Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie hinzu: »Übrigens hast du jetzt noch immer Gelegenheit, mir die weißmagische Formel beizubringen.« Ihr Vater zögerte. »Du hast sie doch nicht vergessen, Dad?« fragte Alicia mit gespieltem Erstaunen. »Ich wußte nicht, daß dein Gedächtnis so nachgelassen hat!« Lord Hubbard lächelte seiner Tochter zu. »Du bist schlauer, als ich dachte, Alicia!« Er nickte und deutete auf das Herrenhaus. »Also gut, komm! In meinem Arbeitszimmer stehen einige Bücher, die ich dir zeigen werde. Aus ihnen kannst du eine Menge lernen.« Alicia Winslow folgte ihrem Vater mit heftigem Herzklopfen. Sie war keine Kämpfernatur, doch der Vorfall vorhin hatte ihr wieder einmal deutlich gezeigt, wie wichtig der Kampf gegen das Böse war. Natürlich sorgte auch sie sich um ihren Bruder und dessen Begleiter.
Als sie jedoch von ihrem Vater einige alte Folianten mit Beschwörungsformeln und geheimen Informationen über die Helfer der Hölle erhielt, vergaß sie alles andere. Sie begann sofort zu lesen. Und je weiter sie kam, desto deutlicher erkannte sie die Gefahren, die von den Heerscharen aus einer anderen Dimension drohten. Sie hatte bisher wirklich nur die Spitze eines riesigen Eisbergs gekannt, doch allein schon diese Spitze war schauerlich genug gewesen. Nun drang sie in die Tiefe vor, und die Abgründe an Schlechtigkeit ließen sie frieren. Erst jetzt begriff sie, in welcher Gefahr der Großmeister und seine Helfer schwebten. Und sie zweifelte fast schon daran, Peter jemals wiederzusehen. * Eine Stunde vor Sonnenaufgang beugte sich Peter Winslow so weit vor, daß seine Stirn fast die Windschutzscheibe des Jeeps berührte. Zu diesem Zeitpunkt saß Maud am Steuer. Der Satansspürer und Harvey schliefen auf den Rücksitzen. Maud hütete sich, den Großmeister durch Fragen zu stören. Obwohl Peter einige Jahre jünger als sie war, respektierte sie seine Stellung innerhalb des Ordens. Er stand sogar noch über dem Alten aus dem Moor, der eine absolute Respektsperson 67 �
war. Sogar der Alte mußte sich nach dem Wort des Großmeisters richten. Wenn Peter sich so sonderbar wie jetzt verhielt, hatte das bestimmt einen guten Grund. Im Hochsommer dauerte in Schottland nachts die Periode absoluter Dunkelheit nur zwei bis drei Stunden. Seit drei Uhr nachts fuhren sie bei Dämmerlicht. Jetzt war es schon sehr hell. Man konnte Einzelheiten der dunklen Hügel erkennen, zwischen denen sich die Straße ins Hochland hinein wand. »Ich habe die Spur«, sagte Peter leise. »Siehst du sie?« »Nein«, antwortete Maud. »Ich sehe sie ganz deutlich.« Peter seufzte erleichtert. »Jetzt weiß ich mit Sicherheit, daß nur der Großmeister den Weg zur Hütte des Alten aus dem Moor findet.« Maud wollte fragen, ob sie seiner Meinung nach ohne Zwischenfall das Moor erreichen würden. Sie verkniff sich jedoch auch diese Bemerkung, da Peter sich in einer Art Trancezustand befand. Er hielt die Augen halb geschlossen und neigte den Kopf, als lausche er auf eine unhörbare Stimme. »Marthe ist in der Nähe«, sagte er nach einer Weile. Maud griff automatisch nach ihrer Waffe. Peters Schwester in unmittelbarer Nähe bedeutete eine tödliche Bedrohung. »Was ist denn?« fragte Harvey
gedämpft. Er war erwacht und hatte die letzte Bemerkung des Großmeisters gehört. Maud winkte ihm zu, er solle schweigen. Gleichzeitig deutete sie auf ihre Pistole. Harvey verstand und griff ebenfalls zur Waffe. Er weckte Mark Baker und erklärte ihm flüsternd die Lage. »Langsamer«, befahl Peter nach einer Weile. Maud nahm den Fuß vom Gaspedal. Sie fuhren seit ungefähr zehn Minuten an Mooren entlang. Maud erkannte es an dem weiß blühenden Sumpfgras, das an Baumwolle erinnerte. »An der Abzweigung nach links!« ordnete der Großmeister mit monotoner Stimme an. Maud entdeckte erst nach drei Kurven eine Abzweigung. Das war der Beweis, daß Peter wirklich einer unsichtbaren Spur folgte. Vorhin hatte er diese Abzweigung nicht sehen können. Sie bogen auf eine asphaltierte, aber sehr schmale Straße ein. In Schottland gab es noch viele einspurige Straßen. Die meisten waren in kurzen Abständen mit Ausweichstellen ausgerüstet. Diese Straße hingegen wurde offenbar so selten benutzt, daß man völlig auf Ausweichen verzichtet hatte. Erst nach zwei Meilen erreichte Maud eine Verbreiterung der Fahrbahn. 68 �
»Halt«, sagte Peter in Trance. Maud sah sich hastig um. Hier gab es keine Abzweigung, nicht einmal einen Fußweg. Sie hätte sich gehütet, an dieser Stelle den Wagen zu verlassen. Direkt neben der Straße begann das Moor und erstreckte sich bis zu einem Höhenrücken. Auf beiden Seiten der Fahrbahn hatten sich schwarze Pfützen gebildet. Es gab keinen vernünftigen Grund, ausgerechnet an dieser Stelle zu halten. Maud fuhr weiter! Kaum hatten sie die Ausweiche passiert, als Peter mit einem Schrei aus der Trance hochschreckte und wild um sich sah. »Wieso hast du nicht gehalten?« rief er Maud zu. »Ich habe deutlich gefühlt, daß…« Der erste Schuß durchschlug die Windschutzscheibe. Die Kugel fuhr so dicht an Peters Gesicht vorbei, daß er den Luftzug spürte. »Runter!« schrie er. Sie folgten seinem Rat! Keine Sekunde zu früh! Im nächsten Augenblick pfiffen die Kugeln um den Jeep. Die meisten trafen nicht einmal das Auto. Maud rammte den Fuß auf das Gaspedal. Der Motor heulte auf. Der Wagen machte einen Satz vorwärts. Die nächsten Kugeln schlugen weit hinter dem Jeep ein. Die Angreifer aus dem Hinterhalt hatten nicht mit einer so schnellen
Flucht gerechnet. Sie hatten gedacht, ihre Opfer aus der Ferne in der Ausweiche erledigen zu können. Nun sahen sie sich getäuscht und schossen wild hinter dem Jeep her, ohne genau zu zielen. »Vorsicht!« schrie der Satansspürer erschrocken, als Maud mit voller Geschwindigkeit auf die nächste Kurve zuraste. Hier knickte die Straße rechtwinkelig um und führte tiefer in das Moor hinein und gleichzeitig auf den Höhenzug zu. Maud ließ sich nicht stören. Die Kugeln schlugen schon wieder gefährlich dicht neben dem Jeep ein. Mindestens zehn Angreifer, schätzte Maud. Sie kamen nicht aus ihren Verstecken, sondern schossen sich auf den Jeep ein. »Ausgerechnet hier haben wir keine Deckung!« rief Peter Winslow. »Ein idealer Hinterhalt!« »Unsere Feinde haben eingesehen«, meinte Butler Harvey mit unerschütterlicher Ruhe, »daß sie uns mit Magie nichts anhaben können. Jetzt versuchen sie es auf handgreiflichere Weise.« Maud bremste unmittelbar vor der Kurve, riß das Steuer herum und ließ den Jeep in die neue Richtung schlittern. Sie fuhr wie eine professionelle Rennfahrerin, aber es half nichts. Der Hinterhalt war so raffiniert angelegt, daß es kein Entkommen gab. 69 �
»Wir müßten quer durch das Moor fliehen!« schrie Mark Baker verzweifelt. »Weg von diesen Mordschützen! Sonst schaffen wir es auf keinen Fall!« »Halt!« befahl Peter. Maud schüttelte wild den Kopf, während die Kugeln um den Wagen pfiffen. »Du hast vorhin auch ›Halt‹ gerufen«, antwortete sie gehetzt. »Sie haben dir eine falsche Botschaft übermittelt! Du solltest uns in die Falle locken! Ich bleibe nicht stehen!« »Unsinn, Ich muß das Steuer übernehmen!« rief Peter. »Ich habe die Spur gesehen! Sie führt ins Moor hinein!« Maud begann zu zittern. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie blieben auf der Straße und ließen sich von den Feinden aus dem Hinterhalt abknallen. Oder sie ließen sich von Peter in das Moor hineinfahren. Wenn er wirklich die richtige Spur vor sich sah, waren sie gerettet. Wurde er aber wieder in die Irre geleitet, versanken sie im Moor. Die Wahl war einfach. Maud mußte sich zwischen sicherem Tod und einer hauchdünnen Chance entscheiden. Sie wählte die hauchdünne Chance. »Fliegender Wechsel«, sagte sie. Das ging, weil die Straße ein Stück gerade verlief. Bei immerhin fünfzig Meilen pro
Stunden schob Maud sich über Peter, der mit den Füßen nach den Pedalen tastete und unter ihr auf den Fahrersitz wechselte. Der Jeep schlingerte, blieb jedoch in der Spur, bis Peter »Festhalten!« schrie und das Lenkrad herumriß. Einige Kugeln schlugen in das Heck des Jeeps. Der Wagen sprang von der asphaltierten Straße herunter und kam weich auf dem Untergrund des schwammigen Moores auf. Jetzt mußte es sich entscheiden, ob der Großmeister wirklich einen unbeschreiblichen Instinkt entwickelte, oder ob ihre Feinde ihm etwas vorgaukelten. Die Hinterräder des Jeeps drehten sich auf dem glitschigen Untergrund durch. Peter verriegelte das Differential und schaltete den Vierradantrieb ein, ging in einen niedrigen Gang und rammte den Fuß auf das Gaspedal. Der Jeep blieb an der Oberfläche, obwohl die Räder tief einsanken und hinter dem Wagen hohe Schlammfontänen hochschleuderten. Das Röhren des Motors und die zischenden und platschenden Geräusche machten Gespräche unmöglich. Eines hörten jedoch alle vier Insassen des gejagten Fahrzeuges. Seit der Änderung der Fahrtrichtung traf keine einzige Kugel mehr, obwohl die Verfolger aus allen Roh70 �
ren feuerten. Der Jeep fuhr nicht nur in einem wilden Zickzack, sondern entfernte sich auch ständig von dem Versteck der Schwarzmagier. »Du kannst gerade weiterfahren!« rief Maud und beugte sich weit zu Peter, damit er sie überhaupt verstand. »Wir sind außer Schußweite!« »Ich werde mich hüten!« antwortete Peter und schrie ebenfalls. »Auf der geraden Linie würden wir wie ein Stein absacken!« Maud erbleichte. Peter war also nicht nur den Kugeln ausgewichen. Der Weg zu der Hütte des Alten aus dem Moor war wirklich so verschlungen. »Kein Wunder, daß nie jemand die Hütte fand!« schrie Harvey. »Fahren Sie langsamer, Sir, damit wir Treibstoff sparen. Auf ein paar Minuten kommt es nicht mehr an.« Peter sah ein, daß der Butler recht hatte. Hier gab es kein dichtes Tankstellennetz. Die Benzinuhr zeigte fast leer an. Sie hatten zwei Reservekanister dabei, doch bei dieser Geländefahrt soff der Motor jede Menge Benzin. Der junge Großmeister drosselte die Geschwindigkeit und lehnte sich entspannt zurück. Jetzt konnte er sich mehr Ruhe gönnen. Sie hatten keine Verfolger auf den Fersen, wie der Satansspürer versicherte. »Dafür spüre ich die Spur des Bösen«, meldete er. »Sie verläuft genau vor uns.«
»Das ist die Spur zur Hütte des Alten«, widersprach Peter. »Sie haben recht, Sir«, antwortete der Satansspürer. »Ich merke jetzt auch, daß eine weißmagische Linie im Zickzack quer durch das Moor läuft. Ich spüre jedoch genau so deutlich, daß ich hier vor einiger Zeit ein Wesen mit gewaltiger schwarzmagischer Ausstrahlung fortbewegt hat. Es hielt in gerader Richtung auf die Hütte zu und machte keinerlei Umwege.« »Das wird der Angreifer gewesen sein«, antwortete Peter Winslow. »In der Botschaft war von einem Angriff die Rede.« Der Satansspürer stöhnte laut auf. »Dort vorne ist noch etwas!« rief er verstört. »Es wird zu stark für mich! Ich… halte… es… kaum… aus…!« Peter sagte nichts, aber er befürchtete das Schlimmste. Wahrscheinlich fühlte der Satansspürer die Nachwirkungen des Überfalls auf die Hütte. Dabei mußten gigantische Kräfte des Bösen freigeworden sein. Kein Wunder, wenn ein so sensibler Mensch wie Mark Baker darauf heftig reagierte. »Er wird gleich ohnmächtig«, warnte Butler Harvey. »Was soll ich tun?« »Lassen Sie sich etwas einfallen«, antwortete Peter Winslow mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir müssen weiter! Umkehren kommt nicht in Frage! Es wäre Selbstmord, 71 �
und den Alten aus dem Moor dürfen wir auch nicht im Stich lassen!« Harvey schwieg, weil er einsah, daß sein Großmeister recht hatte. Er trocknete Mark Bakers Stirn. Mehr konnte er für den Satansspürer nicht tun. »Da ist etwas!« rief Maud und deutete nach vorne. »Sieht nach einer Grasinsel mitten im Moor aus.« »Sieht nicht nur so aus, das ist auch eine«, bestätigte Peter. »Einer der wenigen sicheren Orte im Moor.« Maud krallte sich an seinem Arm fest. »Peter! Das ist eine ziemlich große Insel! Hier könnte doch die Hütte gestanden haben! Sie ist nicht zu sehen.« »Nein«, antwortete der Großmeister. »Aber keine Angst. Hier hat es nie eine Hütte gegeben. Dort drüben links, da ist sie. Die Spur führt weiter zur Hütte.« »Die Hütte sehe ich jetzt, die Spur nicht«, bestätigte Maud. »Nur der Großmeister findet den Weg zu dem Alten. Eine sehr gute Sicherheitsmaßnahme.« »Die nichts genutzt hat.« Peter blickte nicht zu der Hütte hinüber. Er konzentrierte sich auf das nächstliegende Problem, und das war die Grasinsel mitten im Moor. Der Satansspürer erlitt nicht umsonst einen Anfall. Vor ihnen lauerte etwas. Ein beklemmendes
Geheimnis verbarg sich auf der Insel. »Sollen wir nicht vorher anhalten, aussteigen und uns mit den Waffen näher heranpirschen?« fragte Maud beklommen. »Vielleicht fahren wir sonst direkt in eine Falle.« »Ich möchte nicht auf diesem weichen Boden stehen bleiben«, antwortete Peter. »Wir müssen auf die feste Insel, sonst sackt der Jeep ab.« Er gab noch einmal Vollgas, jagte auf die Insel und sah sich forschend um. Auf der Rasenfläche war auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Als die vier Weißmagier ausstiegen, rührte sich nichts auf der Insel. Der Satansspürer hielt sich nur mühsam aufrecht, und Peter beobachtete ihn besorgt. »Bleiben Sie lieber im Wagen«, riet der Großmeister, doch der Satansspürer schüttelte heftig den Kopf. »Ich zeige euch den Weg«, sagte er. »Maud soll mich stützen!« Er ging an Mauds Arm, schrieb einen kurzen Bogen und blieb am Rand der Insel stehen. Seine Kraft reichte noch aus, um auf eine bestimmte Stelle zu zeigen. Dann sackte er zusammen. Peter und Harvey trugen ihn zu dem Jeep zurück und holten zwei Schaufeln. Maud hatte in der Zwischenzeit 72 �
den Boden untersucht. »Das habe ich gefunden, seht mal!« rief sie und zog eine Zeltstange aus dem weichen Untergrund. »Da drüben ist eine zweite Stange tief in den Rasen gedrückt.« »Man bekommt den Eindruck«, meinte Harvey, »als habe hier ein Zelt gestanden, das durch äußere Einflüsse niedergewalzt wurde. Meinen Sie nicht auch, Sir?« »Richtig«, bestätigte Peter Winslow. »Und hier…« Er grub hastig nach und förderte eine Tragetasche ans Tageslicht. Gemeinsam mit Maud räumte er die Gegenstände aus der Tasche und stockte, als er einen Ausweis in der Hand hielt. Er schlug ihn auf. »Nein!« rief er betroffen. Maud beugte sich vor und riß die Augen auf. »Jenny Thrompton!« sagte sie. »Nannte sich nicht so die Autostopperin, die nach eurem Unfall verschwand?« »Genau so«, bestätigte Peter. Er sah sich um und deutete auf eine andere Stelle. »Harvey! Versuchen Sie es dort drüben!« Während sich der Butler darum kümmerte und einen kleinen Erdhügel abtrug, setzte Peter seine Schaufel im Zentrum des schwarzmagisch verseuchten Gebietes an. Hierhin hatte der Satansspürer vor seinem Zusammenbruch gedeutet. Er stach die Schaufel nicht in die Erde, sondern schabte diese Schicht
um Schicht ab. Harvey holte einen Rucksack aus der Erde und fand darin einen Ausweis. »Jake Dermoth«, las er vor. »Hier ist ein zweiter Ausweis, ausgestellt auf den Namen Bob Dermoth!« »Das wären dann alle drei Autostopper, die sich in Nichts aufgelöst haben«, sagte Maud. Peter zermarterte sich den Kopf, was das zu bedeuten habe, kam jedoch nicht dahinter. Die Lösung fand er Sekunden später, als seine Schaufel etwas Helles freilegte. Behutsam grub er ringsum die Erde ab, bis er seinen Fund identifizieren konnte. Es war eine menschliche Hand! * Harvey half seinem Großmeister, die Leichen auszugraben. »Sie liegen bereits ziemlich lange in der Erde«, stellte Harvey knapp fest. »Ich würde sagen, sie waren schon tot, als wir sie auf dem Parkplatz neben der Autobahn sahen.« »Entsetzlich«, murmelte Maud. »Warum wurden sie ermordet? Und von wem?« »Ich vermute, daß sie wirklich Wanderer waren«, sagte Peter. »Das haben uns ihre Kopien erzählt, und wahrscheinlich stimmte das. Sie haben eine Moorwanderung unter73 �
nommen und sind den schwarzmagischen Bestien in die Quere gekommen, die den Alten aus dem Moor angegriffen haben.« »Sie wurden mitsamt ihrem Zelt niedergewalzt«, stellte Harvey fest. Der Butler untersuchte wie ein Kriminalist die ganze Insel. Von seinem sonstigen leicht schrulligen Benehmen war jetzt nichts zu merken. »Es waren mehrere große oder ein einziger gigantischer Angreifer«, fuhr Harvey fort. »Mr. Baker sprach vorhin von einer Spur durch das Moor. Sie stammte sicher von dem Killer.« Baker hatte sich inzwischen ein wenig erholt. Steifbeinig und etwas unsicher kam er zu seinen Begleitern. »Die Spur«, sagte er und deutete zitternd über das Moor, »führt in gerader Linie weiter zur Hütte des Alten.« »Dachte ich es mir«, stellte Harvey fest. Peter konzentrierte sich auf die Hütte. »Wir müssen einen weiten Bogen einschlagen«, sagte er. »Zwischen uns und der Hütte befindet sich tiefster Sumpf.« »Wir melden den Leichenfund später der Polizei«, sagte Maud erschüttert. »Jetzt müssen wir das letzte Stück überwinden. Hoffentlich können wir wenigstens noch etwas für den Ordensältesten tun und kommen nicht auch in seinem Fall zu spät!«
»So jung und schon Opfer dieser Bestien«, murmelte Peter. Er dachte in diesen Sekunden an sein eigenes Schicksal. Ihm drohte jederzeit ein ähnliches Ende. Sein Vorteil war nur, daß er die Gefahr kannte und sich darauf einstellen konnte. »Gehen wir!« sagte der junge Großmeister laut, stemmte sich hoch und kehrte zu dem Jeep zurück. Er setzte sich wieder an das Steuer, weil er als Einziger die weißmagische Spur durch das Moor sah, und umfuhr die drei Leichen. Peters Gesicht war wie erstarrt. Dieser Leichenfund hatte ihm einen schweren Schock versetzt. Dennoch wollte er alles tun, um dem Ordensältesten zu helfen. Sie erreichten mitten im Moor einen Punkt, an dem die befahrbare Piste kaum noch zu erkennen war. Sie war knietief mit schwarzem Wasser bedeckt. Und hier griffen die Moordämonen an… * Wie dicke, fette Schlangen stiegen sie aus dem Morast hoch, schwarze, säulenförmige Körper, an denen schlammiges Wasser ablief. Die Szene erinnerte Peter an auftauchende U-Boote, die zuerst das Periskop durch die Oberfläche schoben. Gleich darauf sah er, wozu diese Dämonen fähig waren. Sie besaßen 74 �
keine deutlich ausgebildeten Köpfe, aber sie rissen Mäuler auf, die über das gesamte dicke Ende ihres Körpers reichten. »Wie bissige Regenwürmer!« rief Maud und hob die Pistole. Jeder Schuß war ein Treffer. Die mannsdicken säulenartigen Dämonen versanken im Moor und tauchten nicht wieder auf, doch für jeden ausgeschalteten Gegner kamen zwei neue an die Oberfläche. »Sie zerstören den Pfad!« schrie Peter, als der Jeep einen Bocksprung vollführte. Harvey und der Satansspürer schossen mit Maud um die Wette. Längst hatte Peter wieder den Allradantrieb und die Differentialsperre eingeschaltet. So leicht würde der Jeep nicht steckenbleiben, doch wenn die Dämonen den gesamten Pfad zum Versinken brachten, half auch die Technik nichts. »Schießt doch!« schrie Peter seinen Gefährten zu. »Warum schießt ihr nicht!« Er wußte, daß sie ihr Bestes gaben, doch der Erfolg war gleich Null. Immer mehr dieser widerlichen schwarzen Schlangen erhoben sich aus dem Moor. Immer häufiger trafen die Zähne der riesigen Mäuler den Jeep und durchschlugen das Stahlblech. Ein Dämon zermalmte mit einem Biß die Scheibe auf Peters Seite. Der Großmeister riß seinen Arm weg,
um den Zähnen zu entgehen. Es hätte ihm nichts geholfen, hätte Maud nicht blitzschnell ihre Pistole auf die Bestie angelegt und abgedrückt. Die weißmagisch präparierte Kugel schleuderte den Dämon ins Moor zurück, doch Maud hatte für einen Moment ihre eigene Deckung vernachlässigt. Peter sah den schwarzen Schatten neben Mauds Tür hochwuchten, schrie auf und konnte doch nichts tun, weil er das Steuer mit beiden Händen festhalten mußte. Harvey und Mark Baker waren in so heftige Kämpfe verwickelt, daß auch sie Maud nicht helfen konnten. Peter sah Maud schon verloren. Sie schaffte es eben noch, riß ihre Pistole herum und schob sie dem Dämon ein Stück in den Rachen. Maud drückte ab. Nichts geschah… Sie hatte das Magazin leergeschossen! Der Dämon packte sie mit den Zähnen. Peter rammte den Fuß auf die Bremse und wollte Maud festhalten, doch es war zu spät. Mit einem gewaltigen Ruck zerrte der Moordämon Maud aus dem Wagen. Sekunden später verschwand er mit seiner Beute in dem schwarzen Morast, der schäumend über ihnen zusammenschlug. Luftblasen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. Dann 75 �
war es still. Peter Winslow kauerte benommen hinter dem Steuer des ramponierten Jeeps. Er merkte gar nicht, daß sich die übrigen Moordämonen zurückzogen, als genüge ihnen allen diese Beute. Harvey und Mark Baker stellten das Schießen ein. Auch sie waren verstört und betroffen. Doch Harvey behielt so weit klaren Kopf, daß er die nächste drohende Gefahr erkannte. »Wir müssen weiterfahren, Sir«, mahnte er, »sonst versinken wir mitsamt dem Pfad.« Peter reagierte erst, als Harvey ihn hart an der Schulter rüttelte. Mit mechanischen Bewegungen legte er den Gang ein und manövrierte den bereits tief eingesunkenen Jeep aus dem Schlammloch. Maud war tot… * Dieser eine Gedanke kreiste immer wieder in seinem Kopf und betäubte ihn. Es grenzte an ein Wunder, daß er trotzdem den richtigen Pfad fand und den Jeep eine Viertelstunde später auf die Insel des Alten steuerte. Maud war tot… Butler Harvey und Mark Baker hatten die letzten Minuten genutzt und alle Waffen aus dem Versteck unter der Sitzbank geholt. Sie hatten auch Peter Winslows Pistole neu
aufgeladen und sein Gewehr überprüft. Harvey stattete sich mit einem Messer aus, das einer Machete ähnelte. Auf der Klinge waren weißmagische Symbole eingraviert. Mark Baker erhielt zusätzlich eine Lanze, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt wurde. Harvey drückte Peter noch einen Dolch in die Hand, ehe der Großmeister auf der Insel des Alten ausstieg. Kaum berührten Peters Füße den Boden, als er sich schlagartig veränderte. Das Entsetzen über Mauds schreckliches Ende lähmte ihn nicht mehr. Jetzt ging es um die Entscheidung. Da war der junge Großmeister wieder voll einsatzfähig. Abwartend standen die drei Männer neben dem Jeep und musterten Insel und Hütte mit mißtrauischen Blicken. Nirgendwo gab es Kampfspuren. Die Hütte bestand aus dicken, roh zusammengezimmerten Balken. Die Fensterläden waren geschlossen. Das Gebäude wirkte unbewohnt. Die Insel selbst hob sich nur wenig aus dem Moor heraus und war mit langfaserigem Gras bewachsen. Es gab keinen Busch, schon gar keinen Baum. Auch fehlten alle Anzeichen, daß sich der Bewohner der Hütte mit Magie beschäftigte. Peter verständigte sich mit seinen Begleitern durch Zeichen. Ihre Ankunft war sicher nicht unbemerkt 76 �
geblieben, falls sich überhaupt jemand auf der Insel aufhielt. Trotzdem bewegten sich die drei Männer so lautlos wie möglich. Während Peter langsam auf die Hütte zuschritt, lief Harvey nach links, der Satansspürer nach rechts. Die gesamte Insel besaß ungefähr die Größe eines Fußballfeldes und war leicht zu überblicken. Peter Winslow wartete, bis seine Begleiter die Seiten und die Rückfront der Hütte unter Kontrolle hielten. Sie standen mit schußbereiten Waffen auf Rufweite und nickten ihm zu. Sie hatten auch nichts Verdächtiges bemerkt. Peter atmete einmal tief durch, ehe er die Pistole hob und einen Schuß in die Luft abgab. Sekunden später öffnete sich die Tür der Hütte. Beim Anblick des Mannes, der langsam ins Freie trat, weiteten sich Peter Winslows Augen. »Peter!« rief der Mann erstaunt. »Verzeihung, Sir! Der Großmeister besucht mich? Noch dazu in kriegerischer Aufmachung? Was ist geschehen, Sir!« Verständnislos starrte Peter Winslow auf den Greis, der hoch aufgerichtet auf ihn zuschritt und ihm zur Begrüßung beide Hände entgegenstreckte. »Mr. Brown!« stammelte Peter. Das war der bürgerliche Name, unter dem der Alte aus dem Moor
auftrat. »Sie sind hier? Es ist nichts passiert?« Der Greis hielt Peters Hände fest und sah ihn forschend aus seinen blauen Augen an. »Passiert?« fragte er verständnislos. »Sind Sie vielleicht hier, weil Sie denken, mir wäre etwas zugestoßen?« »Sie haben einen telepathischen Hilferuf abgeschickt!« rief Peter und trat einen Schritt zurück. »Sie forderten den Großmeister auf, zu Ihnen zu kommen, weil Sie angegriffen würden! Nur der Großmeister könne Ihnen helfen, leitete ich daraus ab. Wir haben unzählige tödliche Gefahren auf uns genommen, um zu Ihnen zu gelangen! Wir haben sogar ein Mitglied des Bundes hier im Moor durch Dämonen verloren! Und dabei ist gar nichts passiert?« »Sie haben jemanden verloren?« Der Alte aus dem Moor horchte auf. »Vielleicht eine junge Frau? Rothaarig, so weit ich das feststellen konnte?« »Ja!« rief Peter. »Was ist mit ihr?« »Kommen Sie, mein Freund!« Der Alte legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn auf die Hütte zu. »Ich habe meine Fühler überall im Moor. Deshalb merkte ich sofort, daß ein Mensch in höchster Gefahr schwebte. Ich erlaubte mir, im richtigen Moment einzugreifen.« Er ließ Peter den Vortritt. Der Großmeister stürmte in die 77 �
Hütte und stockte, als er Maud vor sich auf einem einfachen Lager entdeckte. Sie war bis auf die Haut durchnäßt. Aus ihren Haaren floß schlammiges Wasser. Aber sie blickte Peter erleichtert lächelnd entgegen. »Peter!« rief sie und streckte die Arme aus. Im nächsten Moment kniete er neben Maud und zog sie an sich. Sie waren beide so erleichtert und fassungslos, daß sie minutenlang nicht sprechen konnten. Mark Baker und Butler Harvey standen in der Tür und sahen überrascht und gerührt dieser Begrüßung zu. Nicht, einmal Butler Harvey hatte etwas an der vertraulichen Art auszusetzen. »So, ich denke, wir sollten uns jetzt praktischeren Dingen zuwenden«, sagte der Alte aus dem Moor nach einer Weile weise lächelnd. »Die junge Lady braucht trockene Kleider.« Er runzelte die Stirn. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, Miss!« »Ich bin Maud, das Hausmädchen von Sagon Manor«, erklärte sie. »Ja, natürlich!« rief der Greis. »Sie beide kenne ich auch. Sie sind der Butler, und Sie sind der Satansspürer aus London!« Er begrüßte seine Besucher und freute sich sichtlich, machte sich aber große Sorgen wegen des falschen Hilferufs.
»Ganz eindeutig?« meinte der Alte aus dem Moor. »Man lockte den Großmeister hierher, um ihn unterwegs töten zu können. Das beweisen auch die Anschläge.« »So war es ganz bestimmt«, versicherte Maud, die sich inzwischen umgezogen hatte. »Ein wahrhaft satanischer Plan«, bestätigte Butler Harvey. »Endlich haben wir diese Torturen hinter uns.« Der Satansspürer war besonders erleichtert. »Vor allem freue ich mich, Maud, daß Sie noch leben, Sie können sich nicht vorstellen, wie entsetzlich es war!« »Ich habe nur mitbekommen, daß mich der Dämon ins Moor zerrte«, erzählte Maud. »Dann wurde es schwarz, und als ich die Augen aufschlug, lag ich in der Hütte.« Der Alte aus dem Moor bewirtete seine Gäste mit einer einfachen Mahlzeit, zeigte ihnen seine Werke über Weiße Magie und deutete zuletzt auf die offene Hüttentür. »Es dämmert bereits«, meinte er. »Sie können heute nicht mehr wegfahren. Bleiben Sie und fahren Sie morgen früh!« Damit waren alle einverstanden. Eine Nacht in der Hütte des Weisen würde trotz der unbequemen Schlafstellen eine herrliche Erholung sein. *
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Peter Winslow versuchte zu schlafen. Es gelang ihm nicht. Leise, um die anderen nicht zu wecken, stand er auf und trat ins Freie. Dabei vergaß er seine Waffen nicht. Er nahm die Pistole und das Gewehr mit, als er langsam am Rand der Insel entlang schlenderte. Sein Blick schweifte über das dunkle Moor. Jede Einzelheit war zu erkennen. Der Vollmond strahlte ungewöhnlich hell. Nach einigen Minuten hörte er hinter sich leise Schritte, wandte sich um und sah Maud. »Kannst du auch nicht schlafen?« fragte er. Maud blieb neben ihm stehen. »Du hast etwas«, stellte sie fest. »Sprich dich aus!« Er zuckte die breiten Schultern. »Ich weiß es nicht, Maud«, gestand er. »Es ist nur so ein Gefühl. Eigentlich müßte ich mich in der Hütte des Alten sicher fühlen. Sie ist gegen das Böse abgeschirmt. Trotzdem läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich mir die Hütte ansehe.« »Sie ist nicht so komfortabel wie Sagon Manor, aber man schläft auf jeden Fall darin besser als in dem rüttelnden Jeep.« Maud versuchte vergeblich, den Großmeister aufzuheitern. »Warum haben unsere Feinde einen falschen Hilferuf des Alten an uns geschickt?« fragte Peter. »Und
wieso haben sie zugelassen, daß auch alle anderen Mitglieder des Ordens diesen Ruf hörten? Wozu hat man uns hierher bestellt, wenn man uns unterwegs überfallen wollte? Um einen von uns zu töten, braucht man nur vor Sagon Manor zu warten. Dort kann man uns jederzeit auf der Straße nach Brighton überfallen.« »Der Weg hierher nach Schottland war so lang, daß unsere Feinde öfter Gelegenheit fanden«, erwiderte Maud. »Der Alte«, fuhr Peter hastig fort, »hat gefühlt, daß du in Lebensgefahr warst. Er hat dich aus dem Moor gerettet.« »Wofür ich ihm immer dankbar sein werde«, versicherte Maud. »Wieso hat er nicht gefühlt, daß ganz in seiner Nähe drei junge Menschen ermordet wurden?« fragte Peter leise. »Wieso hat er ihnen nicht geholfen?« Maud sah ihn betroffen an, schüttelte jedoch den Kopf. »Peter, er muß auch einmal schlafen. Meinst du nicht? Er braucht genau wie andere Menschen Ruhe.« Doch Peter war nicht überzeugt. »Hole Harvey und Baker«, bat er. »Und zwar leise. Ich will nicht, daß der Alte erwacht.« »Der ist nicht in seiner Hütte«, erklärte Maud. »Ich habe ihn vor einer Stunde ins Moor gehen gesehen. Er ist noch nicht wieder zurück79 �
gekommen.« Peters Augen zogen sich zusammen. »Komm«, sagte er und hastete zu der Hütte. Sie weckten ihre Begleiter. Was dann geschah, erschien Maud und den beiden Männern wie Frevel. Der Alte aus dem Moor war ein Weiser, der Älteste des Ordens, eine Respektsperson. Peter aber durchwühlte die Hütte, überprüfte die Bücher und öffnete sogar den Schrank. »Der Alte kommt zurück«, meldete Maud. »In ungefähr zehn Minuten wird er hier sein.« »Sie müssen ihm die Unordnung in der Hütte erklären, Sir«, gab Mark Baker zu bedenken. »Wir räumen schnell auf«, befahl Butler Harvey. »Helft mir!« Peter bückte sich, um ein heruntergefallenes Buch aufzuheben. Dabei trat er auf ein Dielenbrett, das einen hohlen Klang von sich gab. Peter stampfte auf. »Wie weit ist er noch weg?« flüsterte er heiser. »In fünf Minuten ist er da«, antwortete Maud. »Er geht sehr schnell!« »Behalte ihn im Auge«, bat Peter. »Und ihr beide helft mir!« Er ließ sich auf die Knie fallen und zog den Dolch, schob ihn in die Ritze zwischen zwei Bretter und hob eines davon hoch. Ein Hohlraum kam zum Vor-
schein, den Peter hastig vergrößerte. Die Hütte besaß keinen Keller. Das war wegen des Moores unmöglich. Wohl aber gab es eine seichte Grube, gerade groß genug, um etwas darin zu verstecken! Das Versteck war belegt! »Er ist gleich hier«, flüsterte Maud. Peter und seine Begleiter griffen zu ihren Waffen. Die Tür öffnete sich. Der Alte aus dem Moor trat ein und sah sich vier Mündungen gegenüber. Sein Blick zuckte zu dem geöffneten Fußboden. »Das ist eine Überraschung, nicht wahr?« fragte Peter Winslow kalt. Er deutete auf die flache Grube. »Lebt er noch?« Der Alte antwortete nicht. »Gib das Spiel auf, Dämon!« zischte Peter den Greis an. »Der wirkliche Alte aus dem Moor liegt in dieser Grube! Er hat mir den Hilferuf geschickt, als du ihn überfallen hast! Ihr wolltet mich mit diesem Hilferuf auf die Insel locken. Unterwegs habt ihr versucht, uns umzubringen. Das gelang nicht. Pech für euch! Aber ihr hattet ja noch immer diese Insel und den angeblichen Alten aus dem Moor! Ihr wolltet mich in absolute Sicherheit wiegen. Deshalb hast du scheinbar Maud gerettet! Alles nur Ablenkungsmanöver! Aber euer Trick war doch nicht gut genug! Pech für euch! Los, 80 �
zeige dich in deiner wahren Gestalt!« Peter hob drohend das Gewehr. Der Lauf zielte auf den falschen Ordensältesten. Das Gesicht der Kopie verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Du hast es selbst so gewollt!« rief der Dämon. Haut und Kleidung färbten sich schwarz. Der Gestank nach Pech und Schwefel raubte den Menschen in der Hütte den Atem. Schuppen bedeckten den Körper des Dämons, der gewaltig anwuchs und die Weißmagier zu erdrücken drohte. Peter Winslow zögerte keine Sekunde. Er schoß sein Gewehr leer. Die anderen schossen mit ihren Pistolen, warfen die leeren Waffen weg und griffen zu den Gewehren. Das Hohngelächter des Moordämons ließ die Hütte erbeben. »Ich bin für euch zu mächtig!« brüllte er. Sein unförmiger Schädel erreichte schon die Hüttendecke, die bedrohlich knackte. »Ich mache mit euch dasselbe wie mit diesen lächerlichen Wanderern draußen auf der Insel! Ich zermalme euch! Ihr seid hilflos!« Peter Winslow erkannte die Tücke der Falle. Dieser Dämon war so mächtig, daß sie mit ihren Waffen nichts gegen ihn ausrichteten. Mit seinen Massen versperrte er ihnen den Fluchtweg durch die Tür, und die Fenster waren zu klein.
Schon schoben sich aus dem schwarzen Körper Fangarme wie bei einem riesigen Kraken und schlugen nach den Opfern. Peter trat todesmutig einen Schritt vor und hob den Dolch. Er wollte sich dem Dämon zu einem direkten Kampf stellen. Er war der Großmeister und trug die Verantwortung. Obwohl es aussichtslos war… »Das ist dein Ende, du Wurm!« brüllte der Dämon, und Peter schlug eine Schwefelwolke entgegen, die ihm den Atem raubte. In diesem Moment richtete sich der wahre Alte aus dem Moor auf. Er hatte in der Grube unter dem Fußboden seiner eigenen Hütte gelegen. Nun war die Starre von ihm gewichen. Er streckte dem Dämon die Hände entgegen und rief einen feierlichen Bannspruch der Weißen Magie. Die Augen des Alten aus dem Moor leuchteten in intensivem Blau, während er den Spruch noch zweimal wiederholte. Kaum hatte er ihn zum dritten Mal gesagt, als der Dämon ein klagendes Brüllen ausstieß, sich zusammenkrümmte und rasch kleiner wurde. Die weißmagisch präparierten Geschosse hatten ihm nicht geschadet. Die speziellen Stahlpfeile hatten ihn nicht einmal gestört. Aber der Bannspruch des Alten aus dem Moor vernichtete ihn. 81 �
Wimmernd zog er sich aus der Hütte zurück. Peter folgte dem Dämon, der mit jedem Stück Weges kleiner wurde. Die Bestie versuchte, das Moor zu erreichen, schaffte es jedoch nicht. Kurz vor dem Ufer der Insel sank der Rest des Dämons in sich zusammen. Auf dem Boden blieb eine schwarze Pfütze zurück, die im Untergrund versickerte. Wie betäubt griff sich der Großmeister an die Stirn. Diesmal war es mehr als knapp gewesen! Die Gefahr war wirklich erst in allerletzter Sekunde gebannt worden. Erleichtert kehrte er in die Hütte zurück, wo soeben Maud und Butler Harvey dem Ordensältesten aus der Grube halfen. Als der Alte aus dem Moor Peter die Arme entgegenstreckte, war der Großmeister endlich sicher, den Richtigen zu begrüßen. »Ich danke Ihnen«, sagte Peter erschüttert. »Ohne Ihre Hilfe wären wir jetzt alle tot.« »Ich habe zu danken, Sir«, erwiderte der Alte aus dem Moor mit einem weisen Lächeln. »Ohne Ihr Eingreifen hätte dieses Monster in meiner Gestalt hier gehaust und unermeßlichen Schaden angerichtet. Ich habe einen Fehler begangen und
mich überrumpeln lassen.« »Ich habe auch einen Fehler gemacht«, versicherte Peter. »Ich ließ mich bei meiner Ankunft auf der Insel vom äußeren Schein trügen! Ich hätte darauf bestehen sollen, daß sich der angebliche Ordensälteste identifiziert.« Der Alte aus dem Moor klopfte Peter Winslow tröstend auf die Schulter. »Wir haben beide etwas gelernt«, sagte er gütig. »Sie haben erkannt, daß Sie noch viel Erfahrung sammeln müssen. Und ich habe gemerkt, daß ich trotz meines Alters noch viel Erfahrung brauchte. So haben wir beide etwas von diesem Abenteuer.« Peter nickte. Er blickte von einem Kampfgefährten zum anderen und wurde mutlos, wenn er an die vor ihm liegenden Aufgaben dachte. »Wir alle werden Ihnen helfen, Sir«, versicherte Maud, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Sie sind nicht allein!« Peter lächelte ihr zu, und die Mutlosigkeit schwand. »Ja, wir werden weitermachen und es schaffen«, sagte er fest und reichte allen die Hand. »Gemeinsam werden wir es auch in Zukunft schaffen!«
ENDE
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