der Echsen schnappten auf und zu. Langsam kamen die Raubsaurier näher. DieDerGebisse milde Wind trug Übelkeit erregenden Gestank heran. Jörge Javales, mein letzter Begleiter, war heftig atmend auf die Knie gesunken. Er zitterte am ganzen Leib. Der kleine Mann konnte mir keine Unterstützung bieten. Eher war er eine Belastung. Doch gegen die Echsen, die den Raptoren der irdischen Kreidezeit ähnelten, hätte ohnehin nur ein Haluter mit dem Gardemaß eines Icho Tolot helfen können. Die zweieinhalb Meter langen Monster tänzelten auf ihren muskulösen Laufbeinen vor und gleich wieder zurück. Mehr als ein Dutzend der Raubsaurier hatten uns eingekreist. Sie waren ganz offensichtlich Herdentiere, die ihre Angriffe aufeinander abstimmten. Ich drehte mich rasch um. Ein faustgroßer Stein, kräftig in Richtung des frechsten Tieres geworfen, prallte von einem Felsbrocken ab und erzeugte ein lautes Klackern. Die Raptoren zuckten und sprangen trotz ihrer körperlichen Überlegenheit zurück. Sie hatten Respekt! Sie mussten also Zweibeinern wie uns bereits einmal begegnet sein. Ich begann, leise Hoffnung zu hegen...
Michael Marcus Thurner
Es geschah in einer Zeit, namenlos und äonenweit zurückliegend. Sardaengar, der Dunkle, kam über Litrak, den Ewigen. Kein Sterblicher vermag sich auszu malen, mit welchen Urgewalten der Kampf geführt wurde. Sturmfluten wüteten gegen Feuers brünste, Orkane gegen Felsgestein. Kraft wurde gegen Schläue eingesetzt, Tugend gegen Verführung, heiße Wut gegen kühle Berechnung. Sardaengar schleuderte schließlich Sterne, die einstmals das Firmament erhellten, in Richtung seines Gegners. Litrak hingegen knackte Planeten wie Nussschalen, schluckte sie und spuckte feurige Lohen auf Sardaengar. Mit einem Mal aber hielt der Ewige Litrak inne, verwirrt und orientie rungslos. Denn der Dunkle Sardaengar setzte seine letzte, seine heimtü ckischste Waffe ein: Er erweckte im Herzen Litraks Zweifel. Zweifel daran, das Richtige zu tun. Nur für einen kurzen Moment war der Ewige abgelenkt im Widerstreit mit sich selbst. Doch dieser Augenblick reichte. Sar daengar umfasste seinen Gegner, zer drückte ihm den Leib - und besiegte ihn. Töten konnte er den Ewigen jedoch nicht - schließlich war dieser ein Un sterblicher. Und hieß es nicht, dass alles Leben auf Vinara und den anderen Spiegel welten sterben würde, wenn Litrak ei nes Tages endet? (Aus den Schatzwolken der Afal-haro, gedeutet von der Fetten Dendia)
1.Atlan, 19. März 1225 NGZ
»Steh auf, Jörge!«, sagte ich so be herrscht und ruhig wie möglich. »Wir müssen uns Rücken an Rücken stellen. Sonst haben wir keine Chance.« Der hagere Archivar der TOSOMA blickte mich verständnislos an. Er rührte sich keinen Millimeter. Der Schock saß tief. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Die gedankenschnellen Bewegungen, die glühenden Augen, die fürchterli chen Zähne der Raubsaurier - all das weckte eine Urangst in Mensch und Arkonide. »Hoch mit dir!«, schrie ich Jörge an. Ich schleuderte mehrere Steine in alle Himmelsrichtungen. Diesmal ließen sich die Raptoren nicht mehr beein drucken. Sie engten unseren Hand lungskreis weiter ein. Langsam, wie betäubt stand Jörge Javales auf. Ich verabreichte ihm eine klat schende Ohrfeige. Die Behandlung zeigte Erfolg: Als ich ihm zwei der überall umherliegenden Steine in die Hand drückte, ließ er sie nicht fallen. »Reiß dich zusammen, Terraner! Be weise den Stolz, von dem du dauernd sprichst!« Ein Ruck ging durch Jorges ausge mergelten Körper. Endlich reagierte er und wandte mir mit erhobenem Wurf arm den Rücken zu. Ein Laut ertönte; ein Ton, der zwi schen Schnalzen und Gurgeln lag. Ich suchte den Verursacher des Geräu sches. Es war der größte der Raptoren. Er musterte mich aus Augen, denen ich eine heimtückische Schläue zuschrieb. Dies war der Führer des Rudels! Fast generalstabsmäßig ordnete er durch Schwanzklopfen und Lautfolgen seine
Die Savannenreiter von Vinara
Truppen. Wie auf Befehl sprangen die anderen Saurier hin und her, vor und zurück. Es war keine bewusste Intelligenz, die aus seinen Handlungen sprach. Er nutzte schlicht das Recht und die Erfahrungswerte des Stärksten. Wenn du ihn ausschalten könntest, wäre euer Problem schon halb gelöst, meldete sich mein Extrasinn. Mit aller Wucht schleuderte ich den größten Gesteinsbrocken, dessen ich habhaft werden konnte. Und ich traf! Mitten auf die Nüstern des Alpha-Tiers; mit hoher Wahrscheinlichkeit eine der empfindlichsten Stellen seines Körpers. Die Reaktion war gleich null. Unwillig schnaubte der Raptor, schüttelte seinen hässlichen Schädel und gab er-
neut zischende und klappernde Kom mandos. Die Berechnung, mit der die ses widerwärtige Vieh agierte, hätte mich in einer anderen Situation wohl beeindruckt.... »Siehst du die Felswand dort hinten, schräg links?«, fragte ich Jörge. Er murmelte ein mutloses »Ja!« »Wir bewegen uns langsam darauf zu. Nahe aneinander bleiben, nicht mehr als zwei Meter Abstand zueinan der, Rücken an Rücken. Die Felsvor sprünge geben uns.ein wenig Deckung, und mit etwas Glück finden wir eine Möglichkeit zum Aufstieg - oder eine Höhle...« »Du weißt selbst, dass es sinnlos ist, Atlan«, unterbrach mich Jörge mit monotoner Stimme. Wie zur Bestätigung brach einer der
Was bisher geschah:
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit ent spricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Ceh-tauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenstän diger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können ... Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raum schiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Platt-form materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief - Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus - eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Um laufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Atlan und den Archivar Jörge Javales verschlägt es auf Vinara IV Dort treffen sie auf Eingeborene, mit deren Hilfe sie versuchen, zur Zivilisation zurückzufinden. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Doch diesem System droht eine vernichtende Katastrophe - und die Menschen müssen um ihr Überleben kämpfen ...
Raptoren nach vorne aus, wischte mit dem Vorderpaar seiner Extremitäten zischend durch die Luft. Es war ein bloßer Reflex, der mich ausweichen ließ. Ich warf mich einfach auf die Seite. Gleichzeitig schleuderte' ich einen weiteren Steinbrocken gegen den für einen Moment ungedeckten Unterbauch des Monsters. Quietschend und zornig zog sich der Saurier zurück. Aber nur wenige Schritte. Keuchend rappelte ich mich hoch. Jörge in meinem Rücken hatte erst jetzt mitbekommen, was sich hinter, ihm tat. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Rudelführer zu. Er stand schräg vor mir, vielleicht dreißig Meter entfernt. Sein muskulöser Schweif klopfte provokant auf den Boden. Er urinierte mit kräftigem, dunkel gelbem Strahl. Der Rudelführer steckte sein Gebiet ab. Im Halbkreis wanderte er dabei hin und her. Seht, diese zwei lächerlichen Figuren sind mein Abendimbiss, mochte er damit sagen. Und ich hätte schwören können, dass er mich auslachte. Er verhöhnte uns, wollte eine un überlegte Reaktion herbeiführen, um jede Gefahr für sich und seine Gruppe weiter zu reduzieren. »Den Gefallen tu ich dir nicht«, sagte ich leise. Und, etwas lauter, in Jorges Richtung: »Wir fangen jetzt an, uns zur Felswand hin zu bewegen. Hast du mich verstanden?« Ich interpretierte sein Gestammel als Zustimmung und machte einen kleinen Schritt beiseite. Fünfzig Meter trennten uns von der bescheidenen Deckung, die unsere Aussichten um ein paar Promille erhöhen möchte. Der Anführer der Saurier ließ uns nicht den Hauch einer Chance. Mit ei
nem lang gezogenen Laut gab er den Befehl zum Angriff. Vierzehn Muskelpakete auf Beinen stürmten auf uns zu ... 2.Lethem, 19. März 1225 NGZ Lethem da Vokoban zwirbelte ner vös die Enden seines Schnurrbartes, während er mit langsamen Schritten die bescheidene Residenz der Magha-lata verließ. Er hatte sein Bestes gegeben, um Kythara, die wie eine Heilige verehrt wurde, zu überzeugen, eine Expedition auszurüsten. Eine Expedition, um At-lan zu suchen. Lethem wusste, dass der unsterbliche Arkonide wie die Crew der TOSOMA auf einer der fünf Spiegelwelten Vinaras gestrandet war. Sie hatten Transmitteremissionen an Bord der Vergessenen Positronik angemessen. Und nur wenige Augenblicke später einen weiteren Impuls auf einem der fünf nahezu identischen Planeten. Dies war Atlan gewesen, er musste es gewesen sein! Doch Kythara hatte sich ebenso we nig von der Notwendigkeit dieser Ex pedition überzeugen lassen wie ihre Ratgeber, Freunde und Begleiter On-daix und Enaa von Amenonter. Die Frau hatte sie gegängelt, falsche Hoffnungen auf Hilfestellung erweckt -und sie ihnen schließlich verweigert. Warum? Lethem vermochte es nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er gescheitert war. Während seiner Ausbildung war er auf vieles vorbereitet worden, und er hatte stets gewusst, wie man unge wöhnliche Situationen richtig einzu schätzen hatte. Doch was ihm und der
Die Savannenreiter von Vinara
gesamten Besatzung der TOSOMA wi derfahren war, hatte noch in keinem Regelbuch interstellarer Raumfahrt Eingang gefunden. Das Fatale war, dass er nach dem Ausfall der meisten Führungskräfte nominell Ranghöchster der Schiffsbe satzung war. Die Last ruhte auf ihm, und er begann sie zu spüren. Ranghöchster welchen Schiffes?, 'fragte er sich und zog unwillkürlich die Stirn in Falten. Die TOSOMA liegt auf einem Raumschiffsfriedhof, unerreich bar weit entfernt. Lethem blickte nach oben. Der riesig wirkende Kristallmond beherrschte den abendlichen Himmel. Immer wieder kollidierten Ausbrecher aus dem Band, das von der Besatzung der TOSOMA -längst O&sidian-Ring getauft worden war, mit dem Begleiter , des Planeten. Feuer leuchteten auf einmal auf. Feuer, die Ängste in ihm weckten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis größere Gesteinsbrocken aus Obsidian auch Vinara erschüttern würden. Lethem wagte nicht, länger darüber nachzudenken. Die Stadt Viinghodor breitete sich zu seinen Füßen aus. Hier oben, auf der achten und höchsten Terrassenstufe der sonderbaren Metropole, hatte er ei nen atemberaubenden Blick hinab auf das Meer - und die vielschichtigen Ge bäudekomplexe dazwischen. Tranige Fackeln erhellten Viinghodor. Sie sorg ten zugleich für Rauchschwaden, die landwärts wehten, und für ungewohn ten Gestank. »Beeindruckend, nicht wahr?« Lethem zuckte zusammen und drehte sich abrupt um. Der Überschwere stand hinter ihm. Umrin Zeles Barbinor. Einer der Vertrauten der Ehrwürdigen Heiligen,
wie die attraktive Varganin namens Kythara von großen Teilen der vieltau sendköpfigen Stadtbevölkerung ehr furchtsvoll gerufen wurde. Maghalata war das Wort für ihren Ehrentitel im hiesigen Jargon. Eine Pause entstand, während der Lethem den breiten und schweren Ko loss unverhohlen musterte. Umrin brach schließlich das Schweigen: »Was siehst du, wenn du auf die Stadt hinabblickst?« »Ich sehe eigentlich nichts«, gestand Lethem, »sondern ich suche.« »Und wonach suchst du?« Der Über schwere öffnete einen leinenen Sack und zog vorsichtig eine Lyra hervor. Sie war aus dunklem, geöltem Holz. Die ungefähr zwanzig straff gespann ten Saiten glänzten hellrot im kristal lenen Licht des Mondes. / »Ich forsche nach Wegen, Viingho dor zu verlassen. Nach einem Weg, der uns'nach Hause führt.^Und der uns hilft, unsere verschollenen Gefährten zu rinden.« Scheinbar gedankenverloren fuhr der kompakt und gedrungen gebaute Mann über sein Instrument. Die di cken, kurzen Finger zeigten dabei eine außerordentliche Geschmeidigkeit. Geschickt entlockte der Barde der Lyra einige Akkorde, die Lethem ein wenig an heimatliche Volksklänge er innerten. »Nur wer mit ganzem Herzen sucht, der findet«, interpretierte Umrin mit wohlklingendem Bass, »manches Ziel lässt sich nur unter größten Opfern er reichen.« »Was meinst du damit?«, fragte Le them misstrauisch. Er tat sich schwer mit Überschweren. Ihre weit zurück reichende Geschichte war von unsägli chen Gewalttaten, Verrat und Betrug gekennzeichnet.
8 Michael Marcus Thurner
»Nichts Besonderes«, entgegnete selbst im Todeskampf noch nach uns. Umrin. »Ich summe und brumme bloß Ich riss Jörge mit mir, raus aus der vor mich hin. Immer auf der Suche unmittelbaren Gefahrenzone. nach einem neuen Lied, tatimm, Was war passiert? Wer half uns? ta-tamm.« Egal. »Ist es Zufall, dass du mir gefolgt Wir mussten die Chance nutzen, be bist?« Lethem drehte sich erneut um. vor sich die Raptoren wieder an uns er Unweit von seinem Aussichtspunkt, innerten. Ich sprintete los und zerrte auf der siebten Stufe, vielleicht ein dabei den Terraner mit mir in Richtung hundert Meter weiter unten, fand auf der Felswand. Eine kleine Lücke im einem kleinen, runden Plätzchen ein Rund der Angreifer war entstanden Fest statt. Wesen jeglicher Couleur fei -und ich war wild entschlossen, diese erten dort ausgelassen, tanzten um ein Chance zu nutzen. großes Feuer. Schrien, lachten, sangen. Ein weiterer Schmerzensschrei er Sie hatten keine Ahnung von der Ge tönte, und noch ein Saurier wälzte sich fahr, die ihnen drohte. Oder sie wollten wild mit dem Schwanz peitschend im nichts davon wissen. Sand. »Sieh nur!«, stammelte Jörge. »Kä »Keinesfalls«, entgegnete Umrin Ze-les Barbinor so spät, dass Lethem fer!« Er deutete nach rechts. Ich hatte" keine Augen für die , die Frage fast vergessen hatte. Der Barde lebte offensichtlich in ei Schockfantasien des kleinen Mannes. ner eigenen, von Musik und Gesang ge Wo war der große Velociraptor? Das steuerten Welt. Zeit schien für ihn eine Alpha-Tier? Da stand er. Unweit von uns. Er andere Bedeutung zu besitzen. »Also, warum bist du hier?«, fragte hatte den Kopf schief gelegt und blickte uns, seine kleinen Leckerbis Lethem ungeduldig nach. sen, scheinbar abwägend an. Waren »Weil die Maghalata darauf bestan den hat.« Diesmal kam die Antwort wir ihm weitere Opfer seiner Herde rasch. »Sie will, dass ich euch bei euren wert? Nein! Nachforschungen in Viinghqdor helfe Er riss das Maul auf, klackerte und und mit Rat und Tat beiseite stehe.« Gut. Sie hatten sich also einen Spion fauchte kurz, wandte sich dann ab. Mit weiten Sprungschritten hetzte er da eingefangen. von, gefolgt von den übrigen Sauriern. Ein weiteres Tier, bereits das fünfte, blieb zurück. Während es fiel, erkannte 3. ich lange, schwere Pfeile, die aus dem Atlan, 19. März 1225 NGZ weichen Bauch des Monsters ragten. Drei der Raptoren fielen nahezu Bogen- oder Armbrustschützen waren gleichzeitig mit lang gezogenen es also, die uns geholfen hatten! Ich Schmerzensschreien zu Boden. wagte nicht, den Blick von den Raub Schwung und Masse rissen sie nach sauriern abzuwenden, bevor sie nicht hinter der Felswand verschwunden vorne, nahe an uns heran. waren. Während die anderen Tiere ab Das Beben der Erde, ausgelöst vom bremsten und sich irritiert umblickten, Gewicht der Flüchtenden, ließ nach. schnappten die verwundeten Saurier
Die Savannenreiter von Vinara 9
Langsam setzte sich die Staubwolke. Ich hustete und spuckte trockenen Schleim. Endlich wagte ich, in dieselbe Rich tung zu blicken, in die der Archivar starrte. Er hatte Recht gehabt. Es waren Kä fer, die uns zu Hilfe gekommen waren.
Drei Meter lange, dem irdischen Hirschkäfer nicht unähnliche Tiere stampften uns entgegen. Die Länge ih rer Geweihe, also ihrer Kiefer, schwankte zwischen einem halben bis eineinhalb Meter. Sie bewegten sich grazil, ja geradezu vorsichtig, und das hatte einen Grund. Auf ihnen saßen humanoide Wesen! Sie schützten sich mit Baldachinen aus Chitinpanzern vor der starken Sonne. Ich wischte mir Tränen der Erregung aus den Augenwinkeln. Es war unser erstes Aufeinandertreffen mit ver nunftbegabten Lebewesen dieses Pla neten, auf den es uns verschlagen hatte. Auch wenn ich solche Situationen wie diese hier schon hundertfach erlebt hatte, waren Erstbegegnungen mit Angehörigen fremder Rassen immer wieder spannend. Zumal wir erneut eingekreist und misstrauisch begut achtet wurden. Diese Wesen richteten ihre langen Armbrüste, deren Bolzen- , spitzen grünlich glänzten und mich an Giftextrakte erinnerten, auf Jörge und mich. Ich überwand den Schrecken. Die Raubsaurier waren bereits Vergangen heit. Ich musste den kleingewachsenen Humanoiden mit der dunklen, perga mentenen Haut einen Grund, geben, ihre Waffen zu senken. Also hob ich langsam und vorsichtig beide Arme
und kehrte die leeren Handflächen nach außen. »Ganz ruhig, es ist alles in Ord nung«, sagte ich mit fester Stimme. »Vielen Dank für die freundliche Un terstützung. Ich bin froh darüber, dass ihr uns gegen die Saurier zu Hilfe ge kommen seid.« Es spielte keine Rolle, was ich sagte, sondern wie ich es sagte. Dies war eines der wichtigsten Prinzipien eines Erst kontaktes. Nur keine hastigen Bewe gungen, nur nicht zu rasch sprechen.. Mit meinem selbstbewussten Auftreten war ich bisher immer gut gefahren. Der Staub hatte sich mittlerweile gelegt. Die riesigen Käfer waren zum Stillstand gekommen. Ihre Mandibeln klapperten aufeinander, doch sonst hatten die kleinen Reiter ihre Trans porttiere vollends unter Kontrolle. Es waren insgesamt neun Tiere. Drei von ihnen waren Tragetiere, angehäuft mit leinenen Bahnen, Körben, Wasser säcken und sonstigen Ausrüstungsge genständen. Ein Ruf erschallte. Seltsam hoch und zitternd. Sofort wurden die Armbrüste gesenkt. Nur die beiden Hirschkäfer ganz in unserer Nähe bewegten ihre überdi mensionalen Geweihe bedrohlich hin und her. Jörge neben mir stöhnte leise. »Auf Terra sind diese Viecher ein wenig klei ner«, meinte er. Immerhin. Er hatte zu seinem etwas spröden Humor zurückgefunden. Zwischen den Käfern tat sich etwas. Die Reiter waren von ihren Tieren her abgerutscht und näherten sich uns vor sichtig. Sie wollen euch nichts tun. Sie hät ten Jörge und dich schon längst töten können, meinte der Extrasinn mit un bestechlicher Logik.
10 Michael Marcus Thurner
Natürlich hatte er Recht. Aber ich hatte im Laufe meines langen Lebens bereits so viele Überraschungen erlebt, dass ich gut daran tat, misstrauisch zu bleiben. »Siob el Afalharo, ben Gamondio«, sagte der vorderste Mann. Für die anderen seiner Gruppe wirkte er zweifellos übergroß und stattlich. Die Artgenossen in seinem Gefolge waren kleiner und schmaler gebaut; abgesehen vielleicht von dem einen schwerfälligen Wesen im Hinter grund, das ich unwillkürlich als weib lich einschätzte. Alle waren sie nicht größer als 1,70 Meter. Straff gebundene, dunkelgrüne Bur nusse bedeckten ihre großen Köpfe.. Aus ihren Gesichtern stachen purpur violette Augen hervor. Sie kauten ge trocknete Riegel und spuckten alle paar Sekunden bräunlichen Saft auf die staubige Erde. Ihre Arme waren überlang, die Beine hingegen etwas zu kurz geraten, um als Arkoniden oder Terraner durchzugehen. Die Haut, ge gerbt von Wind und Wetter, wirkte an manchen Stellen dunkel, fast schwarz. Ihre Stimmen waren ungewöhnlich schrill. Es schien, als wären ihre Lun gen mit Helium gefüllt. »Gamondio«, sagte der größte Mann erneut. Dies war wohl sein Name. Im mer wieder sprach er ihn aus und deu tete mit den langen Fingern auf seinen Oberkörper. So unbedeutend kleine Gesten auch sein konnten - sie sagten mir viel. Zum Beispiel, dass Gamondio und die Sei nen schon Kontakt zu anderen Wesen und zu anderen Rassen gehabt haben mussten. Er agierte bestimmt und selbstbewusst und wusste genau, was er zu tun hatte, um zu einer schnellen Verständigung zu gelangen. Jörge Javales kratzte sich am schüt
teren Haarschopf. »Kommt dir diese Sprache nicht irgendwie bekannt vor?«, überlegte er. Die dünnen Stimmen machten es schwer, einzelne Wörter herauszufil tern. Doch ... Moment! Bei genauem Hinhören konnte ich Wortstämme und Silben erkennen, die eindeutig dem In terkosmo zuzurechnen waren. Dazwi schen Wortfetzen sowie grammatikali sche Konstruktionen, die auf einen ar konidischen Dialekt schließen ließen. Und schließlich ... lemurische Stamm silben! ' Das Leben bot immer wieder Über raschungen.
Sie nannten sich Afalharo vom Stamm der Tulig. Der Planet, auf dem sie lebten, hieß Vinara. Vinara. Ich hatte das Wort schon ein mal gehört. In meinen Visionen, die mich während der endlos langen Mate rialisation auf diesem merkwürdigen Planeten geplagt hatten. Ich folgte konzentriert den Ausführungen der Männer. Sie waren Savannenreiter. Noma den, die seit Ewigkeiten das weite Land entlang jener kerzengeraden, ur alten Karawanenwege durchquerten. Auch Jörge und ich waren ihnen ge folgt. Die Afalharo handelten mit Salz, gepökeltem Fleisch und Dörrpflanzen. Wir saßen uns gegenüber und ver ständigten uns mit Körpersprache. Doch wir erlernten die Sprache pro blemlos. Die Grammatik war einfach; ungefähr fünfzig Prozent der Wort stämme waren weitgehend identisch mit dem in der Milchstraße gebräuch lichen Interkosmo. Nur die Aussprache war verändert, Betonungen hatten sich verschoben. Ich machte mir momentan
Die Savannenreiter von Vinara
11
keine Gedanken darüber, warum und wieso eine Abart des Interkosmo auf diesem einsamen Planeten gesprochen wurde. Gamondio, der selbstbewusste Häupt ling, stellte mir seine Begleiter vor. Adino und Amessio, die Zwillinge, die nahezu zwanzig Zentimeter in der Größe trennten. Eitadoco, genannt die Eisenpratze; der zierliche Rismelo, der mit dem Wurfmesser besser umgehen konnte als irgend] emand anders seines Volkes. Sie alle gemeinsam repräsen tierten die Creme de la creme ihres Volksstammes. Kämpfer, die weder Tod noch Teufel fürchteten. Der Anführer bot Jörge und mir ei nen Streifen Dörrfleisch an. Dankbar nahmen wir an. Seit dem Betreten die ser Welt durch das monumentale Tor mit jenen seltsamen Obsidian-Ein-sprengseln vor mehr als vierundzwan-zig Stunden hatten wir nur Konzentrate zu uns genommen. »Wer ist sie?«, fragte ich und deutete in Richtung der dicken Af alharo-Frau, die sich alfe Einzige abseits hielt. »Dendia, die Schamanin«, antwor tete Gamondio kurz angebunden. Er spuckte braunen Saft zielsicher in ein Sammelloch für Abfälle in mehr als zwei Metern Entfernung. »Sie bereitet betäubende Säfte für unsere Dendi-bos.« Er deutete auf die riesigen Hirschkäfer, die im Schatten der Felswand standen. »Warum betäubt ihr sie?« Gamondio lachte breit und ent blößte seine bräunlichen, fast schwar zen Zähne. »Weil wir leben wollen«, sagte er schließlich. »Wenn sie nicht täglich eine genau bemessene Ration Nornen-Giftes erhalten, würden sie über uns herfallen und uns zerflei schen.« Mich schauderte. Ich konnte nur
hoffen, dass die Künste der Schamanin nicht versagten. Gamondio schien meine Bedenken zu ahnen. »Keine Angst - Dendia ver steht ihr Geschäft. Seit mehr als drei ßig Jahren hilft sie uns Dendibo-Trei-bern.« Ich sah zu, wie die dicke Frau müh sam aufstand. Die Glieder schmerzten ihr sichtlich. Sie trug einen armgroßen Tiegel, in dem sie kurz zuvor Krauter zerstoßen und mit einer grün schillernden Flüssigkeit vermischt hatte. Dendia bewegte sich nur langsam. Sie redete ununterbrochen. Eine Lita nei, ein Gebet-, das wohl keinerlei Sinn ergab und lediglich die Tiere beruhigen sollte. Ohne Furcht trat sie von der Seite an den ersten, den größten Hirschkäfer heran. Das Tier versuchte, seine rotbraunen Flügeldecken zu heben; diese waren je doch mit schweren Seilen an den Leib gebunden. Gleichzeitig tänzelte das Tier unruhig auf seinen schwarz gefie derten Beinkeulen hin und her. »Er ist der Leitbulle«, flüsterte mir Gamondio zu, »und er riecht das Nor-nen-Gift. Ein gutes Tier, in der Blüte seines Lebens:« Der Stammesführer seufzte. »Nur zu schade, dass er es nicht mehr lange machen wird.« »Was soll das heißen?«, fragte Jörge. »Er ist bereits schwer süchtig. Den dia muss die Dosis des Giftes immer weiter steigern, um ihn ruhig zu stel len. Vielleicht noch ein Jahr, dann wird ihn der Saft töten.« »Ihr ... ihr macht die Tiere süchtig? Und ihr bringt sie damit um? Nur, da mit ihr sie reiten könnt?«, platzte der Archivar heraus, noch bevor ich ihn warnen konnte. Wir hatten kein Recht, über traditio nelle Lebensgewohnheiten dieses Nomadenvolkes zu urteilen. Möglicher
12
Michael Marcus Thurner
weise waren die Käfer ihre einzige Chance, in der endlosen Savanne eine bescheidene Existenz zu bestreiten. Jörge Javales besaß keine ausrei chende Lebenserfahrung, um dies zu erkennen. Woher auch? Ich hatte im merhin ein paar Jahrtausende Wis sensvorsprung . »So ist es«, antwortete Gamondio seelenruhig. Ich atmete erleichtert auf. Er hatte Jorges Gefühlsausbruch nicht als be leidigend empfunden. Noch bevor mein Begleiter erneut etwas entgegnen wollte, trat ich ihm unauffällig auf den linken Fuß. Er wirbelte herum und sah mich wü tend aus nächster Nähe an. Sein Zorn verflog schnell. Er hatte verstanden, wen er vor sich hatte. »Schon gut«, murmelte der Archivar der TOSOMA und blickte verdrießlich zu Boden. Nein, wir beide waren keineswegs ein ideales Paar. Ein merkwürdiges und trauriges Schicksal hatte uns aneinander geket tet. Zwei Männer, der Soldat Horgald Massarem und der arkonidische Histo riker Veloz da Metztat, waren im Ver lauf einer eigentlich harmlosen Expe dition, die uns zur Kharba-Station hätte bringen sollen, umgekommen. Geblieben war mir nur der dürre Terra-Nostalgiker, der gebetsmühlen-artig auf seine Herkunft hinwies. Jörge war weder als Partner im Kampf noch in seinem diplomatischen Verhalten eine große Hilfe. Ich hätte mir viel lieber einen Mann wie Cisoph Tonk, den Leiter der Schiffsverteidigung, an meine Seite gewünscht. Dendia hatte den Leitbullen mittler weile beruhigen können. Sie hieb ihm rhythmisch mit einer knöchernen Keule auf das mit allerlei Zierrat ver
sehene Horngeweih. Dann streichelte sie ihm über die Mandibeln, ohne ihre Litanei zu unterbrechen. Der Bulle stand nun ganz ruhig da, das vordere Beinpaar leicht gesenkt, erwartungsfroh. Er kannte diese Pro zedur, und er wusste, dass die Frau hier war, um seine Schmerzen zu lindern. Schmerzen, die einer körperlichen Abhängigkeit entsprangen. Dendia tunkte einen breiten Pinsel in ihren Topf und fuhr dem Hirschkä fer damit in das geöffnete Maul.-Ein leichtes Zittern ging durch seinen Kör per. Die Haare an den Beinen und-an der Unterseite seines Körpers richte ten sich steil auf, und ich hätte schwö ren können, dass ich ein wollüstiges Seufzen vernahm. Ich spürte, wie Jörge neben mir er neut steif wurde. »Bleib bloß ruhig«, murmelte ich, »sonst werden wir an die Käfer verfüttert.« Die Afalharo waren ein stolzes Volk, und sie hatten uns in höchster Not ge holfen. Aber ich spürte, dass wir nicht all zusehr an ihren Lebensgewohnhei ten rütteln durften. Das Schauspiel der Fütterung dau erte eine knappe Stunde. Erst als das letzte Tier getränkt war und seine Gift ration erhalten hatte, setzte sich Den dia zu uns. Die Krieger hatten ihr mittlerweile eine große Portion Getreidebrei aufge wärmt. Als sie den Mund öffnete und" zu löffeln begann, war deutlich zu se hen, warum sie kein Dörrfleisch wie die anderen aß. Zwei schwarze Zahnstum pen waren ihr noch geblieben. Gierig schaufelte die Frau den Brei in sich hinein. Bereitwillig gehorchten die Krieger, als sie mehrere Befehle er teilte. Selbst Gamondio folgte ohne Murren ihrer Aufforderung, den Topf, der das Nornen-Gift enthalten hatte,
Die Savannenreiter von Vinara 13
zu säubern. Erst als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, sah sie hoch und blickte mich an. Bislang hatte sie uns mit Missach tung gestraft. Sie rülpste und sprang mit erstaun licher Vitalität hoch.»Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?«, keifte sie die Krieger an. »Seid ihr denn blind und taub? Seht, hört und fühlt ihr denn nicht, wen ihr da vor euch habt? Spürt ihr nicht seine besondere Aura?« Sie schlug die Arme vor der Brust übereinander und verneigte sich genau viermal ächzend vor mir. Gamondio und seine Männer waren bleich geworden. Mit einiger Verzöge rung folgten sie dem Vorbild der Scha manin und erwiesen mir auf diese merkwürdige Art und Weise ihre Ehre. »Du bist ein Angehöriger des Or dens«, sang die alte Frau leise. »Du ge hörst den Wächtern der Eisgruft an! Du bist derjenige, der uns helfen wird, unseren Auftrag zu erfüllen.« 4. Lethem, 19. März 1225 NGZ
Umrin Zeles Barbinor war keines wegs ein unangenehmer Zeitgenosse. Lethem musste sich nur an den wuch tigen Schritt des Überschweren ge wöhnen. Unauffälliges Anschleichen war wohl keine Stärke des Kraft- und Muskelpaketes, dessen Vorfahren auf einer Hochgravitationswelt geboren worden waren. Der Barde brachte gut und gerne das Siebenfache von Lethems Körperge wicht auf die Waage. Und das, obwohl er einen Kopf kleiner war. Nun gut - dafür ist er fast so breit wie hoch, dachte der Arkonide, und auf der Straße macht ihm jedermann Platz.
Genau diesen Faktor machte sich Lethem zunutze. Im Fahrwasser des Barden stieg er die grob ins Gestein ge meißelten Treppen zur untersten Ebene der Felsenstadt Viinghodor hinab. Er wollte zur Unterkunft der Schiffsbesatzung der TOSOMA, das mehr einem Lazarett ähnelte. Die Not landung auf diesem rätselhaften Pla neten hatte zwar keine Leben gefor dert, doch die Liste der verletzten Mannschaftsmitglieder war ellenlang. January Khemo-Massai, der terrani-.. sehe Kommandant, sowie Zuunarik, der zalitische Erste Pilot, waren mit Gehirnerschütterung ausgefallen. Bei de lagen in verdunkelten Zimmern und waren für längere Zeit nicht dienstbe reit. Lethems Landsfrau und Stellvertre tende Kommandantin, Cayry, ging es ebenfalls nicht gut. Sie hatte eine kom plizierte Fraktur des linken Unterar mes erlitten. Der Arkonide schob die trüben Ge danken beiseite. Er musste an die Zu kunft denken. Pläne schmieden. Trotz der späten Stunde herrschte Hochbetrieb in den Straßen. Der Arko nide blickte über den Rücken des Bar den hinab auf den Hafen. Zwei große Feuer erleuchteten die weit ins Meer hinauswachsenden Kaimauern. Eine bunt gemischte Vielzahl von Katama ranen, Koggen, Rudergaleeren, schma len Seglern und einigen Dampfschiffen schaukelte sanft im Wasser. Sie lockten. Sie boten die einzige Möglichkeit, die Insel der Verdammten zu verlassen und nach Atlan zu suchen. »Fernweh?«, fragte Umrin. Er fuhr erneut über seine Lyra und brummte gedankenverloren ein paar Akkorde. Wie konnte ein Wesen, dessen kurze Arme, Hände und Finger so grob
14
Michael Marcus Thurner
schlächtig wirkten, dem Saiteninstru ment derart feine Töne entlocken? »Vünghodor ist nicht unsere Hei mat«, entgegnete Lethem. »Sie war niemandes Heimat. Wir, die Gestrandeten, haben sie erst dazu ge macht. Einer Saga nach stamme ich von den Überlebenden eines Schiffes namens TOL III ab, das vor mehreren Jahrtausenden hier gestrandet ist.« Eine Gruppe johlender Akonen drängte sich an ihnen vorbei.'Jugend liche, die keine Sorgen kannten. Ihr Leben lief hier so gänzlich anders ab als im straffen Gefüge ihres heimatli chen Einflussbereiches, über das sie wahrscheinlich nur wenig wussten. Sie waren ungebunden und frei. Aber wie lange noch? »Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, mein Leben hier zu beenden«, sagte Lethem. »Selbst wenn du und die meis ten anderen es nicht glauben wollen -diese Welt hat keine Zukunft. Der mysteriöse Schlauch, der im Weltraum Ob-sidianfragmente in diese Richtung zieht, wird vor Vinara keinesfalls Halt machen. Die Bombardements des Kris-tallniondes, die man von hier aus mit bloßem Auge bereits beobachten kann, sind nur der Anfang.« »Vielleicht hast du Recht, vielleicht auch nicht...« »Wir haben Fakten«, brauste Lethem auf. »Schließlich sind diese Gesteins massen mitschuld am Absturz unseres Raumschiffes. Umso mehr, als eine Strahlung von ihnen ausgeht, die ...« Der Barde blieb plötzlich auf einer breiten Plattform zwischen zwei .Trep penabsätzen stehen, so dass Lethem in seinen Rücken lief. Umrin klimperte melodiös über seine Lyra. Sofort verstummten ringsherum alle Geräusche. Akonen, Arkoniden, Springer und ein paar echsenähnliche
Wesen unbekannter Herkunft sammel ten sich im Halbkreis. Der Barde war eine Berühmtheit in der Stadt. Ein Ori ginal und ein KenneT der Geschichte des Planeten. »Hört mir gut zu, Viinghodorer«, rief er, »unsere Neuankömmlinge glauben, dass Vinara dem Untergang geweiht sei, wo doch Sardaengar und Litrak über unser Schicksal wachen.« Ungläubiges Lachen erklang von al len Seiten. »Sie meinen, dass die Naturerschei nungen, die Feuer, die wir derzeit auf dem Kristallmond beobachten können, eines Tages auch uns treffen werden.« Der Barde blickte wild umher, rollte mit den Augen und zog an seinen läng lichen Ohrläppchen. Er hob einen Kie selstein auf und ließ ihn auf den kanti gen, haarlosen Kopf fallen »Auweia und Ojammerundnot!«, brüllte der Überschwere. Er drehte sich zweimal um die eigene Achse, streckte eines seiner kurzen Säulen beine waagerecht in die Luft und ließ sich mit voller Wucht auf seinen Hin tern fallen. Das Lachen wurde lauter. »Mit mir, da geht's zu Ende«, sang Umrin im Liegen, »so reicht mir nun die Hände, und sie soll'n sein voll Li-thras, sonst garantiert es gibt was!« Nach einer kurzen Pause sprang Umrin hoch in die Luft und drehte eine Pirouette. Er ließ eine wie aus dem Nichts erschienene Dose im Kreise wandern. Und hatte damit die Lacher auf seiner Seite. Über die Gefahren, die Umrin ange deutet hatte, machte sich offensicht lich niemand Sorgen. Jedermann warf kleine, dunkle Perlen mit winzigen weißen Einschlüssen in das Gefäß. Möglicherweise handelte es sich um das hiesige Zahlungsmittel.
Die Savannenreiter von Vinara
15
»Entschuldige mein Auftreten«, sagte Umrin, als sich die Leute verlau fen hatten, »aber ich muss schließlich von etwas leben.« Grinsend deutete er auf einen halb gefüllten Ledersack, in den er den Inhalt seiner Dose geleert hatte. »Mein Magen verlangt nach et was mehr Nahrung als der von euch Menschlingen. Ein kleines Saurier viertelchen könnte als Abendessen nicht schaden.« Lethem seufzte. »Mein lieber Umrin, ich gönne dir deinen Imbiss. Es könnte eine deiner letzten Mahlzeiten sein. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Aber bitte führ mich zuerst zu meinen Leuten. Ich habe mittlerweile vollends die Orientierung verloren.« »Kein Problem. Ich erzähle dir auf dem Weg ein wenig mehr über Viingho-dor.« Er nahm seine Lyra, strich nochmals liebevoll über die Saiten und steckte sie schließlich zurück in den Leinensack ... Eine Saite riss. Umrin hatte offen sichtlich zu heftig daran gezupft. »Seltsam«,.murmelte er verstört, »so etwas ist mir seit meinen Jugendtagen nicht mehr passiert. Das ist kein gutes Omen...« 5. Atlan, 19. März 1225 NGZ Dendia blickte mir in die Augen. Es war, als ob sie tief in mich eindringen könnte. Tiefer, als es jemals einem We sen zuvor gelungen war. All meine Er innerungen an Entitäten, Superintelli genzen, personifizierte Kosmokraten, Sagengestalten, Herrscher ganzer Sterneninseln und Unsterbliche lagen mit einem Mal bloß. Endlich wandte die Schamanin ih ren Blick ab und erhob keuchend ihren
fetten Leib. Sie griff in einen der Beu tel, die sie an ihrem breiten, das Wams umspannenden Ledergurt trug. Mit ih ren wulstigen, dunklen Fingern holte sie eine Prise Pulver heraus und schleuderte es hoch in die Luft. Ganz langsam senkten sich die Pul verkörner und glitzerten dabei in der nachmittäglichen Sonne. Fasziniert beobachtete ich das Glit zern, verlor mein Sehen in den Parti keln, die von leichtem Wind getragen umhertanzten. Meine Sinne stumpften., mit einem Mal mehr und mehr ab. Ich spürte meinen Körper nicht, konnte weder riechen noch hören. »Sieh in die Schatzwolke der Afal-haro, Atlan! Die Geschichte vom Kampf der Götter«, begann die Schamanin mit ruhiger, tiefer Stimme zu erzählen, »ist ebenso die Geschichte unseres Volkes ...« Der Anblick der Glitterpartikel machte mich müde. Endlos lange schienen sie sich in der Luft zu halten. Trotz des aufkommenden Windes woll ten sie nicht zu Boden sinken. Nur für einen kurzen Moment schreckte ich hoch. Der Reflex - oder sollte ich sagen, die Paranoia eines Un sterblichen, hinter jedem Unerklärba ren eine Falle zu vermuten - schlug an. Es ist alles in Ordnung, sagte mein Extrasinn. Du unterliegst keiner Be einflussung. Beruhigt entspannte ich mich wie der, sackte in mich zusammen. Es han delte sich um keine körperliche Reak tion - es war lediglich das Hinüberglei ten in eine Art Trance. Ich ließ mich treiben ...
... Sardaengar hatte also gesiegt. Sein Gegner, der Ewige Litrak, lag ge
16 Michael Marcus Thurner
fangen unter den Gebirgen, gebunden vom Sand der Savannen, gefesselt durch einen Strang, der aus dem ver festigten grünen Drüsenschleim von Abermillionen Nornen-Schlangen be stand. Sardaengar würde seinen Widersa cher nicht auf ewig unter der Masse des Planeten begraben halten können, das war ihm bewusst. Er musste ihn dort hin verbannen - und bannen -, wo die Kräfte des Ewigen am wenigsten wir ken konnten. So ersann er eine wahr haft heimtückische List, die seinem Beinamen alle Ehre machte: Sardaen gar legte ihn sich in einer atemberau benden Anstrengung über die Schulter und tat den Sprung über die Tiefen Ab-gründe. Er verbrachte Litrak ins verhasste Element, ins ewige Eis, in das Eis des Casoreen-Gletschers, begrub ihn dort auf dem dritten der fünf sich spiegelnden Erdklumpen. Sardaengar machte aus Litrak den Untoten Gott im Eis. Zäh und unendlich langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück. Jörge Java-les saß mir wie paralysiert gegenüber. Er blickte auf die kreisrunde Fläche. Die Glitterpärtikel lagen zwischen uns auf dem Boden. Sand, ewig vom Savannenwind vor sich hergetriebener Sand, vertrieb oder verdeckte die Teilchen binnen weniger Sekunden. So schien es mir zumindest, denn mein Zeitmaß war mir längst ab handen gekommen. Jemand klatschte in die Hände. Den-dia, die Fette. Und endlich konnte ich mich wieder bewegen. »Was war das?«, fragte Jörge. »Eine Vision? Eine Halluzination?« Dendia lachte meckernd. Sie hatte sich als Einzige der Af alharo zu uns ge setzt.
»Nein«, antwortete sie. »Es ist die Erinnerung hunderter Generationen von Savannentöchtern. Wir tragen sie mit uns, und wir geben sie weiter. Wir erzählen die Geschichten, übermitteln sie von Mutter auf die Tochter. Nichts kann verloren gehen, nichts gerät in Vergessenheit.« Ich war verwirrt. Meine Gemütsver fassung konnte nicht nur von der lang sam abklingenden Paralyse herrühren. Was hatte das glitzernde Pulver mit den Erinnerungen früherer Generatio-.nen zu tun? War es ein Halluzinogen, das auf uns eingewirkt hatte, während Dendia ihre Geschichte erzählt hatte? Nein, sagte der Extrasinn. So war es nicht. Aber ist es klug, alles wissen zu wollen? Und dennoch fragte ich nach. Dendia blickte mich sonderbar an. »Du bist ein merkwürdiger Ordens bote«, sagte sie schließlich. »So ganz ohne Erinnerung an das Volk der Afal-haro und so voller Fragen.« Ich schwieg und setzte mein bestes Pokerface auf. Ein falsches Wort konnte Jörge und mich in die Bre-douille bringen. Die überdimensionalen Käfer sahen ganz so aus, als könnten sie noch einen Happen frisch ertappter Schein-Heiliger vertragen. Schließlich, nach einer endlos lan gen Pause, setzte Dendia fort: »Afal-haro sterben, und sie werden im Sand der Wüste oder unter den Gräsern der Steppe begraben. So nähren sie das Land und tragen selbst im Tod noch dazu bei, die Savanne fruchtbar zu erhalten.« Sie holte tief Luft. Ihr breiter Brust korb mit den gut sichtbaren, flachen Hängebrüsten hob und senkte sich. »Aber nicht alles darf Mutter Vinara überantwortet werden. Die Erinnerun gen, die in unseren Köpfen stecken, müssen erhalten bleiben. Deshalb off
Die Savannenreiter von Vinara
17
nen wir Schamaninnen die Schädel der Verstorbenen. Wir entnehmen die graue Substanz, die uns steuert und die unser Wesen ausmacht. Danach ent wässern wir sie in dunklen Höhlen und räuchern sie mehr als fünfzig Tage. Mit eisernen Mörsern zerstoßen wir das Übriggebliebene in eisernen Gefäßen. Wir fügen kleine Mengen metallener Substanzen wie Kupfer, Zinn, Zink, Gold und Quecksilber hinzu. Über drei Tage hinweg mischen wir und wachen über die Reste der Erinnerung der Toten, die somit für alle Ewigkeit haften bleiben. Wir Schamaninnen, die Rat geber und Herrscher über das Volk der Afalharo, sprechen mit den gebunde nen Toten, indem wir winzigste Teile von ihnen essen. So sorgen wir dafür, dass ihr Geist nicht zu entfliehen ver mag. Denn es ist ihre Pflicht, uns in die Zukunft zu geleiten.« Die Frau deutete vielsagend auf die Hornbehälter, die sie um den Leib gebunden trug. »Und zwar so lange, bis ihre Substanz an all den Abenden der Erzählungen endgül tig verbraucht ist und im ewigen Wind davongewirbelt wird.« Sie schwieg, und ich befürchtete, dass ich ziemlich blass geworden war.
Die Savannenreiter hatten während der letzten Stunden den fünf getöteten Sauriern die Häute abgezogen und sie ausgenommen. Ein Teil der Innereien kochte in einem tiefen Kupferkessel, während breite Fleischbahnen über ei nem rasterf örmigen Holzgestell geräu chert wurden. Auch Krallen, Zähne, Augen und Knochen waren sorgsam sortiert worden. Sie würden unter Ga rantie eine Verwendung bei den Noma den finden. Wandervölker verschwen deten niemals etwas.
Nach getaner Arbeit lagerten die Männer in der Nähe ihrer käferförmi gen Reittiere. »Wir sind hier unter Angehörigen ei nes naturnahen Nomadenvolkes«, sagte ich zu meinem Begleiter. »Und sie sehen etwas in mir, was wir ihnen bes ser nicht nehmen. Wer weiß, ob ihre Stimmung umschlägt, wenn sie her ausfinden, dass ich nicht dieser so ge nannte Ordenswächter bin.« »Warum hast du sie überhaupt in diesem Glauben gelassen?«, fragte mich Jörge leicht vorwurfsvoll. »Um unsere Situation zu verbes sern«, antwortete ich. »So erhalten wir viel eher Informationen.« »Und was hilft uns das?« »Einen Ausweg zu finden«, erwiderte ich ungehalten. »Um zur TOSOMA zu rückkehren zu können. Um das Rätsel der Obsidiantore zu lösen. Und jetzt sei still!« Ich deutete mit dem Kopf auf Den-dia, die angehumpelt kam. Jörge kniff den Mund verbittert zu sammen. Die feinen, aber tiefen Fält-chen rund um seine ausgeprägte Hakennase wurden noch deutlicher sichtbar. Er starid abrupt auf und ging davon. Ich verstand ihn. Sein Leben hatte bislang aus Datenblöcken und positro nischen Expansionsgefäßen, hyperin-metronischen Lapidareffekten oder binären Koagülationswachstumsver-stärkern bestanden. Begriffe, die hier auf dieser Welt keine Bewandtnis hatten. Er war ein brillanter Theoretiker und kannte sich zweifelsohne in der Geschichte meines und des lemuri-schen Volkes: aus - doch ohne technische Gerätschaften fühlte er sich zu einem Nichts reduziert. »Wer ist er?«, fragte Dendia. »Dein
18 Michael Marcus Thurher
Sklave?« Sie ließ sich ächzend fallen und kratzte sich am Kopf. »Ein Untergebener - und ein Freund«, antwortete ich. »Aber reden wir von euch. Ich sehe, dass ihr ohne Waren unterwegs seid.« Ich deutete auf die neun Reitkäfer, die zwar beladen waren, aber keinesfalls so aussahen, als könnten sie nicht noch mehr Ge päck vertragen. »Dies ist kein norma ler Ritt, auf dem ihr euch befindet, nicht wahr?« Dendia kicherte. »So ist es, Bote.« Sie winkte die Männer des Tulig-Stammes heran. Zögerlich kamen die kräftigen Männer näher. Sie setzten sich in gehörigem Abstand respektvoll nieder. Eitadoco, genannt die Eisenpratze, sammelte trockenes Buschholz und machte sich daran, ein Feuer für die Nacht vorzubereiten. Die Dunkelheit brach rasch herein, sie würde erneut Kälte mit sich brin gen. »Erzähle, warum wir unterwegs sind«, forderte die alte Vettel Häupt ling Gamondio auf. Dann ließ sie sich schwer auf den Rücken fallen. Als ihr Eitadoco ein Tuch über den Körper legte, grunzte sie zufrieden. Der Häuptling räusperte sich ver nehmlich und sah dann schüchtern zu mir. Es mutete seltsam an, diesen star ken, selbstbewussten Krieger, der ohne zu zögerji die Velociraptoren angegrif fen hatte, in einer derart devoten Hal tung zu sehen. Was war es, das die Schamanin ge spürt hatte? Meine Aura? Die eines Ritters der Tiefe? Oder die Strahlung des Zellak-tivators, der seit Ewigkeiten meinen Körper am Leben erhielt? »Wir haben unseren Stamm der Tu-lig verlassen, weil wir auf der Suche
sind«, begann Gamondio zögernd. Mit einem dünnen Stab stocherte er im Sand umher, als suche er etwas. »Den dia, die Schamanin, hatte sich vor we nigen Tageswechseln in ihr Reisezelt zurückgezogen, um Eksasi-Wurzeln zu kauen. So, wie sie es immer macht, wenn die Jagdsaison beginnt. Schlan gen- und Drachenhäute sind in den Städten und Karawansereien immer gefragt, musst du wissen. Mit ihrem Inneren Auge sucht und findet sie die besten Jagdgründe, und sie hat uns noch niemals fehlgeleitet.« »Was ich nicht alles für euch mache«, murmelte die Alte mit leidender Stimme, »und dennoch vernachlässigt ihr mich, wo ihr nur könnt.« »Hol ihr die Milch!«, forderte Ga mondio einen seiner Krieger auf und fuhr dann fort: »Doch in dieser Nacht wurden wir von ihrem Schreien und Zetern aufgeschreckt. Wir wagten es kaum, uns ihrem Zelt zu nähern, so furchtbar war ihr Wehklagen. Drei meiner Männer waren vonnöten - und es waren beileibe nicht die schwächs ten Männer -, sie zu bändigen und aus ihrer Trance zurückzuholen.« »Rede nicht so lange um den heißen Brei herum«, forderte die Schamanin und grunzte wiederum zufrieden, als ihr ein dampfender Becher mit heißer Milch an die Lippen gehalten wurde. »Nachdem wir also Dendia beruhigt hatten, erzählte sie uns von ihrer Vi sion. Von bedrohlichen Zeichen, die am Himmel standen. Von einer unheiligen, dunklen Schlange, so dunkel wie eine giftige Norne, die sich um die Sonne Verdran schlängelte. Zischelnd und geifernd umwarb sie Vater Sonne, um ihn mit einem einzigen, raschen Biss zu töten. Aber nicht nur, dass dieses Schnappen nach dem Vatergestirn für kurze Zeit alles um uns verdunkelte
Die Savannenreiter von Vinara
19 die Schlange übernahm sich an ihrem gierigen Biss. Wie eine zu heftig aufge blasene Drachengallenblase zerplatzte die schwarze Norne, wurde in Tau sende und Abertausende Stücke zer rissen. Diese Bruchstücke, in der Schwärze des Himmels zu Eis und Stahl gefroren, regneten auf unsere Welt herab - und brachten Tod und Verderben über uns.« Wie auf Kommando brach Dunkel heit über das Land herein. Dunkelheit, die durch kein Licht der Sterne durch brochen wurde. »Wir schlafen jetzt«, sagte Häuptling Gamondio bestimmt. »Es ist nicht gut, des Nachts über Geister und Dämonen zu sprechen. Sie könnten geweckt und herbeigerufen werden. Wir reden mor gen weiter.« .•
Zwei Lagerfeuer brannten. Eita-doco, der offensichtlich Nachtdienst hatte, befestigte mehrere Leinenbahnen quer zwischen den Felsen und schützte uns so vor dem pfeifenden Wind. Das" Schlaflager befand sich nahe der steil hochragenden Felswand, zu der wir uns vor den angreifenden Raptoren hatten retten wollen. Ich hatte mich längst an den feinen Sand gewöhnt, der in die kleinste Öff nung meines leichten Anzugs gekro chen war und selbst zwischen den Zäh nen knirschte. Auch das Brennen, Schmirgeln und Jucken auf der Kopf haut und im Gesicht empfand ich mitt lerweile als nicht mehr so lästig wie noch am Tage zuvor. »Adino!«, rief Dendia mit heiserer, lockender Stimme in die Dunkelheit. »Adino, komm zu mir. Komm jetzt, komm!« Unwilliges Brummen.
»Adino, du bist heute dran! Komm und wärme mich.« .Stille. Und leises, offensichtlich vor getäuschtes Schnarchen. »Adino!« Die Stimme der Schama nin wurde laut und schneidend. Daraufhin stand der kleinere der Zwillinge auf. Leise fluchend ging er zu Dendia, während seine Kameraden schadenfroh kicherten. »Den Göttern sei Dank«, murmelte ich. »Als Bote der Ordenswächter bin ich hoffentlich von dieser Pflicht be freit.« »Und ich«, jammerte Jörge leise, »was ist mit mir?« »Du bist mein Helfer und hast zu tun, was ich dir befehle.« »Du wirst mich doch nicht dieser alten Vettel vorwerfen?« Ich blickte Jörge an, wie er dalag, ein gemummelt in eine alte, kratzige Decke, mit weit aufgerissenen Augen, die den Schein des Feuers widerspiegelten. »Nicht wahr, Atlan?«, flehte er mit wachsender Panik in der Stimme. »Gute Nacht, Jörge«, wünschte ich ihm und drehte mich zur Seite. Ich konnte mir das Lachen kaum verbei ßen.
Ich fand einfach keinen Schlaf. Zu viele Dinge geisterten in meinem Kopf umher. Erzählungen, Visionen, Be griffe und fremdartige Eindrücke schwebten unsortiert durcheinander. Während des unheimlichen, schmerzlich langen Überganges von der Vergessenen Positronik durch das blaue Leuchten des Hoagh hierher war ich von Bildern geradezu über schwemmt worden. Vielleicht mochten es die Lebenserinnerungen des Tamra-tes Nevus Mercova-Ban gewesen sein,
20
Michael Marcus Thurner
die mir eine mögliche Geschichte des Kugelsternhaufens Omega Centauri gezeigt hatten; vielleicht waren es aber nur meine überreizten Synapsen gewe sen, die mich halluzinieren ließen. Doch eine orange, düstere Sonne hatte sich mir eingeprägt. Eine Sonne wie diejenige, die uns während des Ta ges wärmte. Dann die fünf Planeten. Alle auf der selben Umlaufbahn, in genau gleichem Abstand zueinander und zur Sonne -auch im Aussehen identisch. Dieses Bild hatte ich bereits beim Verlassen des Obsidiantores gesehen. Einfache, in das Gestein gekratzte Symbole hat ten auf die fünf Planeten hingewiesen. Der Kristallmond. Namen wie Vinara, Viih, Vadolon -und Verdran. Die Obsidian-Kluft: ein Begriff, be drohlich wirkend und kaum greifbar. Sardaengar. Eine unendlich ver traute Person, die mir dennoch ab grundtief fremd erschien. Damit nicht genug. In der ersten Nacht auf diesem merkwürdigen Pla neten hatten mich Alpträume geplagt. Wiederum hatten sich mögliche Erin-nerungssprengsel des Tamrates Nevus Mercova-Ban in meinem Kopf eingenistet. Dass es keine Alpträume oder Schi mären waren, hatte mir der Extrasinn am nächsten Morgen bestätigt. Irgend etwas war von außen auf mich überge flossen. Diesmal waren es Geschichten, die den Begriff Obsidian-Kluft als eine möglicherweise im Halbraum eingela gerte Enklave darstellten. Und die die Person Sardaengar als Hohen Tamrat bezeichneten, der bei einem groß ange legten Selbstversuch vor mehr als 50.000 irdischen Jahren in genau diese Enklave gestürzt war.
Irgendwie ergaben die Informatio nen, jede für sich, einen Sinn. Aber die Puzzlestücke wollten sich einfach nicht zusammenfügen. Zumal ich mich unendlich müde fühlte. Zwischenspiel: Li da Zoltral Li da Zoltral konstatierte nüchtern, dass die Plattform erneut zu entmate-rialisieren drohte. Sie nahm einen halb stofflichen, ungreifbaren und unbegreifbaren Zustand an - und fiel schließlich wieder ins vierdimensio-nale Kontinuum zurück. Die Abstände zwischen den Ent-stofnichungsvorgängen gehorchten keinem Muster. Die Veränderungen kamen und gingen, passierten scheinbar willkürlich. An ein Verlassen der riesigen Platt form war nicht zu denken; ihre diesbe züglichen Versuche hatten keinen Er folg gezeitigt. Umso'mehr, als die Sys teme ihres Anzuges größtenteils ausge fallen waren. Li da Zoltral strich mit den Händen über die fingernagelgroßen, golden schimmernden Pailletten, die die sichtbare Außenhaut ihres Gewandes ausmachten. Sie klimperten leise, me tallisch, erzeugten eine kleine Melodie, die nur für sie eine Bedeutung besaß. Die Arkonidin griff in einige der pechschwarzen Aggregatetuis, die Be standteil des breiten Hüftgurtes wa ren. Vergeblich. Nichts änderte sich, kei nes der Aggregate funktionierte. Die Warnungen erfüllten sich also. Man hatte ihr mitgeteilt, dass es so kommen würde. Sie würde ihr Ziel, den Kristall mond, ohne überragende technische Hilfsmittel erreichen müssen. Li machte sich auf die Suche nach ei
Die Savannenreiter von Vinara
21
ner Zentrale oder einem Schaltraum der Plattform. 6. Lethem, 26. März 1225 NGZ
Umrin Zeles Barbinor marschierte wie gewohnt vorneweg, Lethem und Cisoph Tonk hinterher. »... Lithras können unabhängig von ihrer Größe unglaubliche Schönheit besitzen. Auch dies wird in ihren Wert mit einbezogen«, erzählte er und deu tete auf eine münzgroße, polierte Obsi-dian-Kugel in seiner Pranke. »Diese hier, sauber und schön, aber nicht sonderlich stark gefleckt, ist unsere kleinste Bedieneinheit. Dürre Figuren wie ihr erhalten dafür eine ausreichende Mahlzeit in einer unserer Tavernen.« Er zog einen weiteren der Steine aus seinem Beutel. Länglich war er und be deutend schwerer, wie sich Lethem überzeugen konnte. »Diese Perle hier entspräche fünf kleinen, runden - wenn sie nicht einen Schaden hätte. Siehst du den langen Riss, der den Lithras na hezu auf der ganzen Länge teilt?« Miss mutig, fast zornig wühlte Umrin in sei nem feuerroten Bart und löste dabei seine schlampig gebundenen Zöpfe. »Kment, der alte Betrüger des Blauen Cafe, hat mich reingelegt, Letzte Nacht, als ich einen Streckwalhappen mit ein paar Bierfässchen hinunter spülte. Dass mir so etwas passiert, aus gerechnet mir! Ich muss wohl ein we nig ... hm... indisponiert gewesen sein.« Lethem und Cisoph grinsten sich an. Der Barde war erst vor einer knappen Stunde von einer durchzechten Nacht tour zurückgekehrt und stank nach Schweiß, Rauch und säuerlichem Fu sel. »Zurück zum Unterricht«, sagte
Umrin. »Für ungefähr zweihundert der kleinen öder vierzig der länglichen Li thras könntet ihr eine Reitechse ergat tern.« »Warum mussten wir eigentlich bis lang nichts für unseren Aufenthalt und die Mahlzeiten bezahlen?«, unterbrach ihn Cisoph Tonk. Der breitschultrige Terraner hatte darauf gedrängt, Le them auf seinem Ausflug zu begleiten. »Grundnahrungsmittel, Arzneien und Bekleidung werden von den Robo tern herangeschafft und sind somit" umsonst. Außerdem steht ihr unter dem Schutz der Maghalata«, fügte Umrin knapp hinzu, als wäre damit al les gesagt. Der Morgennebel hatte sich verzo gen. Die orangefarbige Sonne war be reits aufgegangen, versteckte sich aber noch hinter dem Stadthügel. Sie be fanden sich auf der dritten Ebene und genossen die prachtvolle Aussicht Richtung Süden und Westen. Das Meer war ruhig, es herrschte Ebbe. An das rote und dunkle Tageslicht konnte sich Lethem nicht gewöhnen. Es war wenig los in den Straßen - mit Ausnahme des Hafenviertels. Dort herrschte lebhafte Betriebsamkeit, und genau dort wollte Lethem hin. Kleine .Schiffe und Boote näherten sich voll beladen dem etwas abseits ge legenen Fischerhafen. Die Fischer, un ter ihnen mehrere Springer und Über schwere, die an ihrer roten Haarpracht leicht zu erkennen waren, entluden ih ren Fang. Möwenähnliche, dunkel graue Vögel umlagerten die Seeleute und ihre Boote. Sie kreischten ihren Hunger lauthals hinaus. Hellrote Krebse, giftgrüne, achtbeinige Krie cher mit langen Fühlern, Fische jeder Größe und Farbe wurden ausgeladen, getrennt, sortiert und an Ort und Stelle verkauft.
22 Michael Marcus Thurner
Es war ein Bild, wie man es von einer Unzahl bewohnter Welten des Univer sums kannte. Waren die fünf Vinara-Planeten überhaupt Bestandteil des Univer sums? Lethem da Vokoban drängte den Ge danken mühsam beiseite. Zügle deine Fantasie, Arkonide, dachte er und rief sich Gelerntes in Erinnerung. Immer einen Schritt nach dem anderen ma chen. Von unten nach oben emporar beiten. Der Barde brachte sie durch schmale Gässchen weiter hinab bis auf Meeres niveau. Sie hatten die unterste Platt form der Stadt Viinghodor - und damit das Hafenviertel - erreicht. Flache, einstöckige Häuser ver sperrten die Sicht aufs Meer. Der Über schwere hatte immer wieder Probleme, zwischen den eng beisammenstehen den Häusern durchzugehen, doch er nahm es mit Humor. Scheinbar nichts konnte seine gute Laune erschüttern. »Prägt euch den Weg ganz genau ein«, sagte er. »Sonst werdet ihr es schwer haben, die Route zurückzufin-.den, sollten wir uns verlieren.« Ein schier unglaublicher Irrgarten erwartete sie. Lehmhütten, Holzhäuser sowie bescheidene Ziegelbauten stan den kreuz und quer. Leinen, an denen Meerestiere zum Trocknen neben ver schlissener Bekleidung aufgehängt ' waren, beschränkten die Sicht auf we nige Meter. Handkarren, von stämmi gen Männern gezogen und geschoben, waren mit leckeren Obst- und Gemü sesorten beladen. Es war sicherlach mühsam, die Nahrungsmittel in die hö heren Ebenen der Stadt zu transportie ren. Umrin nahm da und dort eine kleine Anleihe, wie er es nannte. Er zupfte sich geräuchertes Meeresgetier von den
Leinen, schnappte sich volle, prächtige Früchte oder löffelte aus großen Kes seln. Er stahl Nahrung, soviel er nur konnte, und ließ sie gierig in seinem Schlund verschwinden. Protestgeschrei zänkischer Weiber beantwortete er stets mit einem klei-,nen Liedchen, Marke m»Ode an die strahlend schöne Springer-Maid«, so dass es einige Zeit benötigte, bis sie das Labyrinth hinter sich gebracht hatten. »Schaut dorthin!«, sagte Umrin plötzlich. »Das sind die Schlangen im Paradies!« Er verwendete überra schenderweise eine altterranische Re densart. Sein freundliches Lächeln gefror mit einem Mal, und er ließ ein schauderli ches Zähneknirschen hören. Der Barde deutete auf zwei messingfarbene, un terschiedlich große Roboter, die schein bar sinnlose Tätigkeiten verrichteten. Sie bauten an einer Balustrade, die sie an ein einstöckiges Gebäude anpfropf ten. Sie hatte eine Höhe von vielleicht fünf oder secljs Handbreit. »Viele Viinghodorer mögen sich mit der Anwesenheit dieser Maschinen ab finden. Sie gehören so sehr zur Stadt, dass sie gar nicht mehr auffallen. Aber für mich bedeuten sie mehr. Sie zeigen, welche technischen Möglichkeiten wir alle hätten oder einmal gehabt haben. Sie sind Errungenschaften und Seg nungen einer modernen Welt, die wir nie erreichen können.« Er seufzte. »Alle Technologien werden uns vorent halten.« Lethem hatte bereits so seine Erfah rungen mit den vielfältigen Maschinen gemacht. Sie stellten die Primärver sorgung der Stadt sicher, schafften aus Kavernen Nahrung,' Bekleidung und einfache Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens heran. Doch sie mie den jeglichen Kontakt.
Die Savannenreiter von Vinara 23
Ein weiteres Rätsel dieser Stadt. »Lassen wir das erst einmal«, sagte der Arkonide zum Barden. Es gab Wichtigeres. »Ich möchte endlich mit einigen Schiffseignern reden.« »Wie du willst, Lethem. Ich kann dir aber jetzt schon sagen, dass kein Kapi tän dich und deine Freunde an Bord nehmen wird, solange ihr nicht ausrei chend Lithras vorweisen könnt. Und die Passagen von der Insel weg sind verdammt teuer ...« »Das soll unser Problem sein«, erwi derte Lethem schärfer, als er es beab sichtigt hatte. Die ständigen Beschwichtigungsbe mühungen des Barden, der Widerstand der Maghalata gegen die Ausrüstung einer Expedition ans Festland und die weinerliche Resignation, die überall hier spürbar war - dies alles zehrte an seinen Nerven. Mehr, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. »Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn ich in der Zwischenzeit ein paar Lithras in meinen Sack spiele? Ir gendwo muss ein Loch im Beutel sein -oder kann es sein, dass ich ein klein wenig zu viel esse und trinke?« »Geh nur, Umrin. Wir treffen uns wieder hier, wenn die Sonne am höchs ten steht. Einverstanden?« Der Barde nickte kurz und war we nige Augenblicke später im morgend lichen Gewirr der Fischer und Früh einkäufer verschwunden. »Also los«, meinte Lethem und deu tete auf die abseits im Wasser düm-pelnden Transportschiffe. »Schaffst du es, möglichst bemitleidenswert, liebreizend oder hilflos dreinzuschauen, Cisoph?« »Genauso wenig wie du, Arkonide. Wir müssen wohl mit offenen Karten spielen.« »Und was, bitte schön, sollen wir sa
gen? Dass wir unseren Anführer auf ei ner der fünf Welten dieser merkwürdi gen Sonne zu finden hoffen? Dass wir deshalb eine Überfahrt aufs Festland benötigen? Damit wir zu einem der my-thenumwobenen Obsidiantore gelangen?« Der kleine, bronzehäutige Terraner lachte kurz auf. »Hören wir uns einmal an, was die Seeleute -so zu sagen ha ben.«
»Verschwindet von Bord der Wind schnake, sonst ersäufe ich euch eigen händig im Brackwasser«, schimpfte der Vorschoter des abgewirtschafteten Seglers. Er ließ seine Oberarmmuskeln unter dem Gelächter'" seiner Matrosen auf und ab hüpfen, so dass Lethem bereits vom Zusehen schwindlig wurde. Cisoph Tonk warf dem rotblonden Umweltangepassten - vermutlich ein Mischling mit akonischen und über schweren Vorfahren - einen undeutba ren Blick zu. Seine Kiefer mahlten auf einander. Lethem bemerkte nur allzu deutlich, dass sein Begleiter knapp davor war, die Beherrschung zu verlieren. Die De mütigungen, die sie in den letzten Stunden über sich hatten ergehen las sen müssen, waren nicht spurlos an dem sonst so beherrschten Mann vor übergegangen. »Ruhig bleiben«, beschwichtigte Le them hastig und zog Cisoph mit sich. Nur widerwillig bewegte sich der Terraner. Trotz einer gediegenen Da-gor-Ausbildung, bei der besonders viel Wert auf innere Sammlung, Ausgeglichenheit und Ruhe gelegt wurde, glich die kleine Kampfmaschine einem Dampfkessel kurz vor dem Überdruck.
24 Michael Marcus Thurner
Apropos Dampfkessel... »Wir probieren es ein allerletztes Mal«, seufzte Lethem, »dort, bei dem Schaufelraddampfer.« Er lenkte Ci-sophs Blick nach vorne. An dem Seelenverkäufer Verdrans Glut prangte der Namen in roten altar-konidischen Schriftzeichen über dem Bugspitz. Ungefähr ein Dutzend, überwiegend arkonidisch aussehende Matrosen luden Feuerholz oder polierten lustlos die blasse Messingreling. Die verrotteten Holzplanken, zerbrochenen Bullaugen und vom Salz gezeichneten Eisenbeschläge wirkten nicht besonders vertrauenerweckend. »Ganz schön wuchtig«, bemerkte Ci-soph Tonk, »auch die breiten und tiefen .Schaufeln. Keine besonders ökonomische Bauweise und für Fahrten auf hoher See nicht unbedingt geeignet.« »Wer weiß ...«, sagte Lethern darauf hin. »Hier in Viinghodor gibt es ohne hin keinen einheitlichen Baustil. Alle Erfahrungen dieses Vielvölkerge-mischs spiegeln sich in der Schiffsbautechnik wider...« »Was wollt ihr?«, schnauzte sie ein bärbeißiger Mann von der Reling her an. Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner halb vollen Flasche. »Wir suchen den Kapitän dieses ... Schiffes«, sagte Lethem. »Ihr habt ihn gefunden. Koejoe mein Name«, entgegnete der Mann und rülpste laut. »Dürfen wir an Bord kommen?« »Nein!«, brüllte Koejoe. Er spuckte ins Wasser. »Eure Suche nach einem Schiff, das euch kostenfrei ans Fest land bringt, hat sich bereits herumge sprochen. Jedermann amüsiert sich über euch.« »Na, dann nichts für ungut«, meinte Lethem und wandte sich ab. »Außer...«
»Ja?«, hakte Lethem sofort nach. Vielleicht bestand doch noch Hoff nung. »Der abgezwickte Riese hier«, Kapi tän Koejoe deutete auf Cisoph Tonk, »könnte sich als Lustsklave bei mir an Bord verdingen. Ich habe manchmal weibliche Gäste, die während der lan gen Tage der Überfahrt auf etwas Be^ sonderes aus sind.« »Wie bitte? Wiederhole das noch ein mal!« Cisoph war blass geworden. »Lustsklave. Oder noch besser: Lustzwerg!« Die Matrosen der VERDRANS GL.UT brüllten vor Lachen. Ein Junge mit einer schrecklichen Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog, warf gar ei nen halb verfaulten Salatkopf in ihre Richtung. »Na wartet...« »Cisoph - nicht!« Lethem packte den sonst so besonnenen Leiter der Schiff s-verteidigung am Arm. Vergeblich, es war, als versuchte er, einen Vulkan am Ausbruch zu hindern. Der Terraner schob seine Hand bei seite, nahm einige Schritte Anlauf, stieß sich an der Molenkante ab und übersprang die Distanz von sicherlich fünf Metern zum Dampfer. Er griff nach der Reling, schwang sich mit ei ner fließenden Bewegung darüber hin weg, packte den Schiffskapitän am Kragen, noch bevor irgendeiner seiner Matrosen reagieren konnte. »Verdämmt!«, zischte Lethem. Er war mehr besorgt als verärgert. »Das hat uns gerade noch gefehlt...« Lethem konnte den Terraner nicht im Stich lassen. Messer blitzten auf; der Junge mit dem Makel im Gesicht zog eine primitive Schusswaffe aus dem Hosenbund und richtete den Lauf auf Cisoph Tonk. Es blieb keine Zeit für weitere Über
Die Savannenreiter von Vinara 25
legungen. Es galt nur noch, den Terra-ner möglichst unbeschadet vom Schiff zu bekommen - und anschließend zu verschwinden. Mit federnden Schritten nahm Le-them Anlauf und hechtete an Bord des Dampfschiffes* Die Matrosen griffen ihn sofort an. In seiner Wut stieß er den ersten Matrosen einfach beiseite, den zweiten warf er kurzerhand über Bord ins flache Wasser. Ein gezielter Hand kantenschlag lahmte den Schussarm des jungen Burschen mit der Narbe. Aus den Augenwinkeln sah Lethem, wie Cisoph den viel größeren Kapitän am Hals umklammert hielt, vor sich herschob und währenddessen wilde Fußtritte nach links und rechts aus teilte. Die Lage war hoffnungslos. Im mer mehr der Matrosen kamen heran gestürmt, wie Ratten drangen sie aus ihren Löchern ... »Vorsicht!«, schrie das Narbenge sicht. Der Matrose deutete in die Rich tung der großen Lagerhallen. In deren polierten Eisentüren spiegelte sich die Sonne grell wider. Lethem konnte nichts erkennen. Was meinte der Bursche? Lange Tentakel drangen aus dem Sonnenreflex hervor - gefolgt vom ova len Körper eines der bereits bekannten facettierten Schweberoboter. Die übermannslangen, flexiblen Greif arme peitschten durch die Luft, erzeugten ein unheimliches Zischen und Pfeifen, so dass die Matrosen und Cisoph Tonk augenblicklich aufhörten, aufeinander einzuprügeln. Alle Seeleute gingen in Deckung, wo auch immer sie die Möglichkeit sahen; der Terraner jedoch wischte Kapitän Koejoe einfach beiseite und stellte sich breitbeinig dem neuen Gegner. War diese Maschine denn ein Geg ner? Warum schritt sie gerade jetzt ein,
nachdem sich die Roboter seit dem Transport der TOSOMA-Besatzung in die Stadt Viinghodor nicht mehr um sie gekümmert hatten? Einer der Tentakelarme fuhr gegen den kastenförmigen Deckaufbau, zer splitterte ihn mit gehörigem Krach. Holzteile und metallene Bruchstücke flogen wie Geschosse durch die Luft. Langsam, geradezu behutsam nä herte sich der Roboter Cisoph. Als wäre er sich seiner Beute sicher. Ein einziger, schnalzender Hieb - und der Terraner war Geschichte. Lethem musste etwas tun - nur was? Er sah die Waffe des Jungen, direkt ne ben der Reling. Hastig griff er nach ihr, nestelte unbeholfen am Spannhahn herum - und löste den Abzug. Sofort ertönte ein lauter Knall. Le them glaubte, seine Trommelfelle wür den platzen. Eine Feuerlohe schoss aus dem Lauf. Mehrere dumpfe Geräusche folgten, die das Klingeln in seinen Oh ren kaum übertönen konnten. Eine Schrotladung war ins Holz eingedrun gen, knapp neben dem Roboter. Und wieder fuhr der Roboter seine Tentakel aus. Es zischte. Nur wenige Zentimeter oberhalb Cisophs Kopf schlug einer ins Holz. Hätte sich der Terraner nicht blitzschnell fallen las sen, wäre es wohl um ihn geschehen ge wesen. Der nächste Hieb, das stand un weigerlich fest, würde jedoch sein Ziel nicht mehr verfehlen und den Leiter der Schiffsverteidigung töten. Zwei der Tentakel holten aus, schnalzten nach hinten, noch bevor Ci soph hochspringen und davonlaufen konnte. Es war keine Zeit mehr für Le them, länger nachzudenken. Er musste etwas unternehmen, also begann er zu laufen, auf die Maschine zu. Mit einem Mal entbrannte in dem Arkoniden ein unglaublicher Hass gegen den Roboter.
26 Michael Marcus Thürner
In seiner Wut sprang er die Maschine an, griff nach ihrem rundlichen Kör per, wollte sich an ihr festkrallen, sie beiseite drücken mit seinem Körperge wicht ... ... und fuhr ins Leere. Der Roboter löste sich einfach auf.
»Was, bei allen Sternengeistern, war das?« Langsam richtete sich Lethem da Vokoban auf und wischte sich Tränen der Erregung aus seinen Augen. Sein rechter Arm schmerzte. Er war mit vol ler Wucht höchst unsanft auf den Deckplanken gelandet. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Cisoph Tonk- Er ordnete hastig sein schwarzes Haar mit einem einfachen Lederband. Dann nahm er Lethem am Arm. »Wir sollten uns aber woanders darüber Gedanken machen. Ich habe nicht vor, nochmals mit den Matrosen anzubändeln. Wahrscheinlich werden sie uns das alles hier« - er zeigte mit dem Finger auf das zerstörte Schiffs deck - »auch noch ankreiden. Komm!« »War es das wert?«, fragte Lethem mit kritischem Unterton. »Ich konnte nicht absehen, dass das geschehen würde«, verteidigte sich der Terraner, während sie die Planken zum Hafen hinabeilten. »Ich habe nur noch rotgesehen. Wenn's 'um meine Größe geht, vertrage ich keinen Spaß. Dann noch diese miesen, schmutzigen Andeu tungen ..<« Zufrieden putzte sich Cisoph die Hände ab. »Ich habe zumindest be kommen, was ich wollte. Der Bursche wird noch lange an mich denken.« »Und wir werden uns hier lange Zeit nicht mehr blicken lassen können«, klagte Lethem. »Ich glaube, die Chance, ans Festland zu gelangen, ist soeben auf ein Minimum gesunken.«
Überall standen kleine Gruppen von Seeleuten, Händlern und Fischern zu sammen: Sie blickten erschrocken, aber auch böse zu ihnen. Die Gescheh nisse waren im ganzen Hafen verfolgt worden. Cisoph Tonk schaute betroffen zu Boden. »Hm ... zumindest das Klinkenput zen können wir abhaken«, sagte Le them mit breitem Grinsen. »Aber es gibt für alles ein Hintertürchen.« Der Terraner bekam große Augen. »Du willst doch nicht..:« »Vielleicht.« Das Lächeln des Arko-niden verschwand. »Zuerst sollten wir Umrin finden, uns still und heimlich zurückziehen und in Ruhe . darüber nachdenken, was das Verschwinden des Roboters zu bedeuten hat. Oder war dieses Ding gar eine optische Täuschung?«
Atlan, 20. März 1225 NGZ Der Morgen kam ebenso rasch, wie Stunden zuvor die Dunkelheit herein gebrochen war. Trotz der Wirkung des Zellaktiva-tors fühlte ich mich wie gerädert. Ich fand einfach nicht zu gesundem Schlaf, Mein Unterbewusstsein arbeitete ständig, drehte und wälzte die Vielzahl der Probleme, die sich wie Gebirge vor uns auf taten. Jörge hingegen schlief tief und fest. Ich gönnte ihm diese Atempause. Wer wusste schon, was die nächsten Tage für uns bereithielten? Dendia war bereits aufgestanden und hatte die Kornkäfer auf die be kannte Weise gefüttert. Während Eita-doco, der kaum ein Wort sprach, Frühstück zubereitete, setzte sich Haupt
Die Savannenreiter von Vinara 27
ling Gamondio zu mir, um den Bericht des Vortages zu vervollständigen. Leise sprach er: »Den Visionen Den-dias ist unbedingt Glauben zu schenken. Alles, was sie sagt und was sie tut, hat Bedeutung.« Er senkte die Stimme abermals. »Selbst die Nachtlager, die wir abwechselnd und manchmal nur widerwillig mit ihr teilen, tragen schlussendlich dazu bei, für Ruhe un-ter.den Männern zu sorgen.« Gamondio hustete und spuckte braunen Sud in die Asche. Es zischte. Der Extrakt, den die Savannenreiter ständig kauten, stammte von hart ge pressten Kräuterriegeln. Er ähnelte altterranischem Kautabak, schmeckte jedoch weitaus schärfer. »Die Vision von der schwarzen Schlange«, fuhr der Häuptling schließ lich fort, »die unser Vatergestirn zu verschlingen droht, versetzte die Frauen und Männer des Stammes der Tulig natürlich in Angst und Schre cken. Noch in derselben Nacht be schlossen wir, die fähigsten und stärks ten Krieger unter meiner Führung aus zuschicken. Es galt, den Richtigen zu finden, der dieser drohenden Gefahr zu begegnen imstande ist. Es musste ein nahezu gottgleiches Wesen sein, um das Unheil abwenden zu können. Ein Geschöpf, das länger auf Vinara lebt als irgendein anderes und das Kräfte besitzt, die über alles Denkbare hin ausgehen. Wir mussten ihn suchen und warnen.« In mir keimte ein Verdacht. Er. ver dichtete sich rasch zur Gewissheit, so unglaublich es auch klingen mochte. »Ihr sucht Sardaengar?«; fragte ich und konnte nicht vermeiden, dass trotz aller Vorsicht den Nomaden gegenüber Zweifel in meiner Stimme mit schwang. Der Häuptling spuckte erneut einen
Schwall bräunlicher Flüssigkeit in das glosende Feuer. »Sardaengar? Ha! Es kann nur einen geben, der der namen losen Gefahr aus der Schwärze des Himmels begegnen kann - und das ist der Ewige Litrak!«
Ich wusste nicht, was ich darauf sa gen sollte. Schließlich war mir dank des mir zugeflossenen Wissens be kannt, dass in den alten Geschichten mehr als bloß ein Körnchen Wahrheit enthalten war. Sollte ich die Sprache darauf brin gen, dass der Ewige Litrak die Ausein andersetzung mit Sardaengar nur als zweiter Sieger überstanden hatte und eingefroren an einem unbekannten Ort in scheintotem Zustand lagerte? An ei nem Ort, den die Tulig Casoreen-Glet-scher nennen! Ich würde die Nomaden völlig vor den Kopf stoßen und meine Position nur schwächen. Schon ,aus Eigennutz und Überlebenswillen durfte ich das nicht tun. Es gab noch ein weiteres Argument, vorerst nicht auf diese haarsträubende Geschichte der Afalharo vom Stamm der Tulig einzugehen: Mein Gefühl, mein Bauch, sagte mir, dass wesentlich mehr hinter diesen Mythen und den Vi sionen der Fetten Dendia steckte, als vordergründig zu erkennen war. Unbe stimmte, unzusammenhängende Ge danken beschäftigten mich. Immer wieder tauchte in meinen Gedanken der Begriff »Obsidian-Kluft« auf, stellte sich als Hort der Bedrohung dar. Was noch viel bedeutender erschien: Die heftige Transition der »Verges senen Positronik«, an der Jörge und ich teilgehabt hatten, konnte mögli cherweise durch hyperdimensionale
28 Michael Marcus Thurner
Schockwellen Strukturschäden im System der fünf Planeten ausgelöst haben. Vielleicht wurde das Sonnen system deshalb instabil. Ich schwieg also und nickte Häupt ling Gamondio zu, in seinen Erzählun gen fortzufahren. »Dendia bestimmte die Krieger, die sie und mich zu begleiten hatten. 'Ich selbst hätte keine bessere Wahl treffen können. Diese Männer sind wahrlich die Besten meines Stammes.« Stolz blickte er mich an, und ich schnalzte mit der Zunge. Dies war ein Zeichen der Zustimmung, wie ich mitt lerweile in Erfährung gebracht hatte. »So sammelten wir uns«, fuhr er fort, »und ritten entlang der alten Handels pfade in Richtung Zarband, der Kara wanserei. Nach einem Tagesritt trafen wir auf euch. Wenn wir in der Handels station angekommen sind, werden wir den nördlichen Weg einschlagen, durch das Land der Stämme der Nathals und der Shanums, hinauf zum geheiligten Obsidiantor, das zur dritten der fünf Welten führt...« Ich horchte auf. Ein Transmittertor? So wie jenes, durch das wir auf diese Welt gekommen waren? War es noch funktionstüchtig? »Das Obsidiantor - habt ihr es schon einmal durchschritten?«,. fragte ich, l möglichst unverfänglich. »Niemand unseres Stammes, der noch lebt«, antwortete Gamondio. Mit Stolz fügte er hinzu: »Aber der Cousin dritten Grades meines Urgroßvaters väterlicherseits soll jemanden gekannt haben, der das Tor passiert hat.« Dendia, die ihre morgendliche Ar beit beendet hatte, setzte sich ächzend und schwitzend zu uns. Die Krieger waren währenddessen damit beschäf tigt, das Nachtlager abzubauen. Nichts, was verwertbar war, wurde zu
rückgelassen. Sogar der Dung der Dendibos wanderte in riesige Säcke. Die Schamanin hatte die letzten Worte offensichtlich mitgehört. Sie nickte dem Häuptling zu und fuhr fort: »Es spielt letztlich keine Rolle, ob je mand unseres Stammes bereits einmal durch das Tor gegangen ist. Denn die Visionen, die ich hatte, weisen uns den Weg.« »Und was, Dendia, haben dir diese Bilder gesagt?« Die Blicke aus den violetten Augen der alten, fetten Frau schienen mich zu durchdringen. Mit entrückter Stimme antwortete sie: »Mir wurde geheißen, die Wächter des Ewigen Litrak zu su chen. Hywalcir, den Schmetterer. Ca-ryelin, den Finsteren. Narmasar Tar-non, den Tobenden. Milanta Vandor, den Gebietenden. Einen von ihnen sollte ich vor dem Unheil, das uns alle auf den fünf Welten bedroht, warnen. Einen Einzigen ... Alles Weitere würde sich von selbst ergeben, und unsere Aufgabe wäre erfüllt.« Durch Dendias Erzählung hatte der Begriff Wächter der Eisgruft endlich eine Bedeutung für mich ergeben. Doch dies waren Namen, die mir nichts sagten. Nichts regte sich in den Schub laden und Kisten meines Gedächtnis horts, der seit mehr als zwanzigtau-send Jahren mit Daten und Fakten angefüllt wurde - und dennoch nicht das geringste Detail vergessen konnte. , Der Blick der Schamanin wurde wieder klar. Sie fixierte mich. »Du bist die letzte Bestätigung dafür, dass ich alles richtig erkannt und gedeutet habe.« »Ich?« Das konnte unangenehm wer den. »Ich sah, dass ein großer weißer Mann kommen würde. Ein Bote des Wächterordens. Wir sollten ihn be
Die Savannenreiter von Vinara
29
schützen, so, wie er uns beschützt.« Kurz unterbrach sie, stieß auf und fuhr dann fort: »Wir befinden uns in der Nähe der Ruinen von Aziin mit all ih ren unerklärlichen Riesenbauten. Ihr habt ganz offensichtlich das Tor dort benutzt.« Aziin ist also der Name für den Ort, an dem Jörge und du strandeten, meinte der Extrasinn. »Es ist weithin bekannt«, führte Dendia weiter aus, »dass sich Ordens mitglieder in der Nähe der unerklärli chen Relikte aufhalten - und in der Nähe der Obsidiantore. So wie du und dein Begleiter. Es war zudem ein Leichtes, dich anhand deiner Aura zu identifizieren.« Aha. Und was erwartete die Scha manin nun von mir? Irgendetwas Sal bungsvolles? Dass ich zugab, jener er wartete Bote des Wächterordens zu sein? »Aber sag mir: Wo ist dein Kristall-,stab?«, fragte sie mich. »Mein Kristallstab?« Die Schamanin kniff die Augen zu sammen und überlegte. Für einen kur zen Moment zeigte sie ein wenig Unsi cherheit. »Es mag sein, dass ich mich irre. Geschichten und Legenden verän dern sich im Laufe der Zeit. Soviel ich weiß, benötigt jeder Bote, der die ge sperrten Tore bereist, einen Kristall stab. Einen Schlüssel, bestehend aus Mondsplittern, der ihn als Wächter oder Boten ausweist.« Ein Schlüssel also. Ein Aktivator, ein Kodegeber oder etwas, das uns als au torisierte Benutzer der Transmitter-tore legitimierte. Diese Sicherheitsmaßnahme war für ein technisiertes Volk nur allzu ver ständlich. Und den Erbauern des Ob-sidiantores, durch das wir hierher gelangt waren, gestand ich einen hohen
Grad an technischem Verständnis und Wissen zu. Aber warum hatten Jörge und ich die Passage hierher geschafft, ohne einen Kristallstab zu benutzen oder zu besit zen? War dies ein weiteres symboli sches und verklärtes Bild? Eine Allego rie, die sich im Laufe vieler Jahrhun derte oder gar Jahrtausende gebildet hatte? Oder gab es einen Faktor na mens Zufall? Energieemissionen, die aus der Vergessenen Plattform oder dem blauen Leuchten des Hoagh stammten? Hyperenergetische Kaska den, die zu einer Aktivierung des Ob-sidiantores geführt hatten? Ich wusste es nicht, und selbst ein Universalgenie wie Myles Kantor hätte mangels Informationen keine schlüssi gen Antworten finden können. Es war eine Mischung aus Mythen, Halbwahrheiten und Fakten, die ich Schritt für Schritt entschlüsseln musste. Meinem rationalen Ich widerstrebte es, Botschaften zu glauben, die durch Träume übermittelt wurden. Und ebenso, Sagen und Märchen als reali tätsnah zu akzeptieren. Und dennoch war in diesem verwobenen Durchein ander weitaus mehr als nur ein Körn chen Wahrheit. Die Nomaden, gewiss ehrenhafte Männer, würden zwei Wesen in Not keinesfalls im Stich lassen. Würden sie uns genauso bedingungslos unter stützten, wenn sie wüssten, dass wir im Grunde nur nach Hause wollten? Am besten wich ich jeder unangenehmen Frage aus. Ich stand auf, weckte Jörge und sorgte dafür, dass er ein Frühstück er hielt. »Was passiert jetzt? Wohin geht es?«, erkundigte sich Jörge bei mir. Seine Blicke suchten die ihn sonst stets um gebenden positronischen Aufzeich
30
Michael Marcus Thurner
nungsgeräte. Für ihn war die fehlende Technik auf Vinara besonders hart. »Vierhundertfünfzig Kilometer öst lich liegt eine Karawanserei, Zarband genannt. Eine Oase, in der sich die An gehörigen der unterschiedlichen No madenstämme treffen. Neutraler Bo den, auf dem Handel mit Außenstehen den getrieben werden darf. Dorthin werden wir reiten, und dann sehen wir weiter.« »Vierhundertundfünfzig Kilometer? Reiten?« Jörge rieb sich die Augen und blickte irritiert umher. »Wo sind die Pferde?« Ein aufgeregtes Klappern erklang. Zwei der Dendibos scheuerten ihre Hirschgeweihe aneinander. Sie-spür ten, dass es bald losging.' Ich beobachtete den Terraner amü siert. Es war immer wieder bewun dernswert. Diese Barbaren von Lar-saf III konnten binnen weniger Sekunden unglaublich blass werden. »Die Afalharo haben zwei der Las tentiere für uns vorbereitet. Wir wer den mit den Dendibos unseren Spaß haben«, sagte ich locker. Aber ich war mir meiner Sache kei neswegs sicher. Die Zeiten, da ich auf Reittieren umhergezogen war, ja prak tisch mit und auf ihnen gelebt hatte, waren lange vorbei. Nur Erinnerungen waren mir geblieben. Gamondio führte uns näher an einen Dendibo-Käfer heran. So nahe, dass ich mein Ebenbild in.den drei Facet tenaugen tausendfach gespiegelt sah. »Das ist Arara«, meinte der Häupt ling der Afalharo. »Ein gutmütiges, aber auch ein tumbes Tier. Es hat kein Feuer, keinen Antrieb und trabt den ganzen Tag dem Leitkäfer hinterher. Es gibt nicht viel zu tun.« Er blickte Jörge an. »Du musst dich einfach fest halten und den Dendibo ab und zu mit
ein paar festen Schlägen aufmuntern.« Gamondio deutete auf eine schorfige Stelle am Hinterkopf des drei Meter langen Monsterkäfers. »Hier.« Jörge war völlig überrascht. Er re gistrierte kaum, dass ihn die Zwillinge Adino und Amessio auf das geduldige Tier hievten. Bei allen Sternengöttern, was stan ken die Viecher aus der Nähe! Warzige Drüsen an den Ansätzen der Vorder beine sonderten stetig einen strengen Geruch ab. Ich konnte michkaum-kon-zentrieren, als mir Gamondio die Bauchgurtung, Schnürung und Zügelsteuerung anhand von Jorges Tier erklärte. »Wie kommt es eigentlich, dass du und dein Gehilfe keine Ahnung von der Behandlung der Dendibos haben?«, fragte der Häuptling. »Ich dachte stets, die Tiere seien überall bekannt.« Verdammt, was sollte ich nur sagen? Dass wir fremd auf dieser Welt waren, schien er eindeutig zu erkennen. »Wir waren lange Zeit ... entrückt«, impro visierte ich rasch. Der Häuptling schwieg. Keimte erstes Misstrauen auf? Ich wusste es nicht, konnte es anhand der Blicke aus diesen dunklen Augen nicht deuten. Wir waren einander einfach zu fremd. Trotz der mit ziemlicher Sicher heit gleichen Abstammung trennten mich und die Nomaden räumliche und kulturelle Welten. Es hätte wahr scheinlich mehrerer Monate oder Jahre bedurft, um einander kennen zu ler nen. Dies war eine Zeitspanne, die ich keinesfalls gewillt war, auf Vinara zu verbringen. Gamondio führte mich zu einem an deren Tier, das unruhig auf seinen stämmigen Beinen hoch- und nieder wippte. »Das ist Gantschula. Das ein zige Weibchen.«
Die Savannenreiter von Vinara
31
Man konnte den Unterschied sofort ausmachen. Das Horngeweih war le diglich vierzig, fünfzig Zentimeter lang. »Sie scheint mir ein wenig unruhig«, bemerkte ich. »Das stimmt«, bestätigte mir Ga-mondio. »Sie ist heißblütig und nicht leicht zu handhaben. Aber unser dritter Lasten-Dendibo lahmt. Wir müssen ihn schonen. Du musst mit dem Weibchen vorlieb nehmen.« Es war dem Häuptling sichtlich un angenehm, dass er mir kein zahmeres Tier zur Verfügung stellen konnte. Ich verstand seine Lage. Wir konn ten uns nicht zu einem der Krieger da-zusetzen, selbst wenn die Dendibos die zusätzliche Last getragen hätten. Seine Krieger waren auf ihre Käfer eingeschworen, bildeten eine Einheit und standen neuen Wesen und Gerü chen stets misstrauisch gegenüber. Die Hirschkäfer waren zudem schlachter probte Tiere. Wenn ich den Andeutun gen des Häuptlings Glauben schenken konnte, würden wir sehr bald auf die Kampfkraft der Käfer und ihrer Reiter zurückgreifen müssen. Der Weg zur Nomadenstadt war lange und gefähr lich. Rismelo, der kleinste der Krieger, half mir auf den Rücken des Käfers. Das Tier ließ eine Art Schnauben hören und blähte seinen haarigen Unterkör per auf, so dass er fast über den Boden schliff. Gantschula fühlte und roch meine Unerfahrenheit. »Jetzt die Flügelriemen lockern«, forderte uns Gamondio auf und deu tete auf zwei grobe Stricke links und rechts des hornigen Sattels, auf dem ich saß. Der Baldachin, der bogenför mig über meinem Kopf schwankte, be stand ebenfalls aus Chitin. Er war ge schmückt, verziert und mit mystisch
anmutenden Schnitzereien versehen. Ich löste die Schnürung - und sofort tat das Biest einen mächtigen Satz nach vorne. »Ho!«, rief ich und zog ver-. zweifelt an den Seilen. »Nicht so grob!«, rief mir Gamondio hinterher. Der hatte gut reden! Wie sollte man bei den Bocksprüngen, die Gantschula tat, ein Gefühl für Steuerung und Be-fehlsgebung erhalten? »Nachlassen! Links mehr Riemen geben! Schlag ihr auf beide Flügel! Mehr. Schenkeldruck! Mehr Zug auf die Mundzügel!«, waren nur einige Be fehle, die ich so schnell wie möglich verinnerlichen musste. Die Sonne stand bereits hoch am Ho rizont, als ich absteigen durfte. Trotz meines zweifelsohne hohen Status, den ich als vermeintlicher Bote der Or denswächter genoss, spürte ich die amüsierten Blicke der Afalharo. Ich hatte mich wahrscheinlich ziemlich ungeschickt angestellt.' »Wie war ich?«, fragte ich schweiß überströmt und mit klappernden Zäh nen. Die Umgebung präsentierte sich als sehr buntes, sehr unruhiges Bild, in dem alles doppelt und dreifach vor handen war. Die drei Gamondios schwankten zwischen Verzweiflung und Erheite rung, während Dendia lauthals drauf loslachte. Die Schamanin war eine äu ßerst despektierliche Dame, und sie kannte keine Achtung vor meinem ho hen Alter. »Eitadoco und ich werden dich in die Mitte nehmen, Bote«, sagte der Häupt ling schließlich. »Du wirst es schon noch lernen.« Auch Gamondio vermochte sich sehr diplomatisch auszudrücken.
32
Michael Marcus Thurner
Es war eine Qual sondergleichen. Gantschula war sehr unruhig, und die Nähe der beiden Käferbullen tat ihr Übriges, um sie verrückt spielen zu las sen. Vergeblich bemühten sich die Afal-haro, mein Reittier zu beruhigen. Selbst die Beschwörungen Dendias nutzten nicht allzu viel. Jörge hatte weniger Probleme. Sein Tier war in der Tat lammfromm und folgte den anderen auf Schritt und Tritt. Der Tag wollte kein Ende nehmen. Wir kamen in den Augen der Nomaden vergleichsweise langsam voran; ich konnte es an ihrer Ungeduld erkennen. Doch sie wagten nicht, mir gegenüber ein böses Wort zu verlieren. Ich tat mein Bestes, ignorierte das Brennen meines Hinterns und bemühte mich, Gantschula wenigstens halb wegs unter Kontrolle zu halten. Wir ritten entlang des nahezu ker zengeraden Karawanenweges- Das Land wurde immer trockener. Sand, Geröll und riesige Felsbrocken, die wie Murmeln ausgestreut herumlagen, be stimmten das Bild. Die messerscharfen Gräser, die uns am Tage unserer An kunft auf Vinara enorm zugesetzt hat ten, verschwanden allmählich. Sie wä ren für die hornigen Beine der Dendi-bos ohnehin kein Problem gewesen. Auch Hügel und Erhebungen, die Trockenheit, Sandverwehungen, Stürme und lästige Insektenschwärme behinderten die Reittiere kaum. Als wir riesigen Termitenstöcken be gegneten, gab Gamondio allerdings den Befehl zum Ausweichen. »Gen-jis!«, rief er mir zu, als sei damit alles gesagt. Endlich gab Gamondio den Befehl zum Halten. Inmitten einer Senke, in der sich die Tageshitze gestaut hatte.
»Warum stoppen wir gerade hier?«, fragte ich Gamondio. »Spürst du es nicht?« Der Häuptling blickte mich enttäuscht an. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und verneinte. Die Zwillinge waren von ihren Reit käfern herabgerutscht. Sie schlichen umher wie auf der Pirsch. Mit bloßen Händen gruben sie da und dort kleine Löcher, schnüffelten, schoben Steine beiseite, rissen Sträucher mitsamt ih ren Wurzeln heraus. Nach einiger-Zeit, der Häuptling wurde bereits ungedul dig, rief Adino: »Ssu!« Wasser! Das war es also, was sie ge sucht hatten! Die beiden Nomaden schaufelten Lehm und Sand an einer ganz be stimmten Stelle beiseite, gleichmäßig, in einem einschläfernden Rhythmus. Ich sah fasziniert zu, während Den-dia Jorges Reitkäfer und meinen beiseite nahm, um sie anzupflocken. Die Zwillinge waren sich vollkom men sicher, dass sie Wasser gefunden hatten. Die Grube war bereits mehr als einen Meter tief, und jeder vernünftige Arkonide hätte längst abgebrochen. Nicht jedoch die Nomaden. Sie schau felten und schaufelten. Rhythmisch und selbstsicher. In einer Tiefe von nahezu zwei Me tern wurden sie tatsächlich fündig. Zu erst tröpfelte das kühle Nass langsam, feuchtete die Erde lediglich ein wenig an. Erst als Gamondio einen runden, langen Stecken tief in den Boden rammte, sprudelte es heftig empor. Mit einer Selbstverständlichkeit, so als wäre es alltäglich, inmitten einer trockenen Savannenlandschaft Wasser gefunden, zu haben, wandten sich die Nomaden anderen Aufgaben zu. »Wie haben sie das gemacht?«, fragte
Die Savannenreiter von Vinara 33
ich den Häuptling. »Woher konnten sie wissen, dass -ausgerechnet an dieser Stelle Wasser sein würde?« »Es ist hier überall«, antwortete Ga-mondio, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er trieb lange Pflöcke mit einer Art Vorschlaghammer in die Erde. »In riesigen, unterirdischen Kavernen. Manche Mythen erzählen, dass die Savanne vor undenklichen Zeiten ein riesiger See gewesen sei. Weil manche Vinaraner vom Glauben an den Ewigen Litrak abgefallen seien, habe dieser sie bestraft. Er versteckte das Ssu. Doch es gibt Anzeichen wie bestimmte Büsche und Sträucher. Sie gedeihen nur an den Stellen, wo das Wasservqrkommen knapp unter der Erde liegt. Tierwechsel. Änderungen im Gestein.« Gamon-dio zögerte kurz. »Außerdem riechen wir es. Deine Nase muss schon sehr verdorben sein, dass du den Geruch nicht wahrnehmen kannst.« Diesmal täuschte ich mich nicht. Es lag Bedauern in der Stimme des Noma den. Bedauern und Enttäuschung. Mein Ruf als Bote des Wächterordens hatte erneut ein paar unschöne Kratzer erhalten. Ich musste vorsichtiger sein und ver fängliche Fragen vermeiden. Mein Ex trasinn riet mir, mich in den Schatten mehrerer Felsbrocken zurückzuziehen. Warum waren alle Sagen, Erzählun gen, Mythen und Geschichten dieses einfachen Nomadenvolkes derart auf ein duales Prinzip fixiert? • Der Ewige Litrak und der Dunkle Sardaengar standen sie stellvertretend für Gut und Böse? Der eine konnte anscheinend ohne den anderen nicht auskommen. So wie Yin und Yang in der irdisch-chinesi-schen Philosophie, wie Positiv und Negativ. Ich brach meine Gedanken ab. Sar
daengar mochte vielleicht mit jenem Tamrat identisch sein, der durch ein missglücktes Experiment in dieser kleinen Enklave gelandet war. Den noch existierte er, so wie'Litrak, nur noch in nebulösen Erzählungen. Zwischenspiel:
Sardaengar
Sardaengar hatte Unendlichkeiten zur Verfügung gehabt - und dennoch war er in seinen Bestrebungen ledigr lieh kleine Schritte vorangekommen. Das Ziel, das große, hoch gesteckte Ziel - es rückte kaum näher. Verände rungen, die er als positiv erachten konnte, waren selten und bloß in sei nem eigenen, besonderen Zeitmaßstab zu erkennen. Erhielt kurz in seiner Konzentration inne und rief sich nochmals ins Ge dächtnis, was er seit Äonen kannte: Grataar. Die Bastion. Die Festung im Herzen des Ograhan-Obsidian-Gebirges. In Mertras, dem Land der Silbersäulen. Sardaengar stand in der hohen Kup pel des Westturms. Ornamentale Strukturen, über die er kaum einen Gedanken verlor, umgaben ihn. Schmale, hohe Fenster erlaubten den Blick auf die anderen vier Türme. Die Außenhaut der schlanken Ge bäude wirkte metallisch. Von Wind, Sand und Niederschlägen über Jahr tausende hinweg angegriffen. Was ein mal silbern geglänzt hatte, war nun dunkel und stumpf. An manchen Stel len auch schartig und wie mit einem primitiven Reibeisen aufgeraut. Bei Tageslicht hätte Sardaengar die vielen haarfeinen Risse erkennen können, die die Struktur der Außenhaut wie ein ge wobenes Spinnennetz durchzogen.
34 Michael Marcus Thurner
Ihm blieb nur der fahle Widerschein mehrerer Beleuchtungskörper aus den unteren Bereichen der Türme. Sardaengar ließ den Blick über die markanten, dünnen Spitzen der Türme wandern. Jedes Gebäude hatte eine zentrale und vier weitere, etwas tiefer als Quadrat angeordnete, filigran wir kende Nadeln, die in den Himmel rag ten. Nur der Südostturm unterschied sich mit seiner abgeschnittenen Ter rassenplattform von den restlichen Türmen. Alle Gebäude waren unterschiedlich hoch. Dennoch war eine gewisse Sym metrie zu erkennen. Die Anordnung der Türme ergab ein gleichseitiges Fünfeck. Über dem Innenhof wallte der Nebeldom, eine Nebelwolke. Die grauweißen Schwaden waren mit Bli cken kaum zu durchdringen. Nur wenn im Inneren der Wolke jener kleine, reichlich facettierte Kristall aufleuch tete - Sardaengars Mondsplitter -, blitzte blauweißes Licht hoch hinauf in den Himmel und erhellte für kurze Mo^ mente die Außenfront der Türme. Erhabenheit und Kühnheit war al lerorten zu spüren; architektonisch ge wagt war die Konstruktion der Ge-birgsstation. Sosehr sich der Uralte bemühte - er konnte sich einfach nicht am Anblick der Festung erfreuen. Seufzend wandte sich Sardaengar seinen selbst auferlegten Pflichten zu; den alten und den neuen. Das Problem mit Litrak würde er auch heute nicht lösen können. Doch es. gab weitere Dinge, die seiner Aufmerksamkeit be durften. Mit seinen Sinnen griff er, der Herr der Welten, hinaus in das Reich der Ob-sidian-Kluft. Es gab Neuankömmlinge. Grundsätzlich war das keine Sensa tion. Schon seit Jahrhunderttausenden
wurden immer wieder Vertreter unter schiedlichster Völker hierher verschla gen, auf der Insel Viingh abgesetzt und ihrer technischen Hilfsmittel beraubt. Aus ihm unbekannten Gründen war die Barriere der Obsidian-Kluft in letzter Zeit jedoch löchrig geworden. Das Objekt, das vor kurzem hier auf getaucht war, war Sardaengar wohl bekannt. Die Vergessene Positronik leitete einen scheinbar unumkehrba ren Prozess ein. Eine Katastrophe'un geahnten" Ausmaßes bahnte sich .an. Trotz all seiner Macht und Weisheit, Eigenschaften eines langen Lebens, wusste Sardaengar nicht, was er diesen Vorgängen entgegensetzen sollte. Sein Alter hatte Sardaengar Ruhe und Be sonnenheit gelehrt. Manchmal bargen Probleme die Lösungen bereits in sich. Es galt, in erster Linie den Kern des Problems freizulegen. Er wandte sich dem schlichten Spie gel im Inneren des vierbeinigen Obsi-diantores zu, das aus gutem Grund in der Kuppel des Westturms untergebracht war. Konzentriert warf er Gedanken und geistige Substanz in das reflektierende Gefäß seines Ichs. Übergangslos fühlte Sardaengar seine Kräfte wachsen, ja überpropor tional steigen. Der Spiegel reflektierte die Energien und warf sie gebündelt auf ihn zurück. v Solcherart gestärkt, griff er neuer lich hinaus. Vergaß seine Festung auf dem schroffen Felsenwerk, vergaß den Turm, vergaß alles. Sardaengar wurde Geist und Seele. Er reiste umher. Er suchte. Und er fand. Erschrocken fuhr er zusammen. Eine Regung, die er schon seit Äonen nicht mehr gespürt hatte. Auf der Vergessenen Positronik hatte er die Präsenz eines Wesens mit
Die Savannenreiter von Vinara 35
der Ausstrahlung eines Imaginären entdeckt. Damit nicht genug; auf Vinara IV, einer der vier Spiegelwelten, spürte er an einem Neuankömmling die Aura eines Ritters der Tiefe. Es war eine Person, die er kannte. Atlan, der Arkonide. 8.Lethem, 2 7. März 1225 NGZ
»Warum willst du ausgerechnet die VERDRANS GLUT stehlen, Lethem?«, fragte Cisoph Tonk. »Ich habe den Eindruck, dass der Kapitän des Schaufelraddampfers nicht besonders beliebt unter seinen Kollegen ist«, argumentierte der Arko nide. »Folglich werden ihm nur wenige helfen, sein Eigentum zurückzube kommen. Außerdem scheint das Schiff auslaufbereit zu sein. Feuerholz wurde gerade gebunkert, als wir dort auf tauchten. Die Matrosen haben be stimmt zusätzliche Schichten einle gen müssen, um die Schäden am Schiff zu beheben. Dementsprechend müde werden sie sein. Zudem liegt die VER DRANS GLUT ein wenig abseits.« Lethem hastete mit seiner Gruppe zum Hafen hinunter. Sie nahmen den gleichen Weg wie am Tag zuvor. »Was hat der Alte zu deiner Idee ge meint? War er tatsächlich mit deinem Plan einverstanden?«, wollte Cisoph Tonk wissen. »Ja«, log Lethem. Er verschwieg be wusst, dass January Khemo-Massai weit davon entfernt war, Entscheidun gen treffen zu können. Nur ungern erinnerte er sich an das Gespräch mit dem TOSOMA-Kom-mandanten. Der Raum war abgedunkelt gewesen, und es hatte stechend nach Arzneien gerochen.
Lethem hatte nur kurz von seinem Plan berichtet. Mit sehr viel Fantasie konnte man die Reaktion des Kom mandanten als Zustimmung interpre tieren. Die Medo-Assistentin Tasia Odu-riam war während des kurzen Gespräches ebenfalls anwesend. Sie war die einzige Mitwisserin seiner eigenwilligen Interpretation. Und da es einer ungeschriebenen Tradition entsprach, dass bei einer Außenexpedition, wie er sie vorhatte, ein Bauchaufschneider mit dabei sein musste, hatte er sie kurzerhand für seinen Trupp eingeteilt. Ihre vorwurfsvollen Blicke verfolgten ihn aber sie sägte nichts. Er wusste, dass er der jungen unter setzten Arkonidin gefiel. Lethem ließ seinen Blick über die Mitglieder seines kleinen, aber feinen Trupps wandern. Cisoph Tonk war ge radezu eine Perle unter den Schiffsof fizieren. Auf ihn konnte er sich immer und jederzeit verlassen. Hinter ihm trabte Scaul Rellum Falk, ein tapsiger, gutmütiger Terra-ner. Es gab eigentlich keinen besonderen Grund, warum er den Stellvertretenden Leiter der Funk- und Ortungsabteilung mitgenommen hatte. Er war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen - und Lethem mochte den Kerl. Der Arkonide Hurakin, technischer Mathematiker, war auf den ersten Blick eine Fehlbesetzung für ihre Ex pedition. Da er ein hervorragender Stratege war und sich in der Handha bung von Primitivwaffen wie Schwer tern und Säbeln bestens auskannte, wählte Lethem ihn dennoch aus. Letzter in der Gruppe war der um weltangepasste Zanargun. Ein Kraft paket. Der Leiter der Abteilung Au ßenoperationen an Bord der TOSOMA
36
Michael Marcus Thurner
war Stratege und eine Kämpfernatur. Eine äußerst seltene Kombination. »Leise jetzt«, flüsterte Lethem. Sie hatten die niedrigen Bauten des unteren Hafenviertels erreicht. Zu die ser Zeit war es am ruhigsten in der Nacht. Ab und zu torkelte ein Betrun kener durch die Gassen. An einigen Gebäuden arbeiteten immer noch die Schweberoboter. Die Fischer waren bereits auf See, vor Sonnenaufgang kehrten sie nicht zurück. Lethem und seine Leute hatten et was mehr als zwei Stunden Zeit, um den gewagten Plan in die Tat umzuset zen. Für einen kurzen Moment dachte Lethem an Umrin, den Barden. Cisoph und er hatten mit dem schwatzhaften, durchaus sympathischen Kerl eine ausgedehnte Sauftour durch die un zähligen Tavernen auf der vierten Ebene unternommen. Der Spion der • Maghalata hatte mit seinen Gesängen ihre Fantasie angeregt. Technostädte, Orte der Kraft, Juwelen der Obsidian-Kluft waren nur einige der Schlagwörter gewesen, die er in kleinen Versen verpackt wiedergegeben hatte. Ständig hatte Lethem das Gefühl gehabt, dass Umrin weitaus mehr über die Welt Vinara wusste, als er zuzugeben bereit war. Oder konnte er nur gut bluffen? Ein Name war besonders in Lethems Erinnerung hängen geblieben: der Ur alte Sardaengar. Eine Sagengestalt, die aber gleichzeitig einen durchaus realen Hintergrund zu haben schien. Einerlei. Sie hatten den Überschwe ren durch die Kneipen geschleppt und dafür gesorgt, dass er ausgiebig dem sauren Wein zusprach. Cisoph und er bekämpften ihre Trunkenheit mit Aus-nüchterungstabletten. Der Arkonide fühlte sich seitdem ausgezeichnet. Er
wusste, dass sein Körper irgendwann in den nächsten vierundzwanzig Stun den sein Recht auf Erholung einfor dern würde. Der Hafen lag vor ihnen. Das Viertel mit seinen kleinen Häusern und Hüt ten hatte ohne seine geschäftig umher eilenden Bewohner den labyrintharti gen Charakter verloren.' Lethem brachte sich den Plan, den sie geschmiedet hatten, nochmals in Erinnerung. Das Dampfschiff, an das sie heranwollten,, lag rechter Hand im sanften Wasser, ungefähr einhundert Meter entfernt. Die Lagerflächen da zwischen waren voll geräumt - bis auf den Platz direkt vor dem Schiff. Der zweite Pilot der TOSOMA fluchte. Die hoch gestapelten Ballen waren ver schwunden. Cisoph blickte ihn fragend an. »Wir probieren es trotzdem«, flüs terte Lethem. »Es wird auf unsere Schnelligkeit ankommen.« Es gab für den Arkoniden kein Zurück mehr. »Nach vorne«, zischte er schließlich und deutete auf mehrere markante Punkte. Fässer, Kisten und aufgehäufte Schleppnetze boten ausreichend De ckung. Leise huschten die nahkampf erfahrenen Zanargun und Cisoph vor neweg, gefolgt von Lethem und Falk. Der Mathematiker und die Bauchauf schneiderin kamen als Letzte. Abgesehen von den beiden großen Leuchtfeuern, die einlaufenden Schif fen den Weg zur sicheren Fahrrinne aufzeigten, brannten um diese Uhrzeit nur wenige Fackeln. Die Wachen auf den Schiffen, an denen sie vorbei huschten, dösten vor sich hin. Ledig lich vom Deck eines Seglers drang das Lachen zweier Männer zu der Gruppe herüber. »Verd...!« Lethem rutschte auf dem glitschigen, nassen Pflaster aus. Un
Die Savannenreiter von Vinara 37
sanft fiel er nach vorne. Das Heft der kurzen Stichwaffe, die er in der Nähe ihrer Unterkunft gefunden hatte, klap perte über den Boden. Hastig rapgelte er sich hoch, hech tete nach vorne und suchte Deckung hinter einem hohen Netz mit Stoffbal len. »Wer ist da?«, ertönte eine tiefe, schläfrige Stimme von einer der Ru dergaleeren. »Schlaf weiter, Ambiant«, erklang eine andere Stimme vom Nebenschiff, »Käpten Demruhin und sein Maat ver gnügen sich ein wenig lauter als sonst.« »Noch lauter?« Beide Männer lachten, dann kehrte erneut Ruhe ein. Lethem atmete tief durch. »Weiter, du Tölpel«, feuerte er sich selbst an. Er be deutete den anderen weiterzugehen. Die VERDRANS GLUT war nur noch wenige Dutzend Meter entfernt. Wo war die Wache? Ein Matrose war an Deck. Er saß auf einem Schaukelstuhl hinter dem not dürftig in Stand gesetzten Vorbau und trank hin und wieder aus einer Fla sche. Das Windlicht, das neben ihm hing, leuchtete ihn gut aus. Lethem winkte Zanargun, der links neben ihm kauerte. Er sollte die Wache ausschalten. Der Luccianer wartete einen geeig neten Moment ab und spurtete los. Der Umweltangepasste war an eine Schwerkraft von eineinhalb Gravos gewöhnt. Mit sechs, sieben weiten Schrittsprüngen erreichte er den Mo lenrand, setzte mühelos zum Schiff über, landete und federte sich ab. Alles ging geräuschlos vor sich. Der Matrose an Bord des Dämpfers hatte nichts bemerkt. Als ihm Zanargun sanft auf die Schulter klopfte, erschrak der Mann heftig. Mit einem gezielten
Handkantenschlag schickte der Luc cianer ihn ins Land der Träume. Der Matrose sackte zusammen, als ob er eingeschlafen wäre. Zanargun eilte zurück zur Reling und schob unendlich langsam und leise eine Planke hinüber an Land. Dann gab er Lethem Zeichen. De'r Arkonide winkte erleichtert zu rück. Der erste Teil des Planes war er folgreich verlaufen. Nun galt es für ihn und die anderen, unbemerkt an Bord zu kommen, den Rest der Schiffsbesat zung auszuschalten, den Kessel anzu feuern und mit Vollschub aus dem Ha fen auszulaufen. Lethem gab das Zeichen, an Bord zu gehen. Cisoph rannte los. Er schleppte zwei schwere Rucksäcke mit sich, in denen sich Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittelkonzentrate aus der TOSOMA befanden. Die anderen folgten in kurzem Abstand. Lethem schlich als Letzter an Bord. Niemand hatte sie bemerkt. Er hakte einen weiteren Punkt auf seiner Liste als erledigt ab. Oduriam kümmerte sich bereits um den Gesundheitszustand des bewusst losen Matrosen. Zanargun hatte wohl dosiert zugeschlagen. Nur ein heftiges Schädelbrummen würde den Mann an die heutige Nacht erinnern. »Zanargun und Cisoph, ihr geht hinab in die Mannschaftskabinen«, flüsterte Lethem seinen beiden kampf kräftigsten Begleitern zu. »Alles ab sperren. Sollte jemand aufwachen und Radau schlagen, sofort außer Gefecht setzen. Falk«, er nickte dem bulligen Terraner kurz zu, »ab in den Maschi nenraum. Mach dich mit dem Kessel und der Fütterung vertraut.« Der Funker nickte; er sträubte sich keinen Moment gegen die völlig fremde Aufgabe.
38 Michael Marcus Thurner
Diese Flexibilität schätzte Lethem ungemein an dem Terraner. »Hurakin, du gehst vorerst ans Steuerruder. Ich werde dich später dort ablösen.« Auch der schlanke, schweigsame Ar-konide gehorchte ohne Widerspruch. »Und du?«, fragte Falk. »Ich werde Kapitän Koejoe in seiner Kajüte aufsuchen und in aller Freund lichkeit ein paar Worte mit ihm wech seln«, entgegnete Lethem. Lethem schlich heckwärts. Er blickte sich sichernd um. Die VER-DRANS GLUT lag tatsächlich so abgelegen, dass man die Wächter der anderen Schiffe kaum noch erkennen konnte. Umgekehrt musste es genauso sein. Niemand würde die sechs Piraten bei ihrer Nachtarbeit sehen. Alles lief wie am Schnürchen, alles würde gelingen. In einer Stunde waren sie auf hoher See, auf dem Weg zum Festland und weiter zu einem der Ob-sidiantore. Weit weg von dieser verfluchten Insel. Er öffnete leise die Bordtür zu den Heckkabinen. Zanargun und Cisoph stiegen durch eine Fälltür. Man hörte bereits laut und deutlich das Schnarchen der Seeleute. Die Matrosen ruhten in einfachen Hängematten. Hölzerne Stufen knarrten leise, als Lethem langsam in den Bauch des Schiffes hinabstieg. Sicherlich kein ungewöhnliches Geräusch an Bord dieses Schiffes. Drei Türen zweigten von einem schmalen und kurzen Gang ab. Vermutlich lagen dahinter die Ka binen des Steuermanns und der ande ren Offiziere. Wenn alles einer Logik folgte, dann war die Tür geradeaus der Eingang in die Kabine des Kapitäns. Zwei Schritte nach vorne, kurz am Eingang gelauscht - und dann die Klinke mit einem raschen Druck nach
unten geöffnet. Ein regelmäßiges Schnarchen ertönte. Lethem erkannte das leicht geschwollene Gesicht des Kapitäns. Im fahlen Licht des Kristall mondes, das durch mehrere heckwär-tige Butzenscheiben in die Kabine drang, orientierte sich der Arkonide. Lethem triumphiertet Es war alles so einfach. Nun ein paar klärende Worte mit dem unglückseligen Mann, dann ... Licht flammte auf. Licht aus mehre ren Quellen.. Geblendet schloss Lethem da Voko-ban die Augen. »Willkommen an Bord, Arkonide«, sagte eine tiefe, kräftige Stimme. »Wir haben euch schon ein wenig früher er wartet.« Die Stimme war ihm nur allzu gut bekannt. Dem Zweiten Piloten der TOSOMA wurde schwindlig. Er blinzelte müde und ließ sich schließlich in den einzi gen freien Stuhl fallen. »Das habe ich ganz schön versaut, nicht wahr?«, sagte er kleinlaut zu Um-rin, dem Barden, der an einem riesigen Stück Fleisch knabberte. 9.Atlan, 24. März 1225 NGZ Vier Tage waren sie bereits unter wegs. Der Marsch der Savannenkäfer wollte kein Ende nehmen. Ich verfluchte meinen weit ausla denden Sattel mit aller Inbrunst. Wann immer ich konnte, stand ich weit in den Steigbügeln auf und entlastete so für kurze Momente mein Hinterteil. Doch Gantschula, meine störrische Dame, reagierte auf jede Körperverla-gerüng. Scheinbar mit Vergnügen hüpfte sie dann beiseite, legte sich schief oder wackelte unruhig mit ihrem Geweih.
Die Savannenreiter von Vinara 39
»Weibchen sind einfach launischer«, hatte mir Gamondio zugeflüstert und gleichzeitig einen ängstlichen Blick Richtung Dendia geworfen, die angeb lich über ein sehr gutes Gehör verfügte. Die Hitze setzte Jörge und mir zu. Ich war zwar an höhere Temperaturen als der Terraner gewöhnt - doch zur Mittagszeit erwärmte sich die Luft auf fünfundvierzig Grad Celsius. Da be gann selbst ich, mich unwohl zu füh len. »Dort vorne!«, rief Gamondio mir lä chelnd zu und deutete in Richtung der untergehenden Sonne. Ich konnte nichts erkennen. Vom Wind hochgewirbelter Staub behin dertemeine Sicht. Nicht nur meine Pu pillen waren rot, auch beide Augen wa ren mittlerweile vom feinen Sand ent zündet. »Was siehst du?«, schrie ich hinüber zum Häuptling der Afalharo. Die Dendibos erzeugten durch das beständige charakteristische Knack sen ihrer Chitingelenke und ihren nicht gerade eleganten Schritt eine Ge räuschkulisse, die uns ständig umgab. »Die Karawanserei Zarband«, ant wortete er und drängte- gleichzeitig sein Käfermännchen mit einer elegan ten Hüftbewegung gegen Gantschula, die wieder einmal ausreißen wollte. Endlich war es so weit! Das erste Etappenziel war in Sicht weite. Mit etwas Glück würden Jörge und ich weitere Informationen sam meln - und etwas Abwechslung in un seren Speiseplan bringen. Wir hatten es bitter nötig. Beide wa ren wir abgemagert und hatten uns nur mit rebellierenden Mägen an die Brei-Wasser-Fleisch-Diät der Nomaden gewöhnen können. Mein Zellaktivator arbeitete im Ge gensatz zu allem anderen technischen Gerät ausgezeichnet; er konnte aber
nicht verhindern, dass mir die ge wohnte und für Arkoniden gesunde Mischkost fehlte. , Wir stoppten. Gamondio und der rechts von mir reitende Rismelo nah men mich in die Zange, so dass Gant schula gezwungenermaßen stehen bleiben musste. Der Staub setzte sich langsam. Wir standen auf der Kuppe eines kleinen Hügels. Eine bretterebene Landschaft breitete sich vor uns aus. Sandig, gelb, orange. Mit einem wunderschönen grünen Farbtupfer versehen. Nahezu kreisrund war dieser Fleck, mit pal menähnlichen Gewächsen im Zentrum und dem herrlichen Blau eines Sees, an dessen flachem Ufer große, dunkelrote Laufvögel dahinstaksten. Farben in einer Pracht, die ich seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. »Es ist ... wunderschön«, meinte Jörge, der sein zahmes Tier zu uns ge drängt hatte. Waren es Tränen, die ich in seinen Augenwinkeln sah? Terraner weinten aus verschiedenen Gründen; ich hatte mich lange genug mit ihren seltsamen Verhaltensmus tern auseinander setzen müssen. »Du hast Recht«, bestätigte ich. Auch die Savannenreiter blickten ergriffen hinab in die Ebene. Ihnen er ging es offenbar nicht anders als uns. »Die Karawanserei ist ein wahres Schmuckstück dieses Landes«, sagte ich. »Ein Schmuckstück ja«, entgeg-nete Gamondio. »Leider gibt es einige falsche Edelsteine in der Fassung.« »Was meinst du damit?«, fragte ich irritiert. »Du wirst es früh genug erfahren«, sagte der Mann schroff. Dann erst be merkte er, mit wem er gesprochen hatte, und deutete mit einer Hand eine entschuldigende Geste an.
40 Michael Marcus Thurner
Ich akzeptierte. Die Gestik der Sa vannenreiter war kompliziert und viel schichtig. Schließlich ritten die Män ner tage- oder wochenlang nebenein anderher. Zu ihrer Verständigung hat ten sie über Jahrhunderte hinweg eine Art Gestensprache entwickelt. »Weiter!«, rief Gamondio und deu tete mit der Hand hinab in die Ebene. Er nahm seinen Reitkäfer an die kur zen Zügel. Jörge bemühte sich indes verzwei felt, sein Tier zu kontrollieren. Jetzt, da es Wasser und Grünpflanzen roch, wurde es lebhafter. Ich konnte mich nicht um Jörge küm mern, denn Gahtschula hegte ihre eige nen Absichten. Sie wollte auf dem schnellsten Weg hinunter in die Kara wanserei Zarband gelangen. Und mich, den lästigen Gast auf ihrem Rücken, dabei nach Möglichkeit abwerfen.
»Endlich«, stöhnte Jörge und rieb sich den Hintern. Dendia hatte ihn Abend für"Abend gepflegt, wohltätige Krauter aufgelegt und dabei das »prächtige volle, weiche Fleisch« sei nes Hinterteils immer wieder lobend erwähnt. Nur mit Mühe hatte sich der Terraner der Aufmerksamkeit der Schamanin erwehren können. Ja, endlich. Wir hatten die Dendibos am Rande der Savanne ausgebildeten Pflegern überlassen. Männern mit weißen Bur nussen. Weiß war die Farbe der Neutralität, hatte mir Gamondio erklärt. Er stapfte neben mir einher. Die Klinge seines kurzen, schartigen Messers trug er of fen. So wie alle anderen Männer, denen wir im Getümmel der Straßen begeg neten.
Jörge und ich erregten durch unsere Körpergröße einiges Aufsehen. In der Trockenzeit hielten sich keine Frem den in der Stadt auf. Es waren sehr viele Frauen anzutref fen. Sie spielten in diesem Teil des Lan des eine dominante Rolle. Sowohl in gesellschaftlicher Hinsicht, als auch was den Führungsanspruch betraf. Sie waren kleinwüchsig, nicht mehr als 1,50 Meter groß, gut proportioniert, charmant und begegneten uns stets mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Doch sobald.es die Notwen digkeit ergab, wurden sie resolut und bestimmend. »Früchte! Gemüse!« Jörge deutete mit der Hand auf eine Reihe von Marktständen. »Was würde ich für ein wenig Obst geben!« Mir lief ebenfalls das Wasser im Mund zusammen. Händler zerschlugen riesengroße, melonenförmige Früchte. Das gift grüne Fleisch, kernlos und sehr wäss rig, wurde mit den Händen ausge presst, der Saft getrunken. »Pentrolas«, erklärte Gamondio un gefragt, der. meine neugierigen Blicke wohl zu deuten wusste. »Das Wasser ist fruchtig und belebt die Sinne. Man sagt, dass es auch den Verstand schärft.« »Hat deine verlauste Sippe Zuwachs erhalten, Gamondio?«, erklang plötz lich eine helle Stimme aus dem Hinter grund. »Große Männer, die du an die Fette Dendia verfüttern möchtest, um selbst ihren Reizen entgehen zu kön nen?« Der Häuptling blieb zunächst wie erstarrt stehen und drehte sich schließ lich langsam um. Ein kleiner Savannenreiter stand vor uns. Er war stark gebaut, doch kei neswegs korpulent. Ein zernarbtes Ge
Die Savannenreiter von Vinara
41
sieht lugte unter dem rotf arbenen Bur nus hervor. Hasserfüllt starrte er Ga-mondio an. Umringt war er von Männern, die die gleiche Stammesfarbe wie er trugen. »Kanzemon«, sagte Gamondio leise. »Ich hoffte, auf das Glück verzichten zu können, dir zu begegnen.« »Du weißt, dass ich jederzeit genau informiert bin, was in der Karawanse rei vor sich geht.« Der Mann zeigte ein maskenhaftes Lächeln. »Willst du mir deine Begleiter nicht vorstellen? Fremde sind selten in dieser Jahres zeit.« »Es geht dich nichts an, wer sie sind und was sie wollen, Häuptling der Na-thals. Dies ist nicht deine Stadt.« Ringsumher wurde es schlagartig still. »Diese Männer stehen unter . dem Schutz der Tulig. Was sie tun oder las sen, soll euch nicht interessieren.« Eine mutige Ansage, und ich konnte sehen, wie sich der Kanzemon ge nannte Mann nur mühsam be herrschte. Vermutlich handelte es sich um eine Stammesrivalität. Eine von der Art, die sich über Generationen hielt. »Diese Stadt gehört noch nicht mir«, entgegnete Kanzemon. »Noch ist sie neutraler Boden. Es kann sich alles än dern, wie du weißt. Selbst Götter kön nen sterben.« Gamondios Hand umkrampfte seine lose in den Gürtel gebundene Stoß waffe. Der Häuptling der Nathals hatte offensichtlich einen wunden Punkt an gesprochen. . »Genug geredet«, ächzte Dendia, die rücksichtslos ihren Körper einsetzte, um zu den beiden Streithähnen vorzu dringen. »Gamondio, beherrsche dich«, flüsterte sie dem Afalharo zu. »Und du, Kanzemon, sparst dir deine spöttischen Bemerkungen für die Spei
chellecker an deinem Lagerfeuer auf. Wer den neutralen Böden Zarbands mit Blut besudelt, dessen Stamm ist vogelfrei. Habt ihr das vergessen, ihr Narren?« Sie deutete mit ihren schmut zigen Fingern auf eine junge, zierliche Frau mit dunkelblonden Haaren. Sie stand im Schatten des etwas größeren Nathal-Häuptlings. Und du, Kreosan, junge Schamanin, hast du deine Män ner nicht im Griff? Rufe sie gefälligst zur Ordnung. Sorge dafür, dass sie uns fernbleiben. Ich wünsche, dass sich un sere beiden Gruppen nicht mehr über den Weg laufen. Die Stadt ist groß ge nug.« Die junge Schamanin wollte etwas erwidern; ihr Gesicht verzerrte sich, und mir war, als würde ich eine Schlange sehen, die soeben zum tödli chen Biss ansetzte. Doch sie be herrschte sich und gab ihrem Häupt ling ein kurzes, stummes Zeichen. »Bete zu deinem alten, sterbenden Gott, dass wir uns nicht außerhalb der Stadt begegnen«, sagte Kanzemon im Weggehen. »Denn in den Steppen wird es keine Gnade mehr geben. Dein Tod und der aller, die mit dir reiten, werden lange und schmerzhaft sein.« Gamondio wollte antworten. Dendia fiel ihm in den Arm. »Lass es bleiben«, sagte sie. »Jedes Wort in diese Richtung ist vergeudet.« Der Häuptling nickte schließlich und ließ langsam die Hand von seiner Waffe gleiten. Erleichtert atmete ich durch. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir äußerst knapp einer Katastrophe entgangen waren.
Dendia und Gamondio beantworte ten meine Fragen bezüglich der Aus
42
Michael Marcus Thurner
einandersetzung mit Kanzemon nur ausweichend. Ich musste wohl auf den richtigen Moment warten, um meine Neugierde zu stillen. Am späten Nachmittag saßen wir in einem Vorgarten eines einfachen, aber sauberen Wirtshauses und genossen die Kühle, die uns der Schatten der vie len Pflanzen und Gewächse schenkte. Ab und zu drang eine leichte Windböe zwischen den Efeuranken zu uns durch. Jörge und ich labten uns an der ab wechslungsreichen Mahlzeit. Gemüse suppe, pikant gewürztes Fleisch,. Fisch, Obst. Dazu frisches Weißbrot, Käse und herrlich kühlen Wein, der gelb schimmerte. Jörge strich mit der Hand über sei nen Bauch und meinte: »Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass das die beste Mahlzeit war, die ich jemals zu mir genommen habe.« Sein Gesicht wirkte glückselig, als hätte er soeben das Himmelreich betreten. Ich lächelte still in mich hinein. Kein Wunder.- Mein Begleiter hatte wohl noch nie so lange eine anständige Mahlzeit entbehrt. »Ich danke dir für die Einladung, Gamondio«, wandte ich mich an den Häuptling, der mir mit düsterem Ge sicht gegenübersaß. »Und auch für eu ren Schutz in den letzten Tagen. Wie können wir das wieder gutmachen?« Ich beobachtete, wie er mit kleinen runden und länglichen Lithras die Ze che für uns alle beglich. Er hatte mich bereits auf dem Markt über die Werte verhältnisse dieser Obsidiansteine aufgeklärt. »Indem ihr wie versprochen bei uns bleibt und uns das Geleit zum Obsidi-antor im Norden gebt.« Ich dachte kurz nach. Jörge und ich konnten noch ein paar Tage in der Ka
rawanserei verbringen. In einer Han delsstadt wie dieser brodelten immer Gerüchte. Ein Streif zug durch die Stra ßen und Mär.kte würde nicht schaden. Ich erhoffte mir Auskünfte, einen Weg zurück in unseren Kosmos zu finden. Andererseits - was hatten wir zu verlieren, wenn wir die Savannenreiter zum so genannten Obsidiantor beglei teten? Transmittertore bedeuteten Technik. Technik, wie sie sonst nicht existierte. Und damit möglicherweise Zugang zu mehr Wissen, als wir in die ser Stadt jemals sammeln konnten. Abgesehen davon - wir verdankten den Nomaden unser Leben! »Nein, bitte nicht!«, flehte der Archi var. »Säg nicht, dass du vorhast, die Afalharo zu begleiten. Sollten wir uns nicht erst einmal in der Karawanserei umsehen? »Wir sind den Nomaden verpflich tet«, entgegnete ich. »Aber ... « Er brach ab. »Was aber?« »Schon gut«, murmelte Jörge und blickte tief in den leeren Weinkrug. »Du solltest dich im Spiegel betrach'-ten, wenn die Abenteuerlust in dir erwacht.« War es denn so deutlich zu sehen, dass mich die Neugierde gepackt hatte? »Ich habe keine Ahnung, wie du so alt werden konntest«, sagte Jörge, »Du strapazierst dein Glück immer bis aufs Äußerste.« »Das ist wohl meine Bestimmung«, antwortete ich kurz angebunden. »Und was ist mit meiner Bestim mung?«, fragte er bitter. ' Ich musterte ihn. Der Mann hatte viel durchgemacht in den letzten Ta gen; er war dem Tod in vielfältiger Form begegnet, hatte Freunde an sei ner Seite sterben sehen. »Ich werde alles unternehmen, um
Die Savannenreiter von Vinara 43
dich heil von dieser Welt zu schaffen«, versprach ich. Es war mit bitterernst. Ich drehte mich zu Gamondio um, der unsere Unterhaltung zwar gehört, aber nicht verstanden hatte. »Hör zu, Gamonio: Jörge und ich haben eine schwerwiegende Entscheidung getrof fen. Wir möchten sie gerne bei einer weiteren Karaffe dieses ausgezeichne ten Weines besiegeln.«
Dendia hatte in'der Zwischenzeit in ihrer unnachahmlich charmanten Art mehrere Stöße ledriger Echsenhäute für einen außergewöhnlich guten Preis an den Mann gebracht. Mit dem erzielten Gewinn kauften die Nomaden Lebensmittelvorräte, ge presstes Kraftfutter für die Dendibos, Gegenstände des täglichen Gebrauchs sowie mehrere melonengroße, vitamin reiche Pentrola-Früchte für mich und den Archivar. Einerseits war ich dankbar dafür, andererseits fühlte ich, dass wir tief in der Schuld der Nomaden standen. Würden wir dieses Entgegenkommen jemals abbezahlen können? Bislang waren Jörge und ich nur totes Kapital für die Afalharo. Gamondio verzichtete darauf, uns in einer der sündhaft teuren Unterkünfte der Stadt einzumieten. Trotz Dendias gutem Handel war die Barschaft der Nomaden bescheiden. Wir übernachteten auf Strohmatten in Massenunterkünften. Sie lagen an der Stadtgrenze und ganz in der Nähe unserer Tiere. Die Nacht war kurz. Bereits vor dem • Morgengrauen weckten mich die Afal haro. Ich trank eine Tasse eines schwarzen, bitteren Gebräus, das meine Sinne belebte.
Mit den ersten Sonnenstrahlen belu-den wir die Dendibos und machten uns auf den Weg. Gantschula war zu meinem Bedauern ein Morgenmuffel. Sie ließ mich ein ums andere Mal spüren, was sie von meinen Reitkünsten hielt. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um. mich im Sattel zu halten. Während die Sonne langsam höher stieg, warf ich einen letzten Blick zu rück, in das weite Tal, aus dem die Ka rawanserei Zarband wie ein grünes Ju wel hervorstach. Dann blickte ich nach vorne; das gelbe, graue Einerlei der trockenen Savannenlandschaft hatte uns wieder. , Wir ritten langsam eine einsame, kaum ausgetretene Passstraße bergauf. Nomadenwege. Fluchend und schwitzend lenkte ich Gantschula an die Seite von Gamon-dios Reitkäfer. »Nehmen wir einen Umweg?«, fragte ich. »Wir müssen ausweichen«, antwor tete der Häuptling knapp. »Warum?« »Dieser Teil der Afal-Savanne ge hört zum Stammesgebiet der Nathals«, sagte Gamondio. Ich verstand. Die Drohung yon Kan-zemon, dem Häuptling der Nathals, war mehr als deutlich gewesen. Er würde uns verfolgen, sobald er bemerkte, dass wir sein Land betreten hatten. Der kleine Umweg war also durchaus gerechtfertigt. »Was steht zwischen den Stämmen der Tulig und Nathals?«, fragte ich er neut. Und erhielt keine Antwort. Diesmal wollte ich es nicht darauf beruhen lassen. »Gamondio - ich ver lange, dass du mit offenen Karten spielst! Ich muss wissen, womit wir zu rechnen haben, wenn wir mit dir, Den dia und den anderen Kriegern reiten.
44
Michael Marcus Thurner
Sonst kehre ich mit meinem Begleiter um.« Ich zog kräftig an den Vorderzügeln und stoppte Gantschula. Der Riemen riss ihre sehnigen Mundwinkel blutig. Anders war sie einfach nicht zum Hal ten zu bewegen. »Na schön«, sagte der Häuptling schroff und gab Zeichen für eine Rast. Mit elegantem Schwung rutschte er seitwärts von seinem Dendibo herab und kam zu mir herüber. Dendia hum pelte zu uns. Ihr kleines, rundliches Gesicht wirkte verkniffen, fast verbit tert. »Also gut, • Ordensbote«, sagte Ga-mondio. »Es ist ohnehin an der Zeit, dass wir uns aussprechen.« »Gut.« Ich ahnte, was kommen würde. »Ihr verdankt es lediglich Dendias Fürsprache, dass wir Tulig euch Schutz gewähren. Und seid froh, dass ihr nicht in der Karawanserei geblie ben seid. Denn wenn wir euch hätten gehen lassen, wärt ihr binnen weniger Stunden als Vogelfreie, ohne Bindung an einen Stamm oder Clan, ausgeraubt und getötet worden. Fremde werden nur in der Regenzeit, wenn Händler ihre Waren anbieten, ohne Schutz eines Nomadenvolkes geduldet.« »Wir sind froh über den Beistand, den ihr uns gewährt«, sagte ich formell und beglückwünschte mich zu meinem Instinkt, der mir geraten hatte, bei den Nomaden zu bleiben. »Dendia ist weiterhin der Meinung, dass ihr Ordensboten der Wächter Litraks seid, obwohl ich den Glauben daran längst verloren habe.« Er starrte mich an; seine dunklen Augen glänzten in der Sonne. »Kein Bote oder höheres Wesen besäße derart wenig Wissen über diese Welt. Ihr könnt weder reiten noch euch selbst ernähren, würdet
wahrscheinlich keinen Tag in der Sa vanne überleben. Nichts deutet darauf hin, dass du der versprochene Send bote bist, der uns den Weg zu den Wächtern weisen wird.« Er spuckte braunen Brei aus. Es war dies kein Zeichen der Verachtung, es war bloße Gewohnheit. »Ich achte eure Bereitschaft, uns beim Erreichen unseres Zieles zu hel fen. Ich schätze es, dass ihr bei uns ge blieben seid, denn ich hoffe auf eure Hilfe bei den Auseinandersetzungen, die uns mit den Nathals drohen ...« »Er ist der Richtige«, mischte sich Dendia ein und blickte böse zu Ga-mondio. »Ich spüre es. Auch wenn er selbst es nicht weiß.« »Mag sein.« »Zweifelst du an meinen Fähigkei ten, Gamondio?« Dendia schien zu wachsen. Ihre Stimme wurde volltö nender, ihr Auftreten ehrfurchthei schend. Gamondio war verzweifelt, man konnte es ihm ansehen. Er wagte es nicht, sich offen gegen die Schamanin zu stellen. Andererseits war er über zeugt, dass wir keineswegs die waren, die wir vorgaben zu sein. Ich musste die drohende Auseinan dersetzung abwenden. »Warum herrscht Krieg zwischen den Nathals und den Tulig? Handelt es sich um Grenzstreitereien? Ist es eine Blut fehde?« Die Afalharo fixierten mich mit ih ren Blicken. Sie blickten mich lange an. »Weder das eine noch.das andere«, sagte Dendia schließlich. »Es sitzt viel tiefer.« Sie machte eine lange Pause. Die Schamanin musste mehrmals an setzen, bevor sie zu klaren, deutlichen Worten fand. »Die Nathals und Tulig«, erzählte sie
Die Savannenreiter von Vinara 45
schließlich, »sind zwei der ältesten und ruhmreichsten Stämme, deren Männer und Frauen durch die Große Savanne ziehen. Tausende Jahre müssen es be reits sein, dass sie die geraden Wege entlangmarschieren. Ewigkeiten leb ten wir friedlich nebeneinander; tauschten Wissen, Nahrung und das Blut aus. Natürlich gab es ab und zu Grenzstreitigkeiten, auch unterschied liche Ansichten über die Nutzungs rechte der Oasen sind in unseren Ge schichten überliefert. Aber all dies wurde an den Lagerfeuern beigelegt. Wir alle vertrauten auf den Ewigen Litrak. Beteten zu ihm, dankten ihm für die Fürsorge und die Gnade des Le bens, die er uns gewährt hatte. Doch wie ihr wisst, tauchte eines Tages der Dunkle Sardaengar auf. Er eroberte nicht nur das Land, sondern er säte in den Herzen der Frauen und Männer Vinaras falsche Gedanken. Machtgier, Neid und Unersättlichkeit gehörten zu den Eigenschaften, denen die Angehö rigen des Stammes Nathal verfielen. Als der Dunkle den scheinbaren Sieg über Litrak errang, wandten sie sich schließlich vollends vom wahren Glau ben ab und warfen sich dem Sieger der Auseinandersetzung an den Hals. Sie verrieten ihre Heimat!« Eine religiöse Fehde also, warf mein Extrasinn ein. Es geht um den fürch terlichsten aller Gründe, einander zu hassen - und auch um den sinnlosesten. Ich war mir da längst nicht mehr si cher. Man konnte nicht alles mit my thologischer Verbrämung erklären, was uns Dendia in den letzten Tagen und Nächten erzählt hatte. Es schien, als existierte ein realer Hintergrund. Nicht umsonst tauchte immer wieder der Name Sardaengar auf; ein lemuri-scher Tamrat, der vor fünfzigtausend Jahren hier gestrandet war, wenn ich
den Erinnerungen Nevus Mercova-Bans Glauben schenken konnte. Ohne greifbare Substanz hielten sich Dogmen nicht über so lange Zeit. Das war in meinen Augen ausgeschlossen. Vorsichtig formulierte ich eine Frage: »Sagen eure Mythen, warum sich mit der Ankunft des neuen Gottes alles änderte? Und was die Nathals von da an anders machten?« »Manche Legenden besagen, dass sie vom Dunklen kraft seines Willens un terworfen wurden. Mit bloßen Gedan ken soll er sie zum Verrat überredet ha ben. Pah!« Sie stampfte zornig mit den Füßen auf. »Doch die Gier ist das schlimmste Geschenk, das Sardaengar ihnen machte. Und es ist die unendli che Schuld der Nathals, dass sie diese Gabe widerspruchslos akzeptierten.« Die Schamanin öffnete die Kordel an einem der vielen Leinensäcke ihres to gaähnlichen Gewandes. Ein paar Ob-sidiankugeln fielen in ihre Hand. Sie glänzten matt in der immer stärker werdenden vormittäglichen Sonne. Wegen der hellen Einsprengsel nannten sie die Steine Schneeflockenobsi-diane. »Man sagt, dass der Dunkle uns dies hier brachte. Geld, verfluchtes Geld!« Ich verstand. Sardaengar hatte nach Ansicht der Tulig-Nomaden die Schlange ins Paradies gebracht. »Aber dabei blieb es nicht«, fuhr Dendia fort. »Wir sind keineswegs so rückständig, wie du vielleicht an nimmst. Für Neues und Praktisches sind wir immer offen. Wir akzeptieren die Errungenschaften moderner Tech nik.« Sie deutete an die Seite ihres Reitkä fers, an dem zwei neue, in der Kara wanserei erworbene Petroleumlampen sowie fünf steife Blasen aus gegerbten Tierhäuten mit Brennstoff hingen. Für
46
Michael Marcus Thurner
die Nomaden stellten sie eine Sensa tion dar. Wenn ich mich recht erin nerte, hatte diese Form der Beleuch tung auf Larsaf III, meiner zweiten Heimat, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erstmalig Verbreitung gefunden. Dann sagte sie: »Sardaengar ist ein arglistiges Wesen. Er verteilte die so genannten Geschenke, die er mit sich führte, ungerecht. Wer sich seinem Glauben unterordnete, erhielt mehr Lithras als die anderen. Sie wurden und werden in seinem Auftrag von den Perlenträgern ausgegeben.« »Perlenträger?« »So heißen die Wesen mit gebieteri schem Gehabe, prunkhaftem Gefolge und arrogantem Auftreten, die durch die Welten ziehen.« »Woher kommen denn die Lithras ei gentlich?« Eine Frage, die mir schon geraume Zeit auf der Zunge brannte. , »Wir wissen es nicht. Es gibt so viele Geschichten und Legenden ... Mögli cherweise stammen sie aus der sagen haften Stadt Helmdor.« Die Schamanin blickte zum Häupt ling, der nervös neben uns gestanden und mit überkreuzten Armen zugehört hatte. Immer wieder schaute er sich um. »Wir müssen rasch weiter«, sagte er schließlich. »Dies ist gefährliches Ter rain für uns. Das Volk der Tulig ist zwar stolz, aber es ist klein geworden. Die Krieger der Nathals bekamen während der Auseinandersetzungen nach Sardaengars Kommen oftmals Unterstützung durch gekaufte Söld ner.« Hasserfüllt ballte er seine Hände zu Fäusten. »Wie Vieh wurden unsere Leute zusammengetrieben und getötet. Unser Stamm überlebte, weil wir uns immer tiefer ins Landesinnere abseits der Karawanenwege zurückzogen hat
ten. Nur einmal im Jahr, während der Regenzeit, machen wir uns noch auf den Weg, um in der neutralen Kara wanserei unsere Waren anzubieten.« »Wegen Dendias Visionen musstet ihr euren Schlupfwinkel vorzeitig ver lassen ...« »... um durch das Land der Feinde, der Nathals, nach Norden zu reiten.« Langsam verstand ich. Die Mythenwelt der Nomaden schien mir derart gefestigt, dass ich zu glauben gewillt war, es handle sieh bei Sardaengar und Litrak um reale Per sonen. . Ich musste nur einen Umkehrschluss bezüglich meiner Person ziehen: Hät ten die Terraner damals, als sie mich im Jahre 2040 an der Flucht nach Arkon hinderten, geglaubt, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits 10.000 Jahre alt war? Hätte ich es darauf angelegt, hätte ich durch mein stetiges Wirken wäh rend der Jahrtausende meines Exils auf der Erde durchaus zum Mythos werden können. So, wie es mit Sar daengar und Litrak offensichtlich pas siert war. Was mich zu einer weiteren Vermu tung führte. Bei beiden handelte es sich um Unsterbliche. 10.Lethem, 27. März 1225 NGZ Als Lethem da Vokoban mit Umrin und drei weiteren Überschweren an Deck der VERDRANS GLUT zurück kehrte, leuchteten dutzende Fackeln hell auf. Mit Messern, Armbrüsten und Säbeln bewaffnete Männer standen im Kreis und blickten ihn grimmig an. Lethems Mitverschwörer hatte man zusammengetrieben. Zanarguns Auge war rot angeschwollen. Er hatte sich
Die Savannenreiter von Vinara 47
offensichtlich als Einziger der Fest nahme widersetzt. »Hast du uns denn tatsächlich an den Kapitän dieses Seelenverkäufers verraten?«, fragte Lethem Umrin mit Bitternis. »Du verdrehst die Tatsachen, Arko-nide«, sagte Umrin. Er warf einen großen Knochen über Bord und rülpste ein paar Takte einer kleinen Melodie. »Nicht ich sollte ein schlechtes Gewis sen haben, sondern du, Lethem. Du wolltest schließlich das Schiff steh len.« »Ich versuche schon die ganze Zeit, euch klar zu machen, wie wichtig es für uns ist, von hier wegzukommen.« Zor nig riss er sich von seinem stummen Begleiter los, der ihn am Oberarm fest hielt. »Die Katastrophe, die Vinara in naher Zukunft treffen wird, ist schließ lich kein Produkt meiner Fantasie, sondern Realität, der ihr nicht ins Auge schauen wollt. Seitdem wir angekom men sind, will uns keiner zuhören. We der du noch die Maghalata ...« »Wer sagt, dass ich dir nicht zuhöre und glaube?« Lethem schwieg überrascht. Dass die groß gewachsene Frau, die heimli che Führerin der Stadt Viinghodor, hinter dieser konzertierten Aktion stand, die zu ihrer Festnahme geführt hatte, war ihm in dem Moment klar ge wesen, als er die Kabine des Kapitäns betreten hatte. Er hätte allerdings nicht gedacht, dass Kythara sich per sönlich blicken lassen würde. »Natürlich glaube ich dir«, bekräf tigte die Frau. »Doch zwischen Glaube und Wissen liegen Welten.« Langsam ging sie um ihn herum, so nahe, dass ihre langen, gelockten Haare sein Gesicht kitzelten. Der herbe Duft ihres Parfüms irritierte ihn, lenkte ihn ab..
Unwillig schüttelte Lethem den Kopf. »Sprich nicht in Rätseln zu mir«, entgegnete er. »Sag mir lieber, was die ses Schauspiel hier soll.« »Nun, betrachte es als kleinen Test.« Sie lächelte unverbindlich. Es war das Lächeln einer außergewöhnlichen Schönheit - die sich unvermittelt in ein todbringendes Raubtier verwandeln konnte. »Dank dieses kleinen Versteckspiels weiß ich nun, dass ihr euch eurer Sache sehr sicher seid«, fuhr sie fort, und jeg liche Gefühlsregung verschwand aus ihrem Gesicht. »Dass ihr auch daran glaubt, was ihr sagt.« »Das soll heißen?« »Das soll heißen, dass wir heute ge gen Mittag mit der VERDRANS GLUT aufbrechen werden. Richtung Osten, über das Meer. So, wie ihr es wolltet. Ondaix, Enaa von Amenonter und ich begleiten euch«
Die Pläne der Maghalata blieben weitgehend im Dunkeln. Sie verwei gerte jegliche Auskunft darüber, wes halb sie die Stadt Viinghodor, die dank ihrer Klugheit und Weisheit ein Hort des Friedens war, gerade jetzt verlas sen wollte. Und warum gerade mit ihm, Lethem da Vokoban. Der Kommandant der TOSOMA gab zähneknirschend sein Einverständ nis zur Expedition ans Festland. Für Lethems eigenwillige Interpretation hatte er kaum Worte. » Betrachte dich vom Dienst suspendiert, ebenso wie der Rest deines Trupp.« Lethem konnte es nicht fassen. Nun gut, er hatte den Kommandanten im Grunde übergangen, aber rechtfertigte das seine Entlassung? »Die Suspendierung hat aufschie
48
Michael Marcus Thurner
bende Wirkung und kommt nur zum Tragen, wenn ihr Atlan nicht herbei schaffen könnt«, fügte Khemo-Massai nach einer endlos langen Weile hinzu. Er grinste, zeigte ein strahlend weißes Lächeln. »Jetzt schieb gefälligst dei nen kleinen Arkonidenhintern hier raus und tu dein Bestes!« Der Zweite Pilot der TOSOMA war froh, doch noch glimpflich davonge kommen zu sein. Die Verabschiedung von den ande ren Besatzungsmitgliedern ging schnell vonstatten. Lethem grüßte nach links und rechts, schüttelte eini gen Leuten an ihrer Liegestatt die Hände. Man wünschte ihm viel Glück. Schließlich machte er sich auf den Weg zum Hafen hinunter. Cisoph Tonk, Scaul Rellum Falk, Hurakin, Zanar-gun und Tasia Oduriam waren wiederum an seiner Seite. Es hatte sich rasch herumgespro chen, dass Kythara abreiste. Viele Bür ger standen Spalier. Die wenigen schmalen Zugangswege zum Hafen waren nahezu versperrt. Zanargun und Cisoph Tonk mussten all ihre Kräfte aufbieten, um der Gruppe einen Weg zum Schiff zu bahnen. Die VERDRANS GLUT stand be reits unter Dampf. Heller Rauch quoll aus dem messingverzierten Schlot. Das Fauchen des Druckkessels und das Stampfen der Kolben waren von wei tem hörbar. Die Maghalata erwartete sie bereits. Sie wirkte frisch und ausgeruht. An ihrer Seite stand Oridaix, der bullige, groß gewachsene Springer, der sich in der Stadt von wilden Abenteu ern am Festland erholt hatte. Seine beidseitig geschliffene, beeindruckend große Axt hing am breiten Gürtel. Wel ches Verhältnis er und Kythara pfleg ten, wusste Lethem nicht.
Enaa von Amenonter, die Akonin, stand ein wenig abseits. Die schmale Frau mit der dunklen Hautfarbe blickte stolz auf die Neuankömmlinge herab. Sie war eine der wenigen Be wohnerinnen von Viinghodor, die sich danach sehnten, die Spiegelwelten verlassen zu können. Eine willkom mene Helferin also und wohl aus dem richtigen Holz geschnitzt für ihre Su che nach Atlan. Was, bei Tran-Atlan, suchte Kythara bei ihnen? Warum wollte sie unbedingt mitkommen? Die Frau war rätselhaft -wie so vieles auf dieser Welt. Koejoe, der Kapitän der VER DRANS GLUT, sah mit aller Arroganz über sie hinweg. Er war sichtlich ge kränkt und seine Nase noch mehr ge schwollen. Mit auffälliger Ergebenheit folgte er der Maghalata auf Schritt und Tritt. Er würde Lethem und seinen Männern nicht in die Quere kommen. »Seid ihr bereit?«, empfing sie Kythara. »Es wird Zeit.« Mit einem Fingerzeig entließ sie den Kapitän, der dienstbeflissen davonhetzte. »Wo ist Umrin?«, fragte Lethem. »Er wollte nicht mitkommen«, ant wortete die Frau. Klang Bedauern in ihrer tiefen Stimme mit? Sie zeigte hinüber ans Ufer. Der Barde stand am anderen Ende der Mole und klimperte auf seiner Lyra. Die Leute ringsum lachten; er gab wohl wieder derbe Zoten aus sei nem Repertoire zum Besten. Als ob der Überschwere die Blicke Lethems gespürt hatte, erwiderte er Lethems Blick. Umrin winkte mit sei ner Pranke und grinste. Der Barde brüllte: »Nehmt euch vor den Frühjahrsstürmen in Acht! Und pass gut auf Kythara auf, Großer! Ihr Schicksal liegt in deiner Hand!« Lethem nickte automatisch. Es wäre
Die Savannenreiter von Vinara 49
ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Maghalata auf seine Hilfe angewie sen wäre. Zu selbstbewusst und selbst sicher wirkte die Frau. Der Lärm an Bord des Schiffes ver stärkte sich. Große, breite Wasserräder begannen sich zu drehen. Langsam tauchten die Schaufeln ins ruhige Was ser. Vertäute Seile wurden gelöst und aufs Schiffsdeck geworfen. Das Wum mern der Kolben wurde lauter und deutlich -spürbar. Ein schrilles Pfeifen ertönte. Drei mal hintereinander. Ein Zeichen des Abschieds. Die Viinghodorer winkten und schrien dem auslaufenden Schiff hinterher. Lethem sah manch besorgtes Ge sicht in der Menge. Kythara war sehr beliebt in der Stadt. »Sorgen?«, fragte Cisoph Tonk, der leise an Lethem herangetreten war. Der Arkonide zuckte zusammen und presste ein verkrampftes Lächeln her vor. »Es ist ein Aufbruch ins Unbe kannte, Cisoph. Ich fühle mich wie meine Vorfahren, als sie sich aufmach ten, den Weltraum zu erobern.« »Wir Terraner kennen dieses Gefühl nur zu gut«, erwiderte Cisoph. »Es ist keine Schande, Angst zu haben.« Angst. Das war das Wort, das Lethem pas send erschien. Die VERDRANS GLUT verließ laut vor sich hin stampfend den Hafen. 11. Atlan, 25. März bis 1. April 1225 NGZ In den ersten vier Tagen ging alles glatt. Die Nomaden wirkten dennoch' angespannt und reagierten nervös auf jedes Geräusch. Von den Nathals war keine Spur zu sehen.
»Und eben das ist ein schlechtes Zei chen, Atlan«, meinte Gamondio, als ich ihn darauf ansprach. »Wir meiden die traditionellen Karawanenwege, wo immer es geht, aber selbst der größte Tollpatsch unter den Fährtenlesern müsste mittlerweile unsere Spur auf genommen haben.« »Vielleicht haben Kanzemons Män ner gar nicht bemerkt, dass wir die Ka rawanserei verlassen haben?« Gamondio sah mich an, als würde ich hinter dem Mond leben. Bravo, Arkonide,.rührte sich mein Extrasinn, noch ein paar von diesen klugen Bemerkungen, und er verfüt tert dich an Gantschula.« Natürlich wusste Kanzemon, dass wir aufgebrochen waren. Nichts ge schah ohne sein Wissen. »Wir werden beobachtet«, sagte Ga mondio schließlich bestimmt. »Sie rei ten bestimmt parallel zu unserem Kurs.« Er deutete nach Westen zu den Hügeln. »Wenn wir mehr Männer hät ten, könnten wir ausschwärmen und den Gegner suchen.« »Was würde uns das nützen?«, fragte ich. »Nichts! Wir müssen den Na9hteil in einen Vorteil umwandeln«, über legte ich laut. »Wie meinst du das?« »Wir sind zwar weniger Reiter, aber dafür viel flexibler. Unsere Vorräte sind ausreichend, so dass wir nicht jeden Tag wie die Nathals auf die Jagd gehen müssen. Ein Tross von dreißig oder mehr Mannen braucht größere Nachtlager, hat also mehr Arbeit. Die Nathals benötigen mehr Wasser, das gefunden werden muss. Sie gehen zu dem sehr vorsichtig vor, damit wir sie nicht entdecken. Die Männer werden also viele Umwege reiten.« Gamondio sah mich nun wohl mit neuen Augen. So etwas wie Anerken
50 Michael Marcus Thurner
nung drückte sich in seinen Blicken aus. »Was empfiehlst du?« »Es ist sinnlos, Nebenrouten zu wäh len. Wir werden auf dem geraden Ka rawanenweg, auf dem wir schneller vorankommen, reiten. Damit setzen wir die Nathals noch weiter unter Druck. »Sie werden unsere Absicht durch schauen.« »Keine Frage, aber das mag ein oder zwei Tage dauern. Zeit ist ein wichtiger Faktor bei diesem Spiel.« Ich dachte nach. »Sag, Gamondio, warum hat Kanzemon noch nicht angegriffen? Worauf wartet er, wenn uns die Nathals so überlegen sind?« »Sie fürchten mich und meine Män ner«, sagte der Afalharo stolz. »Diese Leute sind die besten Krieger, die du in der Afal-Savanne finden wirst. Und wir besitzen noch dazu die erfahrenste Schamanin.« »Du meinst also, sie werden nur dann angreifen, wenn sie einen perfek ten Platz für einen Hinterhalt gefun den haben? Wenn alles für sie spricht?« »So ist es. Kanzemon ist der feigste Savannensohn unter der Sonne. Wenn er nicht von mehreren seiner Männer umringt wird, ist er ein Nichts.« »Wo könnte die Stelle sein, an der er uns überfallen wollte?« »Drei Tagesritte entfernt. Ich kenne diesen Teil der Wüste zwar nicht so gut - aber auf Höhe der Stadt Azdahan überqueren wir ein Vorgebirge mit nur wenigen Passagemöglichkeiten. Die so genannten Unsichtbaren Schluchten. Ein Hinterhalt dort erscheint mir aus Sicht der Nathals am wahrscheinlichs ten.« »Gut. Dann werden wir sie bis dahin ein wenig nervös machen. Wir erhöhen das Tempo und werden bis in die Nacht hineinreiten.«
Gamondio zog scharf die Luft ein. »Es ist gefährlich bei Dunkelheit. Die Nacht ist pechschwarz, und es gibt haufenweise Jäger, die selbst uns No maden nicht fürchten.« Ich musste unwillkürlich lächeln. Die Tulig mochten sich dem Fortschritt zwar nicht verweigern - aber sie er kannten noch lange nicht alle seine Vorteile. »Habt ihr nicht zwei Lampen in der Karawanserei erstanden, um eure Nachtlager zu erhellen? Ist euch nie der Gedanke gekommen, dass man damit auch den Weg ausleuchten kann? Und gleichzeitig gefährliche Tiere da mit verscheucht?« Der Häuptling der Afalharo war ver wirrt - und musste schließlich lauthals lachen. »Atlan«, sagte er, »mein Glaube an den Boten des Wächterordens kehrt langsam zurück!«
Wir holten aus unseren Tieren das Letzte heraus. Selbst Gantschula schien den Ernst der Lage erkannt zu haben. Dank der Petroleumlampen konnten wir den Nächten zwei Stunden am Morgen und zwei am Abend abringen. Ich war mir sicher, dass wir die Nathals damit unter Druck setzten. Sie muss ten untertags vier Stunden aufholen, das waren mehr als dreißig Kilometer. Die gleichmäßige Gangart, mit der wir die Dendibos bewegten, war ihnen si cherlich zuträglicher als das erhöhte .Spitzentempo, das die Verfolger gehen mussten. Es war ein merkwürdiges Spiel. Ein Spiel, bei dem man den Gegner nicht sah. Es wäre vermessen zu sagen, dass ich die Jagd angesichts der ernsten Si tuation genoss - aber ich fühlte mich herausgefordert. Wie würde der Gegner reagieren?
Die Savannenreiter von Vinara
51
Die Nomaden dachten in eingefahre nen Bahnen und waren von neuen tak tischen Schachzügen offensichtlich überfordert. »Dort vorne!«, rief 'Gamondio und deutete auf schroffe, parallel stehende Hügelketten. Mindestens zehn nebeneinander. Äonenlang mussten Wind und Sand an dem Gebirge gearbeitet haben, bis nur noch wenige Reste spitz und schmal hochragten. Die Berge wirkten wie Haare, die mit einem Kamm kerzenge rade nach oben gezogen worden waren. »Es gibt kein Ausweichen«, meinte der Afalharo. »Wir müssen die dritte Schlucht von Westen her nehmen. Sie bietet die schnellste Passage. Alle an deren Wege sind für die Tiere viel zu mühsam und würden uns Tage kosten.« Dendia schloss zu uns auf. Sie wirkte übernächtigt. Kein Wunder - sie fand am wenigsten Schlaf. Schließlich oblag ihr die Pflege und Fütterung der Hirschkäfer. »Wir müssen eine Ruhepause einle gen«, rief sie über den Lärm der Tiere hinweg. »Die Dendibos benötigen dringend Erholung. Vor allem deines, Gamondio ...« Der Häuptling nickte knapp. Sein Hirschkäfer, eigentlich der Leitbulle, hatte in den letzten Tagen enorm an Substanz verloren. Seine Chitinge lenke knackten bei jedem Schritt, und er zitterte immer häufiger. »Hast du , etwas gesehen, Frau?«, fragte Gamondio die Schamanin. »Ja«, antwortete Dendia. Sie hatte sich am Morgen eine besondere Kräu--termischung zubereitet und hatte dann während der ersten Stunden der Tagesetappe nahezu bewusstlos auf ihrem Tier gesessen. Es war mir ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, während ihrer Trance den Dendibo im Zaum zu halten.
»Mein Geist war bei den Nathals«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Sie sind einen halben Tagesritt hinter uns zurückgefallen. Kanzemon ist außer sich vor Zorn. Er hat einen seiner Män ner fast zu Tode gepeitscht.« »Diesmal hat er endgültig den Ver stand verloren«, 'meinte Gamondio. »Das bedeutet, dass wir sicher durch die Unsichtbaren Schluchten kommen. Danach muss der Wahnsinnige alles ris kieren - und das wird er, wenn er sein Gesicht wenigstens halbwegs wahren möchte.« »Ich habe einen Plan«, sagte ich an Häuptling und Schamanin gerichtet. »Es wird einige Stunden in Anspruch nehmen. Unsere Tiere könnten sich er holen - dennoch werden wir wertvolle Zeit gewinnen.« »Du machst mich neugierig, Atlan«, meinte Gamondio, Er ließ sein Tier an halten; langsam kam der ganze Zug zum Stillstand. »Was hast du vor?« Ich erklärte es ihm. *
Die Unsichtbaren Schluchten waren genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Schmal und mit steil nach oben ragenden Seitenwänden. Seitlich führ ten, mehrere schmale Passagen zum Hauptdurchgang hin. Es hätte hun-derte Möglichkeiten für einen Hinterhalt gegeben, und wir hätten keine Chance gehabt, wären wir nach den Nathals hier angelangt. Aber nun waren wir im Vorteil. Wir dachten sogar kurz darüber nach, selbst einen Hinterhalt zu legen. Doch die Übermacht, die uns Dendia aus ihren Visionen beschrieb, war einfach zu groß. Es mussten mehr als fünfzig Männer und Frauen sein. »Sie kommen!«, rief der ansonsten
52
Michael Marcus Thurner
schweigsame Rismelo. Er rutschte von einem der Felsen herunter. Unser bes ter Kletterer hatte die Verfolger er späht. »Gut. Wir sind fertig.« »Aufsitzen!«, befahl Gamondio. Wir eilten nach vorne zu unseren wartenden Dendibös. Sie waren äu ßerst unruhig und konnten von der Schamanin kaum noch beruhigt wer den. Ich wusste, warum. »Beeilung!«, befahl der Häuptling. Wir sprangen auf die Tiere und trie ben sie an. Die Hirschkäfer folgten an fänglich nur widerwillig unseren Be fehlen, doch nach wenigen hundert Metern legte sich ihre Unruhe. Wir folgten der schmalen Passage nach Norden. Hinter uns wurde es lauter. Die Na-thals mussten unsere Gegenwart gespürt haben. Als ich mich umdrehte, glaubte ich, eine Sandwolke zu sehen, hinter der sich die Gegner verbargen. »Schneller!«, herrschte Gamondio, der vor mir ritt, sein Tier an. Es wurde immer bockiger und unberechenbarer. Der Häuptling fluchte unbeherrscht im rauen Dialekt der Savannenreiter. Plötzlich hörten wir einen lauten zornigen Aufschrei. Dann ein weiterer Wutschrei... »Es funktioniert!«, rief ich. Wir blieben trotz aller Nervosität für einen kurzen Moment stehen und lauschten den Geräuschen, die unser Gehör erreichten. Die Dendibos der Nathals waren ste hen geblieben, und sie würden sich wohl in den nächsten Stunden nicht aus dem Labyrinth bewegen lassen. »Weiter!«, befahl Gamondio schließ lich und zeigte mir eine Geste, die An erkennung bedeutete. Dendia hinge gen grinste mich frech an. Wir hatten kleine Tümpel mit aufge
kochtem Nornen-Gift in allen Teilen des Labyrinths hinterlassen. Mehr als die Hälfte unserer Vorräte hatten wir dafür geopfert. Die süchtigen Dendi bos würden nicht zu bändigen sein, bis sie alles ausgetrunken hatten. 12.Lethem, 3. April 1225 NGZ Tagelang fuhren sie nach Westen. Ihr Ziel war die Stadt Narador in zirka zweitausend Kilometern Entfernung gewesen. Einmal mussten sie ihre Fahrt für kurze Zeit unterbrechen, um ihre Frischwasser- und Feuerholzvor räte wieder aufzufüllen. Auf Höhe der Insel Pelilara begegneten sie mehreren Schwärmen von Hybridfischen. Mit ih ren langen, insektenähnlichen Bein chen stießen sie sich immer wieder an der Wasseroberfläche ab und hüpften regelrecht übers Meer. Riesenhafte Wasserläufer, jeder mehr als fünf Meter breit, waren eben falls unterwegs. Sie ließen sich durch das Dröhnen der VERDRANS GLUT nicht stören. An einem anderen Tag musste das Dampfschiff riesigen feuerroten Tang teppichen ausweichen, an deren Ober fläche eine Kolonie Eier legender Flug echsen nistete. Lethem hatte die ruhigen Tage ge nossen. Die lauen Nächte, die er im Ge spräch mit den Viinghodorern und spe ziell mit Khytara, Ondaix und der Akonin Enaa von Amenonter verbrin gen durfte, waren ganz anders als das Leben an Bord eines .sterilen Raum schiffes. Selbst das Verhältnis zum bärbeißigen Kapitän Koejoe hatte sich normalisiert. Plötzlich, mit Urgewalt und ohne Ankündigung, war ein Sturm über sie
54
Michael Marcus Thurner
hereingebrochen. Sie befanden sich in der Meeresenge zwischen den Inseln Karan und Salan. »Ich kann das Schiff nicht auf Kurs halten!«, schrie Koejoe. »Wir müssen nach Süden ausweichen. Das Meer ent lang der Insel Salan ist ruhiger, alles andere wäre Selbstmord!« »Und wenn wir dort an Land gehen und den Sturm abwarten?«, schlug Le-them vor. »Unmöglich! Die Westseite der Insel besteht nur aus Steilküste.« Die Sicht reichte keine zehn Meter weit. Ständig brächen meterhohe Wel len über das Deck. Mit primitiven Pumpen und Eimern schöpfte die Be satzung Wasser aus dem Schiffsinne ren. Kapitän Koejoe ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das Wichtigste an Bord des Schiffes war, den Kessel tro cken zu halten. Kythara kämpfte sich gegen den Sturm näher an Lethem heran. Die Frau trug einen gewachsten, steifen Leinenumhang. Ihre Haare hingen ihr wild ins Gesicht. Selbst bei Sturm strahlte die Maghalata Würde aus. »Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen«, rief sie, während sie sich an einem der gespannten Taue festhielt. »Die Stürme um diese Jahres zeit sind unberechenbar.« • »Achtung!«, schrie Lethem. Eine haushohe Welle kam auf die VER-DRANS GLUT zu. Instinktiv griff der Arkonide nach Kythara und hielt sie fest. Das Wasser schwappte über beide hinweg, nahm Lethem für mehrere Sekunden den Atem. Das Schiff kippte spürbar zur Seite. Der Sog der Welle riss sie mit sich, leewärts. Er suchte mit den Hän den nach irgendetwas, an dem er sich festhalten konnte.
Langsam ließ der Druck der Welle nach. Als Lethem die Augen öffnete, lag er inmitten eines Wirrwarrs aus Seilen, gesplitterten Planken und den Überresten eines geborstenen Mastes. Kythara lag in seinen Armen. Für einen Moment war es ruhig. Die VERDRANS GLUT kippte in Zeitlu pentempo wieder in die Waagrechte zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte Lethem, während er sich hastig zu befreien ver suchte. Kythara lag auf seinem Schoß und blickte in die Schwärze des Himmels. »Ja«, sagte sie. »Wir sind verloren.« Lethem hielt inne. »Was meinst du?« »Merkst du es nicht? Es ist ruhig ge worden. Die Kolben bewegen sich nicht mehr. Das Feuer ist ausgegan gen.« Dann kam die nächste Welle.
Die VERDRANS GLUT wurde zum Spielball der Elemente. Als hätten sich alle Götter gegen sie verschworen, schwankte das antriebslose Schiff hin und her. Der Kapitän setzte Not- und Treibanker, die Besatzung und Passa giere pumpten permanent Wasser aus dem Schiff. Es nutzte alles nichts. Nach Stunden schlug die VERDRANS GLUT an einem vorgelagerten Riff der Insel Salan leck. Koejoe taumelte auf dem völlig zer störten Oberdeck umher, läutete wie wild eine Glocke, die im ohrenbetäu benden Sturm kaum zu hören war. »In die Beiboote!«, schrie er. »Das Schiff ist verloren!« Die Matrosen hörten auf zu pumpen und folgten ihrem Kapitän. »Zwei Bootsmänner kommen zu euch!«, schrie er Lethem ins Ohr. Er drehte sich um und versuchte, sein ei
Die Savannenreiter von Vinara
55
genes Boot zu erreichen. Hier galten wohl andere Gesetze. Er kümmerte sich weder um seine Passagiere und Besatzung, noch blieb er als Letzter an Bord. Zwei Matrosen blieben tatsächlich bei den Passagieren. Mit .sicheren Handgriffen" halfen sie der Gruppe nacheinander ins kleine Ruderboot und ließen es zu Wasser. »Kythara, Ondaix, Enaa, Cisoph, Rellum, Hurakin, Zanargun, Tasia. Alle da«, vergewisserte sich der Arko-nide, bevor er als Letzter die VER-DRANS GLUT verließ. Der Dampfer hatte bereits schwere Schlagseite; es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis er endgültig in den Fluten verschwand. Wie sollten sie in ihrer kleinen Nuss schale überleben? Es war aussichtslos., Ein hässliches Knirschen ertönte. Der Rumpf des Dampfers brach aus einander. »Schnell! Rudern!«, rief einer der Matrosen. »Nur weg vom Schiff!« Sie alle legten sich in die Riemen, ru derten quer zu den haushohen Wellen. Durchstachen sie, wurden hochgeho ben und in einen endlos scheinenden Abgrund hinabgeworfen. Weg vom Dampfschiff, weg vom Riff. Es blieb keine Zeit, den Untergang des Schiffes zu beobachten. Sie ruder-.ten um ihr Leben. Einstechen. Durchziehen. Anheben. Endlos lange.
»Aufhören!«, befahl Zanargun. Der Sturm hatte allmählich nachge lassen. Lethem hatte es nicht einmal bemerkt. Sein Überlebenswille ließ ihn die Ruderbewegungen endlos fortfüh ren.
Cisoph hielt ihn grob an der Schulter fest. »Es ist vorbei, Lethem.« Diffuses Licht umgab sie. Viele der Männer und Frauen waren erschöpft. Das kleine Boot stand gut einen halben Meter unter Wasser. Kythara schöpfte mit lahmen Bewegungen. Tasia Odu-riam, die arkonidische Medikerin, half ihr dabei. Endlich konnte Lethem seinen Griff lösen. Er betrachtete seine Hände. Sie waren schwielig und voller Blasen. »Wo sind wir?«, fragte er den Matro sen, der neben ihm saß. »Keine Ahnung«, antwortete der Seemann kraftlos. »Die Strömung hat uns wahrscheinlich weit in den Süden abgetrieben. Zur Halbinsel Maun.« »Heißt das, dass wir möglicherweise Land vor uns haben?« »Kann sein. Die Küstenlinie ist stark zerklüftet. Wir könnten uns in einer der breiten Buchten befinden. Solange es so diesig ist, kann ich nichts erken nen.« Lethems Oberarme begannen mit ei nem Mal unkontrolliert zu zittern. Die Erschöpfung und die ungewohnten Ruderbewegungen wurden spürbar. •, »Los, Leute«, sagte er halblaut, »schaufeln wir das Wasser aus dem Boot. Dann machen wir eine Bestands aufnahme.« Binnen kurzer Zeit hatten sie das Wasser aus dem Boot entfernt. Die Sonne setzte sich allmählich gegen den Nebel durch - letzte Wasserreste ver dampften. Die Sicht klarte kurz danach end gültig auf. »Tatsächlich«, sagte Zanargun. Er war aufgestanden. »Dort vorne ist Land. Wir treiben direkt darauf zu.« »Das ist eine gute Nachricht«, sagte Lethem erleichtert und blickte in die angezeigte Richtung. Er konnte ledig
56
Michael Marcus Thurner
lieh einen schmalen grauen Streifen erahnen. Der umweltangepasste Luc-cianer sah viel besser als er. »Wir haben noch keinen Grund zur Freude«, meinte Zanargun nach kurzer Pause. »Ich sehe nur Felsklippen. Dort t können wir unmöglich landen.«
In den letzten zwei Stunden hatten sie Ruhe und konnten • frische Kraft schöpfen. Sie aßen von den unverdor benen Notrationen und teilten die kar gen Süßwasservorräte auf. Die Strömung trieb sie mit Gewalt auf das Festland zu. Das Krachen der Brecher gegen das hochragende Ge stein war kilometerweit zu hören. Es war kein Landen möglich. Immer wie der mussten sie mit aller Gewalt ru dern, um nicht an der Küste mit ihrem Boot zu zerschellen. Sie fuhren an ei ner Küste entlang, wie sie wilder und lebensbedrohlicher kaum sein konnte. »Eine kleine Bucht«, rief Zanargun. Er kniete im Boot und blickte nach Sü den. »Wenn wir es durch die vorgela gerten Riffe hinweg schaffen, sind wir in Sicherheit.« Der zweite Pilot der TOSOMA spürte seine blutigen Hände nicht mehr. Das Salz hatte die Haut aufgerieben. Sie steuerten das kleine Boot gegen die Strömung trotz aller Widrigkeiten. Die Gruppe hatte nur npc_h_ihr Ziel vor Augen - die kleine Sandbueht.^Fünfzig Meter vor der Bucht ragten einige spitze Felsen aus dem Wasser. Sie wa ren das letzte Hindernis, das es noch zu überwinden galt. Zanargun lenkte mit kräftigen Schlägen seines Ruders, gab den Kurs vor, korrigierte mit seinen Bärenkräf ten, wo auch immer es notwendig war. »Wir schaffen es!«, schrie er. »Wir
sind gleich durch! Ein wenig nach Backbord, mehr noch ... mehr, sage ich!« Ein Knirschen und Scharren er klang. Ein Geräusch, so hässlich, dass es durch Mark und Bein ging. In weni ger als einer Sekunde war das Boot aufgeschlitzt, von einem Felsen, so spitz wie eine Nadel. Die scharfe Kante des Felsens trennte einem der Matro sen ein Bein ab. Blut. Schreie. Wasser. Lethem wurde emporgeschleudert. Er flog nieterweit durch die Luft und fiel ins Wasser. Ihm .blieb keine Zeit, Luft zu holen. Der Arkonide spürte, wie ihn ein Sog packte und hinabzog. Dann war nichts mehr. Zwischenspiel: Li da Zoltral
Tagelang war sie auf ihrer Suche durch die unendlich scheinenden Gänge der Plattform geirrt. Gefahren hatten an allen Ecken und Enden ge lauert. Täuschungen, Trugbilder, Irri tationen hatten sie mehrmals vom Ziel abgehalten. Es" handelte sich, wie sie wusste, um mehrdimensionale Ein flüsse, die sich dem Verstand entzogen. Li da Zoltral wurde von Spinnenro botern angegriffen und von mutierten, verkrüppelten Gestalten gejagt. Alle waren ihr feindlich gesinnt, versucn-ten sie, den Fremdkörper, von der Plattform zu vertreiben. Doch Li da Zoltral besaß etwas, das ihre Gegner nur zu geringem Teil oder gar nicht zur Verfügung hatten: Ver stand. Immer wieder hatte sie sich wehren oder entwischen können. Sie hatte sich von ihren Nahrungsmittel konzentraten ernährt, hatte in Lö
Die Savannenreiter von Vinara 57
ehern geschlafen und war allen Gefah ren ausgewichen, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes getan hätte. Völlig unerwartet hatte sie den Schaltraum der Plattform ausfindig gemacht und mit Hilfe ihres Gürtel-Zubehörs geöffnet. Sie loggte sich in den Speicher der Plattform ein und begann, Daten auf einen winzigen Datenträger zu überspielen: Ortungsinfor-mationen über den so genannten Kristallmond und seine Beschaffenheit. Ihr Wissen wurde bestätigt, der Kristallmond bestand nahezu komplett aus kristallisierter, erstarrter Psi-Materie. Einige wenige Fakten über psimate-rielle Kristallsplitter, die aus dem Mond herausgeschlagen und ins All beschleunigt wurden. Daten über den Kurs der Plattform. Sie näherte sich dem Mond, würde ihn scheinbar unausweichlich treffen, Bilder von mysteriösen, grellweißen Lichtsäulen, die vom Kristallmond hinab auf seinen Planeten zuckten. Nach zehn Sekunden brach die Da tenübertragung ab, ihr Zugriff wurde bemerkt! Li da Zoltral hörte etwas. Jemand näherte sich. Schleifende, unheimliche Töne wurden immer lauter ... 13. Atlan, 3. April 1225 NGZ
Die Tage vergingen, und unser Vor sprung schmolz erneut dahin. Ich musste zugeben, dass ich unsere Verfolger unterschätzt hatte. Kanze-mon blieb uns zäh auf den Fersen. Er schonte weder sich noch seine Begleiter. Hass war die Triebfeder des Savannenreiters. Hass und das Faktum, dass er und seine Männer religiöse Eiferer waren.
Die Unerfahrenheit, mit der ich und der Archivar unsere Dendibos dirigier ten, machte sich bei zunehmender Er schöpfung von Tier und Reiter be merkbar. Immer wieder verloren wir wertvolle Minuten, wenn einer der Afalharo uns in die Zügel fahrenmuss te. Minuten summierten sich rasch zu Stunden. Die Afal-Savanne war eben wie ein Brett. Kein Hügel oder Berg be schränkte die Sicht über die trockene Ebene. Die Monotonie der Landschaft war zu unserem ständigen Begleiter geworden. Seit geraumer Zeit konnten wir un-serfe Verfolger am südlichen Horizont ausmachen. Das bedeutete, dass die Nathal-Nomaden auch uns entdeckt hatten. Die Tulig-Nomaden wurden lang sam nervös. Es waren npch zwei Tages etappen bis zum Obsidiantor. Ich trieb Gantschula mühselig ne ben Gamondios Reitkäfer. »Wir müs sen uns trennen«, rief ich dem Häupt ling zu. »Jörge und ich halten euch nur auf.« Der kleine Mann machte eine ein deutige, verneinende Geste. »Wenn wir uns trennen, müssen die Nathals ihre Streitmacht aufteilen«, versuchte ich ihm das Angebot schmackhaft zu machen. »Das erhöht eure Chancen im Nahkampf. Außer dem sind wir kein unnötiger Ballast mehr für euch. Selbst wenn die Nathals uns einholen, bedeutet das noch lange nicht, dass sie uns etwas antun wer den ...« »Spare dir die Worte«, sagte der Häuptling gereizt. »Kommt nicht in Frage. Ihr reitet mit uns, also seid ihr Tulig. Ihr gehört nun zum Stamm, So sieht es auch Kanzemon. Er wird euch
58
Michael Marcus Thurner
die Haut bei lebendigem Leibe abzie hen, sobald er euer habhaft wird.« Der Häuptling dieses stolzen Volkes würde uns niemals schutzlos in der Wüste zurücklassen. »Weißt du, ob es in der Nähe einen Ort gibt, an dem wir uns verschanzen und verteidigen können?« Ich trank aus meinem schmal gewordenen Was sersack. In den letzten Tagen war keine Zeit geblieben, nach kostbarem Nass zu suchen. Die Vorräte gingen langsam zur Neige. »Nein«, entgegnete Gamondio zö gernd. »Doch!«, sagte Dendia, die nunmehr auf gleicher Höhe mit uns ritt. »Lüge den Boten nicht an!« »Die Ruinen sind gefährlich, Scha manin ...« »Was für Ruinen?«, fragte ich, neu gierig geworden. »Die Ruinenstadt, Einen knappen Tagesritt von hier entfernt.« »Dendia, bitte ...« »Halte du dich da raus, Garnondio! Atlan hat das Recht, zu erfahren, was .wir wissen.« Sie hustete laut und sprach schließlich an meine Adresse gewandt weiter: »Die Ruinenstadt von Ardaclak. Sie liegt kurz vor dem Obsi-diantor. Man sagt, dass dort schreckliche Dinge passieren. Es gibt Geschichten und Legenden, die so abstoßend sind, dass ich es noch nie wagte, meinen Geist .dorthin zu schicken.« »Dann werden auch die Nathals die sen Ort meiden«, überlegte ich. »Vermutlich...« . »Gut. Können wir es bis dorthin schaffen, bevor uns die Nathals einho len?« Gamondio rang bewegt nach Worten. Der sonst so bodenstämmige Mann hatte panische Angst. Er schaute nach unseren Verfolgern. »Mit etwas Glück.
Der Ewige Litrak muss uns gewogen .sein.« »Dann wollen wir ihm nicht die ganze Arbeit alleine überlassen. Ma chen wir Tempo! Vorwärts!« Mit einer Mischung aus Furcht und neu erweckter Hoffnung folgten mir die Nomadenreiter.
Das Glück war nicht auf unserer Seite. Nach wenigen Kilometern begann Gantschula einseitig zu lahmen. Ihre Chitinbeine knirschten mit jedem Schritt. Sie zirpte laut. Ein Schmer-zenslaut, der mich immer wieder zusammenzucken ließ. Wenig später brach Gamondios Tier zusammen. Das Tier war bis zum letzten Moment seines Lebens gegan gen und schließlich im Stehen gestor ben. Gamondio sprang hinab; ballte die Hand. Es sah aus, als wolle er gegen den gepanzerten Leib des toten Dendi-bos schlagen - stattdessen ließ er sich zu Boden fallen. Er weinte. Jörge blickte betreten zur Seite, während die anderen Afalharo abstie gen und dem Häuptling tröstend zur Seite standen. Wie schon so oft in meinem langen Leben fühlte ich mich hilflos. Minutenlang trauerten die Tulig. Plötzlich zuckte Dendia zusammen. »Seht da vorne!«, rief sie. Ich folgte ihrem ausgestreckten Zei gefinger mit meinem Blick. Schmale, zwanzig Meter hohe Felsen ragten ungeschützt in die Höhe. Und davor wogte die Erde, wie das Wasser des Ozeans. Termiten! Acht bis zehn Zentimeter
Die Savannenreiter von Vinara 59
lange Wesen, denen wir bereits einmal begegnet waren. »Genjis!«, schrie Dendia. Ihr lauter Ruf weckte die anderen Af alharo aus der Starre. »Schnell weg von hier!« Die Dendibos, die bislang ruhig wa ren und scheinbar das Schicksal ihres Artgenossen mit betrauert hatten, rea gierten von einem Moment zum nächs ten panisch. Ein einziger Moment der Unachtsamkeit konnte in dieser le-bensfeindlichen Landschaft über Leben und Tod entscheiden. Gantschula stieg auf den Hinterläu fen hoch, zirpte erneut voller Schmerz. Ich hielt mich fest, klammerte mich an das Geschirr. Es nutzte alles nichts. Das Hirschkä fer-Weibchen gebärdete sich wie wild. Das Näherkommen der Termiten weckte in ihr und ihren Artgenossen Instinkte, denen mit meinen beschei denen Dressurfähigkeiten nicht beizu kommen war. Mein Griff lockerte sich zusehends. Mit aller Mühe klammerte ich mich fest, bis Gantschula zumindest für ei nen Moment wieder auf allen Beinen stand - und ließ mich fallen. Ich rollte ab, sprang zur Seite, aus der direkten Gefahrenzone des umher bockenden Dendibo-Weibchens. Hochgewirbelter Sand versperrte mir die Sicht. Ein brauner, wogender Teppich kam schnell auf mich zu. Die Tiere kletterten übereinander, schoben sich in eine Stoßrichtung vorwärts, als ob sie mit einem Gehirn dächten. »Jörge!«, rief ich. »Dendia! Gamon-dio!« Gleichzeitig begann ich zu laufen, so schnell ich nur konnte. Mit Schrecken dachte ich an die Ereignisse wenige Tage zuvor. An die hundeähnlichen Scaffrans, die von den Termiten binnen
weniger Augenblicke besiegt und da-vongeschleppt worden waren. »Atlan!« Ein Hilferuf. Rechts von mir. Es klang wie Jorges Stimme. Ich änderte die Laufrichtung und stolperte fast über den Terraner, der sich vor Panik nicht bewegen konnte. Es blieb keine Zeit. Ich riss ihn nach oben und zog ihn mit mir. Ich spürte, dass er selbst zu laufen begann, und lockerte meinen Griff. Ein kurzer Blick zurück ließ mich fast erstarren. Das braune Meer schwappte wie die Flut über das Land hinweg. Ein markerschütternder, hoher Schrei ertönte. Es hatte einen der Den dibos erwischt. Mein Atem wurde kürzer. Der Terra-.ner neben mir war ebenso ausgebrannt. Ich musste ihn wieder mit mir ziehen. Ein Sprint über zweihundert Meter in glühender Hitze raubte auch der kräftigsten Natur alle Kräfte. Wohin nur? Nirgendwo gab es Schutz vor den Termiten. Unmittelbar vor uns ragten Felsen. Nur wenige Meter hoch - vielleicht war das unsere Rettung. Ich zerrte und schleppte Jörge mit mir, schob ihn über das rutschige Ge stein hinauf. Die Geräusche hinter uns wurden ohrenbetäubend laut. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, sondern kämpfte mich die Felsen hin auf. In einer Höhe von zirka vier Me tern erreichten wir eine flache Kuppe. Ich rang um Atem, spürte, wie der Zellaktivator-Chip heftig arbeitete. Wir waren in Sicherheit. Nicht ganz, meinte der Extrasinn la pidar, und ich hasste ihn dafür. Langsam senkte sich der aufgewir belte Sand. Von allen Seiten näherten sich Ter
60
Michael Marcus Thurner
miten. Sie bedeckten eine Fläche von gut und gern fünfhundert Quadratme tern, und immer noch strömten Heer scharen der Insekten nach. Sie gehorchten einem einzigen Be fehl. Sie stapelten sich übereinander, krabbelten aufeinander, immer höher; verwendeten ihre fragil wirkenden Leiber, um sich an • uns heranzuschie ben. »Ihr Mistviecher!«, schrie Jörge ne ben mir, völlig außer sich. Er packte ei nen flachen Stein, sicherlich mehr als vierzig Kilogramm schwer, und stieß ihn hinab ins braune Meer. Wie ein Wahnsinniger warf er alles hinunter, dessen er habhaft werden konnte. Er tötete vielleicht eine Hundert schaft von ihnen, möglicherweise gar tausend. Eine Million rückte nach. Der Archivar gab auf, ließ die Schul ter hängen und blickte mich an. »Du hast mir etwas versprochen!«, sagte er anklagend. Was sollte ich nur machen? Was sollte ich nur sagen? Dass ich versagt hatte? Jörge drehte mir den Rücken zu. Dann kamen sie - die Termiten ...
Sie töteten uns im Gegensatz zu den Dendibos nicht sofort. Weiße Kokonfä den umfingen uns. Sosehr wir uns auch wehrten, die Sekretbänder spannten sich immer enger um Arme und Beine. Hundertschaften klammerten sich an uns fest, krabbelten über unsere Kör per. Jörge erwischte es zuerst. Er stürzte mitten hinein in das Gewirr der Termi ten. Ein letzter, erstickter Schrei, dann war von ihm nichts mehr zu hören. Wenige Sekunden später brachten
die Genjis auch mich zu Fall. Ich plumpste in eine weiche und dennoch kratzige Masse. Ich verlor jegliches Gefühl, als ich sekundenschnell einge puppt wurde. War es das? Das Ende?
Die Termiten transportierten mich über ihre Rücken hinweg zu ihrem Bau. Tausendfach knackte es unter mir, als Insekten unter meiner Last zerbra chen. Mund, Nase und Augen waren frei geblieben. Warum, konnte ich nicht sa gen. Ich schwebte über den braunen Wellenteppich hinweg, in einer Stim mung, die ich einfach nicht zu be schreiben vermochte. Der Gedanke, in einer Vorratskammer als Nahrung auf bewahrt zu werden, hatte etwas Gro teskes an sich. Kurz bevor ich in den größten Bau geleitet und in Seitenlage gedreht wurde, glaubte ich für einen kurzen Moment mehrere Dutzend Savannen krieger aufeinander, einschlagen zu se hen. Vielleicht waren es die Tulig und die Nathals, die ihren letzten Glau benskrieg untereinander ausfochten. Eigentlich war es egal. Ich wurde nach unten getragen, hinab durch enge Gänge, bis ich in ei nem zwei Meter hohen Raum zu liegen kam. Ein trügerisches Halbdunkel um gab mich. Mörderischer Gestank durchzog die künstliche Höhle. Am an deren Ende des Raumes lag eine Ge stalt, die sich bewegte. Jörge! Daneben Knochen, Fleischreste, aufgebrochene Schalen - und ein weiterer, großer Ko kon. Die Termiten zogen sich zurück. Ehrerbietig und respektvoll - so hatte es zumindest den Anschein.
Die Savannenreiter von Vinara
61
Es näherte sich die Königin. Ihre Körpergröße maß über einen Meter. Sie sonderte permanent grünen Schleim aus ihren Mundwinkeln ab. Sie war hungrig, sehr hungrig... Epilog: Sardaengar Die Katastrophe war nahe. Sehr nahe. Zu nahe. Er wusste zudem nicht, wie er das Auftauchen Atlans deuten sollte. Auch mit dem anderen Wesen, das er mit seinen Sinnen erfasst hatte, konnte er nichts anfangen. Immer wieder sah der Uralte Sardaengar nach oben/ Hinauf in den Himmel. Beobachtete die Explosionen
und Einschläge, fühlte allumfassende Verzweiflung. Plötzlich ein neuer Sinneseindruck: grellweißes Licht, das aus dem Mond wuchs, mühelos eine Brücke zum Pla neten schlug und irgendwo in der Ferne endete. Zwischen den Gipfeln des Ograhan-Gebirges blieb die Lichtsäule bestehen. Für lange Zeit. Sardaengar konnte den Blick nicht lösen. Etwas schlich sich in sein Wesen, hüllte ihn in Licht und Hitze. Der Kris tallmond schien von einem Augenblick zum nächsten zum Greifen nah. So nah, als füllte er ihn aus, befände sich in seinem Kopf ... Die Silbersäulen im Land Mertras glommen plötzlich auf...
ENDE
Atlan und sein Begleiter versuchen die Geheimnisse der Obsidian-Welten
zu entschlüsseln.
Auf ihrer gefahrvollen Reise zum Obsidiantor begegnen sie dem rätselhaften
Tamiljon, der sich ihnen anschließt.
' TAMILJON ... so heißt der Roman über die weiteren Abenteuer Atlans und seiner Begleiter aus der Feder von Susan Schwartz. Band vier dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.
Atlan Obsldlan - erscheint zweiwöchentlich in der Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Internet: www.vpm-online.de. Redaktion: Sabine Krapp, Postfach 2352, 76413 Rastatt. Titelillustration: Dirk Schul?. Druck: VPM Druck KG, 76437 Rastatt, www.vpm-druck.de. Vertrieb: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf, Postfach 5707, 65047 Wiesbaden, Tel.: 06123/620-0. Marketing: Klaus Bollhöfener. Anzeigenleitung: Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rainer Groß. Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 29. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und. nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf Ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m.b.H., Niederalm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskript sendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Mai 2004. Internet: http://www.Perry-Rhodan.net und E-Mail:
[email protected] Eltwelheft-Nachbestellungen richten Sie bitte an:TRANSGALAXIS-Buchversand, Postfach 1127,61362 Friedrichsdorf/ Taunus. Lieferung erfolgt gegen Vorauskasse (zuzügl. ⁄ 3,- Versandkosten, Ausland ⁄ 5,50) oder per Nachnahme (zuzügl. ⁄ 5,50 Vereandkosten).