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Buch Wieder und wieder haben der Krieger Hawkril und seine Gefährten, die junge Zauberin Embra, der kleine Dieb Craer und Fürst Schwarzgult, das einst blühende Land Aglirta gegen üble Magier und machtbesessene Aufrührer beschützt, doch jetzt werden sie mit einer neuen Gefahr konfrontiert, die nicht nur das Reich, sondern auch die ganze Welt bedroht: Eine mysteriöse Seuche breitet sich in Windeseile aus, die ihre Opfer in Raserei versetzt und schließlich in den Wahnsinn treibt. Zugleich agieren die übrig gebliebenen Anhänger der Schlange im Geheimen, um eine neue Schlange zu beleben und so doch noch die Macht an sich zu reißen. Unterstützt von der Zauberin Tschamarra, steht dem Ring der Vier seine größte Herausforderung bevor. Autor Ed Greenwood, geboren 1959 in Toronto, hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die FantasyLeser und Rollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst, unter anderem den populären Zyklus »Die Legende von Elminster«. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario.
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Ed Greenwood
Die Schattenpriester Der Ring der Vier 4 Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger
BLANVALET
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Dragon’s Doom. A Tale of the Band of Four (vol. 4)« bei Tor Books, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2004 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Ed Greenwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustratjon: Agt. Schlück/Maitz Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24295 Redaktion: Cornelia Köhler Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler UH · Herstellung: Heidrun Nawrot Made in Germany ISBN 3-442-24295-9 www.blanvalet-verlag.de
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Für Brian, der mir geholfen hat, alles auf die Reihe zu bekommen.
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Esse tuam videri Alle, welche das alte Aglirta kannten, Werden bereits wissen, was als Nächstes geschah. Denn das Volk war unzufrieden, Die Fürsten nicht besser als zuvor, Hinterlistige Zungen flüsterten im Lande Schwarze Magie verführte jene, Welche nach ihr strebten und sie wirkten Ohne je den Griff ihrer gierigen Hände zu lockern Um jedes beliebige Jahr in Aglirta Es sich könnte handeln So seid dankbar für die Barden und Herolde Welche auf das ach, so schöne, Aber offensichtlich von den Göttern verfluchte Tal schauen Denn wenigstens sie verhelfen uns Zu einem unverstellten Blick auf all das Unheil. Jalrek Halanthan, Schriftgelehrter aus Sirlptar: EINE JAHRESROLLE ÜBER AGLIRTA
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Prolog C In der Abenddämmerung peitschte ein heftiger, unerwarteter Regen über die Häuserdächer von Sirlptar, angetrieben von einem aus Richtung Hafen blasenden Wind. Das Klappern der Dachziegel unter den Windböen übertönte fast die gewohnten klagenden Töne aus den Kaminschächten, welche den »Seufzenden Wasserspeier« weithin berühmt gemacht hatten. Flaeros Delkamper vermochte kaum die Töne seiner Harfe zu vernehmen. Aber da es sich hier um seinen ersten bezahlten Auftritt als neu ernannter Hofbarde von Treibschaum handelte, sang er mit aller Entschlossenheit weiter. Aber als er jetzt die Stimme hob und den Refrain seiner neuesten Ballade über die Herrin der Edelsteine und den Fall der Schlange sang, wusste er ganz genau, dass er sich die Mühe hätte sparen können. Nicht ein einziger Gast in der Schänke hörte ihm zu. Jeder der Besucher des Wasserspeiers hatte sich über den Tisch gebeugt, auf welchem sein Krug stand, und redete eifrig oder hörte gebannt zu. Das Stimmengewirr klang alles andere als fröhlich.
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»Schon wieder ist ein Jahr vergangen, und ist irgendetwas in Aglirta besser geworden?« »Tja, die Ernte ist spärlicher denn je ausgefallen, die Hälfte der guten Männer im Land ist tot, und sie verrotten in ihren Gräbern, wo sie doch pflügen oder mähen sollten – und jetzt haben wir auch noch einen Jungen zum König!« »Hmm. Kein Anlass zur Freude, aber er kann kaum schlimmer sein als das, was wir bislang hatten – Zauberer und Fürsten, Fürsten und Zauberer, Schurken einer wie der andere!« »Ja, das stimmt. Zauberer sind schon immer böse und gefährlich gewesen – das liegt ihnen im Blut, bei der Dreifaltigkeit!« »Und was passiert, wenn wir jeden Zauberer, welcher uns über den Weg läuft, mit der Heugabel aufspießen? Welchem unserer großartigen Herren Fürsten können wir trauen, ohne dass er nach Gutdünken Schläge austeilt? Sie sind alle kleine Tyrannen, welche die allerverkommensten Könige aus den alten Geschichten vor Neid erblassen lassen würden!« »Und so sitzen wir hier, werden mit jedem Jahr immer dünner und immer weniger, während um uns herum ihr Wahnsinn tobt und Aglirta ausblutet.« Ein leerer Humpen wurde auf einen Tisch geknallt, und sein Besitzer seufzte aus vollem Herzen, ballte hilflos die Faust und fügte bitter hinzu: »Und die große Hoffnung der einfachen Leute, Blutklinge, war dann schließlich auch nicht besser als der Rest.« Ein alter Schreiber nickte. »All unsere Träume sind ausgeträumt und zerstört worden«, sagte er traurig, »und niemand schert sich darum.« Ein Viehtreiber bedachte Flaeros mit einem solch giftigen
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Blick, dass die Finger des Sängers die Saiten verfehlten. »Und jetzt haben wir irgendeinen hergelaufenen Jungen zum König«, grollte der Mann, »und seine vier zahmen Hochfürsten durchsuchen das Hinterland nach Zauberern und Fürsten, welche die Waffen gegen ihn erhoben haben – und wer kümmert sich um uns?«
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Eins
Wie man ein Königreich erobert C Das Rasseln von Schlüsseln weckte ein Echo in dem dunklen, von Steinmauern umgebenen Ort, dann öffnete sich kreischend eine schwere Tür und ließ den Schein einer Fackel in eine feuchte Dunkelheit fallen, welche seit Jahrzehnten gewährt hatte. Der alte Thannaso, der sich um die Schlösser und Scharniere kümmerte – und die Fesseln, welche auf dem riesigen Rad innen an der Wand warteten und jetzt im zuckenden Licht der Flammen glitzerten – und dafür sorgte, dass alles gut geölt wurde, war so blind wie ein Maulwurf und benötigte deshalb kein Licht für seine Arbeit. Ein sich geschmeidig bewegender schlanker Mann in hautengen Gewändern aus weichem, rauchgrauem Leder hielt die Fackel hoch und über seine Schulter. Auf seinem dunklen, gut aussehenden Gesicht spielte so etwas wie ein Lächeln, als er in alle Ecken der Zelle spähte. Hoch oben an der Südwand sickerte ein wenig Wasser herein und rann glitzernd den Stein herunter, aber abgesehen
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von einer kleinen davonhuschenden Schar von Spinnen gab es hier keinen Eindringling. Craer Delnbein galt als einer der besten Beschaffer von ganz Asmarand ... was heißen soll, dass er nach viel zu vielen Jahren voller Eskapaden, welche für ein Dutzend Diebe ausgereicht hätten, immer noch am Leben war. Wenn Craers glänzende Augen keinen Eindringling erblickten, dann gab es auch keinen. Die Frau, die sich an seinen Ellenbogen lehnte, erspähte ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Sie war in etwa so groß wie Craer und bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit an seiner Seite, welche auf enge Vertrautheit schließen ließ, aber sie war keine Diebin. Die Zauberin Tschamarra Talasorn stammte aus einer stolzen Sirlptarer Familie und war die letzte Überlebende ihres Blutes – und ihre Zunge nahm es an Schärfe mit ihrem Geist auf, wie Craer gefesselt, aber durchaus auch auf seine Kosten feststellen musste. Seine Freundin trug Kleider, welche denen von Craer glichen, aber aus Schimmergewebe und Seide bestanden und das Licht der Fackel ebenso zurückwarfen wie ihre großen, wachen Augen. Auch sie entdeckte nichts Bedrohliches in der Zelle, allerdings richtete sie mit zusammengepressten Lippen einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf die Last, welche hinter ihr her getragen wurde. Bei der Last handelte es sich um einen großen, stämmigen, teuer gekleideten Mann, der in einer stocksteifen Haltung eingefroren zu sein schien, einmal abgesehen von den vor Zorn sprühenden Augen, welche Blicke wie Pfeile hierhin und dorthin schossen in dem Versuch, möglichst viel zu sehen, weil ihr Besitzer genau weiß, dass er binnen kurzem
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kaum noch die Gelegenheit haben wird, überhaupt noch etwas zu erkennen. Ein muskelbepackter Ritter von hünenhafter Gestalt trug den steifen, unbeweglichen Mann, unterstützt von einem kaum kleineren älteren Kämpen, welcher die Beine des Opfers festhielt und sich mit der selbstverständlichen Autorität eines geborenen Befehlshabers bewegte. Hawkril Anharu hatte das Gemüt eines sanften Riesen, solange man nicht die Klinge im Kampf mit ihm kreuzte. Er trug den Gefangenen so mühelos, als sei der so leicht wie eine Feder, und er musste sich bücken und seine breiten Schultern beugen, um durch die schmale Tür der Zelle zu passen. Er erinnerte unzweifelhaft an einen liebenswerten Bullen in Rüstung. Das einst rabenschwarze Haar des älteren, Rüstung tragenden Mannes hinter ihm schimmerte inzwischen grauweiß. Aber Ezendor Schwarzgult – vormals in ganz Aglirta als schneidiger, kriegerischer »Fürst Schwarzgult« und übersättigter Adliger und Verführer von Frauen von nobler wie auch niedriger Geburt bekannt, sah immer noch gut aus ... und war noch genauso wachsam wie Craer an der Spitze der Gruppe, welche das Verlies betrat. Ein Schimmern zuckte über den Kopf des Gefangenen, welches viel blasser leuchtete als der Schein der Fackeln – ein magisches Glühen, das von einem gesprenkelten Stein ausging, welchen eine große, schlanke Frau am Ende der Gruppe auf der Handfläche trug. Sie hatte die Stirn leicht gekräuselt und behielt unablässig den Gefangenen im Auge. Einst hatte man Embra Silberbaum als die Herrin der Edelsteine gekannt mit den aufwändig geschmückten Gewändern,
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aber jetzt gab sie schlichten ledernen Reithosen, Soldatenstiefeln und einem offen stehenden Seidenhemd den Vorzug. Ihr langes schwarzes Haar floss ungebändigt über ihren Rücken wie ein kurzer Umhang, und die Menschen in Aglirta kannten sie am besten als die mächtigste Zauberin des Landes. Wie ihre Gefährten trug sie den Titel eines Hochfürsten von Aglirta, und genau wie die anderen erfüllte sie an diesem Tag eine unerfreuliche, aber notwendige Pflicht. Sie ließ den in dunkle Gewänder gehüllten Gefangenen keinen Augenblick aus den Augen, als Hawkril den Mann mit den eingefrorenen Gliedmaßen mit den Stiefeln nach oben aufrecht hinstellte, als wöge der nicht mehr als ein paar Blütenblätter. Craer und der Fürst Schwarzgult zupften und zerrten eifrig an nach unten baumelnden Fesseln, und der zierliche Beschaffer probierte den kleineren der beiden Schlüssel aus, welche Thannaso ihm zusammen mit den beiden Handschellen übergeben hatte. Sie schlossen und öffneten sich ohne Schwierigkeiten, und nachdem Craer dem Fürsten zugenickt hatte, befestigte er sie an den Handgelenken ihres Gefangenen. Schwarzgult half ihm mit verschränkten Händen, sich nach oben zu schwingen, so dass der Beschaffer weiter oben angebrachte Fesseln erreichen und den Gefangenen mit den Füßen nach oben an dem großen Rad an der Zellenwand befestigen konnte. Ein Beben durchlief die Glieder des Mannes, als er auf diese Weise gefesselt wurde – bei den Göttern, dieser Mann musste ein halber Drache sein, so wie er sich trotz der Dwaer-Magie wehrte! –, und Embras Lippen entschlüpfte ein schmerzlicher Seufzer. Hawkril warf ihr einen raschen Blick zu, während er von dem in Ketten gelegten Mann zurücktrat.
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Aber durch die Schweißbäche hindurch, welche ihr ungehindert übers Gesicht liefen, antwortete sie mit einem beruhigenden Lächeln. »Ich bin bereit«, murmelte die kleinere, dunklere Frau neben Embras Ellbogen, und die Zauberin schnappte nach Luft, nickte und gab der Gefährtin mit einer Geste zu verstehen, sie solle fortfahren. Ruhig wirkte Tschamarra Talasorn einen Zauber, trat währenddessen vorwärts und streckte die Hände zu beiden Seiten des Kopfes des gefesselten Mannes aus – gerade eben außerhalb des flackernden Schimmers von Embras Dwaer-Zauber. Der Schimmer wurde sofort schwächer und verging schließlich ganz – nur um durch einen viel helleren, goldfarbenen Schein ersetzt zu werden, welcher aus Tschamarras Fingern floss. »Spart Euch die Mühe«, sagte der angekettete Mann eher erschöpft als verbittert. »Ich werde nicht versuchen, irgendetwas zu tun – nicht mit einem Dwaer-Stein so dicht vor meiner Nase, welcher mich jeden Augenblick in tausend Fetzen reißen oder mein Hirn wie Spucke in einem zischenden Feuer verdampfen lassen kann. Ich bin des gelegentlichen Ehrgeizes schuldig, nicht abgrundtiefer Dummheit.« »Wohl gesprochen. Im Lauf der Jahre steigen Zauberer im Tal auf und fallen auch wieder«, erwiderte Fürst Schwarzgult, »die Schlange kehrt zurück, und die Gesichtslosen und die fremden Magier prallen aufeinander und schmieden üble Pläne – und dennoch lebt der Herr der Fledermäuse weiter. Mächtig genug, um diejenigen zurückzuschaudern, welche mit Gewalt nach Eurer Macht greifen, und klug genug, um nicht irgendwem in die Falle zu gehen.«
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»Mit Ausnahme der euren, Bande der Vier – und Schwarzgult. Oder seid Ihr gar ein Mitglied, werter Fürst, und dieses Weib, dessen Magie mich bezwang, ist die Außenseiterin? Ich habe nichts darüber gehört, dass der Jüngling von einem König neue Hochfürsten ernannt hätte ... aber andererseits hatte ich nicht genug Muße, viel von dem zu hören oder zu sehen, was in letzter Zeit im Tal vor sich ging, da ihr Jagd auf mich machtet. Und wenn ich, wie ihr behauptet, so klug bin, keinen falschen Schritt zu tun, warum diese Verfolgungsjagd und diese Gefangennahme? Ich war mir nicht bewusst, die junge Majestät brüskiert zu haben. Welchen Zwist hat er mit mir?« »Keinen, welcher der Rede wert wäre, Huldaerus«, erwiderte der Fürst Schwarzgult grimmig. »Aber Eure Macht stellt eine Gefahr für Aglirta dar, und sie ist von der Sorte, welche wir nicht länger übersehen können. Mit emsigen Gestaltwandlern und Dutzenden von Gefahren, welche nach wie vor den Flussthron wie gezückte Klingen bedrohen, ist es an der Zeit, höchste Zeit sogar, das ganze Reich zu durchforsten und die Feinde der Krone einzusammeln ... oder Zauberer, welche sich weigern, vor König Raulin niederzuknien und ihm die Treue zu schwören. Eure Weigerung fiel, wie Ihr zugeben müsst, reichlich eindrucksvoll aus.« Er unterzog eine der Ketten einer eingehenden Prüfung. »Wenigstens sammeln wir Feinde ein, bevor sie mit Schwertern oder flammenden Zauberbannen in den Händen im Thronsaal auftauchen.« Der Herr der Fledermäuse verzog das Gesicht. Seine Hände zitterten, während er verstohlen, wenn auch vergeblich versuchte, sich von den Ketten zu befreien. »Wenn ich also jetzt geradewegs die Treppe hochgehe,
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den königlichen Pantoffel küsse und die richtigen Worte sage, dann bin ich ein freier Mann? Sicherlich wäre es einfacher gewesen, zuerst das auszuprobieren, bevor –« »Nein, Arkle Huldaerus«, sagte die Fürstin Silberbaum leise, aber bestimmt. »Die Dinge verhielten sich anders, wenn Ihr Euer Versprechen ernst meintet und Eure Treue aus ganzem Herzens und ehrlichen Gemüts schwören könntet; aber dieser Dwaer-Stein kann Zauber hervorrufen, welche ich weder zu wirken wage noch mir zutraue, und er hat mir eine Sache sehr eindringlich mitgeteilt, und das mehr als einmal seit Eurer Gefangennahme: Ihr verspürt kein Fitzelchen Treue oder aufrichtiges Gefühl dem König gegenüber, ganz zu schweigen von Aglirta.« »Deshalb also habt ihr mich pausenlos dazu aufgefordert, die Lehnstreue zu schwören, oder mich gefragt, ob ich das wollte oder könnte«, murmelte der angekettete Zauberer, und aufgrund der Tatsache, dass er mit dem Kopf nach unten hing, war sein Gesicht tiefrot angelaufen. »Und ich dachte schon, ihr triebt irgendeinen Spott mit mir.« »Nein«, erwiderte Embra gelassen, »Ihr habt nichts in dieser Richtung gedacht. Ihr glaubtet, wir probierten eine neue Art Zauber an Euch aus, um Euch zum Treueid zu zwingen. Ihr habt zudem geglaubt, Ihr hättet in uns einen Haufen Narren vor Euch, welche allein ihre Dummheit davon abhält, zu Tyrannen zu werden. Und dass zudem der Dwaer in unseren Händen Verschwendung sei und Ihr Euch bis jetzt äußerst klug verhalten hättet, weil Ihr Euch zurückhieltet, als die Schlange und der Drache auf Treibschaum ihre Kräfte maßen, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten davor. Und dann dachtet Ihr, dass Ihr klug genug wärt, den letzen Sturm
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von Dummheit unsererseits zu überstehen und Euch mit Unterstützung der drei Fledermäuse zu befreien, welche Ihr sogar jetzt noch bei Euch verborgen haltet.« »Gute Güte, dieser abscheuliche Steinklumpen zeigt Euch wirklich alles, nicht wahr?«, erwiderte der Herr der Fledermäuse eher müde denn spöttisch. »Drei Fledermäuse?«, entfuhr es Craer. »Wo denn? Ich habe ihn wirklich ganz sorgfältig von Kopf bis Fuß abgetastet, und verflucht soll er sein, wenn es ihm gelungen ist, auch nur eins der kleinen Biester vor mir zu verbergen. Wo bei der Dreifaltigkeit hat er sie versteckt?« »In diesem Moment«, antwortete Embra, »sind sie unter seinen Handfesseln, wo das Metall sie am besten vor uns verbirgt. Und davor, als Ihr ihn durchsuchtet, waren sie an einem dunklen Ort, wie wir alle ihn haben und welcher dazu dient, das loszuwerden, was unsere Körper von sich zu geben bereit sind.« »Warum«, murmelte Tschamarra, »überrascht mich das kein bisschen?« Sie sah zu, wie Craer einen langen Dolch unter eine der Fesseln gleiten ließ und mit der Klinge rasch rund um die gefesselten Handgelenke fuhr. Für einen Augenblick kam ein dunkler Flügel in Sicht, und dann brach sein Besitzer an der anderen Seite der Fessel heraus – und zerbarst zu blutigem Nebel, welcher sich blitzschnell in Rauchfäden verwandelte, als Embra die Stirn runzelte, eine Hand hob und ihr Dwaer aufflammte. Vor Zorn verdunkelte sich das Gesicht des angeketteten Mannes, aber er verzichtete auf einen weiteren Kampf. Craer scheuchte die anderen beiden Fledermäuse ans Licht, und sie
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nahmen ein ähnliches Ende wie ihr Vorgänger. »Er kann noch mehr von diesen da hervorzaubern, oder?«, murmelte er, zupfte an den dunklen, stark zerknitterten Gewändern des Zauberers und hielt seinen Dolch bedeutungsvoll in die Höhe, aber Embra schüttelte den Kopf. »Nein, Craer«, meinte sie. »Ich werde nicht so grausam sein, einen Mann nackt und frierend im Dunkeln zurückzulassen mit dem sicheren Tod binnen zweier Tage vor Augen.« »Nein«, sagte der Zauberer tonlos, »Ihr werdet nur grausam genug sein, mich hier von allen vergessen verhungern zu lassen, bis meine Knochen einer nach dem anderen aus diesen Fesseln auf den Boden dort unten fallen – falls nicht irgendwelche Nagewürmer in diesem Verlies hausen oder andere nette, mich willkommen heißende Biester, die zum Fressen herauskommen, sobald Ihr die Fackel wegnehmt.« »Mir gefällt das beinahe genauso wenig wie Euch«, warf Ezendor Schwarzgult ernst ein, »das könnt Ihr mir glauben. Oder auch nicht, das ist Euer Recht. Ihr werdet regelmäßig zu essen bekommen, und zwar nach oben gedreht, und wir werden Euch von Zeit zu Zeit besuchen und Fragen stellen – und vielleicht, sofern Euer Betragen dies gestattet, einige Neuigkeiten über die Ereignisse im Tal mit Euch teilen.« »Ihr seid euch dessen bewusst«, fragte der Zauberer ruhig, während sein Blick von einem Gesicht zum anderen wanderte, »welch gefährlichen Feind ihr euch macht, oder etwa nicht?« »Huldaerus«, erwiderte die Herrin der Edelsteine kühl, »wir wissen, welch ein gefährlicher Feind Ihr bereits jetzt seid. Ihr mögt Eure zufälligen Grausamkeiten in Indraewyn und danach vergessen haben – da sie Euch so wenig zu bedeuten
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scheinen –, aber ich habe das keineswegs.« Augen, in welchen zuckende Flammen der Wut loderten, bohrten sich in die ihren, aber die Stimme ihres Besitzers klang ebenso eisig wie die von Embra kurz zuvor. »Und deshalb ist es jetzt an der Zeit, einige zufällige Grausamkeiten an mir auszuprobieren. Ist es das, was Ihr im Sinn habt?« »Ich kann Euch mit einem Zauberbann belegen, welcher Euch in Träumen gefangen hält, wenn Ihr das wollt«, antwortete die Herrin der Edelsteine sanft. »Es wird Euch so erscheinen, als verginge keine Zeit, wenn Ihr nicht gerade von jemandem ganz bewusst aufgeweckt werdet.« »Nein«, sagte der Herr der Fledermäuse entschlossen, »ich möchte lieber hier hängen und nachgrübeln. Vielleicht gelingt es mir, meine Narretei einzusehen und am Ende sogar König Raulin Burgmäntel ins Herz zu schließen, wenn ihr mich lange genug hier lasst. Vielleicht.« »Ihr weist einen Bann des Traumschlafes zurück«, vergewisserte sich Tschamarra Talasorn bedächtig. »Seid Ihr Euch dessen gewiss, dass Ihr das wirklich wollt, Zauberfürst?« »Ziemlich gewiss, edle Herrin«, antwortete der mit dem Kopf nach unten am Rad hängende Mann höflich. »Ich bin der Gefangene des Königs, festgenommen und in die Kerkerhaft gebracht von seinen ergebenen Hochfürsten, und mir wurde die Freiheit geraubt, Aglirta sicherer zu machen. Ich möchte Zeit haben, um darüber nachzudenken.« »Sehr gut. Wir werden uns zurückziehen und Euch Euren Gedanken überlassen«, erklärte Fürst Schwarzgult und wandte sich zum Gehen. Craer musterte den angeketteten Mann sorgfältig und er-
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blickte, womit er gerechnet hatte: Huldaerus öffnete den Mund, um etwas zu sagen – irgendetwas –, um nicht ihrer Gesellschaft verlustig zu gehen. Daraufhin folgte das, was er als Zweites erwartet hatte: Der Zauberer schloss den Mund, ohne ein Wort geäußert zu haben, und bemühte sich, wieder eine unbewegte, undurchdringliche Miene zu zeigen. O ja, der Herr der Fledermäuse war gut in dem, was er tat. Nachdem sie sich mit ein paar kurzen, wortlosen Blicken verständigt hatten, waren sich die Bande der Vier und Tschamarra einig und gingen gleichzeitig zur Zellentür. Hawkril und Craer zogen sich nach hinten zurück, die Hand am Schwertgriff, um ihren Gefangenen genau beobachten zu können. Er starrte sie geradewegs an, und sein ausdrucksloser Blick kam beinahe einer Herausforderung gleich. Als Craer sich anschickte, die Zellentür zu schließen, wobei sich die Fackel in seinem Rücken befand, so dass sich Dunkelheit in der Zelle verbreitete, sah er, dass sich der Mund des gefangenen Zauberers verzerrte, da er anscheinend damit rechnete, dass Craer ihn zum Abschied verspotten würde. Craer schüttelte den Kopf und sagte so sanft wie eine Amme: »Ich wünsche Euch alles Gute, Arkle Huldaerus.« Die schwere Zellentür fiel krachend ins Schloss, und der Herr der Fledermäuse war allein in der eisigen Dunkelheit. Kein Königreich, das viele sich zu beherrschen wünschen würden. Der Zauberer wartete und lauschte angestrengt dem immer schwächer werdenden Stiefelknirschen hinterher, während sich um ihn herum die Dunkelheit schwer und undurchdringlich niederließ.
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Er wartete ab und gewöhnte sich langsam und allmählich an die leisen, schwachen Töne seines neuen Zuhauses. Das Flüstern des am Stein niederrieselnden Wassers, das kaum wahrnehmbare Echo seines eigenen Atems. Und er wartete. Als er schließlich zu dem Schluss gelangte, dass genug Zeit verstrichen sei und junge, überschwängliche Hochfürsten des Königreichs unmöglich geduldig genug sein konnten, um noch länger vor der Tür eines Gefangenen herumzulungern, von welchem sie wussten, dass er hilflos war, murmelte Arkle Huldaerus das Wort, welches den Zauber freisetzte, den er ein Dutzend Jahre zuvor gewirkt und durch all die Unruhen hindurch bis zum heutigen Tag bereitgehalten hatte. »Maerlruedaum«, sagte er seelenruhig in die Dunkelheit und ertrug gelassen das kriechende Gefühl, welches gleich darauf folgte. Haare lösten sich aus seiner Kopfhaut und wanden sich schlangengleich an seinen gefesselten Gliedmaßen empor zu der Stelle auf seinem linken Schienbein, wo das Beinkleid unter seinem Stiefel so sorgfältig von seinem eigenen Blut durchtränkt worden war: einer Stelle, wo der dunkle Stoff sich bereits regte und wellte und sich aufrichtete ... Drei Fledermäuse erhoben sich von dem in Ketten gelegten Zauberer, schwirrten auf seinen Befehl hin wie zur Bestätigung an seinem Gesicht vorbei, und der Herr der Fledermäuse lächelte in die Finsternis. In der Tür gab es ein Guckloch, so dass jemand von außen die Gefangenen betrachten konnte, und binnen weniger Augenblicke würden seine drei kleinen Spione draußen und in den Verliesen von Treibschaum herumschwirren, um zu lauschen und zu beobachten. Er würde sich große Mühe geben müssen, um dafür
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zu sorgen, dass man sie nicht bemerkte, während er herausfand, wohin der kleine Dieb Delnbein diese Schlüssel zurückhängte, aber – Plötzliches Feuer explodierte in seinem Geist, und in dem alles zerreißenden Schmerz spürte er, wie erst die eine, dann die andere Fledermaus in Stücke gerissen wurde. Verzweifelt versuchte er, die letzte mit seinem Willen zu packen und sie zurückzureißen von ... von ... »Nicht besonders geschickt, Herr der Fledermäuse«, flüsterte Embra Silberbaums Stimme in seinem Kopf, als die letzte seiner Fledermäuse ins Nichts verging. »Ich hatte kaum die Zeit, es mir draußen gemütlich zu machen.« Wütend schlug der gefesselte Zauberer mit seinem Willen nach der Zauberin aus und versuchte, sie von der Stelle hinter seinen Augen wegzuschleudern, aber die Magie, welche in ihn gefahren war und an den Bindegliedern seines eigenen Bannes zurücksprang, hinterließ auf ihrem Weg sengende Todespein, und er fiel, vor Furcht zusammengekrümmt ... »Ich bin nicht hier, um Euch den Geist wegzubrennen«, erklärte die Herrin der Edelsteine klar und deutlich, »oder um Euch Qualen zu bereiten, Huldaerus – sondern um Euch Erleichterung von jeglicher Art von Magie zu bringen, welche Ihr bereithaltet, um Unheil damit anzurichten. Meinen Dank dafür, dass Ihr mir einen so bequemen Weg in Euren Geist zur Verfügung gestellt habt. Das bedeutet, dass ich genug von Eurem Verstand übrig lassen kann und Ihr immer noch Ihr selbst seid und in ein paar Jahren wieder Magie wirken könnt.« »Gnade«, zischte der angekettete Zauberer, und seine Stimme klang verzerrt, da in ihm Furcht und Hass miteinan-
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der stritten. »Ich – ich bitte Euch darum, Frau!« »Das war aber mal eine äußerst charmante Bitte. Aber beruhigt Euch, Huldaerus. Ich bin nicht hier, um Euch persönlich irgendeinen Schaden zuzufügen, sondern lediglich, um mich um mögliche andere kleine Überraschungen zu kümmern, welche Ihr für uns bereithalten mögt, und zwar ... da.« Der Herr der Fledermäuse verspürte mehrere winzige, eisige Stöße, als einmal mehr vorbereitete Zauberbanne hervorgezwungen, dann zerbrochen und hinweggespült wurden, bevor sie Schaden anrichten konnten. Dann schien ein Vorhang in seinem Geist zurückzuschwingen, und ihm bot sich der Anblick des hellen, sonnenüberfluteten Tals von Treibschaum kurz nach Tagesanbruch, und wie an jedem Tag stahlen sich die letzten Nebelschwaden über dem mächtigen Silberfluss davon wie dahinhastende Geister. An der ersten Flussbiegung kamen die winzigen Gestalten von Frauen, welche zum Wäschewaschen hergekommen waren, in Sicht. Der Zauberer starrte sie an und versuchte, ihre Gesichter zu erkennen und in all ihrem fröhlichen Gelächter ein paar Worte zu verstehen, als eine Wasserhaspel flink wie ein Pfeil über ihre Köpfe hinwegflog, und ... »Ich überlasse Euch diesem Anblick, auf dass Ihr darüber nachgrübeln könnt«, erklang Embras Stimme in seinem Kopf, und zwar mit so viel Wärme und Nähe, dass Arkle Huldaerus ob ihrer Herzlichkeit erschrak. Das und der Schlag mit der von Craer geschwungenen Bratpfanne, welcher ihn Stunden zuvor mitten in einem Zauberbann und umringt von der Bande der Vier niedergestreckt hatte, erschütterte den Zaubermeister mehr als alles,
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was er im vergangenen Jahr erlebt hatte. Ein Zittern überlief den hilflosen Magier. Und dann war sie verschwunden, und er fand sich allein in der Dunkelheit der Zelle wieder. Ganz und gar allein, enthüllte sich ihm der letzte seiner vorbereiteten Zauber, und ihm stand keine Fledermaus mehr zur Verfügung, deren Augen er sich bedienen konnte. Er versenkte sich ein weiteres Mal in den Anblick des Silberflusses, und er konnte die Nebelschwaden beinahe riechen und das fröhliche Geplapper beinahe verstehen – und wieder stieß er das Bild wütend von sich. Die Zeit würde kommen, da er den Trost dieses Anblicks brauchen würde, um nicht der Verzweiflung oder sogar dem Wahnsinn anheim zu fallen. Zurzeit gab es Wichtigeres, über das er nachdenken musste. Die Schlampe hatte wenigstens Wort gehalten und davon abgesehen, sein Gehirn zu zerblasen und ihn in einem Zustand zurückzulassen, in welchem es ihm nicht mehr möglich war, Zauber zu wirken oder zu wissen, wer er war. Oh, er wusste nur allzu gut, wer er war. Nämlich ein hilfloser, von Zaubern durchdrungener Magier, der mit dem Kopf nach unten in einer Gefängniszelle tief unter dem Palast von Treibschaum hing. Die Vorboten eines fürchterlichen Andranges nachtschwarzer Kopfschmerzen machten sich jetzt bemerkbar, als der Widerhall der Bratpfannenschläge dank des in seinen Schädel strömenden Blutes immer lauter und dröhnender pochte. Der Herr der Fledermäuse fletschte die Zähne und spuckte eine einzige wütende Beleidigung in die ihn umgebende Dunkelheit. Zorn und Schmerz rangen miteinander und trugen in seinem Inneren Kämpfe aus, während er da so schwer in den
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Ketten hing. An einigen Stellen fühlte er überhaupt nichts, an anderen ein Pochen. Von Zeit zu Zeit laut stöhnend, trieb Arkle Huldaerus in einen stürmischen Sog und ließ sich einmal in diese, dann in die andere Richtung ziehen ... Er schlief, jedenfalls glaubte er das. Allerdings schien es so, dass er nicht lange allein in der Dunkelheit gehangen hatte, als um ihn herum wieder Licht aufflammte. Dieses Mal handelte es sich um ein blauweißes Glühen, welchem die Wärme von Feuerschein fehlte. Es strömte aus der gegenüberliegenden Zellenwand, wo bislang nichts als Schwärze geherrscht hatte, und es bewegte sich. Bewegte sich? Huldaerus starrte auf den Schein. Schlief er noch und schaute auf ein Traumgebilde, oder hatte diese Silberbaumschlampe – oder die andere, ihre tückische Begleiterin – sein Gehirn mit Zauberbannen umnebelt, um ihn zum Reden zu bringen? Der Schein hatte jetzt eine Gestalt angenommen und trat ruhig aus der soliden Steinmauer – die Gestalt eines Skeletts mit zwei winzigen Sternen kalter Flammen, welche in seinen Augenhöhlen flackerten. Die Augen schauten den Zaubermeister an, und der angekettete Mann wusste, dass ein altes, bösartiges Bewusstsein hinter diesen Flämmchen lauerte, eine Heiterkeit, welche nichts Gutes über die Absichten welcher Kreatur auch immer verhieß, die sich dahinter verbarg. Eine Hand, deren Knochen alle klappernd hätten zu Boden fallen müssen, winkte ihm nachgerade leutselig zu, knöcherne Füße scharrten über den Zellenboden, und die Hand winkte noch einmal in seine Richtung, und dann schmolz das Skelett in die wartenden Steine, das Schimmern wurde schwächer und schwächer, und dann war es verschwunden.
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Arkle Huldaerus blinzelte in die Dunkelheit, die sich jetzt wieder rabenschwarz vor seiner Nase ausbreitete, schüttelte den Kopf und seufzte. Das war kein guter Tag gewesen, und der morgige hielt auch keine besseren Aussichten bereit. Beinahe beneidete er das Skelett um die Freiheit, durch Wände gehen zu können. Trotz der eisigen Kälte in dem höhlenartigen Raum glänzte der kahle Schädel des jungen Mannes vor Schweiß. Der mit Schlangenköpfen geschmückte Saum seines Gewandes mit dem hohen Kragen wirbelte um nackte Füße, als erwachte Magie weißes Feuer um die Knöchel tanzen ließ, wobei ihr Schimmer über den spiegelglatten Boden des riesigen Raums tanzte. Ein Muster aus ineinander verschlungenen Schlangen mit aufgerissenen Mäulern schmückte seine weiten Ärmel, und auf dem glänzenden Fleisch seiner Unterarme und der Handrücken glitzerten Schuppen. Der Mann machte zwei wohlüberlegte Schritte nach vorn, wobei er leise vor sich hin sang, und riss die Hände hoch, als wolle er eine große Kugel aus Luft umfangen. Weiße Blitze flossen zögerlich aus seinen Fingerspitzen, um diese Kugel zu formen ... und um sie herumzuwirbeln ... und sich dann rankengleich um den Schlangenpriester zu winden und schließlich zu einem still wütenden, blendend hellen Glanz anzuschwellen. Das immer heller werdende Licht spiegelte sich in den aufmerksamen Augen der Schlangenpriester wider, welche ein ganzes Stück von dem Zauberbanne wirkenden Priester entfernt reglos auf zwei Reihen von Bänken dicht an der Wand des Raums saßen.
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Der kalte Schein wurde noch heller, als die Magie, welche ihn erweckt hatte, an Stärke zunahm – das Licht blitzte auf und dehnte sich aus, wurde zu sich langsam drehenden Spiralen von Tentakeln um den Priester herum ... und verschmolz dann zu schlangenartigen Körpern, welche ganz und gar aus Blitzen bestanden. Aus den Schlangenkörpern sprossen Schlangenköpfe, die wieder und immer wieder um den Priester herumglitten in einem wogenden, immer schneller werdenden Tanz. Die zuschauenden Priester gaben keinen Laut von sich, aber einige unter ihnen beugten sich neugierig nach vorn. Wie gebannt beobachteten sie die rasch aufeinander folgenden Zauber, welche in gleißender Helligkeit aufloderten, wobei sich einer über dem anderen aufbaute und der Priester in der Mitte Beschwörung nach Beschwörung herausschrie. Seine Stimme dröhnte laut vor Zuversicht, seine Finger krümmten sich wie wütende Schlangen und woben Zauber auf Zauber in immer rascherer Folge. Weiße Blitze umhüllten die Gestalt des Priesters, zogen sich in dicken Strängen über ihm zusammen, bis es so aussah, als ob ein regelrechter Wald aus ständig größer werdenden Schlangen ihren Schöpfer liebevoll umkreiste. Ihre ineinander verschlungenen Kräfte hoben den Priester langsam in die Höhe, bis der mannshoch über dem Boden auf leerer Luft stand, wobei seine Finger nach wie vor wilde Zauberbanne wirkten. Jeder neue Bann fuhr nach oben und dehnte sich bis zur hohen Decke aus. Die sich entfaltenden Zauberbanne schienen an etwas zu ziehen, was dort oben unsichtbar in der Dunkelheit hing und spinnwebdünne Kraftlinien herunter-
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schickte – Kraftlinien, welche zu kaltem, hellem Feuer aufblühten, sobald sie die lautlos rasenden Schlangen berührten, die der einsame Priester heraufbeschworen hatte. Im Herzen des Lichts keuchte und stammelte er weiter Zauberbanne. Schweiß strömte an seinem Körper herab, seine Finger zitterten, und sein Körper erschauerte, als versuche er, den reißenden Sturmböen standzuhalten. Ein Zauberbann zerstob zu einem Funkenregen, dann erfolgte ein plötzliches, kurzes Gemurmel – teils bestürzt, teils zutiefst befriedigt – seitens der zuschauenden Priester, als sich der kahlköpfige Mann zusammenkrümmte, verzweifelte Worte schrie und in die Luft griff, als wolle er ein herbeistürzendes Ungeheuer abwehren. Funken fielen nieder, dann erfolgte eine weitere Explosion, zuerst hell, dann schwarz. Funken stoben in alle Richtungen, und der Zauber wirkende Priester schluchzte verzweifelt. Eine Explosion nach der anderen riss die tanzenden Schlangen in eine sich rasend schnell drehende Wolke. Im flackernden Herzen wedelte der einsame, schweißüberströmte Priester wie wahnsinnig mit den absurd lang gewordenen Fingern und versuchte, mit einer Stimme, welche plötzlich wie eine Art lautes Zischen klang, Worte zu schreien. Eine gespaltene Zunge fuhr zwischen sich verzerrenden Lippen hervor, während die Blitze in Richtung Decke schossen und sich dort zu vielen hell leuchtenden Schlangenköpfen formten – die dann alle gleichzeitig zuschlugen und mit beängstigender Geschwindigkeit auf den wild gestikulierenden Mann niederfuhren. Der kahlköpfige Priester schrie angesichts dieser Zähne aus Licht laut und gellend auf. Seine plötzlich langen und gum-
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miartigen Arme hoben und senkten sich hilflos in dem hell brodelnden Schein – und gingen dann in hoch auflodernde Flammen auf. Der Mann schrie wieder, tanzte grotesk in der brüllenden Feuersbrunst, sein Fleisch zerschmolz und wurde mit schrecklicher Schnelligkeit von den Knochen gebrannt. Kleinere Explosionen blühten auf und umhüllten den zuckenden Körper, und jede setzte einen Zauber des todgeweihten Priesters frei und verwandelte sich in eine gespenstische weiße Schlange aus flackernder Macht, welche sich unheimlich still krümmte und vorwärts wand. In dem unheimlichen Kreis sich wiegender, sich zusammenringelnder Schlangen tanzte der sterbende Priester weiter, während die Flammen sein Fleisch verzehrten. Seine Schreie wurden immer undeutlicher, schwächer und leiser, bis er schließlich immer noch zuckend hilflos zu Boden sank, wobei es ihn immer noch auf schreckliche Weise vor- und zurückriss wie eine Stockpuppe, welche auf dem Jahrmarkt zur Freude der Kinder rasend schnell um die eigene Achse gewirbelt wird. Auf dem Boden ausgebreitet schmolz der Priester rasch, bis nur noch schiere Knochen übrig waren – und als nur noch ein Skelett dalag, tanzten die befreiten Zauberbanne, welche um ihn herumglitten, auf ihn zu und rollten sich in die sich in der Hitze verkrümmenden Knochen hinein und wieder heraus. Wo sie eindrangen, spaltete sich Gebein, zerfloss zu Rauchfäden, veränderte und ... verdrehte sich ... Von dem Skelett blieb bald nicht mehr übrig als ein brennender Schädel über einem Wirbel aus taumelnden Knochenresten, welcher unter dem Einfluss der gespenstischen Zau-
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berbanne die sich krümmende Gestalt einer Schlange annahm. Die schwindende Schlange ringelte sich zusammen, bäumte sich bedrohlich auf – und der Schädel auf ihr explodierte in eine Wolke aus Knochenstaub. Die Knochen darunter verschwanden, und inmitten des Zusammenbruchs erhoben sich die letzten glühenden Streifen Magie, schwebten zu was auch immer hoch, was da oben hoch über aller Köpfe im Dunkel der Decke hing. Dort schimmerten sie für einen wirbelnden Augenblick um einen gesprenkelten, handgroßen schwebenden Stein, welcher allein mitten in der Luft hing. Die Magie leuchtete auf und sank in den Stein, und danach war kein Lichtschimmer mehr zu sehen. Als erneut Dunkelheit die Decke verbarg, wendeten die beobachtenden Priester den Blick von den verschwundenen Fäden von Magie ab, pressten entschlossen die Lippen zusammen und seufzten – einige wehmütig, aber erheblich mehr durchaus erleichtert. »Dieser Fehler kam nicht unerwartet«, sagte ein Mann in die Stille, und seine kalte Stimme klang laut, fest und hart. »Sollen wir fortfahren?« Ein anderer Priester hob eine Hand. »Das sollten wir – und nun, da Guldhart uns verlassen hat und seine Prahlereien und Ansprüche mit ihm, ist eine Sache ganz klar: Keiner von uns verfügt über die Macht, um den Thrael zu beherrschen. Die Große Schlange ist nicht zu uns zurückgekehrt. Noch nicht.« Ein dritter, viel jüngerer Priester fragte: »Könnte nicht jeder von uns ein paar Thrael-Zauber wirken, auf dass wir sie zusammenfügen und auf diese Weise aus unseren eigenen
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Reihen einen Rat stellen? Muss es denn ein einzelner Mann sein?« Der erste Mann erhob sich und antwortete: »Ich höre nicht nur Eure Stimme, Lothoan, sondern die Eurer ganzen Art: der Jungen, Eifrigen und Rastlosen unter uns Brüdern, welche nach Macht dürsten und nicht die Schwierigkeiten von Veränderungen sehen, solange sie uns nur so schnell wie möglich mehr Macht verleihen. Hört mir jetzt alle zu, die ihr noch nicht trocken hinter den Ohren seid. Hört und lernt.« Caronthom, der Reißzahnmeister, drehte sich langsam um und musterte eindringlich all die in Roben gehüllten Männer auf ihren Bänken. Keine Frau befand sich unter ihnen; er selbst und die Messer der älteren Priester, welche seine Meinung teilten, hatten dafür gesorgt. Weibliche Priester waren bösartig und verräterisch, wenn auch verlockend; wenn es zu offenem Unfrieden kam, blieb immer noch Zeit genug, welche zu ernennen, zumal solche Eigenschaften den Brüdern nützlich sein und zu guter Letzt als Begründung dienen mochten, die Frauen zu töten, sollte es sich denn als notwendig erweisen. »Die Schlange, welche uns alle hervorbrachte, ist niemals ein Gott gewesen. Sie war zunächst ein sterblicher Mann, ein großmächtiger Zauberer – so wie alle seine Nachfolger, Große Schlange auf Große Schlange. Keiner unter uns drängt sich besonders danach, einem Tyrannen zu dienen, aber genau so muss es sein. Nur einer unter uns kann jeweils der Herr des Thrael sein. Sobald er gewirkt ist, besteht der Thrael als ein Netz aus Magie, dessen Ausschläge viele unter jenen töten, welche mit ihm verbunden sind, falls jemand den Versuch unternimmt,
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dem Schöpfer die Kontrolle über den Thrael zu entreißen oder einen zweiten Thrael zu wirken, welcher mit dem ersten in Berührung kommt. Wenn wir zur Großen Schlange beten, dann wird unsere Anrufung über den Thrael an ihn weitergeleitet, und diese Anrufungen kann die Große Schlange hören. Falls es ihr gefällt, dann schickt sie uns Zauberbanne zurück oder Heilzauber oder schiere Energie, welche sich aus ihrer eigenen Macht speist – und das ist unser aller Macht, die wir vom Thrael berührt sind. Und unser Leben und das eines jeden Opfers, welches wir dem Ritual folgend töten, stärkt den Thrael und die Große Schlange, und sie gibt uns Macht zurück. Falls es ihr gefällt. Vergebt mir meine deutlichen Worte, aber es ist an der Zeit, sogar allerhöchste Zeit, dass ihr die Wahrheit hört ohne all den heiligen Unsinn, mit welchem wir sie immer verhüllen müssen, um dieses allerhöchste Geheimnis vor jenen zu verbergen, welche einem Laienglauben folgen.« Caronthom seufzte, warf den Kopf in den Nacken und fuhr fort: »Und so sage ich es noch einmal: Die Schlange war einst ein Mensch und kein Gott. Große uralte Magie bewirkt die immer wiederkehrenden Erscheinungen der Schlange und die des Drachen, welcher sich ihr entgegenstellt. Göttliche Magie, wenn euch das besser gefällt – Magie, welche wir nicht länger verstehen und auch nicht zu beherrschen, zu vergrößern oder zu zerstören wissen. Die Schlange gab uns ihre Lehren, die Geheimnisse der Thrael-Zauber und wie sie wirken – und die geheiligten Schriften über das, was sich vorher ereignete als Lektion für uns alle, was wir zu tun und zu lassen haben, um Macht zu gewinnen.« Er schritt langsam an den Bänken vorüber und begegnete
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unverwandt den Blicken einiger unter den darauf sitzenden Priestern. Dann fügte er hinzu: »Deshalb ist dieser Rat zusammengekommen. Wie immer, wenn wir nach größerer Macht in Aglirta streben, müssen wir unsere Verschwörung planen, daran arbeiten und sie verfeinern – denn kein Gott leitet uns. Wir alle haben beobachtet, wie Ghuldart das Wagnis einging und scheiterte und so seinem Schicksal anheim fiel – und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass, wenn man seine übermäßig ehrgeizige Torheit beiseite lässt, Ghuldart der zuversichtlichste und mächtigste Sucher in unseren Reihen gewesen ist, die wir alle danach streben, den Thrael zu beherrschen. Keiner von uns verfügt über ausreichend Macht, diese Zauberbanne zu überleben.« Der zweite Priester erhob sich. »Jedes Wort, welches Ihr sprecht, ist die reine Wahrheit, Caronthom. Selbst dem Jüngsten, Ruhelosesten und Grausamsten unter uns sollte klar sein, dass die dringlichste Aufgabe dieser Versammlung jetzt feststeht.« Er begann ebenfalls, an den Bänken vorbeizuschreiten. »Ihr kennt mich als Raunthur den Weisen. So vernehmt denn meine jüngste Einsicht und nehmt sie als nichts als die reine Wahrheit. Wir kamen hierher, um darüber zu beratschlagen, wie wir die Macht im Tal gewinnen könnten, vermochten aber keinerlei Beschluss zu fassen, solange Ghuldart nicht zum Rang der Großen Schlange aufgestiegen war. Sein Versagen bedeutet, dass wir einen Zauberer finden und für unsere Zwecke einspannen müssen, welcher mächtig genug ist, um die neue Große Schlange zu werden, auf dass wir zu guter Letzt Aglirta erobern. Jeder unter uns – selbst
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wenn wir vor allen anderen Dingen gegen die Beamten und die Autorität des Königsjünglings arbeiten – muss nach passenden Männern suchen, damit wir unseren Anführer finden. Um mit den Worten der Alten Viper zu sprechen, welche Caronthom und mich anleitete: ›Der Tyrann, welchem wir alle zu gehorchen haben, muss gefunden werden.‹« Einer der jüngeren Priester rutschte unruhig auf der Bank hin und her, und Caronthom stürzte sich nachgerade auf ihn. »Ja, Thuldran? Sprecht!« Der junge Priester lief rot an und senkte den Blick. Die beiden älteren Männer stellten sich Seite an Seite hin und starrten ihn an. Nachdem der jüngere eine ganze Weile unbehaglich den Blicken begegnet war, die Augen niedergeschlagen und dann wieder aufgeblickt hatte, musste er feststellen, dass sie ihn noch immer musterten. Widerstrebend meinte Thuldran: »M-mir gefällt das nicht. Wir sollen einen Fremden dazu einladen, über uns zu herrschen? Und einen möglichen Verrat riskieren, gar nicht zu reden von einer Herrschaft, an welcher vielleicht keiner unter uns Gefallen fände?« »Gut gesprochen«, antwortete Raunthur. »Natürlich ist keiner glücklich angesichts der Lage. Es ist ganz richtig, einem Fremden weder zu trauen noch ihn als unsere Große Schlange zu wünschen. Wir älteren Priester wissen ganz genau, dass wir den richtigen Fremdling wählen müssen, um Unheil zu verhindern. Ihn zu finden und ihn dazu anzuleiten, dieses Amt, nämlich über uns zu herrschen, auszuüben, wird weder rasch noch einfach vonstatten gehen.« »In der Zwischenzeit«, warf Caronthom ein, »seid euch dessen bewusst, dass wir die Bruderschaft unbarmherzig von
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jedem fehlgeleiteten Ehrgeiz säubern werden. Wir Älteren sind Magier von einigem Rang; diejenigen, welche dies nicht von sich behaupten konnten, sind umgekommen. Wir mögen uns vor dem Thrael krümmen, aber solange die Große Schlange ihn nicht von neuem errichtet hat, werden wir die Bruderschaft regieren. Sprecht frei von der Leber weg, disputiert nach Herzenslust – aber gehorcht, wenn wir Befehle erteilen, oder wir werden euch niederschmettern. In diesen Zeiten ohne Anführer sind Verrat und Hader in unseren Reihen Schwächen, welche wir uns nicht leisten und die wir auch nicht dulden können. Beherzigt meine Worte oder sterbt.« Angespannte Stille breitete sich zwischen den Bänken aus. Raunthur lächelte still in sich hinein. »Damit will ich nicht sagen, dass wir von irgendeinem unter euch verlangen, im Verborgenen zu hocken und darauf zu warten, dass der Ruf einer neuen Großen Schlange ertönt. Ganz im Gegenteil. So wie wir uns hier versammelt haben, sind wir immer noch die stärkste und klügste Kraft in ganz Aglirta, und wir werden nicht dem Müßiggang frönen. Wenn aufbrausende Tölpel von Fürsten Macht im Tal ausüben können, dann vermögen wir das ebenfalls.« »Und deshalb«, fügte der alte Priester ruhig hinzu, »wünschen wir von jedem von euch, dass er uns bei unserem vordringlichsten Plan hilft, nämlich den Königsjüngling zu stürzen. Einige unter euch, daran hege ich keinen Zweifel, haben bereits kleine Hinweise auf das erlangt, um was es uns geht. Mehr als einer von euch ist in dieser Angelegenheit des ausgiebigen Spionierens schuldig, und von jetzt an werde ich ein solches Verhalten mit dem Tode bestrafen. Um übermächti-
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ger Neugierde zuvorzukommen: Ihr werdet, bevor ihr diesen Ort verlasst, mit einem Zauber ausgestattet. Andere werden folgen, und Mitbrüder der Schlange werden sie euch mit genauen Anweisungen überbringen, wann sie anzuwenden sind und wann nicht.« Zum ersten Mal gestattete sich der alte Priester, welcher so viele unter den Anwesenden ausgebildet hatte, ein Lächeln. »Der erste Zauber verunreinigt Trinkbares mit etwas Ähnlichem wie dem Gift einer seltenen Schlangenart, nur viel stärker. Die meisten, die davon trinken, verfallen dem ›Übel des Wahnsinns‹, von dem in den alten Zeiten geredet wurde, der Blutpest, welche ihre Opfer dazu bringt, andere umzubringen, bevor sie ihr selbst erliegen. Wenn ihr sie unter den Aglirtanern verbreitet und noch dazu die Worte ›göttliche Strafe für Missherrschaft‹ flüstert, dann wird das dazu beitragen, die Herrschaft von Treibschaum zu schwächen. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sich alle von euch das ganze Tal hinauf und herab an der richtigen Stelle befinden und daselbst die Macht übernehmen.« Raunthur erhob die Stimme. »So viel zu unserem Plan – und jetzt lasst eure mannigfaltigen Spionierereien sein. Ihr alle werdet ohnehin die sich zur rechten Zeit enthüllenden Einzelheiten erfahren. Salaunthus?« Ein alter Priester mit einem von Narben gezeichneten Gesicht erhob sich von seiner Bank, nickte ehrerbietig Raunthur und Caronthom zu, räusperte sich und erklärte steif: »Meine Versuche haben Erfolg gezeitigt. Die Zauber, mit welchen ich gearbeitet habe, vermögen nun die Auswirkungen des Giftzaubers zu brechen, und noch dazu wiederholt und zuverlässig. Ich – äh – mehr habe ich nicht zu sagen.« Er setzte
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sich wieder. Der Herr der Giftzähne nickte. »Arthroon?« Ein auf düstere Weise gut aussehender Priester erhob sich, lächelte kalt und verkündete: »Belgur Arthroon aus Faulbaum. Das Dorf ist klein, und dementsprechend habe ich Vorsicht walten lassen und nur einige wenige Weinkaraffen und Wassereimer verzaubert. Bis jetzt sehen die Auswirkungen folgendermaßen aus: Erfolg auf der ganzen Linie. Ich werde bald in der Lage sein, genaue Angaben zur Dosierung und der Menge der unterschiedlichsten Getränke zu machen, so dass ganz bestimmte Resultate erzielt werden können. Wie immer bei solchen Zaubern muss man ganz genauen Anweisungen folgen oder viel üben, um ein Gefühl für die Aufgabe zu bekommen.« Der Herr der Giftzähne nickte, und Arthroon nahm wieder Platz. »Wir sind lange genug unseren Festungen und unseren Posten im Tal ferngeblieben«, sagte Caronthom entschlossen, »so legt denn nun dieser Versammlung jede andere Frage, jedes Kümmernis oder jeden Wunsch der Brüder vor. Sprecht, Brüder, bevor wir diese Versammlung auflösen und jedem von euch die Schriftrolle übergeben, welche den Giftzauber enthält.« Keiner erhob sich, aber auf den Bänken machte sich Unruhe breit. Mehr als ein Priester beugte sich vor, als könne er die versprochenen Rollen aus der leeren Luft greifen wie ein Falke eine Feldmaus. Caronthom beobachtete seine Mitbrüder und lächelte wieder. »Dann lasst uns diese Versammlung beenden. Raunthur?« Der ältere Priester, welchen man den Weisen nannte, schritt zu einer Tür, die kurz aufschimmerte, als er die Hand
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darauf legte, und dann langsam und wie von selbst knarrend aufschwang. »Schriftrollen, eine für jeden«, sagte er knapp. »Nicht drängeln.« Hätte es auch nur ein Bruder gewagt, einen solch tödlichen Fehler wie einen neugierigen Blick zu riskieren, dann hätte er einen jüngeren Priester dabei beobachten können, wie der, seine kostbare Schriftrolle umklammernd, rasch einen dunklen, wenig benutzten Gang hinunterschlich, sich durch eine unbeleuchtete Türöffnung schob, eine Treppe hinaufschritt und schließlich durch eine weitere Tür trat, die vor Wächterzaubern glühte, die wenigstens genauso mächtig waren wie jene, welche Raunthur benutzt hatte, um die Schriftrollen zu bewachen. Sobald er diese Tür hinter sich gebracht hatte, streckte der junge Priester einen Arm aus, welcher gute vier Fuß länger war als der andere – oder der Arm eines jeden anderen Menschen –, und drückte an einer Ecke eines ganz bestimmten Steins in der Wand. Der drehte sich, schwenkte nach innen und enthüllte eine dahinter liegende Höhlung, in welche er die Rolle schob – und anschließend die Schlangengewänder. Sobald sich der Stein wieder an seinem alten Platz befand, wandte sich der nackte Priester ab, und sein Gesicht und sein Körper verwandelten sich in etwas ganz anderes als einen Schlangenpriester. Wieder streckte er einen Arm aus, welcher viel länger wurde, als ein menschlicher Arm von Rechts wegen hätte sein dürfen, und öffnete eine andere von einem Stein verdeckte Höhlung. Ein Kittel, kurze Hosen und Stiefel wurden herausgeholt und angezogen, geschickte Finger zeichneten Wächterzauber über beide Steine und die Innenseite der Tür, welche den Eintritt in den Gang gestattet hatte,
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und ein Bauernknecht stieg sechs Stufen hinunter, vollführte eine bestimmte Handbewegung und rief so aus dem Nichts einen Wirbelwind sich spiralförmig windenden Lichts ins Leben. Durch diesen Wirbel trat er hindurch und – verschwand, und die Spirale stürzte in sich zusammen, verzehrte sich und kehrte dorthin zurück, woher sie gekommen war. Erst dann blinzelte ein unentdeckt gebliebenes dunkles Wächterauge, welches hoch oben in einer Ecke des Ganges trieb, zweimal und verschwand dann seinerseits um die entfernteste Biegung des Ganges, welcher in eine nahe gelegene Kammer führte, in der ein anderer Priester mit der gerade empfangenen Schriftrolle stand. »Nun, nun«, murmelte er. »Ein gefährlicher Gestaltwandler weilt unter uns. Meine Güte. Dagegen müssen wir etwas tun.« Sein Gesicht zerschmolz und nahm die Form eines ganz anders aussehenden Antlitzes an. »Wettbewerb kann so gefährlich sein.« »Erinnert mich daran«, grollte Hawkril, »dass wir wieder blindlings durch das Tal reiten und uns als Opfer anbieten müssen, wenn wir die Dwaerindim finden wollen. Könnt Ihr nicht einfach Euren Dwaer benutzen und sie aus der Ferne aufspüren?« Embra seufzte. »Das kann ich durchaus, ja, aber solange der Träger eines Weltensteins ihn nicht für einen ausgesprochen mächtigen Zauberbann benutzt oder gerade damit beschäftigt ist, seine Macht heraufzubeschwören, oder ihn aus Unwissenheit erweckt und in Flammen stehend mit sich herumträgt – meinethalben, um Licht an einem dunklen Ort zu haben –,
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vermag ich ihn nicht zu sehen. Wenn ich selbst die Kräfte meines Steins nicht berühre und ihn versteckt halte, könnte jemand, welcher seinerseits einen Dwaer benutzt, um meinen aufzuspüren, neben mir stehen, ohne zu wissen, dass ich ihn bei mir trage. Einige Tricks stehen jenen zur Verfügung, welche zwei Dwaerindim besitzen und zur Suche verwenden, aber selbst dann müssen sie sich ganz in der Nähe des gesuchten Steins befinden.« Tschamarra nickte. »Mehr als das: Man kann die pure Dwaer-Kraft nur aus der Ferne sehen – wenn derjenige, welcher sie heraufbeschwört, sie nur dazu nutzt, um DwaerZauber zu verstärken, dann sieht man gar nichts.« »Wie wäre es, wenn wir Euch irgendwo hoch oben in einen Turm setzen würden? Wir könnten Euch bewachen und mit Essen versorgen, und Ihr müsstet nur den ganzen Tag über Euren Dwaer benutzen und suchen«, schlug Craer vor. Embra bedachte ihn mit einem Lächeln, welches ein wenig schief ausfiel. »Mein Stein würde die ganze Zeit über erwacht sein. Jemand – oder etwas – würde mich mit fast vollkommener Sicherheit sehen und herbeieilen, um sich den Dwaer zu schnappen und mich zu töten.« »Und so in unsere Reichweite gelangen«, ergänzte der Beschaffer siegesgewiss, »und uns die Gelegenheit verschaffen, uns das Schlachtfeld selbst auszusuchen.« Die Edle Talasorn seufzte. »Ich bezweifle, dass sie ihre Ankunft ankündigen würden, mein Herr. Sie würden Späher aussenden und erfahren, wo wir alle uns befinden und wie man uns am besten umbringt. Das Erste, was Ihr von einem Kampf mitbekämt, wäre ein Stoß des Dwaer-Zaubers, welcher Euch das Fleisch von den Knochen reißt.«
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Craer schaute die Edle an – und grinste plötzlich von einem Ohr zum anderen. »Meine Güte, das Tal ist zu dieser Jahreszeit wirklich wunderschön! Ich verspüre das plötzliche Verlangen, ein Pferd zu besteigen und loszureiten.« Schwarzgult hatte kein Wort gesprochen und bewahrte auch weiterhin Stillschweigen, aber er lächelte. Jedenfalls beinahe.
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Wie man einen Stein sucht und Ärger findet C Der Schmied schüttelte seine Zange, um zu überprüfen, ob er sie auch fest genug gepackt hatte, hob die sich abkühlende, dunkler werdende Stange und warf sie in den Eimer mit Öl. Zischender Rauch stieg auf – in welchen er nachdenklich spuckte, bevor er seinen Hammer niederlegte und sich mit einem Ächzen aufrichtete. »Seid ihr bereit?« Zwei Männer, welche damit beschäftigt waren, die letzten Riemen und Schnallen, die das große Zugpferd hielten, festzuzurren, blickten auf. »Ja, Ruld. Er ist festgebunden.« Der Schmied nickte. »Nun, das war’s. ›Flusslauf hält für keinen Menschen still‹, so wird jedenfalls gesagt.« »Ja«, erwiderten beide Bauern und fügten beide wie mit einer Stimme den Rest des Satzes hinzu: »›Nicht einmal, wenn der Erwachte König es befiehlt.‹« Ruld schnaubte, während er quer durch seine voll gestopfte Schmiede ging. »Irgendein Erwachter König! Erwacht und einfach so wieder verschwunden, und ein törichter Jüngling sitzt an seiner statt auf dem Thron. Wenn sie schon irgendei-
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nen zufällig dastehenden Grünschnabel auswählen mussten, dann hätten sie besser daran getan, einen Bauern auszuwählen – dann hätten sie wenigstens jemanden gehabt, der sich mit Saat und Ernte und so weiter auskennt!« »Richtig! Besser einen Hausierer aus Sirl als diesen Jungen von einem König«, stimmte Ammert Branjack zu und klopfte die riesige Flanke seines Pferdes. »Sie hätten ebenso gut einen Kaufmann vom anderen Ende der Welt auf den Thron setzen können! Was haben sie sich nur gedacht?« »Tja, genau das ist es«, meinte sein Freund Drunter und spuckte gedankenverloren in eine Ecke, in welcher sich rostige Überreste alten Metalls stapelten. »Sie denken nicht in Treibschaum. Wenn sie es täten, wäre nicht das halbe Königreich tot, würde sich nicht jeder dritte Mörder zum Fürsten aufschwingen und die zischenden Schlangenköpfe immer noch hinter jedem Baum lauern.« »Hoho!«, brummte der Schmied. »Man kann ihnen wie dem ganzen Rest nicht trauen, zudem lieben sie es, Drohungen auszustoßen – aber die Schlangen zahlen in barer Münze und sind auch nicht schlimmer als irgendein Fürst, und ich habe es nie zuvor erlebt, dass mir ein Fürst Wasser geholt hätte, um mir einfach nur zu helfen und ohne irgendeine Gegenleistung dafür zu verlangen!« Er wischte sich mit einem stämmigen Unterarm über die Brauen, blinzelte auf die in seiner Handfläche liegenden Nägel und schüttelte den Kopf. »Bei der Dreifaltigkeit, wie ist mir heute heiß«, grollte er. »Ich weiß auch nicht, warum. Eigentlich sollte ich nicht so in Schweiß ausbrechen, nachdem ich doch nur kurz an der Esse gestanden habe ...« Er nahm einen langen Schluck aus dem Behälter keine zwei Schritte von seinem Amboss entfernt,
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rang nach Luft und schüttelte noch einmal den Kopf. »Ihr seht blass aus, Ruld«, erklärte Dunhuld Drunter hilfsbereit. »Das kommt davon, dass Ihr den Bauernmädchen dauernd schöne Augen macht, dessen bin ich mir gewiss!« Er versuchte sich an einem Lächeln, aber das verging ihm rasch, als der Schmied mit einem Ächzen antwortete. »Äh, aber wenigstens hält das Wetter«, bot Branjack an, »und wenn es so bleibt, wie es jetzt den Anschein hat, so werden wir gewiss eine gute Ernte haben.« Der Schmied spuckte wieder aus und schüttelte grimmig den Kopf. »Und wer soll sie einbringen, wo es doch so viele Tote gibt? Der Weizen ist nichts als eine zusätzliche Mahlzeit für die Krähen, wenn er auf den Feldern verrottet. Die Kaufleute aus Sirl werden keinen müden Groschen dafür bezahlen, dass er geerntet und gedroschen wird, und sie werden nicht anständig bezahlen, wenn sie geltend machen können, dass es Weizen im Überfluss gibt. Manche behaupten das bereits jetzt, obwohl doch im ganzen Tal noch keine einzige Pflanze so richtig gesprossen ist!« »Schon, aber Ruld, wir haben doch schon zuvor Kriege und plündernde Fremdlinge und Missherrschaft erlebt – und schlechtes Wetter noch dazu –, und dennoch war noch immer genug da, um jeden Magen in Faulbaum zu füllen, und Aglirta besteht immer noch. Oh, Fürsten erheben sich und fallen auch wieder, und zweifellos hätte man jede Menge Leben und auch so manches schöne Geld retten können, hätte nicht Hader im Land ohne König, sondern ein guter, starker König gerecht von Treibschaum aus geherrscht. Aber welcher Mann hat das je im Leben gesehen, obschon Jahr für Jahr vergeht? Und dennoch haben wir immer noch ein Königreich,
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um welches uns die Leute aus Sirl trotz all ihres Geldes glühend beneiden.« »Tja«, gab der Schmied zurück, und ein seltsam grünlicher, dann purpurfarbener Schimmer überlief für einen Augenblick sein Gesicht, »und ich bezweifle nicht, dass das Tal schon seit langem über Sirlptar herrschen würde, hätte es denn in Aglirta weniger Narretei seitens der Fürsten und weniger nutzloses Blutvergießen gegeben. Und wir alle hätten Geld genug, um uns darin wälzen zu können.« »Und dann würdet Ihr das Dutzendfache dessen verlangen, was Ihr jetzt für Eure Dienste nehmt, Ruld«, erwiderte Drunter, »so wie wir das alle halten würden. Und wo sollte dieses Goldene Aglirta herkommen, in welchem die Götter die Fürsten dazu bewegen, sich anders zu verhalten, als Fürsten das immer und überall getan haben? Und dafür Sorge tragen, dass das Wetter großartig ist und die Bewohner jedermanns Freund, und dass zudem die Schurken aus ganz Darsar und die Schwindler, welche die Stadt von Sirl hervorbringt, weit wegbleiben?« Der Schmied schüttelte den Kopf wie ein Pferd, welches lästige Fliegen vertreiben will, gab ein wortloses Grollen von sich, nahm Hammer und Hufeisen auf und näherte sich dem festgebundenen Pferd. »Bringt mich nicht in Versuchung, kluge Antworten zu geben, Freund Drunter«, murrte er, als er das Hufeisen wie immer an einen Haken hängte und den Pferdehuf ergriff, welchen er beschlagen sollte, »und ich werde keine unmöglichen Geschichten spinnen.« »Weise Worte, Ruld«, sagte Branjack rasch, da ihm der Ton in der Stimme des Schmiedes nicht entgangen war. »Weise Worte! Wir alle tun gut daran –«
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Der Schmied richtete sich am ganzen Körper zitternd auf und wirbelte dann mit beängstigender Geschwindigkeit herum und schlug Branjack mit dem Hufeisen mitten ins Gesicht. Mit einem gurgelnden Schrei taumelte der Bauer hastig zurück – und fiel hart auf sein Hinterteil. Er traf wimmernd vor Furcht auf dem Boden auf, versuchte, eilends wegzukommen und in Sicherheit zu kriechen, aber der Hufschmied setzte ihm schwitzend und mit wild rollenden Augen nach, wobei er seinen Hammer schwang und Drunter mit einem einzigen Schlag zu Boden gehen ließ. Dunhuld kam ebenfalls hart auf, und sein Schädel zerbrach wie eine Eierschale. Ein Kieferknochen baumelte lose am Gelenk, und aus den Augen troffen Blut und Hirnmasse, und einmal – und noch dazu für alle Ewigkeit – hatte der Mann nichts zu sagen. Branjack sprang schreiend aus der Tür der Schmiede. Männer kamen herbei und spähten in den Raum, um zu sehen, was sich dort ereignete, denn Faulbaum war kein so großes Dorf, als dass man allzu oft handfeste Unterhaltung dargeboten bekam, und bei Rulds Schmiede handelte es sich um einen Ort, an welchem sie sich in angenehmer Gesellschaft zu treffen und zu reden pflegten. Alle achteten Ruld als einen Mann, welcher sein zumeist treffendes Urteil mit ein paar knappen Worten zum Besten gab und niemanden daran hinderte, so lange und freimütig zu sprechen, wie es ihm beliebte. Branjack packte den ersten Mann, welcher ihn ansprechen wollte, und stieß ihn zur Seite – was ihn für die Zeit am Leben erhielt, welche der Schmied brauchte, um jenen Mann
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umzubringen, dann den nächsten und den übernächsten. Dann rannte auch schon jeder, der sich der Schmiede genähert hatte, davon, und in ihrer Mitte befand sich ein schluchzender, brüllender Ruld wie ein Wolf, welcher inmitten einer davonstürmenden Viehherde zuschlägt. Ein Mann fiel und verspritzte sein Hirn über den Boden, dann ging ein anderer nieder und prallte wie ein weggeschleuderter Getreidesack mit gebrochenem Genick und baumelndem Kopf auf die Erde. Fluchend versuchte ein Dritter, ein Messer aus dem Gürtel zu ziehen, aber der Schmied schnitt ihm mit einem wilden Wutgebrüll den Weg ab und schlug ihn mit einem Hagel brutaler, Knochen zermalmender Hiebe nieder. Branjack schaffte beinahe den ganzen Weg die Straße hinunter, bevor das von der Hand des Schmiedes geschwungene Hufeisen den Kittel über seiner Schulter sowie die Haut darunter aufriss und dann einem seiner Ellbogen einen betäubenden Schlag verpasste, welcher ihn herumriss. Dem stier glotzenden Schmied Auge in Auge gegenüberstehend, verschwendete der Bauer keine Zeit damit, den Versuch zu unternehmen, sich umzudrehen, sondern duckte sich unter Rulds Arm hindurch und rannte zurück in Richtung Schmiede, wobei ihm die wilde Idee durch den Kopf schoss, dass der Schmied wohl kaum seinen eigenen Amboss zerschmettern oder die Esse zerstören würde und er deshalb zumindest für kurze Zeit Schutz hinter beiden finden mochte ... Dieser Gedanke starb zur gleichen Zeit wie Branjack, dem auf der Schwelle zur Schmiede ein Beschlaghammer so tief in den Schädel getrieben wurde, dass der beinahe bis zum Anfang der Wirbelsäule eindrang. Heulend raste Ruld quer durch den warmen, vertrauten
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Raum. Den blutigen Hammer trug er in der einen, das mörderische Hufeisen in der anderen Hand – und dann begann er damit, wie wahnsinnig Drunters Zugpferd zu beschlagen. Dass angebundene Ross bäumte sich wiehernd auf und schrie dann so laut wie die Dorfbewohner und noch ein wenig lauter – und als es zum dritten Mal bockend ausschlug, rissen die abgewetzten Lederriemen, und das Ross schoss um sich tretend nach vorn. Der unbeschlagene Huf zerschmetterte Ruld die Rippen wie trockenes Anmachholz und ließ ihn krachend in sein Werkzeug stürzen. Das Pferd brach immer noch austretend durch die Halbtür, während sich der nur noch halb benommene Schmied auf die Füße kämpfte, nach Luft schnappte und schwächlich in die Luft griff ... und allem Anschein nach das Blut auf seinem Körper und die niedergestreckten Leichen seiner Freunde zum ersten Mal sah. »Nein«, keuchte er entsetzt und taumelte vorwärts, wobei ihm der Hammer aus der kraftlosen Hand fiel. Alles um ihn herum wurde undeutlich ... »Nein! Bei der Dreifaltigkeit, nein ...« Aber die drei fühlten sich nicht bemüßigt, ihm zuzuhören, wie es schien. Bucklund Ruld brachte zwei weitere Schritte zustande, ehe er zusammenbrach, aufs Gesicht fiel und starb. »Die so genannte Bande der Vier hat bereits zweimal alles zunichte gemacht, was unsere Brüder auf sie zu schleudern vermochten, Bruder Landrun – und obsiegt. Lasst Euch weder von der Possenreißerei des Hochfürsten Delnbein täuschen noch von der zur Schau gestellten Stumpfheit, welche
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der Hochfürst Anharu der Welt zu zeigen beliebt. Sie sind mitnichten die untauglichen Narren, welche sie zu sein scheinen.« »Ja, Meister – und da wir dies wissen, sollen wir –?« »Wir werden erst einmal auskundschaften, wie sich die Blutpest für uns anlässt, bevor wir weitere Schritte unternehmen. Ihr und ich prüfen, beobachten – und wachen zudem über den Schuppenmeister Arthroon und seinen Reißzahnbruder Khavan, so dass sie nicht etwa ihre eigenen ungeschickten Experimente anstellen. Ihr wisst, dass die Blutpest nur wenige verschont, dafür aber umso mehr in den Wahnsinn treibt. Wisst denn zu diesem Zeitpunkt so viel: Wieder andere werden durch die Pest in reißende Bestien verwandelt.« »Reißende Bestien? Verrückt oder hungrig oder verzehrt von dem Verlangen, alles abzuschlachten, was ihnen vor Augen kommt?« »Die meisten von ihnen schon. Und wenn man unseren allergeheimsten Büchern Glauben schenkt, sind einige sogar dazu geeignet, uns in einer noch viel umfassenderen Weise zu dienen.« »Und diese ›umfassendere Weise‹ –?« »Geduld, dann werden wir schon sehen.« »Aber ...« »Landrun, wer von uns beiden ist ein Fürst der Schlange?« »Meine Güte«, bemerkte ein sich im Sattel krümmender Craer, »als unermüdlich umherstreifender Hochfürst lernt man wenigstens eins zu würdigen, nämlich wie verdammt groß das Tal ist.«
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»Ich nehme an«, neckte ihn Tschamarra, »dass es Euch lieber wäre, wenn sich alle Feinde des Königs gehorsamst am Hofe einfänden und sich in Reih und Glied aufstellten, um uns zu empfangen.« »Nun«, überlegte Craer gut gelaunt, »das würde mein Hinterteil schonen und zudem Pferde sparen. Wir könnten die Feinde der Krone zu festen Zeiten erschlagen, bis zum Abend fertig sein und dann im Weinkeller feiern.« »Und es auf diese Weise den Dienern ersparen, die Flaschen treppauf, treppab zu schleppen«, bemerkte Schwarzgult. »Eure löbliche Rücksichtnahme auf andere überrascht mich denn doch, Fürst Delnbein – dies ist eine Seite, welche ich bislang nicht an Euch entdeckt hatte.« »Mein guter Fürst Schwarzgult«, gab Craer in schockiertem Ton zurück, »Ihr erstaunt mich. Immerhin habt Ihr selbst mich vor etlichen Jahren als Beschaffer für Eure Armee in Dienst gestellt. Kann es sein, dass Ihr vergessen habt, woraus die Tätigkeit eines Beschaffers besteht? Lasst aus dem reichen Schatz Eurer Erinnerungen fließen, dass Beschaffer rücksichtsvollerweise solche Leute erleichtern, welche zu viele Besitztümer ihr Eigen nennen – oder sie zu wenig schätzen, um sie allzu sorgfältig zu bewachen –, und ebendiese Gegenstände in den Besitz jener überführen, welche den wahren Wert kennen und bereit sind, einen angemessenen Preis dafür zu zahlen?« »Craer«, meinte Embra freundlich, »zügelt Euch. Die Philosophie von Beschaffern ist viel zu krumm und schief, um unterhaltsam zu sein, selbst wenn der Zuhörer beschwipst sein sollte – und wir alle sind derzeit weit von einem solchen Zustand entfernt.«
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»Und genau aus diesem Grund beschwor ich auch das Bild des Weinkellers von Treibschaum«, gab Craer todernst zurück. Das ganze Königreich nach verschwundenen Fürsten abzusuchen und all denen, welche einen Dwaer-Stein in ihrem Besitz haben mögen, macht durstig.« »Ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass König Raulin ›zwingend notwendig und ganz genau‹ sagte und nicht ›durstig‹«, erklärte Schwarzgult bedächtig seinem Sattelknauf, »aber die Tatsache, dass Ihr Erfrischung erwähntet, bringt uns zu einem Punkt, den wir grade so gut jetzt wie später klären können. Wieder einmal reiten wir durch die abgelegenen Gegenden von Aglirta und suchen Fürst Phelinndar, den Stein, welchen er vermutlich bei sich trägt, sowie zwei weitere Dwaerindim, über deren Verbleib wir nichts wissen. Die unterschiedlichsten Tersepte und Fürsten erweisen dem Flussthron nachweislich so gut wie keinen Respekt – und trotz unserer großartigen Titel sind wir bloß fünf gegen alle Kräfte, welche sie aufzubieten in der Lage sind. Also sollten wir allmählich zu einer Übereinkunft kommen, wo wir als Nächstes nachschauen und wie eng wir in Verbindung mit Raulin bleiben sollten, um ihn vor Höflingen zu schützen, welche ihn entweder umbringen oder aufstacheln wollen.« Craer deutete eine Verbeugung an. »Genau darüber mache ich mir Sorgen. Als der Hochfürst, welcher unweigerlich der Anführer ist, wenn wir angegriffen werden –« »Das klingt mir viel zu sehr nach einem Hinweis«, flüsterte Tschamarra Embra zu und spähte in die Schatten der Baumkronen links und rechts des sich dahinwindenden schmalen Weges mit den Wagenspuren. »– und auf den die ganze Last der Verantwortung fällt, soll-
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ten wir voller Begeisterung in eine Falle reiten. Mir obliegt es, einen Teil der Schuld mit meinen Mitstreitern zu teilen, indem ich den Rest von euch in eine Entscheidung darüber mit einbeziehe, wohin wir eigentlich reiten. Nun, einige vorsichtige Aglirtaner – Spaßverderber und verbohrte Typen, sicher, aber trotzdem ebenfalls Bürger dieses schönen Königreichs – kleben an der Vorstellung, Entscheidungen über das Wohin treffen zu sollen, noch bevor sie sich auf den Weg machen, aber –« »Ertränken wäre zu schnell für ihn«, warf Embra ein. »Erwürgen, Hawkril?« »Wenn Ihr darauf besteht, geliebte Herrin«, brummte der unbeholfene Ritter, »obgleich ich betonen muss, dass er durchaus nützlich sein kann. Gelegentlich.« »– vor einer Weile haben Weise beobachtet, dass in dem Augenblick, da man von einem Mietling verlangt, dass er keinen Unsinn macht, man auch keinen Beschaffer anheuern sollte, und –« »Falls er so weitermacht«, meinte Schwarzgult, »wird ihn vielleicht sein Pferd erwürgen.« Tschamarra schüttelte den Kopf. »Nein, ertränken, dessen bin ich mir gewiss. Den Reiter abwerfen, ihn mit einem Huf am Boden festhalten und dann die Blase entleeren – und schon ist es geschafft und vorbei und erspart uns all die Herumsucherei nach einem handlich hervorstehenden Ast ... oh, genau so einem, wie er jetzt vor uns auftaucht!« Craer gab ein rüdes Geräusch von sich und vollführte eine noch rüdere Geste in ihre Richtung. »Also wirklich, Edle Talasorn, ein solch alter Trick ist Eurer nicht würdig. Selbst Straßenbengel in solch verstaubten, abseits gelegenen Dörfern
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wie Faulbaum geben sich nicht mit solch groben Manövern ab. Darf ich Euch daran erinnern, dass ich nicht länger ein bloßer Vagabund und gesetzloser Beschaffer bin, sondern ein Hochfürst von Aglirta, wohl gegürtet und in der Lage –« »Dabei erwischt zu werden, wie Ihr des Nachts um baufällige Hurenhäuser herumlungert«, ergänzte Embra hilfsbereit. Craer bedachte sie mit einem verletzten Blick, übersah angelegentlich, wie Tschamarra dringlich mit dem Finger auf etwas zeigte, und meinte dann großartig: »Edle Fürstin Silberbaum, diese Bemerkung ist ebenfalls unter Eurer Würde. Ich kann vielleicht über das Vergehen der Edlen Tschamarra hinwegsehen, stammt sie doch aus einem fremden Land mit einer, wie manche meinen – wobei ich mich ausdrücklich ausnehme –, barbarischen Kultur, aber Eure Abstammung –« »Hiermit ziehe ich meine Warnung zurück«, erklärte Tschamarra schnaubend und kreuzte die Arme in gespielter Empörung vor der Brust. »Macht nur die Bekanntschaft des Zweiges dort drüben, mein Herr!« »– ist viel großartiger, und man könnte beinahe behaupten, dass sie bis auf die uralten Wurzeln von Aglirta zurückgeführt werden könnte so wie jene meines vormaligen Dienstherrn, Fürst Schwarzgult hier, und –« Craers Pferd trottete weiter, und der so handlich überhängende Zweig ging zum Angriff über. Stürzte sich auf den kleinen Mann, um genau zu sein. Der Beschaffer stieß einen kurzen, irgendwie erstickten Schrei aus, als der Zweig in seine Seite stach und ihn aus dem Sattel stieß, aber Craer besaß die Schnelligkeit zustoßender Schlangen und drehte sich rasch in der Luft, um nach dem Zweig zu greifen und sich direkt hinter Tschamarra auf den Rücken
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ihres Rosses zu schwingen. Er landete schmerzhaft auf der hinteren Kante des Sattels, was das Reittier der Edlen Talasorn so sehr erschreckte, dass es sich aufbäumte und entsetzt schnaubte. Embra legte eine Hand auf ihren Dwaer und schickte für alle Fälle einen Heilzauber aus, aber Tschamarra war trotz der Ablenkung durch Craers – wie er behauptete lediglich Halt suchende – Hände auf ihrem Körper der Aufgabe gewachsen, ihr Pferd zu zügeln, so dass es nur noch aufgebracht den Kopf schüttelte und dann wie gewohnt weitertrottete. »Glaubt Ihr, Ihr könntet für diesen Streifzug damit aufhören, den Narren zu spielen?«, fragte der Goldene Greif den Beschaffer in barschem Ton. Craer bedachte den finster blickenden älteren Mann mit einem fröhlichen Lächeln. »Fürst Schwarzgult, mit einem Wort: Nein. Sofern mir meine Narretei den Titel eines Hochfürsten verschaffte, dann halte ich mich daran. Nicht dass ich etwas anderes tun könnte – und ich weigere mich, ein grimmiger, Steingesichtiger alter Adliger zu werden ... so wie einige Leute, welche ich jetzt beim Namen nennen könnte. Wenn Craer mit der losen Zunge gut genug war, um Aglirta bis jetzt vor sich selbst zu retten, dann wird derselbe Craer dem Königreich des Tales auch sicher über die nächsten paar Tage hinweghelfen, sofern ich mich nicht in einen Stiefel leckenden Langweiler verwandle. Fordert es von mir, und dann heißt es auf Wiedersehen, leerer Hochfürstentitel, und ein weiteres Mal Willkommen, Leben eines Gesetzlosen!« Überraschenderweise nickte der Goldene Greif. Sobald sich das Ross der Edlen Talasorn wieder einigermaßen beruhigt hatte, ritt Schwarzgult nahe genug heran, um
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nach den Zügeln greifen und das Tier am Durchgehen zu hindern. Hawkril spornte sein Pferd an, packte die Zügel von Craers Ross und brachte es nach kurzer Zeit zum Stehen. Sie brachten die schnaubenden Tiere dazu, dicht zusammengedrängt eine kleine, schattige Senke zu durchqueren. Tschamarra seufzte, schaute, die Hände in die Hüften gestemmt, nach links und nach rechts, achtete nicht weiter auf Craers unverschämte Tätscheleien und erklärte: »Für mich sieht es hier immer noch allzu sehr nach einer Stelle aus, welche sich bestens für einen räuberischen Hinterhalt eignet.« Hawkril betrachtete seine eigene Gefährtin. »Nun?«, brummte er. Embra stellte irgendetwas mit ihrem Dwaer an, was die Luft um sie herum in einem hohen, durchdringenden Ton singen ließ, und schüttelte schließlich den Kopf. »Wir sind ganz allein.« »Dann sollten wir uns beraten«, erklärte Schwarzgult entschlossen. »Craer, kehrt in Euren eigenen Sattel zurück.« Der Beschaffer überraschte sie alle, indem er nickte und ohne Verzögerung schweigend gehorchte und Schwarzgult mit einer Geste bedeutete fortzufahren. »Der Marktflecken, durch welchen wir heute Morgen ritten, nennt sich Mucklar«, ergriff der alte Fürst das Wort. »Vor uns liegt Osklodge, in dem kein Tersept gewohnt hat seit einer Feuersbrunst, welche zu einer Zeit dort wütete, als ich noch ein Kind war. Heute ist es nichts weiter als ein Rastplatz. Dort mündet unser Weg in Pfade ein, welche auch nicht breiter sind als dieser hier und nach Südwesten in Richtung der Stadt Stornbrücke führen und nach Westen in ein Jhalaunt genanntes Dorf. Und falls sich die Lage seit unserer
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letzten Rast nicht geändert hat, dann befinden sich dem Stein zufolge auch keine anderen Dwaerindim in unserer Nähe. Ist das immer noch so, Embra?« Die Edle Silberbaum nickte, und Schwarzgult fuhr fort: »Und was die zweite Angelegenheit anbetrifft, so habe ich Flaeros Delkamper, welcher allem Anschein nach auf dem Weg nach Treibschaum ist, befohlen, als Beschützer wie auch als Spion an Raulins Seite zu bleiben, und noch dazu zwei weiteren Höflingen, auf dass sie dasselbe tun. Es handelt sich um zwei Männer, welchen ich wohlgemerkt traue und mit denen ich endlos beratschlagt habe, wobei Embra und ihr Dwaer heimlich lauschten. Sie wissen voneinander und von Flaeros, aber dem Barden sind sie und ihre durch Eid beschworenen Pflichten unbekannt. Mit dieser Eskorte bleibt, so hoffe ich jedenfalls, dem jungen Burgmäntel während unserer Abwesenheit eine gute Chance gegen Verräterei.« Craer schnaubte. »Ich weiß nicht, was ich für fragwürdiger halten soll: Abhängig zu sein von der Fähigkeit der musikalischen Blüte der Delkampers, überhaupt etwas zu tun, oder sich auf irgendeinen Tersepten von Aglirta zu verlassen, dass er treu ergeben bleibt, obwohl ihn so gut wie alles zum Gegenteil verlockt.« »Schließt nicht von Eurem eigenen düsteren Geist und Eurer fragwürdigen Moral auf alle Männer«, erwiderte Schwarzgult streng. »Wenn wir alle so selbstbezogen wären, dann wäre das Tal schon vor langer Zeit in all dem vergossenen Blut ertrunken, und wir befänden uns jetzt in einem wilden Land, welches von den ruhelosen Zauberbannen von ermordeten Magiern heimgesucht und von verzweifelten Gesetzlosen durchstreift würde.«
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»Das ist die beste Beschreibung Aglirtas, die ich seit Jahren vernommen habe«, bemerkte Craer. Tschamarra nickte. »Vergebt mir meine offenen Worte, Fürst Schwarzgult«, murmelte sie, »aber viele in anderen Ländern würden Craer zustimmen. Überall an den Küsten von Asmarand spricht man nicht selten vom ›verfluchten Aglirta‹.« »Zweifellos, und nicht ohne Grund, aber ebenso sicher wissen wir es doch besser – und geben unser Bestes, um den Gegenbeweis anzutreten.« »Wir schweifen ab«, knurrte Hawkril. »Lasst uns davon ausgehen, dass der König so gut beschützt wird, wie wir das zu diesem Zeitpunkt bewerkstelligen konnten, und uns unserem eigenen Fortkommen zuwenden: Entweder über Land oder ein Halt in der Nähe von Osklodge, aus welchem Grund auch immer –, oder sollen wir lieber weiterziehen nach Stornbrücke oder nach Jhalaunt? Und welchem von beiden?« »Stornbrücke«, meinte Craer ohne zu zögern. »Dort gibt es mehr zu tun.« Embra hob eine Augenbraue. »Stehlen, meint Ihr doch, oder?« Der Beschaffer zwinkerte ihr zu. »Edle Silberbaum, Ihr verletzt mich. Ihr verletzt mich zutiefst –« »Noch nicht, Hochfürst Delnbein, aber das Schicksal, welches Ihr heraufbeschwört, mag Euch bald ereilen, wenn weiter solch närrische Hinterlist von Euren Lippen kommt«, beschied ihm Embra. »Unterdrückt für dieses eine Mal Eure klugen Bemerkungen, und sprecht geradeheraus. Ihr gebt Stornbrücke den Vorzug. Aus ganz anderen Gründen schließe
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ich mich Euch an.« Craer grinste. »Mehr Gelegenheiten, Gewänder zu kaufen, in ordentlichen Betten zu schlafen und sich die Läden anzusehen?« »Wer verletzt jetzt wen? Ich dachte eher daran, dass in diesem Ort viel eher jemand mit einem Dwaer anzutreffen sein wird, immer vorausgesetzt, dass unsere Mitbewohner des Tals sich nicht gedulden und schon gar nicht Schätze für längere Zeit versteckt halten können.« »Sarasper brachte das fertig«, grollte Hawkril. Alle schwiegen, dann seufzte Craer, wandte sich um und schaute den Fluss hinauf, als könnten seine Augen irgendwie die sich über Meilen erstreckenden Bäume, Hügel und Flusswindungen durchbohren bis zu der mit Gras bewachsenen Anhöhe am anderen Ende von Treibschaum, wo sie ihren Freund begraben hatten. »Und er wurde darüber alt«, sagte Embra leise, »so wie die Krähe von Kardassa. Erinnert ihr euch daran?« Zustimmend stieß Schwarzgult etwas aus, das einerseits einem Knurren, andererseits einem Schnauben glich. »Ich fühle mich dieser Tage auch nicht mehr ganz jung.« Craer grinste den Fürsten an. »Also reitet Ihr mit uns, um Eure verlorene Jugend wiederzugewinnen. Noch einmal die Gelegenheit zu haben, auf Abenteuer zu ziehen, großspurig zu prahlen und den Weibern hinterherzustellen wie ein Jüngling!« »Wirklich? Ist das der Grund dafür?« Der Mann, welchen man einst in ganz Aglirta als den Goldenen Greifen gekannt hatte – den am besten ausschauenden und schneidigsten aller Fürsten –, stellte seine Frage in mildem Ton, während sein
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Sattel unter ihm quietschte. »Und noch dazu vor den Augen meiner Tochter?« Wieder hob Embra eine Augenbraue. »Hat Euch das je zuvor abgehalten?« Ihr Vater bedachte sie mit einem Lächeln, in dem mehr als nur ein Hauch von Traurigkeit enthalten war. »Ich gehöre nicht zu jenen, welche dem einen dieses, dem anderen wiederum ein anderes Gesicht zeigen – obschon ich genau deswegen mehr als einmal in Zwistigkeiten und Ungemach geraten bin. Viele Fürsten glauben, es sei am leichtesten zu regieren, wenn sie immer und unter allen Umständen ein fröhliches Gesicht zeigen, aber das ist eine Schwäche, welche sie auf lange Sicht ins Verderben stürzt. Aber sie glauben, sich auf diese Weise den einen oder anderen Tag leichter zu machen.« »Aber wie steht es mit der Pflicht eines Fürsten seinen Untertanen gegenüber?«, fragte Tschamarra leise. »Wenn ein Fürst die Schwerter eines stärkeren Nachbarn geradezu einlädt, indem er das Falsche sagt oder tut, welche ›Stärke‹ liegt dann darin – zumal er nicht wenige seiner Untertanen, welche doch mit seiner Auseinandersetzung rein gar nichts zu schaffen haben und ohnehin nicht um ihre Meinung gefragt werden, zum Untergang verdammt? Mit allem Respekt, Fürst Schwarzgult, aber ich wiederhole: In anderen Ländern gibt es so manche, welche Tag für Tag ihren Zorn mit Lügen oder einem Lächeln überdecken, um mit ihren Landsleuten auszukommen und gezückte Dolche zu vermeiden – und sie schauen auf das Tal als einen Ort, welchem durch seine ewig Krieg führenden Fürsten Schaden zugefügt wird.« »Das gilt für ganz Aglirta«, stimmte ihr Schwarzgult ernsten
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Tones zu. »Ich habe nie beansprucht, ein weiser Herrscher zu sein oder auch nur dazu geeignet, das Land zu regieren. Im Land ohne König fiel die Macht jenen zu, welche nach ihr griffen. Ich nutzte und missbrauchte sie – und warf viel zu viele Leben weg bei dem vermessenen Versuch, mir Inseln zu erobern, was ich als meine größte Dummheit ansehe –, und das Blut zahlreicher Männer klebt an meinen Händen. Aber ich weiß das und gebe es auch zu, während nicht wenige meiner grinsenden, tückischen Mitfürsten dies niemals taten, bis sie während eines Haders umgebracht wurden, welchen sie selbst durch ihre eigenen Verrätereien angezettelt und am Leben gehalten hatten. Ich erfreue mich an dem, was ich tue. Weil ich standhaft blieb und mir meinen Stolz bewahrte, mit einfachen, klaren Worten sprach und den Preis für meine Fehlurteile zahlte, gelang es mir, die vergangenen Tage zu genießen, und ich habe den besseren Teil gewählt – anders als die Fürsten, welche sich duckten und Pläne schmiedeten und sich vor Gift und nächtlichen Dolchen in den Rücken fürchteten und ihre Tage wie ängstlich zitternde Ratten verbrachten.« »Meine Güte«, meinte Craer. »Und ich habe geglaubt, ein Fürst zu sein bedeute, Befehle zu schnarren, Frauen ins Bett zu bekommen und die Stiefel auf die besten Möbel zu legen. Tatsächlich besteht kein allzu großer Unterschied zum Leben eines Beschaffers, wie mir scheinen will.« »Nein, so ist es wirklich nicht«, stimmte Schwarzgult zu. »Aber ich fürchte, wir sind wieder zur Beschaffer-Philosophie zurückgekehrt, und die Fürstin Silberbaum hat ganz Recht, was ihre eigentliche Natur und den Mangel an praktischem Nutzen für jene anbetrifft, welche bis jetzt noch nicht Re-
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chenschaft für ihre Untaten abgelegt haben.« »Vater«, sagte die Herrin der Edelsteine sanft, »mein Name ist Embra.« Wieder herrschte Schweigen auf der Straße, und Craer und Tschamarra schauten von der Zauberin zu dem großen, immer noch gut aussehenden Fürsten. Schwarzgult machte eine Geste, um seine Tochter zum Weitersprechen aufzufordern. Embra nickte und erklärte bedächtig: »Ginge es nicht um Kelgraels Dekret, so hätte ich keinen wie auch immer gearteten Anspruch auf den Namen Silberbaum. Ich ... wurde dazu erzogen, Euch zu hassen, wurde über all Eure Schurkereien unterrichtet und darauf eingeschworen, Euch zu töten, falls sich die Gelegenheit bot ... Aber ich habe Euch gegenüber niemals etwas anderes als Dankbarkeit empfunden seit dem Tag, an welchem Ihr mich durch Eure Offenbarung von dem Glauben befreitet, in meinen Adern fließe das Blut des grausamen Faerod Silberbaum.« Wieder herrschte Schweigen, welches nur von dem Knarren eines Geschirrs unterbrochen wurde, als ein Pferd unruhig den Kopf hochwarf. Dann sagte der Fürst Schwarzgult leise: »Aber immer noch liegt etwas zwischen uns. Ja, ich teilte das Bett mit Eurer Mutter. Ja, ich zeugte Euch während unseres Zusammenseins. Ja, ich tat ein Gleiches in vielen Betten –« »Und in Schiffskabinen, auf Waldlichtungen und auf Festtafeln«, murmelte Craer, aber niemand schenkte ihm Beachtung. »– das ganze Tal hinauf und herab, mit vielen Frauen, und ich bereue nichts. Frauen sind meine Schwäche und zugleich
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meine Stärke. Aber, Mädchen – Embra –, ich habe in all der Zeit nur ein einziges Mal ein Kind als mein eigenes anerkannt. Ihr wart mein Augapfel, schon lange bevor Ihr an Anmut und Weiblichkeit und Zauberkraft gewannt, weil Ihr ganz allein gegen die Dunklen Drei und den Mann, welchen Ihr für Euren Vater halten musstet, standgehalten und irgendwie überlebt habt. Ihr habt mit Eurem eigenen Kopf und einem liebevollen Wesen überlebt und seid weder ein grausames Echo jener, welche Euch gefangen hielten, noch eine Sklavin mit gebrochener Seele. Ich ... ich sehne mich nach Eurer Anerkennung, obwohl ich Euch einer solch grauenvollen Kindheit aussetzte und nichts tat, um Euch zu befreien. Ich weiß, dass ich niemals auch nur darauf hoffen darf.« Er zögerte und fuhr dann fort, wobei seine Stimme kaum mehr war als ein Flüstern: »Ich dachte sogar daran ...« »Mich zu heiraten, sobald mein Va-Silberbaum tot war samt seinen Zauberern, um auf diese Weise unsere Fürstentümer zusammenzubringen«, sagte Embra ruhig und nickte. »Ich erkannte das ebenso deutlich wie die Bürger von Silberbaum, während Ihr in allen Betten den gesamten Silberfluss hinauf und herunter herumhurtet. Die Vorstellung, Ihr brächet mit dem blutigen Schwert in der Hand in mein Schlafgemach, um mich für Euch zu beanspruchen, suchte mich in meinen Träumen heim.« Ein dünnes Lächeln kräuselte einen ihrer Mundwinkel. »Halb Aglirta – die weibliche Hälfte – träumte ähnliche Träume. Habt Ihr nicht die älteren Edlen bemerkt, wie sie kicherten und wisperten, wenn sie Euch mit Seitenblicken musterten? Und dass sie das sogar jetzt noch tun?« Schwarzgult holte tief Luft, als sei ihm eine schwere Last
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von der Seele genommen worden, und erhob halbherzig Einspruch. »Ältere Edle? Ihr verletzt meine Gefühle. Und zwar tief.« »Hmmm«, machte seine Tochter. »Reiht Euch hinter Craer ein – das wird mir überflüssige Schwertstreiche ersparen. Ich kann dann euch beide mit einem geschickt platzierten Hieb aufspießen.« Alle vier Reiter in der Senke kicherten und rutschten in ihren Sätteln hin und her, und Hawkril grollte: »Ist es nun Stornbrücke? Oder Jhalaunt?« »Das klingt schmerzlich«, meinte Craer zu Schwarzgult, als sie ihre Pferde wendeten. »Ich habe noch nie eine Schwertspitze in meinem Jhalaunt gespürt.« »In den Stornbrücke ist es schlimmer, das könnt Ihr mir ruhig glauben«, sagten Schwarzgult und Hawkril wie aus einem Mund und brachen dann in erstauntes, fröhliches Gelächter aus, war ihnen doch die gleiche kluge Antwort eingefallen. Tschamarra und Embra wechselten Blicke, und beide Frauen schüttelten wortlos den Kopf. Craer hob eine Hand, worauf die Fröhlichkeit augenblicklich endete – und beugte den Kopf, um zu lauschen. »Wagen, mehr als einer«, erklärte er kurz und deutete auf den vor ihnen liegenden Weg. »Genug der herzbewegenden Geschichten, jedenfalls für jetzt; es ist an der Zeit, wieder die großartige Titel tragenden Helden zu spielen. Hochfürsten müssen Eindruck schinden.« Hawkril lockerte das Schwert in der Scheide und brummte: »Bereit zum Spiel.« »Ebenfalls«, erklärte Tschamarra, schob sich die Zügel auf den Unterarm und zog die Ärmel ihrer Jacke hoch, um volle
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Bewegungsfreiheit zu haben. »Obwohl es traurig ist, dass wir erwarten, dass uns ein paar Wagen so schnell den Krieg bringen, muss ich sagen.« Hawkril zuckte die Achseln. »Aglirta«, lautete seine schlichte Antwort. Während sie weiterritten und dabei aus alter Kriegergewohnheit auseinander fächerten, um einander genug Raum zu lassen, falls ein Kampf ausbrechen sollte, lenkte Embra ihr Ross nahe an Schwarzgults Tier heran und legte für einen Augenblick die Hand auf seinen Schenkel. »Vater«, sagte sie, »wir werden später reden.« Ihre Blicke begegneten sich, und sie fügte hinzu: »Bitte.« Der Goldene Greif schien zunächst überrascht, nickte dann aber entschlossen und antwortete in festem Ton: »Ja. Bitte.« Der entfernte Donner rumpelnder Wagen und vieler mühsam einherstapfender Hufe wurde lauter, während die fünf Reiter flussabwärts ritten, aus der Senke hinaus auf einen kleinen Hügel und dann immer weiter. Holz knirschte, als alte, schwer beladene Wagen mit abgenutztem Tauwerk immer näher kamen. Vielleicht handelte es sich ja nur um ein paar offene Karren ... und Aglirtaner aus der Umgebung, welche Waren nach Hause brachten, welche sie auf dem nächsten Markt eingekauft hatten. Vielleicht brachten sie ja auch ihre eigenen Erzeugnisse zur nächsten Stadt in der Hoffnung, sie in klingende Münze einzutauschen. Die wild entschlossenen Straßenpatrouillen des Königsjünglings hatten zumindest diese alte Gewohnheit ins Tal zurückgebracht, obwohl die Leute nach wie vor in größeren Gruppen reisten als in den alten Zeiten, und noch dazu führten sie ausreichend Waffen mit
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sich. Die Hufe der hochfürstlichen Rösser bezwangen einen weiteren Hügel, und dann blickten die Gefährten auf das, was sie erwartet hatten: ein Trio Ochsenkarren, davon einer offen, während die anderen tief hängende Planen zum Schutz vor Wind und Wetter aufwiesen. Um die Karren herum ritt eine grob wirkende Eskorte aus Händlern und Fuhrleuten auf ihren Maultieren. Einige unter ihnen nickten und knallten zum Gruß wie von alters her mit ihren Peitschen, um die anderen Reisenden zu grüßen, aber mehr als einer wirkte müde und krank, schwankte mit bleichem Gesicht im Sattel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sieht ganz so aus, als hätten sie gestern Abend zu tief ins Glas geschaut«, brummte Hawkril, während sie sich den Fuhrleuten näherten. »Höchstwahrscheinlich Selbstgebrautes«, murmelte Craer, »sonst wären sie nicht so krank. Denkt daran, dass sie vermutlich nicht in bester Laune sein werden. Zur Seite, der Reihe nach, und lasst ihnen so viel Platz wie möglich.« Schwarzgult bedachte ihn mit einem belustigten Blick, aber es war Tschamarra, die spöttisch gurrend meinte: »Wirklich? Und ich habe mich so darauf gefreut, geradewegs in diesen Ochsenkarren hineinzureiten und dann in den dahinter, nur um zu sehen, wie sie wie Butter vor meiner königlichen Autorität dahinschmelzen ...« »Das«, erklärte Craer Hawkril und Embra mit einer Handbewegung in Richtung der Edlen Talasorn, »ist die grausame Zunge, welche ich Nacht für Nacht hinter verschlossenen Türen erdulden muss, und –« »Und keiner verdient es mehr als Ihr, dessen bin ich mir
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gewiss«, erwiderte die Edle Silberbaum süßlich, während das Rumpeln der Wagen rings um sie herum immer lauter wurde. »Weshalb –« Der vorderste Fuhrmann nickte Hawkril kurz zu, welcher an der Spitze der hochfürstlichen Truppe ritt – und Embras Hand schloss sich aus Gewohnheit über ihrem Dwaer, als der erste Wagen an ihr vorbeiächzte. Der zweite Fuhrmann ganz in der Nähe der Gruppe bebte in seinem Sattel, sah entschieden grün im Gesicht aus, und sein Blick wirkte mehr als nur ein bisschen wild. Tschamarras Augen verengten sich, als sie ihn anstarrte, und sie hob eine Hand, als wolle sie etwas abwehren oder bereit sein, einen schnellen Zauber zu wirken. Der Fuhrmann schien aufzublicken und sie zum ersten Mal wahrzunehmen, als er an Schwarzgult vorbeiritt. Sein Kiefer bebte, als habe er Schwierigkeiten, die Worte hervorzubringen, welche er sagen wollte – und dann sprang er wild brüllend aus dem Sattel, krallte nach dem Bein und dem Steigbügel des Fürsten und zog im Sprung ein langes, gebogenes Messer. Der Goldene Greif schlug ihm mit der Faust, aus welcher der Knauf eines umgedrehten Dolches ragte, hart ins Gesicht, und der Kopf des Mannes wurde zurückgeschleudert wie der einer Lumpenpuppe. Er fiel lautlos unter die Hufe ihrer Pferde – aber er hätte schon ein Trompetensignal ausstoßen müssen, um das nun plötzlich erklingende Gebrüll aus einem Dutzend Kehlen zu übertönen. Männer kletterten auf Karren, zogen unter schrillen Schreien und Rufen Schwerter und Dolche und stürzten sich auf die vorbeiziehenden Reiter.
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»Das kommt davon, dass wir Hochfürsten sind!«, erklärte Craer der achtlosen Welt allgemein, während er einen Dolch zog und ihn in einer einzigen geschmeidigen, blitzschnellen Bewegung schleuderte, während er schon den nächsten zog. »Wie Beutetiere ziehen wir das Tal hinauf und herunter und locken jeden vorbeikommenden Mann mit einem Dolch an, uns Gewalt anzutun, zumal wir willig unsere Brust und unseren Hintern entblößen und auch noch laut schreien ›Hier bin ich! Schlagt nur zu! Schlagt auf der Stelle zu! Ich bin das allerbeste bereitwillige Opfer‹ ...« Craer verschluckte das Ende des Satzes, da er sich verzweifelt wegducken musste, als ein schlammiger Stiefel in Richtung seines Kopfes austrat. Er gehörte zu einem vorwärts springenden Fuhrmann, welcher Tschamarra mit der schieren Wucht seines Aufpralls aus ihrem Sattel geholt hatte. Ihr Pferd bäumte sich auf und trat aus, und ein eilig ausgestoßener Zauber ließ den Kopf des Mannes in tausend Fetzen zerbersten. Der Rückstoß ihres Zaubers bewirkte, dass ihr Ross panisch nach vorn und in einen Wagen floh, mit voller Wucht in das Gefährt krachte und die Welt sich plötzlich in einen Ort fliegender Zügel, ausschlagender Hufe und wilde Schreie ausstoßender Männer verwandelte. Craer sprang aus dem Sattel, um Tschamarra zu retten, welche sich im Straßenstaub unter niederdonnernden Hufen und dem dahinkollernden, kopflosen Körper des Mannes wegrollte, den sie gerade getötet hatte. Ein Fuhrmann sprang heulend hinter Craer her. Der Beschaffer schlug mit der Schulter einen Huf beiseite und versuchte, sich schützend über die Edle Talasorn zu stel-
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len, aber ein weiterer Huf zerquetschte sie beinahe und warf ihn zu Boden. Er kam hoch und sah sich einem wild zustoßenden Schlag des nachsetzenden Fuhrmannes ausgesetzt, so dass er sich dazu gezwungen sah, dem Mann seinen Dolch bis zum Heft in den Körper zu stoßen. Aber schon wurde ihm die Waffe aus der Hand gerissen, denn der schreiende Mann wand sich vor Schmerzen. Als Craer nach dem zurückweichenden Dolchgriff langte, zermalmte ihm ein ausschlagender Huf um Haaresbreite das Gesicht. Er warf sich gegen das Ross, sprang, so hoch er nur konnte, und es gelang ihm, den Kopf des Tieres herumzureißen und das Pferd in eine andere Richtung zu drehen, so dass er und seine Freundin aus der Reichweite der zupackenden Zähne und der tödlichen Hufe gelangten. Ein weiterer Fuhrmann kam näher und bellte wie ein heiserer, wütender Hund. Craer duckte sich unter dem ersten Schlag eines rostigen, mit zahlreichen Kerben versehenen alten Kriegsschwerts weg, warf sich, alle viere von sich gestreckt, zu Boden, um dem zweiten Schlag zu entgehen, bevor es ihm gelang, den Mann mittels eines Trittes zu Boden zu befördern, bevor der Tschamarra aufspießen konnte, welche grimmig entschlossen einen kopflosen, blutüberströmten Körper wegschob, um sich darunter hervorrollen zu können. Craer zog seinen Dolch aus dem sich windenden, stöhnenden Mann, schnitt ihm die Kehle durch und sprang gerade rechtzeitig zur Seite und nach vorn, um dem Fuhrmann mit dem Kriegsschwert in die Parade zu fahren. Die beiden Männer prallten zusammen wie zwei wütende Bullen, ihre Klingen trafen sich – und der Beschaffer ging plötzlich in die
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Knie, so dass der Mann hilflos über ihn stolperte, und Craer stieß seinen Dolch zwischen die Beine des über ihn taumelnden Mannes. Dann rappelte er sich hoch und schlitzte eine weitere Kehle auf, bevor die daraus hervordringenden Schreie zu laut wurden. Tschamarra kam stolpernd auf die Füße – und fiel gleich darauf aufs Gesicht, als ihr ein loser Zügel quer über die Brust und die Kehle peitschte. Das entstehende Geräusch ließ Schwarzgult, welcher zwei Wagen und viele ausschlagende Pferde weiter mit zwei Fuhrleuten kämpfte, aufstöhnen und herumfahren. »Bei den Zähnen der Dreifaltigkeit!«, fluchte Hawkril. »Was mag den verrückten Kerlen bloß in die Köpfe gefahren sein?« Jemand hieb auf ihn ein, und er lenkte den Hieb mit seinem eigenen Schwert ab. Der angreifende Fuhrmann stieß ein Knurren aus und schlug erneut zu, wobei er nicht einmal versuchte, sich selbst zu schützen, sondern eher wie ein Betrunkener vorstürmte und nicht wie irgendeine Art von Krieger. Wieder sang Stahl auf Stahl, und der Mann geriet ins Stolpern. Statt dem Fuhrmann die Kehle aufzuschlitzen oder ihn zu überrennen, drehte Hawkril sein Schwert um und rammte den Griff in den helmlosen Kopf des Mannes. Der Fuhrmann ging wie ein gefällter Baum zu Boden. Hawkril schickte den nächsten brüllenden, augenrollenden Fuhrmann mit einem Schlag gegen die Kehle zu Boden, bevor er sich im Sattel umdrehte und Schwarzgults grimmigem Blick begegnete. Sein einstiger Herr wies dringlich über Hawkrils Schulter, und der Ritter wirbelte gerade rechtzeitig
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herum, um ein Trio von Fuhrleuten zu sehen, welche die Planen auf ihrem Wagen niedertraten, um darauf Aufstellung nehmen zu können, während die Gefährte krachend und lärmend vorbeizogen und die Ochsen sich alle Mühe gaben, so schnell wie möglich in Sicherheit zu gelangen. Drei Klingen fuhren auf Hawkril nieder. Er knurrte und schlug zwei der Waffen mit einem wilden Hieb zur Seite, wobei er ganz genau wusste, dass ihm der dritte die ungeschützte Kehle aufschlitzen würde. Embra schrie ein paar unverständliche Worte, der Dwaer in ihrer Hand flammte auf – und die Welt explodierte in einem blauweißen Feuer, welches bewirkte, dass jedes Haar auf Hawkrils prickelnder Haut sich aufrichtete wie eine Nadel. Auf dem Wagen erstarrten drei Männer zu hilflosen Statuen, welche ins Wanken gerieten, während Tschamarra schrie, Craer fluchte ... und Aglirta in einer blendenden, mörderischen Flamme explodierte.
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Drei
Eine magische Plage C Die schlammige Straße hinauf und hinab, welche durch das Herz von Faulbaum verlief, erklangen Rufe, und die Stimmen der Leute klangen schrill, angsterfüllt und bestürzt. Männer stießen Flüche aus, griffen sich ihre Waffen von den Wänden oder befahlen den Jünglingen des Dorfes kurz und knapp, sich in die Häuser zu begeben. Frauen, welche viel zu aufgewühlt waren, um im Flüsterton zu sprechen, schrien die Neuigkeit über die Zäune um die Schweineställe herum ihren Nachbarn zu, und überall rannten Leute herum. »Jetzt werden wir sehen«, sagte jemand voller Unruhe in dem Baum, in welchem sie ihren Beobachtungsposten hatten. Eine Hand wie eine Eisenklaue erstickte die Worte und legte einen warnenden Finger über die Lippen des Sprechers. Der nickte wild und gab keinen weiteren Laut von sich, selbst dann nicht, als sich der erbarmungslose Griff um seine Kehle löste. Kleine Gruppen von Dorfbewohnern starrten die Straße entlang auf die niedergestreckten Körper, um welche bereits die Fliegen summten. Einige der Männer von Faulbaum wechselten ausdruckslose Blicke, wogen welche Art von Waffen
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auch immer in den Händen und gingen dann langsam und widerstrebend auf die Leichen zu. Sie wirkten wie eine dem Untergang geweihte Kriegertruppe, welche gegen einen Drachen vordringt und genau weiß, dass sie von Anfang an dem Tod geweiht ist. Aber sie schritten trotzdem voran. »Die Dreifaltigkeit möge auf uns herabsehen!«, krächzte der Vorderste unter ihnen heiser, während er seine abgeschlachteten Freunde zählte. Drunter und Gelgarth, der Sohn des Müllers, und Huldin ... und so viel Blut! Und verspritztes Hirn, welches wie feuchter Käse aussah ... Er würgte, drehte sich hastig zur Seite, und mehr als einer seiner Gefährten schluckte, schaute weg und schritt grimmig weiter an zahlreichen Pfützen vorbei, die allmählich dunkelrot wurden. Der Rest der Dorfbewohner sah schweigend und mit bleichen Gesichtern zu. Keiner bewegte sich, und niemand schloss sich den dahintrottenden Männern an. Ihre Waffen so fest umklammernd, dass die Knöchel weiß anliefen, gingen sie weiter. Auf der Schwelle der Schmiede fanden sie weitere Tote, und über allem lag diese schreckliche Stille. Rulds Hammer würde für immer schweigen. Der Schuster, welcher als Erster das Wagnis auf sich nahm, ins Innere des Gebäudes zu treten, kam mit grün angelaufenem, bleichem Gesicht wieder heraus. Er brauchte zwei Anläufe, bis ihm seine Lippen gehorchten und er Worte auszustoßen vermochte. »Keiner ist mehr am Leben. Holt die Priester.« Langsam und wie gegen ihren Willen schickten sich die Frauen und die kühneren Kinder an, die Straße entlang näher zu kommen, bis sich beinahe ganz Faulbaum um die Schmiede herum versammelt hatte und vor Entsetzen wie gelähmt
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auf das Blut und die Schlächterei starrte. Zwei Augenpaare beobachteten die Dorfbewohner durch die Büsche hindurch, welche die Nebengebäude der Schmiede umgaben. »Ich bin recht zufrieden«, erklärte der Besitzer eines Augenpaares und nestelte an dem kleinen Schlangenanhänger herum, welchen er unter seinen Gewändern trug. »Das Übel schlägt schnell und erbarmungslos zu. Jetzt sehen wir am besten zu, dass wir verschwinden – sobald die Hinterbliebenen mit ihrem Weinen und Klagen beginnen, werden sich die Männer nach etwas Heldenhaftem umschauen, was für sie zu tun ist ... und das bedeutet, dass sie jemanden suchen werden, der für das hier verantwortlich gemacht werden kann.« »Und wir sind die Fremdlinge und deshalb die Ursache«, ergänzte der zweite Beobachter, der sich jetzt endlich zu sprechen traute. Seine Kehle schmerzte noch immer; er rieb sie vorsichtig, während er hinunter auf den kaum sichtbaren Pfad starrte, welcher am Nebengebäude vorbei zu dem Bach führte, in welchem sich Ruld zu seinen Lebzeiten für gewöhnlich das Öl, den Ruß, versengte Haare und den Schweiß seiner täglichen Arbeit abzuwaschen pflegte. In allen anderen Richtungen waren die Bäume vom vielen Fällen ausgedünnt, und das Unterholz wuchs zu dicht, als dass sich jemand ohne viel Lärm dort hätte bewegen können. »Also hinunter und durch das Wasser und weg von hier, Belgur – und wohin dann?« Der ältere Schlangenpriester schüttelte den Kopf. »Hier draußen, Schlangenbruder Khavan, bin ich der Schuppenmeister Arthroon – oder einfach nur Meister. Vernehmt meinen strikten Befehl: Ihr werdet nirgendwohin entfliehen. Ge-
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nauso wenig wie ich. Am besten verhalten wir uns für eine Weile unauffällig, damit diese einfachen Leute nicht auf uns aufmerksam werden – uns, die einzigen Fremden – und uns für die Ursache dieses, äh, ›gefährlichen Rätsels‹ halten – aber wir müssen bleiben. Unsere Arbeit hier ist noch nicht vollbracht. Wir müssen immer noch herausfinden, ob manche dem Übel widerstehen und nicht in kriegerischen Blutrausch verfallen, sondern stattdessen in wilde Bestien verwandelt werden.« Khavan starrte seinen Vorgesetzten an und nickte dann mit dem Kopf in Richtung der versammelten Dorfbewohner. »Also handelt es sich hier um die ›verlorene Magie‹, welche die Blutpest hervorruft?« Belgur Arthroon starrte ihn wortlos an. »Uh ... Schuppenmeister Arthroon?« Der ältere Priester lächelte eisig. »Das ist sie in der Tat«, antwortete er. »Wir müssen wissen, wer ihr zum Opfer fällt, wer kämpft und in eine Bestie verwandelt wird und wer alledem widersteht ... bevor ich auf die Jagd gehe nach Fürsten, Tersepten – und Königsjünglingen und Hochfürsten.« »Die Bande der Vier?«, keuchte Fangbruder Khavan. Arthroons Lächeln war so kalt wie immer. »Selbstverständlich.« Brüllende Flammenzungen fächerten in einer großen Welle aus, brachten die Pferde zum Aufbäumen und Schreien, ließen vereinzelt Äste krachen und zu Boden fallen – und dann waren sie auch schon verschwunden und hinterließen nichts außer Rauch und dem scharfen Geruch nach Verbranntem. Glücklicherweise fingen kein Baum und kein Feld Feuer,
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obwohl es besser für die fünf Reiter gewesen wäre, wenn dies geschehen wäre. Brennendes Gras birgt ziemlich wenig Räuber ... oder sich anschleichende Zauberer. Durch den sich auflösenden Rauch spähte Embra angestrengt umher, während sich der Letzte der Wagen knarrend und rumpelnd entfernte. Kein Mann war am Leben geblieben, um die Ochsen zu lenken. In den tanzenden Schatten des Dutzends alter Dornapfelbäume, welche hier den Weg zu beiden Seiten säumten, lagen tote Fuhrleute im Gras. Die Edle Silberbaum flüsterte tief vornübergebeugt ihrem Dwaer etwas zu, wobei sie immer noch rasche Blicke in alle Richtungen warf ... aber sie vermochte keinen lauernden Feind zu entdecken. Die von groben Zäunen umgebenen Felder sahen ohne jeden Zweifel verlassen aus. »Wo kamen diese Flammen her?«, fragte sie, während ihr Dwaer die Pferde beruhigte. »Tut mir Leid«, keuchte Tschamarra Talasorn, welche immer noch mitten im sich langsam senkenden Straßenstaub auf den Knien lag. »Mein Zauber ... ist mir entglitten.« »Aha, aber so leicht werdet Ihr mir nicht entgleiten«, meinte Craer schadenfroh neben ihr und zog sie nieder und auf sich. Sie schlug ihm entschlossen mitten ins Gesicht, drehte sich, soweit sein Griff dies zuließ, um und verpasste ihm einen geschickten Schlag in seine empfindlichsten Teile. Wie zu erwarten, stieß er einen erstickten Schmerzensschrei aus. »Lasst mich los, Ihr Tollpatsch!«, zischte sie. Craer antwortete nur mit einem Keuchen. Sie sah ihn an, runzelte die Stirn und stand mühsam auf. Er versuchte sich an einem Lächeln, aber Tschamarra drehte ihm den Rücken zu, klopfte
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sich den Staub von den Kleidern und sah sich um. Schwarzgult, Hawkril und Embra wechselten quer über den zertrampelten, angesengten Pfad, welchen buchstäblich Leichen pflasterten, erstaunte Blicke, dann musterten sie Tschamarra. Immerhin lebte wenigstens noch einer der Fuhrleute. Hawkril benutzte sein Schwert, um den Mann, welchen er zu Boden geschickt hatte, anzustoßen, aber der erwachte nicht aus seiner Bewusstlosigkeit, sondern blieb mit geschlossenen Augen liegen, während Speichel aus seinem schlaffen Mund rann. Auch als Hawkril ihm mit der flachen Klinge einen vorsichtigen Schlag verpasste, erwachte er nicht. Inzwischen war Craer auf die Füße gekommen. Er zuckte zusammen und reckte sich langsam. »Und was hat das alles zu bedeuten?«, verlangte er zu wissen und sprach damit die Überraschung und den Zorn aus, welche alle empfanden. »Keiner von ihnen hat Schuppen oder eine Schlangentätowierung, habe ich Recht?« Hawkril zog seine Panzerhandschuhe an, um sich gegen Gift oder irgendwelche kriechenden Wesen zu schützen, und beugte sich zu dem bewusstlosen Fuhrmann nieder. »Nein«, beschied er, nachdem er nicht allzu saubere Kleider beiseite geschoben und hierhin und dorthin gespäht hatte. Er schaute zu Embra auf und runzelte die buschigen Brauen. »Aber sie waren verzaubert, nicht wahr?« Seine Gefährtin zog ebenfalls die Stirn kraus und wechselte dann einen Blick mit Tschamarra. »Das scheint mehr als wahrscheinlich, wenn man die Plötzlichkeit ihres Angriffs bedenkt, es sei denn, wir kommen alle zu dem Schluss, dass es sich um ausgebildete Schauspieler aus Sirl gehandelt hat –«
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»Zumal wenn man die Tollkühnheit in Betracht zieht, mit welcher sie kämpften«, ergänzte Craers Freundin und schwang sich in den Sattel ihres inzwischen ruhigen Pferdes. Embra nickte. »Aber jetzt ist es zu spät, um Gewissheit zu erlangen. Nur wenn Zauberbanne sehr stark sind oder mit anderer starker Magie zusammenprallen oder auf Zauberstäbe treffen, dann hinterlassen sie eine schwache Spur von Macht, aus welcher man Schlüsse ziehen könnte.« Sie beäugte die hingestreckten Leichen und seufzte. »Falls sich so etwas wieder ereignet und wir die Zeit und die Möglichkeit haben, die richtigen Banne zu wirken, bevor jemand derart von Mordlust Gepackter im Getümmel stirbt, mag es uns vielleicht gelingen, mehr herauszufinden.« Craer hatte sich inzwischen darangemacht, einen in der Nähe liegenden Toten zu untersuchen – einen großen, gut gekleideten Fuhrmann, welcher sich während des größten Teils des Kampfes zurückgehalten hatte und eher schweißüberströmt hin und her gewankt war. Der Mann sah nach einigem Reichtum aus, und so mochte seine Geldbörse gerade recht kommen. Der Beschaffer hatte ein Paar der weichen, eng sitzenden Lederhandschuhe angezogen, welche er in einer Gürteltasche für alle Fälle bei sich trug. Seine derart geschützten Hände fuhren wie Spinnen den Körper hinauf und herunter, hielten aber plötzlich inne. »Der da hat Schuppen«, erklärte Craer grimmigen Tones. Embra wechselte einen unglücklichen Blick mit ihrem Vater. Dem Anspannen seines Kiefers nach zu schließen, löste die Neuigkeit ebenso wenig Freude bei Schwarzgult aus wie bei der Herrin der Edelsteine.
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»Also doch Magie«, sagte sie leise, »aber wessen Magie? Vielleicht eine weitere böse Überraschung seitens der Schlange? Und wenn nicht – wessen dunklen Machenschaften sehen wir uns jetzt ausgesetzt?« Schwarzgult zuckte die Schultern und winkte Embra und ihrer Mitzauberin zu, mit ihm weiter in Richtung der Hügelspitze zu reiten. Da ihnen keine Schaufeln zur Verfügung standen, trugen Hawkril und Craer die Leichen zur tiefsten Stelle der Senke, wobei der Beschaffer eilends Geldbörsen und brauchbar erscheinende Messer und Dolche an sich brachte. Hawkril lehnte den Mann, welchen er zu Boden geschlagen hatte, in sitzender Haltung ein Stück entfernt von der Stelle, an der sie die Toten ablegten, an einen Baum. »Wir haben in letzter Zeit keine Schlangenanbeter gesehen«, überlegte Craer laut, als er den Knöchel eines Toten ergriff, welchen Hawkril hochhob. »Oh?«, brummte der Hüne. »Wenn sie diese Gewänder ablegen und etwas anziehen, das ihre Schuppen verbirgt, wie sollten wir sie dann erkennen? Sie müssen ja nicht unbedingt zischen und schrill lachen. Tun sie das etwa jetzt?« Craer grunzte sein Einverständnis, und die beiden Freunde ließen den Leichnam fallen und gingen zurück, um den nächsten zu holen. Die Kaufmannsfrau setzte ihren Humpen mit Wein ab, ohne von dem Inhalt gekostet zu haben. »Was mag ihn nur aufhalten? Lessra, geh und hol den Meister. Sagt ihm, dass der Wein eingeschenkt ist, dass es spät wird und wir morgen noch einen langen Weg vor uns haben.«
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Ihre Dienerin blieb erwartungsvoll stehen und wartete auf weitere Anweisungen, bis die Frau des Hauses die Geduld verlor und »Geht schon!« schnappte. Nathalessra machte sich auf und verschwand aus der von Kerzen erleuchteten Kammer wie ein eilig weghuschender Schatten. Ihre Herrin seufzte und musterte die am nächsten stehende Kerze. Hatte Golbert sich wieder betrunken? Wie lang benötigte ein Mann, um seine besten Gewänder anzulegen? Seit zwei Monden schon hatte er ihr immer wieder diese Liebesnacht versprochen! Immer zu beschäftigt, immer ein anderer Wagen, welcher be- oder entladen werden musste, bis nur noch diese eine Nacht übrig geblieben war, bevor sie sich auf den Ritt nach Sirlptar machten, und sie hatte es ihm mit unverblümten Worten gesagt – nein, ihn darum angefleht wie eine gewöhnliche Schlampe, und noch dazu mit nur mühsam zurückgehaltenen Tränen –, und dann hatte sie wirklich geweint, nachdem er sie stirnrunzelnd angeblickt hatte. Es sah ganz danach aus, als ... Nathalessra schrie. Hoch, schrill und ... Dann brach der Schrei abrupt und irgendwie feucht gurgelnd ab. Die Frau des Hauses hob die Brauen. »Lessra? Lessra! Was habt Ihr entdeckt? Was ist mit ihm?« Keine Antwort. »Lessra?« Die Kerzen flackerten, aber ansonsten herrschte Stille. Mit einem Laut, welcher an ein Knurren erinnerte, stand die Frau auf und ging in Richtung Tür. Sollte Golbert sich dazu entschlossen haben, die Kammerjungfer statt ihrer zu begrap-
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schen, und noch dazu beinahe unter ihren Augen, dann – Etwas kam durch die Tür, bevor die Frau dort angekommen war. Etwas Längliches mit einer langen Schnauze und mit von Blut glitzerndem Fell. Seine Klauen hinterließen dunkelrote Spuren, während es langsam und schwerfällig herannahte. Zwei gelbe Augen über etwas, das aus einem Maul mit vielen Zähnen baumelte, glitzerten die Frau hungrig an. Sie erkannte Nathalessras starr blickenden, bluttriefenden Kopf. Das Haupt schwang lose hin und her, hing aber immer noch an einer Schulter. Der Rest von Nathalessras Körper war nirgends zu sehen; diese langen Zähne vermochten sicherlich mit Leichtigkeit Fleisch zu durchtrennen. Das Untier kam immer noch bedrohlich näher und war mindestens ebenso groß wie der Tisch hinter ihr. Als es in das Licht der Kerzen trat – lange bevor sie zurückgewichen, gegen den Tisch geprallt, das Gleichgewicht verloren hatte und das Ungeheuer sich über sie hermachte –, schrie die Herrin des Hauses. Das Ungeheuer trug die zerrissenen Fetzen eines Kittels, einer Weste sowie Kniehosen. Golberts Kittel, Weste und Kniehosen. Der Schlangenbruder unterdrückte ein Schaudern – in der Hoffnung, dass es dem Fürsten der Schlange entgangen war, welcher neben ihm stand und ein sanftes Lächeln zur Schau trug. Diese Hoffnung erstarb, als der Priester ihn fragte: »Schreckensklaue zählt nicht eben zu Euren Lieblingen, Bruder?« »Äh, uh«, machte Bruder Landrun und schluckte. »Nein.«
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Der Schlangenfürst lächelte und wedelte missbilligend mit der Hand. »Macht nichts. Auch ich bin von solchen Untieren nicht so sehr bezaubert wie viele unserer Brüder. Ich zöge es vor, wenn der Gestaltwandelzauber, welchen die Blutpest bei den Befallenen auslöst, nützlichere Formen annähme.« Er schwieg und wartete unverkennbar auf die Frage des Bruders, wie denn diese nützlicheren Formen aussehen müssten. Dieses Mal gelang es Landrun, nicht zu erbeben. Jedes einem Schlangenpriester enthüllte Geheimnis mochte der Grund dafür sein, warum ebenjener Priester sterben musste. Er war nicht darauf erpicht, Geheimnisse enthüllt zu bekommen. Aber als er jetzt das Lächeln des älteren Bruders sah, wusste er, dass ihm keine andere Wahl blieb. »Ich habe hin und her überlegt, mein Fürst«, sagte er demutsvoll, um so seine Langsamkeit zu entschuldigen, »aber ich vermag mir beim besten Willen nicht vorzustellen, wie diese nützlicheren Formen aussehen mögen. Es muss sich um den ›bedeutenderen Weg‹ handeln, von welchem Ihr vorhin gesprochen habt. Wollt Ihr mir gestatten –« Der Schlangenfürst lächelte ganz ähnlich wie die Schreckensklaue. In den Windungen des Spähzaubers konnte Landrun erkennen, dass das Untier inzwischen der Hausherrin die Kehle ausgerissen hatte und sich abwandte und dabei noch mehr Blut vertropfte. »Selbstverständlich. Warum sollte man einen Schuster oder einen Viehhirten durch die Blutpest in eine Schreckensklaue oder einen Wolf verwandeln, welche auf Euren Befehl hin zuschlagen, wenn er andererseits unter Eurer Kontrolle han-
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deln und genau das sagen würde, was Ihr ihm zu sagen befehlt – immer vorausgesetzt, Ihr kennt den richtigen Zauber –, während er immer noch in der Gestalt dieses Tersepten ... oder jenes Hochfürsten umherwandelt?« Schwarzgult und die beiden Zauberinnen hatten Hawkril und Craer bei ihrer grimmigen Arbeit zurückgelassen und saßen jetzt an einer angenehmeren Stelle des Pfades auf ihren Pferden, von der aus sie weit in das Tal des Silberflusses hinausschauen konnten. Unter ihnen warf der breite, ruhig dahinströmende Fluss das Sonnenlicht zurück. »Was denkt Ihr gerade, Vater?«, fragte Embra bitter. »Schon wieder die Schlangen – und dieses Mal erheben sie sich allen Ernstes – oder ein paar Priester, welche Unheil säen und miteinander um die Glaubensvorherrschaft wetteifern? Wer auch immer diesen Zauber gewirkt hat, ist verschwunden oder beobachtete uns aus einem Versteck heraus ... oder hat er einen Bann an uns ausprobiert, ein Schlag gegen vorbeilärmende Hochfürsten? Oder war das ein kalt geplanter erster Griff nach der Krone?« Schwarzgult zuckte die Achseln. »Ihr kennt Euch mit Zauberei aus – und mit denen, welche sie wirken, ganz egal, ob sie sich nun auf uralte Zauberbücher oder Schuppen oder irgendeinen Beschwörungssingsang verlassen – und zwar erheblich besser als ich. Ich kenne mich am besten damit aus, wie man ein Schwert schwingt oder andere so anbellt, dass sie ebendas tun, außerdem die Schleichwege durchs Tal und wie man seine Mitfürsten durchschaut und anstachelt ... muss ich jetzt auch noch Euer Fachmann für Schlangenanbeter sein?« »Greif«, schnappte Embra, »helft mir! Ich – ich habe man-
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cherlei Zauberbanne erlernt, aber daneben so gut wie nichts, und Craer und Hawkril schauen jetzt zu mir auf als ihrem Kriegsführer. Ihr habt Aglirta schon Jahre vor meiner Geburt durchstreift und auch in der Zeit, als ich gefangen in der Burg Silberbaum festsaß. Dann wurdet Ihr zum Regenten ernannt im Herzen des Hofes, während ich hingegen erst im Verlauf unserer jetzigen Reise dabei bin, die einfachsten, grundlegenden Dinge über Aglirta zu erlernen. Ich weiß so wenig über das, was ich eigentlich tun sollte, dass ich so manche Nacht wach liege aus Furcht, uns alle in die Irre und in den Tod zu führen – oder Aglirta ins Verderben zu stürzen.« Schwarzgult sah seine Tochter lange an. »Ich bin froh, das zu hören. Gute Herrscher und gute Kriegsführer verbringen viele Nächte mit Grübeleien. Schlechte machen sich nur Sorgen um ihre eigene Haut.« »Fürst Schwarzgult«, mischte sich Tschamarra leise ein und lehnte sich in ihrem leise knirschenden Sattel vor, »muss Eure Tochter eifriger bitten, oder wird mein Appell erfolgreich sein? Sprecht, ich flehe Euch an! Teilt uns mit, was Ihr angesichts des Zustandes des Reiches empfindet, und lasst uns teilhaben an dem, was Ihr darüber wisst ... Bitte.« Schwarzgult seufzte und hob die Hände. »Wenn ich tot bin, an wen wollt Dir Euch dann um Rat wenden? An den Wind, doch bitte abzuwarten, während die Schlacht über Euch hereinbricht? An irgendeinen lächelnden Feind?« »Ohne Euren Rat«, erklärte ihm Embra grimmig, »besteht wenig Hoffnung, dass wir Euch überleben – und ich will nicht, dass wir alle gemeinsam sterben.« Der Mann, welcher sie gezeugt hatte, schaute für einen Moment weg und auf den Silberfluss, seufzte dann wieder,
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lehnte sich verschwörerisch im Sattel vor und meinte: »Für lange Zeit hatte ich die Gewohnheit, alten Freunden bei jedem Halt in einem Gasthaus Krüge zu bezahlen, auf dass ich ihren Gesprächen lauschen konnte. Ich lernte aus der Art, wie sie sich mitten im Satz unterbrachen oder die Stimme senkten, sobald sie wussten, wer ich bin, wie von dem, was sie zu mir sagten. Ich bezweifle jedoch, dass ihr beide diese Taktik erfolgreich anwenden könnt, wenn man euer Aussehen in Betracht zieht und die Angst vor Magie, welche die meisten Leute haben, aber vielleicht könnt ihr euch ihrer von Zeit zu Zeit und durch Zauber unkenntlich gemacht bedienen.« Embra wollte aufbrausen, aber Schwarzgult bedeutete ihr mit erhobener Hand innezuhalten und fügte hinzu: »Ich bin mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass heutzutage keiner von uns Zeit nutzlos vergeuden kann – jedenfalls nicht, wenn jede Stunde des Tages ein solcher Angriff losbrechen kann, wie wir ihn eben erlebt haben. Also werde ich euch das mitteilen, was mir in letzter Zeit besonders vielsagend erschienen ist. Nicht dass es euch als große Erleuchtung vorkommen wird, vergesst das nicht. Keine von euch beiden Mädchen ist ein Dummkopf oder eine Tagträumerin. Ich bin mir sicher, dass ihr genauso gut wie ich wisst, wie unglücklich die Aglirtaner zurzeit sind.« Tschamarra nickte. »Der Gedanke an einen Königsjüngling behagt ihnen gar nicht«, sagte sie. »Sie sehnen sich nach Frieden und Wohlstand ... und nach dem Gefühl, in ihrem eigenen Land sicher zu sein.« Jetzt war Embra an der Reihe zu seufzen. »Sie sehnen sich nach dem Goldenen Zeitalter, an welches sich niemand von uns erinnern kann, falls es das denn überhaupt jemals gegeben
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hat. Lange Jahre und viele Beispiele von Grausamkeit direkt vor der Haustür haben dazu geführt, dass sie Fürsten und Tersepte hassen und fürchten – und Schlangenpriester ebenfalls, und zwar aus den gleichen Gründen. Wilde Geschichten über Zauberer haben das Gleiche bewirkt und den Erwachten König zu einem schimmernden Symbol der Hoffnung werden lassen, welches zerbrach und jetzt verschwunden ist.« Der Goldenen Greif nickte zustimmend und bedeutete ihr mit einer Geste, doch fortzufahren. Embra holte tief Luft und gehorchte. »Blutklinge war ihre neue Hoffnung, und auch er verschwand in die Dunkelheit nachdem er genügend Leuten bewiesen hatte, dass er keinen Deut besser war als die Fürsten, welche er stürzte, und somit Aglirtas neuerliche Hoffnungen zunichte machte.« Verbittert wies sie in Richtung des Flusses. »Das wird sich ändern. Die Leute müssen an neue Hoffnungen glauben, und das werden sie auch wieder tun, sobald ihnen etwas Geeignetes über den Weg läuft. Aber gerade jetzt herrschen harte Zeiten, überall treiben sich Räuber herum. Und königliches Recht und Ordnung sind selten oder gänzlich unbekannt. Wir sind alles, was die meisten Leute im Tal von Treibschaum oder dem König zu sehen bekommen.« »Die Dreifaltigkeit möge ihnen helfen«, meinte Tschamarra und verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln, während sie auf die sich vor ihnen ausbreitende Schönheit des Tals schaute von den sich steil erhebenden Gipfeln der Windfangs im Norden bis zu den Talaglatlat im Süden. Sie beäugte den fernen Nebel, welcher die tiefer gelegenen Fürstentümer, Sirlptar und das Meer verbarg, und seufzte. »Solch ein wunderschönes Land und solch unglückliche Bewohner. Es gibt
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viele Küstendörfer, in welchen arme Leute Stürme bekämpfen, um ihre Boote zur See zu lassen, weil sie Fisch essen oder sterben müssen, und die würden sich von den Göttern geliebt glauben, würde man sie hierher versetzen.« Sie drehte den dunklen, wunderschönen Kopf herum und schaute Schwarzgult aus traurigen Augen an. »Mir will scheinen, dass in Aglirta schon immer Unfrieden herrschte und die Leute immer unglücklich sind. Ist das ein Leiden, ein Fluch von Zauberern oder den Göttern? Oder sind alle Leute entlang des Silberflusses verrückt?« Ezendor Schwarzgult zuckte die Achseln und bedachte die Edle Talasorn mit einem schiefen Lächeln. »Ihr sprecht da eine Frage aus, welche Weise wie auch einfache Leute – wie ich zum Beispiel – vergeblich zu beantworten trachteten. Wie alle werden wir zornig, wenn uns Fremde auf solche Dinge hinweisen, debattieren untereinander mit beinahe ebenso heftigem Zorn ... Und in Wirklichkeit wissen wir gar nichts, wie auch immer unsere Schlussfolgerungen aussehen mögen. Manche meinen, der endlose Kampf zwischen der Schlange und dem Drachen bewirke, dass das Land so rastlos ist und Friede und Versöhnung unmöglich sind. Andere stimmen zu und sagen, die Dreifaltigkeit habe das so angeordnet, während andere geltend machen, dass dies alles Menschenwerk sei. Und schließlich behaupten wieder andere, Aglirta habe Weisheit erlangt durch die Gewalttätigkeiten im Reich, was die Leute überall in Darsar bestritten oder gar nicht erst erkennen könnten. Aber sehr viele meinen, dass wir unfähig oder von den Göttern verflucht sind und niemals Frieden halten können,
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sondern kämpfen müssen. Und es gibt auch Leute, die überheblich behaupten, ganz Darsar beneide und begehre Aglirta und schicke unablässig Agenten ins Land, um es an sich zu reißen oder doch zumindest Einfluss im Tal zu gewinnen, entweder im Verborgenen oder mit unverhüllter Gewalt, und dass diese habgierigen Eindringlinge hinter all unseren Kämpfen stünden. Wie auch immer es mit dem Wahrheitsgehalt solcher Worte aussehen mag, sie dienen letzten Endes als Entschuldigung dafür, warum das Kämpfen weitergehen muss, ganz gleichgültig, was der eine oder andere Aglirtaner tun mag. Also können wir tun, was uns gefällt oder womit auch immer wir davonkommen.« Er zuckte erneut die Achseln und fügte verbittert hinzu: »Als ich jung war, wusste ich alle Wahrheiten mit feuriger, unverrückbarer Sicherheit – wenn es mir überhaupt einfiel, weiter als bis zu meinen Lenden, meinem Bauch und der Spitze meines Schwertes zu denken. Später erkannte ich, dass ich nichts war als ein hitzköpfiger Streithammel ... und dann geriet ich in eine von einem Dwaer bewirkte Explosion, welche mich mit nicht mehr als Scherben meiner Erinnerungen und meines Denkens zurückließ. Jetzt bin ich nichts weiter als ein einfacher Soldat.« Er lächelte die Edle Talasorn an. »Ich glaube, viele Aglirtaner sind so wie ich. Sie haben so viel Enttäuschung und Krieg hinnehmen müssen, dass sie sich nur noch an ihren Zorn und ihren Verlust erinnern können – und daran, wie man kämpft.« »Aglirta ist der Amboss, auf welchen alle Hämmer niederfallen«, murmelte Embra und zitierte damit ein altes Sprichwort.
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»Ich glaube nicht, dass der Grund für einen Kampf wichtig ist, zumal nicht für jene, welche Verwirrung zeigen, wenn sie das Schwert schwingen sollten, und deshalb tot auf der Strecke bleiben«, knurrte Hawkril und trieb sein Ross an, so dass es, gefolgt von Craers Tier, zu den Frauen und dem Fürsten aufschloss. »Unsere Aufgabe besteht darin, das Reich zu verteidigen. So wie immer. Wie wir das tun können, müssen wir herausfinden.« »Unsere Aufgabe?«, fragte Tschamarra. »Als Hochfürsten?« »Als Hochfürsten«, bestätigte der Hüne ernst. »Unsere Arbeit kann man in einfache Worte fassen: Findet heraus, welche Krise auch immer sich anschickt, ihre Kiefer um Aglirta zu schließen, und setzt euch damit auseinander, bevor der nächste hungrige Ärger kommt.« »Mein einziger wirklicher Einwand«, warf Craer ein und schwang sich in den Sattel, »besteht darin, dass Hochfürsten ihre wachen Stunden damit zu verbringen scheinen, hart von einer Krise zur nächsten zu reiten. Können solche Dinge nicht in Bündeln wachsen oder wenigstens an ein und demselben Busch?« »Aber, aber, Langfinger«, meinte Embra liebevoll, »Ihr würdet doch diese endlosen Ritte vermissen, wenn Ihr nicht mehr mit aufgeblähtem Umhang kreuz und quer durch das Land galoppieren könntet.« »Was uns wieder zu dem zurückbringt, über was ich mich beklagte, bevor diese Fuhrleute verrückt wurden«, antwortete der Beschaffer mit einem gewissen Triumph in der Stimme. »Wenn im ganzen Tal Unzufriedenheit und Gesetzlosigkeit herrschen, obwohl wir doch alle uns bekannten üblen Fürsten und gefährlichen Zauberer ausgeschaltet haben – mal abgese-
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hen von dem sich verbergenden Phelinndar und seinem Dwaer –, wohin genau sollen wir denn jetzt galoppieren? Wäre es nicht leichter, wenn wir uns an einem angenehmen Ort niederließen, welcher reichlich mit Wein, Schüsseln voller gutem Essen und willfährigen Mädchen ausgerüstet ist, um dort auf die Feinde von Aglirta zu warten, auf dass sie zu uns kämen? Wir könnten ja ein paar Fallen aufstellen, um –« »Mein guter Hochfürst Delnbein«, sagte Tschamarra mit verdächtig seidenweicher Stimme, »ich habe mich ja hoffentlich verhört, was die ›willfährigen Mädchen‹ anbetrifft.« »Äh – ich hatte nur Fürst Schwarzgults Wohl im Sinn, meine edle Dame!«, erwiderte Craer fröhlich und einen Hauch zu eifrig. »Wirklich! Ich –« »Craer«, meinte die Edle Talasorn kalt, »ich kann über etliche Hügel hinweg erkennen, wann Ihr lügt. Ich glaube, Ihr werdet unter erheblich kälteren und einsameren Bedingungen schlafen. In dieser Nacht wie auch den folgenden.« Der Beschaffer zuckte zusammen und blickte Tschamarra flehentlich an, aber die Edle wandte sich ab und starrte nach Westen den Fluss hinunter. »Ein kalter Ort, der Euch da erwartet«, erzählte Hawkril dem nächsten Baumstamm. Alle anderen schwiegen. »Ich selbst habe ihn nie gern besucht.« »Je weniger hier und jetzt über die persönlichen Angelegenheiten zwischen der Edlen Talasorn und dem Hochfürsten Delnbein gesprochen wird, desto besser«, mischte sich Schwarzgult entschlossen ein. »Auch wenn ich Gefahr laufe, wie ein das Verhängnis heraufbeschwörender Vater zu klingen, so lasst uns nur von anderen Dingen reden. Für Craers Zukunft sehe ich viel Kriecherei voraus, und die Sache wird
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noch schlimmer, wenn weiter darüber gesprochen wird. Um unser aller willen lasst keine unguten Gefühle zwischen uns aufkommen. Zwei von uns haben sich, so wie ich mich erinnere, für Stornbrücke entschieden. Embra, bitte nennt uns die Gründe, weshalb sich ein Kriegsführer dorthin wenden und nicht den anderen Weg nehmen würde.« Seine Tochter nickte. »Wie Craer sagte, bevor seine lose Zunge ihm einen Streich spielte, sind die am einfachsten auszumachenden Feinde des Königs geflohen, in unsere Hände gefallen oder gut versteckt. Wir brauchen ein paar ehrliche Antworten zu ihrem Verbleib oder ihren Plänen, zudem Auskunft über merkwürdige Vorfälle, welche sich an allen möglichen Orten ereignet haben mögen – und wie die einfachen Leute Raulin tatsächlich einschätzen, im Gegensatz zu dem, was nur auf ihr eigenes Wohl bedachte Tersepte, Fürsten und Priester über die Gefühle der Leute behaupten mögen.« Sie bedachte ihre Mithochfürsten mit dem Anflug eines Lächelns und fügte hinzu: »Einige unter uns kennen den Tersepten von Stornbrücke – jedenfalls gut genug, um ihn beurteilen zu können. Er ist gewissermaßen ein Narr, ein Schwächling und Trunkenbold – sind wir da einer Meinung?« »Wir stimmen Euch zu«, erklärte Schwarzgult, nachdem Craer und Hawkril genickt hatten. Auf Embras Gesicht erschien ein echtes Lächeln. »Ein paar Krüge Wein sollten seine Zunge ausreichend lösen – nötigenfalls unterstützt durch Eure, meine und Tschamarras Zauberbanne –, dass er ein paar Wahrheiten ausspuckt. Selbst wenn er über nicht mehr zu berichten weiß als die Neigung des nächsten Zaunpfahles, so sollten wir doch einiges über die Stimmung seiner Leute hinsichtlich des Königs und Aglirta
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im Allgemeinen erfahren. Zumindest jener, deren Worte ihm zu Ohren kommen. Vielleicht erfahren wir mehr, als uns lieb ist ... aber irgendwo müssen wir damit beginnen, jeden Stein im Tal umzudrehen, nachdem unsere allzu leichte Jagd zu Ende ist.« »Es gibt da noch eine Sache«, warf Tschamarra ein wenig zögernd ein. »Auf die Gefahr hin, euch alle zu beleidigen, indem ich auf das Offensichtliche hinweise, möchte ich doch noch einmal zusammenfassen, dass wir für eine ganze Weile Zauberer gejagt und auch schon davor gemeinsam mit dem halben Tal Schlangenpriester getötet haben. Wenn wir jetzt keine mehr zu Gesicht bekommen, dann bedeutet das nicht, dass wir das Tal von ihnen befreit haben – es heißt lediglich, dass sie gelernt haben, vorsichtiger zu sein und sich besser zu verstecken. Wir reiten quer durch das Reich und wissen genau, wenn jemand, welchen wir zuletzt drunten in Drungarth gesehen haben, sich plötzlich in Overember niedergelassen hat, aber die Dorfbewohner wissen das nicht. Sie sind an herumziehende Hausierer gewöhnt oder an Flüchtlinge aus dem einen oder anderen Fürstentum im Tal, welche in den Ort kommen, und sie würden nie im Leben annehmen, dass die Neuankömmlinge etwas anderes sind als das, was sie zu sein vorgeben. Nicht alle Zauberer – oder Schlangenpriester – sind überhebliche, großspurige Narren. Manche unter ihnen vermögen sich bestens zu verbergen, und ich fürchte, dass mehr als einer unter ihnen während der letzten Jahre gelernt hat, vorsichtig und gleichermaßen geduldig zu sein.« »Gut gesprochen«, befand Schwarzgult. »Deshalb suchen
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wir uns die Unvorsichtigen mit den losen Zungen und zu viel Ehrgeiz heraus und sehen zu, was wir von ihnen erfahren können. Es ist gut möglich, dass der Tersept von Stornbrücke wenig über seine Gelage und Bettgenossinnen hinaus weiß und wo seine nächsten Säcke voller Geld herkommen werden. Leute jedoch, welche nach Macht streben, würden das sehr bald erkennen und sich seiner bedienen. Sollte das bereits geschehen sein, so sollte es uns zumindest gelingen, etwas über ihre Namen und ihr Aussehen zu erfahren; meine Magie ist lächerlich verglichen mit der Macht von euch beiden Zauberinnen, und sogar ich könnte so viel aus ihm herausbekommen.« »Nun denn«, brummte Hawkril und bestieg sein Pferd, »anscheinend haben wir eine Einigung gefunden. Die Burg des von uns ausgewählten Idioten liegt ganz in der Nähe, so dass wir sie erreichen können – immer vorausgesetzt, dass wahnsinnig gewordene Fuhrleute das gestatten –, bevor noch viele Stunden dieses Tages verstrichen sind. So lasst uns denn aufbrechen.« So kam es, dass sie den Weg nach Osten in Richtung Osklodge einschlugen und unterwegs nur einem einsamen Bauern begegneten, welcher hinter seinem von einem Maulesel gezogenen Karren herging. Der Mann starrte sie an und nickte ihnen dann zu, so wie ein Aglirtaner dem anderen zunickt, ohne sich vor irgendwelchen Hochfürsten zu verneigen. Aber immerhin sah er davon ab, in Geschrei auszubrechen und mit dem Schwert auf sie einzudringen. »Die Dreifaltigkeit möge ihn segnen«, murmelte Embra bitter, und den zustimmenden Mienen ihrer Gefährten nach
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zu schließen, empfanden sie ähnlich. Während ihres Rittes sahen sie nur wenige auf den entfernter gelegenen Feldern arbeitende Menschen. Die meisten richteten sich auf und starrten zu ihnen herüber, aber nur einer winkte ihnen zu. Von Zeit zu Zeit kamen sie an Gattern mit dahinter liegenden Wegen vorbei, und als die Hochfürsten weiterritten, verdichteten sich die Bäume, durch welche man bislang weite Felder hatte sehen können, zu dichten Wäldern, hinter denen die Bauernhäuser vollständig verborgen blieben. Als das Licht immer dunkler und grünlicher wurde, wandte sich Craer im Sattel um und gab Hawkril ein stummes Zeichen. Der Ritter nickte und bedeutete seinen Mithochfürsten mit einer Handbewegung, den Schritt ihrer Pferde zu verlangsamen und so vorsichtig und leise wie möglich weiterzureiten. Der Beschaffer an ihrer Spitze ritt eilends weiter, so dass sich zwischen seinem und dem Ross des Hünen eine große Lücke auftat. Tschamarra hörte ein leises Klirren, als hinter ihr Schwarzgult sein Schwert zog. Sie erschauerte und schickte sich an, langsam und sorgfältig einen Zauber zu wirken. In genau diesem Moment bemerkte Embra, dass die Vogelstimmen und das Rascheln von Flügeln zu beiden Seiten des Weges verstummt waren. Im Wald herrschte eine seltsame Stille. Ihr eigenes Zaumzeug knarrte und knirschte wie gewohnt, aber die Geräusche klangen jetzt beunruhigend laut, weil die Hochfürsten so angestrengt lauschten, in alle Richtungen spähten und abwarteten. Plötzlich erstarrte Tschamarra in ihrem Sattel. Im gleichen Augenblick hob weiter vorn Craer lautlos zur Warnung die
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Hand. Für ein paar weitere Augenblicke herrschte Stille – und dann erwachten die Bäume links und rechts des Pfades plötzlich zum Leben. Lange, dunkle Untiere brachen durch tanzende Äste und abgerissene Blätter auf die Hochfürsten nieder – sechsbeinige Ungeheuer, größer als Bären und mit Mäulern, welche weiter aufklafften als die Kiefer des größten und hässlichsten Nagefisches, der jemals in ein Sirl-Netz gegangen war. Bösartig und hungrig funkelnde rote Augen blitzten auf, als sich die Untiere auf die schrill wiehernden, sich aufbäumenden Pferde der Hochfürsten fallen ließen. Embra fluchte, während sie nach ihrem Dwaer langte und gleichzeitig versuchte, im wild auf und nieder hüpfenden Sattel zu bleiben – und Schwarzgults Klinge fuhr wie aus dem Nichts dicht an ihr vorbei, als der Fürst nach einem riesigen Kiefer schlug, welcher sich um ihren Arm hatte schließen wollen. Orangefarbenes Blut schoss aus der aufgeschlitzten Schnauze des Angreifers, und gleich darauf ertönte ein lautes, schmerzliches Brüllen – ein Geräusch, in welches andere Bestien einstimmten, denn Craer hatte sein eigenes entsetztes Ross zu ihnen zurückgezwungen und eifrig Dolche in rote Augen und brüllende Kehlen versenkt, während er sich seinen Freunden näherte. Hawkril stellte sich in den Steigbügeln auf, ließ die Zügel fahren, packte mit eiserner Faust den Kopf seines Pferdes und hackte mit dem Kriegsschwert in der anderen unermüdlich zu, und der scharfe Stahl hob und senkte sich so schnell, dass man dem Schwert mit bloßem Auge kaum noch folgen konnte. Überall spritzte orangefarbenes Blut in die Höhe.
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Tschamarra schrie auf und griff sich an den Kopf, als drei eiskalt entschlossene, feindliche Geister ihren Suchzauber brachen und dann wieder aus ihrem Kopf flohen, was sich so anfühlte, als seien drei eisige Klingen durch sie hindurchgezuckt – und als sie von ihr wichen, brach die Welle des einmütigen Angriffs der Ungeheuer in sich zusammen, hinterließ nichts als einen knurrenden Tumult in alle Richtungen fliehender Bestien. Äste splitterten und zerbarsten, als haarige Körper durch sie hindurchstürmten, und Hawkril trieb sein Pferd an, ihnen zu folgen. Mehr als eins der Ungeheuer mit den weit aufklaffenden Mäulern fiel schwer und laut schreiend zu Boden, als die Klinge des Hünen ihr Ziel traf. Embra rief einen Feuerball hervor, welcher dicht unter der Schnauze des einzigen Ungeheuers explodierte, welches die beiden Zauberinnen nach wie vor bedrohte. Schwarzgult sprengte hinter einem weiteren, ungeschickt durch die Bäume stolpernden Wesen her. Mitten in dem Chaos aus entsetzten, scheuenden hochfürstlichen Pferden fluchte Craer leise in sich hinein, als ein sechsfüßiges Ungeheuer wegtaumelte, während noch ein Dolch in ihm steckte. Er sprang aus dem Sattel, prallte hart auf dem staubigen Pfad auf, rappelte sich auf und rannte los, sobald er wieder Boden unter den Füßen spürte. Sein Lauf fiel kurz, dafür aber umso geschwinder aus: Er holte das Ungeheuer ein, als es in schmerzlicher Hast versuchte, sich zwischen zwei dicht beieinander stehenden Baumstämmen durchzuzwängen. Craer packte den Griff seines Dolchs, als hätten ihm die Götter selbst die Waffe in die Hand gedrückt, warf sich nach vorn – und musste schmerzlich feststellen, dass ihn ein Ast in eine andere Richtung lenk-
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te, nämlich direkt auf den bebenden, stinkenden Rücken des Ungeheuers. Ungefähr zur gleichen Zeit musste er entdecken, dass im Halbschatten unter den Bäumen ein anderes Untier den Kopf in seine Richtung drehte und das Maul aufriss, und ihm fiel ein, dass es sich hier mitnichten um das Lied eines Barden handelte – und übermäßig kühne Helden selten sonderlich lang am Leben bleiben. Er packte seinen Dolch mit der einen Hand, und mit der anderen griff er nach einem überhängenden Ast. Craer hüpfte hoch, drehte und wand sich und hing schließlich mit baumelnden Füßen in der Luft. Der Dolch in seiner Hand troff vor Blut, und die riesigen Kiefer unter ihm schnappten nach ihm. Er brach dem Untier mit einem Stiefeltritt einen spannenlangen Zahn aus dem Maul, und der Stoß drehte die geifernde Schnauze des Ungeheuers in eine andere Richtung – und dann schwang er sich zur Seite. Während die Kiefer inmitten eines Schauers aus splitternden kleinen Zweigen herumfuhren, erschien Hawkril am Ort des Geschehens. Der Ritter hob sein großes Kriegsschwert mit beiden Händen, zog es herunter und traf sein Ziel wie ein Holzfäller, welcher versucht, einen Baum mit einem einzigen Hieb zu fällen – und das Ungeheuer heulte auf vor Schmerz und kippte um. Hawkrils Schlag hatte eines seiner Beine fast abgetrennt, und wehklagend zog es sich in den Wald zurück, wo es unter lautem Krachen verschwand. Inzwischen ließ Schwarzgult sein Schwert in einem kleineren, aber ebenso unermüdlichen metallenen Wirbel herumfahren, denn er schlug auf ein Untier ein, welches immer
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wieder den Kopf umdrehte und versuchte, Embra und Tschamarra zu beißen. »Es sieht ganz danach aus, als würden sie von jemandem kontrolliert«, keuchte er und schlug auf eine Schnauze ein, die bereits an vier Stellen offen lag und heftig blutete. Schließlich wandte sich das Ungeheuer jaulend um und floh blindlings durch die nahebei wachsenden Schösslinge, und unter seinem Gewicht zerbarsten Baumstrünke. Und dann waren alle Untiere verschwunden, und die ungesalbten Hochfürsten von Aglirta starrten einander keuchend über die bluttriefenden Trümmer zerhackter Äste und Baumstämme und die schnaubenden Pferde hinweg an, und Craer bemerkte spöttisch: »Meine Güte, ein Spaziergang durch die Wälder von Aglirta ist ganz gewiss fürchterlich unterhaltsam!« »W-was war das nur?«, keuchte Embra. »Solche Wesen habe ich nie zuvor zu Gesicht bekommen ...« »Dlargar«, grollte Hawkril. »Untiere, welche manchmal als rennende Bären oder auch als klaffende Mäuler bezeichnet werden. Aus den Sümpfen nahe bei Elgarth – aber hier im Tal hat man sie nie gesehen.« »Also wurden sie heraufbeschworen«, stellte Craer in scharfem Ton fest. »Von jemandem, welcher immer noch irgendwo da draußen ist?« »Ja«, antwortete die Edle Talasorn, »ja, und das waren sie in der Tat, aber ...« »Es gibt keine erweckte Magie und auch keine Beobachtung mittels einer Kristallkugel in unserer Nähe«, berichtete Embra. »Sie sind geflohen.« »Schlangen?« »Ja«, bestätigte Tschamarra voller Grimm. »Drei von ihnen
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haben diese Ungeheuer angeführt und meinen Suchzauber gebrochen. Ihre Gedanken ... waren alles andere als freundlich.« Hawkril runzelte die Stirn. »Handelt es sich um jene, welche uns die Fuhrleute auf den Hals gehetzt haben?« Zur Antwort zuckte die Edle Talasorn mit den Schultern. »Werden sie es wieder versuchen? Was meint Ihr?«, fragte Schwarzgult leise. Die Zauberin schüttelte den Kopf. »Sie halten sich nicht in der Nähe auf – sie sind durch Magie verschwunden. Einer unter ihnen raste vor Zorn, und seine Wut entstand durch Angst. Er wird uns nicht absichtlich entgegentreten, es sei denn, er hat bessere Zauber gefunden, welche er uns entgegenschleudern kann.« Craer verdrehte die Augen. »Dann lasst uns von hier verschwinden, bevor sonst jemand zu der Ansicht gelangt, dass Hochfürsten eine gute Jagdbeute abgeben.« Die fünf gaben ihren Pferden die Sporen. Die immer noch verängstigten Tiere schienen froh zu sein, diesem Ort entfliehen zu können, galoppierten wie wild über eine Erhebung und aus den dicht stehenden Bäumen hinaus. Die Reiter blickten sich vorsichtig um, als die Pferde schließlich eine langsamere Gangart anschlugen, schnaubten und austraten, wobei ihre Flanken vor Schweiß glänzten. Embra blickte Schwarzgult fragend an und wies auf ihr Ross, aber der Goldene Greif schüttelte kurz und knapp den Kopf und zeigte nach vorn auf den Weg. Erleichtert oder nicht, die Tiere würden noch warten müssen, bis sie die Gelegenheit zum Ausruhen erhielten. Die Hochfürsten wechselten kaum ein Wort, während sie
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zwischen sanften Hügeln hindurchritten, auf denen hier und da Bauernhäuser standen. Ihr Weg verlief häufig neben einem munter plappernden Bergbach einher, welcher an Stärke und Breite zunahm, da kleinere Rinnsale in ihn einmündeten, bis die Gefährten über dem breiten grünen Schild eines dazwischengedrängten Waldes die Dächer von Stornbrücke ausmachen konnten. Es handelte sich um einen Ort von nicht geringer Größe mit einem Marktplatz, von welchem etliche krumme Sträßchen mit kleinen Häusern ausgingen. Mitten unter den Bäumen sahen sie Gärten, in welchen zahlreiche Leute arbeiteten. Da der Tag bereits seinen Höhepunkt überschritten hatte, lag fast ganz Stornbrücke im Schatten der Terseptenburg, welche wie ein Bündel steinerner Lanzen aus einem als Schlossgraben dienenden kleinen See ragte. »Man hat uns gesehen«, verkündete Craer und wies auf eine winzige, hastig dahineilende Gestalt, welche außer dem Beschaffer nur Schwarzgult bemerkt hatte, bevor sie im Schutz des grünen Waldes verschwand. »Lasst uns darauf hoffen, dass wir uns nicht unseren Weg durch diesen Ort freikämpfen müssen«, gab Tschamarra bekannt. »Meine Zauber reichen nicht ewig.« »Embra«, fragte Schwarzgult höflich, »steht Euch so etwas wie ein Schildzauber gegen Pfeile zur Verfügung?« »Aber ja«, antwortete die Herrin der Edelsteine, »aber selbst mit dem Dwaer, um meinen Zauber zu speisen, wird es mir nicht gelingen, etwas zu halten, das groß genug wäre, uns alle und noch dazu von allen Seiten zu schützen, während wir auf den Pferden sitzen. Es entstünden zu viele Lücken, wenn auch an sich verändernden Stellen und von außen nicht sicht-
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bar. Wenn wir ganz nah beieinander stünden und mehr oder weniger reglos blieben, dann ja, aber ...« Ihr Vater hob eine Hand. »Vergesst meine Frage. Es handelte sich nur um einen flüchtigen Gedanken. Vielleicht bin ich töricht ...« Craer wandte sich um und blickte den Goldenen Greifen an. »Missfallen Euch diese Bäume dort drüben ebenso sehr wie mir?«, fragte er leise und machte eine Geste in Richtung eines Dickichts vor ihnen, wo der Weg düsterer wurde, eine Biegung nahm und dann nach unten und außer Sicht abbog. »Ja«, antwortete Schwarzgult knapp und langte nach dem kleinen, beinahe nutzlosen Schild, welchen er am Sattel trug. Hawkril hatte den seinen bereits in der Hand. Embra schaute Tschamarra an und zuckte die Achseln. »Wie immer stellen meine anmutigen Kurven meine einzige Rüstung dar«, verkündete die Letzte derer von Talasorn, und zur gleichen Zeit stieß Craer seinem Pferd die Sporen in die Flanken, so dass es vorwärts schoss. Die anderen folgten seinem Beispiel, und gemeinsam galoppierten sie mitten in den Wald. Hier und dort öffneten sich zu beiden Seiten von Holzfällern geschlagene Lichtungen, aber die meiste Zeit über war der Wald alt, dunkel und dicht wuchernd, denn die Zweige verwoben sich über dem Weg und bildeten einen dunklen Tunnel. Wann immer ihr steiler Weg nach unten einen Ausblick auf das ermöglichte, was vor ihnen lag, erschien es den fünf Gefährten, als blickten sie immer auf die hohen Türme von Burg Stornbrücke. Schlüpfrige Blätter zwangen sie dazu, langsamer zu reiten, und Hawkril grollte: »Wie geschaffen für räuberische Überfäl-
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le!«, und fiel zurück, um neben Embra hertraben zu können. Es gab nicht genug Platz, als dass jemand auch ihre andere Seite hätte schützen können, selbst wenn sie einen ganzen Trupp von bewaffneten Berittenen zur Begleitung gehabt hätten. So wie die Dinge nun einmal standen, ließ sich auch Schwarzgult zurückfallen, so dass Tschamarra sich genau vor ihm befand. Craer bildete allein die Vorhut, und er dankte seinen Gefährten lauthals und spöttisch dafür, während sie in den letzten Abschnitt des Waldes eintauchten. Sie wagten es wieder, ihre Pferde anzuspornen, denn inzwischen sahen sie vor sich Sonnenlicht und die wartenden Häuser von Stornbrücke. »Wir verwandeln uns allmählich in Angsthasen, welche sich vor Schatten fürchten«, meinte Embra, als die Bäume dünner wurden und immer mehr Sonnenstrahlen durch das Blätterdach drangen. Tangelblätter und Drosselfarn wuchsen in dichten Büscheln, wo das Licht hinfiel, und bildeten Hecken links und rechts des Weges. Die Gefährten konnten vor sich das Geräusch von Äxten auf Hackklötzen hören und das Kreischen von Wagenrädern. Hawkril stieß ein leises Schnauben aus und hob seinen Schild ein wenig höher. Als Nächstes hörten sie ein lautes Zischen aus den Bäumen rings um sie herum – und ein überraschtes Grunzen von Craer, als sich ein Pfeil in seine Schulter bohrte und ihn aus dem Sattel holte. Die blutig glitzernde Spitze ragte aus seiner Schulter, als er fiel. Tschamarra schrie und versuchte, an Hawkril vorbeizueilen zu dem gefallenen Beschaffer. Als sich ihr Pferd an dem
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seinen vorbeidrängte, erbebte Hawkrils Schild unter den heftigen Einschüssen dreier Pfeile – und eine Pfeilspitze durchdrang den Schild und blieb dicht vor Tschamarras Nase bebend stecken. Ungefähr zur gleichen Zeit bohrte sich ein Pfeil in den Leib ihres Rosses, und das Tier bäumte sich auf. Die Edle Talasorn klammerte sich an der Mähne fest, um im Sattel zu bleiben, Embra sang eine Beschwörung, Schwarzgult brüllte, und Hawkril bekam einen Pfeil ab. Als sie sah, wie Hufe nach Bäumen hoch über ihrem Kopf schlugen und sie den langen, dunklen Fall in die Dunkelheit antrat, schrie Tschamarra wieder. Pfeile zischten heran wie vom Sturm gepeitschter Regen ...
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Willkommen in Stornbrücke C Das runde Fenster des Studierzimmers gab den Blick frei auf die schönsten und größten Gärten, welche das reiche, sonnendurchflutete Arlund aufzuweisen hatte. Ein graubärtiger, dunkelbraun gebrannter Mann in einfach geschnittenen, aber teuren Gewändern stand da, starrte in Richtung Aglirta und dachte über das so gut wie königslose Land nach. Dolmur Bogendrachen dachte dieser Tage über eine ganze Menge nach. Er hatte eine ernsthafte Störung im Fluss des Arrada festgestellt, als ob im Verborgenen mächtige Zauber am Werk seien ... irgendwo im Tal des Silberflusses. Natürlich. Solche Dinge ereigneten sich immer in Aglirta, dem Land der tollkühnen Magier und dieser schurkischen Zauberer, welche sich selbst als ›Priester der Schlange‹ bezeichneten. Deshalb hielt Dolmur seine magische Wacht über das lang gestreckte, enge grüne Königreich, durch dessen Herzen ein mächtiger Fluss strömte – und von diesem abgesehen wenig aufweisen konnte. Wer also in Aglirta wirkte Banne, welche ganz Darsar erschütterten ... wo doch die Priester damit beschäftigt waren,
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Gift zu verspritzen und Bestechungsgelder zu verteilen, und die Kräfte des Königs alle Zauberer zusammentrieben, welcher sie habhaft werden konnten? Wegen solcher Rätsel beobachtete er Aglirta schon seit langer Zeit und würde das auch in Zukunft so halten ... selbst wenn es sich nicht um ein Land gehandelt hätte, welches sein Herz düster und schwer vor Kummer hatte werden lassen. Fluchbeladenes Aglirta – dieses Land hatte die meisten der jüngeren Mitglieder der Familie Bogendrachen verschlungen. Sie waren in jungen Jahren dahingerafft worden, und ihre hell strahlende Magie ging verloren, bevor sie noch die Meisterschaft erlangen konnten – nicht mehr als eine Hand voll unter all den toten und vergessenen Zauberern, welche dem seit langem herrschenden Unfrieden zum Opfer gefallen waren, welcher Dolmur, seit er denken konnte, als der wahre Herrscher über Aglirta erschien. Und so lange seine Eltern zurückdenken konnten, und vielleicht auch deren Eltern. Sinnlos, so sinnlos. »Sie starben«, flüsterte er dem teilnahmslosen Fenster zu, »denn sie waren Narren, die nachgerade nach Ärger Ausschau hielten. Narren, welche mir lieb und teuer waren, aber nichtsdestoweniger Narren.« Das Fenster ragte mehr als mannshoch auf, und sein Rahmen funkelte innen wie außen vor Edelsteinen. Die massiven, gewölbt geschliffenen Juwelen enthielten Zauber, welche Vögel davon abhielten, gegen das Fenster zu prallen. Zudem sorgten sie dafür, dass die riesige Fensterscheibe nicht zerbarst, wenn man mit aller Kraft mit einer Waffe darauf einschlug. Dolmur Bogendrachen hatte das ausprobiert, und er lächelte angesichts der Erinnerung an den stärksten unter seinen Rit-
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tern, welcher so schnell er konnte in voller Rüstung den langen Gang im Keller entlang gerannt war und sein volles Gewicht in den Axthieb gelegt hatte, mit welchem er auf die Scheibe einschlug. Beim Aufprall war die Waffe geborsten und ihr Eigner betäubt zu Boden getaumelt, aber die Scheibe war unversehrt geblieben. Es handelte sich um einen guten, starken Zauber – einen der letzten, welcher seine Kraft aus dem langsam verrinnenden Leben des durch einen Zauberbann tief unter diesem Haus lebendig begrabenen Magiers bezog: eines Magiers namens Eiyraskul, welcher einst ein Erzfeind von Dolmurs Vater gewesen war. Dolmur hätte es vorgezogen, seine lang anhaltenden Zauberbanne aus einer anderen Quelle zu speisen – sei es ein Zauberring, ein Stein, welchen er beeinflussen konnte, oder auch ein Zauberstab – als aus einem schlafenden Magier, der vielleicht eines Tages aus den ihn bindenden Zaubern befreit werden und hervorkommen mochte, um Bogendrachen zu töten – aber heutzutage opferten Zauberer nicht bereitwillig ihr eigenes Leben, auf dass solche Besonderheiten gewirkt werden konnten. Dolmur seufzte laut und erzählte dem Fenster: »Wir müssen uns mit dem begnügen, was uns zur Verfügung steht. Indem sie sich nach Dingen sehnen, die nur in Träumen wahr werden, verschwenden die, welche schwachen Willens sind, ihr Leben.« »So wie jetzt?«, fragte eine ruhige Stimme hinter ihm, wo eigentlich keine Stimme hätte sein dürfen. Dolmur Bogendrachen wirbelte herum. Für einen Zauberer bedeuten solche Überraschungen in der Regel Lücken in der Rüstung, sei es aus Unachtsamkeit, sei es aus schierem
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Pech, und meistens bedeuten sie den Tod. Aber kein Mann kann anders, als seinen Mörder oder sein Schicksal sehen zu wollen. Die Wächterzauber in der Studierstube und im Haus hätten alle Nichtmagier wegwirbeln und Dolmur vor dem Eintreten eines jeden Magiers warnen müssen, welcher genug Macht besaß, sie zu brechen, aber bei diesem in lange Gewänder gekleideten Mann mit den rabenschwarzen Haaren und dem schwachen, wissenden Lächeln handelte es sich ohne jeden Zweifel um einen Magier. Ein Eindringling stand in seiner Studierstube, und seine Stiefel berührten beinahe eine der Steinplatten auf dem Boden, welche einen von Dolmurs besonders brachial wirkenden Abwehrzaubern enthielt und den Mann eigentlich geradewegs nach oben in Richtung Decke schleudern sollte, wo ihn die Stacheln eines riesigen drachenkopfförmigen Kronleuchters aus Eisen pfählen würden. Das Lächeln seines Besuchers wurde breiter, und der Mann vermied sorgfältig die Bodenplatte, als er jetzt näher herantrat. »Vergebt mir die Plötzlichkeit meines Eindringens – und wenn wir schon davon sprechen, mein Eindringen selbst, Fürst Bogendrachen. Ich komme in friedlicher Absicht und um Euch ein Angebot zu unterbreiten und nicht, auf dass wir unsere Zauberbanne messen.« »Dann seid willkommen, Fürst Namenlos«, erwiderte Dolmur ruhig und wies auf die Sofas nahe beim Kamin, während er sich umdrehte und auf die Sitzgelegenheiten zuschritt. »Ich habe immer ein offenes Ohr für Angebote. Wollt Ihr Wein? Oder vielleicht heißen Serbret?« »Weder das eine noch das andere, danke«, antwortete sein
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Gast und folgte ihm. Der Weg des Fremden führte ihn quer über eine bestimmte Anordnung von Bodenplatten, so wie Dolmur es beabsichtigt hatte, aber keine als Alarm gedachte Fanfarenmusik erklang. Also handelte es sich nicht um einen Eindringling, sondern um einen »Übermittler«. Allem Anschein nach wirklich, aber tatsächlich nur eine Illusion, und aus diesem Grund konnte er auch kein Getränk zu sich nehmen. Aber er war natürlich in der Lage, Dolmur auszuspionieren, unter Umständen sogar über Monate hinweg ... und offenkundig wollte er, dass Dolmur dies wusste, indem er die SchleuderzauberBodenplatte mied. »Dann macht es Euch bequem, und erzählt mir von Eurem Angebot.« Der älteste der Bogendrachen machte eine Geste in Richtung Kamin und bot seinem unerwarteten Gast an, sich eines der vier Sofas auszusuchen oder sich, was wahrscheinlicher erschien, stehen zu bleiben und sich an die Kamineinfassung zu lehnen. Aber sein Gast überraschte ihn erneut, indem er sich setzte. Unter leisem Geraschel seiner Gewänder und leisem Knarren des Möbelstücks nahm der Fremde Platz, aber Dolmur lächelte in sich hinein. Es gab keine natürliche Weise, dieses Sofa zum Quietschen zu bringen, wenn man bedachte, aus was es bestand – also musste sein Besucher Magie benutzen, um Geräusche zu erzeugen, welche Dolmur dahingehend narren sollten, dass er glaubte, einen wirklichen Menschen und keinen »Übermittler« vor sich zu haben. Ihr Götter, wenn jemandem Magie in solchem Übermaß zur Verfügung stand, dass er sie großzügig verschwenden konnte ... Dolmur setzte sich ebenfalls und zog kurz in Betracht, ei-
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nen ganz bestimmten Zauber zu nutzen, welcher seine Stimme verstärken und Diener herbeirufen würde, welche ganz exakt das Rascheln und Knarren nachahmen würden. Damit würde er seinem Gast mitteilen, dass er dessen Falschheit durchschaut hatte – aber nein. Nur Zauberer, deren größtes Bedürfnis darin bestand, andere zu beeindrucken, griffen zu solchen Maßnahmen, und Dolmur Bogendrachen stand seit vielen Jahren über solchen Eitelkeiten. Jedenfalls hoffte er das. Er nahm eine entspannte Haltung ein und wartete. »Ich heiße Ingryl Ambelter und stand einst in den Diensten von Fürst Silberbaum aus Aglirta. Ich unterstützte sein Ziel, über das Land ohne König zu herrschen, und ich muss zugeben, dass mich der neue König, der Jüngling Raulin Burgmäntel, wenig überzeugt – und die Hochfürsten und der ehemalige Regent, welcher ihn zum König krönte, ebenso wenig. Sie haben mir viel Ungemach bereitet, obschon meine Zauberkraft stark genug war, mich am Leben zu halten, und mich seitdem sogar noch mächtiger hat werden lassen. Diese meine Feinde haben Euch gleichfalls viel Schaden zugefügt, indem sie mehr als einen Bogendrachen ohne jeden Grund, irgendeine Warnung oder sonst ein Wort umbrachten. Jetzt jagen sie Zauberer, um sie zu töten oder einzukerkern, und auch dieses Mal haben sie keinen Grund – und wenn sie das Tal des Silberflusses von allen Zauberern gesäubert haben, dann werden sie unter anderem auch hierhin schauen und nach Euch greifen. Nicht ohne Grund heißt es in Eurem Land: ›Ihr Zauberer, hütet euch vor Aglirta.‹ Die Hochfürsten beobachten Euch schon jetzt, und solange sie am Leben sind, werden sie eine Gefahr für Euch sein.«
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»Und?«, fragte Dolmur leise. Er wünschte sich, eine Karaffe zur Hand zu haben, aber er wollte diesen Ambelter nicht unterbrechen. »Ich biete Euch eine Gelegenheit an, den Tod Eurer Verwandten zu rächen – und noch mehr. Ich bin hier, um Euch zu ersuchen, Euch mir anzuschließen, wenn ich ausziehe, um Aglirtas neuen Königsjüngling mitsamt seinen Hochfürsten zu überwältigen und zu töten.« Schweigen herrschte zwischen den beiden Männern. Es hielt eine ganze Weile an, als die beiden sich ohne eine Miene zu verziehen in die Augen starrten. Dann schüttelte Dolmur langsam den Kopf. »Wie der Zufall es will«, erklärte er seinem unerwarteten Besucher bedächtig, »ist mir nicht daran gelegen, irgendwelche Könige oder Edelleute umzubringen, und ich will ganz gewiss keinen Herrscher überwältigen. Die Kunst, die Magie zu beherrschen, reicht mir vollkommen aus und beansprucht den größten Teil meiner Zeit – und so viel Macht in dieser Disziplin zu erringen wie möglich scheint meine einzige Verteidigung zu sein, wenn diese Aglirtaner, vor welchen Ihr mich gewarnt habt, nach mir suchen. Falls das jemals der Fall sein sollte.« »Oh, das werden sie, das könnt Ihr mir glauben. Ich weiß, dass sie Euch mittels Magie ausspionieren, sogar in diesem Moment. Ich sage es noch einmal: ›Ihr Zauberer, hütet euch vor Aglirta.‹« »Ingryl Ambelter, Ihr seid ein Zauberer aus Aglirta!« »Vergebt mir, wenn ich Euch berichtige, Fürst Bogendrachen: Ich war einst ein Zauberer aus Aglirta, aber ich bin weder dort geboren noch aufgewachsen, sondern wurde ledig-
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lich von einem Fürsten dieses Reiches in seine Dienste genommen – und zur Seite geschoben als er mich nicht länger für nützlich hielt. Ich bin jetzt ein Feind von Aglirta und befinde mich im Exil.« »Ich habe Eure Ausführungen vernommen; dennoch bleibe ich dabei, ein Mann zu sein, welcher weder töten noch irgendwen überwältigen will. Solche Handlungen gebären Gesetzlosigkeit und neuen Unfrieden, und nur die Ernennung eines neuen Herrschers kann ein Land befrieden. Und ich strebe weder danach, ein neuer Herrscher zu sein, noch glaube ich, eine Stellung einzunehmen, welche es mir erlaubt, einen zu ernennen, ganz gleich, ob man von mir weiß und meine Ratschläge annimmt oder nicht.« »Selbst dann nicht, wenn dadurch einer oder mehrere der sagenhaften Dwaerindim in Eure Hände gelangten?« Ambelter hielt eine leere Handfläche nach oben – und plötzlich schwebte oder besser gesagt drehte sich darüber ein gesprenkelter, runder Stein, dessen Oberfläche seltsame Lichter und flüchtige Blitze überzogen. Dolmurs Besucher lächelte über den Stein hinweg den ältesten Bogendrachen an. »Das hier ist nichts weiter als das Abbild des Steins, welcher sich bereits in meinem Besitz befindet. Ich bin nicht so töricht zu glauben, ich könnte mehr als zwei Steine kontrollieren. Deshalb brauche ich jemanden, dem ich trauen und mit dem ich in ständiger Verbindung bleiben kann, um den dritten und hoffentlich auch den vierten Dwaer benutzen zu können, sobald wir sie erst haben. Mir ist bereits bekannt, wo ein Dwaer zu finden ist, nämlich in der Hand eines der Hochfürsten, welche nach uns beiden suchen. Die Edle Silberbaum hat ihn in ihrem Besitz und
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muss dazu gebracht werden, ihn herauszugeben ... oder keiner von uns beiden ist sicher. Ich brauche Eure Hilfe, Dolmur Bogendrachen – und die Belohnung für Eure Hilfe mag genau das sein, wonach sich Zauberer in ganz Darsar sehnen: Ein immer währender und mächtiger Dwaer-Stein.« Ambelter streckte die Hand aus, und der sich darüber drehende Stein trieb auf den ältesten unter den Bogendrachen zu. Kleine Lichtfünkchen erwachten zum Leben, umkreisten den Stein und vergingen wieder in einem endlosen, unermüdlichen Kreis begieriger Macht. Dolmur starrte aus zusammengekniffenen Augen den Dwaer an, zog dann den Kopf zurück und sagte kummervoll: »Nein. Das reizt mich nach wie vor nicht.« »Aha. Dann wird irgendwann der Tag kommen, an dem Ihr Eure Meinung ändert?« »Der Tag mag kommen, an welchem ich mich so weit verändert habe, dass ich der Verlockung solcher Macht nicht mehr widerstehen kann«, erwiderte Dolmur Bogendrachen gleichmütig, »aber das wäre keine Veränderung, die mir gefallen würde. Oder die ich mutwillig anstrebe.« »Dann –« »Dann verabschiede ich mich von Euch, Ingryl Ambelter. Nehmt Euer Angebot und auch Eure Spioniererei und überlasst mich wieder meiner Zurückgezogenheit!« Ingryl Ambelter nickte, und der blitzende Stein verschwand, so dass er wieder mit leeren Händen dasaß. »Ich respektiere Euren Wunsch, Fürst Bogendrachen, und strebe nicht danach, Euch zu beleidigen und Euch zu meinem Feind zu machen. Aber im Namen Eurer ermordeten Familienmitglieder bitte ich Euch darum, mein Angebot im Gedächtnis
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zu behalten. Solltet Ihr jemals Rache nehmen wollen für –« »Fort mit Euch!«, schnappte Dolmur Bogendrachen und erhob sich. Er machte einen schnellen, drohenden Schritt auf Ingryl Ambelter zu, aber die Erscheinung blieb lächelnd sitzen, bis Dolmur sie verärgert mit einer plötzlichen Beschwörung vertrieb. Schwer atmend ging er zum Fenster zurück und starrte auf den Garten, ohne auch nur einen Baum oder eine Blume zu sehen. »Also hat es angefangen«, flüsterte er. »Viel eher, als es mir gefällt ... aber andererseits pflegt das immer so zu sein.« Mit zusammengepressten Lippen wirbelte er von dem Fenster weg und rief stumm die Bindungen an, seine Schutzbefohlenen zu stärken. Sie tanzten singend und aufglühend in der Luft rings um ihn herum, als er widerstrebend hinzufügte: »Deshalb muss ich mich vorbereiten. Es ist an der Zeit, meinen Beitrag zu leisten für den schlechten Ruf, welcher Zauberern anhaftet.« Erschauernd presste Embra ihren Dwaer an die Brust und stieß hastig einen Zauberspruch aus – und der Sturmwind, welcher von ihr wegwogte, fegte die Pfeile beiseite, so wie ein den Winter ankündigender Sturm trockene Blätter vor sich herbläst. Hawkril zog den Kopf ein, um dem zischenden Schwall von Pfeilen zu entgehen, und stürmte vorwärts, wobei er sein Kriegsschwert wie wild schwenkte, als könne er so die herannahenden Schäfte aus der Luft schlagen. Es gelang ihm nicht. Ein Pfeil schrammte an der Rüstung über seiner Schulter entlang und drang tief genug in sein Fleisch ein, um darin stecken zu bleiben, und der nächste fuhr
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durch die Verschnürung seiner seitlichen Rüstung, trieb ihm die Luft aus den Lungen und bewirkte, dass er halb um die eigene Achse gewirbelt wurde. In seinem Innern explodierte ein betäubendes Feuer, und er versuchte, laut brüllend weiterzulaufen. Zwei weitere Pfeile trafen ihn, während ein Bogenschütze durch die Bäume vor Hawkril weglief, und dann erreichte ein heulender Sturm den Hünen hinterrücks und versuchte, ihn von den Füßen zu holen. Hawkril knurrte ob des in ihm rasenden Feuers und sprang vorwärts, um einen anderen Mann zwischen den Bäumen zu erreichen – und der Sturm in seinem Rücken schleuderte ihn geradewegs auf den Waldbewohner. Beide gingen schwer zu Boden, rollten sich herum und knurrten wie wilde Tiere ... Tiere, welche versuchen, stählerne Zähne ineinander zu versenken ... Die Herrin der Edelsteine beobachtete den zauberischen Sturm, welcher von ihr wegheulte, Tschamarra zu Boden warf und einen stöhnenden, fluchenden Craer wegrollte. Nun ... entweder das, oder sie würden alle umkommen, ein jeder gespickt mit einem Dutzend Pfeilen oder sogar noch mehr. Der stöhnende Schwarzgult wurde über das Gras gewirbelt, und sogar Hawkril musste gegen ihren stürmischen Wind ankämpfen. Vor Schmerz zusammengekrümmt taumelte er zwischen den Bäumen hindurch und langte nach den in ihm steckenden Pfeilen, also beendete Embra widerstrebend ihren Zauber. Im gleichen Augenblick kamen von allen Seiten zugleich Pfeilsalven herangesaust, und dieses Mal zielten sie genau auf sie!
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Nach Luft schnappend stellte Tschamarra Talasorn fest, dass sie sich wieder bewegen konnte und dass das Heulen des vergehenden Sturmes schwächer wurde. Sie wälzte sich im Straßenstaub, rang nach Luft und konnte nicht einmal erkennen, ob jemand herbeigerannt kam, um auf sie einzustechen. Hastig rollte sie sich auf den Rücken und erkannte einen kurzen Wirbelwind aus Grünzeug, sausenden Pfeilen und sonnigem Himmel. Embras Zauber blies noch immer Zweige und tote Blätter durch die Luft, und der Sturm begann nur wenige Zoll über ihrer Nase. Schluchzend holte Tschamarra Luft und versuchte, darüber nachzudenken, welche Zauberbanne sie selbst beisteuern könne, um sich selbst und die Hochfürsten aus dieser Lage zu befreien. Sie konnte in der Ferne Hawkril vor Schmerz brüllen hören, und ganz in der Nähe keuchte jemand genauso heftig wie sie selbst. Das musste Embra sein, und Craer stöhnte laut vor Anstrengung. Das Stöhnen bewegte sich schnell von ihr fort. Sie wagte es nicht, auch nur den Kopf zu heben, denn ein Pfeil nach dem anderen sirrte durch die Luft direkt über ihr ... Embra warf sich in den Dreck. Etwas traf ihren Ellbogen, während sie zu Boden ging – und dann spürte sie ein Brennen, das schnell zu einem schier unerträglichen Schmerz anschwoll. Sie biss sich auf die Lippen, um die aufsteigende Übelkeit zu bezwingen, und in ihren Ohren klang das bösartige, an Wespen erinnernde Summen von nur wenige Zoll über ihr hinwegfliegenden Pfeilen. Der von einem Pfeil getroffene Arm fühlte sich feucht an ... und die Feuchtigkeit
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tröpfelte zwischen ihre Finger. Sie musste nicht erst hinsehen, um zu wissen, dass es sich um Blut handelte. Nun, wenn Embras kleiner Sturm ihn wie einen leeren Krug vor sich herrollte, dann würde er auch rollen – und zwar in die Bäume, wo er wenigstens irgendwen finden mochte, in dessen Leib er einen Dolch stoßen könnte. Hauptsache, er wurde von dem betäubenden Schmerz abgelenkt, welcher von dem Pfeil in seiner Schulter herrührte. Eifrig ließ sich Craer fallen und holte tief Atem zu einem Schrei – stieß aber stattdessen einen Fluch aus, denn plötzlich erstarb der Sturm und ließ ihn viel zu weit vom nächsten Baum entfernt ankommen, hinter welchem sich etwas bewegte, bei dem es sich ganz sicher um einen Bogenschützen handelte, der Maß für seinen nächsten Pfeil nahm, welchen er mitten in einen gewissen, sozusagen auf dem Trockenen sitzenden Beschaffer schießen würde. »Verdammt!«, grunzte Craer, stieß sich so kräftig wie möglich ab und zog den Kopf so fest ein, dass es schmerzte. Die Welt drehte sich, seine Stiefel bohrten sich in den Boden, als sich seine verletzte Schulter bemerkbar machte und roter Schmerz ihn für einen Augenblick blendete. Er warf sich nach vorn und hinaus aus dem roten Nebel, fluchte erneut und rollte sich weiter, wobei er sich die Knöchel aufschürfte, weil er es nicht wagte, die beiden Dolche in seinen Fäusten fahren zu lassen. Sollte dies der Wille der verfluchten Götter sein, so würde er lange genug am Leben bleiben, um sie gebrauchen zu können, vorausgesetzt, er erreichte diesen Baum. »Genug!«, zischte die Fürstin Silberbaum und ließ zornig ihren Willen aufwallen, so dass er in die Bäume um sie herum
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fuhr und die Luft von einem Sturm in eine große Hand verwandelte, welche zuschlagen und sie wegdrücken würde. Eine nur teilweise hörbare Schwere brachte die Luft zum Zittern und rollte von der Stelle über Embras Kopf von ihr weg. Sie hörte Craer leise fluchen und dann etliche überraschte, zornige Flüche von weiter weg. Ein Stamm so groß wie eines der ausschlagenden, sterbenden hochfürstlichen Pferde zerbrach mit einem scharfen, betäubenden Krachen. Embra beobachtete, wie der Baum umkippte – und als sei sein Fall eine Art Auslöser gewesen, zerbarsten kleine Äste, fielen nieder und wurden dann in alle Richtungen auseinander gewirbelt. Die meisten Bäume, welche Embra sehen konnte, begannen zu stöhnen und neigten sich von ihr weg, immer weiter ... und weiter ... Der Boden unter Embra erhob sich, als sich eine tief reichende Wurzel ihren Weg nach oben erzwang. Sie sprang rechtzeitig auf die Wurzel und kletterte an ihr empor, so dass sie die sich furchtsam duckenden Bogenschützen sehen konnte, welche in Bodenhöhe eine Ladung Pfeile auf sie abschossen. Sie knirschte mit den Zähnen – bei der Dreifaltigkeit, ihr Arm schmerzte fürchterlich! – und dann schlug Embra mit einer plötzlichen Sturmbö aus, welche den Pfeilhagel weit nach links und von den Gefährten wegtrieb. Die Bäume um sie herum lehnten sich langsam nach außen wie die aufblühenden Blätter einer sich öffnenden Blume. Einer kippte um. Als das Stöhnen des gequälten Holzes so laut wurde wie ein brüllender Ochse, spornte sein Krachen einige unter den Bogenschützen zu angsterfüllten Schreien an. Diese empörten, entsetzten Schreie erklangen noch im-
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mer, als Embra etwas anderes hörte: das plötzliche Stampfen von Männern in schweren Stiefeln, welche wie rasend durch die toten Blätter flohen. Jemand schrie vor Angst auf, ein anderer bellte einen langen, kunstvollen Fluch wie einen Schlachtruf – und der gellende Schrei eines Dritten endete urplötzlich, als ein Baum mit donnerndem Krachen zu Boden fiel. Stiefel traten wie rasend unter dem Stamm aus – allerdings nur kurze Zeit, dann erschlafften die darin steckenden Beine und regten sich nicht mehr. Menschliches Ächzen mischte sich mit dem lauteren Stöhnen gemarterten Holzes, als Embras Zauber hilflos fliehende Bogenschützen gegen Baumstämme schleuderte. Mehr als ein Bogen zersplitterte beim Zusammenprall, und als die zuschauenden Bogenschützen sahen, wie ihre Kameraden geschlagen wurden, warfen sie ängstliche Blicke auf Embra, sprangen aus der Hocke hoch und flohen Hals über Kopf in den Wald. Die Herrin der Edelsteine schwankte oben auf ihrer Baumwurzel und hoffte, dass ihr Arm nicht gebrochen war. Er fühlte sich schwach und nutzlos an, und sie brauchte Frieden und Ruhe, um gegen den Schmerz anzukämpfen und sich ins Gedächtnis zu rufen, wie man mit dem Dwaer heilte. Das gelang ohne Schwierigkeit, wenn um einen herum kein Kampf tobte und eine gewisse Zauberin unverletzt war, aber ausgerechnet jetzt ... Bei den Hörnern der Göttin, das tat vielleicht weh! Embras Sturmwind hatte Schwarzgults Pferd erfasst, so dass es erschrocken ein paar Schritte zurücktänzelte, und dann, nachdem sich das Tier erwartungsgemäß aufgebäumt hatte, auf die Seite geworfen.
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Aus einem schnaubenden, austretenden Durcheinander sprang der Goldene Greif mit einem Satz, der ihn in den Schutz seines sich herumwälzenden Rosses brachte. Geduckt rannte er den Weg zurück, welchen sie gekommen waren, und hinter ihm her sausten zwei zischende, aus der Spur geratene Pfeile, welche ebenfalls der Sturmwind vor sich herblies. Dann tauchte Schwarzgult mit dem Schwert in der Hand in den Wald ein, wirbelte tief geduckt herum und kämpfte sich von Baumstamm zu Baumstamm seinen Weg zurück zu Embra. Hinter dem vierten Baum erwarteten ihn Männer mit unfreundlichen Gesichtern und Klingen in der Hand. Ezendor Schwarzgult grinste seine Widersacher böse an und ging zum Angriff über. Als der Sturm erstarb, erzeugte seine Ankunft unter seinen Feinden einen Sturm eigener Art. Rasch genug bissen Schwertspitzen durch seine Rüstung, aber rings um ihn herum lagen Männer sterbend am Boden, während er zum nächsten Baumstamm weiterlief. Schwarzgult bedachte auch die dahinter wartenden Männer mit einem wilden Grinsen. Von Tränen geblendet schüttelte Embra den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie fragte sich, wie lange sie sich dem Schmerz hingegeben hatte, so dass ihre Magie ins Stocken geraten war. Nun, jedenfalls rannte kein Bogenschütze auf sie zu. Um sie herum drängten sich ihre Gefährten, und soweit sie es beurteilen konnte, hatte Schwarzgult lediglich Schwertschnitte abbekommen, während in den anderen Pfeile steckten. Aber
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einer nach dem anderen nickte ihr grimmig zu, so dass sie wusste, dass sie für dieses Mal überleben würden und sie nötigenfalls weiterkämpfen konnte. Sie warf den Kopf zurück und trank gewissermaßen die Luft in sich hinein – sie wusste, dass sie so bald wie möglich ihren Luftschleuderzauber unterdrücken musste, sonst würde sie vor Luftmangel einschlafen. Die Herrin der Edelsteine rief ihren Dwaer auf, auf dass er die Pferde beruhige und zu ihnen zurückrufe. Zwei der Tiere antworteten, schnaubten und trabten, die Köpfe schüttelnd, durch die zerborstenen Bäume herbei. Nur Schwarzgults Pferd schien unverletzt geblieben zu sein, und Embras Ross wirkte eher verängstigt als verwundet. Craers Pferd lag tot am Boden, Tschamarras Tier wand sich auf dem Weg hinter ihnen im Todeskampf, und das große Ross von Hawkril humpelte so stark, dass aller Wahrscheinlichkeit nach niemals wieder jemand auf ihm reiten konnte. Sonnenlicht beschien die von Embra geschaffene neue Lichtung – und als die Zauberin in alle Richtungen blickte, um Feinde aufzuspüren, welche dumm genug waren, mit ihren Bogen wieder auf sie zu zielen, sah sie weit entfernt zwischen den Bäumen einige überraschte Holzfäller, welche sie mit nutzlos niederbaumelnden Äxten in der Hand anstarrten. Keiner der Männer wirkte zornig oder angriffslustig. Es erschien Embra eher so, als trachteten sie danach, so weit wie nur irgend möglich von der ach so tödlichen Zauberin wegzubleiben – oder sich an einem Ort aufzuhalten, an welchem Zauberer vollkommen unbekannt waren. Embra wandte sich um und suchte weiter nach Feinden. Einige der Bogenschützen hatten ihren letzten Atemzug in
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Darsar getan; Fliegen umsummten bereits ihre niedergestreckten Körper. Andere Schützen hatten Wunden davongetragen, lebten aber noch und versuchten schwach, sich wegzuschleppen oder wenigstens zu verstecken. »Wer führt den Befehl über euch?«, fragte die Herrin der Edelsteine kalt und gleichmütig, während sie den Verwundeten in die vor Angst weißen Gesichter blickte. Alle erstarrten wie ein Mann, aber keiner schien sich mit einer Antwort beeilen zu wollen, also fragte sie noch einmal. Wieder herrschte Stille. »Nun«, sagte sie kurz und bündig, »dann muss ich davon ausgehen, dass jeder unter euch der Tersept von Stornbrücke ist – und schuldig des Verrats am Flussthron. Deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als euch alle zu töten, einen nach dem anderen. Und zwar auf der Stelle.« Sie trat einen langsamen, entschlossenen Schritt vorwärts, hob die Arme über den Kopf und krümmte die Finger zu Krallen. Der Umstand, dass sie den Dwaer in einer Hand halten musste, verdarb die Geste, welche eigentlich magisch und gefährlich hätte wirken sollen – aber sie brauchte die Macht des Steins, um ihren verletzten Arm überhaupt hochheben zu können. Der Schmerz, welcher darauf folgte, erzeugte eine solche Übelkeit, dass sie hilflos zur Seite taumelte und beinahe den Inhalt ihres Magens von sich gegeben hätte. Zitternd hielt sich die Edle Silberbaum mit Hilfe von Magie auf den Beinen, und sie wankte hin und her, während kleine Lichtfunken um sie herumwirbelten. Diese blitzenden Lichtfünkchen bedeuteten gar nichts und vermochten keine Magie freizusetzen, aber Embra hoffte, dass sie beeindruckend wirkten.
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Mehr als einer der Männer deutete Embras schmerzlich verzogenes Gesicht als Ausdruck ihres Zorns und duckte sich. »E-edle Dame«, rief schließlich ein älterer Bogenschütze zögernd, »wie können wir unser Leben retten? Was müssen wir tun, damit Ihr uns verschont?« Embra bedachte ihn mit dem eisigsten, stählernsten Blick, welchen sie zustande brachte. »Bringt mir den Tersepten Stornbrücke – oder den Mann, welcher den Angriff auf uns befahl, falls das nicht der Tersept gewesen ist. Bringt ihn mir auf der Stelle!« Der Mann schaute ängstlich über die Schulter, und einige unter seinen Kameraden taten es ihm nach. Für die Fürstin Silberbaum spielte es von jetzt an keine Rolle mehr, ob die Männer überhaupt noch den Mut aufbrachten, ihrem Befehl zu gehorchen, wusste sie doch jetzt, welche Bäume sie in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen lassen musste, sollte der Schmerz sie überwältigen. Schwankend drehte sie sich dem Dickicht am anderen Ende einer von Bäumen umstandenen Senke zu, welche sich ein ganzes Stück die Straße hinunter in Richtung der offenen Felder von Stornbrücke erstreckte. »Kommt heraus, Stornbrücke!«, schnappte sie und brachte den Dwaer dazu, ihre Stimme so laut durch die Bäume schallen zu lassen wie eine zubeißende Waffe. Wieder breitete sich Stille aus, und in der Hoffnung, dass niemand bemerkte, wie dicht sie vor einer Ohnmacht stand, fügte sie hinzu: »Kommt heraus. Oder sterbt.« Etwas rührte sich, und ein Reiter erschien zwischen den Bäumen – mit bloßem Haupt und mit leeren Händen, und er zügelte sein dahintrabendes Pferd zu einer langsameren Gang-
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art. Als Hawkril warnend sein Schwert hob, brachte er sein Ross zum Stehen. »Das ist nicht Stornbrücke«, murmelte Craer aus dem Mundwinkel. Schwarzgult nickte und lächelte schief, denn er hatte bemerkt, dass seine Tochter die Augen misstrauisch zusammenkniff. Er kroch näher zu ihr hin, um in der Nähe zu sein für den Fall, dass sie zu Boden sank. Sie dankte ihm mit einem kurzen Seitenblick, wobei sich ihre kalte Miene für keinen Augenblick veränderte. »Stornbrücke«, sagte Embra leise in Richtung der Bäume, »ich will Euch sehen und nicht Eure treuen Ritter oder Gefolgsleute. Ich habe einen Eurer Pfeile zu spüren bekommen, und meine Geduld schwindet. Und zwar mit Windeseile.« Der Mann, welcher jetzt in Sicht ritt, war größer und trug eine übertrieben prächtige Rüstung – ebenso wie sein Pferd, welches gleichfalls das üppig verzierte Wappen von Stornbrücke trug: einen scharlachroten Falken neben dem anderen, welche auf der Schabracke und allen möglichen frisch bemalten Rüstungsteilen auf ebenso vielen vergoldeten Brückenbogen prangten. »Ich will verdammt sein, wenn das nicht nach einem Hofkostüm aussieht«, flüsterte Craer. Tschamarra legte ihm eine Hand auf den Arm, und er zuckte zusammen, als er versuchte, sie anzulächeln. »I-ich bitte untertänigst um Vergebung, Gekrönte Herren und Damen«, hub der Tersept von Stornbrücke großartig an, breitete die Arme aus und setzte eine bemüht gequälte Miene auf. »Runter mit den Bogen, ihr Männer von Stornbrücke!« Er ritt näher heran und versuchte sich an einem besorgten Lächeln. Sein höchst kunstvoll in Locken gelegtes, schulter-
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langes kastanienbraunes Haar passte nicht ganz zu seinen wässrigen blauen Augen und einer gebrochenen, schief zusammengewachsenen Nase. »Vergebt mir, großmächtige Hochfürsten, aber ich musste mich in diesen Wäldern so vieler Räuber erwehren – hier, vor meinen eigenen Toren, und noch dazu in jüngster Zeit! I-ich wusste nicht ... Nicht einmal der leiseste Hauch eines Gerüchts von eurem Kommen ist an mein Ohr gedrungen noch habe ich königliche Banner gesehen oder die Trompetensignale irgendwelcher Herolde vernommen ...« »So gehört es also zu Euren Gewohnheiten, fünf flink einherreitende und fest im Sattel sitzende Reiter mit Pfeilen zu empfangen? Händler aus Sirl vielleicht oder Boten aus Treibschaum?«, schnappte Embra. »Nun, ich ... ich ...« »Oder irgendeinen Tersepten oder Fürsten des Reiches in Begleitung seiner Ritter?« »Fürstin Silberbaum«, plusterte sich Stornbrücke auf, »ich bin selbst ein Tersept und diene derselben Krone wie Ihr. Zu meinen Pflichten gehört es, für die Sicherheit meiner Straßen, meines Landes und seiner Bewohner zu sorgen! Bewaffnete Reiter, welche eilig und schnell hier herumreiten, sind Räuber, und wenn ein ehrlicher Bewohner von Stornbrücke nicht eilends einen Pfeil auf einen Räuber abschießt, dann stirbt er nur allzu oft!« »Ich verstehe«, antwortete Embra Silberbaum. »Und genauso gut verstehe ich, dass Ihr, wenn Ihr so rasch und mit so schlechten Augen entscheidet, wer nun ein Räuber ist und wer nicht, mehr als nur Euren Anteil ehrlicher Männer in Stornbrücke niederschießt.«
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»Edle Herrin, ich widerspreche Euch aufs Entschiedenste!« »Werter Herr, ich blute!«, knurrte Embra den Mann an und hob drohend ihren Dwaer. Der Tersept und die Männer, welche sich zögernd hinter ihm versammelten, erstarrten wie ein Mann, und Schwarzgult und Hawkril kämpften sich auf die Füße und bauten sich so auf, dass sie jeden Angriff oder Bogenschuss blockieren konnten, welcher auf den Stein und die schlanke Hand abzielten, welche ihn hielt. Alle Hochfürsten starrten Stornbrücke kalt an, und er starrte in einer Mischung aus Trotz und Furcht zurück. Seine Worte täuschten keinen der Gefährten, und das wusste er. »Aber natürlich«, meinte er unvermittelt und hob die Stimme. »Ich hätte beinahe meine Manieren und die Gefahr vergessen, in welcher ihr schwebtet. Ich gebe euch allen mein Wort, dass ihr euch hier in Sicherheit befindet und mit aller gebotenen Höflichkeit behandelt werdet, denn so ist es Brauch in Burg Stornbrücke. Wir alle schämen uns dieses schrecklichen Missverständnisses!« Er wandte sich um und brüllte: »Räumt den Holzkarren dort drüben aus! Die Hochfürsten sollen mit aller gebotenen Sorgfalt und Ehre, welche wir aufbringen können, zur Burg geleitet werden!« Um die Hochfürsten herum entstand ein allgemeines Gedrängel. Schwarzgult und Embra spähten umher, als erwarteten sie einen heimtückischen Pfeil oder einen unvermuteten Angriff mit dem Schwert, aber abgesehen davon, dass sie die Augen vor den offenkundig wenig erfreuten hochfürstlichen Gästen niederschlugen, schienen die Männer von Stornbrücke nur eines im Sinn zu haben, nämlich in nahezu unziemlicher Hast den Befehlen ihres Tersepten nachzukommen. Inmitten des Tumultes langte Hawkrils langer Arm nach
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unten und zog Craer auf die Füße. Tschamarra beeilte sich, dem zusammenzuckenden Beschaffer beizustehen, der schwankte und Blut spuckte. »Nun denn«, stieß Craer zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, während hastig Feuerholz vom Karren gefegt und Umhänge über die Schicht aus Borke und Splittern auf seinem Boden gebreitet wurden, »habe ich ihn nicht richtig beschrieben?« »Ein aufgeblähter Mann in übertrieben prächtiger Rüstung«, wiederholte Tschamarra angewidert. »Ja, Eure Worte beschreiben ihn ziemlich genau. Aber schweigt jetzt still, Craer! Ihr habt genug Blut verloren!« »Herrin«, brummte Hawkril und lehnte sich eng an Embra. »Embra, Hawkril«, flüsterte die Zauberin. Ihre Lippen bebten, und plötzlich fühlte sie sich den Tränen nahe. »Nennt mich Embra – und haltet mich ein wenig fest. Bitte.« Als zögerliche Hände sie zu dem Wagen führten, hüllte sich die Zauberin in einen harmlosen Ring goldener Funken, beugte sich in Schwarzgults Richtung und flüsterte: »Vater, haltet Euch bereit für den Fall, dass ich straucheln sollte. Tschamarra, haltet meine Hand fest. Gemeinsam müssen wir ... müssen ...« Heilung. Lautlos schickte Tschamarra mit einem raschen, einfachen Zauber dieses Wort in die Köpfe ihrer Gefährten, und ihre Magie hielt sie alle verbunden, so dass jedweder Angriff, jedes Wort und jede Geste, welche einer von ihnen sehen mochte, augenblicklich auch den anderen enthüllt werden würde ... und in diesem halb benebelten Zustand ratterten und schwankten sie in Richtung Stornbrücke.
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Hawkril und Craer schauten zu der in den Himmel ragenden Burg hoch und versuchten zu erkennen, wer aus Fenstern und von den Zinnen auf sie herabspähen mochte. Ihnen entgingen aber gewisse Diener, welche im Schatten standen hinter den glotzenden Mägden, welche sich an den Fensterbänken drängten, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Vier junge Kammerdiener unter den Beobachtern im Schatten wechselten stille Blicke ... und schlüpften dann außer Sicht. Sie hasteten durch Hintertüren hinaus aus der Burg Stornbrücke, überquerten den Burggraben über Brücken, welche man von dem Tor aus, durch welches der Karren mit den verwundeten Hochfürsten inmitten einer eilig zusammengestellten, unordentlichen Ehrengarde aus reichlich ramponierten Bogenschützen und verwirrten Holzfällern rumpelte, nicht sehen konnte. Die sich aus dem Staub machenden Kammerdiener beeilten sich nicht wie Männer, welche von Furcht gepackt entfliehen, um niemals zurückzukommen. Sie beeilten sich eher wie Männer, welche danach streben, Berichte in die Hütten von Stornbrücke zu übermitteln und dann zurückzukehren in die Burg und dort ihre Posten wieder einzunehmen, bevor ihre heimlichen Unternehmungen den zu Besuch weilenden und irgendwie mitgenommen wirkenden Hochfürsten auffielen. Bruder Khavan schaute mit säuerlicher Miene auf die schlammigen Wiesen von Bowshun. Er hatte für den Rest seines Lebens mehr als genug von all den staubigen, dreckigen, nach Dung stinkenden Dörfern im Hinterland von Aglirta. Ein dorniger Zweig strich ihm über die Nase, als er
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sich von dem unbeschreiblichen Gestank des Schweinestalls eines viel zu erfolgreichen Bauern abwandte und wieder in die Richtung drehte, in welche ihn der eisenharte Griff von Schuppenmeister Arthroon lenkte. Ja, sicher, eine ganze Schar von aufmerksam lauschenden Dorfbewohnern – vermutlich hatte sich jedes Mädchen, jeder Junge von Bowshun im denkfähigen Alter hier eingefunden, aber selbst wenn sie förmlich jedes Wort verschlangen, welches ein Priester der Schlange von sich gab, so war das hier doch etwas ganz anderes als die Orte, an welchen Leute wohnten, die im Tal wirkliche Macht ausübten. Und dennoch hatten sie sich alle versammelt: ein ihm vollkommen unbekannter Bruder der Schlange, Khavan selbst, und natürlich der kalte, unerbittliche Schuppenmeister Arthroon. Letzterer verschwendete seine Worte an Dungköpfe, welche man von ihren Feldern hergeschleppt hatte, auf dass sie verständnislos auf einen wild knurrenden Vertreter der Schlange starrten. »So wisset denn«, raste der Mann und hieb mit den Fäusten in die Luft, als wolle er dadurch seinen Worten Nachdruck verleihen, »dass der Drache böse war. Ja, die gute Schlange hat ihn besiegt – aber um welchen Preis! Eure Anbetung, euer Geld und eure starken, ehrlichen Hände werden gebraucht!« Der Bruder hielt inne und schaute seine stummen Zuhörer aufmunternd an, als erwarte er wenigstens einen vereinzelten Beifallsruf – aber niemand rührte sich. »Betet die Schlange an!«, brüllte der Priester. »Gewährt uns eure Unterstützung, auf dass wir Treibschaum von dem Königsjüngling säubern und dem niederträchtigen, verkomme-
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nen Fürsten Schwarzgult, welcher hinter dem König lauert und euch sagt, was ihr zu tun und zu lassen habt, so wie er das schon immer getan hat!« Ein Murmeln antwortete ihm, und allem Anschein nach stimmte ihm die Menge zu. Der Priester grinste, da er glaubte, durch das Misstrauen und die Furcht der Dorfleute gedrungen zu sein. »Oh, ich weiß, dass sich manche unter euch davor fürchten, sich unserer heiligen Sache anzuschließen. Ihr seid ehrliche Leute, und dafür bewundere ich euch. Pflichtbewusst und zuverlässig. Ihr seid das Rückgrat, die fleißigen Hände und das treue Herz von Aglirta ... und wenn die Zeit gekommen ist, dann werdet ihr das Richtige tun.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. Die zwischen den Büschen hinter der Menge verborgenen Schlangenbrüder Schupppenmeister Arthroon und Khavan hätten ebenso gut Statuen sein können – aber der Schlangenbruder sprach nicht mit den beiden. »Einige unter euch sind bereits unterrichtet: Die Klügsten unter euch wissen, was am besten ist für Bowshun und für Aglirta. Ich werde euch in dieser Nacht willkommen heißen, wenn der Mond auf Emdels Lichtung scheint, auf dass ihr mit mir zusammen der Großen Schlange huldigt. Auf der Lichtung werde ich mehr sagen, und gemeinsam werden wir auf eine glänzende Zukunft für Aglirta schauen. Ich sage so viel, dass ihr noch keinen Sommer älter sein werdet, wenn das Land ohne König zu guter Letzt Reichtum und Macht erlangt. Ihr werdet zu guter Letzt reich und mächtig sein!« Er richtete sich mit flatternden Gewändern auf und lächel-
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te auf seine Zuhörer hinunter. »Im Mondschein auf Emdels Lichtung werdet ihr mehr erfahren. Ich erwarte dort die Klugen unter euch.« Er hob die Hand und zeichnete das gewundene Zeichen der Schlange in die Luft. Ein paar Hände hoben sich zögernd und folgten seinem Beispiel – und der Priester lächelte ihre Besitzer vom Heuhaufen herunter an, wirbelte herum und stieg auf der abgewandten Seite auf den Boden hinunter. Eine Brise erhob sich, ein Vogel flog träge über ein nahe gelegenes Feld, und immer noch standen die Bewohner von Bowshun still und stumm da und starrten zu der Stelle hinauf, an welcher eben noch der Priester gestanden hatte. Ihr Schweigen währte lange, bevor sich einer unter ihnen rührte und davonging. Und es dauerte noch viel länger, bis sie zu reden begannen, und zum ersten Mal empfand Bruder Khavan so etwas wie Hochachtung. Er vermochte sich immer noch nicht vorzustellen, was ein paar zahnlose alte Bauern, Dungbatzen schleudernde Kinder und sonnenverbrannte Mistköpfe von den Feldern gegen die bewaffneten Truppen von Aglirta ausrichten sollten. Aber inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass man sie dazu bewegen konnte, irgendetwas zu tun. Und eigentlich waren Priester genau dazu da.
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Fünf
Feste und dringliche Bitten C Das wird gerade eben annehmbar sein«, sagte die Edle Silberbaum eisig und bedeutete dem betagten Burgverwalter mit einem Winken der Hand, er möge sich zur Tür begeben. Er hatte den Fehler begangen, sich ihr gegenüber hochmütig zu verhalten – sie war immerhin nichts weiter als eine schmutzige, durchnässte Frau, welche einen hochtrabenden Titel beanspruchte und zudem von ein paar zerlumpten Kriegern und Vagabunden begleitet wurde, welche durchaus all das gestohlen haben mochten, was sie mit sich führten. Aber der erste Blick hatte ihn getäuscht. Gründlich getäuscht. Burgverwalter Urbrindur hatte Jahre genug auf dem Buckel, um den Biss zweier fürstlicher Zungen verspürt zu haben, bevor er in die Dienste seines jetzigen aufgeblasenen Herrn getreten war, und er erkannte wirklichen Adel, wenn er ihn zu hören oder zu spüren bekam. Dieses eiskalte Weib stammte aus adligem Haus. Bei der Dreifaltigkeit – war es etwa sein Fehler, wenn die Leute nicht mehr wie früher nach dem aussahen, was sie tatsächlich waren? Er verließ steifen Schrittes den Raum, in welchen er die fünf verwundeten und empörten ›Gäste‹ geleitet hatte, und
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starrte für einen Moment gedankenverloren auf die sich vor seiner Nase schließende Tür. Dann wirbelte er herum und stürmte den Gang hinunter, wobei er etlichen zufällig im Weg stehenden Kammerdienern jeweils einen heftigen Schlag mit seinem Amtsstab verpasste. Ohne ein weiteres Wort stolzierte er davon und achtete nicht weiter auf die hasserfüllten Blicke, welche sich, wie er sehr wohl wusste, in seinen Rücken bohrten und welche er für durchaus verständlich hielt. Der Burgverwalter Urbrindur hatte eine ausgeprägte Meinung über das, was seiner Ansicht nach gerecht und passend war. »Sie bereiteten so vielen unserer Pferde wie nur möglich ein gerechtes und passendes Ende!« Düsteren Blickes untersuchte Craer die traurigen Überreste ihrer Satteltaschen und zog den Splitter eines Pfeilschaftes aus einem zerrissenen Gewirr aus Leder. »Ich hege keinen Zweifel daran, dass geröstetes Pferdefleisch den wesentlichen Bestandteil des Festmahls heute Abend ausmachen wird.« »Später, Flinkfinger«, meinte die Fürstin Silberbaum. Ihre Stimme klang beinahe flehentlich. »Ich kann den Dwaer nicht benutzen, wenn ich ohnmächtig werde, oder etwa doch?« Trotz der Pfeile, welche immer noch in seinem Fleisch steckten, gesellte sich Hawkril binnen Augenblicken an ihre Seite und umfasste ungeschickt ihre Schulter, um sie festzuhalten. Embra ließ sich dankbar gegen ihn sinken und fragte: »Vater?« »Auf die Stühle oder auf den Boden?«, fragte Schwarzgult. Er trug sein Schwert in der Hand und musterte den Raum auf der Suche nach versteckten Gucklöchern oder Eingängen.
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»Boden, falls wir einigermaßen sanft darauf landen.« Craer warf Embra einen Seitenblick zu. »Edle Dame, ich hätte nie geglaubt, Euch mit so einfachen Worten antworten zu hören.« Tschamarra verdrehte die Augen und senkte die Hand, um den aus Craers Körper ragenden, abgebrochenen Pfeilschaft ganz leicht zu berühren. Er krümmte sich zusammen und stieß einen bebenden Seufzer aus, und sie stützte ihn, während er sich ganz auf dem Boden niederließ, und meinte: »Hochfürst Delnbein, Ihr müsst Euch nicht mehr Schmerzen zufügen, als Ihr bereits verspürt. Bitte, liefert Euch einmal meinem Willen aus, bewegt Euch vorsichtiger, und bleibt auf diese Weise länger am Leben. Jedenfalls vielleicht.« Hawkril schnaubte bei diesen zuckersüßen Worten – und ließ sich dann eilends auf die Knie nieder, als ihm die letzte Überlebende des Hauses Talasorn mit hartem Blick anschaute. »Bleibt dicht beisammen«, befahl Embra, »so dass wir uns alle berühren.« Die Macht des Dwaer ist nicht unerschöpflich, fügte sie im Stillen hinzu und benutzte die letzten schwindenden Reste von Tschamarras Zauber. Jedenfalls in so kurzer Zeit. Ich habe ihn bereits ausgiebig benutzt. »Das habt Ihr ganz gewiss«, flüsterte ihr Schwarzgult ins Ohr, während er seine Tochter auf den Boden bettete. »Aber wenn mich meine zugegebenermaßen schüttere Erinnerung nicht trügt, dann liegt das eher an den Grenzen, an welche der Geist des Trägers stößt, als an einer Erschöpfung des Steins.«
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»Nun, das klingt ja tröstlich«, stieß Craer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir werden beobachtet«, flüsterte Tschamarra und gesellte sich zu ihnen auf den Boden. Mehr als einmal schaute sie direkt nach oben, als wolle sie sich ein ums andere Mal vergewissern, dass nichts Tödliches von der Decke auf sie herabfiel. »Selbstverständlich. Magie?«, murmelte Schwarzgult. »Nein. Augen. Sie bewegen sich. In dem Wandbehang hinter Euch.« »Solange es bloß Augen sind, welche uns ausspionieren, und nicht auf uns abgeschossene Pfeile ... Wir müssen Embra abschirmen, bis –« »Sicherlich«, wisperte Tschamarra zurück und lächelte spöttisch. »Magie?« »Nein«, erwiderte Schwarzgult. »Eure bezaubernd gerundeten Kurven – unterstützt von meinen alten Knochen.« Die Talasorn-Zauberin ließ einen abschätzigen Blick über seinen Körper schweifen. »Hmmm. Uralte, aber mit wohlgeformtem Fleisch bedeckte Knochen, würde ich sagen.« Der Goldene Greif nahm eine eitle weibliche Haltung ein, welche selbst der verführerischsten Hofdame alle Ehre gemacht hätte, und verfiel dann wieder in seine gewohnte lässige Haltung. »Ich übernehme diese Seite«, flüsterte er der gleichermaßen amüsierten wie überraschten Tschamarra zu. »Versucht, die andere Seite zu decken, ohne dass sich unser hartnäckiger Löwe von einem Ritter aufbäumt und versucht, seine Pflicht zu tun, ganz gleichgültig, wie übel verletzt er auch sein mag.« »Fürst Ezendor«, beschwerte sich Hawkril von irgendwo
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unter Tschamarra, aber Schwarzgult winkte beschwichtigend ab. »Ich bin nicht länger Euer Herr. Ezendor hingegen lasse ich mir gefallen – und als Euer Freund sage ich Euch: Haltet Ruhe, und bleibt still liegen. Ihr habt mehr Pfeile in Euch stecken als wir anderen zusammen. Embra?« »Verzeiht mir meine Selbstsucht, aber dies wird am besten gelingen, wenn ich frei von Schmerzen bin. Nun, Sarasper zeigte mir ... oh ja ...« Die Gefährten spürten, wie die Zauberin sich zusammenkrampfte, sich wand und dann von den Zehen bis zu den Fingerspitzen erbebte. Sobald es vorüber war, öffnete Embra die Augen, lächelte ... und ließ den Heilzauber in sie fließen wie eine warme, prickelnde Woge. Ihre vier Gefährten ächzten und stöhnten, während ihre Schmerzen allmählich verebbten. Schwarzgult gehorchte wie ein gehorsamer Diener Embras Blicken und zog sanft die von ihr bestimmten Pfeile heraus. Craer bäumte sich auf, als sein Schaft entfernt wurde, und wand sich in hilflosem Schmerz, aber Tschamarra hielt ihn mit plötzlich eisernem Griff fest, damit er nicht ausweichen konnte. Und in vollkommener Stille und mit verblüffender Geschwindigkeit war die Heilung vollbracht, und alle erfreuten sich wieder bester Gesundheit. »Wir müssen sehr sorgfältig darauf achten, ihn nicht zu verlieren«, brummte Hawkril und tätschelte den Stein, während er sich probehalber reckte und streckte. »Ich lege keinerlei Wert darauf, zu den alten Zeiten zurückzukehren und kleine Gegenstände zu stibitzen aus dem Schweigenden –« »Schweigt«, sagte Embra ernsten Tones und schlug ihm mit den Fingerspitzen leicht auf die Wange. »Die Wände ha-
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ben Ohren, vergesst das nicht.« »Und sie schauen auch zu«, ergänzte Tschamarra trocken. »Bedauerlicherweise steht mir Hochfürst Delnbein mit seinen üblichen Spaßen, den spöttischen Blicken und klugen Worten kurzfristig nicht zur Verfügung, um mich abzuschirmen, während ich bade – hm, Minzwasser; sie scheinen hier nicht gänzlich unzivilisiert zu sein – und mich für die bevorstehenden Festlichkeiten ankleide.« »Ja, sicher. Tabletts voller Speisen mit Schlafmitteln und Giften«, grinste Craer. »Ich hoffe, dass sie wenigstens meinem Geschmack entsprechend gewürzt sind.« »Ich werde Magie anwenden und auf diese Weise jeden Makel aufspüren«, erklärte ihm Embra und wandte sich nach den Satteltaschen um, während der Dwaer-Stein aufglühte. »Nun lasst uns nachschauen, was die eifrigen Bogenschützen von Stornbrücke übrig gelassen haben.« »Hiervon nicht sehr viel«, meinte Tschamarra empört und hielt den zerfetzten Rest eines Gewandes hoch. »Ruiniert.« »Es wirkt mitgenommen, aber keineswegs ruiniert. Aber es hat einiges abbekommen.« Die Edle Talasorn warf ihm einen strafenden Blick zu. »Verehrter Beschaffer, ich glaube, Ihr unterliegt immer noch der Bewährung. Nehmt Euch entsprechend zusammen.« Craer schaute Hawkril Mitleid heischend an, aber der Hüne gab nur ein Grinsen zurück, hob die Hand und meinte: »Wollt Ihr unseren Gastgeber wirklich aus der Fassung bringen? Dann tragt das Gewand doch selbst.« »In Aglirta gibt es tausende von Männern«, sagte Embra in Richtung Decke, von welcher dankenswerterweise nach wie vor keine Dolche fielen, »und ich muss ausgerechnet mit zwei
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Quälgeistern reisen, welche dem Irrtum unterliegen, zum Brüllen komische Hanswurste zu sein, auf welche man in den Höfen des Südens nur gewartet hat!« Schwarzgult wandte sich um. »Zwei?« Warnend hob Embra die Hand. »Versucht nicht, Euch ihnen zuzugesellen. Lasst es einfach bleiben.« Der Goldene Greif schenkte ihr ein träges Lächeln und meinte nur: »Das verspricht ein äußerst aufregendes Festmahl zu werden.« »Aber, verehrter Hochfürst«, stammelte der Ritter unsicher, »mein Herr, der Tersept, gab uns sehr genaue Anwei–« »So«, grollte der Hüne und schaute von der beachtlichen Höhe von zwei Kopflängen weiter oben auf den Sprecher nieder, »Ihr habt Euch also dazu entschieden, Aglirta ebenso zu verraten wie er?« Er zückte sein Kriegsschwert. »Nun, dann ...« »Oh, es gibt keinen Anlass zum Blutvergießen«, erklärte der Mann hastig. »Ich bin ganz sicher –« »Hm«, machte der Berg von einem Mann in Rüstung mit grimmigem Lächeln, »das geht mir genauso.« Hinter einer nahe gelegenen Wand wechselten zwei Männer in mit kriechenden Schlangen geschmückten Gewändern Blicke. »Es funktioniert!«, zischte Bruder Landrun. »Er kann Anharu nie zuvor begegnet sein, und er erkennt an, dass er der Hochfürst ist!« Der Meister der Schuppen hob eine Braue und lächelte sein Furcht erregendes Lächeln. »Aber selbstverständlich.« Der junge Kammerknabe, welchen man zum Botendienst gezwungen hatte, verhaspelte sich ob ihrer Namen und Titel,
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aber Schwarzgult meinte nur: »Genug, Junge. Sie wissen, wer wir sind. ›Hochfürst‹ klingt so gut wie jeder andere Titel. Zeigt uns unsere Plätze, und stellt uns diese feinen Herren von Stornbrücke vor, ja?« Der junge Mann starrte ihn an, stammelte etwas und setzte dann eilig Schwarzgults Vorschlag in die Tat um. »Fürst Schwarzgult«, zischte Tschamarra, »ich bin keine Adlige aus Aglirta und –« »Aber jetzt seid Ihr eine«, brummte er, »jedenfalls für diese Nacht. Ihr könnt den Hochfürsten-Titel morgen früh zurückgeben, aber wenn Ihr das jetzt versucht, dann versohle ich Euch den nackten Hintern – ja, vor den Augen all dieser Männer. Das ist das allgemein übliche Ritual, fragt nur Craer.« Die Edle Talasorn bedachte die beiden Männer mit einem gereizten Blick. Craer grinste wie verrückt, aber Schwarzgult hob lediglich ungerührt eine Braue. Die Zauberin musterte die beiden für einen langen, stummen Augenblick, bevor die Männer sich umwandten und dem Kammerknaben folgten. Tschamarra seufzte und schloss sich den Gefährten an. Fünf Männer hatten bereits am gegenüberliegenden Ende der Festtafel Platz genommen und schauten den Hochfürsten erwartungsvoll entgegen. Sechs Kammerdiener standen an den Wänden entlang aufgereiht, aber keine einzige Frau aus Stornbrücke war zu sehen – obwohl die Hochfürsten keinen Zweifel daran hegten, dass etliche der Augen, welche von dem Dutzend Fenster hoch droben in den Galerien zu ihnen herabschauten, Frauen gehörten. Die Etage mit den offenen Galerien gleich über den Kammerdienern schien ebenso verlassen zu sein wie die meisten Plätze entlang der langen Fest-
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tafel. Allem Anschein nach verspürte der Tersept von Stornbrücke kein Verlangen danach, allzu viele seiner Leute zu Zeugen seiner Demütigung werden zu lassen. Der junge Kammerknabe geleitete jeden Gast zu einem bestimmten Platz, stellte den Betreffenden vor, trat dann der Reihe nach hinter jeden der bereits am Tisch Sitzenden und nannte sorgfältig dessen Titel. Jeder Hochfürst verkürzte in Gedanken den Fluss all der großen Worte – wie viele hochrangige Ämter mochte es in einem Marktflecken wie Stornbrücke wohl geben? – zu einfacheren Namen. Der alte Mann mit dem struppigen Backenbart, welcher sie mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrte, war der Hauptmann der Wache, Ryethrel. Bei dem eleganter und städtischer wirkenden Mann neben ihm handelte es sich um den Hofbeamten, mit welchem sie sich schon Wortduelle geliefert hatten: Burgverwalter Urbrindur. Am Kopfende der Tafel neben Urbrindur saß der Tersept, und zu seiner Linken hatte sein jüngeres und besser aussehendes Ebenbild Platz genommen, ein Mann, welcher, wie sich herausstellte, als Schreiber und Münzmeister von Stornbrücke fungierte, ein gewisser Eirevaur. Neben diesem türmte sich ein vernarbter Berg von einem Mann mit Mord im Blick auf, welcher als der Erste Ritter des Tersepten vorgestellt wurde. Wohl eher ein brutaler Bezwinger, dachte Embra bei sich. Sie vermutete, dass der Erste Ritter Pheldane unter seinem seidenen Schulterumhang bestens bewaffnet war. Er schaute sie an, als sei sie eine Schlampe aus einem Hurenhaus, welche einen zu hohen Preis fordert – einen Preis, den er mit Freuden und unter Gewaltanwendung drücken würde. Und zwar schon bald.
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Schwarzgult war zu dem Platz neben dem finster blickenden Kämpen geführt worden. Gegenüber würde Craer neben Hauptmann Ryethrel sitzen. Embra fing Tschamarras Blick auf und verdrehte die Augen. Ja, ihnen stand ein wahrlich fröhliches Festmahl bevor ... Auf ein knappes Nicken des Burgverwalters hin zog sich der stammelnde Kammerknabe zurück. Die Hochfürsten nahmen Platz, wobei Hawkril aus Gewohnheit den Stuhl wie ein Spielzeug ohne nennenswertes Gewicht in die Höhe schwang, um die Beine und die Unterseite zu untersuchen und Embra gab sich gar nicht erst die Mühe, das leise Singen ihres Dwaer zu verbergen, welcher einen Schild gegen mögliche Bogenschützen um sie alle herumlegte. »Ganz Stornbrücke fühlt sich geehrt von eurer unerwarteten Anwesenheit«, erklärte der Tersept mit seinem sonnigsten Lächeln. »Ich entschuldige mich noch einmal für das Missverständnis, welches eure Ankunft so schmerzhaft ausfallen ließ, aber ich bin mir sicher, dass wir aus ganzem Herzen miteinander speisen und wahre freundschaftliche Bande anknüpfen können als treu ergebene Bürger von Aglirta.« »Das ist auch unsere Hoffnung«, erwiderte Schwarzgult leise und hob einen Kelch, ohne jedoch daraus zu trinken. Craer nahm vorsichtig einen winzigen Schluck und trat dann unter dem Tisch gegen Embras Bein. Unter der Tischplatte berührte sie mit dem Dwaer heimlich seine Hand und ließ Magie in ihn hineinfließen. Der Beschaffer wankte leicht hin und her, als das Brennen des Giftes verging, und lächelte dann Stornbrücke an. »Ihr alle mögt Mraevorgift in eurem Wein? Ich finde, es lässt die meisten Lagen zu sauer schmecken, aber vielleicht erfreut ja gera-
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de das die Gaumen in Stornbrücke.« »Ihr wagt es –«, grollte Hauptmann Ryethrel und drehte sich zu Craer um. Craer schenkte ihm ein Lächeln, welches man nur als honigsüß bezeichnen konnte. »Aber nein, Hauptmann, ich fürchte, jemand anderer ist ein Wagnis eingegangen. Aber vielleicht wollt Ihr das ja auch, indem Ihr einen Schluck aus meinem Kelch versucht?« Er hob das Gefäß hoch, gerade außerhalb der Reichweite des Hauptmanns. Der schlug wütend nach dem Kelch, als wolle er Craer den Inhalt ins Gesicht schleudern, aber von einem Moment auf den anderen – als er nämlich unter dem Tisch die ausgesprochen kalte Spitze von Craers Dolch an seinem Gemächt spürte – schwieg er stille und rührte sich nicht mehr, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief. »Oder vielleicht Ihr, Burgverwalter?«, fragte Craer milde und bot dem Mann den Kelch an, als habe Ryethrel weder ein Wort gesprochen noch sonst etwas getan. Als Urbrindur mit steinernem Schweigen antwortete, hob der Beschaffer die Brauen und fügte freundlich hinzu: »Oder sonst irgendjemand?« »Vielleicht war ja das ganze Fass verdorben«, meinte Tschamarra leichthin und reichte Craer ihren eigenen Kelch. Er nippte daran, nickte und stieß Embra wieder unter dem Tisch an. Dieses Mal erfolgte ihre Heilung rascher, gefolgt von einem Zauber, welchen Craer bislang nicht kennen gelernt hatte. Unter der Nase des Beschaffers ging der Inhalt von Tschamarras Kelch sogleich in blauen Flammen auf, also setzte er ihn vorsichtig ab. Noch während er dies tat, explodierte sein
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eigener Kelch, und gleich darauf die der anderen Hochfürsten. Die Gefäße der Männer aus Stornbrücke glommen zwar kurz bläulich auf, gingen aber nicht in die Luft. »Mein Durst scheint erloschen zu sein«, erklärte Embra ruhig dem blass gewordenen Tersepten, und in ihren Augen funkelte eine düstere Drohung. Unter dem Tisch ließ sie ihren Zauber verebben, und die blauen Flammen erstarben. Sollten derlei Drohungen während der ganzen Nacht erfolgen, dann würde sie den Dwaer für wichtigere Dinge als ein paar einfache Tricks nutzen müssen ... »Ich – ich weiß beim besten Willen nicht, wie so etwas passieren konnte, aber –«, stammelte Tersept Stornbrücke gleichermaßen erzürnt wie verängstigt. »Ja«, bestätigte Schwarzgult, »das glaube ich Euch gern. Die Auslegung von Befehlen erstaunt nur allzu oft jene, welche sie erteilt haben – was ich über lange Jahre immer wieder gelernt habe, und zwar auf meine Kosten. Warum tauschen wir nicht einfach von jetzt an Teller und Kelche, ihr Herren, und räumen dadurch jeglichen Verdacht aus dem Wege? Ich würde nur zu gern Freundschaften schließen am heutigen Tag.« Tersept Stornbrücke öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, ohne dass ein Ton hervorgedrungen wäre, und dann gurgelte er in beinahe verzweifelter Hast: »Wie, ja, lasst uns genau das tun! Ich – ich –« »Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum uns das nicht früher eingefallen ist«, beendete Embra glattzüngig seinen Satz und erwiderte eisig die Blicke des Hauptmanns, des Burgverwalters und des Meisterkämpfers. Der Schatzmeister blickte nur nachdenklich vor sich hin. Tersept Stornbrücke gab sich alle Mühe, zustimmend zu
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nicken, und stürzte einen großen tiefen Schluck seines eigenen – sicheren – Weins hinunter. »Wenn es euch nichts ausmacht und die Antwort nicht zu delikater Natur ist, so sagt mir doch bitte, welcher günstige Wind euch nach Stornbrücke geweht hat? Wir sind immerhin weit entfernt von den wichtigsten Stützpunkten von Aglirta!« Überraschenderweise gab Hawkril die Antwort. »Mein Herr«, polterte er, »wir haben Pflichten dem Flussthron gegenüber, so wie Ihr die Euren habt. Eine besteht darin, durch das Tal zu reiten und uns mit den einfachen Leuten zu unterhalten, Kaufleute wie auch örtliche Regenten aufzusuchen und uns um Angelegenheiten zu kümmern, welche unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Wir sollen uns die Sorgen und Nöte anhören, welche alle Aglirtaner betreffen. Selbst der letzte Hinterwäldler weiß, dass es sich bei Raulin um einen König von anderer Art handelt. Aber nur die wenigsten haben eine genaue Vorstellung davon, wie sehr der Junge sich von seinen Vorgängern unterscheidet. Das hat nichts mit seiner nicht königlichen Herkunft zu tun, sondern mit seinem heißen Wunsch, alles zu verstehen, womit sich die Menschen in seinem Reich auseinander setzen müssen. Und zwar nicht nur die Begüterten, sondern auch die armen und die einfachen Leute. Seine zukünftigen Erlasse sollen darauf abgestimmt sein, und wir werden ihm als Augen und Ohren dienen.« »Ja, ja, ganz recht«, murmelte Fürst Stornbrücke und lächelte gequält, während er sich Berichte über Pfeilschüsse und vergifteten Wein vorstellte. Offensichtlich gingen dem Burgverwalter ähnliche Gedanken durch den Kopf. Als er sah, wie der Tersept um Worte
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rang, sprang er rasch selbst in die Bresche. »Hat Seine Majestät denn schon verlauten lassen, welche Maßnahmen er für die künftige Ausgestaltung Aglirtas ergreifen will? Wir alle sind doch der ständigen Fehden zwischen den Fürsten müde, oder der Plünderungen durch herumziehende Söldnerhaufen, oder der ewigen Zänkereien zwischen den Priestern der einzelnen Kirchen. Welchen Weg wünscht König Burgmäntel denn zu beschreiten, um uns alle aus diesen Zuständen hinauszuführen?« In diesem Moment traten Diener durch die Vorhänge hinter dem Tersepten und trugen Platten mit gebratenem Wildschwein auf. Verziert hatte man das knusprige Fleisch mit herzförmig geschnittenen Symraquessen – jener saftigen Zitrusfrucht, die so überreichlich im fernen Sarinda gedieh, welche man aber nur selten nördlich des Elgarth zu sehen bekam. »Wir haben als Erstes vor«, ergriff die Fürstin Silberbaum das Wort und verstieß damit gegen das ungeschriebene Gesetz, niemals vor Bediensteten über Politik zu reden, »uns um die Magier zu kümmern. Wer unter ihnen sich nicht auf unsere Bedingungen einlässt, wird des Stromtales verwiesen. Diejenigen, welche bleiben wollen, müssen auf das Engste mit der Krone zusammenarbeiten. Wir können in Zukunft keine Zauberer gebrauchen, welche sich nach Lust und Laune irgendwelchen Heerführern oder Unruhestiftern anschließen.« »Doch wohl nicht jeden kleinen Feld-Wald-und-WiesenMagier!«, begehrte Ryethrel auf. »Doch, alle!«, betonte die Herrin der Edelsteine und sah
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ihr Gegenüber durchdringend an. »Selbst ich bin nicht ausgeschlossen.« Etwas flimmerte leicht in der Luft ... Anzeichen für im Essen versteckte magische Energie, oder für Gift oder einen Bann. Die Bediensteten trugen weitere Speisen auf: Pilze in einer scharfen goldenen Soße und in den unterschiedlichsten Formen gebackenes Brot. Embra hatte aber weder für das eine noch das andere einen Blick übrig. Ihren Gefährten fiel allerdings auch auf, dass sie im Gegensatz zu ihren sonstigen Gepflogenheiten niemandem von ihnen unter dem Tisch gegen das Bein trat. »Aus den gleichen Gründen haben wir auch etwas gegen Schlangenpriester«, fügte Schwarzgult hinzu, »welche Fürsten und Tersepten gegen uns aufzuwiegeln trachten. Der König erwartet von allen, welche dank seiner Gnade einen Titel tragen, sich von niemandem dreinreden zu lassen. Sie haben selbstständig Maßnahmen zu ergreifen, natürlich im Rahmen seiner Gesetze. Wehe aber jenen, welche den Einflüsterungen derjenigen folgen, welche als Feinde des Palastes auf Treibschaum bekannt sind.« Ryethrel nickte, als habe ihn das überzeugt. Der Burgverwalter aber fragte mit sich verfinsternder Miene: »Und wenn jemand, welcher uns einen guten Vorschlag unterbreitet, zufällig auch noch der Schlange anhängt?« »Ein vernünftiger Vorschlag allein stellt gewiss noch kein Verbrechen dar«, entgegnete Tschamarra, »komme er nun von einem Schlangenanbeter, einem machthungrigen Zauberer oder einem geldgierigen Kaufmann aus Sirl.
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Hingegen wäre es ein schweres Vergehen, einen Königsboten oder Herold nicht über alle Vorschläge in Kenntnis zu setzen, welche einem von solcher Seite unterbreitet worden sind. Geschäfte, welche im Tal betrieben werden, gehen uns nichts an, aber wenn dabei Schlangenverehrer, Priester oder bestimmte Ausländer im Spiel sind, wird das von uns nicht geduldet. Das Gleiche gilt für den Erwerb von Zauberbannen, Waffen oder Söldnern!« »Man sollte sich bei allem fragen, ob es der Sache des Königs dient«, brachte Craer die Angelegenheit auf den Punkt. »Ist gar nicht so schwer – das tun wir Hochfürsten auch, und zwar dauernd.« Der Tersept und der Burgverwalter zuckten zusammen, aber der Münzmeister zog eine kleine Schriftrolle aus seinem Ärmel, zeichnete sie kurz gegen und meinte: »Das erscheint mir alles sinnvoll und gerecht.« Der Burgverwalter starrte Eirevaur an, als wolle er ihn mit Blicken ermorden, aber dieser ließ sich davon nicht stören und streute Gewürz in seinen Wein, ehe er sich wieder der Letzten der Talasorn zuwandte. »Habe ich es richtig verstanden«, sprach da aber schon Fürst Stornbrücke Tschamarra an und bemühte sich, höflich und verbindlich zu klingen, »dass Ihr sowohl Hexe als auch von auswärts seid und dennoch das Vertrauen des Königs genießt?« Der Burgverwalter nickte zufrieden, weil endlich jemand dieses Thema angeschnitten hatte. Pheldane hingegen beugte sich vor. Hatte er bislang starr und schweigend wie eine Sta-
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tue dagesessen, schien er es jetzt nicht abwarten zu können zu erfahren, wie die andere Seite sich aus dieser Geschichte herauswand. »Nicht von ungefähr schenkt Seine Majestät mir ihr Vertrauen«, gab Tschamarra ebenso freundlich und verbindlich zurück. »Genau so, wie vermutlich auch Ihr nicht ohne Grund Eurer engsten Umgebung vertraut. Und für alle Fälle stellt man seine Umgebung immer wieder auf die eine oder andere Weise auf die Probe.« Urbrindur starrte zur Decke hoch und schien dort die Lichtflecke des Kerzenscheins zu zählen. So kam es für die anderen überraschend, als er fragte: »Und wie lässt sich feststellen, ob ein in der Magie Erfahrener die Probe wirklich bestanden hat? Welche Probe ließe sich nicht durch einen Bann verwässern oder ins Gegenteil verkehren?« »Indem man den Betreffenden an seinen Taten misst«, sprach der ehemalige Regent. »Zum Beispiel, wenn jemand nicht seinen persönlichen Vorteil, seine eigene Sicherheit oder seine Bereicherung in den Vordergrund stellt, sondern bereit ist, für den König die Härten der Schlacht oder sonst wie Leiden und Schmerzen auf sich zu nehmen. Solche Proben haben alle Hochfürsten bestanden, welche hier sitzen. Und dabei wussten wir nicht einmal, dass wir an unseren Taten gemessen wurden.« Schwarzgult füllte seinen Teller noch einmal auf, dann schloss er seine Ausführungen mit den Worten ab: »Wenn ihr jedoch darauf besteht, meine Herren, weiterhin versteckte Drohungen und Beleidigungen aufzutischen und damit unsere Runde zu vergiften, sollten wir wohl davon ausgehen, dass
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ihr die Probe nicht besteht ... und euch als Verräter am König ansehen.« »Ich glaube, wir verstehen sehr gut«, machte sich Ryethrel bemerkbar, welcher am anderen Ende des Tisches saß. »Da kommen also Leute daherstolziert, welche sich selbst zum Regenten des Reiches ernannt haben, ernennen ihre Spießgesellen zu Hochfürsten und reiten dann das Stromtal hinauf und hinab, um überall salbungsvolle Worte zu hinterlassen ... und sich ein Urteil über solche Reichsbürger anzumaßen, welche nichts anderes getan haben, als sich tapfer zu schlagen.« »Er kommt von den Inseln«, bemerkte der Beschaffer zum Goldenen Greifen. »Das ist mir bekannt«, erwiderte Schwarzgult, ohne den Blick von Ryethrel zu wenden. »Er ist der Nämliche, welcher die Meeresklippenhalle in Nantantuth niedergebrannt hat ... als ein Dutzend seiner Landsleute darinnen saß, meistens Frauen und Kinder ... Ein paar von meinen Kriegern hielten sich zu jener Zeit nicht weit entfernt auf, und er wollte mich und die Meinen in ein möglichst schlechtes Licht setzen, indem er uns diese unmenschliche Tat in die Schuhe schob.« Der Hauptmann erhob sich mit vor Wut verzerrter Miene, entsagte aber seinen Beschimpfungen, als eine äußerst scharfe Dolchklinge wie aus dem Nichts erschien und sich mit der scharfen Seite auf seine Kehle drückte. Und tatsächlich führte keines Menschen Hand den Stahl. Man hätte meinen können, Magie habe es ihm an den Hals gewünscht. Craer starrte dann auch verwundert auf das Messer. Ge-
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wiss, es war seins, aber er hatte nicht ... und die Scheide an seiner Seite zeigte sich leer. Erst als sein Blick auf die Letzte der Talasorn fiel, grinste die ihn frech an und sagte: »Mit den einfachsten Zaubern sorgt man doch für die besten Tischsitten, nicht wahr?« Der Tersept rang nach dem, was sich in den letzten Minuten an der Tafel getan hatte, erst recht nach den richtigen Worten. Enttäuschung, Zorn und Furcht lösten sich in wechselnder Folge auf seiner Miene ab. Seinen ersten Ritter quälten jedoch keinerlei solche Bedenken. »Das ist Hexenwerk!«, brüllte er, sprang auf und sah Tschamarra vorwurfsvoll an. Doch Schwarzgult war schneller. Er griff über den Tisch und hielt Pheldanes Handgelenke fest, ehe dieser eine Waffe ziehen konnte. Der stiernackige Ritter war halb so alt und doppelt so schwer wie der ehemalige Regent. Dennoch vermochte er nicht, sich aus dem eisenharten Griff des Goldenen Greifen zu befreien. Schwarzgult ließ auch dann nicht los, als Pheldane vor Wut schrie und mit seinen Bärenkräften den Tisch umzustoßen drohte. Der Mann von den Inseln bewegte kurz die Finger, und die Galerien füllten sich mit Bogenschützen. Da sang auch der Weltenstein sein kurzes Lied, und die Soldaten fielen alle in tiefen Schlaf. Der Erste Ritter riss sein Knie hoch, um Schwarzgult zwischen den Beinen zu treffen, stieß sich aber an den Spornen des Gemächteschutzes blutig. Mit schmerzverzerrter Miene fiel Pheldane auf seinen
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Stuhl zurück. Aber Embras Vater fiel nicht auf diese List herein und blieb stehen, ohne die Handgelenke seines Gegners freizugeben. Nun sah der ehemalige Regent sie alle der Reihe nach an, die Herren am Tisch wie auch die Kammerknaben hinter diesen, und mit einer Stimme, welche zwar sanft klang, aber tödliche Drohungen enthielt, sprach er dies: »Ich strebe immer noch danach, auf Stornbrücke Freunde zu finden, weil mir nicht der Sinn nach weiterem Blutvergießen steht. Ich kann nur hoffen, dass dies auch euren Wünschen entspricht.« Danach bedachte er Ryethrel mit einem langen Blick und setzte sich wieder auf seinen Platz. Der Hauptmann der Wache bebte vor Zorn, aber Tschamarras Zauber bewirkte, dass die Klinge an seiner Kehle blieb, und so zog er es vor, seinem Unmut nicht Luft zu machen. Endlich fand Fürst Stornbrücke die geeigneten Worte: »Meine Damen und Herren«, sprach er mit einem unsicheren Lächeln, »für meinen Geschmack ist der Vorschlag des Ezendor Schwarzgult der vernünftigste. Trotz aller Unannehmlichkeiten, zu welchen es im Verein mit dem Einzug der verehrten Hochfürsten auf diese Burg gekommen ist, gibt es wohl im ganzen Stromtal keinen Fürsten oder Tersepten, dessen Herz heißer in Treue für Seine Majestät schlägt als das meine. Ich begreife die Herrschaft von König Burgmäntel als neuen Anfang, als neuen Beginn für unser geliebtes Reich! Schon allein der Umstand, wieder einen König zu haben, welcher nicht jahrhundertelang schläft, stellt einen Grund zu großer
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Freude dar!« Er versuchte, die anderen zum Lachen zu bewegen, scheiterte damit aber kläglich. Dadurch ließ der Burgherr sich jedoch nicht von seiner Begeisterung abbringen. »Jawohl, die Neuigkeiten, welche ihr, hochverehrte Hochfürsten, mitgebracht habt, lassen wahrlich mir wie jedem anderen vaterländisch gesonnenen Bürger das Herz mächtig höher schlagen! Endlich einen König bekommen zu haben, welchem etwas an unserer Meinung liegt! Selbst die Wünsche des niedersten Pilzpflückers sind ihm noch das Zuhören wert! So viel königliche Weisheit sucht wahrhaftig ihresgleichen! Das Tor zu einer neuen, einer leuchtenden Zukunft hat sich mit König Raulin auf getan –« Dem Fürsten verschlug es ein wenig die Stimme, als er bemerkte, wie Craer einen argwöhnischen Blick auf die aufgetragenen Speisen warf und Embra mit ihrem DwaerZauber dieselben untersuchte. Doch rasch hatte der Burgherr sich wieder im Griff, und es sprudelte nur so aus ihm heraus: »Ich selbst verspüre eine nicht geringe Erregung, wenn ich von den Einfällen des Königs höre. Befriedigung erfasst mich, wenn ich erfahre, dass eine starke Hand dabei ist, die Straßen im Reich sicherer zu machen und die ewigen Zänkereien der Fürsten zu beenden. Und auch die Streitereien zwischen den einzelnen Städten, welche so manche Familie zerreißen! Womit ich natürlich nicht andeuten will, dass Stornbrücke sich in irgendeiner Weise daran beteiligt, Gott bewahre! Deswegen begrüße ich euch, liebe Hochfürsten, noch ein-
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mal auf das Allerherzlichste. Ihr seid eingeladen, euch hier gründlich umzusehen, mit so vielen Menschen wie möglich zu sprechen und dadurch endlich die Weisheit meiner Landesverwaltung zu erkennen.« Jetzt schien dem Tersepten überhaupt nichts mehr einzufallen, und er geriet ernsthaft ins Stocken. Dies wurde vor allem von Hawkril und Tschamarra begrüßt, welche bereits die größte Mühe hatten, während der Ansprache nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Dabei hätte der Burgherr natürlich nicht ahnen können, dass die Heiterkeit der beiden weniger seinen blumigen Ausführungen galt als vielmehr der Frage, wie diese bei seinen Untertanen ankam. Der Münzmeister verdrehte ein ums andere Mal die Augen, und der Burgverwalter lauschte mit offenem Mund, als könne er es einfach nicht glauben. Das blieb natürlich auch Stornbrücke nicht verborgen, und er überlegte schon, ob er die beiden nicht körperlich züchtigen sollte. Als es ihm schließlich endgültig über die Hutschnur ging, fragte er steif und kühl: »Stoßen meine Begrüßungsworte auf irgendwelche Verständnisschwierigkeiten, so bitte ich um Aufklärung darüber. Oder fühlt sich der eine oder andere meiner Tischgäste am Ende nicht ganz wohl?« »Bei den Hörnern der Göttin!«, flüsterte Unterköchin Maelree von ihrem mit einiger Mühe ergatterten Stehplatz an einem hohen Galeriefenster, »das ist ja noch lustiger als ein Wettstreit unter wenigstens sechs Barden!« Speisekammervorsteherin Klaedra kicherte, bis sie von
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Maelree in die Seite gestoßen wurde. »Pst! Sonst verpassen wir ja noch was!« Die beiden grinsten sich an und beugten sich auf dem Fensterbrett vor. Unten ging es gerade wieder einmal hoch her. »Eine Schwierigkeit dürfte die Magie darstellen«, entgegnete Embra. »Spähbanne sind nämlich gerade in diesen Raum eingedrungen.« »Was? Wer? Wie?« Stornbrücke wirkte ehrlich überrascht. »Offensichtlich möchte jemand zu gern erfahren«, meinte der Beschaffer, »was wir hier bereden und beschließen.« Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er den Hausherrn für einen ausgemachten Trottel hielt, weil dieser so etwas duldete. Die Letzte der Talasorn und Schwarzgult warfen der Fürstin fragende Blicke zu. »Die Spähzauber sind in der Lage, meinen Abwehrschild zu durchdringen und euren Schutzmaßnahmen zu entwischen«, erklärte Embra den Gefährten. »Diese Zauber sind nicht im eigentlichen Sinne gegen uns gerichtet, sondern sollen durch die Augen und Ohren eines hier Anwesenden alles aufnehmen. Genauer gesagt durch die Augen und Ohren des Dieners, welcher hinter dem Münzmeister steht!« Craer sprang schon aus dem Sitz auf den Tisch, stieß sich von einer Gemüseschüssel ab und stürzte sich auf den Kammerknaben. Von allen Seiten stürmten Bedienstete herbei, um sich dem Beschaffer in den Weg zu stellen, nur der eine nicht, hinter dem der Kleine her war.
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Der machte lieber auf dem Absatz kehrt und floh aus dem Raum. Der Beschaffer war ihm schon auf den Fersen. »Passt auf Euch auf!«, flötete Tschamarra ihm hinterher. Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte Ryethrel, um den Dolch an seinem Hals beiseite zu stoßen, sein Schwert zu packen und sich mit hasserfülltem Blick nach dem ehemaligen Regenten umzusehen. Der Goldene Greif rührte sich nicht von der Stelle, dafür aber der schwebende Dolch. Ryethrel sah sich plötzlich der Messerspitze gegenüber, welche sich auf seinen linken Augapfel richtete. »Oder möchtet Ihr lieber zuerst das rechte Auge verlieren?«, erkundigte sich Tschamarra mit übertriebener Freundlichkeit. Der Hauptmann steckte sein Schwert wieder ein, setzte sich auf seinen Platz, und das Messer nahm erneut seinen gewohnten Platz an der Kehle des Mannes ein. »Ich stelle mit Vergnügen fest, dass sich der Erste Ritter Pheldane von seinen Schmerzen erholt hat«, bemerkte die Herrin der Edelsteine. »Aber noch nicht das betreffende Knie bewegen, ja, das würde nämlich die Pein zurückbringen. Vielleicht mag er sich ja jetzt ausmalen, dass es für mich ein Leichtes wäre, ihm die Schmerzen, welche er im entscheidenden Moment im Knie verspürt hat, als Dauerzustand zu bescheren. Solange er jedoch schön brav den Mund hält ...« »Haltet selbst den Mund, verdammtes Luder«, knurrte Pheldane. »Der Teufel soll Euch und Eure Banne holen!« Erregt griff er nach seinem Kelch und bewegte sich dabei etwas
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zu hastig. Er beugte sich vor Schmerzen vor, stöhnte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Allerdings wäre es mir auch möglich, werter Ritter«, setzte die Herrin Silberbaum hinzu, »Euch den Schmerz ganz zu nehmen. Nur die Wunde bliebe zurück. Würde Euch das gefallen?« »Sargh über Euch! Er soll Euch mitten ins Gesicht springen!«, giftete der Erste Ritter. Ohne Vorwarnung holte Schwarzgult aus und schlug dem Mann die Faust ins Gesicht, und im selben Moment setzten die durch Zauberkraft verstärkten Schmerzen mit doppelter Stärke ein. Der Inselmann und etliche Diener legten die Hand an die Waffe, aber der Burgverwalter rief sie zur Ordnung: »Schluss damit, der Ritter hat sich das selbst zuzuschreiben. Und jetzt herrscht an dieser Tafel Ruhe!« Die Herrin der Edelsteine bedankte sich bei ihm dafür mit einem huldvollen Lächeln. »Seid meines Dankes gewiss, edler Herr. Es ist doch immer wieder den Ohren eine Freude, wenn auf Worte des Hasses die Stimme der Vernunft folgt. Auch bin ich es als Edle des Hauses Silberbaum gewöhnt, eine Mahlzeit in ruhiger und gesitteter Form zu mir zu nehmen, wo man gepflegte Tischgespräche führt und sich nicht wie ein Rudel Hunde im Streit um einen Knochen gebärdet.« Der Tersept lachte darüber, aber man merkte ihm an, dass die Heiterkeit nur aufgesetzt war. Und so fiel auch jetzt niemand in diesen Ausbruch ein. Dennoch schien der Burgherr fest entschlossen zu sein,
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heute keinen anhaltenden Unmut aufkommen zu lassen und den Abend irgendwie noch zu retten. »Dann wollen wir doch weiter über die Angelegenheiten des Reiches debattieren. Ich darf vorangehen ... Als Tersept verspüre ich einen schmerzlichen Mangel an Geldern, welcher mich daran hindert, in ausreichender Zahl Soldaten anzuwerben und auszurüsten, um mit ihnen mein Land so gründlich zu überwachen, wie mir das geboten erscheint. Würden die Steuern, welche an die Krone zu entrichten sind, etwas niedriger ausfallen, könnte ich besser mit meinen Mitteln haushalten und gleichzeitig das Recht Seiner Majestät besser durchsetzen. Dann würden weniger Strauchdiebe die Straßen unsicher machen und die ausländischen Kaufleute auch kaum noch Gelegenheit erhalten, sich vor den fälligen Abgaben zu drücken. Auf diese Weise würde der König zwar weniger verlangen, am Ende aber dennoch mehr einnehmen. Und gleichzeitig würden alle Untertanen in den Genuss von mehr Frieden und Gerechtigkeit gelangen.« Die Herrin der Edelsteine nickte. »Solche Anregungen hören wir von jedem Fürsten und Tersepten. Kaum einer, dem wir begegnet sind, hält mit solchen Ansichten hinter dem Berg. Doch wenn wir auf die vergangenen zehn Jahre zurückblicken, stellen wir leicht fest, wozu es führt, wenn jedem Fürsten oder Tersepten ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um eigene Truppen anzuwerben. Dann führen sie alle, ob groß oder klein, Krieg gegenein-
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ander. Dann wird das Getreide auf den Feldern verwüstet, viel Blut vergossen, der Handel erstickt und der Friede von den Straßen und Wegen gejagt. Dann ist es vorbei mit der allgemeinen Gerechtigkeit. Und dann trifft die Mehrzahl der Fürsten und Tersepten der tödliche Stich, ganz gleich, ob sie vorher weise geherrscht haben oder nicht. Bedenkt doch nur das Schicksal der Krähe von Kardassa!« Stornbrücke winkte einen Diener heran, ihm den Kelch nachzufüllen, und entgegnete: »Aber bedenkt auch Ihr bitte, meine Dame, dass wir jetzt einen König haben. Damit dürften solche blutrünstigen Zeiten doch wohl hinter uns liegen.« »Damals hatten wir auch schon einen König«, rief ihm die Edle ins Gedächtnis. »Wer immer in Treibschaum auf dem Thron sitzt und den Blick durch das Stromtal schweifen lässt, erblickt in großer Zahl Burgen. Und sie alle sind mit Bewaffneten und Rittern bestückt. Auf jeder sitzt ein eigener Herrscher über ein Stück Land, welcher seine Soldaten nach Belieben einsetzt. Wenn Seine Majestät nun die Steuern senkt, legen diese Fürsten sich noch mehr Soldaten zu, und daraus erwachsen doch nur noch mehr Kriege. Herr, wenn Ihr mehr Köche einstellt, werdet Ihr dann nicht auch mehr essen?« Der Tersept sah für einen kurzen Moment so aus, als wolle er etwas Wütendes entgegnen, aber schon kurz darauf hatte er sich wieder fest im Griff und gab sich zerknirscht. »Bitte, meine Dame, mir liegt nichts ferner, als die Weisheit der Maßnahmen des Königs auch nur im Ansatz in Frage zu stellen. Vielmehr ging es mir darum –«
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»Aber natürlich.« Embra prostete ihm mit ihrem Kelch zu, trank aber nichts davon. »Ich verstehe sehr gut, was Ihr meint. Doch ich wollte Euch nur vor Augen führen, dass der Palast dazu gezwungen ist, gewisse Dinge aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten. Jede Seite will berücksichtigt werden. Denn erst dann, wenn wir nicht mehr hinhören und deswegen nicht mehr wissen, was die Menschen bewegt, entstehen auch wieder örtliche Reibereien, und ehe wir uns versehen, sind daraus schon regelrechte Bürgerkriege erwachsen.« »Habe ich das jetzt gerade richtig verstanden, dass ihr Hochfürsten für Seine Majestät Entscheidungen fällt?«, verlangte der Burgverwalter zu erfahren. »Oder mischen da auch die Magier mit, welche sich in der letzten Zeit so sehr von Treibschaum angezogen zu fühlen scheinen? Oder hat sich dort gar ein Fürstenrat gebildet, welchem Mitglieder solch alter Häuser wie Schwarzgult und Silberbaum angehören?« »Bei den Göttern!« Embras Vater verdrehte die Augen. »Es geht doch nichts über ein gescheites Gespräch. Herr Burgverwalter, Eure Unwissenheit spricht Bände. Ist Euch denn schon jemals zu Ohren gekommen, dass Vertreter der alten Häuser oder eine Schar Zauberer sich jemals in irgendeiner Frage einig geworden wären?« Einige am Tisch lachten darüber, sogar der Münzmeister. Nachdem der Tersept sich davon überzeugt hatte, dass die Mehrzahl sich erheiterte, fiel er ebenfalls in das Lachen ein. Hawkril nickte nur und sah sich unmerklich um. Bei mehreren Bediensteten zuckten die Mundwinkel verdächtig. Der Burgverwalter ließ sich davon jedoch nicht verdrie-
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ßen. Er wartete einfach ab, bis das Gelächter sein Ende gefunden hatte, und ergriff dann wieder das Wort. »Gerade weil eine solche Einigung niemals erreicht wurde oder erreicht werden wird, erfreuen wir uns zurzeit in Aglirta eines gewissen Friedens. Uns ist ebenso bekannt, dass König Raulin Sohn eines fahrenden Sängers ist, weder über Titel noch Ländereien noch sonst nennenswerte Mittel verfügt. Kein Heer gehorcht seinem Namen, und er verfügt auch sonst über wenig Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Selbst sein Anspruch auf den Thron steht auf wackligen Füßen. Wir wissen auch, dass einige Persönlichkeiten übereingekommen sind, Raulin die Krone aufs Haupt zu setzen ... oder genauer gesagt, ihn vor die Wahl gestellt haben, entweder niedergehauen zu werden oder die Krone zu ergreifen und sich selbst zum König auszurufen. Und dieselben Persönlichkeiten, unter denen die Hochfürsten eine herausragende Rolle spielen, unterstützen den jungen König immer noch, sonst hätte er sich dort längst nicht mehr halten können. Da fragt man sich doch, warum man ein solches Kind auf den Thron gesetzt hat ... etwa, weil ein Kind so viel leichter zu beeinflussen ist, damit ihr das Reich nach euren Vorstellungen umgestalten könnt?« Embra wollte schon etwas entgegnen, und ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, wie ihre Worte ausfallen würden, aber Schwarzgult brachte sie mit erhobenem kleinen Finger zum Schweigen. »Zugegeben, eine Erklärung, welche zunächst auf der
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Hand zu liegen scheint«, erwiderte der Greif. »Jeder, der nur für zwei Momente darüber nachdenkt, muss zu solcher Schlussfolgerung gelangen. Wenn Ihr zur rechten Zeit im Thronsaal gewesen wärt, um alles mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, wüsstet Ihr heute, dass es mir ein Leichtes gewesen wäre, selbst vom Regenten zum König ausgerufen zu werden. Man drängte mich nicht nur dazu, man ging sogar allgemein davon aus. Selbst unserem Hawkril hier trug man die Krone an.« Der Burgverwalter breitete die Arme aus. »So gern ich Euch auch glauben möchte, uns steht für diese Geschichte nur Euer Wort zur Verfügung. Wir waren leider nicht zugegen. Auch die Mehrzahl der Fürsten und Tersepten weilte andernorts, sei es hier im Tal oder dort. Die meisten Fürsten und Tersepten sind übrigens von Euch, von Kelgrael oder von König Burgmäntel eingesetzt worden. Und deshalb schulden wir Treibschaum Treue und Steuern. Denn was uns gegeben worden ist, kann uns auch wieder genommen werden. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als den Nacken zu beugen. Wer dies in der Vergangenheit versäumt hat, findet sich heute unter der Erde wieder.« Schwarzgult lächelte über das ganze Gesicht. »Und jetzt habt Ihr es Euch auf die Fahne geschrieben, den Lauf der Welt selbst zu ändern, oder, Urbrindur? Und Ihr wollt auch gleich der Dreifaltigkeit aufzählen, was sie in Zukunft alles besser machen sollte? Und ihr erläutern,
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warum sie in den letzten Jahrhunderten nur Murks zustande gebracht habe?« »Genau das haben doch die Schlangenpriester versucht«, merkte der Münzmeister jetzt an, und von ihm hätte man eine solche Aussage am allerwenigsten erwartet. »Und damit sind sie genau so kläglich gescheitert wie Blutklinge oder jede andere Fürsten Verschwörung.« Embras Vater konnte nur zustimmend nicken. »Felsbrocken werden nicht weicher, wenn man sie anbrüllt ... oder sich mit aller Wucht gegen sie wirft. Eines habe ich in meinen vielen Jahren auf dieser schönen Welt gelernt: Wenn man größere Veränderungen vornehmen will, kostet das in der Regel sehr viele Menschen das Leben.« »Und wie lautet der langen Rede kurzer Sinn, werter Hochfürst?«, fragte Ryethrel mit säuerlicher Miene. »Dass Aglirta sich damit zufrieden geben soll, einen Jungen als König bekommen zu haben, und sich höchstens noch damit abfinden darf, dass dieser Bengel die Zügel etwas anders in die Hand nehmen soll? Und es damit um der Liebe der Götter willen gut sein lassen soll? Denn jeder weitere Wandel würde unweigerlich zu Blutvergießen führen?« Er schüttelte den Kopf. »Das erscheint mir doch als gewaltige Bedrohung. Noch größer als die, welche seit ewigen Zeiten von den Reichsfürsten ausgeht, dass nämlich derjenige, welchem soundso viele Soldaten zu Gebote stehen, aus exakt diesem Grund tun und lassen kann, was er will. Und falls jemand ihnen in die Quere kommt, dann gälte er als gewissenloser Schlächter, welcher ganz Aglirta in den Ruin treibt. Versteht mich nicht falsch, Herr Hochfürst. Mir steht ge-
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wiss nicht der Sinn danach, dem jugendlichen König zu trotzen oder Eure Arbeit zu schmälern. Vielmehr will ich daraufhinweisen, dass sich Eure Ausführungen doch verdammt noch mal nach altem Wein in neuen Schläuchen anhören. Ihr wollt uns das, was immer schon war, in neuem Gewand verkaufen.« Der Goldene Greif lächelte. »Richtig beobachtet, Ryethrel, genau so verhält es sich. Hinter allen klugen Debatten und Strategien steckt doch immer nur eine einzige Frage: Wer vermag das größte Heer zusammenzuziehen?« Embras Vater ließ den Blick über die Gastgeber wandern. »Ich wünschte, die Verhältnisse wären anders. Aber das sind sie eben nicht, oder was meint Ihr, Pheldane?« »Schnauft und knurrt hier nur herum wie ein blind gewordener alter Keiler«, grunzte der Erste Ritter, ohne seinen Gegner eines Blickes zu würdigen. »Möget Ihr in Eurer eigenen Rüstung gekocht werden, Ihr Nachgeburt einer Wölfin!« Schwarzgult lächelte freundlich. »Meine ganz besondere Liebe für Euch wächst von Minute zu Minute, mein Teurer.« »Fürst Schwarzgult und Fürstin Silberbaum!« Die Stimme des Tersepten klang weinerlich. »Seit eurer Ankunft hier auf Burg Stornbrücke habt ihr harte Worte und raue Behandlung erdulden müssen. Mir bleibt nur, für das Unentschuldbare demütigst um Verzeihung zu bitten. Und beantwortet mir bitte eine Frage, verehrte Hochfürsten: Habt ihr uns etwa schon längst als Feinde der Krone abgeurteilt? Sollen wir dem Henker überantwortet werden, nur weil wir aus unserem Herzen keine Mördergrube gemacht
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haben?« »Nein, Herr Tersept, niemand hat Euch verurteilt«, versicherte die Fürstin ihm. »Wir ehren und schätzen die Wahrheit. Deswegen streben wir auch danach zu erfahren, wie das Volk wirklich fühlt und denkt, haben wir doch die falschen Schmeicheleien und Freundlichkeiten gründlich satt, mit welchen man uns im Stromtal gern bedenkt. Deswegen glaubt mir, wenn ich sage, Eure Ansichten entsprechen weit verbreitetem Empfinden und können uns deshalb wenig überraschen.« Der Burgherr betrachtete sie mit eigentümlichem Blick und schüttelte dann langsam den Kopf, und Embra lächelte ihm aufmunternd zu. Dann fiel ihr eine Bewegung über ihr ins Auge, und die Herrin der Edelsteine setzte wieder ihren Weltenstein ein. Die Soldaten oben auf den Galerien, welche gerade heimlich in ihren Köcher gegriffen hatten, um einen Bolzen auf die Sehne zu legen, schliefen gleich wieder ein und ließen die Arme herabbaumeln. Kaum war diese Aufgabe erledigt, musste die Fürstin den nächsten Bann wirken. Sie untersuchte noch einmal die aufgetragenen Speisen. Leuchtende Stellen krochen hier und da über den Braten und die Beilagen. Embra steckte unmerklich einen kleinen Finger in eine Sauciere, leckte das Erhaschte ab und untersuchte sich endlich selbst mit ihrem Dwaer. »Was habt Ihr?«, erkundigte sich Fürst Stornbrücke gleich. Dabei hätte er sich doch denken können, was die hohe Frau
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beschäftigte. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?« »Mehr als nur etwas, Herr«, antwortete die Edle und sah ihn ernst an, während sie sich zum zweiten Mal den in Soße getunkten Finger in den Mund schob. »Deswegen darf man ja auch nie zu unvorsichtig sein«, meinte sie dann. »Aber eines dürfte feststehen: Eure Küche kann sich sehen lassen.« »Ja!«, begeisterte sich die Unterköchin Maelree und schob sich die Faust in den Mund, weil sie am liebsten vor Freude laut geschrien hätte. »Die Fürstin hat es getan! Das Gift steckt in ihr!« »Seid doch stille, verdammt!«, mahnte die Speisekammerherrin neben ihr, konnte aber selbst ihre Zurückhaltung kaum wahren. »Wir dürfen unsere hohen Gäste erst dann davor warnen, dass sie sich vielleicht mit der Blutpest angesteckt haben könnten, wenn sie alle von den Speisen gekostet haben.« Die Unterköchin nickte und zog sich ein Stück weit vom Galeriefenster zurück. Als die beiden Frauen sich im Schatten befanden, konnten sie sich endlich ein gehässiges Lächeln gestatten. »Ein guter Tag für die Schlange«, flüsterte Maelree, legte Klaedra eine Hand auf die Schulter und drückte so fest zu, dass es der Vorsteherin der Speisekammer wehtat. Aber die stämmige Frau schüttelte die Unterköchin weder ab, noch züchtigte sie Maelree mit Schlägen dafür, sich an ihrer, der höher stehenden Person vergriffen zu haben. Und das bewies wohl vor allem anderen, welchen Triumph über den gelungenen Anschlag die Vorratsmeisterin verspürte.
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Wahnsinn und eine willkommene Flasche C Obwohl mir ja stets der Wunsch einer schönen Frau Befehl ist, wird mich das eines Tages noch ins Grab bringen«, sang Craer Delnbein ebenso zart wie spöttisch, während er durch den unbekannten Gang entschwand. Begleitet wurde sein Gesang vom leiser werdenden Stöhnen des Wachsoldaten, welchen er gerade zwischen die Beine getreten hatte. Was hatte dieser Dummbatzen sich ihm auch in den Weg stellen müssen! Er hatte den Beschaffer so lange aufgehalten, dass der Kammerknabe, hinter welchem Craer her gewesen war, die Gelegenheit genutzt hatte, just in diesen Seitengang hier zu entschwinden. Ein Dutzend Türen erwartete den Beschaffer hier. Hinter einer davon musste der Jüngling sich verbergen. Wenigstens hatte der Tropf sie hinter sich ins Schloss geworfen – sonst hätte Craer ja überhaupt keine Spur mehr gehabt, verdammt und zugenäht! »Hmm, wenn ich ein übereifriger und überwachsamer Wächter wäre, wo würde ich dann auf jemanden wie mich
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lauern ... Doch wohl am ehesten hier!«, murmelte der Beschaffer vor sich hin. Als er um die Ecke bog, sprang er in die Höhe und bekam einen alten Fackelhalter zu fassen. Craer hielt sich daran fest, schwang dann hinauf und zog sich hoch. Keinen Moment zu früh! Ein Schwert fuhr genau dort gegen die Wand, wo sich eben noch Gesicht und Kehle des Beschaffers befunden hatten. Der Soldat am anderen Ende der Klinge grunzte wütend. Dieser Laut verwandelte sich in ein verblüfftes Ächzen, als Craer über ihm an der Ecke entlangsauste, sich von der gegenüberliegenden Wand abstieß, sich in der Luft drehte und dem Wächter endlich einen Handkantenschlag an den Hals verpasste. Der Soldat krächzte, und dieses Geräusch erstickte, als Craer dem Mann seine gewachste Schnur um den Hals schlang. Der Beschaffer zog die Schlinge zu und ruckte geschickt daran, bis der gurgelnde und um Luft ringende Mann mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Craers Gegner drehte sich um die eigene Achse und schlug mit beiden Händen in die Luft, als wolle er sie zerreißen. Der Beschaffer ließ sich von diesem Schwung neuen Antrieb verleihen, hüpfte nach der Landung gleich wieder hoch und trat dem Wächter an den Kopf, so dass dieser erneut ziemlich hart mit der Wand in Berührung kam. Diesmal vermochte der Mann nicht mehr, als das Gesicht für einen Moment einen Daumenbreit von der Wand zu lösen, vollkommen fassungslos zu blinzeln und dann geradewegs auf dem Boden zusammenzubrechen, wo er als ungeordneter Haufen liegen blieb.
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»Nein, Ihr braucht mir nicht zu danken, dass ich Euch eine kleine Pause verschafft habe«, erklärte der Beschaffer dem Bewusstlosen und befreite ihn von der Würgeschnur. »Genießt Ihr ruhig Euren Schlummer. Die Dreifaltigkeit wird schon über Euch wachen, insofern Ihr das verdient habt, jetzt muss ich mich aber sputen, will ich mich doch in den Genuss dessen bringen, was ich mir verdient habe!« Der Dieb setzte sich gleich in Bewegung und lief in seinen weichen Lederstiefeln so rasch und gleichzeitig so lautlos, wie es ihm nur möglich war. Die Spitzen derselben waren stahlverstärkt, und an ihnen ließen sich kleine Sichelklingen ausfahren. Craer hatte sie selbst dort eingebaut und war entsprechend stolz auf seine Erfindung. Alles andere an den Stiefeln fühlte sich jedoch so weich an wie die Pantöffelchen einer hoch stehenden Dame. Hinter einer dieser Türen befand sich der Kammerknabe, möge die Dreifaltigkeit ihn holen! Aber als Beschaffer glaubte er nicht daran, dass man alles am besten auf dem Verhandlungswege regelte ... Er drückte die Klinke der ersten Tür, doch die wollte sich nicht öffnen lassen. Craer rüttelte noch einmal daran und eilte dann schon zu derjenigen, welche der ersten gegenüberlag. Die erste Tür hatte nicht nachgegeben, und hinter ihr hatte auch niemand einen Schreckenslaut ausgestoßen. Dafür ließ sich die zweite Tür umso leichter öffnen. Staub, Dunkelheit und gefaltetes Leinen erwarteten ihn hier. Eine Wäschekammer. Craer ließ seine Würgeschnur wie eine Peitsche durch die Finsternis schnellen. Kaum hatte er auf diese Weise festgestellt, dass diese Räumlichkeit keinem entflohenen Jüngling Unterschlupf bot, rannte er auch schon
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zur dritten Tür. Hier erwarteten ihn drei zu Tode erschrockene Maiden, welche gerade über Stickrahmen die Nadel schwangen. Es dauerte nur einen Herzschlag, bis das Trio wie aus einem Munde einen markerschütternden Schrei ausstieß. Craer blieb nichts anderes übrig, als ihnen verlegen zuzulächeln und rasch die Tür wieder zu schließen. Schon hatte er den vierten Eingang erreicht. Hier war die Tür abgesperrt und erbebte unter dem Ansturm des Beschaffers. Von der anderen Seite her ertönten daraufhin ein erschrockenes Frauenkeuchen und eine leise, ungehaltene Männerstimme: »Noch nicht, Thalas! Ihr habt uns diese Kammer bis zum Kerzentausch zugesagt!« Der Beschaffer grinste und wandte sich der nächsten zu. Diese Tür ließ sich ohne Mühe öffnen ... Und Craer warf sich augenblicklich zu Boden, als etwas Zischendes mit langen Zähnen auf ihn zuschnellte. Sein Sprung führte ihn bis vor die Füße seines Feindes. Dort angekommen schlang er ihm nicht faul die Würgeschnur um die Fußgelenke und zog heftig daran. Der Mann über ihm fluchte und ruderte mit den Armen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten – bis er etwas fand, woran er sich festhalten konnte. Aber da hatte der Beschaffer sich schon am Bein des Mannes hochgezogen und stach jetzt mit einem seiner Dolche auf ihn ein. Der Schlangenpriester kreischte und griff nach seiner eigenen Waffe. Doch dann durchbohrte Craers Stahl seine Hand. Das Messer des Priesters landete klappernd auf dem Boden, und er selbst kreischte wie am Spieß.
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Der Beschaffer drehte seinen Dolch in der Wunde herum, und der Schlangenpriester sank heulend und wimmernd auf die Knie. Mit der anderen Hand packte Craer den anderen am Kragen, der sich in diesem Zimmer aufhielt: Der Kammerknabe, hinter welchem er her war. »Ist dies der Mann, welcher einen Zauberbann auf Euch gelegt hat?«, zischte Craer und wackelte mit seinem Dolch. Die Hand des Schlangenpriesters folgte jeder Bewegung, als hinge sie wie eine Marionette an einem Faden. »Ja«, stammelte der Jüngling und drückte sich an die Wand, als wolle er möglichst viel Platz zwischen sich und den Beschaffer bringen, aber in dieser engen Kammer konnte er ihm unmöglich entkommen. »Kennt Ihr ihn?«, fragte Craer streng und verstärkte seinen Griff am Kragen des Knaben. »N-nein, Herr, ganz ehrlich nicht. Er kam erst vor z-zwei Tagen hier an ... auf der B-burg, meine ich. Ich kenne nicht einmal seinen Namen.« Craer stieß den Diener ein Stück weit fort, und dieser wäre beinahe hingefallen. Der Beschaffer nutzte diesen Moment, um den Dolch des Priesters an sich zu bringen – eine flammenförmige Klinge und ein Griff in Form eines aufgerissenen Schlangenmauls. Damit bedrohte er nun den Kammerknaben, um ihm keine Möglichkeit zu lassen, eine mitgeführte Waffe zu zücken. Der Diener verstand das falsch und wich kreidebleich zurück. »Erbarmen, Herr. Dieser Dolch ist vergiftet!« Craer wackelte noch einmal mit seinem eigenen Messer, um den Schlangenpriester weiter kampfunfähig zu halten. Dann hielt er die Klinge gegen das Licht.
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Tatsächlich, an der Spitze befand sich ein Fleck. Die grünliche Färbung verriet, dass es sich dabei nicht um altes Blut handeln konnte. Der Beschaffer stieß mit der Spitze nach dem Kammerknaben. Der kreischte, als solle er lebendig gebraten werden, und versuchte in seiner Not, die Wand hochzuklettern. Craer drehte die Waffe und schlug dem jungen Mann den Knauf mit dem Schlangenschädel auf den Kopf. Der Diener brach auf der Stelle zusammen, während Blut aus seiner Nase sickerte. Der Beschaffer nickte und rammte dann dem Schlangenpriester dessen Dolch mit der vergifteten Spitze voran in den Bauch. Dem Mann blieb nicht einmal mehr die Zeit zu schreien, so rasch setzte die Wirkung des Giftes ein. Er kippte vornüber, und als er mit dem Gesicht aufschlug, hatte er diese Welt bereits für immer verlassen. »Wohlan, mein lieber Craer«, lobte sich der Beschaffer selbst, »Ihr seid und bleibt einfach der Beste.« Nach einem Moment des Nachdenkens fügte der ehemalige Dieb hinzu: »Ich hoffe doch sehr, dass die anderen bei meiner Rückkehr nicht alles aufgefuttert haben, worinnen sich kein Gift befindet!« Er riss dem Toten sein Messer aus der Hand und trat wieder hinaus auf den Flur. Bevor er sich jedoch auf den Weg machte, klopfte er laut an eine bestimmte Tür und rief streng: »Thalas, kommt sofort heraus. Ich zähle bis drei, dann komme ich hinein!« »Ihr Mistkerl! Ihr Nachgeburt einer Wildsau! Ihr Schweinehund!«, ereiferte sich die männliche Stimme drinnen ge-
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dämpft, während die Frau Laute von sich gab, als habe ihr Herzschlag ausgesetzt. Grinsend setzte der Beschaffer seinen Weg fort und entfernte sich aus dem Flur, ehe das Pärchen herausstürzen konnte. »Ich weiß, eines Tages bringt mir das noch einmal ganz großen Ärger ein.« Lächelnd meinte er wenig später: »Aber heute ist es noch nicht so weit.« Dann fiel ihm der erste Wächter wieder ein, welcher mittlerweile wieder zu sich gekommen sein dürfte. Und Craer murmelte: »Hoffe ich jedenfalls.« In einer Kammer des Palastes, welche sich durch hohe und dunkle Buchregale, blutrote Wände und viele vergoldete geschnitzte Drachenköpfe auszeichnete, saß ein Mann mit schwarzem Bart und nahm eine Mahlzeit zu sich. Der Wein in seinem Kelch wirkte noch etwas dunkler als seine roten Gewänder, ganz besonders dunkler aber als die hell lodernden Zornesflammen in den Augen des Mannes. Die Diener kannten diese Stimmung und wussten, dass sie nicht säumen und trödeln durften, sobald sie Multhas Bogendrachen den dampfenden Teller vorgesetzt hatten. Schwarzherz (unter diesem Namen kannte man ihn in ganz Arlund, aber niemand, der noch bei Trost war, hatte ihn jemals in Gegenwart Bodendrachens ausgesprochen) neigte nämlich sowohl zum Jähzorn als auch zur Grausamkeit. Multhas speiste grundsätzlich allein, denn er hatte es sich schon seit längerem zur Angewohnheit gemacht, zwischen den einzelnen Gängen einen Blick in seine Kristallkugeln zu werfen und sich so Kenntnis von dem zu verschaffen, was
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sich in Asmarand so tat. Der Widerschein der Kugeln beleuchtete ein schmales Gesicht mit langer, schmaler Nase und angenehmen Zügen. Solch ein Antlitz hätte man bei einem mächtigen König oder Hohepriester erwartet, vielleicht auch bei einem Erzmagier, aber niemals bei einem Schwächling oder Taugenichts. Multhas Schwarzherz brütete oft über wahrhaftigen wie auch eingebildeten Sichten, welche ihm sowohl Menschen als auch Götter sandten. So auch in diesem Moment ... Warum besaß sein älterer Bruder Dolmur mehr Macht als er? Der schweigsame Dolmur, welcher niemals Zeit mit Unnützem wie Blumen, Freundlichkeiten oder Fragen danach verschwendete, was andere von ihm dachten? Wie war es möglich, dass solch ein Mensch bei den Leuten mehr Achtung erzeugte als alle seine Brüder zusammen? Dabei half Dolmur nicht einmal mit offenen Drohungen nach! Wenn Multhas ehrlich war, musste er zugeben, dass niemand ihm den gehörigen Respekt verweigerte. Aber keiner wagte es, ihm dabei ins Gesicht zu sehen. Auch konnte er niemanden als wirklichen Freund bezeichnen. Und keiner kam zu ihm, wenn er nicht unbedingt musste. Ein jeder begegnete Multhas höflich und zuvorkommend, blieb aber auf der Hut. Und wenn sie vor ihm standen, wohnte in ihren Herzen weder Freude noch Liebe. Allerdings erzitterten die Menschen auch nicht in seiner bloßen Gegenwart und zeigten auch sonst keine Anzeichen der Furcht, welche ein allmächtiger Magier allein schon durch sein Erscheinen auslösen musste. Multhas beschloss, die Mächtigen dieser Welt genauer zu
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studieren. Wie sie sprachen, welche kleinen Eigenheiten sie pflegten, wie sie sich bewegten, wie sie sich kleideten, kurzum, wie sie sich gaben. Was nützte es einem schon, ein mächtiger Zauberer zu sein, wenn man die Menschen erst in Flammen aufgehen lassen musste, ehe sie einem gehorchten? Andere Bannschmiede mussten nur die Mundwinkel verziehen oder eine Augenbraue heben, und schon sprang alles auf, um ihnen zu Willen zu sein und sie auch sonst bei Laune zu halten. »Dieses Geheimnis muss ich unbedingt enträtseln, potzblitz!« Der Magier wälzte wieder seine Lieblingszauberbücher. In den alten und dicken Schwarten, welche vor Zeiten die mächtigsten Bannschmiede voll geschrieben hatten: Coraumaunth, Meljrune und ... »Die Dreifaltigkeit enthüllt ihre Geheimnisse, wenn sie dafür den rechten Zeitpunkt gekommen sieht. Haltet Ihr es wirklich für klug, ihr in uralten Büchern auf die Schliche zu kommen, Multhas?« Bogendrachen drehte sich so hastig um, dass er beinahe seinen Teller vom Tisch gefegt hätte. »Wer wagt es ...?« Ein Fremder, angetan wie ein reisender Magier, war urplötzlich am anderen Ende des Raums aufgetaucht und sah ihn unverwandt an. Schwarzes Haar, ein leises und weises Lächeln und eine Hand unter dem Umhang verborgen. Multhas erkannte den Fremden nicht, wusste aber, dass er ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte ... in einer seiner Kristallkugeln! Jawohl! Vor Jahren, als er es noch gewagt hatte, auch Aglirta zu beobachten ... bevor ... »Gestatten«, begann der Fremde freundlich, »Ingryl Am-
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belter. Ich komme in friedlicher Absicht und will Euch ein Angebot unterbreiten, welches Euch ebenso lohnend wie entzückend erscheinen wird.« Eisige Furcht breitete sich tief in Schwarzherz Bogendrachen aus, und es kostete ihn die allergrößte Anstrengung, nicht zusammenzuzucken und sich solcherart seine Angst anmerken zu lassen. Dennoch erheiterte sich der ungebetene Gast, so als stünde Multhas jeder einzelne Gedanke klar und deutlich auf die Stirn geschrieben. Ja, natürlich sagte ihm der Name Ingryl Ambelter etwas. Dieser Mann war der Dunkelste in der Dunklen Dreiheit des Fürsten Silberbaum gewesen. Wenn man vor jemandem Angst haben sollte, dann vor ihm. Und dessen schien sich Ambelter durchaus bewusst zu sein. Multhas schüttelte sich und zwang den Zorn in sich zum Wachsen, auf dass er alle Furcht überwände ... Wie war es Ingryl gelungen, in Multhasens am besten gesichertes innerstes Heiligtum vorzudringen? Dabei musste man an Abwehrzaubern ohne Zahl vorbei. Welch Ehrfurcht gebietende Macht hatte dieser Mann angesammelt? Dieser Magier, welcher sich selbst als der Bannmeister Silberbaums vorgestellt hatte, besaß einen sagenhaften Ruf, und wenn nur ein Bruchteil aller Gerüchte auf Wahrheit beruhte, welche in Sirl über Ambelter im Umlauf waren, dann hatte er nicht nur seinen Herrn, Silberbaum, sondern auch den Erwachten König und ebenso die Große Schlange getötet! Ganz ohne Frage aber hatte Ingryl vor vielen Jahren die Zauberer Sirls gleich im Dutzend erschlagen. Aus purem
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Zeitvertreib hatte er ihnen einen Tötungsbann geschickt, und dieser hatte sich an all deren Abwehrzaubern vorbeigeschlichen, genau so wie jetzt ... Schwarzherz atmete tief durch – vielleicht holte er jetzt zum letzten Mal Luft. »Ambelter«, wiederholte er schließlich den Namen des Gastes, und jetzt wohnte seiner Stimme keine Furcht, aber auch kein Willkommen inne. »Diesen Namen habe ich doch schon einmal irgendwo vernommen ... Habt Ihr nicht zu den Zauberern des Faerod Silberbaum gehört? Genauer gesagt, zu den Dunklen Drei, unter welchen Ihr eine hervorragende Stellung innehattet?« Ambelter lächelte. »Ihr erinnert Euch richtig, und dieser Ruf haftete mir nicht von ungefähr an.« Er zeigte mit einer weit ausholenden Armbewegung auf die Einrichtung der Kammer. »Eure Abwehr gehört zur besten, die mir je untergekommen ist. Dennoch, Ihr versteht ...« Er lächelte wieder, und für eine Weile trat Schweigen zwischen den beiden Männern ein. Multhas ließ seine Kristallkugeln dunkel werden und hütete sich, etwas zu sagen, weil er mit jedem Wort zu viel seine Ängste verraten mochte. Mit einem Gedanken machte er die Zauberstäbe scharf, welche hie und da in diesem Raum verborgen waren. Man konnte ja nie wissen ... »Zum Besten ja, aber offensichtlich nicht gut genug«, entgegnete Bogendrachen schließlich, stellte sich lässig hin und verbarg auf diese Weise den Ring an seiner Linken unter den Fingern der Rechten. Der Ring dort war jetzt bereit, Feuer zu verschleudern. »Aber Ihr spracht eingangs von einem An-
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gebot ...« »Ich schlage Euch ein Bündnis zu einem bestimmten Zweck vor. Dieses Bündnis erfordert ein gewisses Mindestmaß an Vertrauen zwischen uns. Deswegen habe ich mich auch in eigener Person hierher bemüht, um festzustellen, ob ein solches Einvernehmen zwischen uns möglich ist oder nicht.« Multhas ließ sich äußerlich nichts anmerken. »Unterbreitet Euer Angebot.« »Seit Jahren schon kennt man Aglirta als das Land, in welchem sich die Fürsten unablässig in den Haaren liegen und sich wegen ihrer armseligen paar Gehöfte, Wälder und Felder bekriegen. Das Flusstal ernährt das große Sirlptar, kann aber beim besten Willen nicht als Königreich bezeichnet werden. Vielmehr als Hort des Waffengeklirrs, welchen man zu Recht das Land ohne König nennt. Seit jeher sind die Magier die wahren Herrscher Aglirtas. Natürlich haben auch die großen Zauberer untereinander Krieg geführt. Aber dazu benutzten sie die Fürsten, welche sie als ebenso bedeutend wie Stallburschen angesehen haben. Ich selbst war Bannmeister bei Silberbaum. Dieser große Fürst folgte in allem meinem Willen, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben.« »Und was hat das mit mir zu tun?« »Daher kenne ich mich mit der wahren Macht Aglirtas aus. Wenn dieses Land jemals vereint unter einem starken und rechtmäßigen König dastünde, müssten Arlund, Sirlptar und jedes andere stolze Land in Asmarand aufs Äußerste um seine Sicherheit fürchten. Denn dann könnte Aglirta alle Fürsten-
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tümer erobern. Diejenigen, welche sich heute im Tal um jeden Misthaufen zanken, könnten schon morgen über das ganze Geschlecht der Bogendrachen herfallen, wenn nur jemand es verstünde, sie hinter sich zu vereinen.« »Wenn das Wörtchen ›wenn‹ nicht wär, wär mein Vater Millionär. Und dennoch ist mein Vater arm wie eine Kirchenmaus«, entgegnete Multhas. »Auch fürchte ich keine feindlichen Heerscharen. Gleich ob Reiterschwadronen, gepanzerte Ritter oder Speerträger in Reih und Glied. Wenn sie kommen, empfange ich sie mit ein paar Zaubern, und dann ward von ihnen nichts mehr gesehen.« Ambelter grinste. »Ganz recht. Aber Aglirta hat weit mehr zu bieten als nur ein paar Schwertschwinger, nämlich Magie! Die Ruinen von einem Dutzend Städte der Zauberei liegen unter den grünen Wiesen und Wildholzwäldern im Tal des Silberflusses verborgen ... Ebenso findet man Banne in den Grüften der alten Familien, unter den Hecken am Wegesrand, in vielen verlassenen Stätten und auch in den Palästen der hohen Häuser ... Im Lauf der Jahrhunderte ist viel Zaubergut zusammengetragen worden. Davon wurde vieles gestohlen und noch mehr verlegt. Aber so manches gilt es zu bergen. Genügend Banne, um den Finder in einen Erzmagier zu verwandeln, wie Darsar ihn noch nicht gesehen hat. Man höre sich nur um. Die Bauern sind zu dumm. Sie werfen Zauberschwerter fort, wenn sie beim Pflügen darauf stoßen. Und die Fürsten sind nicht besser. Die scheren sich um nichts, an dem keine Edelsteine im Dutzend kleben.« Bogendrachen schluckte, denn er hatte mit einem Mal ei-
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ne trockene Kehle bekommen. »Und jemand wie Ihr, der durch meine Abwehrzauber spaziert, als handele es sich dabei um bloße Vorhänge, soll bei einem solchen Vorhaben auf meine Hilfe angewiesen sein? Das müsst Ihr mir schon etwas genauer erklären!« Ingryl trat einen Schritt auf ihn zu und bewegte sich dabei noch lautloser als eine Katze. »Aber genau so verhält es sich, mein lieber Multhas. Allein auf mich gestellt könnte ich mich dennoch leicht zum Tyrannen von Sirl aufschwingen, auf dass alle Menschen dort und in ganz Asmarand mich fürchteten. Dies und noch einiges mehr vermag ich ohne fremde Hilfe zu bewerkstelligen. Doch ich will nicht einiges mehr, sondern viel mehr!« Wieder schwebte er lautlos einen Schritt auf Bogendrachen zu, und dieser erweckte seinen Feuerring. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Gut möglich, dass Ambelter ihn mit diesem Gerede bloß in eine Falle locken wollte. Silberbaums Erzmagier aber lächelte. »Nur die Ruhe, mein Lieber, und löscht das wieder, was Ihr gegen mich entfacht habt. Ihr dürft mir glauben, dass ich mich dagegen bestens zu wehren verstehe.« Ingryl hob jetzt eine Hand, als wende er sich an eine ganze Versammlung. »Hört mich an: Ich bedarf der Verbündeten, und ich bedarf der Freunde. Kameraden, welche mit mir das neue Aglirta begründen wollen ... das Königreich der Zauberer!« Der Herr von Burg Bogendrachen spürte, wie seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, während sein Herz gleichzeitig wie rasend schlug. »Ihr erwartet von mir, Euch als Euer treuer Vasall zu dienen?«
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»Aber nein, ich sehe vielmehr einen Senat der Magier vor mir, einen Hochrat. Die Zauberlehrlinge stünden unter uns, und unter diesen wiederum die gewöhnlichen Bürger. Wir erschaffen ein Reich so rein, stark und friedlich, wie es uns nur möglich sein wird. Die Bürger arbeiten fleißig und verdienen gut. Von ihren Abgaben können wir wie die Könige leben und uns auf die Suche nach noch stärkerer Magie machen. Die neuen Zauberbücher, welche wir dann verfassen, sollen allen zugute kommen ... Was haltet Ihr davon, Bogendrachen?« »Ein verlockender Ausblick auf die Zukunft«, gestand Multhas ein. »Dennoch vermag ich noch nicht zu erkennen, warum Ihr ausgerechnet meine Unterstützung anstrebt ... oder warum ich die Sorge ablegen kann, Ihr wolltet mir in Wahrheit ans Leben ... Womöglich trachtet Ihr ja nur danach, in den Besitz meiner Magie zu gelangen ...« Ingryl grinste breit. »Ich habe es nie für möglich gehalten, einen Zauberer zu Tode zu reden. Wenn ich Euer Ende wollte, hätte ich Euch längst mit einem raschen Bann beseitigen können. Ohne Vorwarnung hätte Euch mein magischer Blitz getroffen, Multhas Bogendrachen, und Ihr hättet nicht einmal die Gelegenheit erhalten, Euch nach Eurem Mörder umzudrehen ... Viel Magie steckt in den Mauern und Möbelstücken, welche Euch umgeben, mein Freund. Denjenigen, welche sich mit so etwas auskennen, dürfte es ein Leichtes sein, diese Zauberenergie neu zu verbinden, so dass alles über Euch zusammenfiele ... Aber wie schon gesagt, mir liegt nichts an Eurem Ende.
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Ich will Euch lebend, als Verbündeten, den ich achten und mit dem ich reden kann ... und als Freund.« Er streckte eine leere Hand wie eine Frau aus, welche es noch nicht wagt, denjenigen zu berühren, welchen sie trösten möchte. »Ich weiß, dass dies alles etwas plötzlich kommt. Da braucht Ihr natürlich Zeit zum Nachdenken. Da wollt Ihr mein Angebot drehen und wenden, um es von allen Seiten zu betrachten. Darum will ich Euch nicht bedrängen und heute noch keinen Vertragsabschluss von Euch verlangen ... Denn ich bin mir ziemlich gewiss, dass Ihr die Vorteile meines Vorschlags bald erkennt, wenn Ihr nur gründlich genug darüber nachgedacht habt. Und dann werdet Ihr sehr gern mit mir zusammenarbeiten wollen ... Stellt Euch nur einmal ein Land vor, in welchem es keine wild gewordenen Schwertschwinger mehr gibt und in welchem man von keinem schlitzohrigen Kaufmann das Fell über die Ohren gezogen bekommt ...« »Vielen Dank, aber solcherart Freiheit genieße ich bereits«, entgegnete Multhas etwas steif. Ambelter schüttelte den Kopf. »Das doch wohl nur dank Eures Bruders Dolmur – dem Dir Euch darum auch zutiefst verpflichtet fühlt. Mit einem Wort könnte er Euch die Tür weisen – wie ein Tyrann oder wie ein halsabschneiderischer Kaufmann, bei dem Ihr Euch zu tief verschuldet hättet.« »Ich glaube, wir haben uns jetzt lange genug unterhalten«, erwiderte Bogendrachen barsch. Der Erzmagier hob eine Hand. »Bitte, Multhas, überstürzt nichts. Ich hatte keinesfalls vor, Euch zu nahe zu treten.
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Denn mir liegt es fern, Euch zu erzürnen. Vielmehr wollte ich Euch nur in aller Freundschaft darauf hinweisen, wie die Dinge nun einmal stehen ... Sagt mir, wie oft habt Ihr schon solch ehrliche Worte von einem Zauberer gehört? Nun? Wäre das allein nicht schon Grund genug, meine Vorschläge wohlwollend und in neuem Licht zu betrachten?« Bogendrachen zog nachdenklich die Stirn in Falten und nickte dann, wenn auch widerwillig. »Das ist wohl wahr gesprochen. Dennoch verbirgt sich weiterhin vor mir, was Ihr wirklich von mir wollt ... Hat Aglirta denn noch nicht hinreichend bewiesen, dass man dort von allen guten Geistern verlassen ist? Setzt man doch dort einen ahnungslosen Bengel auf den Thron! Euch müsste es doch ein Leichtes sein, ihn mit Euren Bannen zu beeinflussen. Ihr könntet dieses Reich bequem beherrschen, auch ohne die Hilfe von Verbündeten wie mir.« Der ungebetene Besucher lächelte. »Das könnte ich natürlich tun, aber damit überkäme das Land eine große Schlacht. Und wenn ich dann mein Reich in Besitz nähme, wären davon nur noch Trümmer übrig ... Habt Ihr Euch denn nie gefragt, wer diesem bis dahin völlig unbekannten Bengel auf den Thron geholfen hat? Nun, dahinter stecken die Fürsten Schwarzgult und Silberbaum, und die selbst ernannten Hochfürsten sind auch wieder mit von der Partie. Dazu stehen ihnen noch die mächtigsten übrig gebliebenen Zauberer Aglirtas zur Seite.« Multhas deutete auf seine Kristallkugeln. »Tatsächlich? Dabei habe ich einige Zeit darauf verwendet, das Stromtal von oben nach unten und von unten nach oben zu studieren. Lei-
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der sind mir dabei keine Zauberer aufgefallen, welche einer Erwähnung wert wären. Sicher, in Sirlptar trifft man sie häufiger an, aber in Aglirta ...« Ambelter lächelte, als könnte ihn nichts erschüttern. »Nun, gewiss werdet Ihr doch schon einmal vom Herrn der Fledermäuse gehört haben, oder?« »Sicherlich, aber der hält sich doch schon seit längerem nicht mehr in Aglirta auf. Selbst im Tal bekommt man ihn kaum zu sehen.« »Dann solltet Ihr aber schleunigst wieder die Kristallkugel nach ihm befragen.« Schwarzherz Bogendrachen starrte den Mann wütend an und gab dann unbeherrscht zurück: »Dann steckt dieser Herr der Fledermäuse also mit den hohen Herren in Treibschaum unter einer Decke, na und? Ihr werdet doch wohl mit einem einzelnen Magier fertig werden, mag der auch noch so einen schrecklichen Ruf genießen!« »Ganz recht, nur steht dieser Zauberer nicht allein da. Ihrer finden sich noch so manch andere. Selbstredend könnte ich mit ihnen allen fertig werden. Doch sobald ich meine Deckung fallen lasse, und das muss ich ja wohl, wenn ich zum Angriff übergehe, schließen die anderen sich zusammen und umkreisen mich wie ein Rudel hungriger Wölfe. Tag und Nacht werden sie mich beobachten. Wende ich mich gegen den einen, weicht der zurück, während die anderen vorrücken – und es wird sich ein endloses zähes Ringen entspinnen. Am besten hat man da noch ein Ass im Ärmel, mit welchem sich eine Überraschung bewerkstelligen lässt – wie zum Beispiel Euch. Ihr könntet blitzschnell aus Eurem Versteck
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vorpreschen, ein Dutzend Feinde erschlagen, Euch in den Besitz ihrer Magie bringen und schon wieder verschwunden sein, noch ehe die anderen bemerkt hätten, was überhaupt vorgefallen wäre, geschweige denn, wer den Anschlag verübt hätte ...« »Und wer wären zum Beispiel ein Dutzend dieser Feinde? Handelt es sich bei ihnen allen um wahre Meister ihres Fachs, welchen es leicht fällt, sich über Monate und länger vor mir und meinen Kristallkugeln verborgen zu halten?« Multhas winkte noch einmal in Richtung derselben und ließ dabei seinen Ring sehen, damit Ingryl eine Vorstellung davon erhielt, womit sein Gegenüber aufwarten konnte. Ambelter warf einen abfälligen Blick auf das zauberträchtige Schmuckstück. Doch schon im nächsten Moment schien er die zornige Miene seines Gastgebers bemerkt zu haben und wurde sofort ernst. »Nicht alle Herren der Schlange sind zusammen mit der Großen Schlange untergegangen. Einem gebildeten Magier wie Euch dürfte nicht entgangen sein, dass es sich bei dieser Schlange keineswegs um eine wahre Gottheit wie zum Beispiel die Dreifaltigkeit gehandelt hat ... Vielmehr verbarg sich dahinter ein sagenhaft mächtiger Magier, welcher über ein riesiges Netz von Bannen gebot. Seine Priester waren im selben Fach tätig. Einige von ihnen dürften Euch oder mir durchaus ebenbürtig gewesen sein, doch in ihrer Mehrzahl handelte es sich bei ihnen um die Feld-Wald-und-Wiesen-Magier, wie man sie überall in Asmarand in den Seitengassen und schummrigen Ecken antrifft. Das Netz nun, welches die Schlange gewoben hatte, band sie alle zusammen und verlieh ihnen beeindruckende Kräfte.
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Die Überlebenden des Netzes kennen mich und verfolgen jeden meiner Schritte. Doch Ihr und ein paar andere, welche sie nicht kennen, könnten sich unbemerkt an sie anschleichen und von hinten in sie dreinfahren.« »Wenn sie jeden Eurer Schritte beobachten«, entgegnete Multhas und stellte zu seinem Schrecken fest, dass er so heftig schwitzte, dass ein Tropfen drohte, von seiner Nasenspitze zu fallen, »wissen sie doch sicher auch längst, dass Ihr Euch zu mir begeben habt. Womöglich belauschen sie uns längst. Dann haben sie mich bereits auf die Liste ihrer Feinde gesetzt und werden mich schon vernichten, noch ehe das Essen auf dem Teller dort drüben kalt geworden ist.« »Ach so, das«, wehrte Ingryl ab. »Darum müsst Ihr Euch nun wirklich keine Sorgen machen.« Langsam und gelassen zog er die Hand heraus, welche er bis eben in seinen Gewändern verborgen hatte. Dann hielt er die Hand geöffnet Bogendrachen hin und schaute darauf, als sei er selbst überrascht, darinnen einen gefleckten braunen und weißen Gegenstand zu erkennen. »Ich nehme an«, bemerkte Ambelter dazu, »dass Ihr wisst, worum es sich bei diesem Stein hier handelt ... auch ohne dass ich Euch seine Macht beweisen muss ... wie zum Beispiel dergestalt, dass ich alle Zauberstäbe, welche Ihr gerade gegen mich gerichtet habt, zu Staub zerfallen lasse nebst diesem Tand, welchen Ihr da am Finger tragt, und auch noch alles Zauberwerk dazu, welches ein Bogendrachen jemals in Arrund bewirkt hat.« »Ist das ein ... ein Dwaer?« Der Erzmagier lächelte breit. »Gut beobachtet. Und er
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verfügt über eine Besonderheit. Dank seiner erfahre ich, wo sich mehrere Dwaerindim in der Hand eines Magiers befinden ... So weiß ich nun, wo sich der Rest der Steine befindet. Einer davon könnte unter Umständen bald Euch gehören.« Ingryl kam wieder einen Schritt auf Schwarzherz zu. »Ihr seht also, Freund Multhas, dass ich Euch mit Leichtigkeit zu Asche verbrennen könnte. Und auch jeden Magier, Fürsten oder Bauersmann in ganz Darsar. Seit Jahren gehört mir dieser Dwaer, und ich habe ihn schon dazu benutzt, sowohl Fürsten wie auch Magier zur Strecke zu bringen. Schon vor langem hätte ich das auch mit Euch und dem ganzen Geschlecht der Bogendrachen so halten können ... Aber gerade das will ich ja nicht, und ich bin auch nicht aus einem solchen Grunde hierher gekommen.« Er entfernte sich wieder ein Stück, als ein Kranz von Sternen plötzlich den Dwaer umschwärmte. »Ich trachte vielmehr nach Verbündeten. Und noch lieber wären mir Freunde. Denkt bitte über alles in Ruhe nach, mein lieber Multhas. Ich melde mich wieder bei Euch ... Auch wenn ich Euch versichere, dass ein Nein Euch in keiner Weise Schaden einbringen soll, so hoffe ich doch sehr, dass Ihr Euch mir anschließt. Und nun gehabt Euch wohl. Es wäre eine grobe Ungehörigkeit von mir, Euch weiter von Eurer Mahlzeit abzuhalten.« Damit löste der Erzmagier sich in Rauch auf, und noch ehe Multhas eine Entgegnung eingefallen war, hatte jener sich bereits verflüchtigt. Schwarzherz starrte noch eine ganze Weile auf die Stelle, an welcher Ambelter bis eben gestanden hatte. Dann wirkte
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er rasch einen Zauber, um sicherzugehen, dass Ingryl sich nicht unsichtbar gemacht und irgendwo hier verborgen hatte. Als der Bann ihn belehrte, dass er sich tatsächlich ganz allein in dieser Kammer aufhielt, fiel ihm endlich ein, was er sagen wollte, und er brüllte: »Dolmur!« Bis auf den Diener, welcher ihm das Essen gebracht hatte, hatte sich ihm vor Ambelter für längere Zeit niemand genähert. Unter normalen Umständen hätte Multhas niemals seinen älteren Bruder hinzugezogen. Denn in dessen Gegenwart fühlte er sich stets wie ein dummes und ungezogenes Kind, das seine Bestrafung erwarten durfte. Und Dolmur gab ihm dann das Gefühl, mit einem so verstockten Kind nicht mehr ein noch aus zu wissen. Seine Miene verriet stets die trübe Frage, warum er sich überhaupt solche Mühe mit dem Jüngeren gebe, wo der doch bei der nächsten Gelegenheit wieder nichts als Unfug anrichten würde. Aber hier ging es um einen Weltenstein! Ein Zauberer aus Aglirta war anscheinend ohne die geringste Mühe an allen Abwehrbannen vorbeispaziert. Und ebendieser Mann plante, ein Reich der Magier zu gründen. Schwarzherz spürte ein große Versuchung in sich aufsteigen, eine überaus große Versuchung. Natürlich ärgerte er sich auch. So sehr, dass seine Hände zitterten, als er Abwehrzauber und den Ring ausschaltete. Doch als er seinen besten Zauberstab an sich nahm, spürte er auch Furcht in sich aufquellen. Ja, zum Himmeldonnerwetter, er hatte Angst. Bogendrachen stürmte wie ein schwarzer Turm aus seinem Gemach und hatte seine Mahlzeit längst vergessen. So dringend war es ihm, sich mit seinem älteren Bruder zu
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bereden. Letzte Flöckchen Dampf stiegen vom Teller auf, aber da sich niemand mehr in der Kammer aufhielt, konnte die auch keiner sehen. Dennoch beobachtete jemand die erkaltenden Speisen Schwarzherzens. Nur befand der sich nicht in dem Raum. Diese heimliche Spionin, eine Sie, quietschte beinahe vor Begeisterung, während sie in rascher, hastiger Folge einen Bann nach dem anderen wob. Ihr Herz raste so schnell, dass sie kaum mit dem Atmen nachkam. Indem die Magierin drei der Kristallkugeln ihres Onkels mit einem Geisterseher-Zauber belegt hatte, vermochte sie alles durch die Zauberstäbe ihres Oheims zu verfolgen; und das auf so unauffällige Weise, dass sie sich darüber freuen konnte, nunmehr bereits ein halbes Jahr unentdeckt geblieben zu sein. Und was hätte ihr auch schon groß widerfahren sollen? Onkel Multhas, der Tosende Bärtige Sturm, pflegte ja selbst mit Hilfe der Kristallkugeln durch seine Zauberstäbe zu schauen. Und die konnte man mit einem Fahnderbann wunderbar anzapfen. Wenn Ingryl Ambelter ihren Onkel noch einmal in jenem Raum besuchen sollte – und eigentlich sprach nichts dagegen, weil Multhas ihn seit einiger Zeit mitunter tagelang nicht verließ – könnte die junge Zauberin den Erzmagier mit etwas Glück verfolgen. Onkel Multhas war ein ebenso habsüchtiger wie eingebildeter Trottel. Er hielt sich dermaßen übertrieben für etwas Besseres, dass ihm davon der Blick auf seine eigenen Schwächen als Magier versperrt worden war. Daraus war eine Saum-
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seligkeit erwachsen, welche ihm eines Tages das Genick brechen würde. Bei den anderen stand es kaum besser: Onkel Dolmur ließ sich auf nichts ein, was er nicht beherrschen konnte, und ihr eigener Vater war ein sanftes Schaf und besaß noch weniger Zauberkenntnisse als Multhas. Wenn dieser Ambelter also tatsächlich einen Verbündeten – womöglich sogar einen Vertrauten – suchte, welcher ihm dabei half, das Königreich zu gewinnen, sollte er doch nicht bei den alten und vertrockneten Bogendrachen suchen. Schließlich war der Erzmagier doch noch nicht in den Jahren zu weit fortgeschritten und sah noch ganz ansehnlich aus, da könnte er sich doch durchaus mit den Jüngeren aus dem Hause gemein machen. Wie zum Beispiel mit ihr, Maelra Bogendrachen. Im Moment bebte sie vor Aufregung, als sich der letzte Zauber mit dem Rest verknüpfte und so das Netz vervollständigte, mit welchem sie Ingryl auf der Spur bleiben könnte, sobald der noch einmal die Kammer betrat. Die junge Magierin atmete rasselnd ein, strich die schlanken Hände an den Hüften trocken und lachte dann vor schierer Aufregung. Gut möglich, dass sie damit den Weg gefunden hatte, welcher sie zu ungeahnten Höhen hinaufführen würde. Zu grenzenloser Macht. »Und so kam endlich der Tag«, vertraute die junge Frau ihrem Spiegel an, »an welchem ganz Darsar den Namen Maelra kannte und bei seinem Klang erzitterte.« Das Lächeln, welches aus dem Spiegel auf sie zurückstrahlte, wirkte auch tatsächlich ziemlich furchterregend.
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»Besteht denn wirklich für Aglirta die Gefahr, in absehbarer Zeit den neuerlichen Aufstieg eines Blutklinges zu erleben?«, fragte Tersept Stornbrücke in das Geklapper der Bestecke und das Schnaufen der Kauenden hinein. Selbst Stornbrücke musste zugeben, dass das Wildschwein ausgezeichnet schmeckte. Maelree hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Klaedra überließ ihrer Köchin alle Braten, und das aus gutem Grund. Aus sehr gutem Grund sogar. Der Tersept von Stornbrücke lehnte sich zurück, um einen unterdrückten Rülpser in die Freiheit zu entlassen, und wartete auf das, was diese Hochfürsten ihm auf die Frage zu antworten hatten. Der Dreifaltigkeit sei Dank, dass sich so vieles geändert hatte. Wenn er in früheren Zeiten jemals den alten Faerod Silberbaum oder sogar Schwarzgult so hofiert hätte wie heute diese Herrschaften hier, hätte man ihn längst an irgendeinem Baum aufgeknüpft oder ganz einfach erschlagen. Oder er würde in irgendeinem finsteren Verlies verrotten, womöglich noch beschleunigt durch regelmäßige und schmerzhafte Folterungen. Der Tersept verscheuchte solch unerfreuliche Gedanken jetzt, denn eben schickte sich die Fürstin an, die Stimme zu erheben. »Solange es in Darsar Schlangenpriester gibt und diese ihre habgierigen Augen auf das Tal richten, steht durchaus zu erwarten, dass sie einen neuen Blutklinge auf den blutigen Weg schicken, die Insel Treibschaum zu erobern.« Die Edle beugte sich ein wenig zu ihm vor. »Unser aller Aufgabe hier besteht darin, genau dies zu verhindern.«
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Alle Krieger aus dem Gefolge des Tersepten lauschten ihr nun viel aufmerksamer als vorher. Köstliche und reichliche Speisen vermögen durchaus, solchen Sinneswandel bei einem Mann zu bewirken ... Ebenso Beruhigungszauber von der Art, wie Embra ihn über Pheldane gelegt hatte. Niemand konnte den Herren dieses Landes nachsagen, ihre Besucher mit vorzüglicher Hochachtung zu behandeln. Aber heute schienen sie darum zu wetteifern, wer die meiste Höflichkeit aufbrächte. Hawkril setzte ein Lächeln auf, als einer seiner ältesten Freunde jetzt den Saal durch den Bogengang betrat, durch welchen er eben erst verschwunden war. Craer trug eine Karaffe in der Hand und ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. »Bitte um Vergebung, mich so lange fern gehalten zu haben«, entschuldigte er sich bei der Runde, »aber ein edler Tropfen will gefunden werden, vor allem in einem so ausgedehnten Weinkeller.« Mit einer Verbeugung in Richtung des Hausherrn fuhr der Beschaffer dann fort: »Mein Kompliment, Herr. Dass Ihr über einen ausgezeichneten Geschmack verfügt, durfte man von Euch erwarten. Doch ich hätte niemals auch nur geahnt, dass Dir über eine so feine Zunge gebietet.« Der Tersept wusste natürlich nur zu gut, dass sein Weinkeller aus kaum mehr als einem Regal bestand, in welches man ohne viel Federlesens ein paar kleine Fässer gelegt hatte. Wenn es hoch kam, ein Dutzend, und darunter fand man eher einen ausgesucht billigen als einen vornehm teuren Wein. Stornbrücke lächelte verlegen. Dieser kleine Dieb hatte die
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Karaffe höchstwahrscheinlich dem draußen auf dem Gang wartenden Weinkellner abgenommen, aber worauf wollte er jetzt hinaus? »Den müsst ihr unbedingt probieren«, drängte Craer seine Freunde und setzte den gläsernen Krug vor sie auf den Tisch. »Der hat es nämlich in sich, so wie Schlangengift.« Schwarzgult starrte lieber an die Decke, und Embra und Tschamarra verdrehten die Augen. »Wie geschickt von Euch, Craer, wie überaus feinsinnig!«, murmelte die Herrin der Edelsteine. Der Beschaffer zuckte nur die Achseln, als ginge ihn das überhaupt nichts an, nahm wieder seinen Platz ein und schenkte seinem Tischnachbarn ein bezauberndes Lächeln. »Nun, mein Herr«, fragte er dann auch schon leutselig, »was habe ich verpasst? Eine Herausforderung zum Duell? Finstere Drohungen voller Perlen des Wortwitzes? Oder nur ein wenig Mord und Totschlag?« Ryethrel wandte sich sichtlich gegen seinen Willen dem zurückgekehrten Tischnachbarn zu. »Bevor Ihr Euch entschlossen habt, uns erneut mit Eurer Anwesenheit auszuzeichnen, herrschten hier himmlische Ruhe und tiefer Frieden.« Hawkril lachte schnaubend, und Tschamarra meinte kichernd und hinter vorgehaltener Hand: »Da hat er es Euch aber gegeben, Freund Langfinger.« Der Kleine betrachtete sie, so gut ihm das eben möglich war, von oben herab und näselte: »Für Euch immer noch Fürst Langfinger, verstanden?« »Darf ich mir als Verwalter dieser Burg die Frage an Euch erlauben«, wollte Urbrindur wissen, »ob Seine Hoheit Fürst
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Stornbrücke zurzeit einen Kammerknaben zu wenig haben?« Craer grinste breit. »Das kann man so nicht sagen. Der arme Junge leidet an fürchterlichen Kopfschmerzen, welche er durch einen längeren Schlaf auszukurieren gedenkt. Auch ein anderer hat sich zur Ruhe gelegt, und bei diesem handelt es sich, nein, ich sollte wohl eher sagen, handelte es sich um einen Priester der Schlange. Soweit ich es mitbekommen habe, ist dieser Mann erst vor zwei Tagen auf der Burg eingetroffen, und nun ist er schon tot. Wer immer ihm den Dolch herauszieht, sollte gewarnt sein – der Stahl ist mit Gift bestrichen ... Ach ja, ehe ich’s vergesse, zwei Eurer Soldaten bedürfen dringend der weiteren Übung im Waffengang, und ein gewisser Thalas verdient sich anscheinend ein hübsches Zubrot mit der Vermietung bestimmter Räumlichkeiten zu gewissen Zwecken ...« »Ich muss doch sehr bitten!«, entrüstete sich der Burgverwalter wie jemand, der noch nie zuvor mit solch ungeheuerlichen Vorwürfen überschüttet wurde. Münzmeister Eirevaur hingegen, welcher auf der anderen Seite des immer noch etwas unsicher wirkenden Tersepten saß, grinste in sich hinein, nickte schließlich und meinte dann betont streng: »Schon wieder dieser Thalas. Vielen Dank für den Hinweis, mein Hochfürst.« Craer zwinkerte ihm zu und erklärte dann dem Burgverwalter in gespieltem Ernst: »Ich fürchte, der Bitte kann ich nicht entsprechen.« Urbrindur sah ihn für einen Moment mit großen Augen an und meinte dann: »Ihr fürchtet Euch, Hochfürst? Aber
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wovor denn?« Der Beschaffer verdrückte erst ein großes Stück Wildschweinbraten, spülte dann mit reichlich Wein nach und entgegnete schließlich: »Ich fürchte, ich kann der Höflichkeit nicht Genüge tun, und Euch noch weniger die Bitte erfüllen, welche Ihr so dringlich vorgebracht habt ... Doch vertraut der Dreifaltigkeit, denn deren Wege sind wunderbar. Und vielleicht ist es mir irgendwann doch möglich, vielleicht schon sehr bald, Eurem Wunsch zu entsprechen. Doch zuvor müsst Ihr diesen unseligen Hang ablegen, jedermann in Eurer Umgebung zu beurteilen. Nehmt die Leute doch, wie sie sind –« »Im Gegensatz zur Art der Langfinger«, warf Hawkril mit dröhnender Stimme ein, »die nehmen den Leuten, was diese haben.« Craer warf dem alten Freund einen verletzten Blick zu, zwinkerte aber gleichzeitig, um anzuzeigen, wie sehr ihm dieses Spiel gefiel. Gleich fuhr er damit fort, den Burgverwalter zu belehren. »Wenn Ihr nämlich alles nehmt, wie es ist, könnt Ihr das Leben auch viel mehr genießen. Noch etwas Wein gefällig? Zu einer gefüllten Flasche kann man doch einfach nicht Nein sagen.« Er schwenkte schon die Karaffe, aber Urbrindur schüttelte höflich den Kopf. »Um wieder zum Thema zurückzufinden, Fürst Stornbrücke«, erklärte Embra geduldig, »unserer Meinung nach dürfte es von größter Wichtigkeit für Aglirta sein, wenn der Adel größte Mühe darauf verwendet, nicht jenem verderblichen Pfad zu folgen, welcher unweigerlich in die Finsternis führt.
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Wir müssen ihn davon abhalten, dem schlechten Beispiel einiger seiner Mitglieder in der Vergangenheit zu folgen.« Die Fürstin legte eine kleine Kunstpause ein und nutzte diese, um an ihrem Wein zu nippen. »Für niemanden besteht ein Anlass, mehr Truppen als unbedingt nötig zusammenzuziehen, weil er glaubt, anders seine Grenzen nicht schützen zu können.« Embra schüttelte den Kopf. »Und es liegt auch kein Sinn darin«, fügte sie gleich hinzu, »sich wieder mit anderen zu Verschwörungen und Geheimbündnissen zusammenzutun. Denn wie wir heute wissen, nützt solch kleinliches Gezänk am Ende nur den Schlangenpriestern oder einem neuen Blutklinge, sollte ein solcher denn auf den Plan treten.« Schwarzgult nickte. »Wenn jeder Adlige im Tal treu zum Thron steht, den Frieden mit weisen Entscheidungen, einem gut gewetzten Schwert und Gerechtigkeit für alle bewirkt und wenn er auch noch wachsame Augen auf Streife schickt, wird Aglirta bald wieder Größe erfahren, und der nachfolgende Friede wird Wohlstand für alle bringen.« »Euer Eifer heute auf der Straße«, ergänzte die Herrin der Edelsteine, »mochte zwar fehl am Platze gewesen sein, sprach aber eine sehr deutliche Sprache darüber, wie groß Eure Achtung für Euer Volk und ganz Aglirta ist. Vermutlich wird Euch das nun überraschen, Tersept von Stornbrücke, aber wir sind sehr zufrieden mit Euch.« Der so Gelobte richtete sich kerzengerade auf seinem Platz auf und strahlte. Craer prostete ihm zu, sprang dann auf und lief um den Tisch herum. Mehrere Kammerknaben traten vor, um ihm
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den Weg abzuschneiden, getrauten sich das dann aber doch nicht so recht. Schon hatte der Beschaffer den Tersepten erreicht und füllte ihm beides reichlich – das Glas mit Wein und die Ohren mit Worten. »So ist es recht! Feiert und genießt diesen überaus edlen Tropfen. Ihr müsst uns unbedingt mehr über das Leben hier in Stornbrücke berichten. Wie gut lässt es sich hier angeln? Und wie hoch steht das Getreide schon? Welche Händler ziehen zu Euren Märkten, und nach welchen Waren sind Eure Bürger ganz verrückt? Hören wir doch damit auf, uns gegenseitig anzuknurren, lehnen wir uns entspannt zurück, und reden wir miteinander, was?« »Ich wüsste nicht, wo ich da beginnen sollte«, entgegnete Stornbrücke verdattert. Aber dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Er hob sein Glas und sprach: »Mit dem Trank kenne ich mich jedoch aus.« »Recht so! So wollen wir es halten!«, rief der Beschaffer und füllte auch den Kelch des Burgverwalters. »Ihr setzt wohl auf die Kraft des Weines, den Menschen die Zunge zu lösen«, bemerkte Urbrindur mit leicht gereiztem Unterton, beruhigte sich dann jedoch wieder. »Aber warum eigentlich nicht?« Er hob seinen Kelch und prostete dem Beschaffer zu. »Schließlich haben wir nicht jeden Abend Hochfürsten zu Gast!« »Soll das doch der Geschuppte holen!«, murrte die Unterköchin Maelree. Sie stand am Fenster und schaute nach unten. »Ryethrel hat es richtig erkannt«, murmelte sie dann. »Ge-
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nau das beabsichtigt der kleine Tunichtgut ja: den Tersepten betrunken zu machen und ihn dann reden zu lassen. Wir müssen dringend etwas unternehmen!« Die Verwalterin der Speisekammer lächelte weise. »Das ist längst alles in die Wege geleitet. Josmer hat meinen Wink verstanden.« Die Köchin sah sie mit großen Augen an: »Soll das etwa heißen ...?« »Das soll heißen«, antwortete die andere, »dass unser geliebter Tersept nichts auf der Welt so sehr liebt wie Zuckertörtchen mit Rubinwein-Soße. Er selbst und sein Besuch werden in Kürze eine Portion davon vorgesetzt bekommen ... Aber nur der Kuchen des Tersepten wird Josmers kleinen Zusatz enthalten. Dann gebe ich Stornbrücke noch sechs Gähner, ehe er mit dem Gesicht in der Rubinwein-Soße liegt.« »Und warum nur er und die anderen nicht?« »Weil die Hexe sich auf Magie versteht und alle Speisen prüft, welche ihr und den anderen Hochfürsten unterkommen.« »Meine teure Klaedra, das habt Ihr wunderbar in die Wege geleitet!« Die Herrin der Speisekammer lächelte breit. »Ich weiß. Das hat der Schlangenpriester auch gesagt.« Klaedra öffnete ihr Mieder, und die Unterköchin vergaß, den Mund zu schließen. Die Verwalterin trug stets ein schwarzes Samtband um den Hals, und von dem baumelten etliche feine Schnüre. An diesen wiederum hingen Schlüssel, welche bis unter das Mieder
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reichten. Ein solcher Anblick konnte die Unterköchin nicht erstaunen, wohl aber der einer weiteren Schnur voller durchstoßener carraglanischer Goldmünzen, welche zwischen ihren braunen Brüsten ruhte. Das Ende dieser Schnur verschwand unter dem Stoff. Maelree konnte es nicht fassen. Niemals hatte sie an der Frau ein Klirren oder Klimpern vernommen. Auch war ihr nie die Verformung unter dem Mieder aufgefallen, wenn die vielen Goldmünzen gegen den Stoff drückten. Bei Ersterem konnte das nur eines bedeuten: Der Schlangenpriester musste die Vorsteherin der Speisekammer so fürstlich belohnt haben, dass die Schnur sehr weit nach unten führte und vermutlich zwischen den Beinen hindurch den Rücken wieder hinauf ... und dass die Goldmünzen eng genug aufeinander hingen, um keine Geräusche zu verursachen. Des Weiteren blieb nur der Schluss offen, dass Klaedra erst kürzlich diese gewaltige Summe erhalten haben konnte. Die Unterköchin zitterte am ganzen Körper, als ihr die Frage einfiel, ob der Schlangenpriester Klaedra noch lange genug am Leben lassen würde, dass diese ihren neu erworbenen Reichtum noch genießen konnte ...
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Sieben
Reisszähne in der Nacht C Embra warf ihrem Vater quer über den Tisch einen ängstlichen Blick zu, gab aber keinen Ton von sich. Sie hatte den ganzen Abend darauf geachtet, sich nichts von ihren Zauberkünsten anmerken zu lassen. Die Herrin der Edelsteine hielt sogar ihren Dwaer unter dem Tisch verborgen ... Im Moment quälte Embra sich mit einem weiteren Suchzauber ab, denn irgendetwas schien mit ihr nicht in Ordnung zu sein. In ihren Eingeweiden ballte sich etwas zusammen, um sich dann wieder zu winden ... um in ihr aufzusteigen. Inzwischen hatte es die Brust erreicht und hinterließ eine Spur von Zwicken und Zwacken ... Fast so, als würde etwas mit scharfen Krallen im Innern der Edlen herumkriechen. Schwarzgult nickte ihr unmerklich zu, und die Herrin der Edelsteine atmete tief durch. Ja, mit ihr stimmte etwas ganz und gar nicht. Sie schüttelte den Kopf, damit ihr die Haare nicht mehr in die Augen fielen. Luft. Embra brauchte dringend frische Luft. Erst jetzt bemerkte die Edle, dass ihr immer wärmer wurde. Und damit einherging ein Gefühl der Betäubung. Scheinbar nur nach ihrem Kelch greifend, warf Embra einen vor-
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sichtigen Seitenblick auf Tschamarra. Für einen winzigen Moment tauschten die beiden Magierinnen einen Blick aus. Danach wussten die Frauen, dass sie beide das gleiche unangenehme Gefühl hatten. Wahrscheinlich blieb ihnen jetzt kaum noch Zeit, es sei denn, Embra würde ... »Als ihr vor unserem Tor aufgetaucht seid, hat uns das ziemlich überrascht«, bemerkte der Burgverwalter leichthin und in der Art, wie altgediente Höflinge höfliche Nichtigkeiten austauschen, um einander die notwendige Achtung zu erweisen. »Man hat uns nämlich berichtet«, fuhr Urbrindur nach einer kleinen Pause fort, »dass ihr erst vor zwei Tagen in Gilth gesehen worden seid und auf der Straße nach Sirlptar weiter wolltet. Ihr setzt doch nicht etwa Magie ein, um kreuz und quer durch das Tal zu reisen, wie es euch gerade gefällt? Womöglich tragt ihr gar Siebenmeilenstiefel, ha-ha-ha!« »Entweder benutzt jemand anderer Zauberkräfte«, erwiderte die Edle gar nicht so höflich achtungsvoll, »oder aber, Euer Gewährsmann besitzt eine blühende Einbildungskraft. Wir sind das ganze Jahr hindurch noch nicht in Gilth gewesen.« »Jetzt brat mir aber einer einen Storch!«, entfuhr es dem Burgverwalter, doch gleich darauf lächelte er wieder. »Keine Bange, eure Geheimnisse sind bei uns gut aufgehoben. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass ein Herold von Treibschaum ein Treffen mit allen Hochfürsten Aglirtas, und sei es auch noch so flüchtig gewesen, einfach erfinden sollte. Genauso wenig mag ich daran glauben, dass er euch mit jemand anderem verwechselt haben sollte.« »Um welchen Herold hat es sich denn dabei gehandelt?«,
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fragte Schwarzgult geduldig. »Um Dornentrompete. Er steigt häufiger in Burg Stornbrücke ab. Eigentlich so oft, dass wir schon argwöhnen, er müsse aus irgendeinem noch unbekannten Grund sein besonderes Augenmerk auf uns richten. Und alles, was er hier zu sehen bekommt, gibt er dann gleich an den König weiter ... Doch wer um unsere unerschütterliche Treue weiß ...« »Die steht außer Frage«, bestätigte Embra mit allem gebotenen Ernst. »Auf Treibschaum wird Tersept Stornbrücke als einer der Zuverlässigsten im Lande angesehen.« Der so Gelobte warf der Edlen einen ebenso überraschten wie erfreuten Blick zu, und seine Mundwinkel zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander. »Ich kann nicht umhin zu gestehen, Euer Gnaden«, erklärte der Burgherr dann vornehm, »dass es mich zutiefst erfreut, Euch so freundlich von meiner Treue zum König sprechen zu hören. Deswegen will ich Euch auch hier und jetzt versichern, dass Stornbrücke bereitsteht, jederzeit für ... füüüü...« Fassungslos verfolgte Embra, wie der Tersept nach vorn sank. Vorbei ruckte der Kopf am Kelch, und das Gesicht landete mitten im gebratenen Wildschwein, wobei einiges an Soße nach links und nach rechts verspritzt wurde. »Verzeihung, Herr«, begann Embra leicht ungehalten, als sei es für sie etwas Alltägliches, wenn ein Kleinfürst aus Aglirta in sein Essen fiel und dort gleich anfing, vor sich hin zu schnarchen. Doch zur Beruhigung der Zauberin erschraken die anderen am Tisch noch viel mehr. Sogar der Münzmeister, welcher sich bislang kaum am Gespräch beteiligt hatte, und auch der für ihren Geschmack etwas zu gelackte Burgverwalter
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Urbrindur. Für einen Moment befürchtete Embra, der Burgherr sei tot – und vielleicht würde er ja noch in seinem Essen ersticken. Doch wenig später bewies Stornbrücke allen an der Tafel hinreichend, dass er noch unter den Lebenden weilte ... indem er nämlich leise, aber regelmäßig vor sich hin schnarchte. Der Tersept schnarchte ungerührt weiter und schien gar nicht mehr damit aufhören zu wollen. »Jetzt hört er sich schon beinahe selbst an wie ein Keiler«, bemerkte Craer belustigt und erhob seinen Kelch auf das Wohl des Gastgebers. Hawkril und Ryethrel lächelten gerade so lange, wie die Höflichkeit es verlangte. Aber der Burgverwalter schien solche Worte überhaupt nicht lustig zu finden, und die anderen Untergebenen des Tersepten ärgerten sich sichtlich. Urbrindur winkte die Kammerknaben heran, welche schweigend, aber gehorsam an den Tisch traten. Schwarzgult und der Hüne legten gleich die Hand an den Schwertgriff. Embra legte die freie Hand offen hin, und in deren Mitte entflammte gleich ein Feuer. Kalte Flammen, welche nichts verzehrten, aber gleichwohl von großer Macht kündeten. Der Burgverwalter schüttelte verdrossen den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein, meine verehrten Hochfürsten. Wir wollen euch nichts zu Leide tun, bitten euch aber dringend, euch jetzt in eure Gemächer zurückzuziehen. Auch für uns ist der Abend zu Ende. Unser gnädiger Herr, der Tersept Stornbrücke, hat einen heimtückischen Anfall erlitten, und da geziemt es sich nicht,
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mit dem Schmausen und dem Schwatzen fortzufahren.« Er nickte Ryethrel und dem Münzmeister zu, und die beiden erhoben sich, wünschten allerseits eine gute Nacht und zogen sich zurück. Als Eirevaur durch den Bogengang trat, sprach er die Männer an, welche dahinter Wache hielten. Kurz darauf erschienen vier Diener und hoben den Recken Pheldane mitsamt seinem Stuhl hoch, um ihn dergestalt aus dem Saal zu schaffen. An den zuckenden Arm- und Beinbewegungen des Ersten Ritters ließ sich erkennen, dass dieser noch nicht so recht begriffen hatte, wie ihm geschah. »Dann bis morgen«, erklärte der Burgverwalter, und das klang wie ein Befehl. Die Gäste erhoben sich und stellten fest, dass jedem von ihnen ein Kammerknabe zugeteilt worden war. Diese Bediensteten schauten nach dem Rechten, aber niemals den Vieren oder Tschamarra ins Gesicht. »Dann bis morgen«, verabschiedete sich Schwarzgult. Ihm war äußerlich nichts von der Übelkeit anzumerken, welche bereits die Gesichter seiner Tochter und der Edlen Talasorn grün verfärbt hatte. Craer und Hawkril hatten ebenfalls undurchdringliche Mienen aufgesetzt. Nur ihre ungewohnte Schweigsamkeit verriet, dass in ihrem Innern ebenfalls etwas Unliebsames vorgehen musste. Als die Hochfürsten sich mitsamt ihren schweigenden Dienern entfernten, fragte der Goldene Greif den Burgverwalter: »Ich darf doch wohl annehmen, dass unsere Zimmer nebeneinander liegen?«
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»Oh, ich fürchte, dem ist nicht ganz so«, antwortete Urbrindur, und in sein offenkundiges Bedauern mischte sich eine Spur von Triumph. »Die Einrichtung von Burg Stornbrücke lässt eine solche Annehmlichkeit leider nicht zu.« »Seltsam, irgendwie habe ich mir so etwas schon gedacht«, murmelte Craer laut genug, dass alle in seiner Nähe ihn verstehen konnten. Dabei fiel ihm ein Grinsen auf, welches über das Gesicht seines Kammerknaben huschte. »Wir sind schon mit ganz anderen Unannehmlichkeiten fertig geworden«, entgegnete Schwarzgult in versöhnlichem Tonfall – ganz so, wie die Höflichkeit es von ihm erwartete. Danach sprach niemand mehr, und man führte die Besucher eine Wendeltreppe mit ausgetretenen steinernen Stufen hinauf. Im Treppenhaus hallte alles doppelt so laut wider, vermutlich deshalb, weil es vom Keller über sechs oder sieben Stockwerke bis hinauf zu den Zinnen reichte. Nachdem man auf der Steinstiege zwei Stockwerke hinter sich gebracht hatte, führte man die Hochfürsten durch einen langen und nur matt beleuchteten Gang. Unzählige kunstvoll geschnitzte Türen fanden sich an den Wänden. Einige davon zierten Paare brennender Lampen, welche an Ringen von der Decke hingen. Und an diesen Stellen stand dann auch ein Soldat Wache. »Prägt Euch mein Gesicht ein, denn ich bin Euer Ziel«, bemerkte der Beschaffer zu seinem Freund. Der lächelte kaum wahrnehmbar darüber. Jedenfalls weniger als die Kammerknaben, welche sich gleich neugierig zu ihnen beugten, um zu verstehen, was die beiden Hochfürsten sich zu sagen hatten.
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Man brachte Embra gleich in den Raum hinter der ersten bewachten Tür, und der Edlen blieb kaum Zeit, Hawkril einen erschrockenen Blick zuzuwerfen. Tschamarra verschwand hinter der etwa sechzig Schritte weiter befindlichen nächsten beleuchteten Tür. Die Diener schienen es eilig zu haben, denn sie liefen nun mehr als dass sie gingen. Nachdem die Frauen solcherart untergebracht waren, brachten die Kammerknaben die drei männlichen Gäste über eine weitere Treppe zu einem anderen Stockwerk. Schwarzgults Gemach befand sich am Ende des sich dort öffnenden Ganges. »Wünsche wohl zu ruhen, meine Herren«, sagte er Hawkril und Craer zum Abschied. Der Beschaffer und der Recke sahen sich nur kurz an. Dann beschleunigte der Hüne seine Schritte, so dass sein Kammerknabe kaum noch mitkam. Der Beschaffer hingegen wurde so langsam, dass sein Diener an sich halten musste, um nicht ungehalten zu werden. Der Abstand zwischen den beiden Gruppen vergrößerte sich zusehends. »Diese Tür hier gehört zu Eurem Gemach, Euer Hochwohlgeboren«, teilte der Diener Craer schließlich mit unverhohlener Erleichterung mit. Den Beschaffer konnte es kaum überraschen, dass auch hier Lichter im Flur brannten und ein Wächter auf Posten stand. Der Kammerknabe öffnete die Tür weit. Drinnen verbreitete eine Öllampe einen warmen Schein. Sie stand auf einem Tisch mit Steinplatte, und an dem befand sich ein Stuhl. Die Kunsttischlerarbeit an der Lehne zeigte einen efeuumrankten
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Bogengang. An der rechten Wand befand sich ein Himmelbett mit gleichem Muster und dazu passend an der linken ein Kleiderschrank. Spanische Wände in den Ecken wehrten die Blicke auf einen Spiegel und einen »Donnerstuhl«, wie man diese Einrichtung hier nannte, ab. Auf einem großen Tisch neben dem Kleiderschrank entdeckte der Beschaffer einen Krug mit einer Schüssel und einem Leinentuch und einen weiteren Krug nebst zwei Bechern. Der Tisch mit der Steinplatte hingegen trug Craers abgewetzte Satteltaschen. Diese hatte man geleert und den Inhalt ordentlich davor aufgereiht. Auf den ersten Blick schien nichts zu fehlen. Nach diesem recht zufrieden stellenden ersten Eindruck musste der Beschaffer jedoch feststellen, dass seine Kammer weder über Verbindungstüren noch Fenster verfügte. Die Wände waren durchgehend mit Holz vertäfelt, welches bis unter die hohe Decke reichte. Der Beschaffer musste lächeln, als er das Holz ein wenig näher in Augenschein nahm. Auch hier erlesene Schnitzarbeiten, welche ganze Bilder oder Jagdszenen zeigten. Darin ließen sich unzählige Gucklöcher anbringen. Craer war sich ziemlich sicher, dass er bereits seit dem Betreten dieses Gemachs unter Beobachtung stand. Gewiss waren hier auch vertrackte Fallen angebracht, um alle neugierigen Gäste davon abzuhalten, die Wandvertäfelung genauer zu betrachten. Ein Zimmer also, das eigens dafür ausgestattet zu sein schien, einem Beschaffer die Zeit zu vertreiben.
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»Habt Ihr noch einen Wunsch, Euer Hoheit?«, fragte der Diener und vermied es dabei wie auch schon vorher, Craer anzusehen. Stattdessen starrte der Mann an die Decke. Der Beschaffer folgte seinem Blick und hielt nach dort oben verborgenen Falltüren, Zugängen und Gucklöchern Ausschau, ohne jedoch welche entdecken zu können. Der Hochfürst setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf und antwortete: »Aber gewiss doch. Verratet mir bitte, wo alle Eingänge, Türen und Löcher dort oben verborgen sind. Und welche weiteren Einrichtungen sich in den Wänden befinden.« »Ich ... ich ... ich ...«, japste der Kammerknabe wie ein Fisch an Land, als habe der hohe Gast eine unziemliche Bemerkung über seine Mutter und deren mögliches Techtelmechtel mit dem Tersepten von sich gegeben. Er schüttelte sich schließlich am ganzen Leib. Craer aber lächelte weiter freundlich und gab durch seine Miene zu verstehen, dass er immer noch gern eine Antwort hätte. Der Kammerknabe gewann schließlich seine Fassung wieder, bedachte den Beschaffer mit einem finsteren Blick und stampfte aus dem Raum, ohne dem Herrn die gewünschte Auskunft gegeben zu haben. »Ja, Euch auch eine angenehme Nacht«, rief Craer ihm hinterher. Dann machte er sich seufzend selbst auf die Suche nach den Einrichtungen, nach welchen er sich eben erkundigt hatte. »Mich erwartet wohl eine fürchterliche Nacht«, murmelte er dabei vor sich hin. »Wenn doch endlich das Brennen in
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meinen Eingeweiden aufhören würde. Embras Zauberkräfte reichen wohl nicht aus, um alle Gefahren von uns abzuwenden... Allem Anschein nach hat man uns etwas ins Essen getan.« Der zierliche Mann schüttelte erst den Kopf und dann die Faust. »Wenn ich spuckend und Blähungen von mir gebend auf dem Donnerstuhl zu Grunde gehe, werde ich meinen Mörder so lange als Gespenst heimsuchen, bis er einem noch viel schlimmeren Schicksal erliegt. Das schwöre ich, habt ihr mich verstanden?« Er legte den Kopf schief und lauschte. Aber er vernahm nichts, und auch die Dreifaltigkeit hüllte sich wie gewöhnlich in Schweigen. So stand Craer also ganz allein in seinem Zimmer, das sich mitten im Lager seiner Feinde befand. Die brannten gewiss schon darauf, ihn und die anderen Hochfürsten zu meucheln ... Vermutlich schlichen auch schon falsche Hochfürsten durch die Lande, um Unfug und Schaden anzurichten. Und damit würden diese Schurken ungestört fortfahren können, sobald die echten Hochfürsten hier auf der Burg Stornbrücke beseitigt worden wären ... Die Gesichtslosen konnten hier und da Gestalt und Aussehen eines Menschen annehmen, aber nicht von fünf Personen, welche zusammen offen übers Land ritten ... Bei den falschen Hochfürsten handelte es sich natürlich um verkleidete Schlangenanhänger ... Und so erwartete die Gefährten auch in Zukunft der Auftrag, welchen sie immer schon zu bewältigen gehabt hatten, trotz wiederholter Thronwirren und allem anderen: Bleibt am
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Leben und schlagt die Schlangenpriester, wo ihr sie trefft. Seufzend machte der Beschaffer sich daran, seine Sachen zu überprüfen. Natürlich waren dazwischen keine unangenehmen Überraschungen versteckt, aber so hatte er wenigstens etwas zu tun, bis tiefste Nacht herrschte und man hier auf der Burg daranging, sich mit Meuchelmord die Zeit zu vertreiben ... »Mir kommt es so vor, als würde ich schon ewig hinter Büschen und Bäumen herumkrachen«, beschwerte sich Reißzahnbruder Khavan leise. Schuppenmeister Arthroon bedachte ihn dafür mit genau dem eisigen und erbarmungslosen Blick, welchen er zur Antwort erwartete. »Wenn die Große Schlange erscheint«, musste er sich dann auch noch vom Schuppenmeister belehren lassen, »werden diejenigen, welchen die Einsicht in die Notwendigkeit gefehlt hat, als verzichtbar angesehen. Das solltet Ihr Euch hinter die kaum noch vorhandenen Ohren schreiben, Reißzahnbruder.« Khavan nickte ergeben und streckte seine lahmen und kribbelnden Beine. Zuerst das eine, langsam und gewunden, als wolle er sich über einen Tänzer lustig machen, und dann das Gleiche noch einmal mit dem anderen. Die Krämpfe ließen ein wenig nach. Sie krochen gerade durch das Halbdunkel eines Dornenrankendickichts hinter Bowshun und näherten sich dem Rand einer Lichtung. Auf dieser pflegten für gewöhnlich Aranglar der Weber und sein Weib Thaelae Feuerholz zu hacken und aufzusta-
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peln. Hier schütteten sie ihren Abfall aus, und hier genossen sie auch die lauen Sommernächte. Das glückliche Paar hielt sich auch jetzt auf der Lichtung auf, tat aber nichts von dem, was man ihm nachsagte. Stattdessen trachteten die beiden sich gegenseitig nach dem Leben. Grunzen und Schreien, Schnaufen und Triumphgeheul. Körper krachten durch das Unterholz, über totes Laub und zwischen den sauber aufgeschichteten Stapeln. Tretend, schlagend und einander würgend rollten Thaelae und Aranglar miteinander über den Boden. Sie rissen einander an den Haaren, nahmen sich gegenseitig in den Schwitzkasten und peinigten den jeweils anderen mit ausgesuchten Gemeinheiten ... Wenn nichts anderes half, schlugen sie wie Ziegenböcke mit der Stirn zu, oder sie versuchten, den Gegner mit dem Kopf an einen Baum zu schlagen. Doch sosehr sie sich auch ans Leben wollten, sie dachten überhaupt nicht an Aranglars Axt, welche noch im Hauklotz steckte. Keuchend und ächzend benutzten sie nur Hände und Finger als Waffen und bespuckten sich höchstens. Reißzahnbruder Khavan zuckte unter diesem abstoßenden Anblick zusammen, ließ sich aber nicht allzu viel davon anmerken, weil er genau wusste, dass Arthroon ihn beobachtete. Der Weber und sein Weib bluteten aus unzähligen Wunden, und eben drückte Thaelae Aranglar durch einen geschickten Griff ein Auge aus der Höhle ... Khavan biss die Zähne zusammen, schmeckte Galle im Mund und wagte einen vorsichtigen Blick auf seinen Vorge-
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setzten. Der Schuppenmeister lächelte und schien Khavans Unbehagen offensichtlich zu genießen. »Gehen wir, Bruder Zimperliese«, sprach er überfreundlich, »wir haben genug von den Auswirkungen der Pest gesehen. Ich möchte Euch jemand anderen zeigen. Verhaltet Euch ruhig und schweigt, wenn Ihr nicht auch ein Auge verlieren wollt.« Die beiden Priester umschlichen die sich wie rasend gebärdenden Kämpfer und erreichten schließlich Aranglars Hof. »Warum so eilig?«, fragte der Reißzahnbruder schnaufend. Zur Antwort warf sich Arthroon hinter die mit Moos bedeckten Felsen, packte seinen Untergebenen am Bein und zog ihn mit brutaler Kraft zu sich auf die Erde. »Drei Menschen leben in dieser Hütte«, erklärte der Vorsteher, »aber nur zwei sind dahinten mit ihrem ganz besonderen Balztanz beschäftigt.« Er scherte sich keinen Deut um Khavans Schmerzen und Verwirrung, sondern fuhr gleich fort: »Damit erhalten wir die Gelegenheit, eine andere Auswirkung der Pest zu sehen. Schließlich hat der Dritte niemanden, mit dem er sich bis zur Bewusstlosigkeit prügeln kann ... Und es müsste genau jetzt so weit sein ...« Tatsächlich flog jetzt die Hintertür krachend auf, und ein alter Mann humpelte heraus. Er krümmte sich vor Schmerzen. Der Greis würgte, hielt sich den Bauch und dann die Brust und erbrach eine umfangreiche Mahlzeit auf den Boden. Dazu wimmerte er wie eine Schwangere in den Wehen. Als der Alte alles von sich gegeben hatte, trottete er den Pfad hinunter, welcher zum Bach und in den Wald hinein
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führte. »Wer ist denn das?«, flüsterte der Reißzahnbruder, um seinem Vorgesetzten anzuzeigen, dass er alles aufmerksam verfolgt hatte und sich nicht wieder angewidert abwenden musste. »Thaelaes gealterter Vater«, antwortete Arthroon und erhob sich schon wie ein Jäger, der sich auf die Fährte der Beute setzt und von dieser nicht gesehen werden will. Der Priester setzte sich gleich in Bewegung, als wisse er, dass der Moment des tödlichen Stiches nicht mehr allzu fern war. Kurz drehte er sich zu seinem Untergebenen um: »Folgt mir, aber seid leise. Wenn meine Vermutungen zutreffen, dürfte es nicht ratsam sein, von dem Greis bemerkt zu werden.« Wie huschende Gespenster eilten die beiden dem Alten von Baum zu Baum hinterher. Sie hielten sich im Schatten, um nicht von dem Vater entdeckt zu werden. Der Greis stolperte am Ende seiner Kräfte voran, schien jeden Moment zusammenbrechen zu wollen und hielt sich doch mit unglaublicher Kraft aufrecht. Sein Stöhnen erklang von Mal zu Mal tiefer und rauer, bis man glauben konnte, der Alte litte an schwerem Husten. Khavan sah seinen Vorgesetzten fragend an, doch der lächelte nur und setzte die heimliche Verfolgung fort. Der Reißzahnbruder gab sich Mühe, seinen Seufzer leise zu halten. Kopfschüttelnd gab er sich Mühe, mit Arthroon Schritt zu halten und gleichzeitig keinen Lärm zu machen. Unvermittelt hob der Schuppenmeister eine Hand und zeigte seinem Untergebenen damit an, innezuhalten. Der Alte stolperte immer noch über den Pfad und grunzte
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mittlerweile wie ein Wildschwein. Doch jetzt fing er an, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Khavan starrte wie gebannt hin und entdeckte, dass dichtes rotbraunes Haar Hände und Nacken des Greises bedeckte – nicht mehr das schüttere Grauweiß von vorhin ... Und dieser Wildwuchs schien an jeder Stelle seines Körpers zu wuchern. Dieses Urteil fiel dem Beobachter nicht schwer, konnte der Alte doch nicht davon lassen, seine Kleider in Fetzen zu reißen und sich von diesen zu befreien. Dabei kamen ihm seine Finger zu Hilfe, denn diese streckten sich zu lang gezogenen Klauen ... Und der alte, gebrechliche und gebeugte Körper dehnte sich, gewann breite Schultern und sprengte die letzten Fesseln, welche die Kleidung ihm angelegt hatte. Khavan fuhr entsetzt zurück, aber der Schuppenmeister sah ihn so finster an, dass der Reißzahnbruder erstarrte. Bibbernd blieb der rangniedrigere Schlangenpriester stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle ... Selbst dann nicht, als der Greis – oder besser das Ungeheuer, in welches er sich verwandelt hatte – in seiner Raserei nachließ, schnüffelte, als wolle er eine Witterung aufnehmen, und sich mit Gebrüll den beiden Beobachtern zuwandte. Von dem wettergegerbten alten Gesicht des Greises war nichts mehr übrig geblieben. An Stelle seiner Züge waren lange Reißzähne und eine noch längere Schnauze getreten. Der zottelige Körper ähnelte dem eines Bären mit ausgeprägtem Schweif. Wenn das Untier nicht noch einige Fetzen Stoff am Leib getragen hätte, hätte man nicht mehr glauben mögen, dass sich das alles aus einem vertrockneten Alten entwickelt hatte.
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Langsam schritt das Wesen jetzt auf die beiden zu. Seine Bewegungen wirkten bedrohlich, aber auch irgendwie unbeholfen. »Es muss sich noch für den Angriff sammeln«, erklärte der Schuppenmeister so begeistert wie ein Naturforscher beim Anblick eines seltenen Schmetterlings. Der Reißzahnbruder hingegen konnte nur schlucken. Er vermochte nicht, den Blick von dem Untier zu wenden, und gewann den Eindruck, dass es sich viel zu rasch mit seinem neuen Leben zurechtfand. Rasch wirkte Khavan einen Zauber und ging dabei so hastig vor, dass er beinahe gestolpert wäre. In seinen Fingern prickelte es, seine Hände wurden taub, und dann flimmerte rings um die beiden Priester die Luft. Für das Bärenwesen schien dies das Zeichen zum Angriff darzustellen. Furchtbar heulend und schnaubend stürmte es auf die vermeintlich leichte Beute zu. Der Reißzahnbruder wich unwillkürlich einen weiteren Schritt zurück, und sein Mund trocknete aus. Was ging hier vor? Wirkte sein Zauber etwa nicht ...? Doch schon im nächsten Moment verwandelte sich das Flimmern in etwas Dunkles und Festes ... in einen Schild aus zischenden und um sich beißenden Schlangen. Die Tiere wanden sich umeinander und schienen sich auf der Luft zu bewegen. Rasch bildeten die Kriechtiere einen Wall um die beiden Priester, und ihre Mäuler reckten sich bedrohlich dem immer noch anstürmenden Untier entgegen. Khavan wich einen weiteren Schritt zurück und beruhigte sich so weit, dass er sich wieder an den Bann erinnerte, mit welchem sich der Giftspeer erschaffen ließ ... nur für den Fall,
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dass der Bär einfach über die Schlangen hinwegstampfte. Der Reißzahnbruder ertappte sich dabei, wie er unentwegt auf die ehemaligen Finger des Alten starrte, welche sich in lange Krallen verwandelt hatten. Arthroon nickte nur gleichmütig, als das Ungeheuer sich vor ihm auf die Hinterbeine stellte, hoch über ihm aufragte und mit den Tatzen in die leere Luft schlug. Die Schlangen zischten wie ein Chor, und der Bär schien sich vor ihnen zu erschrecken. Er wankte vor und zurück und wagte es offenbar nicht, ihnen mit seinen Tatzen zu nahe zu kommen. Die Kriechtiere ihrerseits entwickelten eigene Angriffslust, und ihre Mäuler schnellten immer wieder zu dem Bären vor, welcher sich in so greifbarer Nähe befand ... und dennoch gerade außerhalb ihrer Reichweite. Das Ungeheuer brüllte die Schlangen an, konnte sie damit jedoch nicht vertreiben, und kehrte ihnen den Rücken zu. Mit einem unwilligen Knurren trottete der Bär den Pfad in den Wald hinunter. Der Schuppenmeister lächelte breit, als das Krachen des schweren Tiers zwischen den Bäumen immer leiser wurde. Khavan beeilte sich, wieder neben den anderen zu treten. Denn er fürchtete den Schuppenmeister mehr als das Ungeheuer, welches seinen Angriff auf sie abgebrochen hatte. Der Reißzahnbruder hatte gerade die Stelle erreicht, an welcher er den Schlangenwall errichtet hatte, als die erlahmenden Geräusche aus dem Laub, dem Unterholz und dem Geäst urplötzlich wieder lauter wurden und zum Kampfgebrüll zweier großer Ungeheuer anschwollen. Nun krachte es erst recht im Gehölz. Dazwischen misch-
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ten sich der Aufprall schwerer Körper, das Rumsen, wenn einer von ihnen zu Boden ging, oder die schrillen Schreie eines verwundeten Untieres. Dann schien der Kampf beendet zu sein, und die Priester hörten wieder, wie etwas Schweres tiefer im Wald verschwand. Der Schuppenmeister wandte sich an seinen Untergebenen: »Ausgezeichnet. Wir haben tatsächlich die uralte Blutpest wiedererschaffen. Einige Ausfälle sind zu beklagen, weil der eine oder andere dem Irrsinn anheim fällt, aber die Mehrzahl hat sich in Ungeheuer verwandelt und greift alles an, was ihnen über den Weg läuft.« Er tippte dem Untergebenen mit einem Finger auf die Stirn wie ein Lehrer, welcher einem verstockten Schüler Weisheit einflößen will. »Bald gehört uns ganz Aglirta.« »Uns?« »Natürlich, und wir werden das Land auch nie wieder verlieren«, versicherte ihm sein Vorgesetzter. »Denn binnen kurzem wird jeder im Reich, welcher etwas trinkt, entweder unter unserem Schutz stehen oder elendiglich zu Grunde gehen.« »Und was wird aus den Hochfürsten?«, wagte der Reißzahnbruder zu fragen. »Das bleibt abzuwarten. Sie weilen zurzeit auf Einladung des dortigen Tersepten auf Burg Stornbrücke. Einige, welche uns treu ergeben sind, befinden sich ebenfalls dort ... deswegen warten wir es einfach ab, nicht wahr?« Der Fürst der Schlange Hanenhather schüttelte den Kopf. »Sehr wenig begeisternd, Arthroon, sehr unerquicklich! Ihr lasst ein Pestuntier einfach so herumlaufen und morden, wäh-
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rend Ihr lieber ein Schwätzchen haltet! Wie soll sich denn eine solche Bestie in Eurer Hand zu einer Waffe entwickeln? Und was sollte sie unserer Bewegung nutzen?« Der Bär lag ein Stück weiter entfernt in seinem Blut. Das Pestungeheuer, welches Bruder Landrun erschaffen hatte, hatte das pelzige Untier zerrissen. Der Sieger ragte jetzt neben dem Schlangenfürsten auf: Ein weiterer unglücklicher Dörfler, welchen die neue Seuche in eine Bestie verwandelt hatte ... in diesem Fall in einen wandelnden Berg: Mit gewaltigem grauem Schädel, riesigen Klauen, einer Haut hart wie Stein und dem Gewicht eines ganzen Ochsengespanns. Der Schlangenfürst schüttelte ein weiteres Mal unzufrieden das Haupt. Arthroon ahnte nichts von ihrer Anwesenheit, und der Schuppenmeister kümmerte sich offenbar nicht im Geringsten um das Schicksal des toten Bärenmannes. Vielleicht hätte sich das Wesen ja irgendwann für die Schlangenanhänger als nützlich erweisen können. Arthroon hingegen erfasste überhaupt nicht das ganze Ausmaß der wiedererweckten alten Pest. Und solch ein eitler Fatzke schmückte sich mit einem Titel wie »Schuppenmeister«! Was war nur aus ihrer Bewegung geworden? »Schweigt Ihr nur, Landrun«, fuhr er seinen Untergebenen an, »macht mir jetzt ja keinen Fehler, sonst werdet Ihr anstelle des Ungeheuers dort verwandelt.« Bruder Landrun erstarrte und drehte sich ängstlich zu seinem Vorgesetzten um. Fürst Hanenhather lächelte freundlich,
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aber seine Finger woben schon einen Zauber. Nur in seinen Augen wohnte die übliche Kälte. Landrun überlief es einige Male eiskalt, als der wandelnde Berg sich drehte, zusammenschmolz und sich zurück in einen Menschen verwandelte. Taumelnd rannte dieser davon und verschwand im Wald. Der Fürst schickte ihm ein Lächeln hinterher. »Geht nur, Tersept von Eisenstein, und führt die Befehle aus, welche ich Euch gegeben habe ...« Er sprach leise, als teile er nur sich selbst etwas mit. »Bald bricht Krieg in Aglirta aus, diesem Reich der blutrünstigen Hitzköpfe ...« »Und was wird aus dem echten Tersepten von Eisenstein, mein Fürst?«, fragte Bruder Landrun und schluckte. »Ach, der Ärmste ist leider ganz unerwartet verschieden. Ihr erinnert Euch doch gewiss an das, was unser lieber Hausgenosse Schreckensklaue gestern Nacht im Straßengraben verschlungen hat, nicht wahr?« »Eine Schleichschlange, so groß wie ein Wagen«, antwortete der Schlangenbruder zögerlich und schauderte, offenkundig von Entsetzen gepackt. »Ihr meint –?« »Ja, ganz recht.« Das Lächeln des Fürsten hätte einer Schreckensklaue gut zu Gesicht gestanden. »Man darf wohl sagen, dass es sich um eine Schleichschlange mit Geschmack gehandelt hat.« Khavan bemühte sich, seine Übelkeit niederzukämpfen. »Aber wenn niemand mehr seinem Herren oder seinem Eheweib trauen kann, weil er nicht weiß, ob es sich auch wirklich um den Betreffenden oder die Betreffende handelt, dann ... dann ... dann ...«
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»Dann vermögen wir, die Blutpest von einem Ende des Tals an das andere zu verbreiten«, entgegnete Hanenhather, »und auch noch dabei zuzusehen, wie Hochfürsten und Kinder auf dem Thron zu Grunde gehen, und auch ein paar gewisse vertrottelte Schuppenmeister.« Der Fürst der Schlange lächelte zufrieden in sich hinein. »Das wird ein Schmausen ... Nun kommt, Landrun, auf uns wartet viel Arbeit. Ihr bedürft noch einer Menge Übung, bis Ihr die Ungeheuer so richtig beherrscht. Wollen wir ein paar Bauernburschen die Gelegenheit geben, einmal Hochfürst zu spielen.« In der Wanne hatte sich gerade so viel warmes Wasser befunden, um sich einmal wohlig darin zu versenken. Kaum war das Nass eingelaufen, hatte Craer die Öllampe ausgeblasen und so für noch wohligere Dunkelheit gesorgt. Das lag nun schon eine Weile zurück, und längst war er aus der Wanne gestiegen und tropfnass zu seinem Gewand gelaufen, um sich dort nicht mehr als die Füße abzutrocknen. Danach hatte der Beschaffer die Stiefel wieder angezogen, aber nicht mehr. Wenn auch nur die Hälfte von dem eintraf, was der Beschaffer für den Verlauf der Nacht erwartete, wäre mehr Kleidung auch nicht ratsam. Er machte sich an eine genauere Untersuchung seines Gemachs. Unter dem Bett entdeckte er einen Nachttopf, den man zusätzlich zum Donnersessel hergebracht hatte. Craer stellte ihn in bequeme Reichweite hin ... für den Fall, dass seine Därme sich überfallartig entleeren wollten. Daraufhin streckte er sich wie eine Katze und schlich wei-
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ter durch den noch immer in Dunkelheit daliegenden Raum. Er spähte hierhin und dorthin, um den leisen Lichtschein eines heimlichen Beobachters auszumachen – und sei es nur eine Kerze hinter vorgehaltener Hand. Nach einer Weile stießen seine Fingerspitzen auf ein eigenartiges Muster in der Wandtäfelung, welches senkrecht von der Höhe seines Kopfes bis zu der seiner Knie verlief. Er verzog den Mund zu einem leisen Lächeln und nickte unmerklich. Leise klopfte jemand an seine Zimmertür. Craer erreichte den Türrahmen mit drei raschen Schritten. Er zog zwei seiner Messer und nutzte das eine davon, um mit der Spitze einen überzähligen Stiefel gegen die Tür zu werfen. Doch niemand stieß mit einem Schwert unter der Tür hindurch noch durch die verdächtig breite Ritze zwischen Tür und Rahmen, und durch das Schlüsselloch drang auch kein Zauber. »Wer ist da?«, fragte der Beschaffer. »Ich, Ihr Blödian«, erhielt er zur Antwort. Der kleine Hochfürst grinste sich eins. »Wer mag denn dieser ›Ich‹ sein? Das ist doch wirklich ein merkwürdiger Name.« »Ihr elender Schweinekerl«, schleuderte es ihm, wenn auch immer noch halbwegs gedämpft, entgegen. »Ihr wisst sehr gut, dass ich es bin, Tschamarra!« »Hm, ich kenne eine ganze Reihe Tschamarras«, erwiderte der Beschaffer in gespielter Nachdenklichkeit. »Wenn Ihr diejenige seid, welche ich vermute, tragt Ihr eine Narbe in der Form meiner Zahnreihen. Verratet mir doch, wo sich
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diese Narbe befindet.« »Unterhalb meiner linken Brustwarze, Craer, genau dort, wo Ihr mich gebissen habt! Und jetzt öffnet endlich diese verdammte Tür hier, sonst trete ich sie ein!« »Seid Ihr denn auch allein und aus freiem Willen vor meine Tür getreten?« »Ja, verwünschter Mistkerl!« Craer steckte die beiden Dolche wieder ein und zog auch den dritten aus der Ritze zwischen den beiden Bodenplatten heraus, welchen er als Türstopper dort hineingestoßen hatte. Danach entfernte er auch die beiden Keile, welche er in den Türrahmen gerammt hatte, und ebenso den schmalen Messingriegel, welchen Fürst Stornbrücke seinen Gästen zur Verfügung stellte. Endlich öffnete Craer die Tür seiner Kammer, hielt sich aber in deren Schatten. Tschamarra Talasorn stand allein im Flur und hatte sich das Leder angelegt, welches Diebe so gern trugen. Dazu hielt sie eine kleine abgedunkelte Laterne in der Hand, und in deren Schein erkannte sie Craers lüsterne Blicke. Aus irgendeinem Grund waren die beiden Lampen an seiner Tür ausgegangen, und auch den Wächter schien ein ungnädiges Schicksal ereilt zu haben, denn er lag, alle viere von sich gestreckt, auf dem Boden. Da Craer nichts gehört hatte, musste dieser »Schicksalsschlag« ihn auch in aller Stille getroffen haben. Aber mit der rechten Magie konnte man alles wie einen Unfall aussehen lassen. »Ich muss tausendmal um Vergebung bitten, edle Herrin«, entschuldigte sich der zierliche Mann, als Tschamarra vorsich-
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tig eintrat, »aber heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein. Wie ich zu meiner Erleichterung feststelle, teilt Ihr meine Sorge. Sonst hättet Ihr wohl kaum solche Kleidung angelegt und Euch auch sonst so ausgerüstet, wie Ihr es getan habt. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen, Ihr scheint Euch auf genauso viel Ärger eingestellt zu haben wie ich!« »Die Sache steht noch viel schlimmer«, erwiderte die Zauberin erregt, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich für einen Moment dagegen, als wolle sie daran lauschen oder würde von Übelkeit überkommen. »Wir müssen die Herrin Embra finden, und das so rasch wie möglich. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, fühlt sich mein Magen alles andere als wohl.« Der Beschaffer bückte sich, zog einen Flachmann aus seinem Stiefel, schraubte den Verschluss ab und reichte der Besucherin die Metallflasche. »Trinkt davon. Ich befürchte nur, dass sie schon halb leer ist.« »Und was mag das für eine Flüssigkeit sein, welche Ihr da wie ein Magier aus dem Stiefel statt aus dem Hut gezaubert habt?« »Mein ›kleiner Helfer‹«, antwortete Craer voller Würde und schob ihr den Flachmann in die Hand. Als er ihr dann über die Finger strich, fühlte er eiskalte Haut. »Auf den bin ich vor ein paar Jahren in Sirl gestoßen«, erklärte er rasch und mit einem breiten Lächeln, um sein Erschrecken über ihre kalten Finger zu verbergen. »Bei einer alten Vettel, und die schwor Stein und Bein, dass der Inhalt alles Gift und alle Krankheiten verdürbe.«
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Tschamarra zog missbilligend eine Augenbraue hoch: »Und das habt Ihr geglaubt? Oder gehört es zu Euren Angewohnheiten, mein Hochfürst, dem Geschwätz alter Weiber zu lauschen, welche Euch in den Hinterhöfen Sirlptars ihre ›Waren‹ feilbieten?« »Edle Herrin Talasorn«, entgegnete der Beschaffer gespreizt, »sie gehörte den Weisen an, und ich hatte ihr gerade einen Dienst erwiesen. Vor einiger Zeit habe ich die eine Hälfte des Inhalts getrunken, die obere Hälfte, wenn mein Gedächtnis mich nicht ganz trügt. Und wie Ihr seht, stehe ich immer noch gesund und munter und in einem Stück vor Euch. Bedient Euch also an der Flasche, ich bitte Euch.« Die Zauberin nickte ... und schüttelte sich am ganzen Körper. Sie krümmte sich und ging in die Knie. »Schlimmer kann es ja kaum noch werden«, murmelte sie, stellte die Laterne ab und roch an der Flasche. Dann zuckte Tschamarra die Achseln und trank. Doch da überkam sie ein Zittern, wie sie es kaum für möglich gehalten hatte. Die Zauberin ächzte und stöhnte, drehte sich um die eigene Achse, kratzte an der Wand, als wolle sie Löcher hineinbohren. Ruckartig schüttelte sie den Kopf und konnte doch ein Wimmern nicht unterdrücken. »Oh, vergebt mir«, sprach Craer mitfühlend. »Zu dumm, da habe ich wohl vergessen zu erwähnen, dass dieses Gebräu auch ›Feuerwasser‹ genannt wird.« »Verschont mich bitte für die nächsten Stunden mit Euren Witzen!« Sie starrte ihn wütend an, doch trotz der Tränen, welche ihr in die Augen geschossen waren, erkannte er doch das Wohlwollen in ihrem Blick. »Gehen wir lieber Embra suchen«, ächzte die Zauberin,
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»ehe diese Nacht die nächste feurige Überraschung für uns bereithält.« Der Beschaffer verschwand für einen Moment, und als er zurückkehrte, war er angezogen. Craer trat an die Stelle der Holztäfelung, welche er früher mit den Fingerspitzen abgetastet hatte. Der Beschaffer berührte ein dort angebrachtes, geschnitztes Hirschgeweih, und im nächsten Moment öffnete sich die Wand. Dahinter breitete sich nichts als Dunkelheit aus. Tschamarra hob ihre Laterne, und Craer zeigte voller Stolz auf den von ihm vor kurzem entdeckten Geheimgang. Dann bedeutete er ihr zweierlei, nämlich erstens, dass sie auf die Seite treten, und zweitens, dass sie ihr Licht abschirmen möge. Die Zauberin beeilte sich, beiden Aufforderungen zu folgen, denn schon hatte der Beschaffer einen Dolch aus seinem Ärmel geschüttelt. Jetzt schlich er sich seitlich in den Gang und ... Schleuderte das Messer mitten hinein in die Dunkelheit. Dumpf traf die Klinge auf Widerstand, und dem folgte ein schmerzensreiches, scharfes Einatmen. Dann glaubte Tschamarra, ganz in der Nähe ein leises Rascheln zu vernehmen. Sie zog sich sofort vom Eingangsbereich zurück und sah, wie Craer die Abdeckklappe ihrer Laterne leise anhob und den Docht einer anderen Lampe in die Lücke schob. Als dieser Feuer gefangen hatte, zog der Beschaffer ihn wieder heraus. Die Hexe verfolgte, wie der brennende Docht durch das Zimmer zu hüpfen schien und dann einer anderen Laterne Licht schenkte.
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Der kleine Mann begab sich mit dieser an den Eingang, sah die Zauberin an, zwinkerte ihr zu und trat mit dem Licht in den Gang. Schon nach dem ersten Schritt klapperten Bogenbüchsen, die handgroßen Armbrüste, welche man in Teln und im Süden so gern benutzt, und aus den Tiefen des Ganges sausten Bolzen auf den Eindringling zu. Craer riss die Laterne wie einen Schild hoch und wehrte damit erfolgreich alle Geschosse ab. Grinsend sagte er sich, dass er doch mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte. Das Glück der Dreifaltigkeit stand auf seiner Seite ... Aber wie jeder erfahrene Beschaffer wusste Craer, dass es solches Glück eigentlich nicht gab und dahinter immer sorgfältige Vorbereitung, gesundes Misstrauen und ein Mindestmaß an körperlicher und geistiger Beweglichkeit steckten. Und gelegentlich steuerten die Götter noch einen kleinen Scherz oder Streich hinzu. Brennendes Öl tropfte auf Craers Finger, denn ein Bolzen hatte die Laterne durchschlagen. Der Hochfürst hüpfte auf und ab und schüttelte die Rechte, um sie von der brennenden Last aller Reste entzündbaren Öls zu befreien. Als das erledigt war, zog er etwas aus seinem Gürtel und zischte Tschamarra zu: »Meinen Nachttopf, rasch! Er steht unter dem Bett!« Die Zauberin gehorchte auch diesmal bereitwillig. Als er den Topf am Henkel hielt, schüttelte er das hinein, was er eben aus seinem Gürtel gezogen hatte. »Blitzpulver«, vermutete Tschamarra naseweis. Der Beschaffer grinste sie zur Antwort an, stellte sich wie-
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der an den Eingang, holte weit aus und schleuderte den Nachttopf hinein. Die beiden hörten, wie das Gefäß an die Decke knallte und dann über den Boden weiterkullerte. Craer biss die Zähne zusammen, packte die brennenden Reste seiner Lampe und schleuderte sie hinterher. Die Zauberin warf sich zu Boden, und im nächsten Moment explodierte die ganze Welt. Tschamarra wurde gegen eine Wand geworfen und verletzte sich an der Schulter. Die Kammer hörte genauso unvermittelt auf zu wackeln, wie sie damit angefangen hatte. Die Zauberin entdeckte, dass ihre Laterne umgekippt war. Sie stellte das Gerät rasch wieder aufrecht hin und untersuchte es nach Schäden. Doch der Beschaffer bedeutete ihr grimmig, kein Licht zu machen. Zerknirscht deckte sie den Schein ab. Craer trat geduckt in den leuchtenden Rauch, welcher den Gang immer weiter ausfüllte. Der Qualm schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Beschaffer bewegte sich so tief geduckt wie möglich und verursachte keinerlei Geräusch – was Tschamarra schon immer an ihm bewundert hatte. Die Zauberin wusste natürlich, dass es entsprechende Zauber gab. Aber wenn sie nur ihren eigenen Atem, den sich entfernenden Widerhall der Explosion und das leise Fauchen des Feuers, aber nichts von Craer hören konnte, kam ihr das schon etwas unheimlich vor. Die junge Frau wartete eine ganze Weile, so lange, bis sie feststellte, dass sie den Atem anhielt. Den entließ sie in einem leisen Seufzen und beschloss, noch länger zu warten ...
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Plötzlich ging der Gang wieder in Flammen auf, und überall entstanden Feuer von der Art, wie nur die Magie sie erzeugen kann. »Craer!«, schrie die Zauberin mit schriller Stimme und rannte zum Eingang. Die Flammen spuckten ihr einen Feuerball entgegen, und in dem steckte eine geschwärzte und sich drehende Gestalt ...
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Acht
Die Herren Ritter werden unruhig C Der Mond war noch nicht über Bowshun aufgegangen, und so fand die Nacht Gelegenheit, sich in all ihrer Finsternis auszubreiten. Der war es dann auch zu verdanken, dass immer wieder Stiefel stolperten, jemand gegen einen Ast lief und überhaupt viel geflucht wurde. Man traf sich an der Marag-Quelle, auf halbem Weg hinauf zu Emdels Lichtung. Nur eine kleine Schar, aber ein jeder trug ein blankes Schwert in der Hand. »Eregar?« »Ja, der bin ich, Thunn. Wen bringt Ihr mit?« »Braumdur«, meldete sich eine dunkle Stimme, »und ich habe meine beste Klinge mitgebracht. Wird mir eine Freude sein, dem Schlangenpriester die Gedärme zu durchlöchern, auf dass frische Luft hinein kann.« »Ganz recht«, stimmte Eregar zu und tastete sich zu seinem Lieblingsbaumstumpf vor. »Wer noch?«, fragte er. »Narvul«, antwortete jemand entschlossen, »mit meiner
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Axt.« »Gut. Dann wären wir ja alle beisammen. Der Zeitpunkt ist gekommen, mit diesem Schlangenbändiger abzurechnen, welcher zu viel Unheil über unser Land gebracht hat. Unsere Frauen und Kinder gehorchen uns nicht mehr und spionieren uns nach. Lange genug habe ich mir seine wohlfeilen Worte angehört. Dabei kocht der auch nur mit Wasser, und so gut sieht er auch gar nicht aus, wie unsere jungen Dinger immer schwärmen. Auf jeden Fall will ich verflucht sein, wenn ich zulasse, dass Galgenvögel wie dieser Priester unser schönes Bowshun in Schutt und Asche legen!« »Ja, der Wunsch nach Verdammnis soll Euch erfüllt werden!«, lachte eine neue Stimme kalt. Den vier Aufrechten blieb kaum Zeit, sich umzudrehen, da schoss schon von allen Seiten dunkelbraunes Feuer auf sie zu. Die Flammen entzündeten die Quelle, und die vier Männer, welche zur Rettung Bowshuns ausgezogen waren, erkannten einander, wie sie in Panik erstarrt dastanden. Und das im buchstäblichen Sinne, denn sie vermochten tatsächlich nicht mehr, sich zu rühren. Gerade noch gelang es ihnen, die Augen zu drehen, um mehr sehen zu können. Das braune Licht hielt die vier fest im Griff, und es stammte von einem Mann mit kalten Augen, welcher nun hinter einem Baum hervortrat. Als er den Weg erreichte, erschienen hinter ihm andere – einige in den Gewändern der Schlangenpriester, andere in
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zusammengewürfelter Rüstung und damit unschwer als Söldner zu erkennen. »Reißzahnbruder«, erklärte Schuppenmeister Arthroon höchst zufrieden, »lasst antreten.« Ein Priester rief Befehle, und die Söldner rückten vor, stellten sich vor die gefangenen Verschwörer, zückten ihren Dolch und schauten abwartend auf Arthroon. Der wartete einen Moment, nickte dann und sprach: »Jetzt.« Mit ziemlich gleichen Schwungbewegungen schlitzten die Klingen vier Kehlen auf. Zuckende, Blut verspritzende Leiber brachen zusammen, und die vollkommene Finsternis kehrte auf den Waldpfad zurück. »Werft sie in den Fluss«, befahl der Schuppenmeister, »und entfernt alle Spuren von ihnen. Auf dem Weg darf nichts mehr von ihnen zu sehen sein. Der Mond geht gleich auf, und ich möchte von hier verschwunden sein, bevor die braven Bürger von Bowshun dem Ruf der Schlange gehorchen ...« Reißzahnbruder Khavan zauberte einen leuchtenden Schlangenschädel herbei, welcher sich ganz nach den Bewegungen seiner Finger drehte. Der Schuppenmeister zeigte sich davon nicht begeistert, verzichtete aber auf eine Zurechtweisung, und so machten sich die Söldner an die Arbeit. Als sie gerade fertig geworden waren, ertönten von weiter unterhalb Rufe wie »Seht nur!«, »Schaut doch!«. Man hatte den leuchtenden Schlangenkopf entdeckt. »Runter vom Pfad!«, befahl Arthroon leise. »Haltet erst an, sobald ihr die Quelle hinter euch gebracht habt!«
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Gehorsam verschwanden die Söldner und Priester im Dickicht. Bleiches Mondlicht ergoss seine Strahlen auf den Pfad, und in diesem Schein verfolgten die Schlangenanhänger, wie die Bürger von Bowshun auf Emdels Lichtung zuliefen, um dem Ruf der Schlange zu gehorchen. Die vier Leichen von Männern aus ihren Reihen am Wegesrand aber sahen sie nicht. Maelra erwachte mit einem leisen Schrei aus ihrer Beobachtung. Da endlich! Ein leises Pochen oder Zucken! Die Kraft war erwacht! Magische Energie versuchte, in die größte Kristallkugel einzudringen, welche sie für ihre Bemühungen eingesetzt hatte. Der Angriff konnte nicht von Onkel Multhas stammen, denn die kleine Kugel aus seinem Besitz, mit welcher Maelra ihn auf Schritt und Tritt heimlich verfolgen konnte, zeigte ihn gerade mit einer anderen Tätigkeit beschäftigt. Der Onkel wuchtete ein Bildnis seiner selbst die Treppe hinauf, an deren Wänden Onkel Dolmur die Gemälde der Familienmitglieder aufhängte. Und auf dem Weg zum Ziel musste Multhas einen Abwehrzauber nach dem anderen umgehen. Die junge Zauberin getraute sich nicht mehr, ihre Verwandten weiterhin zu bespitzeln, denn zu leicht könnte sie nun dabei entdeckt werden. Allerdings ärgerte sie sich maßlos darüber, denn sie wollte unbedingt erfahren, was Dolmur noch alles zu sagen hatte. Doch dann ließ Maelra ihre Abwehr sinken und wartete
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auf die Verbindung, welche über kurz oder lang hergestellt werden würde. Die junge Frau verscheuchte alle Gedanken aus ihrem Bewusstsein und dachte nur noch an helle Flammen, ein Bild, welches sie beruhigte. Doch trotz all dieser Bemühungen rutschte sie in ein anderes Bild ab und stellte sich für einen Moment vor, sie sei eine räudige Ratte, welche sich in einen kleinen Spalt zwischen zwei Wänden verkroch, weil gerade ein Wächter herangeschnauft kam ... Und einen Moment später kam es zu der Verbindung. Jemand, allem Anschein nach ein Mann, tastete mit seinem Geist alle Kugeln ab ... anscheinend, um sich mehrere Zugangsmöglichkeiten zu verschaffen ... oder aber, um über mehrere Verstecke zu verfügen, in welchen er sich vor einem überraschend auftauchenden Bogendrachen verbergen konnte. Dann erkannte Maelra den fremden Eindringling. Ingryl Ambelter! Er war offensichtlich gekommen, um die Gebrüder Bogendrachen auszuspionieren ... Begeistert über diesen Erfolg setzte die Zauberin sich auf den Geistesfinger Ingryls. Statt sich ihm in den Weg zu stellen, ritt sie auf ihm. Bilder strömten in ihren Geist, und sie ließ diese geduldig in sich einfließen. Die junge Frau unternahm nichts, während Ambelter versuchte, Multhas zu erreichen. Er fand den sich schwer abplackenden Onkel und verfolgte, wie der Mann in den schwarzen Gewändern Dolmurs innerste Gemächer betrat.
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Ingryl ergötzte sich daran, und Maelra nutzte die Gelegenheit, ihre Verbindung mit dem Onkel an die mit Ambelter anzuknüpfen. Als dies vollbracht war, zog die Zauberin sich zurück und begab sich wieder in ihren mittlerweile heftig schwitzenden Körper. Mehr bereit und willens konnte sie nicht sein. Der Bann lag vorbereitet da, war für ebendiesen Augenblick niedergeschrieben worden, und mit leicht zitternder Hand griff die junge Frau danach. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich so weit gesammelt hatte, um den Spruch ruhig und vollständig zu sprechen ... Schon griff der Bann. Maelra blieb keine Zeit mehr, sich nach allen Seiten umzusehen. Doch irgendwie kam ihr das zu einfach vor ... Allein in ihrem schmucklosen, verlassenen Keller im Maransurhaus in Arlund beendete Maelra Bogendrachen ihren Zauber mit einer weiten letzten Handbewegung und folgte dann auf magischem Weg dem Zaubermeister von Aglirta in sein geheimes Versteck ... »Gebt doch etwas mehr Acht, Hawkril, hier befindet sich eine Dame!« Embra schützte mit beiden Händen ihre Brüste, um sie davor zu bewahren, von Schwertgriffen und Schildbuckeln aufgerissen zu werden. »Ihr könntet Euch wenigstens von Eurer Rüstung befreien!« »Das wäre keineswegs klug, Euer Durchlaucht«, entgegnete der Hüne grollend. Er ließ sich schwer neben ihr auf dem Bett nieder. Die Herrin der Edelsteine konnte ihn in der Dunkelheit, welche noch zusätzlich durch den Bettvorhang verstärkt wur-
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de, kaum ausmachen. Aber sie spürte und roch, dass er einige Schutzplatten, verschiedene Gürtel und mehrere Schwertgurte am Leib trug. Und seine Füße steckten noch in den schweren Stiefeln. »Wenn sie gegen uns anstürmen, werden sie bestimmt mit Handarmbrüsten kommen. Wartet es nur ab, genau das werden sie tun«, beharrte der Recke. Die Zauberin seufzte und strich gedankenverloren über ihre Schenkel, während sie daran dachte, wie leicht ein solcher Bolzen ihre Lederhose oder das dünne Wams darüber durchdringen würde. »Und sie werden Salve um Salve auf mich abfeuern können«, murmelte die Edle, »bis ich alle Platten und Teile Eurer Rüstung angelegt und festgezurrt habe.« »Meine liebste Herrin, aus Eurem Mund hört es sich so an, als würde ich mehr Mühe bereiten als drei störrische Esel. Leider steht mir kein Weltenstein zur Verfügung, um mich zu schützen, während ich durch Burg Stornbrücke schleiche. Da habt Ihr es wirklich besser getroffen!« »Als ich mir die Stiefel angezogen habe, hatte ich gerade vorher mein Nachthemd abgelegt«, säuselte sie neckend. »Ich hoffe, Ihr habt nicht hingesehen.« Der Hüne schnaubte nur. »Natürlich habe ich hingesehen.« Er zog sein Schwert halb aus der Scheide, aber nichts tat sich. »Aber solange ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf sich plötzlich öffnende Türen und gespannte Armbrüste richten muss, könntet Ihr Euch die Stiefel auch um den Hals hängen, ohne dass es mich ablenkt ... Obwohl ich gestehen muss, dass mir die Betrachtung Eurer
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nackten Haut zu anderen Zeiten das höchste Vergnügen bereitet, haltet zu Gnaden, Euer Ehren.« Embra lächelte. Wie berückend, wenn man so begehrt wurde. Und das auch noch von dem stärksten und gleichzeitig sanftesten Mann im ganzen Flusstal. »Ich frage mich, wie lange der Burgverwalter wohl braucht«, sagte die Edle aber stattdessen, »bis er bemerkt, dass ich seine Wächter in den Schlaf gelegt habe ... um dann in mein Gemach zu stürmen und die vermeintliche Hexe zu erschlagen?« Hawkril grinste. »Das wird uns sicher nicht lange verborgen bleiben. Denn dann wird der Gute ein furchtbares Geschrei anstimmen. Ich nehme doch an, dass Ihr an Eurer Tür den Sprengzauber angebracht habt, als kleinen Gruß an den Verwalter, oder?« »Wie könnte ich den vergessen?«, kicherte die Fürstin, fügte dann aber verstimmt hinzu: »Wie konnten sie es nur wagen, uns so weit voneinander entfernt liegende Zimmer zu geben? Nachdem ich mich umgezogen hatte, bin ich hinausgetreten, aber da haben die Wächter ihre Lanzen vor mir gesenkt. Es sei mir nicht gestattet, mein Gemach zu verlassen, haben diese Wichte sich erfrecht zu sagen. Erst am nächsten Morgen würde ich mit einer Bedeckung abgeholt. Sie wollten mir, einer Hochfürstin, den Weg versperren! Ja, was denken die denn von mir?« »Dass Ihr jemand seid, der auf der anderen Seite steht«, entgegnete der Recke. »Und damit haben sie ja nicht so ganz Unrecht.« Die Herrin der Edelsteine schnaubte entrüstet. »Wenn jemand uns wie ein gemeiner Strauchdieb auf der Straße auf-
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lauert, uns im Tischgespräch bedroht und schmäht und uns dann noch beim Mahl zu vergiften sucht, kann er wohl kaum ewige Dankbarkeit von uns erwarten!« Embra seufzte und strich ihm über den Arm. »Tut mir Leid, Hawkril, ich führe mich auf wie eine dumme Kammertrine ... Jetzt habe ich schon zweimal bei mir den Dwaer eingesetzt, aber irgendwie fühle ich mich noch immer eigenartig. Da kriecht weiterhin etwas in mir herum ... Ach, ich wünschte, Sarasper wäre hier und könnte uns alle richtig heilen.« »Und ich wünschte, es würde niemals wieder Winter, jeder in Darsar wäre glücklich und reich genug, um nie wieder das Schwert gegen seinen Nachbarn erheben zu wollen. Oder auch Axt oder Hacke. Ich wünschte, wir hätten jeden Tag schönes Wetter und die Dreifaltigkeit würde uns Tag für Tag genug dampfende Mahlzeiten bescheren, so dass sich nie wieder jemand mit Ackerbau, Viehzucht oder der Kocherei abplagen müsste ... Aber haben die Götter jemals auf mich gehört?« »Nein«, entgegnete Embra, »denn sie hatten immer viel zu viel damit zu tun, Craer zu lauschen. Seine Zunge kommt ja wohl niemals zur Ruhe.« Die Zauberin gähnte. Dann schmiegte sie sich an den Hünen und vergrub ihr Gesicht in seinem Wams. »Weckt Ihr mich bitte, wenn der Spaß losgeht?«, fügte sie noch hinzu. Der Recke legte einen seiner starken Arme um sie und tätschelte ihr den Hintern. »Und wie soll ich das beginnen? Indem ich Euch sanft ins Ohr puste? Oder indem ich Euch kitzele? Oder indem ich Euch zwicke und zwacke?«
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Er führte zur Anschauung bei jedem Vorschlag aus, wie er sich das vorstellte. »Ihr unverschämter Flegel!«, kicherte die Zauberin. »Ihr ungezogener Frechling!« »Nun, was das Ungezogene angeht, so kann Euch da so leicht wohl niemand etwas vormachen. Wenn ich bedenke, wie viel Kummer Ihr Euren armen Eltern bereitet habt ...« Die Edle gähnte wieder. »Erinnert mich bloß nicht daran. Aber wer von uns kann sich seine Eltern schon aussuchen? Man kann höchstens versuchen, es besser als sie zu –« Etwas knarrte oder knackte in einer Ecke des Zimmers, und dann auch in einer anderen. »Runter!«, knurrte Hawkril der Zauberin ins Ohr, schob sie unter die Decke und beugte sich auf der anderen Seite aus dem Bett. Embra fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Sie hörte aber, wie er seinen Schild unter dem Bett hervorzog ... Eigentlich gab es an der Anordnung des Hünen ja nur wenig falsch zu verstehen, aber dennoch hielt das vornehme Fräulein sich nicht daran. Embra konnte gar nicht rasch genug auf ihrer Seite unter das Bett kriechen, hätte in ihrer Hast beinahe den Weltenstein verloren und konnte von Glück sagen, sich nicht ihren eigenen Dolch, welcher am Gürtel hing, in den Bauch zu stoßen. Aber der Lärm, welchen die Zauberin veranstaltete, ging völlig im Klirren von Stahl unter, und das ertönte zu ihrem Glück von Hawkrils Bettseite. Doch da hatte die Edle sich wohl zu früh gefreut, denn schon näherten sich etliche Stiefel ihrer Seite des Bettes ...
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»Craer!«, zischte Tschamarra und rüttelte ihn. »So sagt doch etwas! Sprecht zu mir!« Der rauchende und völlig geschwärzte Mann unter ihren Händen hustete heiser und rasselnd. Dann spuckte er etwas aus, keuchte und sprach: »Ich lebe noch ... glaube ich wenigstens.« Die Zauberin riss die Rechte zurück, weil sich unter ihrer Handfläche letzte Flammen sammelten. Dann sprang sie auf, besorgte rasch den Wasserkrug und leerte diesen über den Beschaffer und seine rauchende Bekleidung. Das hatte ein lautes Zischen, noch mehr Qualm und einen noch stechenderen Gestank als vorher zur Folge. Craer stöhnte, und dadurch hätte Tschamarra beinahe die leisen Schritte in dem Gang überhört. Bebend vor Wut erhob sie sich erneut und näherte sich so katzenartig vorsichtig wie möglich dem Eingang. Zwar konnte sie sich selbst hören, aber ihre Geräusche fielen doch leiser aus als diejenigen des Gegners, welcher durch den Gang heranschlich. Die Letzte der Talasorn-Schwestern flüsterte unhörbar eine Zauberformel und behielt sich lediglich noch das letzte und entscheidende Wort vor. Tschamarra hatte nicht mehr allzu viele Schlachtzauber übrig, und die einzelnen Hochfürsten mochten vielleicht noch darauf angewiesen sein, dass sie keinen davon unnütz verschwendete. Hinter ihr regte sich Craer, stöhnte und schüttelte sich, so dass es Ascheflocken von seiner verbrannten Lederkleidung regnete.
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Er richtete sich auf alle viere auf, ließ den Kopf hängen und fluchte leise vor sich hin. Der zierliche Mann zitterte ganz so wie jemand, der gerade einen heftigen magischen Angriff überstanden hat. Die Schritte im Geheimgang näherten sich weiter. Tschamarra starrte mit eisigen Augen auf den Eingang und wartete ... und wartete ... Dann zeigte sich endlich jemand in der Mündung des Gangs, und die Zauberin flüsterte das letzte Wort ihres Zaubers so zärtlich, als läge sie in den Armen ihres Liebsten: »Harandreth!« Von ihren ausgestreckten Fingern lösten sich tropfengroße Lebewesen, welche von ihrer eigenen Energie umgeben wurden. Wie zornige Wespen stürzten sie sich auf den Feind. Während des Fluges wuchsen ihnen kleine gefährliche Zahnreihen und winzige Augen. Sie schwirrten mitten in den Rauch des Gangs hinein und stachen zu. Eine bis dahin verborgen gehaltene Laterne verbreitete plötzlich hellsten Schein. Derjenige, welcher sie trug, fasste sich ans Gesicht und taumelte zurück. Etwas Dunkles und sehr Behändes biss in das Fleisch seines Gesichtes. Kreischend versuchte der Feind, es sich von der Haut zu reißen. Doch das kleine Wesen wollte nicht von ihm lassen, und während er an ihm zog, wölbte sich seine Wange nach außen ... Im nächsten Moment verwandelte sich das Gebrüll des Mannes in kreischende Verzweiflung. Eine zweite Zauberwespe hatte ihn gefunden und sich ihm im wahrsten Sinn des Wortes an den Hals geworfen ... und fing dort sofort an zu
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beißen und zu fressen. Die Laterne krachte auf den Boden und vergoss brennendes Öl. In dessen hellem Schein erkannte Tschamarra die Gefährten des Angegriffenen, nämlich einige Soldaten und sogar einen Kammerknaben im Wappenrock. Sie waren wohl gerade stehen geblieben, und die Lust auf weitere Abenteuer schien ihnen vergangen zu sein. Dazu kamen sie auch gar nicht mehr, denn sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, nach den vermaledeiten kleinen Angreifern zu schlagen. Die Zauberin hatte trotz mannigfaltiger Suche niemals den noch viel mächtigeren Bruder dieses Banns gefunden, welcher dem Zauberer, der ihn verschleuderte, die Lebensenergie zuführte, welche die magischen Wespen ihren Opfern nahmen ... Deswegen durfte sie sich noch nicht als gerettet ansehen. Dem Gift in ihrem Körper mochte sie noch vor dem Morgengrauen erliegen. Mit diesem bitteren Gedanken kehrte die Letzte der Talasorn zu Craer zurück und half dem noch Benommenen und Rauchenden auf die Füße. Auch der Beschaffer war dem Tode geweiht, und das nur, weil sie die eine Straße nach Osklodge und nicht die andere genommen hatten. Aber der Dwaer, nach welchem sie suchten, und der Schurke, welcher ihn an sich gerissen hatte, mochten sich irgendwo in dieser feindlichen und kalten Burg aufhalten ... Aber klar doch, und wahrscheinlich trugen die jungen Frauen in Sirl in diesem Monat ihre Röcke noch einen Fingerbreit kürzer ...
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Als die Zauberin Craer schultern wollte, ging sie doch ein Stück weit in die Knie. Sie rief eine ihrer Wespen zurück, damit diese vor ihnen herfliegen und ihnen leuchten konnte. Aber das Zauberwesen flackerte nur, weil die Energie des Banns nahezu aufgebraucht war. Nicht zuletzt deswegen mussten sie so rasch wie möglich von hier fort und Embra und den Weltenstein finden. Der Dwaer konnte ihnen allen die Zauberkräfte stärken, und auch dem alten Schwarzgult, solange der noch seine Sinne beisammen hatte. Die Wespe löste sich in Funken auf, gerade als sie Craers Gemach hinter sich gebracht hatten. Der Beschaffer stöhnte und fluchte immer noch. Doch seinen Bewegungen wohnten jetzt mehr Festigkeit und Sicherheit inne. Bald würde er wieder allein laufen können. »Vorwärts, Taschendieb«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie ihn um eine Kurve zog. »Wir müssen doch Hawkril und die anderen finden!« »Ja ... ja ... «, ächzte der Beschaffer. »Hier ... herunter ... geht es zu ... Hawkril ... Schwarzgult ... in der ... anderen ... Richtung ...« Sie hatten gerade eine Biegung im Gang hinter sich gebracht, als vor ihnen Fackelschein aufleuchtete. In diesem Licht wartete ein Dutzend Soldaten mit gezogenen Schwertern. Hinter diesen standen noch einmal so viele Kammerknaben. »Diejenigen, welche auf Stornbrücke Blut vergießen, erwartet nur ein Schicksal«, verkündete der Wachhauptmann unter ihnen.
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Darauf setzten sich die Soldaten in Bewegung und näherten sich mit finsterer Miene den beiden. Ezendor Schwarzgult lebte bereits lange genug, um sehr lebendig träumen zu dürfen. Gesichter Sterbender, zustechende Dolche, kalte Morgen auf Schlachtfeldern und schlanke, weiche Hände, welche bei der zärtlichen Umarmung schon das Messer bereithielten ... Alle diese »Besucher« kannte Schwarzgult zur Genüge. Zwischen sie mengten sich helle Dwaer-Feuer, persönlich erlebte Explosionen und hasserfüllte Fratzen von brüllenden Zauberern. Auch war es dem Goldenen Greifen nicht fremd, schreiend aufzuwachen, in kaltem Schweiß dazuliegen oder die Felldecke zwischen den Händen zu kneten, als habe er einen seiner schlimmsten Feinde vor sich. Aber heute schienen die Schmerzen echt zu sein. Ständig riss ihn ein heftiges Stechen im Bauch aus dem Schlummer, oder ein rot glühendes Brennen, welches ihn aus dem Bett zu treiben drohte. Oder er fühlte überall die klebrige Nässe seines eigenen Blutes, und im grellen Schein einer Laterne über ihm zeigten sich zwei höhnisch dreinblickende Gesichter ... Diese Züge gehörten Männern, welche Schwarzgult noch nie zuvor gesehen hatte. Dennoch schienen sie ihm ans Leben zu wollen ... Der Goldene Greif befand sich im Bett seines Gemachs auf Burg Stornbrücke und starrte an die Decke ... Sein Sichtfeld wurde von den hohen Bettpfosten eingerahmt... und jetzt fiel ihm auf, dass sein Bett keinen Himmel besaß ...
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Und dafür wollte er der Dreifaltigkeit auf Knien danken. Denn wäre sein Lager auch oben abgeschlossen gewesen, stünde es längst in Flammen, und er wäre darin elendiglich verbrannt. Jetzt erkannte Embras Vater auch, warum die beiden tückischen Beobachter bei ihm den starken Eindruck hinterließen, ihm Übles zu wollen ... Ihre Hände umschlossen nämlich noch die Schäfte von zwei Speeren, welche sie ihm in die Seiten gerammt hatten. Einen links und einen rechts, so als hätten sie seinen Leib säuberlich unter sich aufgeteilt. Schwarzgult, der älteste lebende Fürst des Reiches und zeitweise dessen Regent, konnte sich nicht mehr aus seinem Bett erheben. Derweil lachten die beiden Kammerknaben, als sei dies alles ein köstlicher Spaß, und hängten ihr ganzes Körpergewicht an die Speere, auf dass ihr Opfer sich nicht zu befreien vermöge. Er fühlte bereits seine Kräfte schwinden, und sein Geist drohte, in einem roten Nebel zu versinken. »Bringt die Laterne da her!«, befahl jemand barsch vom Fußende des Bettes. Aber Ezendor wartete nicht ab, was dieser von ihm wollte, sondern bemühte sich, die beiden Speerschäfte mit den Händen zu umschließen. Sein eigenes Blut glänzte auf dem Holz, und seine Finger rutschten darauf ab. Und noch einmal. Er setzte höher an, während der Lichtschein auf seinem Körper bis zu den Knien hinabwanderte. »Aha, in dem Großen Greifen steckt also noch Leben«, höhnte die Stimme vom Bettende. »Soll er nur. Der ehemalige Regent mag bei vollem Bewusstsein und mit der Gewiss-
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heit sterben, dass die Schlange ihn am Ende doch noch geholt hat!« Über Schwarzgults angezogenen Knien tauchte jetzt ein Gesicht auf, ein kahles Haupt mit grausamen Zügen. Bei dem Mann handelte es sich um einen Priester des Großen Kriechtiers. Allerdings hatte der die Kapuze zurückgeschlagen. Auf der einen Wange hatte er sich eine schlängelnde Viper tätowieren lassen. Wenn er lachte, verlieh ihm das ein besonders abstoßendes Aussehen. Gerade jetzt lächelte der Priester, zückte einen Dolch mit Flammenklinge und hielt ihn ins Licht, damit der Regent ihn deutlich sehen konnte. Blut sammelte sich in Schwarzgults Mund, und er wusste, dass es so oder so mit ihm zu Ende ging ... Im Lauf der vielen Jahre hatte er sich so manchen Kniff und etliche Taschenspielertricks angeeignet, aber die halfen ihm jetzt wenig ... Es sei denn ... Ezendor versuchte, sich im Bett zu erheben, und stellte dabei zweierlei fest: Zum einen vermag ein unvermittelt auftauchender, rasender Schmerz selbst einen Hochfürsten dazu zu bewegen, alle Umstehenden mit einem Regen von Blut und Galle zu übergießen ... Und zum anderen wurde seine linke Seite gar nicht richtig von dem dortigen Speer festgenagelt, wie er ursprünglich angenommen hatte. Links vom Bett standen auch seine Stiefel, sofern sich niemand die Mühe gemacht hatte, sie woandershin zu stellen. Das Messer in der Scheide im Stiefel könnte ihn in den Stand versetzen, den einen oder anderen seiner Bedränger mit in den Tod zu nehmen ...
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Den Kammerknaben zur Linken hatte sein Auswurf vorhin besonders übel erwischt. Der Mann wandte sich angeekelt ab, und der Druck auf den Speer ließ für einen Moment nach ... Aber der Schlangenpriester war auch nicht auf den Kopf gefallen. Er schlug dem Diener mit der Faust auf den Rücken und knurrte: »Wenn Ihr noch einmal loslasst, seid Ihr des Todes!« In der anderen Hand hielt der Priester immer noch den gewundenen Dolch. Er lächelte Schwarzgult wieder grausam an und senkte die Spitze mit quälerischer Langsamkeit ... bis die Spitze die Brust des Gefangenen erreicht hatte. Dann drückte er zu. Aber so ließ sich Stahl nicht in menschlichem Fleisch versenken. Offensichtlich hatte der Priester vor, als Erstes das Nachthemd des ehemaligen Regenten aufzutrennen, um die Brust des Mannes zu entblößen ... und dann mit voller Wucht zuzustechen. Aber nein, der Priester hatte etwas ganz anderes im Sinn. Die Klinge bewegte sich, schien Wellen zu schlagen und wuchs an, bis sie sich in einen silbrig glänzenden Schlangenkopf verwandelt hatte, welcher das Maul weit zum tödlichen Biss öffnete ... Ezendor Schwarzgult hatte noch nie zu den Menschen gehört, die sich willig ihrem Schicksal ergeben. Er packte mit jeder Hand einen Speerschaft – und zwar so weit oben wie möglich – und riss sie mit einer heftigen Bewegung und einem zutiefst gepeinigten Schrei gegeneinander. Die Kammerknaben an den anderen Enden stießen überraschte Rufe aus und prallten unwillkürlich aufeinander. Schulter an Schulter ... und dazwischen der Arm des Priesters.
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Der Schlangenanbeter kreischte, seine Finger öffneten sich wie aus eigenem Willen, und der Schlangenkopfdolch flog davon und prallte klappernd von der gegenüberliegenden Wand ab. Jetzt oder nie!, sagte sich Embras Vater. Er versetzte dem Diener zur Linken einen derben Tritt, so dass dieser zusammenknickte und seinen Speer fahren ließ. Dann riss Ezendor sich die Waffe aus dem Leib und schlug den Schaft dem anderen Kammerknaben über den Schädel. Dumpf brüllend prallte der Diener zurück, und Schwarzgult sah sich in die Lage versetzt, sich mit dem anderen Speer hochzuziehen ... Endlich vermochte er, sich aus dem mit Blut getränkten Bett zu erheben. Doch schon als Schwarzgult den ersten Schritt tun wollte, zwangen ihn die Schmerzen in die Knie. Alles drehte sich vor ihm. Zitternd und behindert von dem Speer in seiner rechten Seite tastete er mit tauben Händen nach seinen Stiefeln ... und stieß sie erst einmal um. »Göttin, lächelt mir zu«, krächzte der ehemalige Regent, als er noch einmal nach den Stiefeln griff, »Alter, steht mir bei ...« Jetzt versuchte er, in die Stiefel zu greifen, und scheiterte kläglich. Ein Stück weiter schrie der Schlangenpriester immer noch und hüpfte vor Schmerzen von einem Bein aufs andere. Mit der gesunden Hand hielt er die schlaffe andere. Offenbar hatte ihm der Zusammenprall die Unterarmknochen zerschmettert. »Helft mir, ihr Trottel! Eilt zu meiner Unterstützung herbei, sonst bekommt ihr den Zorn der Schlange zu spüren!«, schrie der Mann.
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Aber die anderen Diener, welche durch die offen stehende Kammertür und durch den geheimen Ausgang in der getäfelten Wand erschienen waren, hielten sich deutlich zurück. Sie starrten auf den ungewohnten Anblick und schienen die Waffen in ihren Händen vollkommen vergessen zu haben. Die beiden Götter der Dreifaltigkeit halfen ihrem Schützling nicht. Schwarzgult griff erneut daneben. »Dunkler, befreit mich von meinen Feinden«, betete Embras Vater nun ... und vermochte endlich, die Finger in einen der Stiefel zu schieben. Doch da bekam er den Griff des kleinen Dolches zu fassen. Dabei ging es ihm im Augenblick doch viel mehr um das Fläschchen mit der Heilflüssigkeit. Bei den Hörnern der Göttin, er hatte in den falschen Stiefel gegriffen! Der Schlangenpriester schwankte noch, hatte sich jetzt aber darauf besonnen, sich selbst zu helfen und seinen Arm mit einem Heilungszauber zu flicken. Schwarzgult aber hatte nur Augen für das, was zu Füßen seines Feindes lag: der Dolch mit dem Schlangenkopf! Dann musste die Heilung eben noch etwas warten. Ezendor zog den kleinen Dolch aus dem Stiefel und sich selbst an dem Speer hoch. Dann stieß er sich mit dem Schaft ab, setzte sich so in Bewegung und näherte sich halb humpelnd und halb laufend dem Schlangenpriester. Die Umstehenden murmelten erregt miteinander, als das stumpfe Schaftende den Priester unterhalb der Rippen traf. Das riss ihn aus seinem Zauberspruch und warf ihn gleichzei-
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tig zurück gegen die Wand. Der Zusammenstoß löste bei Schwarzgult solche Schmerzen aus, dass er laut schreien wollte und doch nur ein röchelndes Krächzen zustande brachte. Er ging wieder in die Knie, und erneut umwaberten ihn Nebel. Nur undeutlich erkannte er deshalb den Priester, welcher sich rasch von dem für ihn nicht sonderlich harten Zusammenstoß erholte und den Schlangenkopfdolch an sich brachte. Der Priester starrte Schwarzgult mit Mordlust in den Augen an. »Jetzt werdet Ihr endlich sterben!«, schnarrte er ihm entgegen und stürmte los. Ezendor zwang sich umständlich aufzustehen, kehrte seinem Gegner den Rücken zu ... und fuhr im rechten Moment herum, um dem Priester mit dem Speerschaft den Weg zu versperren. Der Schlangenanbeter wich geschickt aus, kam aber nicht näher an sein Opfer heran, denn dieses drehte sich mit ihm. Dann täuschte Schwarzgult einen Schwächeanfall vor, sank auf die Knie und zwang den Priester dazu, sich immer weiter zu ihm vorzubeugen ... Und als der nahe genug heran war, schlitzte der ehemalige Regent ihm mit seinem kleinen Messer über den gesunden Handrücken. Der Priester musste befürchten, jetzt auch die zweite Hand verloren zu haben, denn er schrie wie von Sinnen. Der Schlangenkopfdolch flog ihm aus den Fingern, und vor Schreck kreischte er noch lauter. Ezendor beendete diesen Lärm mit einem weiten Schwung seines Messers. Die Klinge schlitzte dem Priester die Kehle
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auf. Schwarzgult wandte sich ab, weil er das Ende des Schlangenmannes nicht mit ansehen wollte, und begab sich zu seinen Stiefeln. Die Diener waren samt und sonders erbleicht und wichen vor dem Sieger zurück. Als der Goldene Greif sich mit seinem blutigen Speer neben dem richtigen Stiefel niederließ und seine schwachen Finger das Fläschchen herausziehen konnten ... Da schrie alles entsetzt auf und floh aus dem Gemach. Ezendor zog mit den Zähnen den Stöpsel heraus und trank die eiskalte Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen. Sie beruhigte ihn wie eine samtene Berührung, löschte das Feuer in seinem Innern und gab ihm alle vermisste Kraft zurück. Endlich konnte er sich auch von dem zweiten Speer in seiner Seite befreien. Doch dann musste er aufs Bett zurück. Halb fallend hockte er sich darauf und verfolgte, wie das Blut aus seiner Wunde spritzte. Aber die Nebel überwanden ihn nicht, und allmählich kehrte die normale Dunkelheit in die Kammer zurück. Müde sah er zu, wie der Schlangenkopf erstarrte und bald nichts Besonderes mehr an dem Dolch des Priesters war. »Embra, wenn ich sterben sollte, hört nicht auf in Eurem Streben nach Ruhm! Schwarzgult gehört immer Euch. Und wenn er Euch gut genug gefällt, nehmt Euch Hawkril ... Möge die Dreifaltigkeit ihre schützende Hand über euch beide halten ...« Er schmeckte neues Blut und fragte sich, ob der Inhalt des Fläschchens ausreichen würde und ob er ihn nicht zu spät ge-
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trunken hatte ... Embra schob und drehte sich verzweifelt unter dem Bett. Sie musste von der Stelle fort, wo die Schwertspitzen durch den Strohsack stachen ... wie Raubtierzähne auf der Suche nach Beute. Die Zauberin war noch nicht dazu gekommen, sich das Wams zuzuknöpfen, und so bedeckte nur dünne Seide ihre Brust – und nichts ihren Hals. Der Anhänger schlug ihr andauernd gegen die Kehle. Aber sie konnte nicht langsamer machen, denn sie musste doch von hier fort. Nur noch einen Moment oder zwei, und die Soldaten würden erkennen, dass sich Hawkril allein in dem Bett befand ... und sich dann mit vereinten Kräften über den Hünen hermachen. »Zurück!«, befahl Embra einzig und allein aus dem Wunsch heraus, etwas von dem Druck in sich loszuwerden. Gleichzeitig bediente sie sich ihres Dwaers, um alle Feinde von sich fortzuschleudern. Sofort ertönten überall ärgerliche bis ängstliche Rufe und Schreie, und das Stampfen der vielen Stiefel fand sein Ende. Dafür donnerte es nun dumpf, als ein Körper nach dem anderen gegen eine der Wände, die Tür oder einen anderen Kameraden flog. Dazu schrille Schreie und Gurgeln, wenn jemand von der Waffe eines anderen getroffen oder im Vorbeihasten aufgespießt wurde. Embra biss die Zähne zusammen und sagte sich, dass sie schließlich nicht mit dem Überfall angefangen hatte. Und sie
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schwor sich, so bald wie möglich in einem Aglirta zu leben, in welchem sie nie mehr dazu gezwungen sein würde, einen Weltenstein einzusetzen. Und wo es Männern nicht mehr einfallen würde, des Nachts herumzuziehen und Schwerter in schlafende Gäste zu bohren. Die Herrin der Edelsteine entließ die Soldaten und Diener nicht aus ihrer misslichen Lage und brachte den Dwaer gleichzeitig dazu, eine weitere Sache für sie zu erledigen. Allmählich stellte sie sich immer geschickter im Umgang mit diesem Zaubermittel an. Embra wünschte sich, das Bett möge sich hochkant stellen, damit sie ohne Mühe aufstehen konnte. Das durfte doch nicht schwer sein. Nicht schwieriger jedenfalls, als eine ganze Schar Eindringlinge an die Wand zu pressen. Um den Dwaer zu diesem Dienst zu bewegen, musste sie sich an Banne ähnlicher Ausrichtung erinnern, welche sie in der Vergangenheit gewoben hatte. Allein das Gefühl von damals wieder zu erleben, reichte schon für den Weltenstein aus. Er schien dann zu wissen, worum es ging. Zu ihrem Glück handelte es sich bei einem Zauber, mit welchem etwas herumgewirbelt werden sollte, um einen von der einfachen Sorte. Jeder Anfänger kannte sich damit aus und bildete sich dann auch gleich ein, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu können. Das Bett stellte sich tatsächlich aufrecht und krachte mit der Seite, auf welcher sie gelegen hatte, gegen die Wand. Holz splitterte, und Schreie verrieten, dass an der Stelle der Wand auch Soldaten und Diener gestanden hatten.
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Aber Hawkril war vermutlich nicht betroffen, und das beruhigte Embra so sehr, dass ihr alles andere nicht mehr wichtig erschien. Die Zauberin erhob sich nun und streckte den Arm mit dem Weltenstein aus. Sofort ertönte aus allen Ecken ängstliches Stöhnen. Vom letzten Gebrauch strömte noch Strahlung aus dem Dwaer und hüllte die Edle in einen flackernden Leuchtkranz. Überall im Flusstal hatte man schon die tollsten Geschichten über die Herrin der Edelsteine gehört – und hier stand sie nun leibhaftig vor ihnen. Und runzelte die Stirn, als habe sie etwas verärgert. Embra atmete tief durch und spürte, wie die Magie sie durchströmte, welche all die Unglückseligen an den Wänden festhielt. Nun wagte sie sich an eine schwierigere Aufgabe: die Luft zum Glühen zu bringen, um ihre Kammer taghell zu beleuchten. Dann könnte sie leicht feststellen, wo ihr Hawkril sich aufhielt ... und wie viele Feinde sich in dieser Kammer eingefunden hatten. Einen Gegenstand dazu zu bringen, Helligkeit auszustrahlen, erwies sich nicht als schwer. In den alten Zauberbüchern nannte man so etwas »kalte Fackel«, und das lernte ein Zauberschüler schon in der ersten Klasse. Wenn man sich das rechte Bild vorstellte und die richtige Beschwörungsformel sprach, brauchte man nur noch eine Flamme als Brennstoff, dann war die Sache schon so gut wie erledigt. Mit einem Dwaer erwies sich das als noch einfacher, denn der Weltenstein ersetzte sowohl den Brennstoff als auch den
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Bannspruch. Embra blieb also nur noch, sich die Sache so richtig vorzustellen ... Langsam und wie geräuschloser Wellengang erhellte sich dann auch kurz darauf die Luft. Die Zauberin entdeckte ihren Herzallerliebsten schon nach wenigen Momenten ... Da er wie die Feinde von dem ersten Zauber an die Wand gedrückt wurde, vermochte der Hüne ihr nur zuzunicken, um ihr anzuzeigen, dass ihm nichts fehle. Aber daran, wie danach sein Nacken und seine Schultern zuckten, erkannte Embra, wie sehr es ihn schmerzte, sich zu ihr herumgedreht zu haben. An seiner Wand hingen sieben Soldaten von Burg Stornbrücke. An den verbliebenen Wänden fanden sich davon noch mehrere Dutzend. Und nicht nur Wächter, sondern auch Kammerknaben und andere ... Offensichtlich gingen den Schurken die Soldaten aus, denn zwischen den Soldaten und Kammerknaben steckten auch Stallburschen, Jagdgehilfen und Handwerksgesellen. Die Wächter hingegen trugen allesamt den lilafarbenen Falken auf der goldenen Bogenbrücke von Storn auf der Brust. Ein jeder trug noch seine Waffe in der Hand und in unterschiedlich starken Mischungen eine Miene der Furcht und des Hasses. »Hochfürst Hawkril dürfte sich höchstlich geschmeichelt fühlen«, sprach die Zauberin leise. »So viele von euch haben sich zusammengerottet, um ihm ans Leben zu gehen. Dabei lag er doch vergiftet im Schlaf ... Aber selbst ein so todsicherer Plan konnte noch schief gehen; denn mich hat die Dreifaltigkeit geschickt, eure Ver-
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schwörung zu durchkreuzen. Tja, solche Überraschungen hält das Leben leider immer wieder für einen bereit. So viele von euch haben sich herangeschlichen, um den Mann zu ermorden, welchen ich liebe. Zu eurem Pech muss ich vermuten, dass ihr so etwas Schändliches bei der nächstbesten Gelegenheit wieder versuchen werdet ... Deswegen muss ich euch jetzt allesamt töten.« Sie stellte sich vor den Hünen, kehrte ihm den Rücken zu, um den ganzen Raum in Augenschein zu nehmen, und hob wieder den Weltenstein. Die Kraft, welche die Soldaten und Diener an die Wände presste, wurde umgekehrt, und dann noch einmal umgekehrt und so weiter und so fort. Die Feinde prallten in der Mitte der Kammer mit lautem Klatschen gegeneinander, und im nächsten Moment krachten sie ein weiteres Mal gegen das Mauerwerk. Und noch einmal. Wer von den Männern noch bei Bewusstsein war, warf rasch während des Fluges seine Waffe fort, und schon traf man sich wie beim Tanzreigen schon wieder zur engen Körperberührung. Als sie das nächste Mal in des Raumes Mitte strebten, hingen einige Leiber nur noch schlaff in der Luft. Und oft genug krachte es, als würden Knochen brechen. Mit harter Miene schleuderte Embra die Feinde ein ums andere Mal hin und her. Bei dem Anblick, welcher sich ihr bot, wurde ihr speiübel, aber sie durfte jetzt nicht schlappmachen. Die Zauberin durfte nicht zulassen, dass auch nur einer von ihnen übrig blieb, um seine Waffe gegen Hawkril erhe-
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ben zu können. Außerdem musste sie ja noch mit den sieben fertig werden, welche in ihrem Rücken zusammen mit dem Recken an der Wand hingen. Wieder krachten die Soldaten gegen die Mauern und sausten noch einmal nach vorn. Etliche von ihnen zeigten sich nur noch als formlose Klumpen. Überallhin spritzte Blut. So viele hingen bereits schlaff herab, dass Embra glaubte, kaum noch einer von ihnen könne am Leben sein. Die Herrin der Edelsteine atmete scharf ein, trat mit dem Dwaer in die Mitte des Raums und beendete ihren Zauber. Hawkril löste sich als Erster von der Wand, und Embra überspülte die sieben Soldaten mit einer Feuerwoge. Ein paar von ihnen schrien, aber die anderen brachen einfach im Flammenmeer zusammen. Als nur noch die Zauberin und der Recke übrig geblieben waren, drehte der Hüne sich zu seiner Herzensherrin um und flüsterte: »Seid tausendmal dafür bedankt, mir das Leben gerettet zu haben ... und erinnert mich beizeiten daran, Euch niemals ernsthaft in Wut zu versetzen.« Embra starrte ihn mit stockendem Atem und bleicher Miene an. Dann warf sie sich ihm an den Hals, um sich an seiner breiten Brust auszuweinen. Hawkril hielt sie, wiegte sie und drehte sich langsam mit ihr. So konnte er mit seinen Blicken die sechs Öffnungen, durch welche die Mörder gekommen waren, nach weiteren Angreifern absuchen. Als er ins Bett gestiegen war, hatte er lediglich von zweien dieser Geheimtüren gewusst.
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Der Dwaer, welcher zwischen den beiden Liebenden steckte, fühlte sich hart und kalt an. Hawkril schob ein paar Finger hinab, um den Weltenstein festzuhalten, sobald sie sich voneinander lösten. Aber dann musste er feststellen, dass die Edle ihn immer noch so fest umschlossen hielt wie ein Raubtier seine Beute. Als seine Finger die ihren berührten, fuhr Embra erschrocken zurück und starrte den Hünen entsetzt an. Doch dann brach sie von neuem in Tränen aus und klammerte sich noch verzweifelter an ihm fest als vorher. Hawkril hielt sie, bis ihre Tränen versiegt waren, blieb aber weiter auf der Hut vor Feinden. Dort und dahinten lagen die Teile seiner Rüstung. Hier vorn standen seine Stiefel. Dort drüben ein zerschmetterter Schrank, unter welchem die Reste von zwei unglücklichen Dienern hervorlugten. Dazu die Trümmer eines Bettes und ein Schwert, das eigentlich Embra nehmen könnte ... Als die Zauberin zu schluchzen aufgehört hatte, sprach der Hüne sanft: »Herrin, wir sollten zusehen, dass wir von hier fortkommen. Wir müssen die anderen Hochfürsten finden und uns mit ihnen zusammen verteidigen. Haltet Ihr Euch mit dem Weltenstein bereit, während ich alles einsammele, was wir noch benötigen. Und denkt darüber nach, für welchen von diesen sechs Ausgängen wir uns entscheiden sollen.« Die Edle schluckte, atmete tief ein, schluckte noch einmal und nickte dann. Ihr Gesicht war immer noch so bleich wie Mondenschein, aber als Hawkril die Zauberin wieder ansah, brachte sie so etwas wie ein schiefes Grinsen zustande.
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Der Hüne legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter, ehe er sich an die Arbeit machte. Schon wenig später stand er mit einer gefüllten Brustplatte wieder vor ihr. »Reicht mir den Dwaer, und fangt an, mir die Rüstung anzulegen.« Geduldig wartete der Recke, bis sie sich vor Lachen ausgeschüttet hatte, um dann wieder heftig zu weinen. Embra wusste, dass sie von nun an gar nicht anders konnte, als ihn immerdar zu lieben. Die Zauberin legte ihm alles mehr oder weniger unbeholfen an, ließ sich nicht von eingeklemmten Fingern aufhalten, wärmte sich an seiner Freundlichkeit und genoss das Gefühl, diesen Bären von einem Mann zu lieben ...
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Wie man Hochfürsten aufs Äusserste beeindruckt C »Wacht auf, Herr!« Die Stimme, welche von jenseits der Kerze ertönte, klang jung und beharrlich. Der Tersept von Stornbrücke rieb sich die Augen und knurrte: »Was gibt es denn? Und nehmt endlich das verdammte Licht aus meinem Gesicht!« »Erhebt Euch, Herr! Die Burg wird angegriffen!« »Wer? Was?« »Die Hochfürsten erschlagen Eure Mannen, Herr! Überall in der Burg! Auf allen Gängen! Und sie legen auch Feuer! Zeigt Euch, Herr, ehe sie uns Stornbrücke über dem Kopf angezündet haben!« Der Tersept richtete sich auf, stieß eine Verwünschung aus, fuhr sich durch das schweißnasse Haar und erschrak über das, was er im Spiegel zu sehen bekam ... Plötzlich stieß ein Schwertgriff zwischen ihn und seine Abbildung. Zu seiner Beruhigung erkannte er einen Moment später, dass es sich um seine eigene Waffe handelte. »Euer Schwert, Herr«, erklärte der Diener überflüssiger-
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weise. Der Burgherr starrte erst auf die Klinge und dann auf den Diener. »Wo sind Alais und Jhaundra? Euch kenne ich nicht!« Das Gesicht des Mannes mit dem Schwert veränderte sich, und dann sprach er mit deutlich dunklerer Stimme: »Aber natürlich tut Ihr das.« Stornbrücke zuckte zusammen. »Reißzahnbruder Maurivan?« »Stets zu Diensten«, entgegnete der Schlangenpriester unterkühlt. »Und jetzt steht endlich auf, zieht Euch an, und stellt Euch ein Stück vom Bett entfernt hin, sonst wird Euch das jetzt mehr weh tun als normal!« »Was wird mir mehr wehtun?« »Macht endlich!« Der Tersept setzte sich wirklich in Bewegung. Er hatte den Tonfall des Schlangenpriesters erst zweimal vernehmen dürfen, und dabei waren stets Männer zu Tode gebracht worden – beim ersten Mal wegen Ungehorsams und beim zweiten Mal, weil sie etwas zu langsam gewesen waren. Als Stornbrücke dann bibbernd in der Finsternis stand – denn der Priester verdeckte mit seinem Körper das Kerzenlicht –, befahl Maurivan streng: »Arme ausstrecken und Beine auseinander!« »Was habt Ihr vor –« »Schweigt!« Einen Moment später erhielt dieser Befehl noch eine Ergänzung: »Haltet endlich stille, wenn Ihr nicht auch noch verstümmelt werden wollt!« Die Drohung erzielte Wirkung, denn der Tersept stand wie erstarrt da und wagte kaum zu atmen. Nur das Bibbern
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vermochte er nicht ganz zu unterdrücken. Er ließ sich auch – jedenfalls äußerlich – nicht aus der Ruhe bringen, als die Bestandteile seiner Rüstung aus unterschiedlichen Ecken heranströmten. Sie trieben heran, als könnten sie fliegen. Der Tersept ließ sich davon nicht täuschen. Natürlich steckte die Zauberkraft des Schlangenpriesters dahinter. Maurivan selbst stand jedoch nur ganz ruhig da, während die einzelnen Platten und Schienen heranschwebten, sich am rechten Platz einfanden und sich mittels Bändern aneinander befestigen ließen. Nun kamen auch die Stiefel herbeimarschiert und blieben vor den Füßen des Burgherrn stehen. Der Tersept stieg hinein, fluchte leise vor sich hin, weil er sich in der Rüstung ausreichend geschützt fühlte, und zuckte mehrfach zusammen, als die Metallkanten sein Fleisch zwickten. Nie zuvor hatte der Burgherr seine Rüstung ohne Unterzeug getragen, und jetzt hing sie zu lose und schief an seinem Körper. Manche von den Rändern erwiesen sich als verflucht scharf. Stornbrücke bemühte sich aber, sich nichts von seinem Verdruss und seiner Furcht anmerken zu lassen, als der Schlangenanhänger ihm ein zweites Mal das Schwert hinhielt, diesmal komplett mit Gurt und Scheide. Seine vier Dolche folgten auf dem Fuße. »Ich bin so weit«, erklärte der Tersept und griff nach seinem Helm. Diesen pflückte er rasch aus der Luft, bevor dieser ihm schaden konnte.
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»Wohin?«, fragte Stornbrücke dann nur. »In den Vorraum des Hauptmanns der Wache.« »Zu Ryethrel? Dann habt Ihr ihn also auch geweckt? Aber warum ist er dann nicht –?« »Weil er tot ist, deswegen! Er führte einen törichten Angriff auf den Riesen, welchen sie Hawkril nennen, und starb mit vielen anderen durch das Zauberwerk der SilberbaumHexe. Sie wollten ihn im Schlaf niedermachen, aber seine Buhle hat ihren Dwaer eingesetzt und sie alle an die Wand geschleudert.« Der Tersept öffnete den Mund, um etwas darauf zu entgegnen, aber weil ihm nichts Gescheites einfiel, klappte er stattdessen das Visier seines Helms herunter. Dann begann er mit dem Marsch aus seinem Raum. Obwohl er sich so vorsichtig wie möglich bewegte, zwickte und zwackte es ihn doch unentwegt in die nackte Haut. Auf den Stufen hinunter zur Kammer des Hauptmanns wurde es dann noch ärger. Der Burgherr machte sich unterwegs nicht die Mühe, sich nach Maurivan umzusehen, denn er durfte sich sicher sein, dass der Schlangenpriester ihn stets im Auge hatte, wohin er sich auch wenden mochte. Er argwöhnte ohnehin schon seit einer ganzen Weile, dass der Schlangenmann ihn bei Tag und bei Nacht unter Beobachtung hielt. Aber beruhigen konnte ihn dieser Verdacht nicht, weder jetzt noch sonst wann. »Nur noch ein Stückchen weiter«, keuchte Tschamarra und zog mit aller Kraft an Craer. Er stöhnte und sackte auf einer Stufe zusammen.
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Nicht weit von ihm drang ein Wurfschwert in die Holzvertäfelung ein. Der Beschaffer verfluchte sich und die ganze Welt und erhob sich, um die Zauberin zu unterstützen. Unter ihnen ertönten Rufe und Geschrei. Die beiden waren eine Treppe hinunter- und eine andere wieder hinaufgeflohen, und die ganze Zeit über waren die Soldaten hinter ihnen her. Tschamarra verfügte über keine nennenswerten Zauber mehr, und Craers Kräfte ließen immer mehr nach. Sicher, die Zauberin vermochte noch, Licht zu erzeugen und mit einem Bann Gesichter zu verändern, aber darüber hinaus ... Im unteren Gang, wo man die beiden Damen untergebracht hatte, wimmelte es überall von Soldaten, Wachen, Kammerknaben, welche wild mit ihren Waffen herumfuchtelten und ansonsten den Eindruck hinterließen, lieber weit weg zu sein und es sich gut gehen zu lassen. Damit blieb den beiden jetzt keine große Wahl mehr. Sie hatten sich hier oben verborgen, während die halbe Burgbelegung hinter zwei Unglücklichen her gewesen war, welchen die Zauberin ihre und Craers Gesichtszüge verliehen hatte. Die Soldaten, welche vor Hawkrils Gemach lauerten, schienen dort nicht so bald weggehen zu wollen. Craer hatte eine Verwundung an der Schulter abbekommen, als er zwei dieser Bewaffneten erschlug, um Tschamarra genug Zeit zu verschaffen, eine Tür nach der anderen zu öffnen und eine Fluchtmöglichkeit zu entdecken. Und so stolperten die beiden jetzt durch einen ihnen unbekannten oberen Gang, welchen nur das Mondlicht beleuchtete.
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Die ganze Zeit über richtete sich ihr Hauptbemühen darauf, die beharrlichsten ihrer Verfolger abzuwehren. Und sie fragten sich, in welche Not sie wohl geraten würden, wenn der neue Tag erwachte und die ganze Burg auf den Beinen sein würde. Sie hatten unzählige Türen aufgerissen, etliche Schlafende in ihrer Ruhe gestört, bevor sie endlich die Treppe fanden, welche sie jetzt hochhasteten. Stufen führten weiter nach oben, und die beiden hofften, diese mögen in einen Turm hinaufführen, in welchem sie sich verbarrikadieren könnten. Der Zauberin war aber auch das schon fast gleichgültig. Das Feuer in ihren Eingeweiden brannte wie verrückt, und der Schweiß strömte ihr über die Haut und floss sogar in ihre Stiefel. Das alles löste in ihr so etwas wie Betäubung aus. Mittlerweile war ihr alles egal geworden, aber tief unter der Oberfläche brodelte Wut. Ein dunkler, heißer und tief reichender Ärger, wie sie ihn nicht kannte. Er glich in überhaupt nichts den launischen Ausfällen, für welche sie gefürchtet wurde. Der neue Zorn schien sich vielmehr wie eine Flutwelle in ihr zu sammeln, welche alles überfluten würde. Tschamarra schmeckte ihn wie Galle und fragte sich, was wohl aus ihr werden würde, wenn die Wut sie endgültig übermannte. Hinter oder besser unter ihnen erklang ein heiserer Schrei, als sei jemand gerade von einem Schwert durchbohrt worden und wisse nicht, wo die Waffe hergekommen war. Die Letzte der Talasorn drehte sich um und zauberte sich etwas Licht.
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Der erste Eindruck hatte nicht getrogen. Weiter unten stand der Hochfürst Schwarzgult und wirkte Zoll für Zoll überlegen – auch wenn er vom Scheitel bis zur Sohle mit getrocknetem Blut beschmiert war. Eben zog er sein Schwert aus dem Rücken seines sterbenden Opfers. Hinter dem Goldenen Greifen erschien Embra und schaute nach oben. Sie hielt den Weltenstein in der Hand. »Wenn Ihr Magie einsetzt«, erklärte die Fürstin, »vermag man Euch wirklich leicht aufzuspüren. Aber Ihr bewegt Euch so geschwind, dass man dennoch Mühe hat, zu Euch aufzuschließen.« Die Letzte der Talasorn vermutete, dies sei ironisch gemeint, deswegen entgegnete sie: »Craer ist verwundet, sogar ziemlich schwer.« »Wir sind schon auf dem Weg, mein Fräulein!«, rief der Hüne. Man konnte ihn gut verstehen, aber noch nicht sehen. »Sorgt Euch nicht. Unseren ehemaligen Regenten hier hatte man wie einen waidwunden Hirschen ausgenommen, als wir ihn gefunden haben, und jetzt ist er schon wieder munter wie ein Fisch im Wasser.« Tschamarra schaute hinunter und erkannte, dass der Greif ebenso sehr schwitzte wie sie. »Oder auch nicht, wenn man das Gift in Betracht zieht.« Schwarzgult stieg zu ihr herauf. »Embra hat sich auch darum gekümmert, aber ich verstehe, was Ihr meint. Mehr noch, ich erkenne, dass Ihr an derselben Krankheit leidet wie ich. Doch nehmt einen Rat von mir an: Bittet die Fürstin Silberbaum nur ja nicht darum, Euch mit dem Weltenstein zu
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heilen. So etwas tun nur solche, welche das Gefühl lieben, am Spieß geröstet zu werden, nachdem man vorher von innen nach außen gewendet wurde!« »Seid Ihr jetzt gewendet, oder hat sich die Sache wieder zurückentwickelt?« »Bin wieder ganz der Alte«, grinste der ehemalige Regent. »Aber jetzt wollen wir uns lieber um Euren jungen Liebsten kümmern.« Er schnüffelte. »Hm, der Gute riecht irgendwie, als hätte er bereits am Spieß gesteckt.« »Na, Ihr seid mir ja vielleicht ein Trost, so richtig, wie man sich einen Großvater wünscht«, beschwerte sich die Zauberin. »Mädchen, solche Dinge überlasse ich mit Handkuss Hawkril und meiner Tochter; die beiden sind sicher die besten Tröster im Königreich. Was mich angeht, so ist von mir nur ein übellauniger alter Sack übrig geblieben. Alle Sünden der Vergangenheit rächen sich eben im Alter.« »Das würde ich mir zu gern mal ansehen.« »Wenn Ihr lange genug lebt, könnt Ihr das bei Euch selbst beobachten. Aber nur, wenn Ihr es Euch abgewöhnt, zu den richtigen Leuten das Falsche zu sagen.« Embra beugte sich bereits über den Beschaffer, welcher ausgebreitet auf den Stufen lag. »Könntet Ihr wohl für einen Moment damit innehalten, meinem Vater schöne Augen zu machen?«, ermahnte die Edle Tschamarra. »Ich könnte nämlich bei Craer etwas Hilfe gebrauchen. Ihr müsst ihn festhalten. Gut möglich, dass er sich dreht und wendet. Vater, Ihr haltet ihn bitte an den Füßen fest. Ich möchte,
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dass Ihr dabei seid und fühlt und seht, was ich tue. Wenn’s Euch wieder im Bauch zwickt und ich Euch auffordere, von uns abzulassen, unterbrecht Ihr sofort jede Verbindung mit uns, ganz gleich mit wem.« Ohne sich zu dem Hünen umzudrehen, fragte sie besorgt: »Seid Ihr da, Hawkril?« »Ja, ich halte hier Wache«, erhielt sie zur Antwort. »Bislang lassen sich hier noch keine Büttel von Stornbrücke blicken.« Die Herrin der Edelsteine seufzte und meinte dann: »Über kurz oder lang werden sie aber kommen. Die vergessen uns ganz bestimmt nicht.« Embra richtete nun all ihre Gedanken und ihren ganzen Willen auf den Weltenstein. Die Haare standen ihr vom Kopf ab, als führe ein kräftiger Wind hindurch, und der Dwaer löste sich einen Fingerbreit von ihrer Handfläche und drehte sich um die eigene Achse. Tschamarra ließ ihren eigenen Lichtzauber verlöschen, als der Weltenstein danach griff. Gleichzeitig ging ein starkes Leuchten von dem Dwaer aus, und einen Moment später bog Craer wie ein bockendes Tier den Rücken durch. »Festhalten, habe ich gesagt!«, fuhr Embra die Letzte der Talasorn an. Der Beschaffer gab tierische Laute von sich und wand sich weiter. Ohne lange nachzudenken, warf die Fürstin sich wie eine Bauerstochter, die ein Ferkel einfangen will, auf den zierlichen Mann. Sie umklammerte den Stein mit beiden Händen und hielt Craer mit Ellenbogen, Knien und Schenkeln unten. Tschamarra legte den Kopf weit in den Nacken, um nicht von Embras Stiefeln getroffen zu werden. Sie stemmte sich
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mit aller Kraft auf Craers Schultern und bekam zu ihrem Schrecken mit, wie Schwarzgult von den Füßen des Beschaffers hin und her geschleudert wurde. Und mit einem Mal vergingen die Krämpfe Craers genauso rasch, wie sie über ihn gekommen waren. Er schlug die Augen auf, strahlte die Runde an und meinte: »Mehr! Mehr! Gebt mir mehr davon! Fürstin, warum habt Ihr noch die Kleider an! Wenn schon, gebt mir auch alles!« »Offensichtlich fehlt ihm gar nichts mehr«, bemerkte Hawkril. Tschamarra boxte Craer in die Seite, und er grinste sie frech an. »Auf mit Euch«, befahl die Edle dem Genesenen und stieg von ihm herunter. »Eure Dame bedarf jetzt Eurer, denn sie ist mit der Heilung an der Reihe.« Tschamarra kam nicht einmal dazu zu blinzeln, da war der Beschaffer auch schon aufgesprungen, hatte sich hinter sie gestellt und packte ihre Handgelenke. Schwarzgult nahm sich wieder die Füße vor. Embra richtete erneut den Weltenstein aus. »Euch dürfte ... ja wohl ... klar geworden sein ...«, keuchte die Letzte der Talasorn, während sie zuckte, sich wand und versuchte, sich beim Sprechen nicht auf die Zunge zu beißen, »dass wir ... ohne diesen ... Stein ... verloren wären ... Ich bete ... darum ... dass seine ... Kräfte nicht ... begrenzt sind ... und wir eines ... Tages ... feststellen müssen ... dass wir ... sie erschöpft haben!« Dann breitete sich rasendes Feuer in ihr aus, und für eine Weile verlor sie die Fähigkeit, zu sprechen oder mit den Sinnen etwas wahrzunehmen. Als die Letzte der Talasorn wieder sehen konnte, heftig
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zitterte und in ihrem eigenen Schweiß schwamm, sprach Embra: »Darum bete ich auch, denn unsere einzige Hoffnung, den morgigen Tag zu erleben, besteht darin, fest zusammenzustehen. Dann können wir drei unsere Zauberkräfte mit dem Dwaer verbinden. Craer und Hawkril dürfen solange wieder unsere tapferen Haudegen sein und uns die Seiten und den Rücken decken. Und vor allem, keine blöden Bemerkungen mehr, haben wir uns verstanden, Craer?« »Keine? Nicht einmal eine? Eine klitzekleine?« Der Beschaffer zog ein Gesicht, als habe man ihm gerade sein Butterbrot geklaut. »Nein!«, antworteten ihm alle anderen im Chor. »Gönnt den Damen eine kleine Pause, alter Freund«, meinte Hawkril noch. »Sie brauchen ihren Kopf jetzt, um ihn sich über Zaubersprüche und Ähnliches zu zerbrechen. Eure Scherze überfordern sie dabei nur. Wenn Ihr nicht den Mund haltet, kommen wir nämlich nie hier heraus.« Er sah Embra kurz an. »Diese Stufen münden bestimmt in einen Turm. Wenn sich hier irgendwo noch Schlangenpriester oder Magier herumtreiben, haben sie dort ganz gewiss eine Falle für uns errichtet.« Die Fürstin nickte. »Das sehe ich auch so. Ihr und mein Vater denkt euch deswegen einen Plan aus, wie wir vorgehen wollen. Schließlich kennt ihr beide euch viel besser in Burgen aus als wir anderen.« »Mir würde es schon reichen«, wandte Schwarzgult ein, »einen Weg zu finden, um am Leben zu bleiben. Vielleicht
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reicht es ja schon, hinauf auf die Zinnen zu gelangen, dann könntet Ihr uns mit einem Sprungzauber von hier fortbringen. Hawkril und ich müssten nur dafür sorgen, dass uns keine feindlichen Bogenschützen stören können.« »Hört sich für mich ganz so an, als hätte die Sache einen Haken«, murmelte Tschamarra. Warum spürte sie schon wieder eine solche Hitze in sich, wo sie doch gerade erst geheilt worden war? Hawkril lächelte. »Natürlich vermögen wir noch viel mehr. Wenn wir auf den Tersepten stoßen, haben wir es auch nicht weit bis zu den Schlangenpriestern, welche sich hier auf der Burg eingeschlichen haben, und dann können wir weitersehen.« »Aber bis wir den Tersepten aufgespürt haben, müssen wir bestimmt noch ein paar Dutzend Soldaten und Diener abmurksen«, wandte Craer mit düsterer Miene ein. »Ja, richtig«, lachte der Hüne, »worauf warten wir also noch? Selbst wenn wir bei Sonnenaufgang immer noch Wächter, Soldaten und Kammerknaben niederhauen sollten, kann uns doch niemand vorwerfen, wir wären die ganze Zeit untätig geblieben.« »Also gehen wir die Treppe zurück«, schlug Schwarzgult vor, »erschlagen jeden, der uns schief anguckt, und machen jeden einen Kopf kürzer, der bei unserem Anblick Alarm schlagen will. Also, Freunde, passt auf, nicht in eine Ecke oder an eine andere Stelle zu gelangen, wo man euch leicht umzingeln kann. Wollen wir also der Burgbesatzung zum Tanz aufspielen und sie hüpfen lassen. Ich glaube, wir können die hiesigen
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Schwertschwinger gehörig aufs Haupt schlagen, ehe sie uns überwältigt haben. Wenn einer von euch eines Schlangenpriesters ansichtig wird, gebt sofort und ohne falsche Scham Laut!« »Wie angenehm, einmal klare und deutliche Befehle zu empfangen«, meinte Embra. »Überlegt Euch, was Ihr sagt«, warnte der ehemalige Regent, »denn die Schurken und Bösewichter nutzen die Sehnsucht der Menschen nach einer klaren Linie schon seit mindestens fünfzig Sommern aus, um in großen Teilen Aglirtas ihr Unwesen zu treiben.« Die Fürstin streckte ihm die Zunge heraus. Er zahlte es ihr mit gleicher Münze heim, ehe er Hawkril die Treppe hinunter folgte. »Burg Stornbrücke mag ja von unbeholfenen Trotteln beherrscht werden«, bemerkte der Schlangenpriester Hanenhather, »aber dafür verhält es sich ja mit uns und unseren Giften anders. Deswegen darf ich meiner freudigen Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es zur Stunde in Aglirta ein paar Hochfürsten weniger gibt.« Bruder Landrun kicherte unbehaglich. Hanenhathers Stimmung hatte in den letzten Tagen ständig geschwankt. Selbst jetzt hatte er die Hände erhoben, um sofort einen Bann wirken zu können. »Verliert Eure Gestalt, Langzahn«, erklärte der Schlangenfürst jetzt, und Magie strömte aus seinen Fingern, »und zeigt Euch uns als Embra Fürstin Silberbaum. Als eine Herrin der Edelsteine, mein lieber Landrun, welche sich meinen Wünschen viel offener fügen wird, als es der echten Edlen jemals
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einfiele.« Landrun beobachtete, wie sich die behaarte Wolfsspinne in eine schlanke und wohl geformte Menschenfrau verwandelte. Nackt und verwirrt schaute sie mit großen Augen um sich, während der Schlangenfürst sich das Kinn rieb und schließlich meinte: »Mit ihren Augen stimmt etwas nicht ... ja, es steckt kein Leben in ihnen, nichts von dem Silberbaum-Feuer.« Er hob beide Hände und befahl seinem Untergebenen: »Bringt die dumme Dirne nach nebenan, Landrun, und fangt die Felskatze ein. Wir wollen doch nicht, dass sie an unserer teuren kleinen Hexe herumknabbert.« »Ich soll die Felskatze einfangen, Herr?« »Ja, Ihr habt recht verstanden, Bruder. Lasst Euch von ihr hier hereinjagen, und geht ihr danach tunlichst aus dem Weg. Wenn Ihr nicht spurt, verwandle ich Euch vorher in diesen kleinen Beutelschneider Craer. Dann würde die Felskatze Euch mit zwei Bissen verschlingen!« Der Reißzahnbruder schluckte und warf einen raschen Blick auf Hanenhather. Der Schlangenfürst lächelte wieder selbstzufrieden und rätselhaft. »Wohin nun, Vater?«, keuchte Embra. Alle mussten verschnaufen. Die unter ihnen liegenden Stufen waren mit Leichen von Soldaten und Dienern aus der Burg Stornbrücke übersät. »Ja, das möchten wir alle gern wissen«, schnaufte Tschamarra. »Wir lauschen gebannt Euren Worten, edler Herr.« »Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube«, entgegnete der ehemalige Regent. »Ich befürchte nämlich, dass Ihr meinen Ausführungen kaum Folge leisten werdet.
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Ehrlich gesagt, das würde mich sogar richtiggehend verblüffen. Also, alle hergehört: Wir laufen diesen Gang bis zum Ende hinunter, gelangen durch den Turm dahinten, begeben uns danach zum nördlichen Torhaus und steigen dort die Gesindetreppe hinunter – nicht etwa die schöne breite für die Wachen. Und dann, Herrschaften, schleichen wir uns in die Burg zurück und gehen auf die Jagd nach Schlangenpriestern. Ach, ehe ich es noch vergesse, wir bleiben natürlich die ganze Zeit über dicht beisammen.« Die Letzte der Talasorn runzelte die Stirn. »Das NordTorhaus, also ich weiß nicht so genau, wo ...« »Die erste und oberste Regel beim Betreten einer fremden Burg«, zitierte Hawkril, »lautet: ›Präge dir ihre Lage ein, und merke dir vor allem ihren Aufbau im Inneren.‹« Die Zauberin seufzte. »Bevor ich nach Aglirta gekommen bin, war mir doch ein irgendwie einfacheres Leben vergönnt. Da musste man nur die Hand aufhalten, das entgegennehmen, was die Diener hineingelegt hatten, und weiterziehen.« »Und genau mit dieser Methode finden Könige hier im Flusstal den Tod«, klärte Craer sie auf. Tschamarra verdrehte die Augen und zeigte dann auf Schwarzgult. »Also tun wir das, was er vorgeschlagen hat. Worauf warten wir dann noch?« »Ein Wunder!«, murmelten Embras Vater und Hawkril wie aus einem Munde, sahen einander verwundert an und brachen in Gelächter aus. »Kerle!«, zischte die Edle Talasorn. »Wie die kleinen Kinder!«, bemerkte die Zauberin altklug.
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Der erste Wächter, welchem sie begegneten, schlummerte vor sich hin und wachte erst auf, als Craer ihm den Speer aus den Händen riss. Der Mann fiel von seiner Bank und landete auf dem Boden. Der Hüne packte eine andere, mannshohe Bank und ließ sie auf den Soldaten krachen. Dieser stöhnte, streckte alle viere von sich und war schon wieder im Land der Träume angelangt. Die Gefährten liefen schon weiter, durchquerten die Wachstube und gelangten auf den dahinter liegenden Gang. Hier draußen, am sich verjüngenden Ende von Burg Stornbrücke, gab es keine Türme auf der dem Burghof zugewandten Seite. Durch die zahlreichen Fenster im Gang drang eine Flut hellsten Mondenlichts herein. Das fahle Leuchten bestrahlte die grimmig dreinblickenden Bildnisse einiger längst verschiedener ehemaliger Burgbesitzer. Keiner von diesen zog auch nur eine Braue hoch, als die Gefährten an ihnen vorbeieilten. Sie erreichten die nächste Tür, und die erwies sich ausnahmsweise als unbewacht. Dahinter gelangten sie ins Torhaus, und von den beiden Treppen drangen Stimmen zu ihnen herauf. Die Treppenhäuser hatten keine Türen und führten geradewegs in den Raum hinein, in welchem sich die Gefährten gerade zu verstecken versuchten, und sie mussten sich eingestehen, dass das Leben auf der Burg bereits erwacht war. »Passt auf, Chalance«, erklärte gerade jemand in einem Tonfall, als sei er es überdrüssig, das noch einmal klarstellen zu müssen, »wenn sie fliehen wollen, müssen sie das entweder am Südtor, am Stornturm oder hier versuchen.
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Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Vornehmtuer wie die Hochfürsten sich irgendwo von den Zinnen stürzen oder durch Fenster springen, um im Burggraben zu landen. Auch vermag ich kaum zu glauben, dass die Gefangenen sich durch die ganze Burg schleichen, um am gegenüberliegenden Ende den Versuch zu unternehmen, uns zu entkommen. Dort wären sie nämlich schon längst entdeckt worden, und dann befände sich jeder Soldat der Burg bereits auf dem Weg dorthin. Was sagt uns das alles also? Richtig, dass die Burschen und die Hexen noch irgendwo auf Stornbrücke herumirren. Irgendwann kommen sie hier vorbei, da könnt Ihr einen drauf lassen. Unsere Aufgabe besteht deswegen darin, uns hier mit unseren Bogen auf die Lauer zu legen, uns still zu verhalten und nur dann zu schießen, wenn wir sie genau vor uns haben. Irgendwann wird den Hochfürsten dann das Spielchen zu dumm, und sie verlassen die Treppen, um den Priestern genau in die Arme zu laufen. Und noch etwas: Wir haben strengen Befehl, wenigstens eine der Hexen am Leben zu lassen. Aber sie darf keine Banne mehr bewirken. Ob wir ihr nun die Handgelenke und die Finger brechen oder ob wir ihr die Zunge herausreißen, bleibt völlig uns überlassen – wir sollen sie nur am Leben lassen. Darauf hat Pheldane allergrößten Wert gelegt, verstanden?« »Was für ein Zufall«, murmelte Embra, »mit dem Herrn wollte ich nämlich auch noch ein Hühnchen rupfen.« »Wenn ich hier oben Posten aufgestellt hätte«, flüsterte
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Tschamarra der Fürstin zu, »dann hätte ich ein Spionauge angebracht, damit man rechtzeitig von unserer Ankunft erfahren könnte.« »Die Schlangenpriester haben einen Zauber bewirkt, der alle gegnerischen Spionaugen zerstört«, erwiderte die Herrin der Edelsteine. »In ihrem Hochmut glauben sie, jeder andere würde es ebenso halten.« Damit verfiel die Edle in Schweigen und befasste sich mit ihrem Weltenstein. Nach einer Weile bemerkte Embra leise: »Über kurz oder lang werden sie hier ein solches Auge einsetzen, am ehesten auf der anderen Seite des zweiten Torbogens, damit die Schlangenpriester es früh genug erfahren, wenn wir zu ihnen unterwegs sind. Ich glaube, den Schlangen ist es gleichgültig, was aus den Bogenschützen wird. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass den Bogenschützen das bewusst ist.« »Und was schlagt Ihr deswegen vor?«, fragte Craer und berührte Tschamarras Hand, um an der leise geführten Debatte besser teilhaben zu können. »Wir schicken einen Feuerstrom die Treppe hinunter, auf welcher sich die Bogenschützen aufgebaut haben, schreien dabei wie am Spieß und schleichen uns in Wahrheit zur Tür zurück, um durch sie hindurchzuschlüpfen, sie hinter uns zu schließen und dann auf die Verfolger zu warten.« »Ein schlauer Plan, der leider einen Schönheitsfehler hat«, schüttelte Schwarzgult den Kopf. »Nämlich die Dutzende von Soldaten, welche sich in unserem Rücken befinden und uns verfolgen.« Er rieb sich über die Nase. »Was haltet ihr davon: Wir werfen einen falschen Dwaer die Treppe hinunter, an deren
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Fuß die Priester warten. Ein eigenes Spionauge schicken wir hinterher ... Moment mal, natürlich müssen wir zuerst einen Flammenstoß an den Steinbogen schicken, um das Spionauge unserer ›lieben Freunde‹ zu zerstören. Danach stürmt Hawkril unter dem Schutz seines Schildes die Treppe der Bogenschützen hinunter. Dicht gefolgt von Embra, welche mit ihren Flammenspeeren jeden Feind ausschaltet, bevor der die Waffe heben kann. Unten dürfte ein Flammenmeer ausbrechen, und in dessen Schutz huschen die beiden wieder zu uns herauf. Wir alle gehen dann gemeinsam die Priestertreppe hinunter, denn wir wissen ja inzwischen dank des Spionauges, wie viele Schlangenpriester sich dort unten zusammengerottet haben. Und noch etwas: Craer und Hawkril sollen die Decken im Auge behalten. Die Priester lieben es, Schlangen von oben herabfallen zu lassen.« »Igitt!«, entfuhr es der Letzten der Talasorn. »Ich hasse Schlangen im Haar.« Sie klang so entsetzt, dass alle zusammenzuckten. »Sind alle mit meinem Vorschlag einverstanden?«, drängte der ehemalige Regent. Niemand hatte etwas einzuwenden, und so liefen alle auseinander, um ihre Plätze einzunehmen. Das Spionauge der Schlangen befand sich tatsächlich genau dort, wo Embra es vermutet hatte. Es verging schon beim ersten Feuerstoß, und daraufhin erklangen Rufe. Letztere entwickelten sich zu lautem Geschrei, als der scheinbare Weltenstein in Sicht kam.
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Banne und Wurfwaffen umrahmten den Dwaer wie eine Wolke, und ein lauter Befehl verriet den Gefährten, dass die Schlangen offenbar glaubten, die Zauberin flöge mit dem Zauberstein unsichtbar heran. Da der Dwaer über sagenhafte Zauberkräfte verfügte, konnte man ihn ja schlecht mit einem fremden Bann überziehen, deswegen habe Embra ihn nicht unsichtbar machen können. Auf der anderen Treppe tobte bereits eine Feuersbrunst. Die Bogenschützen liefen aufgeregt hin und her und feuerten überall und nirgends hin. Einer nach dem anderen wurden sie schon kurz darauf von einem Flammenwall überrollt. »Na endlich, die Turmtreppe!«, keuchte Schwarzgult nach einer halben Ewigkeit voller Rennen und dem Austeilen von Schwertstreichen. »Wohin jetzt, Buben und Mädel, nach oben oder nach unten?« »Runter!«, knurrte der Beschaffer. Er hielt mehrere bluttriefende Dolche in der Hand. »Nein, nach oben!«, widersprach die Herrin der Edelsteine. »Denn oben stehen uns viel mehr Wege offen. Außerdem pflegen sich Schlangenpriester am obersten Punkt aufzuhalten, weil sie gern den Überblick behalten. Als Dieb müsstet Ihr das eigentlich wissen, lieber Craer –« »Bitte, allergnädigste Fürstin Silberbaum, für Euch immer noch ›Beschaffer‹. So viel Zeit muss sein!« Der zierliche Mann zog ein Gesicht wie eine aufs Äußerste schockierte Matrone. Aber rasch veränderte sich seine Miene wieder. »Abgesehen davon bin ich einverstanden. Also hinan!« »Jawohl! Dort treten wir unseren wahren Feinden endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber!«, freute sich Schwarz-
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gult schon. »Wir zahlen es ihnen Auge um Auge, Zahn um Zahn heim!« »Zuerst sollten wir einen Schild zaubern!«, wandte Tschamarra keuchend ein. »Einen für jeden. Dann können wir die Schlangen von Hawkrils echtem Schild ablenken. Gut möglich, dass die Priester sich mit Pfeil und Bogen bewaffnet haben.« Embra nickte, und wenig später stürmten die Gefährten mit schimmernden Schutzschilden weiter hinauf. Der oberste Gang wirkte verlassen, aber die Zauberin gönnte ihnen keine Rast. »Wenn wir als Erste in die Kammer auf der anderen Seite gelangen, können wir sie besetzen. Sobald die Feinde dann heranspringen, angetrieben von den vielen Feuern, mit welchen wir sie plagen, dann –« In diesem Moment flog die Tür am anderen Ende auf, und Ritter in voller Rüstung und mit gezogenem Schwert quollen heraus. Mindestens sieben oder acht, welche sich jetzt zum Schildwall zusammenstellten und so gegen die Hochfürsten und ihre Begleiter vordrangen. Sie wirkten wie erfahrene Krieger. »Na endlich, eine richtige Schlacht!«, freute sich Craer und pfiff durch die Zähne. »Embra!«, zischte die Letzte der Talasorn. »Die Schilde hoch und aneinander gehalten! Wahrscheinlich müssen wir den Angriff einer Schlange abwehren!« Die Herrin der Edelsteine nickte und lächelte. Schwarzgult und Craer befanden sich neben dem Hünen, um dessen Seiten zu decken. Und so stürmten beide Kämpfergruppen aufeinander zu.
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Wie die beiden Zauberinnen erwartet hatten, zeigte sich nun hinter den Rittern der Erste Ritter Pheldane und ein hochmütig wirkender Mann in einer mit Schlangen verzierten Robe in der Tür. Pheldane zog sein Schwert und stellte sich schützend vor den Priester. Dieser hob daraufhin beide Arme und begann einen lauten und langsamen Singsang. »Bei der Herrin«, murmelte Tschamarra, »jetzt versucht er offenkundig, uns zu Tode zu beeindrucken.« Die beiden Frauen kicherten. Sie schleuderten ihre nun unsichtbaren Schilde, und diese flogen über den Ersten Ritter hinweg und trafen den Hals der Schlange von zwei Seiten. Um den Priester zu enthaupten, dafür waren die Schilde natürlich nicht scharf genug. Aber sie brachen dem Feind das Genick. Der Kopf rollte haltlos hin und her, und im nächsten Moment lag die Schlange reglos am Boden. Pheldane wurde von der Leiche getroffen und fuhr entsetzt herum. Aber da nutzte Tschamarra bereits die Zauberenergie der Schilde zu einem neuen Bann. Als die Ritter noch drei Schritte von den Gefährten entfernt waren, fuhren Blitze krachend zwischen sie. Hawkril und Embras Vater sprangen erschrocken einen Schritt zurück und verwünschten die beiden Zauberinnen, aber diese hatten gut genug gezielt. Die Ritter waren so gut wie tot, aber noch nicht so richtig: Einen wie den anderen hatte das Gewitter zu Boden geschleudert, und dort lagen sie immer noch und zuckten am ganzen Körper, ohne das im Mindesten aufhalten zu können. »Können wir weiter?«, rief der Beschaffer nach hinten, und
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Tschamarra rief ihm etwas Beruhigendes zu. Die drei Kämpfer sprangen nun über die Ritter hinweg und bauten sich dann vor Pheldane auf. Dieser leckte sich über die Lippen, trat vorsichtshalber einen Schritt zurück und wandte sich dann kurz entschlossen zur Flucht. Aber da hatte Craer ihn schon überholt. Im Rennen versetzte er Pheldane einen Stoß in die Seite und sprang dann zum Eingang, um dem Mann mit dem Schwert in der Hand den Weg zu versperren. »Seht ihn euch an, Freunde!«, rief der Beschaffer. »Haben wir da wirklich den Ersten Ritter des Tersepten vor uns oder nur einen erbärmlichen Feigling?« Pheldane grunzte etwas Unverständliches und hieb mit seinem Schwert nach Craer. Er musste diesen Wicht niedermachen, damit er durch die Tür konnte, bevor die zwei anderen ihn eingeholt hatten. Doch der kleine Mann wehrte die ersten Hiebe geschickt ab. Der Verwalter holte nun so wuchtig aus, dass der Beschaffer Stück für Stück zurückweichen musste. Der dritte Schwertschlag warf Craer zu Boden. Pheldane holte zum tödlichen Stich aus. Der Beschaffer trat dem Verwalter jedoch an die Knie, ehe die glänzende Schwertspitze ihn erreichen konnte. Das brachte Pheldane zum Schwanken. Er brüllte vor Wut. Wenn es ihm nicht im letzten Moment gelungen wäre, sich an der Türklinke festzuhalten, wäre er auf den Bauch gefallen. Dann riss der Erste Ritter an der Klinke und stieß so die Tür dem Beschaffer in den Rücken. Nun brüllte auch Craer, denn er rutschte hilflos über den Boden.
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Pheldane verschwendete keine Zeit mehr damit, dem Wicht den Garaus zu machen, sondern stampfte einfach über ihn hinweg und – Hawkril erreichte ihn mit einem gewaltigen Sprung und packte ihn am Ellenbogen. Beide krachten gemeinsam gegen die Wand. Der Verwalter kam als Erster wieder hoch und wollte weiter, als sich unvermittelt Schwarzgult mit seiner Klinge vor ihm zeigte. Die Schwertspitze zeigte genau auf Pheldanes Hals. Zurückweichend prallte der Verwalter gegen den Hünen, welcher sich gerade aufrichtete. Gemeinsam trieben die beiden großen Gefährten den Feind in eine Ecke, möglichst weit weg von dem stöhnenden Beschaffer. Hawkril wehrte alle Schwertangriffe des Ritters ab. Funken stoben, wenn Stahl klirrend auf Stahl krachte. Irgendwann duckte sich der Hüne, so dass der gegnerische Hieb über ihn hinwegfegte. Schon fuhr Hawkril wieder hoch und stieß sein Schwert bis zum Griff in die Spalte zwischen dem Unterleibsschutz und der Oberschenkelplatte. Pheldane brüllte und versuchte, den Recken mit Schlägen auf den Kopf zu vertreiben, doch Hawkril blieb unerschütterlich an seinem Schwert. Für einen Moment standen die beiden sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Der eine zitterte vor Todesangst und Unglauben, während sich bei dem anderen die Gesichtszüge vor Wut verzerrten. »Gnade!«, stammelte der Erste Ritter. »Besorgt mir einen Heiler, und Berge von Gold erwarten Euch ...« »Ihr stellt all das dar«, entgegnete der Hüne mit drohender
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Stimme, »was in Aglirta verdorben ist. Nämlich die Menschen, welche vor der Schlange niederknien und sich für ihr Geld verkaufen. Für Eure Berge von Gold habe ich keinerlei Verwendung. Deshalb sterbt, auf dass Ihr dieses schöne Land nicht länger besudeln könnt.« Und er drehte das Schwert in der Wunde und rammte es noch tiefer hinein. Pheldane schluchzte vor Pein, starrte mit großen Augen an die Decke und malte das Zeichen der Dreifaltigkeit in die Luft. Aber die Götter schenkten ihm keine Heilung, und keine Soldaten eilten herbei, um ihn von seinen Feinden zu erlösen. Offenbar hatten die höheren Mächte ihr Urteil über ihn längst gefällt. Genauso gut war es aber auch möglich, dass sie wie üblich gar nicht zugehört hatten ...
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Eine Nacht zum Burgenzertrümmem C Hawkril Anharu drehte noch einmal die Klinge in der Wunde. Der Mann am anderen Ende brach in Tränen und Würgen aus. Pheldane warf über die Schulter des Recken einen flehentlichen Blick auf Embra und Tschamarra, um ihre Herzen zu erweichen. Aber die beiden Zauberinnen starrten nur kalt zurück. Da fiel Onskur Pheldane das Schwert aus den kraftlosen Fingern, sein Unterkiefer erschlaffte, und seine Augen brachen. Hawkril riss sein Schwert aus der Wunde, und der Körper des toten Feindes brach zusammen. Der Ritter kam neben Craer zu liegen, der sich noch stöhnend über den Boden wälzte. »Da scheint einiges gebrochen zu sein«, stellte der Hüne fest. »Ich hoffe doch, die Tür lässt sich wieder flicken«, bemerkte die Letzte der Talasorn in gespielter Unschuld. Aber
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schon eilten die beiden Frauen zu dem Verletzten, um nach ihm zu sehen. Schwarzgult und Hawkril hielten Wache, während der Weltenstein wieder kreiste. Nach einer Weile kam der Beschaffer wieder auf die Beine, und zum Entsetzen aller hatte sein Mundwerk keinerlei Schaden erlitten. »Eine feine Erfindung, so ein Dwaer. Ich glaube, ich schaffe mir auch einen an.« »Darüber reden wir später«, entgegnete der Goldene Greif grimmig, denn schon drang von draußen Geschrei heran. Die Gefährten machten sich zum Kampf bereit. Dutzende Ritter von Stornbrücke strömten mit blitzenden Waffen heran. Im Hintergrund zeigte sich ein Priester, welcher sie unerbittlich antrieb. Craer betrachtete die Reihen der Soldaten und bemerkte dann aus dem Mundwinkel: »Vielleicht wäre jetzt der günstigste Zeitpunkt, edle Herrin, etwas wirklich Zerstörerisches zu bewirken!« »In der Tat, mir drängt sich dieser Eindruck ebenfalls auf«, entgegnete Embra ebenso geziert. »Ich verwandle unsere restlichen Schilde in etwas richtig Tödliches, solange unser geschuppter Freund dort nichts dagegen hat ...« An diesem Morgen blieb es der Herrin der Edelsteine offenbar verwehrt, all das auszusprechen, was sie eigentlich sagen wollte. Am anderen Ende des Ganges tauchte ein Feuerball auf, und ein lauter Befehl bewegte alle Ritter dazu, auseinander zu laufen und sich an die Wände zu drücken. Die ganze Burg schien zu erbeben, als sich die Flammenkugel in Bewegung setzte.
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Aber die Edle lächelte: »Er will einen zweiten Feuerball hinterherschicken, gleich hinter dem ersten. Wir müssen also nur den rechten Moment abpassen ...« »Ja, ja, das sagen die Zauberer immer«, beschwerte sich Craer, »dass wir nämlich den rechten Moment abpassen sollen. Aber wann der genau kommt, das verraten sie uns nie. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass die Magier immerzu aus einer Mücke einen Elefanten machen müssen. Je geheimnisvoller, desto lieber ...« Embra bedachte ihn mit einem strengen Blick, und der Beschaffer beendete vorläufig seine Ausführungen über die Eigenheiten der Bannschmiede. Doch schon beschäftigte sich die Zauberin wieder mit den dringlicheren Angelegenheiten. Sie bewirkte etwas an den magischen Schilden, woraufhin es auf deren Oberfläche zu tanzen begann, als seien dort tausend Lichtpunkte in Bewegung geraten. Die Feuerkugel raste auf sie zu und gewann laufend an Fahrt. Der flammende Ball krachte gegen den zauberischen Schutzschild, überschüttete die Gefährten mit einem Hitzeschwall, prallte dann zurück und rollte mit doppelter Geschwindigkeit in umgekehrter Richtung den Gang hinunter. »Und, hat er noch eine zweite Feuerkugel gezaubert?«, fragte Tschamarra ebenso leise wie dringlich. Die Zauberin grinste sie an. »Haltet den Weltenstein an dieser Stelle und helft mir, den Schild zu verstärken. Wir brauchen jetzt nämlich –« Die Sprengung, welche nun erfolgte, drohte ihnen das Trommelfell zu zerreißen. Der Boden wölbte sich, und sie
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alle fielen auf Hände und Knie. Körper- und Panzerteile der Ritter flogen wie Fetzen durch die Luft, Feuerstöße rasten in alle Richtungen, und Fliesentrümmer verwandelten sich in tödliche Geschosse. Alles zusammen drang mit derartiger Wucht auf den magischen Schutzschild ein, dass es Embra und die Letzte der Talasorn zuerst hochriss und gleich darauf wieder zu Boden schleuderte. Und nach einem Moment war alles vorbei. Die furchtbare Explosionskraft ließ von den Gefährten ab und trieb anderswo im Gang ihr Unwesen. Also hatte es eine zweite Flammenkugel gegeben, welche mit der zurückweichenden ersten zusammengestoßen war. Staub, Feuer und Rauch vereinten sich zu einer sich ständig ausdehnenden Wolke, welche sich wie ein Wall zwischen die Ritter von Stornbrücke und die Gefährten schob. Dann kreischte es in der Decke, welche kurz darauf barst und auf den Gang niederprasselte. »Zurück!«, kreischte die Herrin der Edelsteine. »Steinlawinen vermag ich nicht aufzuhal–« Der Rest ihrer Worte ging im Tosen unter. Craer stand mit offenem Mund da und beobachtete staunend, wie es von oben nicht nur Wände regnete, sondern auch Zimmereinrichtungen. Möbelstücke, Wandschmuck, Silberschalen und Nippes polterten herab. Da schloss sich Hawkrils Pranke wie ein Schraubstock um seine Schulter, und der Beschaffer wurde von seinem Freund hochgerissen und unter den Arm geklemmt. Keinen Moment zu früh, denn schon rauschte ein Stück Mauerwerk so groß wie eine Sitzgruppe mit Tisch von oben
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herab. Dieser Brocken verschleuderte mannsgroße Trümmerstücke, welche sich gleich an die Verfolgung der Gefährten machten. »Meine liebe Tochter«, schnaufte Schwarzgult während der Flucht, »ich wollte schon seit längerem ein ernstes Wörtchen mit Euch darüber reden, dass man fremdes Eigentum nicht einfach so kaputtschlagen darf. Aber angesichts dieser Zerstörung hier werde ich wohl –« »Bei den Krallen des Dunklen!«, überbrüllte ihn der Hüne. »Das ganze Dach kommt herunter!« Tschamarra musste natürlich gleich nach oben starren, geriet ins Stolpern und wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen. Dutzende Risse breiteten sich rasend schnell über die Decke aus, und schon lösten sich erste Brocken aus ihr. »Embra!«, kreischte die Zauberin. »Versucht ihr nur, durch die Tür dort zu kommen«, keuchte die Herrin der Edelsteine. »Ich bewege unseren Schild, um so ein künstliches Dach über uns zu errichten.« Hawkril schob den Beschaffer weiter vorwärts. Dank dieses Anstoßes erreichte Craer als Erster die Tür, stieß sie auf und stellte sich dann wie ein höflicher Diener daneben. Er begrüßte jeden hereinpolternden Gefährten mit einer Verbeugung und hielt dann die Hand auf. Embra kam als Letzte, hielt den Schild hoch und versetzte dem Beschaffer, weil sie keine Hand frei hatte, einen Tritt. Der spielte nämlich den formvollendeten Kavalier und wollte unbedingt der Dame den Vortritt lassen. Als die Edle endlich durch die Tür war, kam der gesamte Rest der Decke herunter. Keuchend blieben die Gefährten stehen und starrten auf
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das schreckliche Bild, welches sich ihnen jenseits der offen stehenden Tür bot. »Ach, übrigens, um Eure Frage von vorhin zu beantworten«, sprach Embra, wischte sich die Hände an den Hüften ab und lächelte die Talasorn-Zauberin an, »ja, doch, ich glaube schon, dass der Schlangenpriester einen zweiten Feuerball erschaffen hat.« Die Herrin Talasorn lachte etwas zu schrill und meinte dann: »Ich bin Eure Art nicht gewöhnt. Ihr vier verändert euch.« Als die Hochfürsten sie verwundert ansahen, fügte die Zauberin hinzu: »Aber ich verändere mich auch.« »Später unterhalten wir uns in aller Ausführlichkeit darüber, mein Fräulein«, meinte Schwarzgult begütigend. »Jetzt wollen wir solche Fragen auf sich beruhen lassen, weil wir uns erst in Sicherheit bringen müssen ... Wenn wir das einigermaßen geschickt anstellen, finden wir danach vielleicht die Gelegenheit, tief schürfende Dinge zu ergründen ...« Craer sah ihn mit großen Augen an: »Warnt mich bitte, wenn es jemals so weit sein sollte, dann melde ich mich nämlich freiwillig, etwas zu trinken besorgen zu gehen ...« Er wandte sich an die Edle. »Verzeiht, hochmögende Zauberin, aber warum können wir nicht einfach den Dwaer dazu einsetzen, den Standort der Schlangenpriester in dieser Burg festzustellen?« Embra seufzte unglücklich. »Auf dem Land, in den Dörfern und in jeder beliebigen Stadt dürfte das sicher nicht schwer fallen. Aber in den Burgen des Stromtals findet sich seit altersher so viel Magie angesammelt, dass hier nur sehr
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wenige Banne wirksam werden können ... Im Grunde genommen nur die, deren Zeuge Ihr eben geworden seid. Bedenkt nur die Schatten von all diesen Bannen, welche uns die Sicht versperren würden.« Der kleine Mann nickte. »Also laufen wir wieder mit unseren Dolchen und Schwertern durch die Gegend, versuchen, nicht gesehen zu werden, und wollen gleichzeitig unsere Feinde aufspüren. Nun gut, wo fangen wir an?« »Wir müssen ständig in Bewegung bleiben«, warf der ehemalige Regent ein, »auch wenn wir nur durch die Gegend stampfen oder im Kreis laufen. Sollten wir hingegen irgendwo in Stellung gehen oder uns an einem Punkt verschanzen, haben die Soldaten der Burg mit uns leichtes Spiel. Stillstand bringt uns den Tod!« »Jeder König wäre stolz, wenn ihm bei einer Ansprache ein Satz wie Euer letzter eingefallen wäre«, lobte der Beschaffer. Tschamarra verdrehte die Augen. »Craer! Wir befinden uns hier mitten in einer feindlichen Burg, wo uns Scharen von Feinden bedrängen, und Euch fällt nichts Besseres ein, als –« »Jetzt hört auf!«, gebot Hawkril mit einer Stimme, welche alle sofort verstummen ließ. Das wiederum rief bei ihm ein leises Lächeln hervor. Er setzte sich in Richtung Turmtreppe in Bewegung. »Wir begeben uns nun in das unter uns gelegene Stockwerk, laufen bis zur nächsten Treppe und steigen dort wieder nach oben bis zu den Zinnen. Einverstanden?« »Mir doch gleich, wenn wir nur aus dieser Mistburg he-
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rauskommen«, entgegnete die Letzte der Talasorn und fügte spitz hinzu: »Damit wir endlich ausreichend Muße und Ruhe finden, um uns tief schürfenden Fragen zuzuwenden. Ach, wo wir gerade dabei sind, warum wurde ich noch einmal in den erlauchten Kreis der Hochfürsten aufgenommen?« »Weil ich jemanden benötigte, der Craer bei Bedarf an der kurzen Leine hält«, antwortete der Goldene Greif und klang nicht im Mindesten spaßig. »Ihr schient mir gern bereit zu sein, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Und jetzt haltet uns bitte nicht länger auf und setzt wie ein braves Mädchen immer hübsch einen Fuß vor den anderen.« Die Zauberin warf ihm einen Blick zu, welcher zu besagen schien, dass sie diese Worte im Gedächtnis behalten würde, und zwar nicht im Guten. Dennoch befolgte sie gehorsam seine Aufforderung. Als sie weiter unten eine Tür öffneten, empfing sie zunächst nichts anderes als Finsternis. Embra runzelte die Stirn und fingerte an ihrem Weltenstein herum. »Diese Dunkelheit ist nicht natürlichen Ursprungs«, murmelte die Herrin der Edelsteine, »und wurde auch erst vor kurzem erzeugt. Etliche Feinde scheinen sich darinnen zu verstecken.« Craer grinste breit. »Ja, und warum stehen wir dann noch hier?« Embra grinste jetzt ebenfalls und schritt dann mit ihren Gefährten hinein ins magische Schwarz. Sofort flammten am Ende des Ganges mehrere Lichter auf, als man dort die Schutzklappen von den Laternen zog. In deren Schein erkannten die Gefährten etliche Dutzend gerüsteter Ritter. Diese scharten sich um eine ihnen allen bekannte
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Gestalt. »Na, wen haben wir denn da?«, höhnte der Burgverwalter Urbrindur mit lauter und kalter Stimme. »Sind das nicht die Verräter an der Krone, die Mörder der ehrlichen Männer von Stornbrücke, die Schurken, welche das Gastrecht mit Füßen treten, indem sie die schändlichste Bluttat von allen begehen – indem sie uns in unserem eigenen Heim mit Mord und Verwüstung überziehen? Für solche Untaten gibt es nur eine Strafe: den Tod! Im Namen der Sache des Königs verurteile ich euch falsche Edle zu –« Craer hatte herzhaft gegähnt, sich dann halb abgewendet, um unvermittelt herumzuschnellen und mit aller Kraft einen Dolch zu schleudern. Das Messer hatte einen weiten Weg zurückzulegen, und den Soldaten blieb ausreichend Zeit, die Schilde hochzuziehen und das stählerne Geschoss abzuwehren. Der Dolch prallte von ihnen ab, knallte an eine Wand und rutschte klappernd an derselben hinab. »Craer Delnbein! Bringt mir diesen Burschen lebend, meinetwegen verstümmelt, aber noch nicht tot. Für diesen feigen Mordanschlag auf mich sollt Ihr Wicht einen langsamen und schmerzensreichen Tod sterben!« Der Beschaffer gähnte noch einmal ausgiebig und spazierte dann ein Stück vor. »Mich deucht, Ihr habt zu viele Schundromane über Zauberer und Hexen gelesen. Gleich werdet Ihr uns bestimmt damit drohen, dass wir elenden Schurken allesamt unser wertloses Leben verwirkt hätten. Durch unseren Tod werde Aglirta leben. Oder lest Ihr so langsam, dass Ihr zu dieser Stelle noch nicht vorgestoßen seid?«
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»Tötet ihn!«, befahl der Burgverwalter den Rittern. »Mir steht nicht der Sinn danach, seinen unverschämten Äußerungen weiter zuzuhören.« Die Ritter rückten in fester Reihe vor, hatten es aber nicht übertrieben eilig. Ihren Gesichtern war anzusehen, dass ihnen die Mienen ihrer Opfer nicht besonders behagten. Nicht dass die Gefährten einen ausgesprochen furchterregenden Anblick geboten hätten. Vielmehr schlenderten sie ihren Feinden entgegen, als befänden sie sich auf einem Spaziergang. Die beiden Zauberinnen tratschten wie Waschweiber miteinander. Schwarzgult marschierte wie ein Familienpatriarch an der Spitze, und die beiden anderen Männer hätte man sich gut mit einem Picknickkorb am Arm vorstellen können. Die beiden Streitmächte befanden sich noch etwa sechs Schritte auseinander – und Craer war immer noch damit beschäftigt, mit dem Hemdsärmel einen unsichtbaren Fleck von seiner Schwertklinge zu wischen ... Da erfasste plötzlich eine unsichtbare Kraft die Ritter und drehte und zerrte an ihnen. Zuerst wehrten die Männer sich noch dagegen, aber dann konnten sie nicht mehr widerstehen und krachten allesamt ineinander. Gleichzeitig senkte sich vollkommene Stille über diesen Teil der Burg. Die Ritter in dem Knäuel brüllten, und man vernahm doch keinen Laut. Metall und Stahl krachten anund ineinander, aber man hörte nicht das leiseste Klirren. Embras Vater wich lächelnd den Wehrlosen aus, hob eine Hand und wob einen Zauber, welchen der Burgverwalter nicht kannte. Der Bann offenbarte sich Urbrindur erst, als Craer und
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Schwarzgult sich fast unmittelbar vor ihm befanden. Da setzte der Burgverwalter nämlich ein reichlich verunglücktes höhnisches Lächeln auf und versuchte gleichzeitig, die Tür zum Turm zu öffnen. Aber hinter ihm befand sich keine Tür, sondern nur solides Mauerwerk. Urbrindur stammelte wirres Zeug, von dem man dank der allgemeinen Stille leider nichts verstehen konnte. Im nächsten Moment versuchten seine Hände, etliche Dolche aus den unterschiedlichsten Taschen und Falten seiner Gewänder zu ziehen. Eisenharte Hände schlossen sich um seine Handgelenke und zwangen diese dazu, die beiden Dolche fallen zu lassen – mehr hatte er nicht herauszuziehen vermocht. Malvus Urbrindur erwartete nun eine weitere Erkenntnis. Wenn zwei Menschen sich anfassten, löste sich die allgemeine Stille zumindest für sie beide auf. Jetzt vernahm er nämlich die Worte des ehemaligen Regenten. »Ihr habt Recht«, teilte der Goldene Greif ihm wie ein eifriger Lehrer mit, »die Strafe auf Verrat lautet tatsächlich Tod. Die gleiche Strafe erwartet einen für den Mord an einem Adligen. Letzteres vor allem in dem Fall, dass ein Bürgerlicher das Gesetz des Königs in die eigene Hand nimmt. Hochfürst Delnbein wird Euch jetzt Eurer gerechten Strafe zuführen.« Craer richtete die Spitze eines wirklich verteufelt scharfen Messers an den Hals des Verurteilten und meinte unvermittelt: »Ach kommt, lasst ihn los. Solange Ihr ihn festhaltet, habe ich das Gefühl, ein Schwein auszunehmen. Es macht doch viel mehr Spaß, ihn zu jagen.«
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Embras Vater nickte, erlöste den Burgverwalter von dem Griff seiner Hände und trat einen Schritt zurück. Malvus Urbrindur starrte den kleinen Mann zitternd an und wirbelte dann zur Seite. Im Bücken zückte er etwas aus seinem Gewand und warf es auf den Beschaffer. Craer wehrte den Dolch mit seinem eigenen Messer ab. Die Klinge des Verwalters bohrte sich tief in einen Fensterrahmen. Craer bemerkte einen grünlichen Schimmer auf dem Stahl. »Ein vergifteter Dolch!«, bemerkte der Beschaffer voller Abscheu. »Ihr seid wahrlich eine Schlange!« Der Burgverwalter bemerkte erst jetzt, dass er nie eine Möglichkeit gehabt hatte zu entkommen. Wohin er sich auch wandte, erwarteten ihn schon seine Gegner. Als der Mann keinen Ausweg mehr sah und sich völlig am Ende seiner Kräfte umdrehte, traf ihn der Dolch des Beschaffers. Urbrindur starrte den zierlichen Mann fassungslos an, keuchte röchelnd und brach dann auf dem Boden zusammen. Die fünf Hochfürsten versammelten sich um ihn. »Endlich fangen wir damit an«, sprach Tschamarra, »das Tal von verderbten und bestechlichen Beamten zu befreien.« Embra nickte. »Von den Gesichtlosen einmal abgesehen, müssen wir unser Augenmerk vor allem auf die Schlangen richten.« Die Zauberin zeigte zur Tür. »Soll ich sie jetzt öffnen? Trotz der Zauberfallen und der gespannten Bogen, welche dahinter auf uns warten?« »Ja, Schluss damit!«, knurrte Craer. »Ich habe es satt, mich immer nur auf Zehenspitzen bewegen zu dürfen.« »Ihr steht doch schon seit langem mit dem Verstand auf
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Kriegsfuß«, bemerkte die Zauberin, »und jetzt scheint Ihr Euch auch noch vom Selbsterhaltungstrieb verabschieden zu wollen!« Die Herrin der Edelsteine hob ihren Dwaer und öffnete mit einem Bann die Tür. Bei ihrem ersten Blick auf das Innere des Burgfrieds gewahrten die Gefährten eine vornehm und kostbar eingerichtete Kammer. Goldene Stoffe und rote Seide bespannten Möbelstücke aus auf Hochglanz poliertem Holz. Dazu Bücherregale voller erlesener Ausgaben. An den freien Wänden Teppiche mit Abbildungen tapferer Ritter, welche das Schwert gegen alle Arten von Fabelwesen schwangen. Aus den Fellen am Boden schien ein schwerer Schreibtisch zu wachsen. An diesem saß Münzmeister Eirevaur mit zweien seiner Schreiber. Sie trugen schwarze Kittel mit dem Wappen des Hauses Stornbrücke auf der Brust. Hinter diesen dreien standen Soldaten mit versteinerten Mienen und Speeren in den Händen. Sie trugen aber keine Rüstung, sondern nur Waffenröcke. Eirevaur blickte den Gefährten entgegen, nickte kurz und faltete vor sich die Hände. Unzählige Pergamentrollen bedeckten den Tisch, aber nicht eine Waffe schien darunter verborgen zu sein. Als die Zauberin eintrat, umgab ihr Zauberschild sie wie ein Umhang und passte sich jeder ihrer Bewegungen an. Die junge Frau hielt den Dwaer wie eine kleine Geldbörse an sich gepresst. Vorsichtig schaute sie nach oben, nahm die Treppe in Augenschein, welche zum nächsten Stockwerk führte, und streifte mit ihrem Blick die versperrte Tür auf der anderen
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Seite des Raums. »Ich wünsche Euch einen schönen Morgen, Münzmeister«, begrüßte sie den Mann höflich. »Habt auch Ihr den Befehl, uns auf der Stelle als Reichsverräter zu töten?« Eirevaur schüttelte den Kopf. »Ich habe mich immer schon geweigert, an solch dummen Spielchen teilzuhaben ...« Er schüttelte traurig den Kopf. »Deswegen hat man mich selbst unter Bewachung gestellt, wie Ihr unschwer erkennen könnt. Diese beiden Herrschaften hier achten darauf, dass ich keine Dummheiten mache.« Der Münzmeister schaute nach links und nach rechts – aber nicht auf die Soldaten, sondern auf die beiden Schreiber. Diese sprangen sofort auf, ließen ihre zauberische Verkleidung fallen und schleuderten unter Hohngelächter Schlangen aus ihren Ärmeln auf Embra. »Sterbt, Ihr Luder!«, zischten die Priester, während lange Schlangenzähne sich in die Brust der Fürstin Silberbaum bohrten und Schlangenschweife hin und her zuckten. Die Herrin der Edelsteine verzog nur das Gesicht, zog einen Stuhl zurück und nahm an dem Schreibtisch Platz. Ihr Schutzzauber leuchtete kurz auf, und die Schlangen an ihrem Busen zerplatzten. Die Fetzen der Mordtiere lösten sich in Rauch auf, noch ehe sie den Boden erreichen konnten. Embra betrachtete nun die beiden Feinde mit erbostem Blick ... und schleuderte ihnen dann ihren eigenen Zauber entgegen. Die Schlangenpriester schrien noch einmal kurz auf und vergingen dann in fetten Rauchwolken. Die Zauberin beachtete die Bisswunden an ihrer Brust
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nicht weiter, sondern wandte sich gleich an den Münzmeister: »Verstehe ich das richtig, Ihr gebt ernsthaft vor, nichts von den Mordabsichten dieser beiden falschen Schlangen gewusst zu haben?« Eirevaur erbleichte, aber seine Stimme schwankte nicht, als er antwortete: »Die beiden haben sich tatsächlich in schamloser Offenheit vor mir darüber unterhalten, wie sie mit Euch verfahren wollten. Hawkril und Craer wollten sie ermorden ... und den Rest von euch gefangen nehmen. Wenn Ihr Eure Ämter und den Weltenstein abgeben würdet, sollte Euch dafür das Leben geschenkt werden. Aus ihren Gesprächen ging jedoch hervor, dass dieser Tausch nicht auf ihrem Mist gewachsen war, sondern man ihnen das vorzuschlagen aufgetragen hatte. Euch mit Schlangen zu bewerfen, scheint den beiden von ganz allein eingefallen zu sein. Deswegen konnte ich nicht einmal ahnen, dass sie in Abweichung ihrer Befehle auch Euch töten wollten.« Der Mann seufzte, fuhr dann aber mit ebenso klarer Stimme wie vorher fort: »Erschlagt mich, wenn Ihr müsst. Wie so viele andere habe auch ich mich der Verbrechen gegen den Thron auf Treibschaum schuldig gemacht. Allerdings hatten meine Vergehen nichts mit Blutvergießen zu tun, sondern nur damit, gewisse Summen abzuzwacken.« »Ich glaube Euch«, erklärte die Zauberin. Der Dwaer flammte auf. »Haltet Euch aber weiterhin streng an die Wahrheit und verratet mir, welche anderen Anordnungen Ihr bezüglich meiner und meiner Gefährten erhalten habt. Und klärt mich auch darüber auf, ob sich noch weitere Schlangen auf der Burg aufhalten ... und wo sie zu finden sind.«
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»Nein, nein, Ihr werdet mich ja doch töten!«, rief der Münzmeister schrill, nickte dabei aber in Richtung Decke und zeigte nacheinander alle fünf Finger einer Hand. Danach berührte seine Hand das Wappen derer von Stornbrücke, welches die Rückenlehne der Stühle am Tisch zierte. Wieder nickte er nach oben. Embra wusste jetzt also, dass sich weiter oben im Bergfried oder auf den Zinnen darum herum fünf Schlangenpriester und der Fürst Stornbrücke selbst aufhalten mussten. »Nein, noch nicht ... solange Ihr hübsch dort sitzen bleibt und Euch nicht regt, bis wir Euch etwas anderes gestatten.« Während Embra dies sprach, ließ sie eine Hand niederbaumeln und berührte damit wie zufällig Hawkril am Bein. Auf diese Weise stellte sie die Gedankenverbindung zu dem Hünen her, welcher hinter ihr in die Kammer getreten war. Sagt jetzt nichts. Versucht, die anderen anzufassen, damit wir alle miteinander reden können. Die Zauberin bemerkte, wie die Gefährten sich dicht um ihren Stuhl stellten. Offenbar hatte Hawkril sie alle erreicht. So sprach sie in Gedanken. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Schon zweimal hat ein anderer Weltenstein versucht, Energie aus meinem abzuzapfen. Ich kann den anderen Dwaer nicht genau erkennen. Ich glaube nicht, dass der Stein sich im Besitz der hiesigen Schlangenpriester befindet. Wer immer ihn hat, er beobachtet uns. Ich möchte nun Folgendes tun: Wir geben dem Münzmeister die Gelegenheit zur Flucht, und wenn er nicht mehr unter uns weilt, sowohl in dem einen wie dem anderen Sinne, setzen mein Vater, Tschamarra und ich unsere vereinten Zauberkräfte dazu ein, die Magie der Feinde zunichte zu machen.
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Hawkril und Craer werden sich derweil nach oben begeben und den Priestern und dem Tersepten unsere Grüße überbringen, und zwar in Form von Stahl. Die anderen zeigten sich einverstanden. Nur Craer meinte: Gibt es einen anderen Weg nach oben als über die Treppe? Ich meine, die riecht doch geradezu nach Hinterhalt. Als auch Hawkril und Tschamarra dem zustimmten, meinte Embra: Wartet es nur ab, ich kümmere mich schon darum. Dann fing es in dem Hünen an zu brodeln, denn er hatte die Wunden auf Embras Brust entdeckt. Liebste, was ist mit Euch? Was haben Euch die Schlangenbestien angetan? Wie geht es Euch? Die Edle konnte ihn jedoch beruhigen. Sie haben kaum mehr getan, als mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wie schmerzhaft Schlangengift sein kann. Und ich weiß jetzt auch wieder, wie sich die Heilung durch einen Weltenstein anfühlt – wie flüssiges Feuer. Aber sorgt Euch nicht, Liebster, ich werde es überleben. Nun richtete die Fürstin Silberbaum all ihren Willen auf den Dwaer, und dieser ließ in der Kammer Nebelschwaden entstehen. Als diese sich zu einer dichten Masse vereinigt hatten, winkte Embra den Münzmeister heran. Der Mann schluckte einige Male und kam dann zögernd um den Tisch herum. Die Gefährten nahmen ihn in ihre Mitte, und er spürte die Spitze von Craers Dolch in seinem Schritt. Gleichzeitig näherte sich von Hawkrils Seite ein Messer seinem Ohr. Der Nebel verdichtete sich zu einer Art Schutzglocke, und Embra stellte sich vor den Münzmeister. »Also sprecht, Inskur Eirevaur: Möchtet Ihr das Ende dieses Tages erleben oder lieber vorher sterben?«
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»Natürlich leben«, antwortete der Mann. »Und wo genau? In Treibschaum, wo Ihr dem König Burgmäntel vollständigen Bericht erstattet, oder in der Verbannung in Sirlptar, wo Ihr Euch in irgendwelchen Gassen herumdrückt?« Der Mann starrte sie an, schluckte noch einmal und sprach dann: »In der Verbannung, denn nirgendwo im Stromtal finde ich Unterschlupf, sobald sie von meinem Verrat erfahren.« »Wer sind ›sie‹? Die Schlangenpriester?« Der Münzmeister nickte stumm, und die Hochfürsten sahen sich betreten bis bestürzt an. »Dann haben sie ihre Macht schon so weit ausgebaut? Sitzen die Schlangen wirklich schon in jeder Stadt und in jedem Dorf?« »Ja«, antwortete Eirevaur nur. »Woher wollt Ihr das wissen?«, fuhr die Letzte der Talasorn ihn an. »Haben sie Euch das gesagt? Seid Ihr aus eigener Beobachtung zu dieser Schlussfolgerung gelangt, oder was?« »Herrin, so mancher aus ihren Reihen hat sich schon die Küche von Stornbrücke munden lassen. Mindestens sechs Dutzend von ihnen hatten wir schon zu Gast. Ständig tauchen sie zu zweit oder zu dritt bei uns auf. Zählt man zu diesen diejenigen hinzu, deren Namen sie erwähnten, ohne dass jene jemals den Weg hierher gefunden haben, kommt man leicht auf ein Gros, auf ein Dutzend Mal ein Dutzend. Sie scheinen in der letzten Zeit noch häufiger auf die Burg zu kommen, und sie haben offenbar etwas Großes vor. Ich habe keine Ahnung, worum es dabei gehen soll, aber es muss etwas wirklich Wichtiges sein.
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Aus dem Wenigen, das ich aufschnappen konnte, schließe ich, dass sie damit Macht über alle Menschen Aglirtas erlangen wollen!« »Ist Euch denn nicht mehr zu Ohren gekommen?«, fragte Schwarzgult ungeduldig. Eirevaur breitete hilflos die Arme aus. »Herr, wenn ich mehr wüsste, würde ich Euch das sofort aufdecken, glaubt mir bitte. Bei der Sache scheint es sich um etwas zu drehen, welches sich im Stromtal ausbreitet. Vor ein paar Tagen erhielten sie einen Bericht, welcher bei ihnen viel Begeisterung ausgelöst hat. Offenbar hat sich der erste Versuch als großer Erfolg erwiesen. Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie die Schlangenpriester sich betrunken haben!« »Der Dank des Reiches ist Euch gewiss, Zahlmeister«, sprach die Edle. »Craer, gebt ihm etwas, welches seinem Titel Genüge tut.« »Wie meinen, Euer Hochwohlgeboren?« »Geld. Münzen. Goldstücke«, klärte die Zauberin ihn auf. »Aus den Börsen, welche Ihr in Euren Stiefeln habt verschwinden lassen. Unser Freund hier braucht Mittel, um in Sirlptar von vorn anfangen zu können.« Der Beschaffer bedachte Embra mit einem Blick, als habe sie von ihm verlangt, sich von seinem besten Stück zu trennen. Aber er zog sich dennoch einen Stiefel aus und kippte ihn um. Etliche Börsen fielen heraus, und diese schob er dem Mann zu. »Und jetzt die anderen auch, bitte«, verlangte die Herrin
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der Edelsteine. »Bei der Dreifaltigkeit!«, entfuhr es dem Beschaffer. »Als Nächstes fordert Ihr mich noch auf, ihm meine ganzen Dolche zu überlassen.« »Nein«, entgegnete die Edle, »das wird sich nicht als notwendig erweisen, denn ich erkenne mit bloßem Auge, dass Eirevaur eine brauchbare Klinge in seinem Gürtel trägt. Und er bewegt sich wie jemand, der ein Messer im Stiefel stecken hat. Mit etwas Glück überlebt er lange genug in Sirlptar, um uns noch dankbar zu sein.« Der Münzmeister starrte sie eigentümlich an, ließ dann den Blick über die Runde schweifen und betrachtete schließlich die Reichtümer zu seinen Füßen. Craer dagegen würdigte ihn keines Blickes, zog aber eine weitere Geldbörse aus seinem Gürtel, welche er auf den Haufen Geldbeutel warf. »Passt bloß auf, dass Ihr nicht alles auf einmal ausgebt«, mahnte der Beschaffer noch und drehte sich dann um, weil er es nicht mit ansehen wollte ...
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Elf
Ein Bogendrachen kommt des Wegs und ruft C Ein Mann mit dem Wappen derer von Stornbrücke auf der Brust schaute sich verwirrt in einer vom Mond beschienenen, stinkenden Gasse in Sirlptar um und starrte dann auf die mit Geld gefüllten Geldbörsen in seinen Händen. Noch vor einem Moment hatte sich in dieser Seitenstraße mit ihren beiden zusammengebrochenen Häusern noch niemand aufgehalten. Wenn man einmal von den Rattenrudeln absah, welche in den Trümmern hausten. Eirevaur sah sich nach links und rechts, vorn und hinten um, als befürchte er einen Überfall. Als er sich dann endlich davon überzeugt hatte, sich allein hier aufzuhalten, schüttelte er sich wie ein Hund und bemerkte zum ersten Mal den salzigen Geruch des nahen Meeres. Ja, er musste in Sirlptar eingetroffen sein. Als Nächstes fiel ihm ein, dass er hier für alle sichtbar mit Beuteln voll Geld dastand. Und so etwas sollte man in keiner Großstadt der Welt tun. Vorsichtig und bemüht, nur ja kein Klimpern zu erzeugen,
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ließ er die Beutel rasch in seinen Gewändern verschwinden. Dann setzte er sich schlurfend wie ein gebeugter Bettler in Bewegung. Während er nach einem sicheren Plätzchen für sich Ausschau hielt, konnte er sich eines Grinsens nicht erwehren. Er hatte es geschafft ... war entkommen! Endlich hatte der Münzmeister die verwünschten Priester abgeschüttelt ... und auch die Bewohner von Stornbrücke, welche sich in immer größerer Zahl den Schlangen anschlossen, um sich in ebensolche kalte und heimtückische Wesen zu verwandeln. Natürlich konnte Eirevaur sich nirgendwo auf der weiten Welt wirklich sicher vor den Schlangenanhängern fühlen. Auch sollte er sich so rasch wie möglich aus Sirlptar entfernen und eine Schiffspassage buchen, ehe das Reich sich in den nächsten Krieg stürzte und alle Nachbarn mit sich riss. Ein Buchhalter wie er, der ehrlich arbeitete und seinen Herrn nicht betrog, konnte überall an der Küste von Asmarand eine feste Anstellung finden. Und gewiss auch in den Hafenstädten, welche noch weiter vom Stromtal entfernt lagen. Auf jeden Fall war Eirevaur nun nicht mehr der Zahlmeister von Stornbrücke. Bei der Dreifaltigkeit, er musste sich von dem Wappen auf seiner Brust befreien. Am ehesten ließe sich das dergestalt bewerkstelligen, dass er sich im nächsten Türeingang umzog und seinen Wappenrock einfach auf links wendete. Ja, so müsste es gehen. Inskur Eirevaur verspürte zum ersten Mal seit Monaten wieder einen Hoffnungsschimmer. Als er das erste halbwegs heil aussehende Haus hinter sich
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ließ, weil ihm ein anderes günstiger erschien, löste sich aus dessen Schatten ein Wesen wie eine Katze – nur um einiges größer. Dieses Wesen richtete sich auf und bewegte sich wie ein Mensch, behielt aber sein Katzenäußeres. Lautlos schlich es hinter dem Mann her und kam ihm immer näher. Nun erreichte Eirevaur den von ihm auserwählten Hauseingang und sah sich noch einmal um, ob ihm auch niemand folgte. Das Katzenwesen hatte sich längst fallen lassen und schmiegte sich so flach wie möglich an den Boden. Der Münzmeister bekam es nicht zu sehen, und wenn er es entdeckt hätte, hätte er sich darüber gewundert, dass es kein Gesicht hatte. Als Eirevaur dann anfing, all seine Schätze abzustellen und seine Gewänder auszuziehen, erhob sich das Wesen wieder, doch diesmal in Form einer mannshohen Katzenpfote ... mit Krallen so lang wie ein Schwert, die sich voller Erwartung nach ihrem Opfer ausstreckten ... Der Mond hatte seinen Zenit überschritten, würde aber noch eine Weile die Zinnen von Burg Stornbrücke bescheinen. Gelegentlich erschreckte eine leichte Brise die Soldaten, welche sich auf den Wehrgängen verborgen hielten. Die ganze Nacht schon hatte sich der Himmel sternenklar gezeigt, doch jetzt trieb eine Wolke so dick wie Flussnebel über den Burggraben, schien sich dort festsetzen zu wollen, stieg dann unvermittelt den Festungswall hinauf und schwebte zwischen die Soldaten. Die Männer riefen sich erschrocken Warnungen zu, und einer verlangte sogar nach einem Schlangenpriester.
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Doch bevor ein solcher erscheinen und mit einem Bann die Wolke vertreiben oder aber mit strengen Worten die furchtsamen Soldaten zur Ruhe ermahnen konnte, erschienen mitten in dem Nebel zwei Gestalten, so als hätte die Wolke selbst sie erzeugt. Sie erreichten die Zinnen dort, wo sich keine Wächter langweilten, weil heute Nacht alles am Stornturm auf die Hochfürsten lauerte. »Wir müssen uns beeilen«, meinte Craer, »in Kürze erscheint hier bestimmt ein Schlangenpriester, und dann könnte es zappenduster für uns werden!« Der Hüne warf einen Blick über die Schulter. »Im Turm hat uns jemand entdeckt. Er ist bestimmt schon mit seinem Alarmhorn auf dem Weg hierher.« »Wie unfreundlich von ihm ... Kommt er allein?« »Ja«, antwortete Hawkril. »Ich könnte ihn von hier aus erledigen.« »Das wollen wir mal schön lassen, wir müssen ihn nämlich leise ausschalten. Außerdem kommen uns sicher auch sein Helm und sein Wappenrock gelegen. Runter mit Euch, mein Freund.« Der Recke verfolgte verwundert, wie der Beschaffer sich flach auf den Steinboden legte und dann fragte: »Habt Ihr den Umhang mitgebracht, welchen der Zahlmeister zurückgelassen hat?« »Natürlich«, schnaubte Hawkril. »Mein Geist vermag vielleicht nicht Eurem verdrehten auf allen Windungen und Wirrungen zu folgen, aber aus irgendeinem Grund, welchen nur die Dreifaltigkeit kennen dürfte, vertraue ich Euch.« Der Hüne zog ein Bündel Stoff aus dem Schildinneren
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heraus und schüttelte es aus. »Da hätten wir es ja.« »Fein, und jetzt zieht Ihr Euer Schwert und legt es hier auf den Boden.« Der kleine Mann zeigte auf zwei Bodenplatten, welche sich ein Stück weit von seinem Freund entfernt befanden. »Nun nehmt Ihr den Mantel«, fuhr der Beschaffer fort, als er bemerkte, wie der Hüne seine Anordnungen genau befolgte, »und legt Euch auf mich. Aber wehe, wenn Ihr mich erdrückt. Dann soll Euch mein Todesächzen bis an Euer Ende verfolgen. Und zusätzlich bringe ich noch viel schlimmere Flüche über Euch. Wie lange braucht unser übereifriger Wachmann denn noch?« Hawkril reckte kurz den Hals. »Jetzt hat er noch das letzte Stück Wehrgang vor sich.« »Ausgezeichnet. Breitet jetzt bitte die Decke über uns beide. Ich möchte, dass der Bursche nichts von uns sehen kann ... bis auf meine Stiefel. Und bitte, unternehmt nichts. Erschreckt Euch nicht, und stellt auch nichts Dummes an, ja?« »Ihr seid doch von uns beiden der Fachmann für Dummheiten«, entgegnete der Recke nur, ließ sich auf den Beschaffer hinabsinken und zog den Mantel wie eine Decke über sich und ihn. »Verschiebt Euren linken Arm ein Stück weit, sonst kann ich überhaupt nichts sehen. Ja, genau so, vielen Dank.« Einen Moment später rief er mit einer keuchenden Frauenstimme: »Oh ja, ja, ja! Liebt mich tiefer! Liebt mich mehr! Hört ja nicht auf, mein Hengst! Oh bitte, bitte, bitte nicht aufhören!« Als Hawkril den Wächter näher kommen hörte, bewegte er sich unter dem Umhang so, als habe er gerade eine Maid
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in Arbeit. Der Soldat blieb unsicher stehen. »Oh ja. Jaaah! Mehr! Gebt mir mehr! Gebt mir alles! Ja, jaah, jaaaaaahhhhhhhh!« Craer steigerte sich immer mehr in seine Rolle hinein, und Hawkril konnte sich nur mit großer Mühe davor bewahren loszuprusten. »Bei den Göttern!«, murmelte der Wächter in einer Mischung aus Abscheu und Neugier. Die beiden Gefährten hörten, wie eine Schwertspitze über Stein schabte. »Mit wem seid Ihr da zusammen, Orsar, und wo habt Ihr sie aufgetrieben?« Craer legte seinem großen Freund zur Sicherheit einen Finger auf die Lippen, um ihn daran zu erinnern, sich still zu verhalten. »O mein geliebter Zuchtbulle!«, rief der Beschaffer mit spitzer Stimme, und Hawkril hätte schwören können, dass sein Freund sich genau wie Embra anhörte. »Jemand beobachtet uns! Macht zu, damit wir fertig werden!« Nach einem Moment der Pause fügte der kleine Mann mit mädchenhaftem Kichern hinzu: »Außer natürlich, wenn dieser Kerl ein Freund von Euch ist ...« »Bei allen gnädigen Heiligen!«, stöhnte der Wachmann. »Orsar, verratet mir sofort, mit wem Ihr da zusammen seid.« Der Soldat beugte sich weit vor und stützte sich dabei auf sein Schwert. »Orsar, das ist doch nicht etwa –« Er kam nicht mehr dazu, seine Vermutung auszusprechen. Der Rest seiner Worte ging nämlich in Röcheln unter, weil sich ein Dolch mitten in seinen Hals gebohrt hatte.
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»Fangt ihn auf, Hawkril!«, zischte der Beschaffer. Der Recke sprang auf und legte dem Sterbenden rasch einen Arm um den Bauch. Dann nahm er ihm den Helm ab, ehe der polternd auf den Boden fallen konnte. »Passt mir nicht«, brummte er. »Ihr habt aber auch immer etwas zu meckern«, entgegnete der Beschaffer, während er das Alarmhorn des Wachmanns an sich brachte. »Nun legt schon den Waffenrock des Burschen an.« Er äugte in Richtung der Wehrgänge. »Da steht schon ein Schlangenpriester und verscheucht Embras Wolke.« Hawkril zog dem Toten den Waffenrock aus und zwängte sich denselben mühevoll über den Kopf. Währenddessen erleichterte Craer den Wachmann um zwei Dolche und eine Börse. »Lasst ihn in den Burggraben hinab«, befahl der Beschaffer dann. »Langsam hinablassen, nicht hinunterwerfen!« Der Hüne sah seinen Freund von oben bis unten an. »Ich bin nicht so blöde, wie Ihr ausseht. Ich mache mir auch meine Gedanken!« »Aber nur, wenn Ihr nicht gerade mit bestimmten Dingen beschäftigt seid, mein Hengst!« Hawkril schob den Leichnam zwischen zwei Zinnenzähne, hielt ihn an der ausgestreckten Hand und ließ ihn dann am Wall hinunterrutschen. Leider erzeugte die Landung im Burggraben ein lauteres Platschen, als die beiden erwartet hatten. Der Kopf des Schlangenpriesters ruckte sofort herum. Besser gesagt, der Feind sah nur den Hünen, denn Craer hatte sich hinter seinen Gefährten geduckt und raunte ihm
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zu: »Benehmt Euch wie ein Wachsoldat der Burg.« »Also wie ein Volltrottel, oder was meint Ihr?« »Schluss damit, der Schweinehund wirkt schon an einem Zauber. Wir können nur hoffen, dass die Zauberin ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Jetzt bewegt Euch wie ein gelangweilter Nachtwächter auf den Schlangenmann zu. Keine Bange, ich bin die ganze Zeit hinter Euch. Aber das vergesst Ihr am besten ganz schnell wieder. Dreht Euch nicht zu mir um, und wagt es ja nicht, mit mir zu flüstern. Der Nachtwind trägt unsere Stimmen meilenweit.« »Ja, Mutti, soll ich mich auch noch schnäuzen, bevor ich losgehe?«, knurrte der Recke und setzte sich den zu kleinen Helm des Toten aufs Haupt. »Und was soll ich Eurer weisen Meinung nach tun, wenn ich vor Seiner Niedertracht, dem Hohepriester der Schlangen stehe?« »Da lasse ich mir noch etwas einfallen.« »Und genau davor fürchte ich mich am allermeisten«, murmelte der Hüne. Einige Schritte weiter hatte Hawkril seinen Mantel so umgehängt, dass niemand mehr den langen Riss in der Rückseite des fremden Waffenrocks bemerken konnte. »Der Schlangenmann kommt auf mich zu. Lasst Euch möglichst schnell etwas einfallen, Langfinger.« »Kommt er allein?« »Natürlich nicht, sondern mit vier Soldaten. Oder habt Ihr schon einmal davon gehört, dass ein Schlangenpriester sich allein irgendwohin begibt?« »Sind sie mit Pfeil und Bogen bewaffnet? Oder mit Armbrüsten?«
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»Nein, davon ist nichts zu erkennen. Sie rücken nur mit gezücktem Schwert und grimmiger Miene an. Vermutlich verlassen sie sich voll und ganz auf die Banne ihres Schlangenanführers.« »Ist der Nebel ganz verschwunden?« »Ja, aber Embra scheint schon neuen zu machen. Wenn ich es genau erkenne, hält sich ungefähr ein Dutzend Stornbrücke-Soldaten auf dem Turm auf ... Jetzt ist der Priester stehen geblieben und hat sich umgedreht ... Der neue Nebel schiebt sich gleich hinter ihm über die Zinnen ... Ha, das wird ihm einiges zum Nachdenken geben.« »Können Schlangen eigentlich nachdenken?«, wunderte sich der kleine Mann laut. »Craer, sosehr ich Euren vertrauten schalen Witz auch zu schätzen weiß, wie wäre es damit, mir ein wenig Mut zu machen? Zum Beispiel mit einer Antwort auf die Frage, was ich zum Himmeldonnerwetter jetzt tun soll? Dieser Wehrgang ist breit genug, dass die Soldaten zu sechst oder siebt gegen mich vorrücken können!« »Lauft erst einmal weiter, wir müssen noch ein Stück näher herankommen.« »Lieber kleiner Freund, ich habe mich jetzt so lange mit Euren Rätseln abspeisen lassen, dass mir davon schon ganz schlecht ist. Ich wäre sicher ein nützlicherer Kämpfer, wenn ich eine Ahnung davon hätte, worum es geht und was Ihr sonst noch vorhabt!« »Ein guter Einwand, ein berechtigter Einwand, bei meiner Seele. Leider gibt es da noch eine kleine Schwierigkeit, Leuchtturm.«
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Hawkril wartete auf Aufklärung, wartete noch etwas und stellte sich schließlich an die Brüstung, um zwischen den Zinnen nach unten zu spähen. »Was treibt Ihr denn da?«, zischte der Beschaffer. »Ich warte darauf, dass Ihr mir verratet, welche kleine Schwierigkeit uns noch im Weg steht. Oder liegt Euch so viel am Wohlklang meiner Stimme, dass ich erst fragen muss?« »Na, da bin ich aber froh, dass wir das endlich geklärt haben. Eine gute Frage, und ich freue mich, dass Ihr sie gestellt habt. Nächste Frage, bitte.« Der Hüne schaute unmerklich zur Seite und bedachte seinen Gefährten mit einem sehr strengen, sehr ungeduldigen Blick. Craer breitete entschuldigend die Arme aus. »Na ja, Ihr müsst wissen, dass ich mir nie vorher überlege, was ich tun werde. Ich renne einfach drauflos und beseitige die Gefahr ... Ihr müsst zugeben, dass wir bislang stets ganz gut damit gefahren sind.« Der Recke richtete sich gerade auf und brummte: »Also gut.« Als Nächstes schlenderte er auf den Priester zu, beachtete den Beschaffer und seine Warnungen und Mahnungen nicht und rief: »Orsar? Orsar, wo steckt Ihr?« Der Priester warf ihm einen eisigen Blick zu. »Kehrt sofort auf Euren Posten zurück, Ihr Tölpel! Ihr habt Eure Befehle, und was Ihr mit Orsar zu schaffen habt, kann gefälligst warten!« »Mit Verlaub, Herr, aber ich fürchte, ganz so einfach verhält es sich nicht«, entgegnete Hawkril. »Jemand, der sich als
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Große Schlange bezeichnet, will Orsar sehen, dort drüben, wenn’s recht ist, Herr.« »Die Große Schlange? Seid Ihr Euch da ganz sicher? Habt Ihr Euch auch nicht verhört?« »Aber gewiss doch, Herr, der Fremde hat seinen Namen ja zweimal genannt, so als befürchte er, ich hätte ihn nicht recht verstanden. Keine Ahnung, wie er einen solchen Eindruck gewinnen konnte ... Aber er sieht ja auch so recht zum Fürchten aus, und ...« »Ja, ja, schon gut, wo steckt er denn?« »Wer, Herr? Orsar?« »Nein, Ihr Blödian, kein Orsar! Die Große Schlange, wo ist sie?« »Na, hier!«, antwortete Craer, sprang an Hawkrils Rücken hoch, erschien an dessen Schulter, starrte den verblüfften Priester an, stützte sich auf einer Panzerplatte ab und schwang sich auf den Mann zu. Seine Stiefel trafen den Hals des Schlangenanbeters, und zwar mit den ausgefahrenen Klingen voran. Der Priester taumelte zurück, Blut spritzte aus der Wunde, und sein Kopf fiel lose nach hinten. »Schöner Mist, jetzt muss ich jemand anderen fragen, wo Orsar zu finden ist«, beschwerte sich der Hüne. Die nächsten Soldaten standen jenseits des Nebels oder in demselben und hatten deswegen nicht so genau verfolgen können, was sich mit dem Priester ereignet hatte. Craer stürzte sich sofort in den Nebel und machte sich wie gewohnt daran, Gegnern ins Fußgelenk zu stechen und sie so zu Fall zu bringen. Hawkril selbst stürmte ebenfalls voran und verfolgte die
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Wächter, welche aus dem Nebel zu entkommen versuchten. Hinter sich hörte er den dumpfen Knall von Fallenden. Der Hüne sagte sich, dass er mit seinem Schwert mindestens so hoch schlagen musste, dass sein Gefährte bequem darunter herlaufen könnte. Aber bei dem Beschaffer konnte man sich nie so ganz sicher sein. »Langfinger?«, rief der Recke. »Sie fallen wie die Kegel«, entgegnete der kleine Mann fröhlich. Hawkril grinste und ließ wieder sein Kriegsschwert kreisen. Die Klinge traf ins Nichts, und noch einmal, und noch einmal, und beim vierten Mal durchtrennte sie Stahl und Fleisch. Jemand stürzte schwer, und ein Schwert schlitterte scheppernd über den Boden. Der Hüne bewegte sich auf die Stelle zu, weil er befürchtete, weitere Soldaten könnten von dem Lärm angelockt werden. Wieder hieb er mit seiner Klinge um sich, aber die traf jetzt auch beim vierten Mal nichts. Offensichtlich hatte sich noch niemand hier eingefunden. Er bückte sich, hob das fremde Schwert auf und holte aus, um es zu schleudern. Irgendwo im Nebel schrie ein neues Opfer des Beschaffers, und vor ihm öffnete sich eine Tür. Jemand verlangte in herrischem Ton zu erfahren: »Was geht denn hier draußen vor?« Ein Schlangenpriester!, schoss es Hawkril durch den Sinn. Er zögerte keinen Moment und warf das Schwert auf die Stelle, von welcher aus der Ruf ertönt war. Ein erstickter Schrei antwortete ihm, gefolgt von einem wütenden Schrei. »Schließt die Tür! Rasch! Die Hochfürsten
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müssen draußen sein! Die Bogenschützen zu mir! Brüder der Schlange – arrgh!« Der Schrei wurde von einem Moment auf den anderen abgeschnitten. Offenbar hatten sie jetzt die schwere Tür geschlossen. Als Nächstes vernahm der Recke: »Leuchtturm, hier drüben!« »Bin schon unterwegs!« Hawkril packte sein Kriegsschwert fester. »Leuchtturm!«, ertönte es wieder, doch diesmal viel schriller. Der Hüne drehte sich um und gewahrte im Nebel einen Schatten mit Schwert ... deutlich größer als der Beschaffer. Dann erkannte er die Panzerrüstung, den roten Stornbrücke-Falken auf der Brust und den erhobenen Schwertarm. Hawkril stach mit aller Kraft zu. Die Klinge fuhr dem Gegner tief in den erhobenen Arm. Der Mann schrie und schlug mit dem anderen Arm um sich. Aber der Recke drückte fester und drehte den Stahl in der Wunde. Der Soldat schrie immer noch, ließ jetzt aber sein Schwert fallen. Dann sauste etwas blitzend durch den Nebel, und das Geschrei verstummte sofort. Grinsend zog kurz darauf der Beschaffer einen seiner Dolche aus dem Hals eines weiteren Getöteten. »Wer vermag die Freude zu beschreiben, welche mich bei Eurem Anblick befällt, Hochfürst?« »Geht mir bei meinem Anblick ganz genau so«, erwiderte der Hüne. »Aber wir wollen unsere Zeit nicht mit Albereien vertändeln.« »Wohl gesprochen. Folgt mir, bitte.«
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Der Riese lief hinter Craer her. Sie umrundeten einen Turm, welcher wie ein Ungeheuer im Nebel aufragte. In das Mauerwerk hatte man längliche Schießscharten eingelassen. Die Gefährten entdeckten auch eine Tür, und diese hatte man mit einander überlappenden, angenagelten Schilden gesichert. »Wenn Ihr versprecht, ganz, ganz leise zu sein«, flüsterte der kleine Mann, »dürft Ihr die Leiter dort hinaufsteigen ... bis zu dem Fahnenmast. Wir klettern beide dort hinauf ... aber vorher wollen wir unsere Freunde glauben machen, wir hätten uns verzogen ... Andernfalls schießen sie im nächsten Moment mit allem auf uns, was nicht niet- und nagelfest ist!« Hawkril verursachte tatsächlich kein Geräusch, bis er oben angelangt war. Der wieselflinke Beschaffer schaffte das sogar in noch kürzerer Zeit. Kaum hatten sie sich oben in Sicherheit gebracht, da flog unten mit lautem Knall die Tür auf, und für ein paar Momente erfüllte das ärgerliche Schwirren von Pfeilen die Luft. Die Soldaten schienen paarweise von Schießscharte zu Schießscharte zu ziehen. Viele Geschosse prallten von einer der Steinwände ab, die restlichen flitzten über die Zinnen hinweg und fielen in den Burggraben. Neben dem Zischen von Sehnen, Schwirren von Pfeilen und dem gelegentlichen Aufschrei eines getroffenen Kameraden der Bogenschützen vernahmen die beiden Gefährten jedoch noch ein anderes Geräusch: den Singsang von Schlangenpriestern. Offensichtlich bemühten sich ihre Feinde immer noch, den Nebel aufzulösen. Wenig später drang ein teuflisches grünes Leuchten aus der
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offenen Tür und stürzte sich wie die Tentakel eines Tintenfisches auf den Nebel. Dort, wo sie ihn berührten, löste er sich sofort auf. Binnen kurzem lagen die Wehrgänge wieder in hellem Mondlicht da. Und in dem erkannte man überall tote oder sterbende Soldaten, welche in ihrem Blut dalagen. Und irgendwo dazwischen zeigte sich auch Embra ... mit zerfetztem, blutverschmiertem Gewand, aber den Dwaer immer noch fest an sich drückend. »Waffenstillstand!«, schrie die Herrin der Edelsteine. »Fürst Stornbrücke, lasst uns verhandeln! Ich habe folgende Vorschläge zu unterbrei–« Weiter kam sie nicht, denn ein Schwall Pfeile schoss auf sie zu ... und durch sie hindurch. Der nächsten Salve erging es ebenso. Hawkril hielt es nicht länger in seinem Versteck aus. Trotz aller Bemühungen Craers sprang er hoch. Erst als der Recke sich davon überzeugt hatte, dass es sich bei seiner Liebsten um eine Vorspiegelung ihrer selbst handeln musste, beruhigte er sich wieder. »Spart Euch Eure Pfeile!«, rief die Zauberin jetzt. »Ich komme im Namen des Friedens und nicht, um neues Blutvergießen zu veranlassen. Ihr habt bereits die meisten meiner Gefährten getötet, und –« Ein Flammenhagel toste auf die Edle zu, stieß durch sie hindurch und raste weiter, bis die Zinnen einen Knick machten. Das Feuer stürzte in den Burggraben und erlosch gleich zischend. In der Stille, welche nun für einen kurzen Moment folgte, konnte der geübte Hörer lediglich das Zischen von Craer in
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Hawkrils Ohr hören. »So seid doch endlich still, verdammt noch mal!« Der Hüne beherrschte sich ein weiteres Mal, wenn auch mit Mühe. Die beiden Gefährten warteten darauf, dass die Schlangenpriester endlich heraustraten, um nach ihrer Feindin zu suchen. Doch stattdessen erbebte der Turm plötzlich unter einem fürchterlichen magischen Schlag, und der erfolgte von der anderen Seite her. Feuer raste über die beiden Gefährten hinweg, und unter ihnen purzelte alles durcheinander. Sämtliche vernagelten Türen und Fenster waren aufgeflogen. Die Schlangenpriester bewiesen mit ihrer Antwort wenig Fantasie: Sie ließen Pfeile in alle Richtungen verschießen. Dabei erkannte man auf den Wällen doch nicht mehr als hier und da einen einsamen Nachtwächter. Die wenigen Posten, welche diesen Beschuss überlebten, gingen im nächsten Feuerball unter. »Will Embra sie dazu verleiten, so lange ihre Bogen abzufeuern, bis sie vor Erschöpfung umfallen?«, brummte der Recke. »Damit liegt Ihr vielleicht gar nicht so falsch«, grinste Craer. »Höchste Zeit, etwas Würze in die Sache zu bringen.« Er zog zwei Eisenfläschchen und eine kleine Glaskugel aus Gürtel und Stiefel. Vorsichtig füllte er Letztere mit dem Inhalt der beiden Ersteren. »Meine Arme sind lang genug, um das Fläschchen mitten unter unsere Freunde ein Stockwerk tiefer zu werfen«, sprach Hawkril mit einem breiten Lächeln. »Ich darf doch wohl annehmen, dass es beim Aufprall zu zerplatzen hat, oder?«
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Craer reichte ihm grinsend das Gebräu. »Dazu darf ich leider nichts sagen. Ich musste sieben Eide schwören, dieses Geheimnis niemals preiszugeben.« Der Hüne schüttelte nur den Kopf und schleuderte das Fläschchen nach unten. »Augen schließen!«, zischte Craer ihm noch zu. Jemand, welcher gerade unten herumbrüllte und Befehle erteilte, verstummte plötzlich und schnarrte: »Alles auf den Boden, aber zack, zack!« Mit einem Schlag verwandelte sich die Nacht zum Tag. Grelles weißes Licht breitete sich wie ein Pilz aus, und Hawkril schloss tatsächlich die Augen ... aber vornehmlich deswegen, weil er damit rechnete, dass im nächsten Moment der Turm auseinander fliegen und sie unter seinen Trümmern begraben würde. Doch dieses Schicksal blieb ihnen erspart. Stattdessen kreischten unten die Soldaten. »Keine Bange, war nur eine Blendbombe«, flüsterte der Beschaffer ihm zu. »Jetzt wäre eine günstige Gelegenheit, nach unten zu steigen und die Überzahl der Feinde zu unseren Gunsten zu verändern.« Er grinste verschmitzt. »Ich fürchte, wir müssen die Ärmsten führen. Wenn es Soldaten sind, schicken wir sie über die Zinnen in den Burggraben. Schlangenpriester erschlagen wir auf der Stelle. Wenn wir aber auf den Burgherrn stoßen, so heben wir den für unsere Freundin auf. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie noch einiges mit ihm vorhat ... Ach ja, achtet darauf, dass sich die Priester nicht in Schlangen verwandeln und davonzuschleichen versuchen.« Lächelnd begab der Hüne sich zu der Leiter.
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»Ambelter, Ihr findet wohl nie Ruhe, was?«, meinte Fürst Phelinndar nur, ohne sich aus seinem Stuhl am Fenster zu erheben. Der Bannmeister hielt sofort inne. Er hatte bis eben die matt beleuchtete Hauptkammer ihres gemeinsamen Versteckes durchschritten und sich den Kopf mit der Suche nach den fehlenden Bestandteilen eines vertrackten magischen Spruchs mit dem ungewöhnlichen Namen »Schwert der Zauber« zermartert. Seufzend schob er das Ergebnis seiner Nachforschungen in irgendeine Ecke seines Gedächtnisses und wandte sich dem Fürsten zu. »Was meint Ihr damit, Euer Gnaden?« »Ihr schmiedet große Pläne, trefft Euch mit allen möglichen Leuten, zieht überall in Aglirta die Fäden und verratet mir nicht die kleinste Kleinigkeit. Wir haben ein Abkommen, falls Ihr das vergessen haben solltet. Wagt es ja nicht, mich als bloßen lebenden Einrichtungsgegenstand zu sehen.« Ingryl vermochte es mit einiger Anstrengung, sich eine spitze Bemerkung darüber zu verkneifen, dass so mancher Einrichtungsgegenstand ihm mehr Nutzen einbrachte als Seine Gnaden. Stattdessen stellte er sich in das Licht, welches durch das Fenster drang, blickte hinaus auf den schönen Ausblick ins Tal und setzte sich zu seinem Verbündeten. »Ich muss gestehen, dass Ihr mit Euren Anwürfen zum Teil Recht habt, Herr, und dafür möchte ich mich entschuldigen. Dahinter verbirgt sich keineswegs böser Wille oder der finstere Vorsatz, Euch im Ungewissen zu lassen. Vielmehr entspringt meine Geheimniskrämerei alten Gewohnheiten.
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So darf ich Euch nun versichern, dass ich die meiste Zeit über nachgedacht oder in die Kristallkugel geschaut habe. Doch abgesehen von den gelegentlichen Besuchen bei den Bogendrachen habe ich unser Versteck so gut wie nie verlassen. Und ich möchte meinen, dass ich Euch an allen meinen Begegnungen mit den Bogendrachen als Beobachter habe teilnehmen lassen.« »Das will ich Euch gern zugestehen«, nickte Phelinndar, »und auch, dass Eure Zauber aufs Beste wirken. Doch darüber hinaus sitze ich nur hier herum, esse tagaus, tagein nichts anderes als Eier und Fisch und darf zur Unterhaltung dabei zusehen, wie Ihr in die Kristallkugel schaut oder vor Euch hin murmelt. Glaubt mir, wenn ich Euch mitteile, dass Magier nicht die Einzigen im Stromtal sind, welche über eine gewisse Vorstellungskraft oder die Fähigkeit zu Schlussfolgerungen verfügen.« »Schon wieder muss ich Euch Recht geben«, gab sich der Bannmeister leicht zerknirscht. »Also gut, ich weihe Euch in das ein, worüber ich mir in der letzten Zeit den Kopf zerbrochen habe, und zwar so sehr, dass ich kaum zu etwas anderem gekommen bin. Bislang bin ich regelmäßig darin gescheitert, die Bogendrachen dazu zu bewegen, zur Tat zu schreiten. So dienten auch meine Blicke in die Kristallkugel vornehmlich dem Zweck, einen Weg zu ergründen, diese Familie auf unsere Seite zu ziehen ... oder zumindest dazu zu bringen, in unserem Sinne zu wirken. Des Weiteren wollte ich auf diesem Wege feststellen, ob
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die verbliebenen Ältesten womöglich so schwach geworden sind, dass wir uns jede weitere Mühe schenken könnten. Mit anderen Worten, vermögen wir es, ihnen gefahrlos ihre Zauberbücher und zauberischen Gegenstände abzunehmen, oder würden wir damit eine neue Fehde und weitere Ärgernisse heraufbeschwören?« Er winkte mit einer Hand in Richtung des Kranzes von Glaskugeln, welcher über dem Tisch schwebte. Im trüben Schein funkelten die vielen Ringe an Ambelters Fingern. »Ich darf wohl annehmen, dass Ihr Euch der Möglichkeit reichlich bedient habt, den einen oder anderen Blick in die Kristallkugel zu werfen und sozusagen ›nach dem Rechten zu sehen‹.« Der Fürst nickte. »Ja, dass Ihr mir diese Möglichkeit eröffnet habt, verpflichtet mich wirklich zur Dankbarkeit Euch gegenüber. Nun denn, im ganzen Reich herrschen Unrast und Unruhe. Nachbar wendet sich gegen Nachbar und greift zur äußersten Gewalt. Die Menschen verwandeln sich in Bestien und fallen übereinander her ... In diesem Ausmaße kann das nicht mehr natürlich sein! Entweder haben die Götter die Menschen am Fluss verflucht, oder wir haben es mit schwarzer Magie zu tun. Angesichts des massenhaften Blutvergießens muss man entweder zu dem Schluss kommen, dass sich eine ganze Armee von Zauberern zusammengetan hat oder dass die Schlangenpriester ihre Hände im Spiel haben ... wenn man nicht unbedingt an die Geschichte der fahrenden Sänger von den Gesichtslosen glauben will, welche auferstehen, uns alle zu vernichten.« Der Erzmagier nickte langsam. »Wenn’s beliebt, die Gesichtslosen sind keine blanke Erfindung, aber es entspricht nicht ihrer Art, die Menschen auf diese Weise wie entfesselt
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übereinander herfallen zu lassen. Nein, da steckten wohl tatsächlich die Schlangen dahinter.« Phelinndar schüttelte langsam das Haupt. »Aber warum gerade so etwas? Warum dieses gegenseitige Zerfleischen? So mancher Fürst hat schon Angst und Schrecken verbreitet, aber noch nie hat jemand etwas unter die Menschen gebracht, das sie derart in den Wahnsinn treibt. Und dann noch wahllos! Es trifft Handwerker und Bauern, beides Gruppen, die doch jeder noch braucht, wenn er das Land beherrschen will! Ohne Unterschied der Person erfasst dieser Irrsinn die Getreuesten der Treuen bis zu den geschworenen Feinden! Welchen Sinn hat also eine solche Unternehmung? Wieso schlagen die Schlangenpriester wild und ziellos um sich wie dumme Bengel, welche zum ersten Mal mit ihrem Schwert losziehen?« Der Erzmagier zuckte die Achseln: »Weil man schon von getrübtem Verstand sein muss, um sich den Schlangenanbetern anzuschließen? Wer weiß das schon?« Phelinndar richtete sich in seinem Sessel gerade auf und umklammerte die Lehnen. »Genau das müssen wir aber herausfinden! Wie wollen wir unser Ziel erreichen, wenn im Stromtal nur noch Verrückte herumlaufen, welche in einem Moment übereinander und im nächsten über uns herfallen? Oder die, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, fraglos jeden noch so unsinnigen Befehl ausführen? Wie die gesamte Jahresernte anzuzünden oder das Wasser des Silberflusses zu vergiften?« Ambelter nickte. »Ich muss Euch in allen Punkten Recht geben. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich die
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Schlangenleute jahrelang nicht ernst genommen habe. Ansonsten bin ich ihnen tunlichst aus dem Weg gegangen, um dieses ebenso lästige wie gefährliche Geschmeiß nicht unnötig auf mich aufmerksam zu machen. Nicht dass ich nicht mit ihnen fertig werden würde, aber sie würden mir zu viel von meiner kostbaren Zeit stehlen. Aber damit muss jetzt leider Schluss sein. Wir wollen herausfinden, wer hinter den Schlangenanbetern steht und wie wir ihre Ziele für uns nutzen können.« »Ausgezeichnet!«, rief der Fürst. »Was sind denn schon ein halbes Dutzend Magier aus dem Ausland gegen eine ganze Armee von Spinnern, die bedenkenlos jeden Befehl ausführen und sich bereits im ganzen Stromtal ausgebreitet haben? Ja, wenn wir diese Leute für uns arbeiten lassen könnten ...« So sehr begeisterte den Bannmeister solche Vorstellung aber nicht. »Nach meiner reichhaltigen Erfahrung würde eine solche Gruppe bestenfalls eine unzuverlässige Waffe darstellen und daher von zweifelhaftem Wert sein. Aber ich bin durchaus damit einverstanden, alles über ihre Ziele und Vorhaben in Erfahrung bringen zu wollen. Daraus ergibt sich aber eine andere Frage: Angesichts der großen Anzahl der Schlangenanbeter, ihrer Unberechenbarkeit und der unbestrittenen magischen Fähigkeiten ihrer Priester ... dürfte es da ratsam sein, durch die Kristallkugel an ihre Geheimnisse gelangen zu wollen? Womöglich warten sie nur darauf, dass jemand so etwas versucht, um ihre geballte Macht dazu einzusetzen, sich an diesen Frechling zu heften und ihn aufzuspüren.« »Vielleicht stehen auch schon an den Grenzen des Reiches fremde Heere bereit, ihnen ihre weich gekochten Früh-
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stückseier, geräucherten Aal, in Honig eingelegte Baumwürmer aufzutischen oder was sie sonst an Leckereien bevorzugen!«, entrüstete sich Phelinndar. »Wir sollten vorsichtig vorgehen, keine Frage, aber es nutzt niemandem etwas, wenn wir hier wie zwei alte Tattergreise herumsitzen und uns gegenseitig mit Mutmaßungen über das erschrecken, was die Schlangen alles tun oder lassen könnten!« In diesem Moment flimmerte es neben Ingryl in der Luft. Er sprach sofort einen Bann und hob abwehrend die Hände. In dieser Stellung verharrte er auch noch, als sich das Flimmern in eine ebenso ausnehmend hübsche wie fremde Frau verwandelte. Sie hielt die Hände artig gefaltet und sah die beiden Männer offen an. Pechschwarzes Haar fiel in dichten Locken über ihr eng anliegendes schwarzes Gewand. Dazu schlanke Hüften, schlanke Fesseln und schmale Finger. Die junge Frau sah die beiden Männer abwechselnd aus dunklen Augen an. Der Fürst starrte sie an und spürte, wie Ambelter seinen Dwaer zu Hilfe nahm. Dann begann die Luft rings um die Schöne zu brennen. Doch als die Flammen sich wieder verzogen hatten, stand sie vollkommen unverbrannt da. Eine Geisterbotin, ja, es konnte sich nur um eine solche handeln. Der Bannmeister bezähmte seinen Schrecken und sprach die Erscheinung in strengem Tonfall an: »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, doch wisset, Geisterbotin, dass Ihr den Bannmeister von Aglirta vor Euch habt. Ich vermag Euch mit einem Lidzucken zu vernichten, und
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zwar ganz und gar und nicht nur diese Erscheinung hier, welche Ihr uns geschickt habt. Dass Ihr überhaupt noch am Leben seid, habt Ihr allein einem Umstand zu verdanken: Ich will Eure Spur verfolgen, Euch leibhaftig hier vor uns zerren und dann aus Eurem Munde erfahren, wie Ihr uns gefunden habt. Danach kommt Euch dann die Ehre zu, uns auf tausendfache Weise vergnügen und befriedigen zu dürfen. Bereitet Euch schon einmal auf Euren Untergang vor!« Der Dwaer stieg aus seiner Hand und schwebte vor ihm in der Luft. Phelinndar glitt eine Hand von der Lehne, und er wagte es nicht, sie wieder hochzuziehen. »Herr Ambelter«, begann die ungebetene Besucherin kein bisschen eingeschüchtert, »solche Anwendung von roher Zaubergewalt wird nicht notwendig sein ... und ist zudem zu leicht von denen nachzuverfolgen, welche schon nach Euch suchen.« Kurz ging es dem Fürsten durch den Sinn, die Erscheinung sei unbeweglich und könne nur auf der Stelle stehen. Aber dann fiel ihm auf, dass die junge Schöne bebte, und zwar nicht etwa aus Furcht, sondern vor Aufregung. »Mich ruft man Maelra Bogendrachen. Ich glaube, diesen Sippennamen habt Ihr schon einmal vernommen. Außerdem habe ich Eure Treffen mit meinen Onkeln verfolgt und kenne somit Euch und Eure Absichten.« Der Bannmeister verdrehte die Augen und fragte mit leise drohendem Unterton: »Und was verschafft uns die Ehre?« »Ich wollte Euch auf diese Weise nur wissen lassen, dass sich nicht alle Bogendrachen vor dem Stromtal fürchten.« »Und?« Ambelter verfärbte sich bereits.
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»Und ich wollte fragen, ob ich bei Euch mitmachen kann.« Finsterste Magie umwaberte sie bereits wieder. Hawkril blieb stehen, schnüffelte und ließ den Bogenschützen fallen, welchen er schon seit einiger Zeit mit einer Hand hielt. »Craer?« »Nicht aufhören!«, zischte der Beschaffer. »Vertraut ganz Embra, die wird schon damit fertig. Sonst kommen wir hier nie vom Fleck. Seit den Inseln habe ich nicht mehr so viele Bogenschützen auf einem Haufen gesehen!« Ein Platschen im Burggraben unterstrich seine Worte. Als die Wolke immer dünner wurde und sich ganz auflöste, zeigte sich der Beschaffer wieder und wischte sich die Hände am Hosenboden ab. »Jetzt habe ich genau zwei Dutzend von ihnen zu einem Bad verholfen. Sie sollten mir dafür dankbar sein. Seid Ihr auch noch schön fleißig dabei, alle Bogensehnen durchzuschneiden?« Hawkril nickte und deutete zu dem Turm hinter sich. »Eine Hand voll liegt immer noch da drinnen. Jedes Mal, wenn ich mich bücke, um einen weiteren Bogen an mich zu nehmen, schnappt so eine dämliche Schlange nach mir. Ich kann sie nicht mit dem Schwert erschlagen, denn dann umzingeln sie mich und beißen mich von allen Seiten. Das wäre ja wirklich die dümmste Taktik, welche ich ergreifen könnte.« Grunzend ließ er einen weiteren Soldaten auf den noch immer ansehnlichen Haufen fallen. Sie wollten die Bewusstlosen nicht in den Burggraben werfen, denn dann wären sie ertrunken. Aber sobald sich einer von ihnen regte, flog er unweigerlich über die Mauer.
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»Ja, wirklich sehr dämlich«, bestätigte der Beschaffer. »Warum unsere Damen die Priester nicht gleich ganz ausgeschaltet haben, ist mir auch ein Rätsel. Vielleicht müssen sie dieselben berühren, um sie daran zu hindern, sich in eine Schlange zu verwandeln. Aber, mein Lieber, ich habe es mir schon vor langem zum Grundsatz gemacht, alles, was die Magie betrifft, hübsch anderen zu überlassen. Mag sein, dass es nicht gerade das Gescheiteste ist, seine Brötchen als Beschaffer verdienen zu wollen, aber dafür kann ich nachts ruhig schlafen und muss nicht den Mond anheulen, wie das die Bannbändiger zu tun pflegen.« Der Hüne grinste, weil sein Freund da wieder einiges grob vereinfacht hatte. »Ich wette, unsere Damen werden begeistert sein, wenn sie erfahren, dass sie jede Nacht den Mond anheulen müssen. Aber vermutlich wissen sie das längst, weil sie uns bestimmt die ganze Zeit über belauschen.« »Aber gern«, entgegnete Craer, »ich helfe doch, wo ich kann.« Ohne den Blick von seinem Gefährten zu wenden, zog Hawkril einen Soldaten aus dem Haufen – dieser hatte die Augen etwas zu krampfhaft geschlossen gehalten – und warf ihn trotz heftiger Gegenwehr in hohem Bogen über die Zinnen. Der Mann verabschiedete sich mit einem lang gezogenen Schrei und einem lauten Platschen im Wasser. Der Recke ließ den Blick über die Wehrgänge schweifen. Sie waren leer, denn die letzten Wächter hatten sich längst verzogen. »Ich hoffe, da unten rennt nicht gerade einer herum und sammelt alle Wehrfähigen zum letzten Gefecht zu-
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sammen!« »Still!«, zischte der Kleine. »Ihr bringt die Schlangen nur auf dumme Ideen!« Er riss einen Schemel hoch und warf ihn in den Turm. Das Möbelstück knallte in eine Ecke, und dort brachten die Schlangen sich rasch in Sicherheit. Nur einer gelang das nicht mehr. Halb zerschmettert blieb sie liegen, und dunkles Blut rann von ihr auf den Boden. »Zu schade, da müssen sie schon wieder auf die weitere Mitarbeit eines ihrer Getreuesten verzichten«, sprach der Beschaffer treuherzig. Der Recke nahm aus dem Augenwinkel eine weitere Regung im Haufen wahr und riss den Erwachten gleich heraus. Schreiend und sich beschwerend versuchte der Mann, sich an dem Hünen festzuklammern ... nur um im nächsten Moment wie alle seine Vorgänger in hohem Bogen über die Mauer zu fliegen. »Wo mag nur der Burgherr stecken?«, fragte Hawkril sich und seinen Freund. »Man sollte doch annehmen, man hat uns hierher gelockt, um uns in eine Falle laufen zu lassen. Aber dann müsste Fürst Stornbrücke doch längst losgeritten sein, um aus dem ganzen Tal Hilfe zu holen.« »Ja, aber stattdessen bleibt er hier auf seiner Burg«, bestätigte der Beschaffer. »Macht sich lieber weiterhin mit den Schlangenpriestern gemein. Womit wir es hier die ganze Zeit zu tun gehabt haben, war bloßes Fußvolk, nämlich einfache Soldaten und niedrige Priester, welche keine andere Aufgabe hatten, als uns aufzuhalten. Und währenddessen nutzen der Fürst und die Oberpriester die Zeit, um etwas wirklich Großes auszubrüten. Vermutlich
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hält Embra mit letzter Kraft den Daumen drauf ...« Eine Schlange sauste haarscharf an Craers Gesicht vorbei. »So, jetzt reicht es aber!«, schnaubte der kleine Mann und stampfte los. »Hawkril, ich werde den Turm jetzt ausräuchern. Sonst erwischt uns früher oder später noch einer von diesen glitschigen Kriechern!« Der Hüne hörte Kreischen und Zischen ... und rannte seinem Freund hinterher. »Hawkril!«, brüllte Craer und streckte den Kopf zur Tür heraus. »Nehmt die Beine in die Hand!« Der Recke rannte tatsächlich los, als rings um ihn herum Schlangen zu Menschen heranwuchsen, und solange die Verwandlung noch nicht abgeschlossen war, stellten sie mit ihren Schlangenköpfen gefährliche Gegner dar. Die beiden Gefährten trafen sich hinter dem Turm und fanden hier einen Moment zum Verschnaufen. Die Priester züngelten Banne und Beschwörungen, und der Beschaffer schleuderte ihnen einen Dolch entgegen. Und noch einen. Der als Ziel erwählte Gegner wich geschickt aus und verspottete den Kleinen dann. Der dritte Dolch blieb im linken Auge des Schlangenpriesters stecken. Im nächsten Moment sprang der Hüne zur einen Seite in Deckung, und sein Freund begab sich ebenso rasch zur anderen. Feuer war nämlich unvermittelt im Inneren des Turms entstanden und raste nun fauchend auf die beiden zu. Der Recke sah sich nun zu allen Seiten von lodernden Flammen umgeben. Er verbarg das Gesicht zwischen den Knien und rollte wie ein Ball davon. Das Feuer versengte sein Haar und sauste über ihn hinweg.
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Auch der Umhang brannte. Hawkril erhob sich und befreite sich von ihm und von dem Schild. Nicht auszudenken, wenn ihn als Nächstes ein magischer Blitz traf. Er sah sich besorgt nach dem Beschaffer um. Craer hielt sich schon wieder in der Nähe des Turms auf und warf Messer durch die Öffnungen. Man konnte seinen flinken Bewegungen kaum mit bloßem Auge folgen. Der Recke entdeckte ein liegen gelassenes Schwert, brachte es an sich, spießte damit den brennenden Umhang auf, rannte zur offen stehenden Tür des Turms und schleuderte den Brand hinein. Der flammende Stoff traf auf einen Wandteppich und rollte daran hinab. In dem kurzen Lichtschein konnte der Recke drei Schlangenpriester ausmachen, welche dastanden und Zauber beschworen. In diesem Moment wachte wieder jemand in dem Haufen bewusstloser Soldaten auf und fing an, sich unter dem Gewicht seiner Kameraden zu bewegen, um sich davon zu befreien. Hawkril riss ihn mit starker Hand heraus, stellte ihn aufrecht hin, hielt ihn wie einen Schild vor sich und stürmte zur Turmöffnung. Nach drei Schritten begriff der Soldat, was mit ihm gespielt wurde, und fing an, grässlich zu schreien. Die Priester nahmen keine Rücksicht auf den menschlichen Schild. Einer schleuderte ihnen schwarzes Feuer entgegen, welches den Soldaten beinahe in zwei Teile schnitt. Eine Furche so breit und so tief wie eine Hand verlief quer über seinen Bauch. Hawkril warf den Mann in die Turmkammer und brachte
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einen Zauberer wie einen Kegel zu Fall. Dann schlug er einen Purzelbaum und brachte sich so mitten unter den Feind. Zwei Priester wichen ihm rasch aus und strebten zu einer besseren Schutz bietenden Stelle, um dort einigermaßen ungestört weiter ihre Zauber wirken zu können. Aber der Hüne hechtete unter den Tisch in der Mitte des Raums, erhob sich mit ihm auf den Schultern und wuchtete ihn den Priestern entgegen. Einer wurde von dem ungeheuren Geschoss gegen die Wand geworfen, ehe der Tisch auf den brennenden Wandteppich traf und ihn durch die Wucht seines Aufpralls herabriss. Craer wieselte flink herbei, erstach den so schwer verwundeten Priester und warf denselben Dolch auf den einzigen noch verbliebenen Feind. Die Klinge schlitzte dem Mann die Stirn auf, tötete ihn aber nicht. Er konnte aus dem Turm fliehen und über die Wehrgänge davonrennen. Craer hatte auch kein Messer mehr bei sich, um den letzten Gegner von seinem Vorhaben abzubringen. »Setzt alles in Brand!«, murrte der Beschaffer, hob zwei zerbrochene Bogen auf und folgte damit dem Priester. Hawkril riss die anderen Wandteppiche ab und warf sie zu dem bereits brennenden. Die daraufhin auflodernden Flammen erfassten nun auch den Tisch, bis dieser ebenfalls Feuer fing. Der Recke warf alles, was er fand, in den Brand. Stühle, Bänke und sonstiges Mobiliar. Gleichzeitig spähte er in alle Ecken, ob sich dort nicht noch eine Schlange verborgen hielt. Draußen schrie der fliehende Priester entsetzt, als der von Craer geworfene Bogen seine Beine traf und ihn zu Fall
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brachte. Plötzlich brach vor Hawkril die Wand auf, die Holzverkleidung flog ihm ins Gesicht, und er geriet ins Stolpern. Craer sprang ihm auf den Rücken. Zwei Männer sprangen heraus und rannten ins Freie: ein Priester mit wutverzerrter Miene und der Tersept von Stornbrücke in voller Rüstung. Hawkril rappelte sich wieder hoch und nahm gleich die Verfolgung auf. »Haltet ihn auf!«, befahl der Priester mit schneidender Stimme. Der Burgherr sah sich um, lief noch ein paar Schritte und blieb dann mit gezücktem Schwert stehen. Der Hüne ließ dem Tersepten keine Gelegenheit, sich in Kampfstellung zu bringen. Er duckte sich unter der Klinge hinweg, unterlief den Schwertarm des Mannes und rammte ihm dann den Ellenbogen in den Hals. Stornbrücke flog geradezu zu Boden, heulte und griff sich an den Hals. Hawkril konnte sich im Moment nicht weiter um ihn kümmern. Er musste den fliehenden Priester erreichen, ehe dieser die Gelegenheit fand, sich seiner Feinde mit einem Zauber zu erwehren – dann wäre das Leben von Craer und sein eigenes keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Der Priester warf einen Blick über die Schulter, und der Hüne ließ sein mächtiges Kriegsschwert durch die Luft sausen. Er traf zwar nichts, aber sein Feind verzog dennoch erschrocken das Gesicht. Der Schlangenanbeter stürmte auf die Zinnen zu, hinter welchen sich der Burggraben befand. Hawkril verdoppelte seine Anstrengungen.
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Da ertönte hinter ihnen die jämmerliche Stimme des Tersepten: »Reißzahnbruder Maurivan, helft!« Doch der Priester rannte weiter, als habe er nichts gehört. Da tauchte unvermittelt Craer vor ihm auf und grinste breit. »Guten Abend, werte Schleimschuppe, ein Tänzchen gefällig?« Maurivan versuchte, ihm auszuweichen und sein Heil in einem Sprung zwischen zwei Zinnen zu suchen. Ehe die beiden Gefährten ihn erreichten, gelang ihm tatsächlich die Flucht. Beide schauten ihm nach, bekamen jedoch nie das erwartete Platschen zu hören. Kurz bevor der Priester das Brackwasser erreichte, entstand ein geräuschloser Blitz, und in demselben verschwand Maurivan. »Ja, mit Magie kann das doch jeder«, murrte Craer abfällig. »Haben wir jetzt alles erledigt?« »Stornbrücke!«, rief der Recke, und die beiden rannten zurück. Der Tersept stand bereits wieder auf den Beinen. In der einen Hand hielt er sein Schwert, mit der anderen hielt er sich den immer noch schmerzenden Hals. »Wagt es nicht, mir zu nahe zu kommen!«, drohte der Burgherr den Hochfürsten, zog sich aber der Sicherheit wegen einen Schritt vor ihnen zurück. »Werter Herr«, erwiderte der Beschaffer, »Ihr erwartet doch wohl kaum von uns, dass wir erst Eure Soldaten vermöbeln, dann die Schlangen vernichten, welche Ihr hier auf Eurer Burg so willkommen geheißen habt, und Euch dann ungestraft davonkommen lassen, oder? Was, das glaubt Ihr doch nicht ernsthaft, oder?«
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Stornbrücke murmelte etwas Unverständliches und griff dann aus schierer Verzweiflung an. Wild hieb er mit dem Schwert nach links und nach rechts. Craer wich geschickt aus, so dass die hervorragende Klinge stets nur Stein traf und Funken schlug. Als der Tersept von der Wucht eines Hiebs mitgerissen wurde, trat der zierliche Mann nach ihm ... mit den ausgefahrenen Dolchen in seinen Stiefeln. Doch die Klingen klirrten, ohne Schaden anzurichten, über die Brustplatte des Burgherrn. Dennoch geriet der Mann aus dem Gleichgewicht. Hawkril sprang ihn ebenfalls an und brachte ihn damit endgültig zu Fall. Nun suchte er mit seinem Kriegsschwert nach durchlässigen Stellen in der Rüstung des Tersepten. Aber ehe er den Mann ernstlich zu verletzen vermochte, rollte dieser sich ab und sprang auf. Craer, der noch auf dem Boden lag, wickelte rasch seine Beine um die des Burgherrn und riss ihn nochmals zu Boden. Stornbrücke fiel wie ein gefällter Baum. Wieder entglitt das Schwert seinen Fingern, und Hawkril trat ihm fest in die Seite, damit er nicht Craer unter sich begraben konnte. Dann trat er den Tersepten noch einmal, damit dieser nicht gleich wieder aufsprang. Stornbrücke versuchte, sich auf allen vieren von ihm zu entfernen, und hätte vor Freude heulen mögen, als er plötzlich auf zwei Schwerter stieß, welche von seinen Soldaten stammen mussten. Mit einem heiseren Schrei sprang der Tersept auf und trat den Gefährten mit zwei blanken Schwertern entgegen. Aber Hawkril ließ sich davon nicht beirren. Er hieb dem Feind die eine Klinge aus der Hand und duckte sich rechtzei-
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tig, um dem Schwung der zweiten zu entgehen. Der Hüne lief weiter um ihn herum, so dass der Burgherr sich gezwungen sah, sich nach dem Angreifer umzudrehen und damit bot er dem Beschaffer seine Kehrseite dar. Craer sprang ihn denn auch gleich an, blieb auf seinem Rücken hocken und hielt ihm die Augen zu. Stornbrücke blieb nichts anderes übrig, als sich fallen zu lassen, um so den Quälgeist loszuwerden. Der Beschaffer hüpfte behände davon, und als der Tersept auf dem Rücken lag, sprang Craer ihm mit beiden Füßen auf das rechte Handgelenk. Stornbrücke brüllte, als seine Knochen hörbar zerbrachen. Auch das zweite Schwert konnte er jetzt nicht mehr benutzen. Der Recke wollte ihm schon den Gnadenstoß geben, wurde aber von seinem Gefährten daran gehindert. »Lieber Freund, bedenkt nur, wer alles schon auf Eure Rechnung geht«, rief der Beschaffer gut gelaunt. »Jetzt bin ich aber mal an der Reihe.« Schon nahm er wieder Anlauf und zertrümmerte dem Tersepten nun in der gleichen Weise auch das linke Handgelenk. Trotz seiner Schmerzen rappelte sich der Burgherr auf und versuchte zu entkommen. Ärgerlich schnaufend rannte Craer hinter ihm her und sprang ihm wieder auf den Rücken. Während der Tersept noch unter dem Aufprall schwankte, zerschmetterte der Beschaffer ihm mit einem gezielten Hieb die Nase. Wutentbrannt schüttelte Stornbrücke seinen Bedränger ab und hieb mit den Ellenbogen nach ihm. Der Beschaffer aber grinste nur, umtänzelte ihn und blieb
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stets gerade so eben aus seiner Reichweite. Irgendwann verlor Craer jedoch die Lust daran, hockte sich hin und ließ die Stiefelklingen erfolgreich gegen die Arme seines Gegners vorschnellen. Schließlich wurde es dem Tersepten zu dumm. Er stürmte blindlings auf seinen Gegner zu. Craer aber rollte nach links und nach rechts, und so ging jeder von Stornbrückes Hieben ins Leere. Endlich lehnte der Mann sich erschöpft gegen die Zinnen. Als er halbwegs wieder bei Atem war, versuchte er es erneut. Aber da wurde ihm ein Arm herumgedreht, und er stöhnte vor Schmerz. »Genug gespielt«, bemerkte der Kleine. »Für jemanden, der Aglirta verraten hat, lebt Dir schon viel zu lange. Höchste Zeit, dass Ihr jetzt sterbt und wenigstens den Fischen als Futter dient. Dann seid Ihr wenigstens im Tod noch zu etwas nütze.« Der Tersept spürte nun mehrere brennende Schnitte, und Stück für Stück wurde er seiner Rüstung entledigt. Craer schnitt mit seinen Stiefeldolchen alle Gurte auf, welche die einzelnen Platten zusammenhielten. Wenig später fuhr ein kühler Lufthauch über Stornbrückes entblößte, verschwitzte Brust. Dann fuhr ihm etwas wie Feuer und Eis zusammen in die Brust, und er konnte nicht mehr atmen und sich nicht mehr bewegen ... Der Beschaffer schob ein Bein unter den zusammensinkenden Feind, hob ihn an, benutzte die Zinnen als Hebel und befreite die Burg von ihrem Herrn. Einen winzigen Moment vor dem Auftreffen im Burggra-
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ben fand Stornbrücke die Kraft, einen Schrei auszustoßen ... doch der ertrank gleich darauf im brackigen Wasser. Nach dem großen Platscher richtete der Beschaffer sich zufrieden auf und sah zu seinem Freund hinüber. Doch die beiden kamen nicht dazu, sich über ihre Erfolge auszutauschen ... Von einer nahe der Burg gelegenen Anhöhe stieg eine Stichflamme in die Nacht. Noch während die beiden hinschauten, verwandelte sich die Feuersäule. Sie faserte an der Spitze aus, und die einzelnen Fäden nahmen die Form einer glühenden Schlange an. Sie hob sogar den Kopf, als halte sie nach Feinden Ausschau, und vielleicht lag man mit diesem Eindruck ja gar nicht so falsch ... Jetzt fuhr ihr auch noch eine gespaltene Zunge aus dem Maul. »Heil und Segen der Großen Schlange!«, krächzte neben den Gefährten jemand. Die Hochfürsten fuhren herum und gewahrten einen Priester, welchen Craer vorhin niedergemacht hatte. Die Feuerschlange spiegelte sich in seinen brechenden Augen wider. Der Schlangenanbeter schluckte, spuckte Blut und brachte noch ein letztes Wort hervor: »Auncrauthador!« Die beiden Gefährten sahen sich achselzuckend an, und im nächsten Moment spürten sie die Kälte eines magischen Blickes, welcher feindlich gesonnen auf ihnen ruhte. Irgendein Schlangenanhänger beobachtete sie aus einiger Entfernung. Vermutlich von der nämlichen Anhöhe. Jetzt konnten sie es auch hören: ein Säuseln wie von einer leichten Brise, doch bei genauerem Hinhören etwas zu hart für ein
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laues Lüftchen ... das musste der gezischte Gesang eines Schlangengottesdienstes sein. Dann Gebrüll vom Burghof. Craer und der Recke blickten sofort nach unten: Soldaten, Bedienstete und andere Bewohner der Burg schlugen, traten oder hieben aufeinander ein ... oder rannten sinnlos und ziellos in der Gegend herum. Der Beschaffer war mit zwei Riesenschritten bei dem sterbenden Priester und schlug ihm zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. »Was geht hier vor? Warum gebärden sich alle wie rasend? Los, sagt es mir!« Zitternde Lippen verzogen sich zu einem letzten Lächeln, und der Sterbende verriet: »Die Blutpest ... Sie ist endlich über uns gekommen ...«
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Zwölf
Die Pest greift um sich C Feuer sprang in die Nacht. Flaeros Delkamper starrte nachdenklich darauf. Wenig später schoss die nächste Flamme in den Himmel, als wollte sie die Sterne versengen. Vermutlich stammte das nächste Feuer aus dem Nachbardorf, aber etwas gefiel Delkamper nicht daran: »Die Zeit von Kirchweih und Jahrmarkt ist noch nicht angebrochen ... Was geht da vor?« Auf dem Handelsschiff befanden sich nur noch drei andere zahlende Fahrgäste. Der eine davon schlief, aber die beiden anderen starrten ebenso gebannt wie Flaeros auf das Flammenschauspiel. »Wisst Ihr, was das zu bedeuten hat?«, erkundigte sich Delkamper bei den Mitreisenden. Der eine von ihnen, ein in Grün gewandeter Kaufmann aus Sirl, schüttelte nur den Kopf mit dem sauber getrimmten Bart. Die Ruderbesatzung hatte das Schiff bisher in gewohntem Trott durch die seichteren Gewässer in Ufernähe vorangetrieben. Doch beim Anblick der Feuer verdoppelten die Männer gleich ihre Anstrengungen, obwohl ihnen gar kein Befehl da-
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zu erteilt worden war. Im ersten Moment ruckelte das Schiff hierhin und dorthin, bis die Ruderer ihren neuen Rhythmus gefunden hatten. Ein Wind kam auf, und zum ersten Mal hörten die Menschen an Bord vom Ufer her leise Schreie und Rufe. Flaeros begab sich zum Kapitän, der in seinem Ausguck stand und nach vorn spähte. Einige Soldaten aus Sirl wollten sich Delkamper in den Weg stellen, aber ein Wort des Schiffsführers hielt sie zurück. Als der fahrende Sänger sich ihm näherte, hielt Kapitän Rold nicht damit inne, den Weg voraus im Auge zu behalten. Er hatte sich von irgendwoher einen Zweizack besorgt und sich den auf den Schoß gelegt. Noch bevor Delkamper seine Fragen vorbringen konnte, sah ihn der Schiffsführer nur an und meinte: »Ich weiß auch nicht, was da vorgeht, Meister Barde. Aber ich würde es begrüßen, wenn Ihr Euch damit bescheiden würdet, Euch wieder zu den anderen zu stellen, in aller Stille das Schauspiel zu betrachten und zu warten, bis ich eine Erklärung abgebe. Ihr müsst nämlich wissen, dass uns die Arbeit an Bord weder von Panik noch von anderer Unruhe sonderlich erleichtert wird. Deshalb tut mir die Liebe und haltet lieber Ausschau nach Bogenschützen am Ufer. Und darüber hinaus helft Ihr uns allen am meisten –« »Wenn ich den Mund halte?« Der Kapitän nickte knapp und richtete dann seine gesamte Aufmerksamkeit wieder auf die Fahrstrecke. Nach einem Moment seufzte Flaeros. »Einverstanden«, erklärte er dann, »aber nur unter einer Bedingung. Ihr müsst
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mir eine Frage beantworten, und zwar in aller Offenheit. Ich verspreche Euch, dass ich niemandem etwas davon sagen werde ...« Flaeros deutete bei den letzten Worten auf die Mitreisenden, welche mit leichtem Gruseln zusahen, wie überall immer mehr Feuer auftauchten. Ihnen allen war gemein, dass sie nicht breit und wuchtig wie ein Freudenfeuer brannten, sondern in Form einer schlanken Säule nach oben rasten. Der Herr der Silberflosse antwortete nach einem Blick auf die Anzahl der Feuer seufzend: »Also gut, Herr Delkamper, stellt mir die eine Frage.« »Warum befinden wir uns auf dem Wasser? Schiffe befahren den Silberstrom für gewöhnlich nicht des Nachts. Ich erinnere mich auch daran, dass wir gestern Abend angelegt und das Schiff vertäut haben ... Als ich vorhin aufgewacht bin, befanden wir uns aber schon wieder auf Fahrt, und eine oder zwei von diesen Feuersäulen brannten.« Die Brisen trugen neues Geschrei heran. Die Menschen, von denen diese Ausbrüche stammten, hörten sich verängstigt an. »Ist in Aglirta der Krieg ausgebrochen?«, stellte Flaeros eine Zusatzfrage, obwohl man die doch eigentlich schon als zweite Frage hätte werten müssen. Der Schiffsführer zuckte die Achseln. »Nun, was Krieg, Feuer und Geschrei betrifft, so weiß ich darüber genauso wenig wie Ihr. Gewiss, im Reich geht irgendetwas vor, das steht ohne jeden Zweifel fest. Aber ich kann Euch als Antwort nicht mehr anbieten als dies: Wir haben so rasch wie möglich abgelegt und Sabbar verlassen.«
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Delkamper ließ den Blick über die hart arbeitenden Ruderer schweifen und bemerkte im Widerschein der Feuer, wie sehr ihre Leiber schwitzten. Dabei herrschten durchaus keine schwülen Temperaturen. »Warum?«, bohrte der fahrende Sänger nach, als er den Eindruck gewonnen hatte, dass Rold nichts mehr sagen wollte. »Werter Herr«, entgegnete der Schiffsführer dann, »sind Euch jemals Löwen mit zwei Köpfen untergekommen, deren hintere Körperhälfte aus einem Schlangenleib besteht, so dass sie halb laufen und halb kriechen? Oder Spinnen so groß wie ein Esel und mit einem Dutzend Schlangenköpfen, welche ihnen aus dem Leib wachsen?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Delkamper. »Solche Fabelwesen sind aber den Herolden bekannt. Man nennt sie Krimrazin und in der Mehrzahl Krimrazor. Die Wüsten- und Ödlande von Sarinda sollen, wenn man den alten Geschichten Glauben schenkt, einmal dicht von ihnen bevölkert gewesen sein.« »Tatsächlich? Na, dann danke für den Hinweis. Sollte es mir jemals in den Sinn kommen, die Wüste von Sarinda bereisen zu wollen, so werde ich wohl davon Abstand nehmen.« »Kapitän Rold«, verlangte Flaeros zu erfahren, »wollt Ihr mir etwa weismachen, Ihr hättet heute Nacht solche Fabelwesen gesehen? Hier im Reich? Echte Krimrazor und nicht irgendwelche von einem wahnsinnigen Zauberer geschaffene Wesen, um Euch von der Anlegestelle zu vertreiben, weil er die für jemand anderen benötigte?« »Ich habe aber keinen Magier gesehen«, beharrte der Schiffsführer. »Zumindest niemanden in Gewändern, in wel-
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chen man solche Leute gemeinhin antrifft, und auch niemanden, der mit den Armen durch die Luft gerudert und irgendwelchen Firlefanz angestellt hat ... Aber ich habe sowohl doppelköpfige Löwen wie auch Spinnen mit Schlangenhäuptern erblickt, mein lieber Herr. Sie kamen zum Hafen heruntergestampft und haben einigen Männern aus der Besatzung der Taratheena den Kopf abgebissen ... Das Schiff hatte gleich neben uns angedockt. Als ein Doppellöwe, der sich gerade an den Fahrgästen gütlich tat, dann die Köpfe hob und in unsere Richtung schaute, habe ich meine Männer angebrüllt, die Taue durchzuhauen und auf den Silberstrom hinauszufahren.« Sie gelangten in eine große Flussbiegung und erblickten vor sich noch viel mehr Feuer. Flaeros schüttelte den Kopf. »Mir liegt es natürlich fern, Herr, an Eurem Wort zu zweifeln, allein es fällt mir schwer, so etwas zu glauben.« »Da seid Ihr nicht der Einzige«, entgegnete Rold. »Und nun, werter fahrender Sänger, seid versichert, dass ich Euch, der Mannschaft und dem Schiff am meisten nütze, wenn ich vorausschaue und die Augen nach Sandbänken und heranschwimmenden Ungeheuern offen halte. Wenn Ihr also so freundlich wärt ...« »Selbstverständlich.« Delkamper drehte sich um und verließ unter den aufmerksamen Blicken der Wächter den Bug des Schiffes. Während er an seinen Platz zurückkehrte, erfüllte ein sonderbares Brausen die Luft, schwoll im ganzen Tal an und schien von den vielen Gläubigen an Land aufgenommen und
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verstärkt zu werden. Die Flammensäulen beugten sich nun vor, und ihre Spitzen zerfaserten und nahmen die Form einer Schlange an. Schlangenhäupter erhoben sich und schauten suchend in diese Richtung und in jene. Flaeros machte an der nächsten Feuerschlange eine Schar von Gläubigen aus, die einen Ring bildeten und sich an den Schultern fassten. Der Kopf dieser Schlange beugte sich zum Strom vor, und eine gespaltene Zunge aus reinem Feuer schlängelte sich aus ihrem Maul. Delkamper spürte die Hitze auf seinem Gesicht, fuhr zurück und brummte: »Das hätte ich mir ja gleich denken können. Immer stecken die verdammten Schlangenanbeter dahinter.« Überall auf dem Schiff erkannten die Menschen jetzt, mit wem sie es zu tun hatten. Die meisten schüttelten den Kopf, einige stöhnten auch. Sie kamen an einer Heuscheune vorbei, und just in diesem Moment ging dieselbe in Flammen auf. Aber dieses Feuer besaß nicht die Form einer Schlange – wenigstens jetzt noch nicht. An Bord konnte man im Flammenschein deutlich erkennen, wie Menschen hin und her rannten. Offenbar floh hier die eine Hälfte der Stromtalbevölkerung vor der anderen. Einige unter ihnen bewegten sich auffällig merkwürdig. Steifbeinig sanken sie zu Boden und verwandelten sich in Wesen, die schnaubten und grunzten. Sie bewegten sich fortan auf allen vieren fort, und ihnen wuchsen Fangarme, Hummerscheren oder Klauen mit Wi-
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derhaken. Kreischend rannten die anderen vor ihnen auf und davon, aber die Untiere ließen nicht von ihnen ab, fingen den einen oder anderen und fraßen ihn auf. »Bei der Dreifaltigkeit!«, keuchte jemand an Bord. Eine Frau in einem vornehmen, aber mittlerweile zerrissenen Gewand kam ans Ufer gelaufen. Zwei Jungen folgten ihr und holten sie am Wasserrand ein. Sofort schlugen sie auf sie ein, zerschmetterten ihr das Gesicht und zerfetzten den Rest ihrer Kleidung. Aber die Frau biss nach ihnen, und mit einem Mal bekam sie den einen der Knaben zu fassen. Sie tauchte ihn unter Wasser und bemühte sich gleichzeitig, den anderen abzuwehren ... Was die Reisenden an Bord der Silberflosse am meisten bestürzte, war der Umstand, dass die drei ohne Rücksicht auf eigene Verluste auf den jeweiligen Gegner eindrangen. Jede Bewegung schien darauf angelegt zu sein, dem Feind möglichst viel Schaden zuzufügen. Und es waren ja nicht nur diese drei am Wasserrand. Alle schienen der Raserei verfallen zu sein. Ein Mann drehte sich sogar um und drang auf das Untier ein, welches ihm nachstellte, biss sogar ganze Stücke aus ihm heraus. Überall schlug und trat man aufeinander ein, als habe der blanke Irrsinn das ganze Land erfasst. »Das ist das Ende der Welt!«, stöhnte jemand an Bord. »Das ist Magie«, bemerkte ein Wachsoldat nur, spuckte in den Fluss und sog in regelmäßigen Abständen an seinem Zuckerholz. »Derselbe ›Segen‹, welcher Aglirta regelmäßig zuteil wird«,
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bemerkte der Mann dann, »irgendein Fluch, mal ausgesprochen von einem Bannschmied, mal von einem Schlangenpriester ... Um das Reich zu beherrschen, so glauben sie, müssen sie es erst zerstören oder in den Untergang treiben. Solange die Reichsbürger nicht aufstehen und solches Ungeziefer mit Stumpf und Stiel ausrotten, wird es wieder und wieder und wieder dazu kommen ... Mein Vater hat mir erzählt, dass diese Pest vor vierzig Jahren schon einmal ausgebrochen ist ... und heute sind wir schon wieder so weit. Wie tief ist das Land ohne König gesunken?« »Na ja«, wandte Flaeros ein, »einen König hat das Reich aber inzwischen.« Der Söldner sah ihn belustigt an. »Da muss ich aber lachen. Ein König ohne Untertanen! Wer gehorcht ihm denn schon? Die Schlangen scheren sich einen Dreck um Seine Majestät, und die Fürsten treiben es so arg wie eh und je. Und Friede ist in diesem Land noch genauso unbekannt wie früher.« Er zeigte auf das Ufer, wo die Menschen immer noch schrien und um sich schlugen. Dann meinte er müde: »Ach, wenn das Reich doch nur einen richtigen König hätte ... Zu welch wahrer Größe vermöchte es sich aufzuschwingen?« »Ich glaube, es besitzt schon wahre Größe«, erwiderte der fahrende Sänger, »denn wie hätte es sonst all das überstehen sollen ... die Weltensteine, welche ihm immer wieder verloren gegangen sind, das wüste Treiben von Fürst Silberbaum und seinen Dunklen Drei, den Ansturm Blutklinges, das Erscheinen der Großen Schlange oder den Tod von König Schneestern ... Wahrlich, Aglirta hat schon eine Menge
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durchgemacht und überlebt!« Der Soldat starrte weiterhin auf die Feuerzeichen und das sich wie rasend gebärdende Volk. »Überlebt? Wie man es nimmt, nicht wahr?« Die anderen an Bord nickten dem Söldner grimmig zu, und das Schiff setzte seine Fahrt durch das Tal des Blutvergießens fort. Überall schaukelten Leichen im Wellengang. »Seid Ihr das, Tschamarra?« »Das sollte schon ich sein, denn jeder anderen würde ich die Augen auskratzen«, entgegnete die Letzte der Talasorn, klappte die Laterne auf und schlang die Arme um Craer. »Jetzt sind wir aber tüchtig müde, was?« »So, so«, meinte der Beschaffer, »Ihr fühlt Euch also erschöpft. Während Hawkril und ich wie die Narren herumgesprungen sind und die Schwerter geschwungen haben, habt ihr drei Holden doch nur auf eurem Sofa gelegen und dem Weltenstein leise Lieder vorgesummt. Wirklich eine erschöpfende Tätigkeit.« »Reizend wie immer, unser Langfinger«, bemerkte Schwarzgult vom anderen Ende der Kammer. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie anstrengend es ist, sich seinen einmal erworbenen Ruf zu erhalten«, erwiderte Craer. Der Goldene Greif meinte dann: »Wir haben keinen neuen Zauber gespürt, und die alten sind nach und nach erloschen. Das heißt doch wohl, dass ihr beide alle Schlangen erschlagen habt oder sie geflohen sind. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr auch dem Burgherren ein gebührendes Ende bereitet habt.«
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»Ja, ein Priester konnte entkommen«, brummte Hawkril und schob sich durch den für ihn recht engen Eingang. »Der Beschaffer hat eigens für den Tersepten einen Todestanz entwickelt, welcher einen vollen Erfolg verbuchen konnte. Tja, jetzt ist leider niemand mehr übrig, welcher Stornbrücke beweinen könnte.« Er sah seinen Freund an, und der nickte ihm zu. »Wir müssen leider auch etwas Unangenehmes melden: Die Schlangenanbeter haben einen neuen Bann über das Reich gebracht ... etwas, das sie Blutpest nennen ... die soll sich schon im ganzen Stromtal ausbreiten.« Embras angespannte Gesichtszüge wurden noch bleicher. »Ja, es hat den Anschein, als sei dagegen kein Kraut gewachsen. Die Pest befällt Menschen, welchen es im Traum nicht einfallen würde, der Schlange Ehrerbietung zu erweisen ... aber auch die Schlangenanbeter ...« Die Zauberin zuckte zusammen, als ihr etwas Furchtbares einfiel. »Wir müssen uns sehr damit einschränken, den Dwaer zu benutzen. Sonst bekommt man uns über den Weltenstein zu packen ... Zu viel Zauberenergie ist hier im Spiel, und die gebärdet sich so verdreht ...« Der Beschaffer nickte. »Na schön, und womit stillen wir jetzt Hunger und Durst?« Die anderen starrten ihn zuerst verständnislos an, dann fing der ehemalige Regent an zu lachen, und nach und nach fielen alle Gefährten darin ein. Craer baute sich vor den anderen auf: »Sind wir nun die Herren von Stornbrücke oder nicht? Wenn wir die wohl gefüllte Speisekammer finden, richten wir uns darin ein. Die eine Hälfte kann schlafen, und die andere hält Wache. Na,
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wer ist dabei?« »Das ist der beste Vorschlag, den ich je von Euch gehört habe, mein Freund«, lobte Embra. Auch die anderen stimmten zu, und allmählich breitete sich unter den Gefährten beste Stimmung aus. »Bevor jemand auf die Idee verfällt, ich als Zauberkundige sollte mich auf die Suche machen und durch die Burg tappen«, meinte die Edle dann, »schlage ich vor, dass wir untereinander beraten, wo die Speisekammer oder der Weinkeller zu finden sein könnten. Nach allem, was mein Weltenstein mir mitgeteilt hat, halten sich im weiteren Umkreis weder Soldaten noch Bedienstete noch Schlangenpriester auf.« Der Beschaffer verzog das Gesicht. »Sind sie aus Furcht vor unseren Waffen und Zaubern geflohen, oder haben sie sich aus Freude darüber, ihre Herren losgeworden zu sein, aus dem Staub gemacht? Oder sind sie am Ende ebenfalls der Blutpest anheim gefallen?« »Ja, auch vor ihnen hat diese heimtückische Krankheit nicht Halt gemacht«, antwortete die Herrin der Edelsteine. »Ich habe durch den Dwaer gesehen, wie sie übereinander hergefallen sind.« »Und ich habe mit eigenen Augen gesehen«, fügte Embras Vater hinzu, »wie ein Soldat hingefallen ist. Als er sich wieder bewegen konnte, hatte er sich in ein Echsenwesen verwandelt. Seine Kameraden haben ihn mit Speer und Schwert zu Tode gebracht und seine Überreste in den Burggraben geworfen.« »Ich möchte vorschlagen«, wandte Tschamarra ein, »dass wir uns später noch um all das kümmern können, was das Reich befallen hat. Zunächst einmal sollten wir uns um uns
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selbst sorgen.« Als kein Widerspruch erfolgte, fuhr sie fort: »Mit mir ist immer noch nicht alles in Ordnung. In meinem Innern, versteht ihr? Vielleicht habe ich mich ja an der Blutpest angesteckt, oder an irgendetwas anderem.« Die Letzte der Talasorn blickte in die Runde und sah betroffene Mienen. »Ich weiß auch, dass es mir nicht allein so geht. Wir sollten dringend versuchen, uns mit Hilfe des Weltensteins von allen entsprechenden Keimen zu reinigen, sofern das überhaupt möglich ist.« »Essen, trinken und schlafen«, fasste Hawkril ihre weiteren Pläne zusammen. »Und eine ruhige Kammer, in welcher die Damen mit dem Dwaer heilen können. Vor allem aber sollten wir Schlaf finden.« »Ja, da muss ich Euch unbedingt Recht geben«, schloss sich Embra an. »Schlaf haben wir alle am dringendsten nötig. Aber wo sollen wir hin? Bis zu der Küche ist es ein ganz schönes Stück, und woher sollen wir wissen, dass niemand die Vorräte oder das Wasser vergiftet hat ... Vielleicht wird ja auch die Blutpest über Lebensmittel übertragen ...« »Würste und Gurken scheinen mir sicher zu sein«, erklärte der Kleine im Brustton der Überzeugung. »Schlangenanbeter rühren so etwas in der Regel nämlich nicht an. Da werden sie sich heute auf der Flucht kaum die Zeit genommen haben, solche Speisen zu besudeln.« »Und wir teilen uns nicht mehr auf«, sprach nun Tschamarra. »Wohin wir uns von nun an auch wenden, wir gehen zusammen!« Der Recke wandte sich an seine Liebste. »Wenn Ihr noch genug Kraft in Euch spürt, die eine oder andere Tür mit ei-
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nem Zauberstoß zu sprengen, sollten wir auf den Burghof hinabsteigen, am rechten Turm entlanglaufen und dann dort in die Küche eindringen.« Da niemand etwas daran auszusetzen zu haben schien, legte der Hüne auch den Rest seines Plans dar: »Dort raffen wir alles an uns, was wir brauchen, schauen uns um, ob niemand in der Nähe ein Schlangenfeuer entzündet hat, und ziehen uns dann in eine der oberen Turmkammern zurück. Dort sollten wir für eine Weile Ruhe finden.« Die Zauberin strahlte. »Ausgezeichnet. Genau so wollen wir vorgehen, einverstanden?« »Einverstanden«, sprach Schwarzgult mit so dröhnender Stimme, dass er alle anderen Entgegnungen übertönte. Schließlich wusste er aus leidvoller Erfahrung, dass die Gefährten so schnell kein Ende fanden, ließ man sie erst einmal nach Herzenslust debattieren. Auf dem Flur zur Küche stießen sie auf vier Wachsoldaten. Diese schwangen sofort ihre Waffen und rückten gegen die Eindringlinge vor. Hawkril und Schwarzgult ließen sich nicht lange bitten und traten ihnen entgegen. Doch da fing der erste Soldat unvermittelt an, grässlich zu schreien, fiel auf die Knie und löste sich langsam auf. Die Gefährten wichen ein Stück weit zurück, und die drei anderen Soldaten folgten ihrem Beispiel. Beide Seiten verfolgten in angespanntem Schweigen, wie Brustpanzer und Kleider von dern Wächter am Boden abfielen. Dann erhob sich dort ein stark behaartes, wolfsartiges Wesen und stand etwas wacklig auf seinen vier Beinen da. Nach einem Moment knurrte es mit machtvoller Stimme,
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schüttelte sich und setzte sich mit gefletschten Zähnen in Bewegung. Der Recke und der Goldene Greif standen Schulter an Schulter und erwarteten den Angriff. Aber die Bestie sprang mitten auf ihre Schwerter, und nach wenigen Momenten und viel spritzendem Blut verendete das Untier vor ihnen. Die Hochfürsten sahen sich verwundert an und stiegen dann über den Kadaver. Die Soldaten blickten ihnen unsicher entgegen, machten dann auf dem Absatz kehrt und suchten ihr Heil in der Flucht. »Endlich einmal Soldaten mit Grips im Kopf«, grinste der Beschaffer. »Ich habe schon die ganze Zeit über in Erfahrung bringen wollen, wo der Burgherr sie versteckt haben mag.« »Was ich überhaupt nicht in Erfahrung bringen will«, wandte Tschamarra ein, »ist, in was für eine Art von Ungeheuer die Köche sich verwandelt haben mögen.« Die Küche erwies sich jedoch als verlassen. Offenbar hatte man sich in aller Eile aus dem Staub gemacht. Hier verbranntes Essen, dort verschüttete Lebensmittel, da verglimmende Feuer. Und auf einem Hackbrett eine halb geschnittene Zwiebel. »Dann suchen wir hier mal nach Würsten und Gurken«, seufzte Embra. »Na, kein Grund, Trübsal zu blasen«, widersprach Hawkril. »Die eine Hälfte von dem Braten ist noch nicht verkohlt, und wenn meine Nase mich nicht täuscht, ist der Eintopf auch noch genießbar.« »Haltet Eure Tasche auf, Tschamarra«, rief der Beschaffer. »Hier liegen Käse- und Brotlaibe zuhauf herum. Keiner muss
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hungrig bleiben.« »Könnten wir uns nicht einfach hier verbarrikadieren?«, fragte die Letzte der Talasorn. »Warum muss es unbedingt eine Kammer sein, zu der man erst sechs oder sieben Treppen hinauflaufen darf?« »Wir brauchen einen Raum mit festen Mauern, aus dem man uns weder durch Brand noch durch Fluten hinaustreiben kann«, entgegnete Schwarzgult seufzend. »Vorzugsweise mit höchstens zwei Zugängen, weil wir die gut verteidigen können.« Während Craer und der Hüne die Wandschränke und Speisekammern absuchten, meinte der Goldene Greif noch: »Jeder, der sich hier noch irgendwo herumtreiben sollte, dürfte über kurz oder lang zur Küche kommen, um sich mit Vorräten einzudecken.« »Ob die für uns eine allzu große Gefahr darstellen, bliebe ja wohl noch abzuwarten«, erwiderte der Beschaffer. »Aber ganz gleich, was wir uns ausdenken, das letzte Wort hat immer noch unsere Zauberin.« Embra schritt die Gewürzregale ab: »Eingelegte Kräuter, Sauerwurz, Gelbblatt – damit lässt sich eine Menge anfangen.« Während alle noch auf die Entscheidung der Fürstin Silberbaum warteten, besorgte Craer zwei Schüsseln und trat damit vor die beiden Damen. »Meine Fräuleins, eure Kammerpötte für die Nacht. Bitte bedankt euch nicht bei mir, solcher Dienst ist für einen Ehrenmann wie mich eine Selbstverständlichkeit.« »Tschamarra«, sprach Embra, »tretet ihn bitte, aber dahin, wo es weh tut.«
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»Noch mehr«, meinte der Beschaffer nur, als er zwei prall gefüllte Säcke neben Schwarzgult abstellte und dann wieder in dem Bogengang verschwand. »Ist bestimmt schon einen halben Tag her, seit der Gute zum letzten Mal plündern konnte«, meinte Tschamarra. »Er hat schon richtige Entzugserscheinungen.« »Ich hoffe nur, er findet auch einen Wagen, um all das Zeugs hier fortzuschaffen«, grinste die Herrin der Edelsteine. »Meine Gute«, entgegnete der ehemalige Regent mit leisem Tadel, »Käse und Wein entzücken jedermanns Herz. Seid nicht so streng mit unserem jungen Freund. Vermutlich sollten wir auch die Truhe dort mitnehmen, für das Geld darin finden wir sicher bald Verwendung.« Auch in der Küche fanden sich in allen möglichen Ecken zusammengekrümmte, zerfetzte oder angenagte Leichen. Überhaupt schien sich die ganze Burg in ein riesiges Beinhaus verwandelt zu haben. Hinzu kamen die Feuer, welche in allen möglichen Winkeln vor sich hin qualmten. Daneben hatte man so gut wie sämtliche Türen aufgebrochen, die Möbel zertrümmert und alles auf dem Boden verstreut, was das Mitnehmen nicht lohnte. Wenn man auf den Zinnen stand und das Geschrei der Kühe vernahm, konnte man sich vorstellen, dass es ringsum in den Dörfern ähnlich aussah. Jeder, der den Ausbruch der Pest überlebt hatte, war gewiss weit, weit fortgelaufen oder hatte sich irgendwo gut versteckt. Auf dem Weg zur ihrem Turm kamen die Gefährten an den Stallungen vorbei. Bei vielen hatte man die Tore aufge-
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rissen, und dahinter erkannte man zerrissene oder halb aufgefressene Pferde. »Wollen wir hoffen, dass sie uns noch ein paar Reittiere übrig gelassen haben«, brummte Hawkril und trat vorsichtig und mit gezücktem Schwert in einen der Ställe. Die letzte Begegnung mit einem Pestungeheuer hatte ihn besonders vorsichtig werden lassen. Die Bestie hatte sich von oben auf ihn fallen lassen, und die tiefen Kratzer auf der Rüstung des Hünen zeugten noch jetzt von der Kraft des Angreifers. Jetzt entdeckte er in einer Ecke zwei Leichen, welche Riesenschildkröten mit Klauen ähnelten und sich über den Tod hinaus umklammert hielten. Übelkeit erregender Aasgestank drang von oben herab, aber im Stall war niemand mehr am Leben, welcher dem Recken hätte gefährlich werden können. Dafür stieß der Hüne aber auf einige Rösser, welche verschont geblieben waren. Doch diese Reittiere litten solche Angst, dass sie bei jedem austraten, der ihnen zu nahe kam. »Sieben Gäule, die wir gebrauchen könnten«, verkündete Hawkril, als er wieder nach draußen getreten war. »Aber leider keine Fuhrwerke, Hochfürst Craer Delnbein.« »Keine Wagen? Dann werden wir wohl die Klepper mit Satteltaschen beladen müssen. Alles, was nicht mehr hineingeht, binden wir obendrauf fest.« »Das kann ja heiter werden«, schmunzelte Embra. »Wehe dem, der sich uns in den Weg stellen will.« »Bei der Dreifaltigkeit, mich deucht, Ihr habt Recht!«, fügte Schwarzgult lachend hinzu. »Helft mir lieber, den Rössern hier Zaumzeug und Sattel
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anzulegen, statt den Göttern mit dummen Sprüchen die Zeit zu stehlen«, beschwerte sich Tschamarra mit gespieltem Ernst. Sie betrachtete unsicher eines der Pferde, welches auch nicht so recht zu wissen schien, was es von ihr halten sollte. »Oder brauchen die versammelten Hoch- und Edelgeborenen vielleicht eine güldene Kutsche, welche sie abholen kommt?«, fügte die Letzte der Talasorn hinzu, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. »Wie soll aus Aglirta jemals ein Hort des Friedens und des Wohlstands werden«, entgegnete die Zauberin, »wenn man es nicht einmal ein paar Hochfürsten gestatten will, sich dem Müßiggang zu widmen?« Tschamarra sah sie von oben bis unten an. »Jetzt bewegt Euch endlich hierher, sonst lege ich Euch das Zaumzeug an, und ich bin nicht sehr wählerisch darin, welches Teil in welche Öffnung gehört!« »Äh, ja, sofort«, entgegnete die Herrin der Edelsteine. »Herr Vater, Ihr kennt Euch doch sicher mit solcher Arbeit aus, oder?« »Aber sicher doch.« Schwarzgult ging geradewegs auf den Gaul zu, lenkte mit einer Hand den nach ihm ausschlagenden Vorderhuf ab und drückte das Tier Brust an Brust immer weiter zurück, bis es sich widerstandslos das Zaumzeug anlegen ließ. »Ist doch ganz einfach, oder?«, meinte der ehemalige Regent danach. Tschamarra und Embra verdrehten beide die Augen und hatten sich noch nie so sehr einer Meinung gefühlt. Überall in der Stadt Stornbrücke brannte es, ständig stieß man
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auf Blutlachen, und kaum fand sich eine Ecke, in welcher nicht eine angefressene Leiche lag. Die Rösser der Gefährten schnaubten und drohten auszubrechen, kaum vermochte der Weltenstein, sie zu beruhigen. Die Reiter sahen sich angewidert zwar nach allen Seiten um. Man hörte jedoch nicht einen Hund bellen – wohl deshalb, weil sie allesamt verspeist worden waren. Möglicherweise von den Schatten, welche von Strauch zu Strauch und von Baum zu Baum schlichen. Sie folgten den Reitern und ihren Packpferden auf Schritt und Tritt, kamen ihnen aber nicht zu nahe. »Das habe ich mir also unter der Blutpest vorzustellen«, meinte Tschamarra düster und im Hinblick auf die allgemeine Verheerung. »Vielleicht war es ja diese Krankheit, welche uns so zu schaffen gemacht hat. Also wird sie von Nahrungsmitteln und Getränken übertragen, oder?« »Gut möglich«, brummte Hawkril, »auf jeden Fall steckt dreckiger Schlangenzauber dahinter. Aber was kann man dagegen tun, und wie lässt er sich aufheben?« Embra seufzte. »Damit stünden wir wieder einmal vor unserer größten Schwierigkeit, nämlich keine Ahnung zu haben.« Sie hielt den Dwaer hoch und betrachtete ihn. »Wenn ich doch nur wüsste, wie ich es anstelle, mit ihm hier zu zaubern. Wenn ich doch nur wüsste, dass die drei anderen Weltensteine vernichtet oder verloren wären ... Hei, dann könnte ich mich mit Leichtigkeit zur Herrscherin des ganzen Reiches aufschwingen!« Nach einem Moment bemerkte Embra die besorgten Blicke, welche die anderen ihr zuwarfen. »Keine Bange, Freun-
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de«, beeilte die Fürstin Silberbaum sich zu versichern. »Weder strebe ich danach, den Thron zu besteigen, noch ist mir bisher nur der geringste Einblick in die Zauberfähigkeiten des Dwaer gelungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dabei müsst Ihr wissen, dass der Weltenstein seinen Besitzer bekämpft, und zwar auf recht hinterhältige Weise: Wenn man einmal einen Zauber mit ihm bewirkt hat, fällt es einem beim nächsten Mal schwerer und nicht etwa leichter, sich an ihn zu erinnern.« Schwarzgult nickte. »Das stimmt. Eigenartig, erst jetzt, da Ihr es sagt, kommt es auch mir zu Bewusstsein: Die Dwaerindim befehden ihre Besitzer.« Craer betrachtete den fleckigen Stein in Embras Hand mit neuen Augen. »Na ja, gerade eben habt Ihr mir einen Traum zerstört, nämlich den, sich so einen Dwaer einmal unter den Nagel zu reißen, selbst Herrscher zu werden und ...« Ein Schrei aus den Hütten zu ihrer Linken unterbrach seine Ausführungen. Einen Augenaufschlag später stürmte dort ein wild aussehender Mann mit einer Mistgabel heraus und auf die Gefährten zu. Dahinter erschienen einige Knaben, welche von der Straße Steine aufsammelten und ihn offenbar in seinem Angriff zu unterstützen gedachten. »Bleibt stehen!«, brüllte Hawkril ihnen entgegen und zog sein Schwert. Aber das Landvolk ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern stürmte weiter. Embra seufzte und sprach leise mit ihrem Dwaer. Als die ersten Steine heranflogen, prallten sie von einer unsichtbaren Mauer ab. Auch die Mistgabel stieß gegen ein Hindernis, und ihr
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Träger brachte nur ein verblüfftes »Uff!« hervor. Die Gefährten aber ritten einfach weiter und erreichten die Straße, auf welcher sie gestern noch von einem Pfeilregen empfangen worden waren. Doch heute schienen sich hier weder Holzfäller noch Bogenschützen zusammengerottet zu haben. Dennoch hielten die Reiter den ganzen Weg nach Osklodge über nach irgendwelchen Angreifern Ausschau. »Und wohin jetzt?«, wollte der Beschaffer wissen, als der Wald aufhörte und grünen Feldern Platz machte. Doch in dem weiten Land ließ sich kein Leben feststellen. Weder Mensch noch Tier bevölkerte diesen Teil des Reiches. »Nach Glarondar«, bestimmte Embra. »Wir reiten den Weg zurück, welchen wir gekommen sind.« »Na, da haben die Götter aber endlich einmal meine Gebete erhört«, steuerte Craer bei und schnitt sich ein Stück aus dem Käse, welcher wie durch Zauberhand vor ihm erschienen war. »Endlich einmal haben wir ein klares Ziel vor Augen«, fuhr der Beschaffer nach dem ersten Bissen fort, »das Fürstentum Glarond wird doch weithin für seine Gastfreundschaft gerühmt.« Schwarzgult und der Hüne sahen Embra an, aber die hielt den Mund. Wenn die Zauberin es vorzog, die Gründe für sich zu behalten, warum es sie nach Glarondar zog, dann war das ihre Sache. Irgendwo musste man schließlich mit der Suche nach den anderen Weltensteinen beginnen, und da war ein Ort so gut wie der andere. Außerdem hatten die Hochfürsten die Nase gestrichen voll
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davon, an jeder Ecke lange darüber debattieren zu müssen, wohin man sich denn nun wenden wolle. »Damit wissen wir also, wohin die Reise geht«, bemerkte jetzt dennoch Tschamarra, »aber nicht, was wir dort tun sollen.« Nur der Beschaffer gab ihr eine Antwort: »Das, was wir immer tun: die Schwerter ziehen und damit einigen Frechlingen aufs Haupt schlagen.« »Ja, aber wir brauchen doch einen Grund, um das Schwert zu ziehen«, beharrte die Edle. »Na ja, eigentlich geht es uns nur darum, Unruhe zu stiften, uns sinnlos volllaufen zu lassen, uns allen Feinden des Reiches als lebende Zielscheibe anzubieten und darüber hinaus noch den Göttern die Zeit zu stehlen.« »Craer! Gleich verpasse ich Euch eine Backpfeife!« »Ach, meine Teure, bislang sind wir damit immer gut zurechtgekommen, warum jetzt unbedingt etwas daran ändern wollen?« »Nun, was sagt Dir dazu, Bruder Landrun?« »Äh, bitte um Vergebung, Herr, aber ist Hochfürst Hawkril Anharu nicht ein ganzes Stück größer?« Der Herr der Schlangen betrachtete seine jüngste Verwandlung kritisch. Ja, wenn man es sehr, sehr genau nahm, war der Recke tatsächlich ein Stückchen oder zwei größer. Aber andererseits ... »Ihr habt vielleicht nicht ganz Unrecht, Landrun«, bemerkte er. »Dann stellt unseren Recken doch einmal neben Embra ... Hm, ich hätte zuerst Schwarzgult anfertigen sollen, denn
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der ist einen halben Kopf größer als seine Tochter ... und Hawkril überragt ihn noch um zwei Handbreiten ... Aber das wird man sehen.« Bruder Landrun rannte, so schnell er konnte, dem Befehl zu gehorchen. Kurz darauf kehrte er zurück und zog den falschen Hawkril zu der ebenso unechten Zauberin. Die beiden Verwandelten würdigten einander keines Blickes und traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Landrun betrachtete das Pärchen für einen Moment und lief dann wieder in den Gang. Schlangenfürst Hanenhather spähte mit zusammengekniffenen Augen nach den beiden Hochfürsten ... Wenn man Hawkril mit etwas mehr Rüstung ausstattete und ihn so größer erscheinen ließ ... Aber schauten sich die Menschen ihn wirklich so genau an ...? Einen Zauber zu bewirken, dauerte nur einen Moment. Aber ihn richtig zu machen, beinahe eine Ewigkeit. Der Bruder erschien wieder neben dem Fürsten, und dieser fragte: »Nun, was meint Ihr, Landrun?« Zur Antwort erhielt er mehrere Tentakel. Das erste schlang sich um seinen Mund und hätte ihm beinahe das Genick gebrochen. Das zweite fesselte seine Handgelenke, und das dritte wand sich um seine Taille und hob ihn in die Höhe. Oben fand Hanenhather Muße, auf das Wesen zu schauen, zu dem der Bruder geworden war. Am meisten fiel daran auf, dass es kein Gesicht hatte. Im Sinne von keine Augen, keinen Mund und keine Nase. Doch als der Bruder sprach, klang er wie immer.
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Und dies hatte er zu verkünden: »Wir Koglaur werden schon genug im ganzen Stromtal gehasst und gefürchtet, da müsst Ihr Schlangenpriester Euch nicht auch noch als Gestaltwandler versuchen. Pestungeheuer zu erschaffen ist eine Sache, aber Nachbildungen von Fürsten, Tersepten und gar Hochfürsten in die Welt zu setzen, steht allein uns zu. Deswegen sterbt, Schlangenfürst, der Ihr Euch für so unglaublich gescheit gehalten habt.« Das Letzte, was Melvar Hanenhather zu sehen bekam, war der Steinboden, welcher auf ihn zuraste. Das dritte Tentakel schleuderte ihn mit aller Kraft abwärts. Und noch ein Allerletztes fiel ihm ins Auge, ohne dass er jemals Gelegenheit erhielt, dies noch zu begreifen. Blut bildete im Gang eine Lache – das des echten Landrun. Am Hafen von Treibschaum hatte man Wachen aufgestellt. Früher wäre das niemandem eingefallen. Die Speere trugen Wimpel, und die Bogenschützen hatten ihre Waffen gespannt. Die Schauerleute und die Kammerknaben an den Kais wirkten recht angespannt und waren ganz begierig auf Neuigkeiten. Kaum hatte die Silberflosse angelegt, da erhob sich auch schon ringsherum ein Stimmengebrumm, und jeder, der ausstieg, wurde sofort mit Fragen bestürmt. Flaeros Delkamper stapfte schon davon, noch ehe ein Diener ihn mit Fragen nach Bränden, Gemetzel und blutgierigen Ungeheuern löchern konnte. Allerdings brachte die Eile ihm einige gesenkte Speere ein, welche ihn vor der ersten Treppe am Weitergehen hinderten.
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Ein Wächter zielte von hinten mit einer Armbrust auf ihn. »Keinen Schritt weiter! Name und Grund Eures Aufenthalts!« Der fahrende Sänger runzelte die Stirn: »Man ruft mich Flaeros Delkamper. Ich komme aus Ragalar und bin auf persönliche Einladung meines Freundes, des Königs, hierher gereist.« »Eures Freundes?« Vorn wurden die Speere gehoben, hinten die Armbrust gesenkt. »Dieser Mann spricht die Wahrheit«, ließ sich ein grauhaariger Soldat vernehmen. »Er war es, welcher den Widerstand der Edelinge überwunden und sie dazu gebracht hat, unserem neuen König die Treue zu schwören. Auch hatte er einen Monat lang die Verwaltung des Palastes inne, so lange, bis sich alles wieder eingerenkt hatte.« Die Wächter betrachteten Delkamper nun mit Hochachtung, und ihr Hauptmann schlug sich zum Zeichen seiner Ehrerbietung mit der Rechten an die Schulter. Nun setzte der fahrende Sänger seinen Weg zur Burg fort. Er warf einen Blick hinauf und gewahrte, dass man inzwischen alle äußeren Schäden behoben oder zumindest verdeckt hatte. Auch war Flaeros sich bewusst, von mehreren Seiten beobachtet zu werden. Doch wer ihn da so argwöhnisch beäugte, vermochte er nicht festzustellen. In Ermangelung eines besseren Einfalls lächelte er in die Runde und somit den unsichtbaren Spähern zu. Dann stürzte Delkamper sich in das allgemeine Gewimmel auf dem Burghof.
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Als der fahrende Sänger die Aufforderung erhielt, sich vor dem König zu zeigen, wurde er sofort von den Wachsoldaten in der Burg peinlich genau untersucht, dann von ihnen in die Mitte genommen und auf solche Weise vor Seine Majestät geführt. Obwohl man ihn um seinen Dolch, seine Stifte und das kleine Messer erleichtert hatte, mit welchem er den Gänsekiel zu spitzen pflegte, fiel ihm das Vorwärtsschreiten unter den grimmigen Blicken der Soldaten schwer. Als Flaeros dann vor Raulin stand – dieser saß an seinem Schreibtisch und schrieb auf das Eifrigste, als gelte es, noch heute die Pergamentberge abzuarbeiten –, wurden sie durch die gesenkten Speere der Wachsoldaten voneinander getrennt. »Möge Euch die Zukunft leuchten, Euer Majestät«, grüßte der Sänger den Herrscher. Raulin Burgmäntel blickte nachdenklich auf, so als wisse er noch nicht recht, wo er die vertraute Stimme einordnen sollte. Doch dann erkannte er den alten Freund und lächelte gleich breit. Strahlend ließ der König den Stift fallen, lief um den Schreibtisch herum und schloss Delkamper in die Arme. Die Wächter zogen ihre Speere zwar ein Stück weit zurück, richteten die Spitzen aber auf den Rücken des Besuchers. Erst als Raulin nach ihnen trat, ließen sie ein wenig von Flaeros ab. Gut gelaunt wischte der König einen Stapel Schriftstücke auf den Boden und legte so einen Hocker frei. Nach einer Aufforderung seines Freundes nahm Flaeros gern darauf Platz.
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»Wein, vom guten Craulbec-Käse, und einige Äpfel!«, befahl Seine Majestät. Sofort setzten sich mehrere Bedienstete in Bewegung, welche zuvor geduldig hinter der Absperrung der Soldaten gewartet hatten. »Seit wann esst Ihr denn Craulbec?«, wunderte sich der Sänger. »Früher meintet Ihr doch stets, der stinke noch schlimmer als ein toter Ziegenbock!« »Seit Ihr bei Eurem Abschied etwas davon vergessen hattet. Bei der Dreifaltigkeit, wie freue ich mich, Euch wohlbehalten wiederzusehen! Hier verliert man noch den Verstand mit all den Verfügungen, Abkommen, Verträgen und Erlassen ...« Er senkte die Stimme: »Gar nicht erst zu reden von all dem anderen Ärger in einer Königsburg!« »Gewiss«, bestätigte Flaeros und lehnte sich so nahe an den König, dass die Wächter sofort unruhig wurden. »Welchen Ärger meint Ihr? Hat das vielleicht etwas mit den strengen Sicherheitsvorkehrungen hier am Hof zu tun?« »Ich spreche von den Schlangen«, murmelte Raulin. »Jede Nacht gleiten sie in mein Gemach. Drei meiner Soldaten sind schon ihrem Giftbiss erlegen, und von den übrigen ist auch kaum einer ungeschoren davongekommen ... Wir vermuten, dass die Schlangen mittels Magie über uns kommen ... und Ihr könnt Euch vorstellen, was das bedeutet. Ganz gleich, wohin ich mich schlafen lege, sie finden mich, mögen die Mauern auch noch so undurchlässig sein. Ich habe mich sogar schon in einen völlig leeren Raum gelegt, in welchem man für mich eine Hängematte aufgespannt hatte, und dennoch haben mich die Schlangen gefunden.
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Und das ist ja noch nicht alles. Hier auf der Burg verlieren Menschen völlig ohne Grund den Verstand. Männer und Frauen, welche mir immer mit größter Freundlichkeit und Achtung begegnet sind, zücken unvermittelt ein Messer und stechen auf mich oder denjenigen ein, der gerade im Weg steht!« Wie zur Bestätigung dieser Worte klapperten plötzlich Tabletts auf den Boden, fielen zwei Diener zur Seite und stürmte ein Wächter mit seinem Schwert und wütendem Geheul nach vorn. Verwundert sah Flaeros zu, wie der offensichtlich Wahnsinnige zu beabsichtigen schien, den König und den fahrenden Sänger zu töten. Zwei Soldaten drangen auf ihn ein, der eine von links, der andere von rechts. Sie stachen ihre Speere in seine Seite, doch er stürmte in seiner Raserei einfach weiter und zog die beiden mit sich. Als der Amokläufer dann den Schreibtisch erreichte, stach er gleich nach dem König. Flaeros riss seinen Hocker hoch und schlug damit das Schwert des Angreifers beiseite. Als aber Raulin zu lange zögerte, sich seiner eigenen Waffe zu bedienen und den Mörder unschädlich zu machen, holte Delkamper noch einmal mit dem Hocker aus und ließ das harte Holz auf den Schädel des Irrsinnigen krachen. Ein dumpfer Knall ertönte, und der Wächter fiel wie eine gefällte Eiche aufs Gesicht. Die beiden Soldaten, welche sich sozusagen immer noch an seiner Seite befanden, wurden mit nach unten gerissen. König und Barde sahen einander erschrocken an. Dann
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betrachteten sie noch einmal den Toten zu ihren Füßen und konnten es noch immer nicht fassen. »Ich wünschte, die Viererbande würde den Weg zurück zu uns finden«, flüsterte Seine Majestät, »denn die haben immer gewusst, was zu tun ist.«
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Entschieden zu viele Ungeheuer C Tschamarra seufzte, als sich vor ihnen auf dem Weg Aasvögel schwerfällig von etwas Dunklem erhoben. Nur mit Mühe vermochte sie, ihr Ross im Zaum zu halten. »Und ich dachte immer, Glarond sei eines der angenehmsten Fürstentümer im Lande ... All diese Leichen ... Bei den Göttern, ob überhaupt noch irgendwer hier lebt?« »Ja, genau die, welche übrig geblieben sind«, sagte Craer. »Er hält sich für unwahrscheinlich witzig«, murmelte Embra, welche auf der anderen Seite der Edlen Talasorn ritt. »Wenigstens ist er von den Göttern gesegnet«, meldete sich hinter ihnen der ehemalige Regent zu Wort. »Solchen Anblick vermag niemand auf Dauer zu ertragen, aber der Beschaffer findet auch jetzt noch immer ein Scherzwort.« »Herr, Ihr sprecht ein wahres Wort gelassen aus«, bestätigte die Edle Talasorn. »Glaubt Ihr denn auch, dass es unserem Liebling der Götter am Ende möglich sein wird, uns heil an der Blutpest vorbeizuführen?« Ihr Blick wanderte unweigerlich zurück zu den Geiern,
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welche inzwischen bemerkt hatten, dass von diesen Reitern keine Gefahr ausging. Sie ließen sich wieder auf den Haufen in den Feldern nieder. »Oder fällt meinem Liebsten eher die Aufgabe zu, Glarond aufs Neue zu bevölkern?« Craer drehte sich sofort im Sattel um und grinste die Zauberin unverschämt an. Hawkril grunzte: »Ermutigt ihn nicht auch noch, mein Fräulein. Einen Landstrich ›aufs Neue zu bevölkern‹ hat nämlich nur eine einzige Bedeutung – besonders für unseren Beschaffer.« Tschamarra starrte ihren Geliebten streng an. »Haltet jetzt bitte einfach nur den Mund.« Und als er trotzdem den Mund öffnete: »Keinen Ton ... nicht einen Mucks!« »Schluss jetzt damit!«, warnte der Recke. »Zwischen den Bäumen befinden sich Leute und beobachten uns. Deckt euch mit den Schilden!« Tschamarra und die Herrin der Edelsteine stöhnten unter dem ungewohnten Gewicht eines echten Schildes. Der Hüne hatte vor dem Verlassen der Burg Stornbrücke darauf bestanden, dass jeder sich einen solchen Schutz an die Satteltasche hängen solle. Die Frauen starrten in den Wald und dachten voller Unbehagen daran, dass jeden Moment ein Pfeil herangezischt kommen könnte. Tschamarra entdeckte schließlich ängstlich dreinblickende Augen und Körper, welche sich an den Boden pressten. »Beim Vorvater, Hawkril, das ist doch bloß armes, verängstigtes Bauernvolk, welches nicht weiß, was es von uns halten soll.« »Stimmt«, gab der Recke zu, zog sein Schwert und schwang es über dem Kopf, auf dass jeder weit und breit es
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sehen möge. »Das Dumme an dieser Blutpest ist nur, dass sie so überraschend –« Er kam gar nicht erst dazu, den Satz zu Ende auszusprechen, denn mit einem Mal knurrte jemand im Wald wie ein großes Raubtier und fing an, auf seinen Nachbarn eirtzuprügeln. Wenig später floss Blut. Der Irrsinnige hatte seinem Opfer die Kehle aufgeschlitzt und suchte nun nach dem nächsten. Die anderen rannten schreiend auseinander. »– über einen kommt«, fand der Recke nun zum Schluss. »Die Klugheit gebietet einem, sich von solchen Stellen fern zu halten, Tapferkeit und Mannesmut im Köcher zu lassen und die Schilde hoch zu halten, nicht wahr, Fräulein Zauberin!« Nach dieser Mahnung gab er seinem Hengst die Sporen und preschte auf den Wald zu, genauer auf die Stelle, an welcher eben der Verrückte aus dem Unterholz trat und mit seinem trüben Verstand versuchte, eine Armbrust zu spannen. Sein Mund bewegte sich wie von allein, die zitternden Finger ließen immer wieder den Bolzen fallen, und als er es noch einmal versuchte, machte Hawkrils Klinge seinen Bemühungen ein Ende. Der Mann starrte auf seine abgesäbelten Fingerstümpfe, rannte los und hielt die Hand weit von sich, als wolle er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Embra richtete sich zur vollen Größe im Sattel auf, und Schwarzgult brüllte: »Craer, beschützt die Damen!« Und: »Tochter, den verdammten Schild hoch!« Er spornte sein Ross an und ritt weiter die Straße entlang. Am Horizont erschien eine ganze Gruppe Menschen, welche so wild mit den Armen ruderten und so schnell rannten, dass
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man im ersten Moment nicht unterscheiden konnte, ob sie von der Pest oder von Panik befallen waren. »Was ist denn mit denen los?«, murmelte die Herrin der Edelsteine. Während sie mit der Rechten den Weltenstein umschloss, versuchte sie, mit der Linken sowohl Schild als auch Zügel zu halten. Hawkril warf einen besorgten Blick zurück, und die Zauberin erkannte, dass er und ihr Vater sich zwischen die Damen und das Landvolk schoben, damit Letztere nicht zu Ersteren vordringen konnten. Als ihr Blick auf Tschamarra fiel, entdeckte sie in deren Miene die gleiche traurige Hilflosigkeit, wie sie auch in ihren Zügen zu lesen sein musste. »Ganz ruhig, meine Damen«, sprach Craer hinter ihnen. »Geben ist seliger denn nehmen, das hat schon mein Vater gesagt, und der war Preisboxer.« Trotz aller Besorgtheit gelang es Embra, ihm über die Schulter einen giftigen Blick zuzuwerfen. Doch dabei erkannte sie, dass der Beschaffer bereits ein Wurfmesser in der Hand hielt. Und ein halbes Dutzend in Reserve in der anderen. Und dann war die Schar heran. Hawkril hob sein Schwert und stöhnte leise bei der Vorstellung, so viele in kürzester Zeit erschlagen zu müssen. Schwarzgult hielt eine Bannerstange wie einen Wehrstab, und Craer fluchte leise, weil ihm erst jetzt einfiel, dass jemand die Zügel der Packpferde halten musste. Tschamarra hatte die Geistesgegenwart, ihm dabei zu helfen, und Embra kam sich furchtbar dumm und überflüssig vor, weil sie sich noch immer nicht so richtig auf den Um-
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gang mit dem Dwaer verstand. Als sie den Blick von dem Weltenstein hob, waren die Dörfler fort ... vor den Gefährten ausgebrochen, durchs Unterholz gelaufen und hinter den Reitern auf die Straße zurückgekehrt. Hawkril trat einen Mann fort, der immer noch an seiner Klinge hing, und reckte dann wütend die freie Faust. »Das ist das mit Abstand Ärgste, was die Schlangen uns je antun konnten ... die Bürger dazu zu bringen, mit allem aufeinander loszugehen, ob sie nun darauf vorbereitet sind oder nicht!« »Vielleicht haben die Schlangen erkannt«, meinte Tschamarra vorsichtig, »dass ihnen das Reich nicht so einfach in den Schoß fallen wird, und da haben sie entschieden, es vollkommen zu vernichten ... Ich weiß nur, dass die Wölfe sich in diesem Jahr kugelrund fressen werden.« »Tja«, meinte der Beschaffer, »aber ich frage mich, ob es sich bei ihnen danach noch um Wölfe handeln wird.« »Das möge die Dreifaltigkeit verhüten!«, entfuhr es der Zauberin. »Wenn Vögel und Tiere diese Pest übertragen können, dann wird das Land niemals davon befreit werden ...« »Wir reiten eben einfach weiter«, schlug die TalasornZauberin vor, »immer weiter, in andere Länder, andere Erdteile ...« »Und dann?«, erwiderte Hawkril. »Warten wir dort, bis die Pest sich bis dahin ausgebreitet hat? Nein, wir müssen diesem Spuk ein Ende bereiten, auch wenn das bedeutet, jeden noch so eingebildeten Magier auf Knien anzuflehen, uns dabei behilflich zu sein.« »Vater, hat irgendwer von den Bauern das hier überlebt?«,
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fragte Embra. »Und wenn ja, könntet Ihr den zu mir bringen?« »Das könnte ich mir gut vorstellen«, lächelte er, schwang sich aus dem Sattel, warf ihr die Zügel seines Pferdes zu und machte sich auf den Weg in den Wald. »Liebste Zauberin«, sprach Craer, »hättet Ihr wohl die außerordentliche Güte, uns an den Kathedralen Eurer Gedankengänge teilnehmen zu lassen? Was wollt Ihr mit einem von diesen Tröpfen anfangen?« »Nun, ich würde meinen, wir sollten dringend in Erfahrung bringen, was hier eigentlich vor sich geht. Was all diese Menschen in das Irrsal treibt.« Sie lächelte in die Runde und fuhr dann fort: »Außerdem vermag ich erst dann etwas gegen diesen Pest-Zauber zu unternehmen, wenn ich einen Befallenen genauer untersucht habe.« Die Zauberin betrachtete nachdenklich ihren Weltenstein. »Und womöglich erfahre ich dann auch etwas mehr über den Dwaer.« »Ihr werdet vor allem etwas über Schmerzen erfahren, wenn Ihr einen Kranken untersucht«, wandte die Letzte der Talasorn ein. Embra nickte grimmig. »Das ist mir durchaus bewusst. Aber an so etwas bin ich schon gewöhnt. Außerdem wird mir ein gewisser Beschaffer mit seinen dummen Sprüchen schon ausreichend Ablenkung verschaffen.« Craer senkte den Blick, schaute an ihr vorbei in die Bäume und blickte dann in den Himmel. »Tut mir Leid, Zauberin, aber manchmal geht es einfach mit mir durch ...« Er starrte jetzt auf seine Stiefelspitzen und bekam so nicht
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mit, welche Verblüffung seine Worte auslösten. Eine Entschuldigung ausgerechnet von Craer Delnbein, welcher sonst das größte Vergnügen daran zu empfinden schien, zum falschesten Zeitpunkt das Allerunmöglichste von sich zu geben. Schwarzgult war schon dabei, stöhnende Leiber umzudrehen. Hawkril bewachte ihn mit einem zum Wurf bereitgehaltenen Schwert. Plötzlich raschelte es wieder hörbar im Wald, und der ehemalige Regent entfernte sich von den halb und ganz Toten, weil er sich auf dem offenen Feld besser verteidigen konnte. Nun erschien am Waldrand ein Mann, barfuß, von zerrissenem Aussehen und mit einem struppigen Bart. Dreck und Blut klebten überall an ihm. Sein Atem ging rasselnd, und seine Augen blickten wirr drein. »Craer!«, rief der Recke. Der Beschaffer sprang aus dem Sattel, rannte in den Wald, stürmte durch das Unterholz und wieder hinaus. Er bekam den Mann von hinten zu fassen und brachte ihn zu Fall. Der Bauer versuchte, wieder hochzukommen, aber in seinem entkräfteten Zustand vermochte er kaum etwas gegen den Griff Craers auszurichten. Der Beschaffer setzte sich schließlich auf ihn, und der Mann blieb einfach liegen, während Embra vorsichtig heranritt und abstieg. »Danke Euch, Craer«, sagte die Edle und legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie kniete gerade neben ihm, als die ebenfalls herangetrabte Tschamarra laut rief: »Achtung, er verändert sich.« Tatsächlich bekam seine Haut an einigen Arm- und Bein-
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stellen Schuppen. Die Hochfürsten verfolgten gebannt, wie diese sich verfestigten und ausformten. »Auf eines ist jedenfalls Verlass«, sprach Schwarzgult bitter, »die Dreifaltigkeit findet immer wieder Gefallen daran, sich auf unsere Kosten zu belustigen.« »Ihr haltet ihn fest«, ordnete Hawkril an, »und ich kümmere mich um die Pferde. Tschamarra, Ihr könntet aufpassen, dass uns niemand zu nahe kommt.« »Ich muss euch gestehen, Freunde, dass ich schon viele verrückte Dinge gemacht habe«, erklärte der kleine Mann schwer atmend, während der Landmann sich unter ihm veränderte, »aber so etwas nun wirklich noch nicht!« »Lasst Euch bloß nicht einfallen, so etwas öfter haben zu wollen«, beschied ihn die Talasorn-Zauberin halb mit einem Lachen und halb mit Ernst in der Stimme. Der Beschaffer lachte sie übersüß an. »Vielen Dank für den Tipp, so weit war ich mit meinen Überlegungen noch gar nicht gekommen.« »Festhalten, Beschaffer«, gebot Embra ihm barsch. Sie warf noch einen suchenden Blick auf die Baumreihe, hielt dann den Weltenstein über den Bauern und legte ihm die andere Hand auf die erhitzte Stirn. Der Dwaer glühte auf, alle Geräusche erstarben, rings um sie zerfielen die Formen ... Und Embra tauchte in warme und rote Dunkelheit, in welcher gleichzeitig Leben pochte und Furcht waberte ... Eine Dunkelheit, welche eigentlich Helligkeit Platz machen müsste ... Das Wesen wusste davon und erschrak immer wieder darüber, doch es konnte nicht denken ...
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... konnte keinen einzigen Gedanken festhalten ... ... konnte einfach nicht ... Bebend zerriss Embra die Verbindung und ließ sich auf den Boden fallen. »Herrin!«, rief Hawkril voller Sorge und drehte sie zu sich um. »Fehlt Euch etwas?« »N-nein!«, entgegnete sie und brachte ein mattes Lächeln zustande. Langsam erhob sie sich, wischte sich Erdbröckchen aus dem Gesicht und schüttelte Halme von ihrem Gewand. »Das war ... unbeschreiblich ... so ganz anders als alles, was mir jemals untergekommen ist ... Ein Bann, welcher einem den Geist verdreht ... Wie ich ihn aufheben soll, entzieht sich ganz und gar meiner Kenntnis ... Dazu brauche ich viel Zeit, Ruhe und die richtigen Bücher ... Fast wollte es mir so vorkommen, als vermöge die Pest im Geist dieses armen Teufels hier selbstständig zu denken und zu handeln ...« »Vielleicht ein Schlangenpriester, welcher uns durch dieses Opfer beobachtet?«, platzte es aus Tschamarra heraus. »Nein, nein, überhaupt nicht«, wehrte die Zauberin gleich ab. »Kein solcher menschlicher Geist wohnt der Pest inne, sondern wirklich so etwas wie die Seele der Seuche ...« Sie wandte sich an den Beschaffer: »Ihr könnt ihn loslassen, er will uns nichts Böses. Ach ja, er hat keine Ahnung, wovor er davongelaufen ist. Vielmehr beherrscht ihn nur der eine Gedanke, dringend von hier fortzumüssen.« »Kann der Bursche uns denn mit seiner Krankheit anstecken? Indem er uns beißt? Oder anspuckt? Oder schlicht be-
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rührt?« Die Herrin der Edelsteine seufzte. »Ich fürchte, ja, obwohl ich keine Belege dafür habe. Deswegen will ich ja auch unbedingt nach Glarond.« Sie lächelte in die Runde. »Wenn die Dreifaltigkeit uns ausnahmsweise einmal gewogen ist, finden wir dort in der fürstherrschaftlichen Bücherei ein paar Bände, die uns weiterhelfen können.« »Nur vielleicht?«, fragte die Letzte der Talasorn mit einem bedauernden Lächeln. »Wie kommt es denn, Euer Hochwohlgeboren, dass Dir so viel über die fürstherrschaftliche Bücherei wisst?«, fragte der Kleine neugierig. Die Herrin Silberbaum grinste die beiden an. »Zu Frage eins, ich weiß nicht, ob die gewünschten Bände dort noch vorhanden sind. Zu Frage zwei: Ich weiß, dass ein Fürst von Glarond diese Bücher einmal sein Eigen nannte. Ambelter verlangte von meinem Nennvater, dem Fürsten Silberbaum, sie von dort stehlen zu lassen.« »Das Geschlecht derer von Glarond zeichnet sich durch eine häufige Herrscherfolge aus«, meinte der Hüne nachdenklich. »Also sollten wir unsere Hoffnungen nicht zu hoch schrauben«, sprach der Beschaffer. »Was steht denn in den von Euch gewünschten Bänden?« »Zaubersprüche, Versuchsanordnungen, Versuchsbeschreibungen, Banne gegen die Schwarze Pest, welche Aglirta vor langer Zeit befallen hat.« Embra nickte langsam. »Ja. Wir sollten jetzt eine Mulde im
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Wald finden, in welcher wir die Pferde unterbringen, weil wir zunächst auf sie verzichten müssen.« »Aber gewiss doch, meine Gute«, flötete Craer. »Darf ich mir die Kühnheit nehmen und Euch nach dem Grund solchen Tuns befragen?« »Ihr dürft«, beschied ihn Embra und wollte es dabei bewenden lassen. Aber als sie das Gesicht des Beschaffers sah, musste sie kichern. Ernst erklärte die Edle einen Moment später: »Der Blick in den Geist des Mannes zeigte mir, dass ich uns alle mit dem Weltenstein behandeln muss, und zwar so rasch wie irgend möglich.« Als sie die fragenden Gesichter sah, wurde ihr bewusst, dass sie schon etwas mehr an Erklärung bieten musste. »Wir haben tatsächlich die Pest in uns. Sie wartet nur darauf, dass wir einen Moment der Schwäche zeigen, um einen neuen Versuch anzustellen, uns zu übernehmen. Und natürlich vermag sie sich auf alle zu übertragen, mit welchen wir es zu tun haben.« »Wenn ich es recht bedenke«, näselte der kleine Mann wie ein Höfling, »wollte ich es eigentlich so genau nun auch wieder nicht wissen.« »Ihr solltet lieber eine Mulde suchen!«, knurrte die Talasorn-Zauberin ihn an. Der Beschaffer streckte ihr die Zunge heraus, lief dann aber gleich in den Wald, um schon nach wenigen Augenblicken zurückzukehren. »Gleich dahinten befindet sich eine. Den dicken Baum dort drüben rechts herum, und schon geht’s bergab. Wenn Hawkril und Schwarzgult einen der umgefallenen Stämme
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vor den Eingang wuchten, steht uns eine perfekte Koppel zur Verfügung. Ich vermute, Herrin, Ihr wollt sie dort für den Fall einsperren, dass etwas Unheimliches über sie kommt und sie wild um sich treten.« »Ihr vermutet richtig«, entgegnete die Herrin, aber nach Grinsen war ihr diesmal nicht zumute. »Verbindet Euch mit mir, Tschamarra«, sagte die Zauberin leise, »und seht genau hin, wie ich es anfange.« »Damit ich es hernach genau so vermag wie Ihr«, strahlte die Letzte der Talasorn. »Ja, aber erst nachdem ich Euch gereinigt habe«, entgegnete die Edle. »Und nun auf den Boden mit euch Männern.« Schwarzgult sah sich noch einmal ruckartig um, als habe er etwas Verdächtiges gehört, aber dann entfernte sich seine Hand wieder von dem Dolch. Seite an Seite berührten die beiden Zauberinnen gemeinsam ihre männlichen Gefährten. Diese erbebten einer nach dem anderen, schlugen dann um sich und verkrallten die Finger im weichen Boden. Craer wimmerte, die beiden anderen heulten lang gezogen wie Wölfe. Während der ganzen Zeit schnaubten die Rösser in ihrer Mulde und stampften mit den Hufen auf. »Wir verbrennen die Pest und drängen sie so zurück«, erkannte Tschamarra und kniete sich hin. »Richtig«, bestätigte Embra. »Nun seid Ihr an der Reihe. Ganz hinunter mit Euch. Das wird jetzt ein klitzekleines bisschen wehtun.« »Nicht möglich«, brummte die Letzte der Talasorn. Als der
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Dwaer sie dann berührte, biss sie aber doch die Zähne zusammen. Tschamarra keuchte, schluchzte, schrie, trat aus und bog den Rücken durch. Embra musste die Gefährtin schließlich festhalten, damit diese sich nicht selbst verletzte. Sie wartete bei ihrer Freundin, bis diese sich wieder erholt hatte. Ein wenig Sorge bereiteten ihr die Pferde. Diese gerieten der Reihe nach in Panik, wenn ihr jeweiliger Herr sich wie besessen gebärdete. Tschamarra schlug die Augen wieder auf, wischte sich die Tränen fort und ergriff Embras Hand. »Es geht wieder«, vermeldete sie und erhob sich auf wackligen Beinen. Die Zauberin lächelte, reichte ihr den Weltenstein und legte sich selbst lang. Tschamarra betrachtete den Dwaer wie ein nie gesehenes Wunder und bekam so nichts davon mit, wie der ehemalige Regent mit brennenden Augen die Felsen in der Nähe bestieg und oben angekommen seinen Dolch zog. Hawkril stand ebenfalls längst wieder und begutachtete die Reittiere, ob sie sich wohl bald wieder beruhigten oder ob er ihnen entgegenschreiten musste, um Embra und den immer noch stöhnenden Beschaffer zu schützen. Tschamarra atmete tief durch, schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht, brachte den Weltenstein zum Glühen und legte ihre Hand auf die Brust der Zauberin. Und die Herrin der Edelsteine schrie. Laut. Lang. Und gellend. Die Pferde gerieten in noch größere Unruhe und zogen sich in die hinterste Ecke der Mulde zurück.
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Embras Schrei fand seinen Widerhall in einem donnernden Brüllen, das von weiter oben kam. Die Rösser suchten nach einer neuen Fluchtmöglichkeit und drängten sich wie furchtsame Kinder aneinander. Die Herrin der Edelsteine schrie unvermindert weiter, aber das Brüllen von jenseits der Felsen brachte wenigstens Craer ins Reich der Lebenden zurück. Der Beschaffer blieb aber noch einen Moment liegen und schaute in den dunkler werdenden Himmel. Etwas Riesiges und Finsteres flog auf gewaltigen Schwingen heran und verdunkelte die Sonne. Baumkronen flogen auseinander, Äste wurden wie Streichhölzer gekrackt, und Stämme bogen sich zu Boden. Unter Flügelschlägen, welche alles tote Laub aufwirbelten, rauschte der Fleisch gewordene Albtraum heran. Und reckte die drei Hälse mit den ebenso vielen Köpfen, um sich an den Pferden gütlich zu tun. Ein Lindwurm, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Tschamarra stieg aus den Feuern in Embras Seele, blinzelte ungläubig und hatte den Dwaer in ihrer Hand schon fast ganz vergessen. Speichel tropfte wie Regen aus den Mäulern, und die Köpfe drehten sich auf den langen Hälsen, weil die Menschen ein ebensolcher Leckerbissen zu sein versprachen wie die Pferde. Der jetzige Fürst von Glarond herrschte noch nicht allzu lange über sein Land. Wenn er durch die Straßen ritt, empfand er das immer noch als aufregend, auch wenn der Jubel der
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Menge längst nicht mehr so begeistert ausfiel wie am Anfang. Alles meins, sagte er sich dann gern. Jeder Turm, jede Mauer und jede Zinne. Na gut, seinen Untertanen gehörte dieses oder jenes Anwesen. Aber wenn es ihn nach einem besonders schönen Haus gelüstete, halfen seine Wächter rasch ein wenig mit ihren Speeren nach. Dann wurden die Güter des gestellten Hochverräters eingezogen und füllten die hochfürstlichen Schatzkammern. Zum Glück für seine Untertanen gefiel Seiner Durchlaucht kaum eine von den Bruchbuden in Glarondar. Als er noch Höfling in Treibschaum gewesen war, hatte er ganz andere Pracht kennen gelernt. Jawohl, das Funkeln von Gold, das Schimmern kostbarer Stoffe und das kalte Feuer von Edelsteinen, das hatte er kennen und lieben gelernt. Aber besessen hatte er so etwas nie. Bis vor kurzem. In seiner Schatzkammer befanden sich bislang eine Truhe voller Edelsteine und drei mannshohe Säcke voller Gold. Nicht eingerechnet die zusätzlichen Silber- und Kupfermünzen. Schon einige Male hatte er in diesem Reichtum ein Bad genommen, und er freute sich schon auf die nächste Goldmünzenbrause. Mochten die Wächter vor den Türen auch so tun, als würden sie nichts davon sehen, sie hatten schön artig zu sein, denn schließlich waren sie seine Wächter! Nicht schlecht für den Anfang, sagte sich der Fürst, und er wollte so gern, dass es noch mehr würde, noch viel mehr. Aber dass es so viel mehr würde, hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Und vor allem nicht, dass dieser
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Reichtum so schnell über ihn kommen würde. Wie ein goldener Spiegel stand das goldene Tablett vor ihm. Er starrte darauf und betrachtete seinen Widerschein auf den Zostarren aus Carraglas. Jeder Einzelne mindestens so viel wert wie das ganze Tablett. Dazu neun Rubine, von denen jeder dicker war als sein Daumen. Und noch ein goldener Armreif, für den man mindestens fünfzig Zostarre hinlegen musste. »Wie gefallen sie Euch?«, fragte der Schlangenpriester freundlich. »Das alles soll Euch gehören und das halbe Königreich dazu, wenn Ihr fortan mir gehorcht und nicht mehr diesem zum Untergang verurteilten König von Treibschaum.« Der Fürst von Glarond riss sich von dem köstlichen Anblick los. Mit einem Mal fühlte er sich gar nicht mehr so wohl in seiner Haut. Der Edelmann hatte seine Wächter fortgeschickt, weil dieser kleine Handel hier ja nun wirklich niemanden etwas anging. Jetzt war niemand mehr da, der ihn vor den Attacken dieses Wesens beschützen konnte. Handelte es sich bei ihm überhaupt noch um einen Menschen? Gut möglich, dass es sich bei Arthroon, wie dieser Schlangenpriester sich nannte, nur um ein seelenloses Wesen handelte, welches vollkommen von der Großen Schlange beherrscht wurde. Der Fürst leckte sich mehrmals über die Lippen und fragte dann heiser: »Und wenn ich ablehne?« Arthroons Schlitzaugen blickten nun noch kälter drein, während sich auf seinen Lippen ein grausames Grinsen zeigte.
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»Dann wird der Tod Einzug in Glarondar halten. Der Tod im Irrsinn nämlich, wie ihn die Blutpest beschert. Ihr selbst und alle, die um Euch sind, werdet euch gegenseitig zerfleischen!« Der Edelmann betrachtete zuerst wieder das kostbare Geschmeide und dann seinen unheimlichen Gast. Hin und her Wanderte sein Blick, bis er endlich zu einer Antwort fand. »Ich habe von dieser Krankheit gehört. In der Tat ist Glarond bislang von dieser Seuche verschont geblieben, obwohl die Kaufleute aus dem Stromtal doch weiterhin ungehindert bei uns ein- und ausreisen ...« Er sah dem Schlangenmann fester ins Auge. »Meine Ratgeber versichern mir, dass der große Magier Laerlor vor vielen hundert Jahren besondere Schutzzauber über meine Stadt gelegt habe, welche uns vor solchen und ähnlichen Gefahren beschützen.« Ja, er hatte seinen ganzen Mut wiedergefunden. »Und deswegen bin ich davon überzeugt, dass auch dieses Mal wieder alles gut gehen wird!« Wenn doch nur nicht sein Blick immer wieder begierig zu den Kostbarkeiten gewandert wäre. Belgur Arthroon lächelte noch breiter. »Mein lieber Fürst, des Magiers Laerlors Banne sind bereits vor siebzig Jahren aufgehoben worden. Der Erzmagier Golkuth aus Sirlptar bewirkte dies.« Der Schlangenpriester schnippte mit den Fingern. »Ihr kennt ihn vermutlich eher unter dem Namen Nie Schlafender Schädel.« Nun war es an Arthroon, seinem Gegenüber fest ins Auge zu blicken. »Wisset, dass jeder in Glarondar, Ihr eingeschlossen, sich bereits angesteckt hat. Alles, was Euch davor be-
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wahrt, nicht sofort in Irrsinn auszubrechen, ist dies hier.« Er zog die Rechte aus dem linken Ärmel, öffnete sie und zeigte einen fleckigen Stein, welcher weiß glühte und ungefähr einen Fingerbreit über dem Handteller schwebte. Der Fürst hatte sich nie viel aus Bildung gemacht, aber einen solchen Stein kannte jedes kleine Kind. Dabei handelte es sich nämlich um einen Dwaer. Das Schicksal meinte es ausnahmsweise einmal gut mit ihm, denn ihm schwanden die Sinne. Belgur verzog verächtlich den Mund. Solche Schwächlinge beherrschten heutzutage also die Fürstentümer im Reich. Höchste Zeit für die Große Schlange, aufzuerstehen und mit diesem menschlichen Abschaum kurzen Prozess zu machen. Der Priester verband seinen Willen mit dem Weltenstein und nutzte dessen Energie, um den vor ihm liegenden Fürsten zu peinigen. Der Ohnmächtige am Boden zuckte und zappelte, fuhr hoch und fand sich schwankend und mit weit aufgerissenen Augen auf seinem Thron wieder. Der Fürst wollte schreien, aber Arthroon zwang ihn dazu, sich selbst zu ohrfeigen. Dann ließ der Priester ihn laufen, und der Fürst bewegte sich staksig wie eine Gliederpuppe. Zweimal fiel der Fürst hin, aber der Priester richtete ihn jedes Mal wieder auf. »Dankt mir nun schön für dieses wunderbare Geschenk«, forderte Arthroon sein Opfer auf und nickte in Richtung des Tabletts mit all seinen Kostbarkeiten. Der Fürst von Glarond brach in Tränen aus, konnte aber nicht gegen den Druck an und stammelte Dankesworte. »Schluss jetzt!«, gebot der Priester und verbarg seine Ab-
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scheu vor dem weinerlichen Mann nicht. Zur Sicherheit verstärkte er den zauberischen Druck auf den Edelmann. Dann erhob sich Arthroon. »Mitkommen. Wir haben noch einiges zu erledigen.« »Craer«, brüllte Hawkril, als ein weit aufgerissenes Maul – groß wie ein Scheunendach – auf ihn zukam. »Werft Eure Dolche in seine Augen!« »Ich bin doch nicht aus Dummbatzhausen! Aber weil Ihr mein lieber Freund seid, will ich mit gutem Rat nicht geizen: Schlagt doch mit Eurem Schwert danach. Vorzugsweise mit der scharfen Seite.« »Tschamarra, einen Schildzauber!«, rief Schwarzgult und rannte zu ihr. »Setzt dazu den Weltenstein ein!« Die Edle hatte sich wohl gerade mit zauberischen Angelegenheiten befasst, denn nur so war es zu erklären, dass sie sofort Verbindung mit dem Dwaer aufnehmen konnte. Ein Feuerstrahl löste sich aus dem Weltenstein. Das erste der drei Mäuler des Drachen füllte sich mit Flammen, welche gleich um seine riesigen Hauer züngelten. Der dazugehörige Hals zuckte mitsamt dem Schädel zurück. Damit waren es nur noch zwei. Doch von denen schnappte der eine gleich darauf den Recken und der andere nach den Rössern. Etwas zu spät bemühte sich die Letzte der Talasorn, einen Zauberschild zu weben. So entstand ein Funkenregen, der allerdings wie eine Faust wirkte und dem Maul, welches sich die Pferde einverleiben wollte, einen derben Boxhieb verpasste. Aber dann stand schon Schwarzgult neben ihr und um-
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schloss ihre Hand, die den Dwaer hielt. Geradlinig wie ein Speer drängten seine Gedanken vor und fanden gleich den richtigen Weg. Er zeigte Tschamarra die hellen Bahnen inmitten der erwachenden Energie des Weltensteins und wandte dann seine Aufmerksamkeit dem Drachen zu. Dieser hatte die Flügel angelegt. Den verletzten Schädel schwang er hin und her, der zweite, welcher den Hieb hatte einstecken müssen, schüttelte sich, und die Riesenkrallen zerfetzten den Wald. »Welche Augen, Hawkril?«, schrie der Beschaffer, während er von einem Felsen zum nächsten sprang. »Vor lauter Leib sieht man ja nichts anderes!« Nur an einer Stelle der Mulde konnte man noch den Himmel sehen, und durch diese Lücke sauste nun der zweite Drachenkopf auf der Suche nach Beute herab. Schwarzgult zwackte etwas von der Energie des Weltensteins ab – nicht genug, um Tschamarras Arbeit zu beeinträchtigen – und bildete daraus kurzlebige magische Schwerter, mit welchen er den Drachenkopf traktierte. Der brennende Schädel wurde weiter zurückgezogen und verschwand endgültig aus dem Blickfeld der Gefährten. Der dritte Kopf hingegen hing in der Luft und benahm sich merkwürdig. Das Maul blieb geschlossen, und der Kopf zuckte mit seltsam abgehackten Bewegungen hin und her. Schwarzgult entdeckte bald Hawkrils Schwert, dessen Spitze aus dem Drachenhaupt ragte. Verschiedene klebrige Flüssigkeiten troffen von dem Stahl. Der Recke hatte seine Klinge aufrecht hingestellt, um
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nicht von den Kiefern zermalmt zu werden. Der Drachenkopf hatte trotzdem kräftig zugebissen. Nun entdeckte der ehemalige Regent auch einen gepanzerten Arm, welcher hinter den Lücken zwischen den Zähnen zu erkennen war. Hawkril lebte noch und versuchte, sich mit seinem Dolch zu befreien. »Zerschneidet seine Zunge!«, brüllte Schwarzgult, so laut er konnte. »Die Zunge!« Die Schmerzen würden so unerträglich sein, dass der Drache das Maul öffnete, um den Störenfried auszuspucken. Craer jubelte, als sein drittes Wurfmesser in einem Auge des Ungeheuers verschwand – und dieses wie von Sinnen schrie. Während ihnen der Kopf von diesem Gelärme dröhnte, versuchten Embras Vater und Tschamarra jeder für sich, den Weltenstein an sich zu bringen. Schwarzgult wollte damit einen Schutzschild zur Abwehr der Drachenkrallen errichten, während die Talasorn-Zauberin ihn dazu einsetzen wollte, Embra wieder einsatzfähig zu machen. »Damit sie mit uns an diesem Wahnsinn teilhaben kann ...«, keuchte die Edle und konnte den Blick nicht von dem Drachenschädel wenden, in welchem der Hüne gefangen saß. Die Köpfe bewegten sich, und das so rasch und unvorhersehbar, dass die meisten von Craers Dolchen daneben flogen. Wo war dieses Untier überhaupt hergekommen? Magie der Schlangen? Dass es sich bei ihm nicht um die übliche Sinnestäuschung eines Zauberers handelte, dürfte mittlerweile auch dem Letzten klar geworden sein.
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In der Wildnis nördlich des Stroms fand sich noch viel unerforschtes Land mit wilden Wäldern, tiefen Seen und unbezähmten Flüssen. Dort mochte so manches Ungeheuer hausen. Aber eine Bestie von solchen Ausmaßen? »Wo steckt der Recke?«, fragte eine matte Stimme neben ihr. Tschamarra drehte sich um und sah, dass Embra das Bewusstsein zurückerlangt und sich zu ihren Freunden gesellt hatte. »Im mittleren Schädel«, antwortete Tschamarra, »und er ringt darum, wieder herauszukommen!« Die Fürstin schüttelte sich. »Herr Vater, überlasst mir den Dwaer. Ich brauche nun alles an Kraft, was ich zusammenraffen kann.« Ohne Einwände gehorchte der Goldene Greif. Kurz darauf flog sein magischer Schild hinauf zu dem mittleren Schädel. Dieser schüttelte sich wie ein Hund, welcher ins Wasser gefallen ist. Kurz bevor der Schild den Kopf erreicht hatte, teilte er sich, und die eine Hälfte sauste weiter, um dem Ungeheuer die Kehle aufzuschlitzen. Blut, Schuppen und anderes spritzten durch die Luft, der Drache brüllte, und das Maul flog auf. Hawkril purzelte heraus, schlug immer noch um sich und landete auf der zweiten Schildhälfte, welche schon auf ihn wartete. Embra ließ ihn sanft herabschweben, während sie die erste Schildhälfte wie eine Axt einsetzte, um den Drachenkopf daran zu hindern, hinter seinem Opfer herzustoßen. »Was für ein bösartiger Bursche«, murmelte die Herrin der Edelsteine, »allerdings ein wenig zu unbeholfen. Auch weiß
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er seine Zähne nicht sehr geschickt einzusetzen. Mit so viel Unfähigkeit hat dieses Tier kaum genug Beute fangen können, um zu solcher Größe anzuwachsen.« »Mir will es so scheinen«, bemerkte Schwarzgult, »als sei dieses Wesen noch nicht sehr lange ein Drache.« »Das sehe ich genauso, Herr Vater«, stimmte Embra zu. »Dank euch beiden, dass ihr mich zurückgeholt habt. Ich bin nun frei von der Pest.« »Früher habe ich immer geglaubt, mit dem Weltenstein ließen sich alle Schwierigkeiten im Handumdrehen lösen«, sprach Tschamarra. »Aber heute weiß ich es besser. Meine Hochachtung, Zauberin.« »Glaubt bloß nicht, dass ich so genau wüsste, was ich eigentlich genau mit ihm anstelle. Ich würde den Dwaer gern genauer untersuchen. Was ist, wenn sein Gebrauch der Welt in einer Weise schadet, die wir noch gar nicht erfassen können?« »Darum können wir uns später immer noch kümmern, meine Tochter«, wandte der ehemalige Regent ein. »Jetzt gilt es erst einmal, mit einem dreiköpfigen Drachen fertig zu werden!« Hawkril krabbelte gerade zwischen den Felsen am Muldenrand hervor. Embra bediente sich der frei gewordenen Schildhälfte, um damit einen anderen Drachenhals zu malträtieren. Der Drache zog seinen dritten Kopf zurück. Embra griff noch einmal mit den magischen Äxten an. Das Ungeheuer zog sich ein ganzes Stück weit zurück. Endlich fiel wieder Sonnenlicht in die Mulde. »Nicht gerade ein Draufgänger-Drache«, murmelte Tscha-
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marra. »Bei ihm dürfte es sich kaum um den Drachen handein, welchen die Götter aussenden, die Schlange zu besiegen. Aber dann müsste die Große Schlange ja ebenfalls wieder erwacht sein ... hmm ...« Embra trat zu ihr. »Das ist weder der göttliche Drache, noch gehört dieses Wesen überhaupt zu solcher Art. Und was die Große Schlange angeht, so habe ich keine Ahnung, wie es sich zurzeit mit ihr verhält. Doch allein werden wir sie wohl nie besiegen können. Ihre Macht erwächst aus der Schar ihrer Gläubigen. Je mehr Verehrung sie erfährt, desto stärker steigen ihre Kräfte.« »Ihr meint ...?«, entfuhr es der Letzten aus dem Hause Talasorn. »Ja, ganz recht: Wenn man die Priesterschaft der Schlange zerschlägt und sie selbst als bloßes Schreckgespenst aus alten Ammenmärchen abtut, bleibt von der einstigen Gottheit nicht mehr viel übrig.« »So etwa wie unser Freund hier?«, rief Tschamarra. Der dreiköpfige Drache schnappte wild, aber ziellos nach Embras Energiepfeilen. »Wenn dieses Ungeheuer weiter wächst, ist es bestimmt bald groß genug, um ganz Sirlptar zu zerstampfen!« »Höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen!«, entgegnete die Zauberin, und fügte dann etwas lauter hinzu: »Alle Mann in Deckung!« Das unbeholfene Untier stampfte nach vorn, um endlich der Pfeile Herr zu werden, welche ihm so viel Pein bereiteten. Hawkril und der Beschaffer sausten aus der Mulde, so schnell sie nur konnten. Embras Stoß brachte Tschamarra in
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Sicherheit, auch wenn die Hals über Kopf einen Hang hinunterrollte und im Wald verschwand. Die Zauberin hielt den Dwaer vor sich, richtete ihn auf die Drachenköpfe, dachte, dass diese so groß wie eine Burg sein mussten, verfolgte, wie einer der Köpfe auf einen ihrer Gefährten – vermutlich Schwarzgult – Jagd machte, und vernahm dann einen neuerlichen Drachenschrei, der ihr beinahe die Sinne raubte ... Der linke Arm schmerzte. Was vermutlich daher rührte, dass sie auf ihm lag und zwischen ihrer Seite und dem Arm auch noch einige verdrehte Äste. Neben ihr flüsterte jemand: »Tschamarra? Mein Fräulein? Lebt Ihr noch?« »Da bin ich mir noch nicht so sicher«, entgegnete sie matt und schmeckte Blut im Mund. Craer strich ihr zärtlich über die Wange. Sie hielt seine Hand fest und fragte: »Was ist geschehen, o Gebieter meines Herzens?« »Nun, Ihr – wie habt Ihr mich gerade genannt?« »Also gut, sagen wir vorläufig ›Gebieter meines Lagers‹.« Er hatte wohl mehr erhofft, ließ sich aber nichts davon anmerken. Nur Hawkrils Bemerkung, die ganz aus der Nähe ertönte, klärte sie auf. »Es gab eine Zeit, als Euch ›Gebieter eines Lagers‹ vollkommen ausgereicht hätte, Langfinger. Aber das muss wohl schon sehr lange her sein.« Auch dass Craer darauf nichts entgegnete, bewies der Zauberin, wie es im Herzen des Beschaffers aussah. Stattdessen kam sein Mund ihrem Ohr noch näher.
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»Könnt Ihr aufstehen? Oder soll ich Euch tragen?« Na ja, wenn er sich schon anbot… »Ich glaube, Ihr solltet mich besser tragen.« Craer stützte sie beim Aufstehen, aber als sie das linke Knie belastete, brach sie mit einem Aufschrei zusammen. »Embra! Embra! Kommt schnell!«, rief der Beschaffer besorgt. »Noch nicht, Craer!«, gab die Zauberin unwillig zurück. »Ich bin hier gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt!« »Himmel, Arsch und Wolkenbruch!«, erregte sich der zierliche Mann. »Was muss einem denn erst zustoßen, ehe –« »Bin gleich so weit«, antwortete an Embras statt Schwarzgult ... mit schmerzverzerrter Stimme. »Wenn nur erst dieses Ungeheuer erledigt würde!« »Es stirbt bereits, Herr Vater!«, ließ seine Tochter sich vernehmen. »Schaut nur, wie es schwindet!« »Das will ich sehen!«, zischte Tschamarra und befahl gleich darauf Craer: »Dreht mich sofort um!« Vorsichtig und zärtlich – und damit viel zu langsam – kam der Beschaffer dem Befehl nach. So bekam die Letzte der Talasorn gerade noch mit, dass der Drache auf die Ausmaße einer Kuh geschrumpft war. Gleichzeitig schmolzen zwei Zahnreihen auf dem Brustpanzer des Goldenen Greifen dahin. Hawkril hielt den ehemaligen Regenten, welcher am ganzen Körper zitterte, aufrecht. »Ihm sind mehrere Rippen gebrochen, wenn nicht Schlimmeres«, meldete Hawkril seiner Herzensdame. »Worauf wartet Ihr denn noch?«, fuhr Tschamarra Craer an. »Warum helft Ihr Hawkril denn nicht, den armen Mann
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auf dem Boden auszustrecken?« »Einen Moment noch ... Da!« Das letzte Wort stieß der Beschaffer so laut hervor, dass alle Gefährten die Köpfe hoben. In eben diesem Moment verging der Riesendrache zum geschundenen Körper eines Menschen, welcher am Rand der Mulde zu liegen kam und mit so viel Entsetzen in die Welt starrte, als würde er seine Furcht nie mehr verlieren können. »Die Blutpest«, murmelte die Herrin der Edelsteine. »Aus irgendeinem Grund scheinen manche ihre ursprüngliche Gestalt zurückzugewinnen«, meinte Schwarzgult und vergaß für einen Moment seine Schmerzen. Der Beschaffer ließ jetzt seine Liebste los, so dass sie zurücksank und sich an einen Baum lehnte, und eilte seinem Freund zu Hilfe. Der ehemalige Regent brach endgültig zusammen, erbrach sich und spuckte Blut von einer Farbe, wie die anderen es noch nie bei einem Menschen gesehen hatten. Dann verdrehte sich Schwarzgult, wuchs immer weiter an und entwickelte eine lange Schnauze mit scharfen Zähnen. Die Rüstungsteile fielen von ihm ab, und darunter kam ein Ungeheuer zum Vorschein. »Tschamarra! Rasch zu mir!«, rief die Zauberin. »Er wird sich des Weltensteins bemächtigen wollen ... Schon greift er danach!« Hawkril warf sich Schwarzgult entgegen und rollte sich auf dem Tentakel ab, welches das Ungeheuer nach dem Weltenstein ausstreckte. Tschamarra zog sich an dem Baum hoch, an welchem sie gelehnt hatte, rannte los und brach nach zwei Schritten vor
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Schmerzen schreiend zusammen. Craer raste zurück, hob sie auf und lief schnaufend mit ihr zur Zauberin. Embra näherte sich ihnen, ohne ihren Vater auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Ihr Dwaer flammte auf, und das Ungeheuer schrie vor Schmerzen. Eine Woge von Magie überspülte ihn und entfernte seine letzten Kleidungsstücke. Schwarzgult hatte sich eine Schuppenhaut zugelegt. Doch unter der brodelte es, als neue Gliedmaßen entstanden und er immer weiter wuchs. Hawkril rang immer noch mit dem Tentakel, welches er auf den Boden gepresst hielt. Embra sprach einen neuen Zauber, und der ehemalige Regent versank unter einem Funkenflug. Danach waren seine Schuppen wie weggebrannt. Craer stürzte schwer und blieb atemlos liegen. Er hatte es aber noch so einrichten können, dass Tschamarra auf ihn fiel, was ihm alle Luft aus der Lunge presste. Die Edle Talasorn kletterte über ihn hinweg und kroch zur Zauberin. »Ich komme schon, Embra!«, schrie sie. Und schrie dann noch einmal, aber schriller, weil ein neues Tentakel auf sie zukam und sich wie eine übergroße Zunge über den Boden schlängelte. »Craer!«, rief die Talasorn-Zauberin in höchster Not. Ächzend und hustend rappelte Craer sich hinter ihr wieder auf. Er hob sie mit letzter Kraft hoch und trug sie auf den Armen zu der Herrin der Edelsteine. Diese stand eingehüllt von wirbelnder Strahlung da, welche von ihrem neuen Bann herrührte. Als die Strahlung stärker wurde und eine rötliche Färbung
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annahm, schrie das Untier schrill. Nun wuchsen ihm eine Unzahl Augen. Große und kleine, runde und schlitzförmige, aber alle mit einem Ausdruck von tiefem Schmerz. Der Ungeheuerleib sackte zusammen und entwickelte sich zu einer formlosen braunen Masse, auf deren Oberfläche sich Dutzende von Mündern schmatzend öffneten und schlossen. Embra schleuderte ihren nächsten Zauber, just einen Moment bevor Craer erneut unter dem Gewicht seiner Liebsten zusammenbrach und Tschamarra ihm aus den Armen und in die Zauberin hineinflog. Die beiden Zauberinnen purzelten gemeinsam über den Boden, und Embra konnte den Weltenstein nicht mehr halten. Er flog ihr aus der Hand. Das Schwarzgult-Ungeheuer brüllte vor Triumph. Die braune Masse schwabbelte wie ein gestrandeter Seeelefant auf den Weltenstein zu. Hawkril warf sich ihm mit voller Wucht entgegen und glaubte schon, sich dabei selbst zerschmettert zu haben. Doch das Untier wurde davon tatsächlich aus der Bahn geworfen. Während es sich um die eigene Achse drehte, nahm es die abenteuerlichsten Körperformen an. Zahnreihen tauchten auf, schnappten in die Luft und vergingen wieder. Augen, Tentakel, Flossen, Klauen und Mäuler erschienen in wilder Folge, und Craer schleuderte sich mit den Stiefeln voran mitten ins Herz der Bestie. Das Ungeheuer schrie schrill, und seine Augen und Glieder fielen von ihm ab und zerschmolzen mit der braunen Masse. Zwei Paar weibliche Hände hielten nun den Weltenstein.
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Die Frauen sahen sich kurz an, nickten entschieden und sangen dann gemeinsam neue Beschwörungen. Strahlenschub und Strahlenwelle fegten über Schwarzgult hinweg, und unter ihrem Einfluss setzten die ständigen Formwandlungen allmählich aus. Aus der braunen Masse wurde langsam wieder rosafarbenes Fleisch, und auf diesem wuchsen Haare. Die beiden Zauberinnen näherten sich in dem Maße Schwarzgult, wie Hawkril und Craer sich von ihm zurückzogen. Langsam hielt Embra der Masse den Dwaer entgegen, als wolle sie ihn dieser opfern. Der Gesang der Frauen schwoll an, und währenddessen drehte sich der Stein im festen Griff der Zauberin. Den Blicken des Recken und des Beschaffers entging nichts. Schon zogen sie halb ihre Schwerter. Aus der Masse erhob sich nun etwas, dem Weltenstein entgegen. Ein Gebilde wie ein menschlicher Arm, welchem Finger wuchsen, die nach dem Dwaer griffen. Dieser blitzte nochmals auf ... Es brodelte in der Masse, und bald folgte dem Arm das vertraute Gesicht von Ezendor Schwarzgult. Embras Vater sah die Gefährten mit erstaunten Augen an. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht, er stöhnte, und im nächsten Moment brach der wieder menschliche Schwarzgult zusammen. »Auf mit Euch!«, schimpfte Craer und warf ihm die Teile seiner Rüstung zu. »Wenn hier einer das Recht hat, erschöpft zu sein, dann doch wohl ich. Was meint Ihr wohl, was ich gerade hinter mir habe?«
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Ritt durch Blut C Funken umstoben sie. Maelra Bogendrachen ritt auf einem Energiestrom, welcher sie restlos begeisterte. Rauschende Magie trieb sie tiefer und tiefer in die Windungen des Stroms. Darunter verblasste der kleine Raum voller magischer Gegenstände, von dem Onkel Multhas immer geglaubt hatte, er sei sein kleines Geheimnis. Als alles Rauschen und Leuchten von der jungen Frau abfiel, musste sie feststellen, dass sie sich nicht länger in der Geheimkammer befand. Sondern an einem dunklen Ort, an welchem es sehr erdig roch. Sie kannte diesen Ort, auch wenn sie ihn noch nie betreten hatte. Das Versteck des Bannmeisters von Aglirta ... und da stand er auch schon in den Schatten: Ingryl Ambelter. Maelra ließ sich von den Augen des Erzmagiers nicht einschüchtern. Nicht zum ersten Mal wurde sie von einem Mann so angesehen. Die Blicke blieben an ihren Kurven hängen ... Und das verging ihnen erst, dann aber schlagartig, wenn sie erfuhren, wen sie da vor sich hatten.
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Aber bei Ambelter schwang noch etwas anderes in diesem Blick mit. Etwas Gewaltiges, etwas Tödliches ... Mit einem Schlucken hielt sie ihm die Gegenstände entgegen, welche sie vor wenigen Momenten für ihn gestohlen hatte: Spiegel, Kästchen und Dolche voller Zauberkraft und aus dem Besitz derer von Bogendrachen. Maelra wusste, dass sie sich in keinem Gesicht oder Traum befand. Sie befand sich wirklich in dieser Erdhöhle unweit des Stromufers ... und fern der Heimat. Nur zwei Schritte trennten sie von der ungeheuerlichsten Macht, welcher sie jemals begegnet war. Überall fing es sie an zu kribbeln. »Tretet näher«, forderte Ingryl sie mit seinem gefährlichen, sanften Lächeln auf. Mit der einen Hand winkte er ihr zu, in der anderen hielt er den leuchtenden Dwaer, als handele es sich bei ihm um ein Schoßtier. »Wir haben noch so viel zu tun.« »Wollt Ihr etwa ...«, begann die junge Frau und unterbrach sich. »Natürlich, wie dumm von mir.« Sie hörte das Scharren von Stiefelsohlen über Felsgrund hinter sich und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter. Fürst Phelinndar stand dort und beobachtete sie. Im Schein seiner glänzenden Rüstung erkannte sie das Schwert, welches er erhoben hatte. Wohl um es ihr bei der geringsten falschen Bewegung in den Rücken zu stoßen. Doch jetzt schien er sich beruhigt zu haben, denn er senkte die Klinge. Die junge Maelra Bogendrachen erkannte in seiner anderen Hand ebenfalls einen Weltenstein. Sie drehte sich rasch wieder zu Ambelter um, weil sie
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nicht glauben konnte, dass diese Männer tatsächlich zwei dieser Wundersteine besaßen. Und tatsächlich war die Hand des Zauberers jetzt leer. Maelra versuchte, eine möglichst ausdruckslose Miene zu zeigen, aber gleichzeitig wusste sie, dass der Bannmeister bemerkt hatte, wie sich ihre Augen verengt hatten. Sie schluckte und meinte: »Ja, wir haben noch sehr viel zu tun.« »Meinem Vater und unseren Pferden geht es gut«, verkündete Embra. »So hat es mir jedenfalls der Weltenstein verraten. Er lässt mich nämlich nicht nur sehen, sondern auch fühlen.« Ehe Craer etwas sagen konnte, rief Tschamarra: »Seht euch das nur an! Unglaublich!« Der erste Blick der Gefährten auf Glarond offenbarte ihnen sechs Schwärme von Krähen, Geiern und anderen Aasfressern. Vermutlich fand sich in der Mitte dieses halben Dutzends eine mehr oder minder abgenagte Leiche. Untermalt wurde diese Idylle von Rauchfahnen, welche am Horizont aufstiegen. Der erste Bauernhof war bereits bis auf die Grundmauern abgebrannt und natürlich von den Bewohnern verlassen. Vieh lief ziellos herum und brüllte seine Hilflosigkeit hinaus. Aus einigen Baumkronen schossen Pfeile auf sie zu, und wenn es ein Tier erwischt hatte, rannten sofort ein paar Männer herbei, um sich ein schönes Stück Fleisch herauszuschneiden und dann rasch wieder im Unterholz zu verschwinden. Wenn die Gefährten unterwegs überhaupt einmal auf Menschen gestoßen waren, hatten die augenblicklich die
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Flucht ergriffen. Dennoch hielten die Hochfürsten es für ratsam, nicht durch dichte Wälder oder unübersichtliche Gegenden zu reiten. Wenn sich die braven Bürger von Glarond schon noch darauf verstanden, mit Pfeilen auf Tiere zu schießen, hinderte sie doch eigentlich auch nichts daran, auf Menschen zu zielen. Und so kam es auch jetzt. Vor den fünfen zischten Pfeile durch die Luft, landeten aber ein gutes Stück voraus im Straßengraben. »Muss man jetzt schon im Reich mit Strauchdieben rechnen?«, knurrte der Beschaffer und wendete sein Ross in Richtung des Gehölzes, aus welchem die Geschosse herangerast waren. »Offensichtlich ist es in Aglirta zu einer weiteren Verrohung der Sitten gekommen«, bemerkte Embra. »Vergesst nicht den Merksatz, mein Freund: Es braucht drei Generationen lang Frieden und Ordnung, bis die Menschen Vertrauen ins Königtum und dessen Gesetze fassen ... aber nur eines nachlässigen Herrschers, um die Bürger über die Stränge schlagen zu lassen. Und was hat das Land in den letzten Jahren nicht alles über sich ergehen lassen müssen? Krieg führende Heere, ständig neue Herrscher in Treibschaum und jetzt auch noch die Untaten der Schlangenpriester. Ganz zu schweigen von dieser Pest, die alle in mörderischen Wahnsinn stürzt!« »Ihr habt ja Recht«, maulte der Beschaffer, »aber deswegen muss es mir trotzdem nicht gefallen!« Tschamarra verdrehte die Augen: »Lasst es gut sein, Fürst
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Starrkopf. Und wenn der nächste dreiköpfige Drache kommt, möchte ich Euch an meiner Seite wissen, damit wir gemeinsam untergehen können.« Craer machte nur »Ph!«, lenkte sein Pferd aber an ihre Seite. Die Zauberin warf der Letzten der Talasorn einen bewundernden Blick zu und murmelte: »Es geht also doch!« Bevor sich daraus ein neuer Streit entwickeln konnte, ertönte aus den Bäumen ein schriller Schrei. Alle drehten sich augenblicklich um. Eine Gruppe Bauern in zerrissenen Kleidern kam heranmarschiert. Nur ihre Augen verrieten, dass sie Opfer der Blutpest geworden waren. Craer zog sein Schwert halb aus der Scheide und ermahnte die anderen: »Lasst euch bloß nicht von einem von ihnen beißen!« »Wir reiten einfach weiter«, schlug Hawkril vor. »Wir können ja doch nichts für diese armen Teufel tun ... außer die Schlangenpriester zu erwischen, welche dafür verantwortlich sind, und ihrem Wirken einen Riegel vorzuschieben!« Die Gefährten drängten ihre Rösser zu schnellerem Lauf, und das schien den Tieren sogar recht zu sein. Die Hochfürsten mussten die Zügel fest in die Hand nehmen, um die Rösser am Ausbrechen zu hindern. Auf ihrer weiteren Reise erlebten sie wieder die üblichen Bilder. Menschengruppen, welche sich sofort verdrückten, sobald sie die Gefährten auftauchen sahen. Doch dann torkelte ihnen einer wie ein Betrunkener entgegen. Er brach alle paar Schritte zusammen und schüttelte sich am ganzen Leib, ehe er sich wieder aufrichtete und wei-
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tertaumelte. Die Gefährten ritten zu ihm, und als sie ihn erreichten, konnte der Mann sich nicht mehr erheben. Dafür breitete sich auf seinem ganzen Körper ein pelzartiger Haarwuchs aus. Der Beschaffer zog mit ärgerlichem Knurren sein Schwert, aber Embra ermahnte ihn: »Mäßigt Euch, Craer! Diesen da will ich lebend. Hawkril, helft ihm.« »Euer Wunsch ist mir Befehl«, bestätigte der Recke mit grollender Stimme. Craer sprang schon aus dem Sattel, um den Kranken von der einen Seite zu packen. Der Hüne näherte sich ihm von der anderen. Und Schwarzgult ritt hinterher, um die Pferde der beiden am Zügel zu nehmen. Die Zauberinnen sahen sich derweil in alle Richtungen um, damit den Gefährten keine üble Überraschung in Gestalt von anschleichenden Feinden blühen konnte. Der Kranke hatte sich inzwischen in so etwas wie einen Wolf verwandelt. Als er den Kopf senkte und Hawkril warnend anknurrte, schlang Craer ihm geschickt die Schnur um die Beine, welche er stets am Gürtel mit sich führte. Der Menschenwolf fuhr sofort herum und schnappte nach dem Beschaffer. Der, nicht faul, schob ihm sein Schwert mit der flachen Seite in die lange Schnauze. Dann war auch der Recke heran, legte dem Kranken beide Hände auf die Schultern und sprang ihm auf den Rücken. Während der Menschenwolf sich gegen seinen Reiter wehrte, schlang der Beschaffer ihm weitere Schnüre um die Pfoten, bis deren alle vier gefesselt waren. Als der Menschenwolf unter der Last seines Reiters zu-
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sammenbrach, band Craer ihm auch noch die Schnauze zu. Solange Hawkril auf dem Kranken sitzen blieb, würde der sich nie von seinen Fesseln befreien, geschweige denn davonrennen können. »Was für ein hübsches Paket«, lobte der ehemalige Regent, als er mit beiden Pferden am Zügel näher ritt. Dann wandte er sich an seine Tochter. »Ich nehme an, Ihr wollt mit ihm einige Versuche anstellen.« »Ganz recht, Herr Vater.« Dann zeigte sie mit dem Weltenstein auf Tschamarra. »Dürfte ich Euch darum bitten, Euch wieder meinem Geist anzuschließen, während ich in seine Seele eindringe?« Die Letzte der Talasorn nickte, und Embra fuhr fort: »Wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, und wir später noch einmal auf einen solchen Wolf stoßen, sollt Ihr mich begleiten, Herr Vater. Ich brauche euch alle, denn wir müssen ein Mittel gegen die Pest finden. Sobald wir es gefunden haben, müssen wir uns in seinem Einsatz und Gebrauch üben ... Versteht mich recht, bislang musste ich jedes Mal, wenn ich einen Kranken in seine ursprüngliche Gestalt zurückzwang, gleichzeitig gegen den Dwaer ankämpfen. So etwas darf nicht noch einmal vorkommen!« Embra erwartete eine Überraschung: Die Pest im Innern des Wolfsmenschen unterschied sich von derjenigen, auf welche sie bei früheren Untersuchungen gestoßen war. Weiters stellten die beiden Zauberinnen fest, dass es ihnen bei der Heilung ziemlich half, den Kranken vorab in seiner ursprünglichen Gestalt gesehen zu haben.
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Diese Erinnerung bereitete ihnen den Boden, auf welchem sie den Kranken zu seinem wahren Ich zurückzwangen. Während dieser Reise, welche vor allem der Kraft des Dwaers zu verdanken war, musste sich der arme Mann einem halben Dutzend Umwandlungen unterziehen. Und wieder kam es der Zauberin so vor, als hätte die Pest ein eigenes Bewusstsein, welches ihr dabei half, den Bemühungen der beiden Frauen immer wieder auszuweichen. Als die Pest sich aber schließlich doch geschlagen geben musste, verschwand sie einfach, ohne dass jemand zu verfolgen vermochte, wohin sie sich begab. Der Kranke, nun wieder ein Mensch, erlangte sein Bewusstsein zurück, erblickte als Erstes die beiden Zauberinnen und fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Craer fing ihn auf und brachte ihn in eine sitzende Stellung. »Na, unter einem stillen Dank habe ich mir aber etwas anderes vorgestellt«, maulte er dabei. Embra lächelte ihn süß an. »Beim nächsten Wolf, auf den wir stoßen, müssen wir das noch einmal versuchen. Dann können wir von Mal zu Mal besser bestimmen, wie genau man die ursprüngliche Form kennen muss und wie weit man aufs Geratewohl arbeiten kann.« Der Beschaffer verzog das Gesicht: »Und wie viele Wölfe muss ich deswegen noch für Euch fangen?« »Wie viele Finger sind Euch denn noch geblieben?«, antwortete die Zauberin ganz zuckersüß. Schwarzgult schnaubte, als er dem Beschaffer die Zügel seines Rosses reichte. »Na, so etwas nenne ich aber Zeitverschwendung: Das Fräulein Zauberin versucht, sich mit dem Meister des Kalauers zu messen. Sollte nicht jeder Schuster
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bei seinen Leisten bleiben? Tochter, richtet Eure ganze Aufmerksamkeit doch lieber darauf, die Pest zu bezwingen. Mit jedem Sieg von Euch kommen wir dem Geheimnis der Schlangenzauberkunst näher, bis wir sie endlich ganz vernichten können.« Embra nickte und war jetzt wieder ganz sachlich. »Nun, mir ist aufgefallen, dass die Pest sich verändert ... Daraus ließe sich allerdings auch schließen, dass die Krankheit mehrere Ausgangspunkte hat ... Oder aber, die Pest verwandelt sich, wenn sie unmittelbar angegriffen wird ... Wie dem auch sei, mit jeder neuen Untersuchung kommen wir dem Rätsel ein Stückchen mehr auf die Schliche.« »Ja«, meinte Hawkril, »aber macht Euch dabei einen Grundsatz der Recken zu Eigen: Am wichtigsten ist, selbst am Leben zu bleiben.« Die Gefährten überquerten die dicht bewaldeten Höhenzüge, welche Glarond mehr oder weniger von der Außenwelt abschnitten. Nicht einmal reisende Kaufleute kamen hierher. Hinter den Höhen breitete sich Acker- und Weideland aus. Saubere Straßen durchschnitten das Bergland, und die Namen der Dörfer kannte außer den Bewohnern kaum einer. Dummerweise würden sie bald endgültig in Vergessenheit geraten, denn der Tod hatte unter den Bewohnern reiche Ernte gehalten. Wer von ihnen noch lebte, hatte sich im Wald versteckt, doch zum Glück für die Reiter verspürte kaum noch einer von ihnen Lust, die Fremden mit Pfeilen zu beschießen. Dahinter breiteten sich größere Täler aus, und die Höfe
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und Dörfer wirkten wohlhabender. Doch man sah nichts und niemanden auf den Straßen. Weder einen Fußgänger noch einen Karren! Unter anderen Umständen hätte man meinen können, in Sirlptar sei großer Jahrmarkt, und alles sei dorthin geströmt. Aber jetzt musste man befürchten, dass die wenigen Überlebenden ihre Höfe, Schmieden, Werkstätten und anderen Gewerke verlassen hatten, weil jemand anderer aufgetaucht war ... Wölfe! Als Craer und Hawkril in eine Kehre einbogen, hasteten vor ihnen drei keuchende Bauern über die Straße, und ihnen folgte ein Menschenwolf! Die Gejagten setzten über Büsche, und der hinterste sprang zu kurz. Er kam zu Fall und rappelte sich in höchster Not wieder auf. Der Mann wäre mit Gewissheit die nächste Mahlzeit des Wolfs geworden, wenn der Beschaffer nicht aus dem Sattel geglitten wäre und sich dem Untier in den Weg gestellt hätte. Der Wolf starrte den kleinen Mann wie eine Erscheinung an und wollte ihm im ersten Moment ausweichen. Doch dadurch kam er Craers Ross zu nahe, das sich sofort auf die Hinterbeine stellte und ihn mit seinen Hufen angehen wollte. Also noch einmal die Richtung geändert, und der Wolf stand wieder vor dem Beschaffer. Das Ungeheuer brachte den kleinen Mann mit einem Hieb zu Fall. Craer aber stemmte dem Wolf beide Füße entgegen, um nicht vom Gewicht seines Gegners erdrückt zu werden. Unnötig zu erwähnen, dass der Beschaffer den Wolf auch ein wenig mit seinen Stiefelspitzenklingen kitzelte.
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Noch während das über die Stiche erschrockene Untier schrie, kam Hawkril schon heran, legte dem behaarten Wesen einen Arm um den Hals und sprang es an, um es zu Fall zu bringen. Craer war der Gefahr damit entronnen, wenn auch um Haaresbreite, sprang gleich auf und boxte dem Wolf tüchtig auf die empfindliche Nase. Während das Ungeheuer schnaubte, schnaufte und nieste, legte der Recke ihm beide Arme um den Hals und bog ihm den Kopf nach hinten, und ... »Ich kann bei ihm überhaupt kein Bewusstsein feststellen!«, rief die Zauberin hilflos. »Natürlich nicht, Tochter!«, rief der Goldene Greif. »Weil es sich bei dieser Bestie nämlich um einen echten Wolf handelt!« »Aber was soll ich denn jetzt tun?«, rief die Herrin der Edelsteine unglücklich. Ihr Vater schnaubte und führte ein paar Fingerbewegungen in Richtung des Weltensteins aus. Der Dwaer entbrannte daraufhin in Embras Griff, und sie schrie vor Schmerzen. Als die Zauberin ihn losließ, schwebte er von ihrem Handteller davon und wurde nur von dünnen Energieblitzen gehalten, welche aus den Fingerspitzen des Goldenen Greifen schossen. Nur einen Moment später krachte ein weißer Blitz, und Craer Wurde wie von einem Seil gezogen zurück zu den Pferden gerissen. Gleichzeitig landete der Hüne im nächsten Straßengraben, während der Wolf so weit wie möglich von seinen beiden Gegnern fortgeschleudert wurde.
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»Was? ... Wo?«, entfuhr es Tschamarra, und sie hielt Ausschau nach ihrem Liebsten. Der Weltenstein schwebte nach wie vor mitten in der Luft, und um ihn herum entstand ein Wirbel aus Nebel. »Beruhigt die Pferde!«, befahl Schwarzgult der Edlen Talasorn, »sonst laufen sie in ihrer Panik noch den ganzen Weg zurück nach Stornbrücke.« Tschamarra starrte ihn an, als habe sie kein Wort verstanden. »Na los! Nehmt den Dwaer, wenn Ihr es ohne ihn nicht schafft!« Die Letzte der Talasorn starrte noch verständnisloser auf den Stein. Dann schluckte sie und pflückte ihn geradezu aus der Luft. Er wehrte sich nicht gegen ihre Berührung. Embra schien ihren Weltenstein schon ganz vergessen zu haben. Sie war vom Pferd gestiegen und rannte zum Straßengraben. »Hawkril! Mein lieber Hawkril!« »So ist’s recht, verwöhnt ihn nur über Gebühr!«, rief Craer in gespieltem Entsetzen, und Tschamarra freute sich so sehr darüber, ihn wieder ganz als den Alten zu erleben, dass sie darüber vergaß, sich um die Pferde zu kümmern. »Wie wäre es, wenn Ihr zur Abwechslung mal den Mund haltet und zusammen mit Eurer Liebsten die Pferde einfangt?«, brüllte der Goldene Greif, der so viel Saumseligkeit nicht fassen konnte. »Vater, wie konntet Ihr das nur tun?«, heulte Embra. »Einen Blitz auszusenden, wo Hawkril doch seine Rüstung trug und voller Eisen war!« Da legte sich ein gepanzerter Arm um ihre Schulter, und eine wohl vertraute grollende Stimme sprach: »Herrin, ich
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lebe noch, und –« »Hawkril!«, schrie die Herrin der Edelsteine und warf sich ihm an die Brust, um dort ihren Tränen freien Lauf zu lassen. »Ich muss gestehen ... dass ich Euch im Moment ... nicht verstehen kann ...«, erklärte der Recke. »In meinem Kopf ist nur Dröhnen und Rauschen. Hat es den Wolf erwischt, oder lebt er noch?« Craer hatte sich inzwischen zu ihrem ehemaligen Gegner begeben, begutachtete ihn mit fachmännischem Blick und grinste dann über das ganze Gesicht. »Kein bisschen. Der ist mausetot ...« Ehe er noch mehr sagen konnte, ging ihm auf, was sein Freund gerade gesagt hatte. Also stellte er sich gut sichtbar vor Hawkril und strich mit der Handkante über seine Kehle ... das allgemeine Zeichen für »tot«. Hawkril gelang es, einen Arm aus der Umklammerung seiner Liebsten zu befreien und auf den Wald zu zeigen. Der Beschaffer schaute in die angegebene Richtung und gewahrte dort einen Mann, der sich erheblich von dem Bauernvolk unterschied. Das lag zum einen an seinem kalten Blick und zum anderen an seiner Tracht ... Der eines Schlangenpriesters! Im Zeitraum eines Atemzuges hatte der Beschaffer schon seinen besten Dolch gezogen und nach vorn geschleudert. Als dem das zweite Messer folgte, rannte Craer schon auf den Wald zu. Tschamarra schluckte verwirrt, Embra starrte dem Gefährten hinterher, und der Schlangenpriester brach langsam zusammen, wobei er sich an den Hals griff ... An die Stelle, wo der Dolchgriff herausragte.
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Der Beschaffer benutzte das nächste Messer, um seinem Feind die Finger abzuschneiden und ihn somit daran zu hindern, in letzter Sekunde einen Zauber zu wirken. Aber da entdeckte er ein weiteres Gesicht in einer schimmernden Fläche zwischen zwei Bäumen. Dies bedachte ihn mit einem ebenso kalten wie grausamen Blick. Die Fläche schmolz gleich darauf zusammen, und Craer stürmte mit seinem Messer vor. Aber er kam zu spät. Was nutzte es noch, dass er blindlings auf die Stelle einstach, an welcher sich eben noch die Fläche gespannt hatte? »Craer?«, ertönte hinter ihm die sehr besorgte Stimme Tschamarras. »Habt Ihr ihn erkannt?« Der Beschaffer drehte sich zu ihr um und sprang gleichzeitig zur Seite, weil er es gewohnt war, dass Gegner ihm gern von hinten einen Speer oder ein Schwert in den Leib zu rammen trachteten. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ein Mann, aber keiner, den ich kenne. Auf jeden Fall ein weiterer Schlangenpriester, und ich hatte den Eindruck, als würde er mich kennen. Vielleicht der Vorgesetzte von diesem hier, den ich gerade erledigt habe.« Sie umarmte und küsste ihn, und er legte ihr die Hände auf die Hüften und küsste sie zurück, und ... »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das dazu beiträgt, die Pferde zu beruhigen!«, schimpfte hinter ihnen Schwarzgult. Die Zauberin erstarrte, und Craer warf dem ehemaligen Regenten einen giftigen Blick zu. Der aber lachte und feixte wie ein Schuljunge, dem ein Streich gelungen ist. Dann musste Craer feststellen, dass auch Hawkril grinste. Embra seufzte und hob dann die Hände, um den Dwaer mit
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gekrümmten Fingern zu sich zu locken. Der Weltenstein trieb gehorsam auf sie zu. Als Tschamarra die Bewegung des Steins spürte, drehte sie sich in Craers Armen rasch um ... und entspannte sich. »Fürst Schwarzgult«, erklärte sie, und in ihrer Stimme klang eine deutliche Warnung mit, »ich werde während unseres bevorstehenden Rittes einige Zeit dafür opfern, mir etwas Passendes für Euch zu überlegen.« »Aber sicher doch«, erwiderte der Goldene Greif und deutete eine Verbeugung an, bevor er die Zügel ergriff und sich auf sein Ross schwang. »Ich hätte nichts Geringeres von Euch erwartet – und seid Euch meiner Antwort gewiss, die ich zum jetzigen Zeitpunkt noch für mich behalte.« »Bei der Dreifaltigkeit!«, verdrehte die Zauberin die Augen. »Da lernt man nun nach vielen Jahren seinen wahren Vater kennen, und der entpuppt sich als zweiter Craer!« »Die Bogendrachen haben sich immer schon auf den Umgang mit der Magie verstanden«, erklärte Maelra dem Bannmeister steif. »Meine Vorfahren waren schon Erzmagier in Arlund, als an Aglirta überhaupt noch nicht zu denken war.« »Ja, sehr nett«, entgegnete Ingryl unterkühlt. »Ihr solltet dabei aber bedenken, dass eine solche Herkunft eigentlich wenig an der Gegenwart ändert. Oder habt Ihr schon einmal davon gehört, dass es ein solcher Weiser auf einen Thron abgesehen hat oder auch nur zum Berater eines Königs ernannt worden wäre?« Ambelter hielt der jungen Hexe seinen Dwaer entgegen. »Ein Erzmagier mit Sinn für Macht hat diesen Stein für sich gewonnen, und ein Erzmagier mit Sinn für Macht bedient
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sich seiner, zusammen mit einem Fürsten.« Maelra wie auch Phelinndar hatten den Eindruck gewonnen, Ingryl habe sich im letzten Moment besonnen und diese vier Worte noch angehängt. »Zusammengefasst ließe sich daher sagen, junges Edelfräulein, dass so mancher, der einmal mit der Magie in Berührung gekommen ist, glaubt, sich damit brüsten zu müssen. Und tatsächlich gelingt es ihm damit, tumbe Haudraufs und einfältige Fürsten zu beeindrucken. Diejenigen jedoch, welche sich wirklich mit der Zauberei befassen, wissen, dass dies für sich genommen noch keine Auszeichnung darstellt. Wir Bannmeister verstehen uns lediglich darauf, mit gewissen Techniken, Erfahrung und einem Gespür für Macht etwas zu bewirken.« Ambelter brachte seinen Weltenstein zum Glühen. »Dies hier ist die wahre Macht, kleines Fräulein. Nur mit einem solchen Stein können wir an ihr teilhaben.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Wenn das Schicksal es so will, dass unsere Wege für die nächste Zeit gemeinsam verlaufen, solltet Ihr dieser Macht Achtung erweisen und ihr gehorchen. Was aber Eure Herkunft angeht, so soll sie Euch Trost in dunklen Stunden spenden, aber ruht Euch nicht auf ihr aus, noch solltet Ihr Euch in ihr sonnen.« Der Erzmagier warf Phelinndar einen Blick zu, und der trat zu ihm und legte eine Hand auf den Dwaer. »Erkennet nun, über welche Macht wir durch diesen Stein gebieten!« Gleißende Helligkeit umgab Maelra jetzt, als sähe sie sich tausenden Edelsteinen gegenüber. Sie verengte vorsichtig die
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Augen zu Schlitzen, weil sie ja befürchten musste, von solcher Helligkeit geblendet zu werden. In diesem Moment hätte sie sich diesen beiden Männern auch als Sklavin ergeben, wenn diese das von ihr verlangt hätten. Doch als sie sich beruhigte, erkannte sie, dass jede einzelne Facette der Helligkeit ihr ein anderes Bild aus Asmarand zeigte. Landschaften, Küsten, Ruinen und Wälder. Es kam der jungen Frau so vor, als hätte sie ein Dutzend mal ein Dutzend kleiner Fenster vor sich, welche alle in eine andere Richtung wiesen. Maelra schrie vor Verzückung auf und versuchte, so viele Bilder wie möglich in sich aufzunehmen. Aber da verschmolzen sie alle ineinander. Ingryl schrie jetzt ebenfalls, aber nicht vor Vergnügen, sondern aus Zorn. »Ein anderer Dwaer, ganz in der Nähe. Wir müssen ...« Der Magier und der Fürst unterhielten sich jetzt über ihren Weltenstein in der Gedankensprache, und die junge Frau konnte dem Gespräch nicht folgen. Dafür spürte sie aber das Ansteigen einer Macht, welche ihr nicht völlig fremd zu sein schien. Dabei konnte es sich nur um den gerade eben aufgetauchten zweiten Weltenstein handeln. Und gegen den handelten die beiden Männer nun. Rote Energie entströmte ihnen, und diese brachte Maelra mit ihrer Macht zum Beben. Kleine Blitze durchfuhren sie und versetzten sie in höchste Erregung. Keuchend verfolgte die Schöne, wie der Strahl sich
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spaltete. Seine Teile spritzten in alle Richtungen davon. Bei der Dreifaltigkeit! Wenn man doch einmal auf so viel Kraft reiten könnte! Wie auf einem Drachen über das Land zu jagen und überall zuzuschlagen, wo es einem recht und billig erschien! Eine Kristallkugel flog auseinander und verschleuderte ihre Energien mit einer Wucht, welche die ganze Höhle zum Beben brachte. Das Wesen ohne Gesicht, welches sich gerade darüber gebeugt hatte, wurde von den Füßen gerissen und ans Ende seiner Behausung geschleudert. Aber der Dwaer, welchen es fest in der Hand behielt, verschoss ganze Salven von Funken, und diese vergrößerten sich zu blitzhellen Speeren. Die Speere sausten durch die Höhle, wurden abgelenkt oder zurückgeworfen und stachen in den Gesichtslosen. Schließlich sprang das sich ständig wandelnde Wesen mit einem Schrei in die Luft, der mehr aus Wut denn aus Schmerzen geboren war. Der Gesichtslose nutzte den Weltenstein als fliegendes Pferd und ließ sich von ihm durch die stechenden Speere tragen. Der Stein versengte seine Hände und Finger; dennoch dachte er keinen Moment daran, den Stein fahren zu lassen. Von unzähligen Stellen an seinem Körper stieg Rauch auf. Trotzdem gelang es ihm, sich selbst zu heilen. Und eines wusste er jetzt ... Wer immer ihn angegriffen hatte, es war nicht die Silberbaum-Maid gewesen. Sondern jemand, der genau wusste, wie man mit einem
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Dwaer umzugehen hatte. Der Koglaur warf den Kopf in den Nacken und bildete im formlosen Gesicht einen Mund, um seufzen zu können. Und die nach Blitzen stinkende Luft einzuatmen. Allmählich beruhigte sich sein rasender Flug, und bald schwebte er nur noch durch die Höhle. In den letzten Blitzzuckungen ließen sich etliche Rauchfahnen erkennen. Der Gesichtslose saugte alle Energie in seinen Dwaer zurück, bis dieser rot glühte und mindestens ebenso zornig war wie sein Träger. Er drehte den augenlosen Kopf, als könne er tatsächlich sehen, als vermöge er, seinen Feind auszumachen. Langsam hob er seinen Weltenstein ... Da waren zwei, welche beide die Hand auf ihren Weltenstein gelegt hatten. Höchste Zeit, diese zwei brennen zu lassen. Am besten – jetzt! Die Welt platzte und spritzte auseinander, und Maelra fand sich auf dem Boden von Ambelters Höhle wieder. Die Steinplatten dort schaukelten unter ihr, während Blitze und Funken auf den Dwaer einschlugen, auf welchen er und Phelinndar die Hände gelegt hatten. Nein, nicht mehr alle beide, sondern nur noch der Bannmeister. Den mit einem Panzer gerüsteten Fürsten hatte schon der erste Ansturm davongeweht. Alles um die junge Frau herum fauchte, platzte und zischte, und sie wünschte sich nichts mehr, als weit, weit fort zu sein. Sie drehte sich um und krabbelte auf Händen und Knien
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davon. Doch schon einen Moment später ertönte hinter ihr das, was sie am allermeisten auf der Welt fürchtete: Die Stimme von Ingryl Ambelter! Aber was war mit dem Erzmagier los? Kein einzelnes Wort ließ sich verstehen, er klang vielmehr so, als würde er Wein oder Suppe erbrechen. Völler Panik richtete sich die Zauberin auf und sprintete los, zusätzlich von der Furcht angetrieben, von einem Zauber erfasst zu werden, welcher sie packte und zur Bewegungslosigkeit verdammte, während sich ringsherum die Welt weiterdrehte ... Und dann griff tatsächlich eine eisige Riesenfaust nach ihr und drehte sie um, so dass sie dem Altmeister in die Fratze des Zorns blicken musste. »Wagt das nie wieder!«, donnerte er mit klarer Stimme, und überschüssige Energie quoll ihm aus den Augen. Diese Kräfte wuschen über sie hinweg, und die Wucht dieser Macht fühlte sich ungleich stärker an als das, was vorhin ihren Unterleib zum Prickeln gebracht hatte. Jedes einzelne Haar an ihrem Körper richtete sich auf, und etwas schien in sie einzudringen. Ambelter betrachtete sie mit kalter Genugtuung. Maelra erstickte beinahe, bekam aber keinen Ton über die Lippen. So fühlte es sich also an, wenn man zum Untergang verdammt war. Der Bannmeister schien seinen Dwaer dazu zu benutzen, sie unter seine Gewalt zu zwingen ... nein, um gewaltsam in sie einzudringen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes in sie einzudringen ... So als wolle er sich in ihr verbergen, um einem Feind auf-
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zulauern! Sie starrte Ingryl an, aber dessen Augen, Nase und Mund waren unter dem Ausfluss reiner Energie nicht zu erkennen. Fast kam es ihr so vor, als blicke sie da ein Totenschädel an. Dann war mit einem Mal der ganze Spuk vorbei, und Maelra Bogendrachen schaute wieder auf den vor Wut kochenden Bannmeister. »Gehorcht mir, elende Dirne! Fallt vor mir auf die Knie, und dankt Eurem Schöpfer, dass ich Euch nicht einfach im Vorbeigehen den hübschen Hals breche!« Die junge Frau fiel tatsächlich auf die Knie, und hob die Hände, als bete sie vor einem Altar der Dreifaltigkeit. Ihre Anbetung ließ seinen Zorn verrauchen, und er hob eine Hand. Die Männer in Rüstungen, welche die Wände zierten, traten im Gleichschritt vor. Maelra starrte sie von neuer Furcht erfüllt an. Sie hatte diese Gebilde für Statuen gehalten. Aber welcher grässliche Schrecken mochte sich hinter ihnen verbergen ... Die Augen der Gerüsteten waren leer, und ihre Gesichter wirkten, als seien sie geschmolzen und erkaltet.
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Wer nicht hören will, muss fühlen C Embra Fürstin Silberbaum schüttelte den Kopf, als wolle sie die Gedanken darin verscheuchen. Wenn sie nicht den Dwaer in Händen gehalten hätte, hätte es in dieser Welt des Wahnsinns überhaupt nichts mehr zum Festhalten gegeben. Nach zwei verwüsteten Dörfern und einem ausgebrannten Karren, an welchem die Gerippe der Zugpferde noch in den Geschirren standen, hielten die Gefährten an, um eine Rast einzulegen. Die Edle hatte sich gerade in die Büsche verzogen, als der Angriff erfolgte: Ein dumpfes, blendendes Licht erstrahlte rubinrot in ihrem Kopf ... Erst nach einer Weile gelang es ihr, ihren Weltenstein wieder unter Kontrolle zu bringen. Danach fühlte sie sich geschunden und getreten. Als die Herrin der Edelsteine matt aus den Büschen herausschlich, standen ihre Gefährten neben ihren Rössern und sahen sie erwartungsvoll an. »Wir müssen so rasch wie möglich nach Glarondar!«, ver-
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kündete Embra frisch, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Die anderen sahen sie immer noch fragend an. »Mir kommt es so vor, als befände sich dort jemand mit einem Dwaer und setze diesen gerade ein. Vermutlich derselbe, welcher gerade versucht hat, mir meinen Stein zu nehmen. Und danke der Nachfrage, mir geht es gut.« »Ein Schlangenpriester!« »Ingryl Ambelter!« »Phelinndar!«, vermuteten die Gefährten gleich, und Schwarzgult fügte hinzu: »Es könnte aber auch jeder andere im Reich sein.« Kaum saß das Edelfräulein wieder im Sattel, preschte Craer auch schon los. »Ihr wollt wohl unbedingt kopfüber in die nächste Falle der Schlangen rennen!«, rief Hawkril ihm hinterher. »Dann vermag Embra sie umso rascher zu vernichten, und wir können uns endlich wichtigeren Dingen widmen!«, erhielt der Recke zur Antwort. »Selbst wenn wir diese Gäule bis zum Umfallen reiten, dauert es noch bis mindestens morgen früh, ehe wir die Stadt erreichen!«, entgegnete der Hüne. »Dann stehlen wir unterwegs eben neue!«, erwiderte der Beschaffer. Den Gefährten blieb nichts anderes übrig, als ihrem Freund ebenso rasch zu folgen. Die Macht eines Weltensteins hielt den Fürsten von Glarond wie in einem Schraubstock gefangen. »Bibbern und Flehen sind nicht das, was das Volk dieses Landes zu sehen wünscht«, sprach Schlangenpriester Arthroon. »Es bevorzugt Lachen und eine große bunte Schau, in welcher die Große Schlange verehrt wird ...
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Und Ihr, mein lieber Fürst, werdet ihm genau das geben!« Der Druck zwang den Herrn von Glarond in die Knie und dann wieder auf. Und endlich in Richtung Fenster. »Nun strafft Eure Gestalt, und setzt ein Lächeln auf, mein lieber Freund.« Der Fürst fand sich vor dem Spiegel wieder und konnte plötzlich die Arme wieder bewegen. Tatsächlich, da gab es einiges an seinem Haar und an seiner Kleidung zu richten und zu zupfen. Rasch holte er alles nach, bis er glaubte, sich der Menge zeigen zu können. Belgur Arthroon nickte anerkennend und zeigte mit seinem Stab, dessen Ende ein Schlangenkopf zierte, zur Tür. »Tretet hinaus, Fürst dieses Landes, und zeigt Eurem Volk, wie sehr Ihr die Schlange verehrt!« Unten auf dem Burghof wurde eine Trommel geschlagen, und der Fürst beeilte sich, den Befehl auszuführen. »Ah, wir kommen gerade rechtzeitig zur Ausgabe des Pestweins«, bemerkte Arthroon und stieß sein Opfer mit seinem Stab an. Gefolgt von dem kalt lächelnden Schlangenpriester schritt der Fürst die Treppe hinunter zu den anschwellenden Gesängen und dem immer schneller werdenden Trommelwirbel. Man hätte meinen können, ganz Glarond habe sich hier versammelt, um die Schlange anzubeten! Zum Untergang verdammte Narren, einer wie der andere. Aber wenn man zu den Priestern der Schlange zählte, war das Leben mehr als angenehm ... und konnte nur noch besser werden. Speere versperrten ihm den Weg. »Nennt Euren Namen!
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Was ist Euer Begehr hier in Treibschaum?« »Suldun Großsarn, getreuer Krieger des Königs, meldet sich zum Bericht zurück«, entgegnete der abgemagerte Mann in der verbeulten und verschmutzten Rüstung. »Auch wenn Ihr ein Freund Seiner Majestät seid, wovon ich noch lange nicht überzeugt bin, bezweifle ich doch sehr, dass man Euch in diesem Aufzug in seine Gemächer vorlassen wird«, beschied ihm der Hauptmann der Wache. Suldun zog eine Augenbraue hoch, stieg dann weit genug die Stufen hinab, um aus der Reichweite der Speere zu gelangen, und setzte das Horn an die Lippen. Schon nach den ersten Tönen stürmte ein Dutzend Soldaten aus der Burg. »Wer wagt es?«, brüllte deren Anführer, und dann: »Bei der Dreifaltigkeit, es ist Großsarn. Kommt her, folgt uns! Wir haben Befehl, Euch sofort vor Seine Majestät zu führen!« Suldun fühlte sich hundemüde, aber die Soldaten trugen ihn geradezu hinauf zu den königlichen Gemächern, bis sie vor einer unscheinbaren Tür anlangten, welche gleichwohl von etlichen schwer bewaffneten Wächtern versperrt wurde. Doch als sie Großsarns ansichtig wurden, machten sie sofort bereitwillig Platz. Der Anführer öffnete ihm die Tür, und der Getreue trat ein ... Und fand sich in einem kleinen und spärlich eingerichteten Raum ohne zusätzlichen Zugang wieder. Zwei hohe Fenster ließen Sonnenlicht herein, und dieses bestrahlte einen Tisch, an welchem König Burgmäntel und der fahrende Sänger Delkamper saßen. König Raulin lächelte, als er ihn erkannte, und bot ihm den dritten Stuhl an. »So nehmt Platz, Suldun! Ihr seht ja aus,
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als sei es zurzeit kein Spazierritt, durch das Stromtal zu reisen.« Der Getreue sah sich um und zählte fünf grimmige Wächter an den Wänden. Seufzend begann er seinen Bericht. »Um es kurz zu machen, Euer Majestät, Gewalt, Tobsucht und Mord beherrschen das Reich, so weit das Auge reicht.« Natürlich wollte der König es schon etwas genauer haben, und so fuhr Großsarn schweren Herzens fort: »Die Blutpest scheint sich mittlerweile in ganz Aglirta ausgebreitet und sogar Sirlptar erreicht zu haben ... Überall stößt man auf Schlangenpriester, welche durch das Land ziehen und überall verbreiten, sie allein seien im Stande, die Seuche zu beenden, aber nur, wenn alle sich dem neuen Glauben anschlossen ... Und die Schlangenpriester natürlich in ihrem Kampf unterstützten ... Will sagen, in ihrem Namen den König und alle Fürsten erschlagen. Tatsächlich werden schon überall Armeen aufgestellt. Jeder, welcher sich hinter ihrem Banner einreiht, bekommt versprochen, niemals von der Pest befallen zu werden!« »Wer ist uns zur Verteidigung Treibschaums geblieben?«, fragte Flaeros düster. In diesem Moment lachte ein Wächter auf, zog sein Schwert und stieß es seinem Nachbarn durch den Hals. Die verbliebenen Soldaten lachten ebenfalls grausam, und alle zusammen rückten sie gegen die drei Männer am Tisch vor. »Auf jeden Fall nicht wir«, verkündete der Wachhabende, »denn wir dienen ebenfalls der Schlange!« Als die Gefährten Glarondar erreichten, tanzten bereits die
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Abendnebel über den Feldern. Hier traf man auch Menschen an, die nicht geflohen und auch noch nicht der Seuche zum Opfer gefallen waren. Vor dem Stadttor standen sogar einige, wenn auch gelangweilte Wächter. »Beim undurchdringlichen Lächeln der Dreifaltigkeit«, murmelte Embra, »da hat jemand die Bauern und Handwerker bewaffnet. Craer, Ihr haltet besser Eure Zunge im Zaum!« Tatsächlich wurden voraus Mistgabeln und Sicheln geschwungen – auch wenn deren Träger sich ängstlich aneinander drängten. Dazu gesellten sich einige Söldner in zerlumpter Aufmachung. Unter normalen Umständen hätte man diese Truppe schlicht als Räuberbande bezeichnet. Doch dieser Haufen gehorchte den kurzen und knappen Befehlen eines Mannes im Talar eines Schlangenpriesters. »Edle Herrin«, setzte der Beschaffer gerade zu einer Entgegnung an, als der Priester offensichtlich die Neuankömmlinge entdeckte – und erkannte. Gleich erhob sich allgemeines Geschrei, und dem folgte das Schwirren von Bogensehnen. Doch die meisten Pfeile flogen viel zu kurz, und nur ein paar wenige prallten von den Schilden der Reiter ab. »Aha«, meinte Craer, »das sind allesamt schlechte Schützen, und wir sollten die Gelegenheit nutzen, uns davonzumachen, bevor –« Wieder kam Craer nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen. Diesmal unterbrach ihn Schwarzgult mit einem wilden Schrei. Embras Vater spornte sein Ross an, ließ den Schild fallen,
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stellte sich aufrecht in die Steigbügel und ritt gegen die Bürgerwehr an, wobei er mit beiden Händen sein Schwert über den Kopf schwang. »Ja ist er denn auch unter die Tobsüchtigen –?«, schrie der Beschaffer und verstummte mitten im Satz, weil sich nun auch seine Liebste Tschamarra merkwürdig verhielt. Die Letzte der Talasorn stand ebenfalls im Sattel, und ihr Pferd stellte sich auf die Hinterbeine. Aber die Zauberin stürmte nicht zum Angriff, sondern bog den Rücken so weit wie möglich nach hinten durch. Ein Pfeil – oder genauer gesagt eine stocksteife Schlange ragte ihr aus der Brust. Die Gefährten jagten auf die Freundin zu, als diese auch schon rückwärts aus dem Sattel kippte. Die Herrin der Edelsteine erreichte sie als Erste, hielt sie im letzten Moment fest und löste mit Hilfe des Weltensteins die Pfeilschlange in Rauch auf. »Hawkril, holt meinen Vater!«, befahl die Zauberin mit Furcht einflößender Stimme, und aus dem Dwaer löste sich eine Energiewoge, welche alles fortfegte, was sich vor dem Stadttor angesammelt hatte. Nur wenige Momente, ehe der Goldene Greif wie ein Unwetter zwischen die Bauern und Handwerker fahren konnte, wurden die von der magischen Welle gegen Wände und Mauern geschleudert. Ezendor Schwarzgult schwang trotzdem sein Schwert. Das tat er immer noch, als der Recke zu ihm aufschloss. Hawkril erkannte eine lange Schnittwunde auf Stirn und Wange des Mannes. Eine Pfeilschlange musste ihn gestreift haben!
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Die Zauberin ließ die Stadtmauer nicht aus den Augen und sandte Blitze gegen jeden, welcher sich dort irgendwo blicken ließ. Erst nachdem ihre Wut ein wenig verraucht war, konnte die Edle sich umdrehen und nach Tschamarra sehen. Deren Gesicht war lilafarben angelaufen. »Sorgt dafür, dass sie im Sattel bleibt und dass sie das Atmen nicht vergisst! Und achtet darauf, dass sie euch nicht beißt! Wir kehren um!« Damit würde Craer wohl eine Weile beschäftigt sein. Hawkril hatte inzwischen die Zügel von Schwarzgults Pferd zu fassen bekommen. Aber der ältere Mann schwang immer noch sein Schwert. Als der Klingenschwung dem Hünen gefährlich wurde, verpasste er dem Goldenen Greifen einen Hieb in die Achselhöhle. Sein Gegenüber ließ den Stahl sofort fallen und erbrach sich auf seine eigene Rüstung. Die beiden kehrten zu der Zauberin zurück. Hier fing Schwarzgult an, auf den Arm des Hünen einzuprügeln. Das schmerzte den Recken zwar nicht ernstlich, war aber doch recht lästig. Embra runzelte die Stirn und brachte ihren Vater mit dem Stein zum Schlafen. »Was nun, mein Herz?«, erkundigte sich Hawkril. »Ich fürchte, uns bleibt nur noch das übrig, was man geordneten Rückzug nennt. Und wir müssen Tschamarra bald heilen, sonst verlieren wir sie in Kürze.« Im gestreckten Galopp jagten die beiden mit dem bewusstlosen Schwarzgult hinter dem Beschaffer und der Edlen Tala-
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sorn her. »Nach rechts!«, schrie das Edelfräulein. »Nach rechts auf den Feldweg!« Aber natürlich hörten die zwei vorn sie nicht. Erst als Embra die Anordnung mit Hilfe ihres Weltensteins wiederholte, folgten die beiden. Sogar Tschamarra hob den Kopf, um besser hören zu können. Geradeaus befand sich ein befestigter Hof, und aus dessen Tor ritten eben einige Bewaffnete – offenkundig in der Absicht, mit den Hochfürsten die Klingen zu kreuzen. Embra verwandelte ihren Schild mittels des Dwaer in eine undurchdringliche Nebelwolke, welche sie vor jedem Verfolger verbergen würde. Nachdem sie noch einmal abgebogen waren, gelangten die Gefährten in einen Wald. Embra teilte Craer mit Hilfe des Dwaer mit, dass er nach einer Lichtung Ausschau halten solle. Falls sich darauf weder bewaffnete Bürger noch Pestkranke noch entlaufene Tiere befänden, sollte er dort anhalten und Tschamarra vorsichtig ins Gras legen. Schneller als erwartet war es so weit. Als Embra als Letzte die Lichtung erreichte, stürmten ihr der Beschaffer und der Hüne schon entgegen. »Tut etwas!«, flehte Craer ganz gegen seine Art. »Sie stirbt!« Die Zauberin sprang aus dem Sattel. Links lehnte ihr Vater an einem Holzstapel und machte nicht den Eindruck, wieder klar im Kopf zu sein. Ein Stück weiter lag die Letzte der Talasorn mit wächserner Miene und milchig überzogenen Augen ... Belgur Arthroon schaute unvermittelt von seinem reichhalti-
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gen Frühstück auf, und sein Kopf ruckte wie der einer Schlange vor. »Schon wieder ein Dwaer in der Nähe!«, zischte der kalte Priester. Er sprang so unvermittelt auf, dass er den Tisch umstieß, und rief die Söldner der Kirche, die Unterpriester, welche sich auf den Gebrauch einer Waffe verstanden, und Bruder Khavan zusammen. »Folgt mir! Es gilt, jemanden zu ergreifen!« »Etwa den Fürsten?«, fragte der Blödian Khavan, und der Priester bereute es schon, ihn gerufen zu haben. »Nein, aber Ihr bleibt bei ihm und gehorcht jedem seiner Befehle, als wären es meine eigenen!« Als die Schar mit Arthroon die Halle erreicht hatte, setzte dieser zum ersten Mal seinen Stein ein, um aus Glaronds Mund eine seiner Ankündigungen von sich zu geben. »In meiner fürstlichen Weisheit habe ich entschieden, den Edlen Arthroon zu meinem Nachfolger zu ernennen, sollte mir etwas zustoßen.« Der Fürst blickte Khavan an und fuhr fort: »Ihr sollt mich sofort bestrafen, wenn ich Euren Befehlen nicht gehorche. Wenn Ihr natürlich gegen seine Wünsche handelt, dann lasse ich Euch auf der Stelle töten.« Der Unterpriester lächelte. »Wohlan denn, Fürst, dann bringt mir mal den Braten dort auf dem Tisch. Ihr selbst aber kehrt an die Tafel zurück, legt Euch dort auf den Bauch und esst alles, was vom Tisch herunterfällt. Aber Ihr dürft dabei nicht die Hände zu Hilfe nehmen!« »Euer Wunsch ist mir Befehl!«, rief Glarond gegen seinen Willen und beeilte sich, die Anweisungen zu erfüllen. Arthroon lächelte kurz. Dieser Khavan war ja vielleicht
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doch noch zu etwas zu gebrauchen. »Sputet euch, Kämpfer der Schlange!«, spornte er seine Männer an, als sie sich dem Stadttor näherten. »Wir müssen den Feind einholen, umzingeln und dann mit allem, was wir haben, vernichten! Habt ihr verstanden? Mit allem!« »Ganz ruhig, meine Liebe«, sprach Embra leise, während sie mit dem glühenden Weltenstein über Tschamarra strich. Die Brust der Edlen hob und senkte sich, aber das Gift trat aus den Wunden aus und verdampfte unter der Energie des heilenden Dwaers. »Ich ... ich ... verbrenne ...«, stöhnte die Letzte der Talasorn. »Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Craer mit kläglicher Stimme. Das mögliche Ende seiner Liebsten schien ihn doch ernstlich erschüttert zu haben. »Ja, haltet Wache gegen die möglicherweise anstürmenden Schlangenanbeter. Am meisten helft Ihr mir, wenn Ihr mich in Ruhe arbeiten lasst.« Hawkril zog ihn mit sich und teilte ihn an einem der Wege ein, während er selbst bei einem anderen Posten bezog. Als die Fürstin sich wieder ihrer Kranken zuwandte, rang sie die Hände. Die Pest und das Schlangengift kämpften in Tschamarras Blut gegeneinander. Trotz des Dwaer hatte sie keine Ahnung, wie sie die beiden Feinde bezwingen und davon abhalten konnte, weiteren Schaden in der Freundin anzurichten. In ihrer Not fiel ihr nichts Besseres ein, als Tschamarra das Ledermieder auszuziehen und zwischen die Zähne zu schieben, damit sie sich nicht die Zunge abbiss. Neues Gift trat aus den Wunden ...
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Dann kam der Zauberin eine Idee. Sie schnitt sich in den Arm und ließ ihr Blut auf einen größeren Holzspan tropfen. Nun nahm sie einen weiteren Span, schabte damit etwas Gift von Tschamarras Wunden und vermengte es mit ihren Blutstropfen. Schließlich nahm sie ihren Weltenstein und versenkte sich in das Gemenge von Blut und Gift ... Wie öliger Tang breitete sich Letzteres in dem Rot des Blutes aus, und so erkannte die Edle, wie das Gift das Blut veränderte und sich darin ausbreitete. Aber wie gelang es der Pest, Blut und Schlangengift anzugreifen? Embra schnitt auch der Gefährtin in den Arm, sammelte einige Tropfen ihres Blutes auf einem dritten Span und gab diese zur ersten Masse. Embras Blutprobe hatte eine lilafarbene Färbung angenommen, was zweifellos auf die Einwirkung des Gifts zurückzuführen war. Mit einem Stöckchen trennte sie das noch rote Blut vom verfärbten. Dort, wo Schlangengift und Pest zusammengetroffen waren, breitete sich nur noch Dunkelheit aus. Wenn Embra unberührtes Blut vom lilafarbenen trennte, löste sich ein Teil des Dunkels auf, weil die Pest sich daraus entfernte, um zum Rest zurückzukehren. Die Zauberin strich das neu entstandene Rote wiederum zurück, und dieser Vorgang wiederholte sich, bis nur noch ein winziger lilafarbener Fleck übrig geblieben war ... Mit einem kleinen Blitz aus dem Dwaer vernichtete sie diesen. Zu ihrer Verblüffung war nun nicht nur die Pest ver-
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schwunden. Offenbar hatte die Krankheit das Schlangengift vollkommen aufgesogen und war mit ihm zerstört worden ... Embra lehnte sich zurück, starrte in die Blätter und genoss ihren Triumph. Sie hatte es geschafft. Nach einem Moment wandte sie sich wieder der Zauberin zu, um bei ihr endgültig die Heilung einzuleiten. Gerade als die Herrin der Edelsteine wieder Gebrauch von ihrem Weltenstein machen wollte, drang eine Flamme aus Tschamarras Mund und versengte das zusammengerollte Leder. »Sarasper war der Heiler«, sagte sie sich, »ich hingegen bin es kaum wert, ihm das Wasser zu tragen oder die Füße zu waschen.« Embra glaubte, niemand habe diese Worte gehört, denn die Letzte der Talasorn war ja nicht aufnahmefähig. Aber als die Pest endgültig aus der Edlen gewichen war, hatte auch Schwarzgult das Bewusstsein wiedererlangt. Zu ihrem großen Erschrecken hörte die Herrin der Edelsteine plötzlich die Stimme ihres Vaters hinter sich. »Noch viel Wasser muss getragen oder noch viele Füße müssen gewaschen werden, ehe das Stromtal wieder so wird wie früher.« »Ihr werdet für uns nach Treibschaum reisen«, befahl Ambelter Maelra. »Ihr sollt dort ein paar alte Knochen abholen, nicht wahr«, erklärte er ihr wie einem stumpfsinnigen Kind. »Und wenn Ihr schon einmal dort seid, könnt Ihr auch gleich den König umbringen und uns seine Krone bringen«, schloss der Bannmeister mit einem Lächern. »Wozu denn die Knochen?«, wollte Phelinndar wissen.
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»Für einen sehr alten Zauber. Eine der Eigenheiten von uns Bannmeistern. Die Krone soll natürlich für Euch sein.« Maelras Herz klopfte vor Aufregung, einen so wichtigen Auftrag erteilt bekommen zu haben. Ingryl versprach ihr noch, dass sie beide über ihre Abgesandte wachen und sie mit allen gebotenen Zaubern unterstützen würden. Ambelters Erregung war mindestens ebenso groß wie die ihre, wenn nicht sogar noch etwas größer. Denn er trat zu der Fürstentochter, legte seine beiden Hände an ihr Mieder und riss es mit einem Ruck auf. Maelra sah ihm in die Augen, erkannte seine ungeheure Stärke und befreite sich flink auch von ihrer restlichen Kleidung, um ganz nackt vor ihm zu stehen. Doch während der Fürst lechzte, betrachtete Ambelter ihre Blöße nur kühl, begab sich zu den Geschmolzenen, sammelte dort Rüstungsteile ein, kehrte damit zu der Schönen zurück und gebot ihr, sich damit zu panzern. Stampfend und krachend kam Craer durch das Unterholz gelaufen. Frisches Blut klebte an seinem Schwert. Er schwang die Klinge und rief: »Der Besuch konnte leider nicht wieder abreisen.« Damit rannte er in den Wald zurück, hockte sich auf einen Baum und wartete auf den nächsten Trupp Schlangenanbeter. Als der Beschaffer nicht mehr zu sehen war, drehte Embra sich zu Schwarzgult um und erstarrte. Die Pest wütete in ihm, und auch das Gift von der Pfeilschlange gab keine Ruhe. Doch wirkten beide anders bei ihm, und aus ebendiesem Grund weilte der Goldene Greif noch unter den Lebenden. Sie sprach ihn an, aber er schien sie nicht zu hören. Als die
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Zauberin ihn mit Regent anredete, hob er unvermittelt eine Hand. »Was wollt Ihr von mir, Kammerknabe?«, schnarrte er und sah sich um, als suche er seinen Dienstknaben. »Herr Vater, hier bin ich!«, rief die Zauberin ihm zu. »Ihr müsst sofort kommen und mir helfen, dieses Edelfräulein hier dort hinter den Holzstapel zu tragen.« »Ich eile, ich fliege! Einer schönen Dame konnte ich noch nie einen Wunsch abschlagen!«, entgegnete Schwarzgult so frohgemut, wie man es bei seiner Vergiftung nicht für möglich gehalten hätte. »Ich kann nur hoffen, keinen Anteil am gegenwärtigen Zustand des Edelfräuleins gehabt zu haben!«, fügte ihr Vater besorgt hinzu. »Nein, ganz gewiss nicht«, beruhigte Embra ihn und fügte leise hinzu: »Nicht mehr jedenfalls als jeder andere im Reich.«
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Wie man der Schlange am besten dient C Der Dwaer drehte sich so schnell, dass die Luft sang. Tschamarra hob sich Stück für Stück und stieg dann unter Embras Fingern vom Boden auf. »Da stimmt doch etwas nicht«, murmelte die Zauberin, und im nächsten Moment traf sie etwas so hart von hinten, dass sie mit dem Gesicht voran auf den Boden flog. Ein Krieger war hinter ihr aus dem Unterholz gesprungen und hatte ihr einen kräftigen Fußtritt in den Allerwertesten verabreicht. Und dies mit Bedacht, denn er wollte an ihren Weltenstein. Da war ihm diese Maßnahme eingefallen, um die Hochfürstin ausreichend zu erschrecken, dass sie den Dwaer losließ. Sein Plan ging auf, denn er fing den Stein aus der Luft und rannte auch schon davon. Die Herrin der Edelsteine rappelte sich auf und versuchte, rasch einen Zauber zu weben. Schon stürmten weitere Bewaffnete heran und machten mit den Waffen in der Hand
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Miene, ihr nicht nur einen Tritt verpassen zu wollen. Die Edle ließ die Hände wieder sinken, als sie sich schon einen Moment später von den Bewaffneten umringt sah. Deren Anführer trat lächelnd auf sie zu. »Embra, Fürstin von Silberbaum. Was für eine Freude. Euer Vater hat mich einst foltern lassen. Es wird mir ein Vergnügen sein, mich ganz besonders um Euch zu kümmern.« Die Zauberin beugte sich beschützend über Tschamarra. Nachdem Embra der Weltenstein genommen worden war, war die Letzte der Talasorn wieder zu Boden gesunken. Embra wurde erst jetzt bewusst, dass sie ihrer Freundin ohne den Dwaer keine weitere Heilung zukommen lassen konnte. Hilfe suchend drehte sie sich nach ihrem Vater um. Schwarzgult lehnte an dem Holzstapel und schien von allem überhaupt nichts zu bemerken. Ein greller Blitz ließ die Edle zusammenzucken. Der erste Krieger hatte der Versuchung nicht widerstehen können und den Weltenstein ausprobiert. Jetzt trat er mit bedrohlichem Glitzern im Blick und dem Stein in der ausgestreckten Hand vor ... »Ihr habt dieser Göre verzauberte Rüstungsteile gegeben?«, ereiferte sich Fürst Phelinndar. »Wie kommt Ihr denn darauf?«, entgegnete Ambelter unterkühlt. »Ich mag ja kein Magier sein, aber deswegen bin ich nicht auch schon dämlich«, erwiderte der Fürst. »Ihr habt dem Mädchen Platten und Schienen gegeben, welche eher jemandem gepasst hätten, der doppelt so groß ist wie sie. Dennoch hat ihr alles wie angegossen gesessen.«
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Der Bannmeister atmete tief durch. »Auf den Panzerteilen liegt ein Bann, welcher jeden allzu Neugierigen daran hindert, uns durch Maelra auf die Spur zu kommen. Gleichzeitig hilft er mir, stets und überall festzustellen, wo unsere kleine Botin sich gerade aufhält.« Um Phelinndar endgültig zu beruhigen, erklärte er mit freundlicher Miene: »Wir sollten uns jetzt zusammensetzen und unser weiteres Vorgehen bereden. Außerdem will ich Euch mit dem Schwert der Zauber vertraut machen.« »Ein richtiges Schwert, das ich schwingen kann?«, fragte der Fürst gleich begierig. »Nein, eher eine Reihe von miteinander verbundenen Zaubersprüchen.« »Lasst die Dirne sofort los, sonst ...« Der Krieger hob warnend den Weltenstein und sein Schwert. Er schien noch keine Ahnung zu haben, was sie hier wirklich trieb. »Verzeiht, aber ich muss unbedingt den Zauber entweben«, entgegnete Embra in ihrer Not. Ohne Weltenstein war sie nur so kampfeslustig wie eine ganz normale Frau angesichts von knapp drei Dutzend Kriegern. Die Zauberin schluckte und stellte dabei fest, dass sie am ganzen Leib zitterte. »Ohne den hier seid Ihr nichts, was?«, höhnte der Krieger und hielt Embra verlockend den Dwaer hin. Gleichzeitig richtete er aber das Schwert auf die Zauberin. Drei Schritte vor ihr blieb er jedoch stehen. Bei einer Hexe konnte man schließlich nie wissen, oder? »Die Hände still halten!«, ermahnte der Krieger die Edle.
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Mit allergrößter Vorsicht bewegte sie Tschamarra leicht, die immer noch eine Handbreit über dem Boden schwebte, was er aber kaum erkennen konnte. Tatsächlich fiel der Schlangenanhänger auf ihren Trick herein. »Sie wacht wohl gerade auf, was?« »Ich fürchte ja, und ich habe keine Ahnung, wie sie sich verhalten wird. Die edle Jungfer hatte einen Tobsuchtsanfall, und selbst mit dem Weltenstein habe ich sie kaum gebändigt bekommen. Ihre Familie unterjocht schon seit langem Arlund mit Zauberei ...« »Und Ihr vermögt es, sie wieder schlafen zu lassen?« »Ja«, log die Herrin der Edelsteine. »Dann helft ihr«, befahl der Krieger rau, und Embra bewirkte einen kleinen Bann, zu welchem ihre Zauberkräfte gerade noch ausreichten. Doch in Wahrheit richtete sich dieser Spruch gegen sein Schwert. Ein unsichtbarer Stoß erfasste die Klinge und drohte, sie ihm aus der Hand zu schleudern. Wie jeder Berufssoldat fühlte er sich natürlich ohne Waffe aufgeschmissen und versuchte, sie festzuhalten. Im selben Moment aber sprang die Zauberin ihn an, schlang die Arme um ihn und rief nach ihrem Weltenstein. Der Dwaer meldete sich sofort bei ihr, so wie ein Hund seinem Herrn gehorcht, und sie gebot ihm, alles Metall fortzuschleudern, so wie ein Magnet dasselbe abstößt. Als Erster flog daraufhin ihr Vater durch die Luft. Wie ein Ball aus Eisen krachte der gepanzerte Schwarzgult in die Reihen der Soldaten, und diese wiederum sausten weiter gegen die Bäume und Holzstapel. Die Zauberin öffnete eine Hand, und der Weltenstein flog
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hinein. Nun ließ sie den Krieger los und bewirkte, dass er, der sich vor Schreck nicht zu rühren wagte, vor ihr her schwebte. »Ihr sollt fortan mein Schild sein!«, erklärte sie dem Unglücklichen. Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, rauschte es mächtig in der Luft, und ein Schwall Pfeile sauste heran – allesamt fliegende Schlangen! Aber Embra drehte sich und den Krieger so geschickt, dass sie von keinem einzigen Geschoss getroffen wurde – er dagegen umso mehr. Wenig später kamen die Schlangenpriester selbst aus dem Wald gelaufen. Die Edle sandte ihnen die fliegenden Soldaten entgegen. Doch diesmal wurde es ihr nicht so leicht gemacht. Irgendeine Kraft stemmte sich gegen ihre Bemühungen und hielt die Söldner auf. Danach näherten sich die Priester grinsend von allen Seiten. Etwa ein Dutzend rückte gegen Embra vor. Die Zauberin erkannte, dass nur ein anderer Weltenstein sich der Kraft ihres Dwaers hatte widersetzen können. Hinter den Priestern, vermutlich ganz in der Nähe im Wald, musste sich jemand aufhalten, welcher einen zweiten Dwaer in Händen hielt. Diesen Stein wollte die Edle unbedingt haben. Doch um ihn zu erlangen, musste sie erst einmal dafür sorgen, nicht von diesen fanatisierten Schlangenpriestern überwältigt zu werden! Schon hoben sie ihre Hände, und in diesen blitzten gebogene Schlangenzahnmesser ... Embra sandte ihnen als Erstes
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Feuer entgegen, das Einfachste, was sich mit einem Dwaer anstellen ließ. Zuerst glaubten die Feinde, die Hochfürstin wolle einen flammenden Schutzwall um sich herum errichten. Aber da schob die Zauberin den Schutzwall hart an und hoffte, damit die Priester überwältigen zu können ... Tatsächlich folgten ihrer Tat Schmerzensschreie, aber nur einige ... und nicht eben viele. Embra teilte den Feuerwall und erblickte hinter den Schlangenanbetern einen Mann, der etwas in der Hand hielt, von dem der Glanz eines Weltensteins ausging. »Euer Ende steht Euch nun bevor!«, drohte der vornehm gekleidete Schlangenfürst. »Und das habt Ihr Euch redlich verdient. Vernehmt meinen Namen, Belgur Arthroon, denn ich bin der Ausgesandte der Großen Schlange, Euch zu vernichten!« »Du liebe Güte!«, entfuhr es der Edlen. »Man könnte meinen, Ingryl Ambelter sei wieder unter uns!« Damit hob sie ihren Flammenwall an, bis der über den Köpfen der Priester und Soldaten schwebte ... Und einen Moment später ließ Embra ihn herabsausen! In das Geschrei und Gejammer brüllte der Schlangenfürst seine Befehle. Er schwang seinen Dwaer über dem Kopf, bis die Luft summte. Dann entströmte dem Stein eine weiße Energiewoge, welche über Embra hinwegspülte und sie stöhnend und bebend zurückließ. Der Dwaer in ihrer Hand zitterte. All ihr Feuer war vergangen, gelöscht von dieser gewaltigen Woge. Die Priester und Soldaten, welche dem Flammenregen hatten entkommen
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können, standen wie benommen da. Und auch Belgur Arthroon rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte seinen Weltenstein an. Stumpf und leblos lag der in seiner Hand. Hatte er ihn all seiner Energie beraubt? Ihn mit der Erschaffung dieser Riesenwoge vollkommen geleert? Der Krieger, welchen die Herrin der Edelsteine als Schild benutzt hatte, krachte jetzt zu Boden, und die Pfeilschlangen fielen wie Asche von ihm ab ... Er landete auf Tschamarra, und die erwachte davon endgültig. Beißend, tretend und schreiend mühte sie sich, sich von dem Toten zu befreien. Als der Zauberin das gelungen war, beruhigte sie sich rasch wieder und schaute dorthin, wohin ihre Freundin starrte. Arthroon verwünschte gerade ausgiebig den Weltenstein in seiner Hand ... Und der wehrte sich mit winzigen Blitzen in die Richtung des Schlangenfürsten. Doch darüber hinaus kam wenig von dem Dwaer. In seinem Verdruss ließ Belgur ihn fallen und hob beide Hände, um mit seinen eigenen Zauberkräften die Silberbaum-Hexe zu vernichten. »Er hat einen Weltenstein kaputtgemacht!«, entfuhr es der Letzten der Talasorn. »Aber das geht doch gar nicht, oder?« »Normalerweise nicht«, bestätigte Embra. »Aber dieser Narr hat ihn völlig falsch eingesetzt und all seiner Energien beraubt!« Die Zauberin hob ihren Weltenstein. »Und damit bin ich diejenige, welche ...« Ihr verschlug es die Sprache, als sie hörte, welchen Zauber der Schlangenfürst da anstimmte: die Kugel der zuckenden
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Blitze. Ohne Zweifel würde er diese auf die beiden Frauen werfen, um sie darin gefangen zu setzen und zu foltern ... Doch da tauchte etwas anderes hinter Arthroon auf. Ein Mann, welcher ihn um Haupteslänge überragte. Ein Mann in Eisen – Ezendor Schwarzgult, aus seiner magischen Umnachtung erwacht! Er holte weit mit seinem Schwert aus, legte all seine Kraft in den Stoß und bohrte es dem obersten Priester bis zum Heft in den Rücken. Der Schlangenfürst warf einen letzten Blick auf die verhasste Hochfürstin, seine Blitzkugel löste sich auf, und er brach auf dem Boden zusammen. Embra ließ ihren Dwaer sofort Blitze auf die Söldner und Priester verschleudern, um sie daran zu hindern, sich auf ihren Vater zu stürzen. Der Goldene Greif dankte es ihr mit einem Lächeln und fiel über den nächsten Schlangenanbeter her. Embra suchte und fand eine Stelle, an welcher sich ausschließlich Schlangenanbeter drängten, und sandte eine Sprengladung mitten in die Schar. Danach drehte sie sich um die eigene Achse und sandte überall dort eine Feuerkugel hin, wo sich Priester zusammenrotteten. Als Tschamarra an ihrer Seite auftauchte, wies sie diese an, den zweiten Dwaer zu bergen. Gerade als die Edle ihn fast erreicht hatte, ließ sich vor ihr ein Priester fallen und streckte die Hände nach dem Weltenstein aus. Embra erkannte rasch, dass Schwarzgult der Gefährtin nicht zu Hilfe eilen konnte, weil er mitten im Getümmel
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steckte, und richtete ihren Dwaer auf die vorwitzigen Priesterfinger. Der Schlangenanbeter starrte kurz darauf auf seine schwarz verkohlten Hände. »Der gehört leider mir, Stummelfinger!«, belehrte ihn die Letzte der Talasorn und eilte mit dem Weltenstein zu der Zauberin zurück. Doch als die beiden Dwaerindim sich nahe waren, entsprang einem jeden ein mächtiger Blitz. Embra landete auf ihrem Hintern, und der zweite Stein rollte Arthroon entgegen und blieb vor den Stiefelspitzen eines Soldaten liegen. Der bückte sich gleich danach, und der Goldene Greif, welcher zufällig in der Nähe stand, bohrte ihm sein Schwert in den Rücken. Den Nächsten, welcher sich den Weltenstein aneignen wollte, traf Hawkrils schweres Kriegsschwert. Der Recke stieß erst jetzt dazu und kämpfte sich gleich zu seiner geliebten Embra vor. Als Tschamarra dorthin schaute, spürte sie einen Klaps auf dem Po, und Craer lief grinsend an ihr vorbei. Eines seiner Messer traf einen Söldner, welcher sich gerade heimtückisch von hinten an Schwarzgult heranschlich. Die nächste Klinge fällte einen Soldaten, welcher der Letzten der Talasorn zu nahe zu kommen drohte. Beide Dwaerindim erstrahlten jetzt wieder in hellem Licht. Embra presste den ihren an die Brust, und während die beiden Steine immer hellere Blitze aussandten, schrie sie auf und fiel zu Boden. Schwarzgult, welcher den zweiten Stein an sich gebracht hatte, musste hilflos mit ansehen, wie dieser Dwaer sich immer schneller drehte und Blitze verschleuderte, welche den Goldenen Greifen, zwei zufällig in der Nähe ste-
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hende Priester und den Beschaffer zu Boden warfen. Ein Schlangenanbeter sah dies, spurtete herbei und riss den Weltenstein an sich – nur um ihn gleich wieder fallen zu lassen und entsetzlich zu schreien. Craer streckte ihn mit einem Messer nieder und näherte sich vorsichtig dem Dwaer. Dieser blinkte jetzt wie ein zwinkerndes Auge und schien den Blick nicht von dem kleinen Mann lassen zu wollen. Tschamarra brachte derweil von hinten einen Söldner zu Fall, welcher sich mit Mordgier in den Augen Hawkril näherte. Als Embra wieder hochkam, fand sie sich in eigenartiger Stille wieder. Unter der liebevollen Pflege des Hünen kam die Zauberin langsam wieder zu sich. Schwarzgult lief grimmig über die Lichtung und suchte nach Feinden, welche sich ihm noch entgegenstellen wollten. Craer lief allen hinterher, welche zu entfliehen versuchten, und sorgte dafür, dass sie nicht weit kamen. Dann stieß der Kleine auf den Schlangenpriester, welcher eben vergeblich versucht hatte, den Weltenstein an sich zu bringen. Er packte ihn am Kragen, schüttelte ihn und knurrte: »Hebt ihn wieder auf!« »Craer!«, rief Tschamarra entsetzt. »Seid Ihr von Sinnen!« Irgendwie brachte der Beschaffer seinen Gefangenen dazu, diesem Wunsch ohne Zögern zu entsprechen. Als der Priester die Hand um den Stein schloss und wieder furchtbar brüllte, erstach Craer ihn und zerrte die Leiche zum nächsten Hauklotz. Hawkril lief schon heran und hieb den Priesterarm ab,
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welchen der Beschaffer über den Block gelegt hatte. Der abgetrennte Arm fiel mitsamt dem Dwaer auf den Boden. Craer hob den Stumpf auf und lächelte: »Hand in Hand kommt durch das ganze Land.« Embra stöhnte laut, obwohl sie gerade erst erwachte. Dann wurde sie ernst und meinte: »Steckt den Arm mit dem Stein gut weg. Irgendein Bann liegt darauf, so dass nur der tote Schlangenpriester ihn benutzen kann. Vermutlich vermag ich den mit meinem Dwaer zu brechen, aber dafür brauche ich Zeit.« Als sie ihren Vater sah, fiel ihr etwas ein. »Schwarzgult, wollt Ihr gleich von mir gegen das Schlangengift behandelt werden, oder hat das noch etwas Zeit?« »Ich glaube, das ist gar nicht mehr notwendig«, entgegnete der Goldene Greif. »Als der Schlangenfürst gestorben ist, hat sich auch das Gift in mir aufgelöst. Mit Arthroons Ende kehrte Klarheit in meinen Geist zurück. Dieses besondere Gift muss von ihm ausgegangen sein ...« Nach einem Moment begriff die Zauberin, was er ihr damit sagen wollte. »Das heißt, wenn wir den Verursacher ausschalten, befreien wir damit alle Wesen, welche von der Pest befallen worden sind.« »Wir werden das nachprüfen müssen«, entgegnete ihr Vater mit einem schiefen Lächeln. »Gut möglich, dass denjenigen auf diese Weise nicht mehr zu helfen ist, welche sich bereits in Ungeheuer verwandelt haben.« »Hört, Embra«, meldete sich Craer zu Wort. »Ihr besitzt einen Stein, und zusammen mit Euren magischen Kräften könntet Ihr Euch das halbe Stromtal unterwerfen. Ähnlich verhält es sich mit Tschamarra ... Wenn Ihr der Talasorn-
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Zauberin also den zweiten Dwaer überlassen würdet ...« Die Letzte der Talasorn kam zögernd näher, und der Beschaffer hielt ihr den abgetrennten Arm hin. Vorsichtig, um nicht das Fleisch des Schlangenpriesters zu berühren, legte die Zauberin zwei Finger auf den neuen Weltenstein ... ... und flog im hohen Bogen über die Lichtung. Hawkril versuchte, sie aufzufangen, und ... ... fand sich unvermittelt in einer Baumkrone wieder. Embra eilte, so rasch es ihre wackligen Beine zuließen, zu ihrem Geliebten. Craer riss sich derweil den Umhang von den Schultern und wickelte den abgetrennten Arm darin ein. Der Hüne rutschte aus den Ästen und landete neben Tschamarra im Gras. Die Edle von Silberbaum kniete sich neben den beiden hin. »Ich lebe noch ...«, stöhnte der Recke und versuchte, sich aufzurichten. »Liegen bleiben«, befahl Embra streng und hob ihren Dwaer. Der fing wieder an, sich zu drehen und in der Luft zu singen. Craer tauchte auf, und sie schickte ihn gleich fort, den zweiten Stein wegzupacken. In Wahrheit musste sie sich auf ihre Aufgabe besinnen und wollte sich dabei nicht von seinen dummen Sprüchen stören lassen. Auf dem Weg zu den Pferden fiel dem Beschaffer etwas ins Auge. Er tat aber so, als hätte er nichts gesehen, stopfte den Arm mit dem zweiten Dwaer in eine Satteltasche und schlenderte zu der Zauberin zurück. »Herrin, wir werden von mindestens sechs Fledermäusen beobachtet«, raunte er ihr im Vorbeigehen zu und beschrieb
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ihr den Ast, an welchem die Tiere hingen. Embra nickte, wirbelte herum und sandte einen Blitz zwischen die Tiere. Zwei der Fledermäuse fielen brutzelnd zu Boden, die anderen ergriffen sofort die Flucht. »Ob ihr Herr immer noch lebt und sogar frei herumläuft?«, fragte der Beschaffer leise. »Solange er lebt, vermag er Magie zu bewirken, gleich ob er frei oder irgendwo angekettet ist. Wenigstens haben sich unsere Gefährten nichts Schlimmes getan. In wenigen Momenten werden sie die Augen aufschlagen.« »Ich bin schon eine ganze Weile wach«, ließ der Hüne sich vernehmen. »Wir müssen uns unbedingt über das plötzliche Auftauchen der Fledermäuse unterhalten«, sprach Schwarzgult und gesellte sich zu ihnen. »Selbst wenn Ambelter sich nicht mehr in Treibschaum aufhalten sollte, sollten wir mit König Raulin reden und ihn davon überzeugen, sich irgendwo zu verstecken. Nicht zuletzt auch wegen der von den Schlangen geschürten Unruhen im Reich.« »Wo wollen wir denn mit ihm hin?«, fragte der Hüne. »Na ja, da böten sich die Ruinen von Indraevyn an«, warf Craer ein. »Und für alle Fälle gibt es immer noch das Schweigende Haus.« König Burgmäntel zog an der Schnur, mit welcher er normalerweise einen Diener rief, aber die näher kommenden Wachen grinsten nur höhnisch. »Glaubt Ihr wirklich, irgendein versoffener Weinkellner könnte uns aufhalten?«, fragte der Anführer und fügte böse
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hinzu: »Bereitet Euch auf Euer Ende vor, Euer Majestät!« Raulin und Flaeros hatten bereits ihre Dolche gezückt und zogen sich in die hinterste Ecke des Raums zurück. Der fahrende Sänger riss ein Spielbrett hoch und schleuderte die Spielsteine den anrückenden Wächtern entgegen. Doch niemand geriet darüber ins Stolpern oder Schwanken, und die Soldaten lächelten nur hämisch. »Was für Narren«, meinte einer von ihnen verächtlich. Die Wächter kamen immer näher wie ein Netz, welches sich um die beiden zusammenzog. Heute sollte der jugendliche König hier in seinem Blut liegen bleiben ... Flaeros stieß gegen die Wand, und die gab unvermittelt hinter ihm nach. Ein Mann trat aus der Lücke, wandte sich an den König, den fahrenden Sänger und den verbliebenen getreuen Krieger Großsarn: »Flieht jetzt!« Die drei starrten den Fremden und das hinter ihm klaffende dunkle Rechteck überrascht an, während die Wachen mit Gebrüll vorwärts stürmten – aber der Neuankömmling schien an Großsarn vorbeizufließen und immer größer zu werden, bis er den Wachen den Weg mit plötzlich Schlangenköpfen ähnelnden Händen versperrte. Noch während die Verräter zögerten und stehen blieben, schmolzen die Hände wieder in ihre ursprüngliche menschliche Form zurück, aber das Gesicht über ihnen verwandelte sich und wies nun dunkle Augen und Schuppen auf. Eine gegabelte Zunge schoss aus einem Mund mit vielen Reißzähnen, und der Fremde zischte: »Sssso! Ihr widersssetssst euch einmal mehr euren Befehlen?« Die Wachen standen immer noch wie angewurzelt da und senkten die Waffen, als Großsarn seine beiden Gefährten in
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das Dunkel hinter der Öffnung stieß und ihnen auf dem Fuße folgte. Kaum hatten sie den Raum verlassen, schwang die Tür zu demselben auf. Ein Kammerjunge und ein Höfling traten ein, schrien angesichts der gezückten Schwerter auf und zogen sich eilig wieder zurück. »Wer seid Ihr?«, fragte einer der Soldaten verwirrt. »Die Erste Schlange!«, erhielt er zur Antwort. Die Wachen schauten sich an, wurden blass und ließen ihre Waffen sinken, während sie ebenfalls flohen. Der Fremde warf die Tür zu dem Geheimgang hinter sich ins Schloss, lehnte sich an die Wand und fragte die Verräter: »Nun erzählt mir mal genau, wie viele ihr hier auf Treibschaum seid, wer sonst noch mit euch im Bunde ist und wer bei euch die Befehle gibt ... aber ausführlich, denn ich habe viel Zeit mitgebracht.«
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Ein Unglück kommt selten allein C Etwas bewegte sich in der Dunkelheit und entpuppte sich als Jungfer in schimmernder Wehr. Maelra Bogendrachen sah sich voller ehrfürchtigem Staunen um und roch Kälte, Feuchtigkeit und Tod. Dieser Teil der Keller von Treibschaum schien schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Stand gehalten zu werden. Niemand scheint auch nur in der Nähe zu sein. Ich halte mich hier offenbar ganz allein auf. »Die Rüstung erlaubt Euch«, drang der tödlich erschrockenen Maid eine Stimme ins Ohr, »auch dort etwas zu erkennen, wohin kein Licht fällt. Ihr müsst Euch nur auf ein Feuer, das Sonnenlicht oder etwas Ähnliches besinnen, und schon wiederholt sich das hier.« Gesagt, getan, und vor Maelra löste sich die Finsternis auf und machte Halbdunkel Platz. Vor sich gewahrte sie eine hüfthohe Mauer wie von einem Brunnen. Doch der schien nicht mehr in Betrieb zu sein. Ich stehe vor einer Art Wasserloch ...
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»Ausgezeichnet«, lobte der Bannmeister. »Begebt Euch dahinter in den ersten Gang links und folgt ihm. An der nächsten Weggabelung wendet Ihr Euch dann nach links. Wenn Ihr die dritte Kehre erreicht habt, meldet Ihr Euch wieder bei mir.« Während der nächsten Minuten hörte die Jungfer nichts anderes als ihre eigenen Schritte im Staub. Schließlich erreichte sie die vereinbarte Stelle und entdeckte dort eine Tür. Als Maelra sich dieser näherte, erhob sich aus der Luft ein leises Singen. Dies meldete sie Ingryl sofort. »Ein Abwehrzauber. Ihr müsst jetzt sehr vorsichtig sein. Die Schlange hat sich nach meiner Abreise dort herumgetrieben, einige Banne zerbrochen und aus anderen die Energien aufgesaugt. Aber sie dürfte kaum die Zeit und Mühe auf sich genommen haben, alle Abwehrzauber in der erforderlichen Weise zu zerlegen. Deswegen werden sie nach einer Weile alle wieder zurückkehren. Deshalb befolgt meine Anweisungen ganz genau, sonst könnte es Euch sehr schlecht ergehen.« Ich habe verstanden, bestätigte die Maid. »Dann kniet Euch jetzt hin, nehmt einen Armschutz ab und streicht damit über die Steinplatten, ohne diese jedoch zu berühren. Einige davon werden aufleuchten. Prägt Euch die Symbole ein, welche darauf erscheinen.« Maelra meldete gewissenhaft alles, was sie erblickte, und der Zauberer wurde zornig. »Jemand hat hier einige erhebliche Veränderungen vorgenommen! Tretet nur auf die Platten, welche nicht geleuchtet haben!« Nachdem sie auf diese Weise bis dicht vor die Tür gelangt
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war, befahl ihr Ambelter, die Schnüre ihrer Brustplatte im Nacken zu lösen und das Panzerstück vor sich zu halten. Maelra sah, wie sich eine schwach schimmernde Rune auf dem Holz der Tür abzeichnete, und spürte gleichzeitig, wie die Brustplatte in ihren Händen zu beben begann. »Jetzt haltet den Brustpanzer mit der Rechten, und zeichnet mit nur einem Finger der Linken die Rune auf der Tür nach. Das Holz wird an dieser Stelle aufglühen.« Die Jungfer tat, wie ihr geheißen, und das Singen in der Luft endete von einem Moment auf den anderen. Gleichzeitig glitt die Tür nach innen auf. »Noch nicht eintreten«, mahnte der Bannmeister. »Erst legt Ihr eine Hand auf den Türrahmen und sprecht dabei das Wort, welches ich Euch beigebracht habe.« Gesagt, getan. »Nun tief bücken, aber die Brustplatte darf nicht den Boden berühren. Mit einem Armschutz streicht Ihr jenseits der Schwelle über den Boden, so weit Ihr greifen könnt.« Auch das überforderte die junge Zauberin nicht. »Alsdann betretet Ihr die Kammer, fasst aber ja nichts an. Auch nicht auf die Schwelle treten. Und nun teilt mir mit, was Ihr seht.« Baufällige Regale, Steine, welche von der Decke gefallen sind, aufgebrochene Truhen und einen Tisch mit einem Sarg, in welchem Knochen liegen ... »Nähert Euch dem Tisch, aber zieht Euch augenblicklich zurück, wenn ein Singen ertönt.« Jetzt stehe ich an dem geöffneten Sarg, aber ich habe noch kein Singen vernommen ... In dem Sarg befindet sich ein menschliches Gerippe ... alle Knochen liegen in der richtigen Reihenfolge ... aber
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über dem Ganzen spannt sich ein Holzgitter ... »Fahrt mit der Armschiene über den Sarg, und passt auf, ob sich dabei der eine oder andere Knochen bewegt. Und auch darauf, ob die Augenhöhlen dunkel bleiben.« Nirgendwo ist Licht ... »Fein. Jetzt zieht Euch aus, splitterfasernackt.« Herr, mit meiner Kleidung ist auch alles Licht von mir gegangen. Ich kann überhaupt nichts mehr sehen. »Das macht nichts. Ihr findet den Sarg auch so. Steigt hinein und legt Euch bäuchlings auf das Holzgitter. Aber lasst bloß nicht die Arme oder Beine durchhängen!« Doch auf halbem Weg erstarrte sie. Meister, die Knochen haben angefangen zu glühen! »Fürchtet Euch nicht. Legt Euch nur rasch auf die Holzstangen.« Die Bogendrachenzauberin kam seinem Befehl nach, auch wenn ihr dabei der Schweiß ausbrach. Als sie sich auf dem Rost niederließ, konnte sie im Glühen der Knochen alles erkennen. Die schwarzen Augenhöhlen schienen sie die ganze Zeit über anzustarren. Ein Schweißtropfen rollte Maelras Nasenrücken hinunter, und sie wischte ihn rasch fort, ehe er auf die Knochen fallen konnte. Nachdem sie Ingryl Vollzug gemeldet hatte, sprach dieser: »Bei dem Gerippe handelt es sich um die Überreste des Gadaster Mulkyn, welchen man einst zu den mächtigsten Magiern zählte. Lasst Euch keinesfalls einfallen, die Anordnung der Knochen durcheinander zu bringen, wenn Ihr die Macht erlangen wollt, den König zu töten und seine Wachen und seine Höflinge hinwegzufegen.
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Nun langt mit beiden Armen nach unten, und senkt Euren Mund, auf dass Ihr das Skelett empfangt, als handele es sich dabei um Euren Liebsten. Fürchtet Euch nicht, denn dabei spürt Ihr nicht mehr als die Energie dieses Mannes, welche in Euch hineinströmt.« Mit dem Gefühl, dass Ambelter noch aufgeregter war als sie, ließ Maelra sich hinab und umarmte das Unbekannte ... Und nie gekannte Energie durchfloss sie. Die junge Hexe schrie darunter, ohne jedoch auch nur einen Laut von sich zu geben. In ihrer Verzückung senkte sie den Unterleib ebenfalls nach unten und durch das Holzgitter, und ihre Füße traten einige der Latten beiseite ... Darob schoss das Gerippe hoch, fuhr, ohne auf Widerstand zu treffen, durch die Stangen und umarmte seinerseits die Jungfer. Die Knochen schabten kalt über ihre Haut, und in jeder der beiden Augenhöhlen schien ein Polarstern aufgegangen zu sein. Doch noch bevor Maelra sich von ihrem Schrecken erholt hatte, zerfielen die Knochen zu Staub, und eine Woge von rot glühender Wut stieß in ihren Kopf. HÖRT MICH, UNBEDACHTE MAID, ICH BIN GADASTER MULKYN, UND EUER KÖRPER IST MIR SO RECHT WIE JEDER ANDERE! In der Höhle mit den Wesen ohne Gesichter an den Wänden stand Ingryl mit offenem Mund da und war sprachlos vor Schreck. Seine Geistesverbindung mit der jungen Bogendrachen war wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten wor-
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den! Gadaster hatte ins Leben zurückgefunden, so als hätte Ambelter ihn niemals besiegt und in jene Gruft gezwungen! Aber wenn der wahre Gadaster zu Staub zerfallen und sein Geist in den Leib dieses überaus törichten Frauenzimmers eingefahren war, ließ er sich auch ein zweites Mal besiegen! Maelras Körper kniete aufrecht in dem Sarg, und ihr Kopf stieß beinahe an die Decke. Ihr Mund murmelte zwei Worte, welche die junge Frau früher nie gekannt hatte ... Einen Moment später erglühten die auf dem Boden liegenden Reste ihrer Rüstung im Weltensteinlicht, und dem folgte eine mächtige Explosion, welche alles in der Kammer zu Kleinholz verarbeitete. Nachdem das Beben in den Kellergewölben von Treibschaum sich gelegt hatte, war von dem Sarg nichts mehr übrig geblieben. Ambelter redete leise auf seinen Dwaer ein, während er den Wirbelsturm aus Splittern und Staub verfolgte. Durfte er es wagen, durch seinen Stein Licht in die Kammer zu senden ... und sich damit zu verraten? Aber der Meistermagier musste wissen, ob diese ebenso schreckliche wie uralte Gefahr bei der Explosion zerstört worden war oder nicht. Ganz zu schweigen davon, dass Ingryl dort einen seiner besten und geheimnisvollsten Zauber hortete. Der Magier packte den Weltenstein mit beiden Händen, so als solle dieser ihm als Schild dienen. Was ihm der Blick in die Kammer zeigte, waren aus-
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nahmslos Trümmer und Fetzen ... und Blut, das von Wänden und Decke tropfte. Ingryl verzog das Gesicht. Gewiss, die Hexe hatte die Rundungen am rechten Fleck gehabt und war auch sonst eher üppig als schlank gewesen, aber konnte ein Maidenkörper denn so viel Blut enthalten? Dabei konnte es sich nur um eine Falle handeln ... In plötzlichem Zorn trennte der Bannmeister die Verbindung zwischen der Kammer und seinem Dwaer und schickte auch noch einen Zauber hinterher, welcher jeden vernichten würde, der ihm zu folgen wagte. Ambelter fluchte vor sich hin und schien damit gar nicht mehr aufhören zu wollen. Fürst Phelinndar wartete geduldig auf das Ende der Beschimpfungen. Dann sprach der Edle: »Ich habe Euch gleich gesagt, dass dieses Vorhaben hirnverbrannt ist. Euer mit Worten nicht mehr zu beschreibender Hochmut bringt uns immer wieder in Schwierigkeiten –« »Haltet den Mund, oder fallt tot um!« Der Zauberer hob bedrohlich den Dwaer, als wolle er den Stein dem Fürsten ins Gesicht schleudern. Dann hielt er inne, und die beiden Männer starrten sich keuchend und ohne ein Wort zu sprechen über den Tisch hinweg an. Beider Augen brannten vor stummer Wut. Als das Weltensteinlicht verging, schauten sie vor sich die wunderschönen Gärten von Treibschaum. Hawkril und Schwarzgult bemerkten aber auch die Gräber von Sarasper und Hellbanner.
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Embra wandte sich um und warf Craer einen fragenden Blick zu. Der Beschaffer spähte in die Satteltasche, welche er fest umklammert hielt, und meinte: »Er ist immer noch da. Der Dwaer sieht heil aus – und dunkel.« Embra aber nickte und sagte nur: »Die Zellen.« Die Gefährten liefen in den Palast, und das Glühen des Dwaers in Embras Hand bewirkte, dass ihnen die Wächter eilends den Weg freigaben. Als sich unvermittelt eine bestimmte Tür knarrend öffnete, hielten die Gefährten Schwert und Embras Dwaer bereit. In der dahinter liegenden dunklen und feuchten Zelle zeigte sich ein Magier – an die Wand gekettet! »Wie viel habt Ihr gesehen?«, wollte Embra gleich von ihm wissen. »Oder hat die lange Haft Euch den Verstand getrübt?« »Letzteres behaupten durchaus manche«, lachte der Herr der Fledermäuse. »Vermutlich habe ich meinen Verstand schon vor Jahren verloren ... ebenso wie Ihr, meine liebreizende Herrin der Edelsteine. Fürst Silberbaum und seine Magier haben ja einiges mit Euch angestellt.« Die Züge der Zauberin verhärteten sich. »Ihr habt meine erste Frage noch nicht beantwortet!« »Natürlich habe ich alles gesehen«, gab er von oben herab zurück. »Was sollte ich denn sonst in dieser überaus bequemen Stellung mit meiner freien Zeit anfangen?« Der Magier schnaubte. »Alle Menschen im Reich sollten sich das Vergnügen gönnen, den Hochfürsten bei der Arbeit zuzuschauen. Ich kann Euch gar nicht genug dafür danken, so köstlich unterhalten zu werden.« »Wenn Ihr uns weiter mit Eurem Wortschwall langweilt, Huldaerus«, meldete sich Schwarzgult zu Wort, »erschlagen
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wir Euch einfach. Das Reich hat schon unter mehr Magiern zu leiden, als ihm gut tut. Da kommt es auf einen wie Euch nun wirklich nicht mehr an.« »Oho! Das glaube ich aber doch«, lächelte der Magier. »Wer sonst hat denn nicht anderes zu tun, als die Augen offen zu halten? Und sieht deswegen entschieden mehr als andere?« Er grinste in sich hinein. »Wart Ihr eigentlich schon oben?« »Warum?«, platzte es gleich aus der Edlen heraus. »Was sollte es denn dort zu sehen geben?« »Gesichtslose und Schlangenanhänger tummeln sich dort zuhauf ... Auch mit der Hilfe Eures Schoßhündchens, des fahrenden Sängers Flaeros, kann der kindliche König sich nicht dagegen wehren, dass seine Feinde sämtliche Gänge und Kammern verpesten.« Der Magier setzte eine gespielte strenge Miene auf. »Ihr könntet Euch ruhig etwas mehr um Eure Pflichten Seiner Majestät gegenüber kümmern, statt tagein, tagaus durch die Weltgeschichte zu ziehen! Immerhin heißt es in den alten Schriften: ›Die Schlange besitzt viele Köpfe und wird diese wieder und wieder erheben.‹« »In alten Schriften steht viel«, winkte Embra ab. »Selbst dem ungeschulten Leser fällt rasch auf, dass die Texte sich lieber einander widersprechen, statt gesichertes Wissen zu vermitteln. Es gibt sogar Schriften, Huldaerus, welche uns mit der Erkenntnis überraschen, dass es überhaupt keine Schlange gebe ... dass stets nur ein Zauberer dahinter stecke, welcher sich dieses Symbols nach Gutdünken bediene.«
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»Jetzt muss ich Euch aber das Kompliment von vorhin zurückgeben«, erklärte der Herr der Fledermäuse, »nun stehlt Ihr mir die Zeit.« »Ihr solltet dennoch gar nicht erst versuchen«, mischte sich Tschamarra ein, »unsere Zeit zu stehlen, Zauberlein. So wichtig seid Ihr nämlich gar nicht.« Die Zauberin stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich kenne zum Beispiel einen Bann, welcher Euch einen langen Juckreiz beschert, was Euch in Eurer gegenwärtigen Lage sicherlich höchstlich erfreuen dürfte. Oder wie wäre es mit einer heftigen Darmverstimmung? Oder richtig gemeinen Krämpfen? Alles für mich eine Kleinigkeit.« »Sieh mal einer an, und da heißt es immer«, schüttelte der Herr der Fledermäuse den Kopf, »dass Magier wegen ihrer Grausamkeit vernichtet werden müssten. Auf Euch, junges Fräulein, trifft solches natürlich nicht zu, oder?« »Uns gebricht es an der Zeit, Wortgeplänkel mit Euch zu führen«, entgegnete die Letzte der Talasorn, »deswegen hört meine Worte: Aglirta bedarf aller Magier, welche ihm zu Hilfe kommen wollen. Wir würden Euch gern an unserer Seite sehen, statt jetzt schon Eure Gebeine zu verbrennen.« »Ja, wenn das so ist«, entgegnete Huldaerus, »dann schließe ich mich Euch selbstredend an. Indes nur unter einer Bedingung: Ihr müsst den wenigen Schankwirten und Kaufleu-ten, welche es noch im Reich geben mag, mitteilen, dass ich hier in Treibschaum in einer Zelle gefangen gehalten werde. Sollte Euch Hochfürsten im Kampf gegen Schlangen und anderes Ungeziefer etwas zustoßen, möchte ich nicht vollkommen in diesem Loch hier vergessen werden.« »Das ist längst geschehen«, versicherte ihm Embra und
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zeigte ihm den Weltenstein, damit er an dessen Glühen erkannte, dass sie die Wahrheit sprach. »Also gut«, begann der Zaubermeister und warf verlangende Blicke auf den Dwaer, »so will auch ich ehrlich zu Euch sein. Ich werde tatsächlich nach wie vor hier gefangen gehalten. Was Ihr hier seht, ist kein zauberisches Trugbild, um Euch und andere zu narren. In der langen Zeit hier unten hatte ich ausreichend Muße, meinen Blick dahin und dorthin zu richten und so eine Menge zu entdecken und zu erfahren. Kurz und bündig, viele der alten Prophezeiungen scheinen sich in diesen Tagen zu bewahrheiten.« »Die edle Zauberin und ich haben die alten Weissagungen ebenfalls gelesen«, erklärte der Goldene Greif, »sind jedoch zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei den meisten von ihnen um Humbug handeln muss. Mit dem Tod der Großen Schlange hat Aglirta sich aus dem Griff der alten Prophezeiungen befreit. Und wir waren selbst dabei, als es mit der Schlange zu Ende ging.« Der alte Magier lächelte. »Ich habe ja auch gar nicht das Gegenteil behauptet. Aber die Jungfer dort hatte vorhin Recht: Der Mantel dieses Amtes wird von einem auf den anderen weitergegeben. Wie alle Zauberer hat es mich stets nach neuem Wissen gedürstet. Doch wenn man sich erst einmal einen ausreichenden Grundstock erworben hat, liest man auch andere Dinge. Heute hänge ich der Anschauung an, dass es sich bei der Schlange und dem Drachen nicht um Personen handelt, welchen diese Aufgabe in die Wiege gelegt wurde.
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Nein, ich halte den Drachen und die Schlange vielmehr für Geschöpfe des Arrada.« »Moment mal!«, wandte Hawkril ein, »ich bin nur ein einfacher Mann und kenne mich mit vielen Dingen nicht aus. Von alten Zauberern wie Aumthur oder Maumanthar habe ich schon gehört, aber wer, bitte sehr, soll denn dieser Arrada sein?« Huldaerus lächelte nachsichtig. »Bei dem Arrada handelt es sich keineswegs um einen Mann oder eine Frau, sondern um die Zauberkraft, welche der Welt zu Grunde liegt. Im Gegensatz zu dem, was die Priester behaupten, ist die Magie nämlich kein Gottesgeschenk, sondern die Zusammenfassung aller natürlichen Energien sämtlicher Lebewesen. Wir Zauberer haben lediglich gelernt, diese Kräfte für uns einzusetzen und im Zaum zu halten. Diese Energien fließen nicht gleichmäßig, sondern wie die Gezeiten drängen sie in Abständen mal vor, um dann wieder zurückzufallen. Zwei Eckpunkte lassen sich ausmachen: am einen Ende die Zerstörung und die Dunkelheit – oder die Schlange – und am anderen das Licht und das Schöpferische – oder der Drache. Mal schwimmt die eine Seite oben und mal die andere.« Huldaerus schaute in die Runde, und sein Blick blieb an dem Hünen und dem kleinen Mann hängen. »Jeder spielt in diesem ewigen Kampf eine Rolle. Auch Schwertkämpfer stärken die Seite, welcher sie sich anschließen. Dabei solltet ihr euch darüber im Klaren sein, dass keine der beiden Seiten nur gut oder nur böse ist. Aber wie es sich nun einmal ergeben hat, gefällt der Drache den Menschen deutlich besser.«
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»Und wie sollte mein Beitrag meiner Seite helfen«, fragte Craer argwöhnisch, »da ich doch keinen Gegner vor mir habe, auf welchen ich meine Messer werfen kann?« Der Herr der Fledermäuse lächelte. »Ein Einwand, den man immer wieder zu hören bekommt. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass Maumanthar solcher Worte zu seiner Zeit überdrüssig geworden ist. Um es kurz zu machen, schon ein Gebet an einen Gott der Dreifaltigkeit hilft. Dabei steht der Dunkle für die Schlange, die Göttin für den Drachen und der Vorvater Eiche für den Arrada, das große Gleichgewicht oder überhaupt die Gesamtheit der Schöpfung.« »Wenn ich Euch recht verstanden habe«, meinte der Recke, »wird es also unausweichlich zum Auftauchen einer neuen Schlange kommen.« »Die ist, fürchte ich, schon da«, antwortete der angekettete Magier. »Wird es dann auch einen neuen Drachen geben?«, wollte die Herrin der Edelsteine wissen. »Aber natürlich. Ein überaus geschätzter Verbündeter, wenn man ihn ausfindig machen, wenn man ihn auf seine Aufgabe vorbereiten und wenn man ihm überhaupt die Sache schmackhaft machen könnte.« »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär ...«, warf Tschamarra ein. »Wenn Ihr mich aus dieser Lage befreien würdet, könnte ich mich als wertvolle Hilfe erweisen«, grinste der alte Zauberer. »Oder auch nicht«, entgegnete die Letzte der Talasorn. »Ganz recht«, lächelte Huldaerus. »Die Entscheidung liegt
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also wieder einmal ganz allein bei euch, meine Damen und Herren.« In diesem Moment ertönten die typischen und so oft gehörten Geräusche von rennenden Füßen, welche Menschen gehörten, die sich voller Panik in Sicherheit bringen wollten. Die Gefährten erhoben die Waffen. Vor der Zellentür rannte Raulin vorbei, der junge König, welcher ohne Krone oder andere Anzeichen seines hohen Amtes um sein nacktes Leben lief. Ihm setzten zwei Soldaten mit grimmigen Mienen und brennenden Fackeln nach. Ihnen folgte ein Mann, dessen Züge nichts Menschliches mehr an sich hatten. Ein Schlangenpriester! Die Hochfürsten stürmten sofort aus der Zelle und rannten ihrem König zu Hilfe. Eine Fledermaus folgte ihnen behände nach, aber die Gefährten hielten sich nicht damit auf, nach ihr zu schlagen, während sie den Gang hinunter und hinter dem schwindenden Licht hereilten. Dem Schlangenpriester blieb der Lärm in seinem Rücken nicht verborgen, und er drehte sich um. Verblüfft blieb er stehen und hob beide Hände. Seine gespaltene Zunge züngelte bedrohlich zum Mund hinein und hinaus. Embra richtete den Weltenstein wie ein Schwert auf ihn und stürmte weiter vor. Ein nadeldünner Energiestrahl raste aus dem Dwaer und erfüllte den Gang mit gleißender, blendender Helligkeit. Craer konnte erst wieder sehen, als er gerade als Letzter der Gefährten über den enthaupteten Körper des Schlangenpriesters sprang. »Verdammt!«, murrte die Zauberin. »Die beiden Krieger
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sind gerade hinter einer Kurve verschwunden, sonst könnte ich sie ebenso ausschalten. Beeilt euch, wir müssen sie einholen, ehe sie ...« Die Gefährten gelangten in eine kleine Halle, von welcher sechs Gänge abgingen. Embra spähte in alle hinein, aber nirgends ließen sich brennende Fackeln ausmachen. Die Freunde liefen aufs Geratewohl einige Meter in jeden Gang hinein, und der Beschaffer und der Hüne übernahmen wie üblich die Führung. »Wie konnte ich sie nur verlieren, wo wir doch schon so nahe heran waren?«, grämte sich die Herrin der Edelsteine. Da hörte sie über sich ein Geräusch, leuchtete hinauf und entdeckte fünf Fledermäuse, welche sich gemeinsam in Bewegung setzten und in einen bestimmten Gang hineinflogen. »Danke, Altmeister«, murmelte die Zauberin. »Dafür werde ich Euch etwas früher befreien, als ich das vorgesehen hatte.« Die Gefährten liefen ein gutes Stück weit durch den Gang, ohne auf eine Tür oder eine Abzweigung zu stoßen. Craer und Hawkril rannten, was ihre Beine hergaben. Gerade als ihnen der Atem ausging, bog der Gang scharf nach rechts ab und mündete in eine große Höhle, welche sich hier eigentlich gar nicht befinden durfte. Embra blieb auf der Stelle stehen. Bei allen Baumaßnahmen, welche man zu ihrer Zeit vorgenommen hatte, war an diesen Teil Treibschaums nie gedacht worden. Unzählige Kisten hatte man hier abgestellt, und alle enthielten wohl Waffen und Rüstungen. Der König lief zwischen ihnen hindurch, und ihm folgten die beiden Soldaten. In Ermangelung eines besseren Einfalls sandte Embra allen
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dreien einen zauberischen Lähmstrahl entgegen. Da flammte die Luft vor ihr auf, und einen Moment später spürte die Zauberin, wie ihre eigenen Glieder schwer und gefühllos wurden. Mit letzter Kraft hielt sie den Weltenstein und bewirkte einen der ältesten Banne, welchen sie kannte. Der Dwaer glühte auf ... Und Embra vermochte sich wieder frei zu bewegen. Was war geschehen? Jemand hatte ihren Zauber auf sie zurückgeworfen! Mit anderen Worten, jemand oder etwas, das der unermesslichen Kraft eines Weltensteins widerstehen und sie umlenken konnte! So etwas war doch unmöglich, oder? Oder? Oder sollten die Götter selbst ...? Der andere Dwaer musste her! Embra entdeckte ihn ein Stück weiter voraus, genauer gesagt im Rucksack des Beschaffers, welcher wiederum den beiden Verfolgern des Königs auf der Fährte war. Die Zauberin rannte, so schnell sie konnte. Doch reichte das noch nicht, ihr wurde noch viel mehr abverlangt. Der Beschaffer sprang auf Kisten und Kästen, verschwand immer wieder zwischen künstlichen Schluchten und war oftmals nur daran zu erkennen, dass aus irgendeinem Winkel ein Dolch heransauste. Endlich überquerte Craer eine größere freie Fläche. Die Herrin der Edelsteine richtete den Dwaer auf ihn, und der Beschaffer wurde mitten im Sprung aufgehalten, als sei er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Der Stein in seinem Rucksack glühte ebenso heftig wie
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der in Embras Hand. Energie raste zwischen den beiden Dwaerindim hin und her. Jetzt wurde auch der Beschaffer darauf aufmerksam, dass sich über und hinter ihm etwas tat. Er drehte sich um, bekam den Armstumpf des toten Priesters zu fassen und fing am ganzen Körper an zu zittern, bis er sich nur noch stolpernd auf den Beinen halten konnte. Die beiden Krieger holten eben den jugendlichen König ein und trieben ihm ihre Klingen in den Leib.
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Das Schwert der Banne C Dolmur Bogendrachens Arme zitterten, als die kleine Flamme, welche sich zwischen den drei Brüdern bewegte, schwankte, spuckte und endlich in einem Schwall von Funken erlosch. Multhas lehnte sich mit Verzweiflung in der grauen Miene zurück. Dolmur liefen Tränen über die Wangen, und Ithim brach schluchzend auf dem Boden zusammen. Die Brüder hatten sich vereint und mit gemeinsamen Kräften einen Suchstrahl nach ihrer geliebten Maelra ausgesandt. Aber gerade eben, als sie schon frohlockend geglaubt hatten, sie gefunden zu haben, hörte die Verbindung wie abgeschnitten auf. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Die junge Zauberin weilte nicht mehr unter den Lebenden! Schon wieder hatten die Bogendrachen einen der Hoffnungsvollsten aus ihrem Nachwuchs verloren. Dabei konnten sie sich das überhaupt nicht mehr erlauben. Cathaleira, Jhavarr und Maelra waren alle ins Reich gezogen und hatten dort den Tod gefunden. Die verbliebenen Bogendrachen schluchzten. Wohl weil sie Maelras Schicksal
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beweinten, aber auch, weil sie sich vor dem fürchteten, was auf sie zukommen mochte. »Was sollten wir jetzt tun?«, fragte Dolmur und schien ernstlich eine Antwort von Multhas zu erwarten. Doch aller Erfahrung mit seinem älteren Bruder zum Trotz, schüttelte der nur das Haupt. »Nichts«, antwortete Multhas der Älteste. »Kein Tropfen Blut der Bogendrachen darf mehr im von Schlangen regierten und von der Blutpest verseuchten Reich vergossen werden. Wir wollen einen magischen Wall um uns errichten, der restlichen Welt den Rücken zukehren und zu vergessen versuchen.« »Nein!«, widersprach der Mittlere. »Wir waren uns im Klaren darüber, dass Maelra so etwas zustoßen konnte. Wir müssen herausfinden, wer ihren Tod auf dem Gewissen hat, und uns zu gegebener Zeit rächen. Sonst wird uns dieses Versäumnis bis ans Ende unserer Tage quälen.« Da hob der Älteste den Kopf und sah die Brüder an. »Also gut. Ruft Eure mächtigsten Magier zusammen, und bringt sie so rasch wie möglich hierher.« Der durchbohrte Jüngling taumelte zurück, und während Hawkril seine Mörder in Stücke hieb, brach Raulin langsam zusammen. Craer eilte ihm schon zu Hilfe, aber Embra rief den Beschaffer zurück. »Aus dem Weg mit Euch! Ich kann ihn nicht heilen, wenn Euer Stein im Weg ist!« »Hochfürsten, helft Eurem König!«, ächzte Seine Majestät. Die Zauberin erreichte ihn, wollte sein liebes Gesicht in ihre Hände nehmen und erstarrte angeekelt. Die Züge des
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Königs zerschmolzen, und darunter kam ein Koglaur zum Vorschein! Die Gefährten sahen einander an und rannten dann den Weg zurück, welchen sie gekommen waren. Embra wusste, dass der Herr der Fledermäuse in seiner Zelle sich jetzt bestimmt königlich amüsierte. »Glaubt Ihr etwa, wir hätten immer noch Zeit für Zauberspielchen?«, donnerte Phelinndar dem Bannmeister wütend entgegen. »Wo doch dieser Gadaster frei ist und nach Euch sucht?« Ingryl seufzte, weil er im Moment wirklich anderes zu tun hatte, als sich auch noch um einen unbeherrschten Fürsten zu kümmern, und wuchtete die Kiste auf den Tisch, welche schon so lange nicht mehr geöffnet worden war. »Wenn Mulkyn überleben sollte, brauchen wir das hier mehr denn je«, erklärte er dem Phelinndar. »Und wenn nicht, dürfte uns das hier auch recht nützlich sein. Schließlich müssen wir davon ausgehen, dass die Schlangenkirche obsiegt und uns dann ganz nach Lust und Laune Söldner und Zauberer auf den Hals hetzt.« Er lud dem nächsten Geschmolzenen mehrere Gegenstände, welche er später noch für seine Zauber benötigen würde, auf die ausgestreckten Arme. »Aber sorgt Euch nicht, ich werde mein Versprechen halten und Euch von allen meinen Schritten in Kenntnis setzen. So schaut denn jetzt genau hin, wenn ich ein Schwert der Banne schmiede, mit welchem wir nicht nur den Geist eines bestimmten Menschen, sondern auch seine zauberischen Kräfte für unsere Zwecke einsetzen können.« »Wie zum Beispiel Embra Silberbaum!«, grinste der Fürst
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grimmig. »Oder auch Gadaster Mulkyn. Oder Dolmur Bogendrachen. Oder sogar diese Nervensäge aus dem Ausland, Tschamarra Talasorn, welche man hinter unserem Rücken zur Hochfürstin ernannt zu haben scheint. Aber Ihr dürftet mich lange genug kennen, um zu wissen, dass mir ein ganz anderer vorschwebt.« Als Ingryl aber keine Anstalten machte, den Namen des Betreffenden zu verraten, rang Phelinndar die Hände und erinnerte den Magier erregt an ihre Abmachung. »Bitte, bewahrt Geduld«, erwiderte der Bannmeister. »Ich werde Euch zur gegebenen Zeit alles aufdecken. Doch nun lasst mich erst einmal arbeiten. Diese Kette von Zaubern verlangt meine gesamte Aufmerksamkeit. Nur ein kleiner Fehler, und alles war vergebens. Um Euch noch mehr zu beruhigen: Sobald ich alles in die Wege geleitet habe, wird der von mir Gewünschte noch nicht bestimmt sein. Uns bleibt dann noch ausreichend Gelegenheit, über meine Wahl zu debattieren.« Phelinndar gab sich einstweilen zufrieden und fragte sich, ob Ingryl eine Waffe schaffen oder sich selbst in eine solche verwandeln wollte. Ambelter hatte ein leises Lächeln aufgesetzt, als er sich der Kiste auf dem Tisch zuwandte und mit seiner Beschwörung begann. Der Dwaer befand sich in der hintersten Ecke der Höhle und glühte leise vor sich hin. Hin und wieder gab er ein eigenartiges Geräusch von sich, in der Regel dann, wenn Ingryl einen weiteren Zauber hinzugefügt hatte. Der Fürst begab sich schließlich zu dem Weltenstein und
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nahm ihn an sich. Wenn sich sein magischer Verbündeter ein zauberisches Schwert schaffen wollte, so schien es dem Fürsten angebracht, zu seiner eigenen Sicherheit den Dwaer in der Hand zu halten. Zischen, Fauchen und Glühen stiegen in unterschiedlicher Reihenfolge vom Tisch auf. Der Fürst aber wunderte sich, dass Ingryl nicht eingeschritten war, als er den Weltenstein an sich gebracht hatte. Summende Linien magischer Energie erfüllten die ganze Höhle und fügten sich zu einer Art mannshohem Käfig zusammen. Phelinndar starrte voller Entsetzen darauf. Der Fürst begann sich zu fragen, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, den Weltenstein an sich zu nehmen. Was genau Ambelter damit alles anzustellen vermochte, war ihm immer noch ein großes Rätsel. Womöglich konnte Ingryl ihn durch den Stein bestrafen, ohne diesen selbst berühren zu müssen. Eben schien der Bannmeister sich dem Ende seiner Arbeit zu nähern. Leider kehrte Ambelter ihm den Rücken zu und versperrte ihm mit seiner breiten Gestalt auch weitgehend die Sicht auf das, was sich auf dem Tisch tat. Mit dem Schwert in der einen und dem Dwaer in der anderen Hand schritt der Fürst langsam auf den Tisch zu und achtete darauf, den reglosen Geschmolzenen nicht zu nahe zu kommen. Doch auf halbem Weg blieb er stehen, denn Ingryl drehte sich zu ihm um und zeigte das, was er geschaffen hatte. »Keine Bange, mein Lieber, ich habe nicht vor, das gegen Euch einzusetzen. Und ich würde Euch auch nicht raten, Euch gegen mich zu wenden.
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Alles, was Ihr durch den Dwaer gegen mich schleudert, wird von diesem Schwert der Zauber abgefangen und gegen Euch zurückgeworfen.« Der Bannmeister öffnete eine Hand, in welcher sich einige kleine Gegenstände befanden. »Haare und Haut desjenigen, von welchem ich hoffe, dass wir uns auf ihn einigen können.« Er verteilte beides auf einige Stellen im Käfig, an welchen sich jeweils zwei Energielinien kreuzten. Phelinndar schüttelte sich. Ein solches Schicksal konnte jeden treffen, auch ihn. »Und wer soll der ›Glückliche‹ sein?«, fragte der Fürst unsicher. »Ezendor Schwarzgult«, antwortete der Bannmeister. »Der ehemalige Regent des Reiches und außerdem der Mann, welchen ich am allermeisten hasse. Ich muss mich beeilen, denn die Hochfürsten haben ja diesem Trottel von Schlangenpriester einen Dwaer abnehmen können. Sollte sich der Regent dessen zu bedienen verstehen, wird mein Zauber wirkungslos.« »Ich kann nur hoffen, dass diesem Bann mehr Erfolg beschieden ist als Eurem letzten«, murmelte der Fürst. Der Herr der Fledermäuse grinste tatsächlich vor sich hin, während die Hochfürsten immer weiter rannten. Treppauf, treppab, vorbei an verblüfften Wachen, welche erst dann ihre Hellebarden senkten, als die Gefährten schon längst an ihnen vorbei waren. Erst als sie den Palast selbst erreichten, stellte sich ihnen ein Soldat entgegen. »Halt, im Namen des Königs!« »Aus dem Weg, noch mehr im Namen des Königs!«, gab Craer zurück.
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Noch ehe der Wächter seine Waffe auf ihn gerichtet hatte, war der Beschaffer ihm schon zwischen den Beinen hindurchgekrabbelt. Vom eigenen Schwung mitgerissen, fiel der Mann vornüber. Sein Kamerad wollte Alarm geben, und Embra hastete hinzu, um ihn mit Hilfe ihres Weltensteins daran zu hindern. Doch dummerweise war Craer ihr noch zu nah, und die von ihr ausgesandte Zauberenergie prallte auf sie zurück. Craer besann sich lieber auf die altbewährte Weise und streckte den zweiten Wächter mit einem Messer nieder. Schon war der Beschaffer durch die nächste Tür hindurch. Dahinter roch es streng nach Abtritt. Craer schob den stöhnenden ersten Wächter hinein und schloss die Tür. Nachdem er sich und seine Freunde auf diese Weise von aufdringlichen Wächtern befreit hatte, meinte er: »Kann ich Euch noch sonst wie von Nutzen sein, edle Herrin?« »Darüber zermartere ich mir schon seit Monaten das Hirn, habe aber noch immer keine Antwort gefunden.« Tschamarra drängte sich vor. »Wohl gesprochen, Herrin. Craer, macht Euch lieber nützlich, und sucht einen Hofbeamten, welcher uns mitteilen kann, wo Seine Majestät sich zurzeit aufzuhalten geruht.« Doch genau das war offenbar nicht zu erfahren. Die Hochfürsten liefen hierhin und dorthin. Sie befragten Höflinge und Gesandte, Wachen und Bedienstete. Zumindest dort, wo sie welche antrafen, denn einige Teile des Palastes wirkten wie ausgestorben. »Hier stimmt doch etwas nicht!«, rief Schwarzgult ein ums andere Mal. »Hat Huldaerus uns einen üblen Streich gespielt ... oder haben etwa die Schlangen bereits alles übernommen?«
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Später erreichten sie eine Halle, in welcher es früher vor Schreibern, Schranzen, Soldaten und Dienern nur so gewimmelt hatte. Stattdessen trafen sie hier auf einige völlig verängstigte Wächter, welche sofort die Waffen gegen sie erhoben. Hawkril vermochte sie zwar zu beruhigen, erstarrte dann aber selbst, als er erkannte, was die Wächter so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatte. Ein bereits verwundetes Ungeheuer lag dort an der Wand und konnte nicht fort, weil es von den Hellebarden der Soldaten daran gehindert wurde. Das Untier schien sich auf den ersten Blick nur aus Schlangenschuppen, Klauen, Stacheln und Hauern zusammenzusetzen. Dazu ein paar Rüstungsteile, ein Eberkopf und der Körper eines Bullen. Unvermittelt richtete die Bestie sich auf und drohte anzugreifen. Der Recke trat ihm entgegen, verpasste ihm einen donnernden Schwertstreich und zwang das Tier so wieder zur Wand zurück. Sofort schlossen die Soldaten wieder ihren Lanzenwall um das Ungeheuer. Schwarzgult trat hinzu, betrachtete die Rüstungsteile und fragte: »War das einer von euren Kameraden?« »Eben noch scherzt und schwatzt er mit uns«, berichtete ein Wächter, der noch unter Schock stand, »und einen Moment später hat er sich ... verändert. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wollten ihn nicht ... umbringen ...« Embra näherte sich dem Ungeheuer und gebot Craer, sich tunlichst von ihr fern zu halten. Schließlich konnte sie nicht wissen, wie die Anwesenheit des anderen Weltensteins sich auf die Heilung auswirken würde.
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Doch noch während sie mit der Untersuchung begann, trat einem anderen Soldaten Schaum vor den Mund, und er schlug mit seiner Waffe wild um sich. In der darauf entstehenden Verwirrung richtete sich das erste Ungeheuer wieder auf und versuchte zu entkommen. Aber auch diesmal sollte ihm das nicht gelingen. Es zischte in der Luft, und zuschnappende Pfeile schossen mitten zwischen die Ansammlung. »Schlangenpfeile!«, brüllte Hawkril zur Warnung und wirbelte mit dem Schwert, um die giftigen Geschosse abzuwehren. Craer brachte sich derweil unter der Galerie in Sicherheit, von welcher die Pfeile abgefeuert wurden. Embra war nicht schnell genug und musste eine Schlange entfernen, welche sich in ihrem Arm verbiss. Als sie sich von dem Reptil befreit hatte, konnte sie nur hoffen, dass Craer sich weit genug von ihr entfernt aufhielt. Doch als die Zauberin ihren Weltenstein einsetzen wollte, flammte der ungesund grell auf, und sie wusste, dass es sie gleich treffen würde ... Die von dem zweiten Dwaer auf sie zurückgeschleuderte Energie blendete sie und warf sie zu Boden. Nur undeutlich nahm sie wahr, wie jemand turmhoch neben ihr aufragte und sie beschützte. »Herrin, habt Ihr Euch etwas getan?«, fragte der Hüne, als der Nebel in Embras Kopf sich lichtete. »Das war die dümmste Frage, die Ihr mir je gestellt habt«, gab die Edle zurück und schrie dann: »Craer, macht endlich, dass Ihr fortkommt, damit ich endlich anfangen kann!« »Bin doch schon lange fort!«, erhielt sie aus einem anderen Raum zur Antwort. Als die Herrin der Edelsteine ihren
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Dwaer jetzt an die Brust hielt, strahlte der so ruhig und gleichmäßig wie eh und je. »Da oben!«, rief ein Wächter, und Hawkril und Schwarzgult spähten zur Galerie hinauf. Sieben grinsende Schlangenpriester standen an der Brüstung. Bei ihnen stand eine Magd mit einem Krug Wein. Den goss sie zur allgemeinen und eigenen Belustigung über den Soldaten aus und rief dabei: »Etwas mehr Seuche gefällig, die Herren?« Die Schlangenverehrer legten neue Geschosse auf, richtige Pfeile diesmal. Allem Anschein nach waren ihnen die verzauberten Schlangen ausgegangen. Der Recke nahm sein Schwert und stürmte los, kam jedoch nicht weit. Das Ungeheuer, welches er vorhin zurück an die Wand gedrängt hatte, sprang ihn von der Seite an. Die beiden überschlugen sich und rangen miteinander. Währenddessen spannten die Priester ihre Bogen und zielten genau auf die Herrin von Silberbaum. Diese konnte sich nicht in Sicherheit bringen, wand sie sich doch im Zuge ihrer Selbstheilung zuckend und kaum bei Besinnung am Boden. Doch da kam Rettung von ihrem Vater. Er bewirkte einen einfachen Zauber, und durch den geriet die Galerie ins Wanken. Die Priester purzelten durcheinander, bis der Innenbalkon abstürzte. Schwarzgult riss seine Tochter im letzten Moment aus der Gefahrenzone, und aus der aufsteigenden Wolke tauchte ein blutüberströmter Hawkril auf. Ein abgehacktes Stück Tentakel hing ihm von der Schulter. An der Hand hielt er ein schluchzendes Bündel, welches sich als Tschamarra entpuppte. Hinter ihm erschien einer der Wächter mit dem abgebrochenen Griff der Karaffe.
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»Dieses elende Schlangenluder muss uns in den letzten Tagen vergifteten Wein vorgesetzt haben!« »Vermutlich nicht nur sie«, entgegnete der Recke. »Überall im Palast wird man die Menschen auf diese Weise ausgeschaltet haben. Wollen wir zusehen, dass wir einen Ausgang nach oben finden und weiterkommen.« Craer stellte sich nachdenklich neben ihn. »Würde jemand irgendwo dort oben den König verstecken?« »Da hilft nur eins«, erwiderte der Goldene Greif, »nämlich nachsehen.« »Wer klopfet an?«, fragte eine misstrauische Stimme von innen. »Hochfürst Craer Delnbein mit einem weiteren Hochfürsten, welcher sich Schwarzgult nennt.« »Heutzutage können Hinz und Kunz behaupten, Hochfürst zu sein.« »Ja, aber niemand von ihnen versteht sich darauf, so hochfürstlich anzuklopfen wie ich«, entgegnete der Beschaffer. Von drinnen ertönte Lachen, dann wurde der Riegel zurückgezogen. Jemand öffnete die Tür gerade weit genug, dass die beiden eintreten konnten. Hinter ihnen wurde gleich wieder abgeschlossen. »Versteckt Ihr Euch hier, um dem Feind in den Rücken zu fallen?«, fragte der Beschaffer spitzfindig. »Und wenn ja, wem gebührt dann die Ehre, als solcher Feind angesehen zu werden?« Flaeros Delkamper und die Hand voll treu ergebener Soldaten glaubten ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, dass jemand so ohne alle Ehrerbietung mit Seiner Majestät sprach.
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»Allen und jedem«, antwortete Raulin Burgmäntel. »Ich hoffe, ihr habt etwas zu essen mitgebracht. Seitdem wir vier unserer Männer verloren haben, wagen wir keinen bewaffneten Vorstoß zu den Küchen mehr.« »Nein, mein Teurer«, antwortete Schwarzgult. »Aber wenn Ihr Euch noch etwas gedulden mögt, sammle ich die herumstreunenden restlichen Hochfürsten ein und plündere mit ihnen für Euch die Vorratskammern.« »Herr, wollt Ihr es Seiner Majestät wirklich an der gebührenden Achtung mangeln lassen?«, empörte sich ein Hauptmann der Palastwache. »Ja, denn ich bin ein alter Mann und habe für solche überflüssigen Dinge keine Zeit mehr. Raulin, da Ihr Euch in dieser Kammer verschanzt habt, nehme ich an, dass die Schlangen den Rest des Palastes mehr oder weniger in ihren Besitz gebracht haben.« Craer wollte etwas hinzufügen, erbleichte dann aber. Er zog seinen Dwaer aus dem Rucksack und betrachtete ihn. »Jemand hat gerade irgendwo hier in der Nähe einen Weltenstein benutzt.« Der Beschaffer deutete auf die verschlossene Tür, und Schwarzgult meinte: »Das ist vielleicht meine Tochter gewesen. Aber haltet euch bereit für den Fall, dass ich jemandem öffne, welcher es nicht ganz so gut meint mit Seiner Majestät wie die Zauberin.« »Keine Bange«, ertönte Embras Stimme, »ich bin es nur, mit den anderen.« Der Goldene Greif nahm dennoch auf dem Weg zur Tür sein Schwert mit.
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»Hört, mein Junge«, sprach Schwarzgult, »ich habe mir etwas überlegt. Ich bleibe hier an Eurer Seite und stehe Euch bei. Soll Tschamarra an meiner statt mit den Hochfürsten ziehen.« Der junge König sah die Gefährten der Reihe nach an. »Ihr alle wisst, dass ich mich nie nach der Krone gedrängt habe, und ein jeder von euch wäre ein besserer Herrscher als ich. Dennoch braucht das Reich euch dringender als seine Verteidiger. Deswegen bin ich sehr froh, wenn Ihr hier bleiben wollt, alter Greif, während der Rest von euch auf die Jagd nach den Schlangen geht.« »Zuerst aber müssen wir einmal zusehen«, wandte Embra ein, »diesen verflixten zweiten Dwaer zu richten, damit er uns nicht mehr schaden kann.« »Und ich«, schlug der Beschaffer vor, »könnte euch mit einigen meiner beliebtesten und schönsten Geschichten die Zeit vertreiben. Gewiss kennt ihr noch nicht die von dem Schloss voller wunderhübscher Maiden, in welches zu gelangen ich das außerordentliche Glück hatte.« Craer verbeugte sich tief, verspürte aber einen scharfen Schmerz. Die Letzte der Talasorn zog ihn am Ohr wieder hoch. »Das möchte ich vorab gern von Euch berichtet bekommen. Und danach sehen wir weiter, ob solche Hanswurstiaden auch wirklich für Seine Majestät geeignet sind.«
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Neunzehn
Das wahre Gesicht kommt zum Vorschein C Die jüngeren Bogendrachen standen staunend vor den mit Kupfer bedeckten Wänden der Gruft, welche hoch aufragten, und musterten verwundert den glatten Marmor des Fußbodens. Die Luft schien von dahintreibender, sich stetig zusammenballender Magie gesättigt zu sein. Jeder nahm seinen Platz ein. Nur selten kamen die Bogendrachen an diesem Ort zusammen, und Dolmur hatte kein Wort darüber verloren, warum er heute einen Anlass zu einer Versammlung an diesem Ort sah. Jetzt ließ Dolmur seinen Blick über die Anwesenden wandern. Waren sie bereit, in den Krieg zu ziehen und ihre magischen Kräfte einzusetzen? Nein, das schien ihm nicht unbedingt der Fall zu sein. »Heute sind wir hier zusammengekommen«, eröffnete er die Sitzung, »um alle unsere Kräfte zu bündeln und einen magischen Blick ins Reich Aglirta zu werfen.« Er sah seine lieben Verwandten der Reihe nach an. »Wir
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wollen herausfinden, was unserer Maelra zugestoßen ist. Und damit es euch nicht genauso ergeht wie ihr, müsst ihr meinen Anordnungen strikt Folge leisten.« Als kein Widerspruch erfolgte und sie ihn noch erwartungsvoller als vorhin ansahen, gebot er: »Dann legt Ring oder Krone an.« Er hob eine Hand, am Boden taten sich einige Platten auf, und neben jedem Stuhl wuchs ein reich verzierter Stab der Macht in die Höhe, welcher in einer klauenartigen Spitze endete. »Nehmt nun euer Zepter und streckt es zum Stab hin, bis dessen Klauenspitze das Zepterende berührt.« Einige zögerten, und die Jüngsten hatten offenkundig große Angst. »Bleibt ganz ruhig sitzen«, beruhigte Dolmur sie, »dann kann euch auch nichts Schlimmes geschehen. Doch gehorcht mir wohl, sonst seid ihr des Todes!« Wieder schaute er in die Runde. »Als Erstes richten wir unseren Blick auf Treibschaum und nehmen die Magier in Augenschein, welche dort für den König wirken.« Die Kammer wurde ordentlich durchgerüttelt, und Schwarzgult und Tschamarra flogen wie Puppen durch die Luft. Embra saugte die Blitze auf, welche aus dem Dwaer flogen, und endlich gelang es ihr, den feindlich gesonnenen zweiten Stein ein Stück zu sich heranzuziehen. Dann hing er vor ihr in der Luft und spuckte und zischte Feuer. Die Zauberin nahm allen Mut zusammen und umschloss mit der Linken den Stein des Schlangenpriesters, während sie ihren eigenen in der Rechten hielt.
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Nie gekannte Schmerzen überfielen sie und drohten ihr die Besinnung zu rauben. Die Edle Talasorn lag noch halb benommen auf dem Boden und glaubte einen lang gezogenen Schrei von ihrer Freundin zu hören. Sie erhob sich ein Stück weit, bis sie Embra sehen konnte. Der Herrin der Edelsteine schlugen Flammen aus den Augen, und sie hatte die Arme ausgestreckt, um die beiden Dwaerindim möglichst weit voneinander entfernt zu halten. Die Edle schien längst nicht mehr Herrin ihrer selbst zu sein und gab Geräusche von sich, wie man sie von einer Dame nie erwartet hätte. »Herr Vater«, flehte die Fürstin Silberbaum schließlich, »kommt bitte zu mir, und nehmt ihn mir ab, allein schaffe ich es nicht ...« Schwarzgult eilte zu ihr, ebenso wie die Letzte der Talasorn. Als der Goldene Greif den zweiten Stein übernommen hatte, brach Embra in hysterisches Gelächter aus. Erst als ihre seltsame Heiterkeit abgeklungen war, bemerkten die Gefährten, dass der ehemalige Regent steif wie eine Statue dastand und den Weltenstein in seiner Hand anstarrte. »Vater!«, rief Embra. »Herr!«, riefen die anderen. Ein Ruck ging durch den Goldenen Greifen, und er schüttelte sich. »Bei den Göttern, Mädchen, was habe ich eine Angst um euch ausgestanden! Lasst uns jetzt Küche und Keller plündern und noch einmal tüchtig schmausen, ehe ihr wieder hinaus ins Tal reitet!« »Ich hätte eine bessere Idee«, meldete sich Tschamarra zu Wort. »Warum benutzen wir die beiden Steine nicht, um die
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restlichen Dwaerindim aufzuspüren?« Alle nickten, und Vater und Tochter stellten sich in die entgegengesetzten Ecken der Kammer. Die Luft zwischen den beiden fing an zu singen. »Spürt Ihr die Kraft, Vater? Ich erzeuge ein Suchbild, und Ihr schickt mir Eure Energie.« Wenig später nickte die Zauberin. »Tatsächlich, unweit des Flusses ... ein weiterer Weltenstein ... aber nicht im Wasser, sondern unter der Erde.« Während die Herrin der Edelsteine von ihrem Fund berichtete, blickte die Edle Talasorn kurz in die Richtung Schwarzgults. Der stand wieder so unbeweglich da wie vorhin, zitterte aber von Kopf bis Fuß. »Embra«, sagte Tschamarra leise und legte der Freundin ee Hand auf den Arm. Gemeinsam verfolgten die beiden Frauen, wie der Goldene Greif sich wieder straffte ... wie sein Zittern verging ... und wie er den Dwaer wie etwas völlig Fremdes anschaute ... »Wie fühlt Ihr Euch, Vater?«, rief die Zauberin besorgt. »Wie jemand, der eine ganze Armee verloren hat, von allen Menschen gehasst wird, nur noch aus der Erinnerung weiß, was es heißt, eine Schöne mit ins Bett zu nehmen, und im Kopf das Gefühl hat, völlig leer gesaugt zu sein.« »Was meint Ihr mit Letzterem, Herr Vater?«, fragte Embra beunruhigt. »Einst habe ich in der Schlacht den Weltenstein dazu benutzt, mich von einem Moment auf den anderen an einen neuen Ort tragen zu lassen ... Seitdem lässt mich mein Gedächtnis im Stich. Die Erinnerung kommt und geht ...
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Alles ist fort, und nichts und niemand kann es zurückholen ... Zum ersten Mal fühle ich mich alt und ausgebrannt ... Der lange Schlaf heißt mich immer stärker willkommen, aber noch ruft mich meine Pflicht: Der König soll nicht unbewacht sein!« Embra strahlte ihn voller Stolz an und umarmte ihn. Er drückte sie und schämte sich seiner Tränen nicht. Die anderen zogen sich leise zurück. Der Käfig aus schimmernder Energie schwebte vor ihnen in der Luft, und überall blinkten zauberische Lichter wie die Sterne am Firmament. »Sehet«, lächelte Ambelter, »das Zauberschwert! Ich habe es soeben an einem Mann ausprobiert, den ich kenne, und ihm das Gedächtnis gelöscht, als handele es sich dabei um eine Kerze.« Er lächelte den Fürsten an. »Wir wollen gleich mit der Arbeit beginnen und Schwarzgult nach unserem Willen formen. Aber langsam, erst nur ein wenig, und dann immer mehr.« »Ganz recht, nach unserem Willen, mein Freund«, beharrte Phelinndar. Für einen winzigen Moment beherrschte das Ingryls Miene, was wirklich in ihm vorging; denn es ärgerte ihn sehr, dass der Fürst, statt sein Werk zu loben, sich nur wieder an Kleinigkeiten aufhielt. Aber da er sich gleich wieder im Griff hatte, beließ er es bei der Entgegnung: »Wenn der ehemalige Regent auch nur ahnen sollte, was mit ihm geschieht, geraten wir damit in die allergrößte Gefahr!« Wenn ich den Bannmeister nicht bald beseitige, sagte sich der
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Fürst und wandte den Blick ab, und zwar sehr bald, geht noch ganz Aglirta vor die Hunde. Maelra Bogendrachen schrie, dass es ihr selbst in den Ohren wehtat, aber niemand konnte sie hören. Wieder brüllte sie, aber das Kreischen ertönte nur in ihrem Kopf. Gadaster grinste dagegen nur. Er wusste, wie es ihr erging, denn er hatte Maelra gerade dazu gebracht, die ganze Sippe der Bogendrachen auszulöschen. Er hatte ihren willenlosen Körper mitten in die Gruft in Arlund versetzt, in welcher sich die Familienmitglieder versammelt hatten. Gerade hatten sich alle über das unverhoffte Wiedersehen gefreut, als Gadaster auch schon alle Energie aufsaugte und das Mädchen dazu zwang, ihre Sippe anzulächeln und sich vor ihr zu verbeugen. Eben noch waren Maelras Warnrufe ungehört verhallt, da schossen ihr auch schon Blitze aus den Fingerspitzen und mähten die versammelten Bogendrachen nieder. Die Zepter explodierten, die Stäbe zerplatzten, und alle freigesetzte Energie strömte zusätzlich in Maelra und machte Gadaster noch stärker. Als Multhas sich erhoben hatte und es noch nicht glauben konnte, was hier mit ihm und den Seinen geschah, flammten die Symbole an seinem Gewand auf und verbrannten ... Als Maelra den tödlichen Hass in seinen Augen gesehen hatte, versuchte sie noch einmal, ihn zu erreichen, um ihm bewusst zu machen, was hier in Wahrheit vor sich ging. Gadaster aber bewegte Maelras Gliedmaßen, so dass ihre Blitze niemanden verfehlten oder verschonten. Dabei zwang
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er ihren Kopf dazu, sich nach links und nach rechts zu drehen. Die junge Frau erlebte so aber auch mit, wie es ihrem Onkel Dolmur und schließlich auch ihrem Vater Ithim irgendwie gelang, dem grünen Funkenstrahl zu entgehen. Als die Zauberwaffe auch bei Multhas versagte, setzte Gadaster einen noch viel mächtigeren Bann ein, dank dessen dem Onkel das Fleisch von den Knochen schmolz. Multhas verfolgte entsetzt, wie seine untere Hälfte sich auflöste und zerfiel. Er starb inmitten der zauberischen Gegenstände seiner Familie, welche von Gadaster gründlich ausgelaugt wurden. Endlich versank Maelra in gnädiger Dunkelheit. »Sie war es«, sprach Ithim in die Finsternis, »und sie war es doch wieder nicht.« »Wir sollten besser davon ausgehen«, entgegnete sein Bruder Dolmur, »dass wir die letzten lebenden Bogendrachen sind ... und dass Eure Tochter nun nicht mehr unter uns weilt.« »Warum sollte ich nicht auch sterben, wo ich doch nichts mehr habe, wofür es sich zu leben lohnte?« »Da irrt Ihr, Bruder, wir haben noch vieles zu erledigen. Zum einen, eine neue Familie zu gründen, und zum anderen, den wahren Mörder unserer Verwandten ausfindig zu machen.« »So wollen wir denn hier und jetzt einen Schwur ablegen«, sprach Ithim »Wir wollen nicht rasten noch ruhen, ehe wir nicht denjenigen erschlagen haben, welcher Maelra dazu gezwungen hat, unsere ganze Sippe auszulöschen!« »Das schwöre ich! Denn wenn wir unser Leben nicht die-
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sem Ziel widmen, wird die Welt mehr als nur eine ihrer vornehmsten Familien verloren haben!« »Und so ergab die Schöne sich mir willig, und mir blieb gar keine andere Wahl, als darauf einzugehen«, erzählte Craer gerade, als plötzlich Embras Stimme leise in seinem Ohr ertönte. »An Eurer Stelle würde ich diese unglaublich faszinierende Geschichte auf der Stelle beenden, denn bei Naevrele Laschantra, von der Ihr gerade berichtet, handelt es sich um Tschamarras Base.« »Oh!«, entfuhr es dem Beschaffer, und Flaeros und Großsarn grinsten. Gleichzeitig kündigte ein Klopfen an der Tür die Ankunft der beiden Hochfürstinnen an. »Ich fürchte, meine Herren«, schloss der Beschaffer, »ich werde meinen Vortrag ein anderes Mal zu Ende bringen müssen.« Mit den beiden Damen erschienen auch die restlichen Gefährten und brachten mit, was sie in Küche und Keller aufgetrieben hatten. Hawkril trug zusätzlich den Kellermeister an dessen Gürtel herein, weil dieser sich weigerte, den Ort zu verraten, an welchem sich die guten Weine befanden. Nachdem der Hüne den unglücklichen Mann geschüttelt und auch dazu gezwungen hatte, das zu trinken, was sie ergattert hatten, trat der Beschaff er zu seinem Freund. »Schüttet ihm den Rest über dem Kopf aus, und dann soll er für jeden von uns ein Dutzend der besten Flaschen besorgen.« Hawkril drehte sich zu ihm um: »Fühlt Ihr Euch etwa e-
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benso rastlos wie ich?« Der Beschaffer nickte, und der Recke wandte sich wieder an den Kellermeister: »Ihr habt gehört, was dieser vornehme Herr hier gerade gesagt hat. Also, erfüllt sein Begehr, und vielleicht sehe ich dann davon ab, noch einmal nach Euch sehen zu kommen.« Zum ersten Mal in seinem langen Berufsleben rannte der Kellermeister los, um einen Auftrag zu erledigen. Ihr Spaziergang konnte nur vor den Grabstätten von Sarasper und Hellbanner enden – auch ohne dass sie sich darüber abgesprochen hätten. »Seid Ihr schon zu einem Schluss darüber gekommen, was die Hochfürsten als Nächstes unternehmen sollten?«, fragte der Beschaffer seinen Freund. »Den Reichen nehmen und den Schönen geben«, grinste der Hüne und fügte dann ernster hinzu: »Nein, eigentlich nicht. Und ich weiß auch noch immer nicht, was uns nach den Kämpfen mit den Schlangen erwartet. Falls es uns jemals gelingen sollte, die Schlangen zu besiegen und die Fürsten dazu zu bringen, treu zum Thron zu stehen, könnten wir uns doch um die Kaufleute von Sirlptar kümmern.« Craer öffnete die nächste Flasche, goss ein Viertel auf das linke und das nächste Viertel auf das andere Grab aus. »Was spukte Euch denn in letzter Zeit so sehr im Kopf herum, dass Ihr keine Pläne schmieden konntet?« »Die Furcht, mein Freund. Die Angst um uns und noch mehr um die Herrin meines Herzens. Irgendetwas wird ihr zustoßen, das spüre ich ganz genau.«
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Der Recke erwartete, von Craer einen der üblichen dummen Sprüche zu hören, doch stattdessen antwortete der Beschaffer: »Ich habe auch so etwas geträumt. Verschiedene Träume, aber keiner von ihnen ging gut aus.« Danach sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie schauten auf den Strom hinaus, auf welchem sich eine prächtige Barke dem Hafen von Treibschaum näherte. »Natürlich spricht die Klugheit dagegen«, erklärte der junge König den Wächtern, »dennoch lasse ich mich nicht davon abhalten. Ich wäre ein Hundsfott, wenn ich mich im hintersten Winkel verkröche!« Schwarzgult schritt vor dem Herrscher her, dicht gefolgt von seiner Tochter Embra. Dann kam Raulin selbst und wurde zur Linken von Tschamarra und zur Rechten von Flaeros gedeckt. Die eigentlichen königlichen Wächter marschierten im Rücken des Königs, und Großsarn bildete den Schlussmann. Alles in allem ein beeindruckender Zug, welcher sich da in Richtung Hafen bewegte. »Die Delkampers halten mit ihrem Reichtum nicht hinterm Berg«, bemerkte die Letzte der Talasorn, als sie des Wappens auf dem Segel der Barke ansichtig wurde. »Auf lange Sicht gesehen zahlt sich das Teuerste immer noch am besten aus«, entgegnete der fahrende Sänger. Die Schiffsbesatzung, alle Mann in den Farben der Delkampers gekleidet, standen in ordentlicher Reihe da, um den König zu begrüßen. Als der Zug dort eingetroffen war, machte der Hauptmann der Schiffssoldaten Platz, und hinter ihm zeigte sich eine alte Frau, welche sich auf einen Gehstock mit silbernem Griff
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stützte. »Euer Majestät«, sprach Flaeros mit freudigem Lächeln, »ich möchte Euch die Edle Natha Orele vorstellen, die Kammerherrin, welche meiner Familie schon länger dient, als ich auf dieser Welt weile.« Dann umarmte er die Frau, und danach war Raulin an der Reihe. Er drückte sie ebenfalls an sich, und danach meinte sie: »Nun, das war töricht von Euch, ich könnte doch auch eine Schlangenpriesterin sein.« »Seid Ihr denn eine?«, grinste der König. »Ich habe mich noch nicht entschieden, aber ich glaube, heute nicht. Doch wenn ich nicht bald eine Erfrischung gereicht bekomme, überlege ich es mir womöglich anders.« Seine Majestät reichte ihr den Arm, kam jedoch nicht dazu, sie aufs Schloss zu führen. Ihr Blick traf auf Schwarzgult, und die beiden sahen einander an, als wären sie sich schon einmal irgendwo begegnet. Gleichzeitig verkündete der Hauptmann, dass ein gewisser Tesmer verwundet unter Deck läge. Raulin reichte die Dame an Flaeros weiter, weil er diesen hervorragenden Krieger unbedingt gleich sehen wollte. Doch der ehemalige Regent hielt ihn zurück und schickte zwei Soldaten an Bord, den Kriegsmann mit seinem Sessel zu tragen. Als Tesmer seines Herrschers ansichtig wurde, wollte er sich sofort zur Ehrenbezeugung erheben, aber Schwarzgult drückte ihn in den Sessel zurück. »Berichtet nur, was vorgefallen ist.« »Ein Schwertstreich, ein Nichts im Vergleich zu dem, was ich erlebt und gesehen habe.« Der Verwundete schaute sich
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unsicher um. »Sprecht nur frei heraus«, forderte der König ihn auf. »Wir befinden uns hier unter Freunden.« »Herr, so will ich ohne Umschweife beginnen: Die Blutpest breitet sich ungehindert aus, jemand hat den Tersepten von Klingenschloss im Bett ermordet, und die Schlangen haben den Fürsten von Adeln auf dem Gewissen. Der Fürst von Glarond und der Tersept Eisenstein sind gegeneinander in den Krieg gezogen. Die Schlacht hat viel Blut gekostet, aber keinen eindeutigen Sieger ergeben ... Wenn man mit offenen Augen durchs Stromtal zieht, gewinnt man leicht den Eindruck, dass es mittlerweile keinen Ort mehr ohne Schlangenpriester gibt. Sie sorgen überall für Aufruhr, aber noch scheint niemand den nächsten Schritt zu wagen und auf Treibschaum anmarschieren zu wollen.« »Dank Euch, Tesmer, nun sollt Ihr erst einmal versorgt und gestärkt werden«, sprach der König. »Morgen reden wir dann weiter.« Der Burgaufseher schaute nach dem Rechten und fragte Tesmer: »Findet Ihr zu Eurer Kammer zurück?« »Gewiss, habe ich doch in diesem Palast jahrelang Wache gestanden. Darunter auch vor der Küche.« Der hervorragende Krieger schaute dem Aufseher hinterher, bis dieser nicht mehr zu sehen war, und stieg dann hinab in die Küche. Er stieg, an den Speisekammern vorbei, immer tiefer hinab. Als er den Keller erreichte, zündete er keine Fackel an und setzte seinen Weg leise und unbeirrt fort. Irgendwann wurde über Tesmer eine Luke geöffnet, und jemand ließ eine Seilwinde herab. Dabei drang von oben
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Licht nach unten. Der Mann brachte sich rasch aus dem Schein, aber er brauchte sich nicht zu sorgen, denn wer immer sich alles oben aufhalten mochte, niemand schaute nach unten. Und wenn es doch einer getan hätte, hätte der sich bestimmt gewundert; denn nur noch eine Gesichtshälfte trug die Züge Tesmers, während die andere sich gerade verwandelte.
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Zwanzig
Gute Träume, schlechte Träume C Phelinndar trat noch einen vorsichtigen Schritt näher an die schnarchende Frau heran, und die Luft flimmerte erneut vor ihm. Als er sich noch ein Stück weiter heranwagte, entstand vor ihm eine Feuerwand. Der Fürst prallte rasch zurück und betrachtete seine Hand, welche in die unvermittelt aufschießenden Flammen geraten war. Die Schmerzen an den Fingerkuppen ließen darauf schließen, dass es sich um echten Brand und nicht um eine Sinnestäuschung gehandelt hatte. Er trat um einen der Geschmolzenen herum und versuchte es von der anderen Seite. Aber auch hier erwartete ihn die Feuerwand. »Bei den Göttern, Ambelter, sie sind hier! Der König und seine Hochfürsten haben uns aufgespürt, um uns mit ihren Dwaerindim zu vernichten!« Doch die zerlumpte Frau, in welche Ingryl sich für sein Schläfchen verwandelt hatte, rührte sich nicht. Wenn Phelinndars Geschrei überhaupt etwas bewirkte, dann höchstens, dass das Schnarchen lauter wurde.
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Nun gut, der Bannmeister hatte auch bis an den Rand der Erschöpfung Zauber bewirkt und sicher etwas Ruhe und Erholung verdient. Der Fürst wusste allerdings nicht, warum sein Verbündeter dazu die Gestalt gewandelt hatte. Der Fürst nahm den Weltenstein in die Hand und entfernte sich damit so weit wie möglich von dem Schlafenden. Dies konnte er auch ganz gefahrlos tun, denn der Magier hatte seine Schutzflammenwände und seine Gestaltwandlung nicht mit dem Dwaer bewirkt. Zu groß war die Gefahr, dass jemand anderer mit einem Weltenstein die verwendete Energie gegen ihn zurückschleudern könnte. Phelinndar hockte sich in eine Ecke, freute sich, dass er jetzt mit dem Stein anstellen konnte, was immer er wollte, und spähte hinein. Zunächst erwärmte sich der Dwaer. Dann strahlte er weißes Licht aus, welches den Fürsten umhüllte. Und schließlich fiel Phelinndar durch Nebelbänke und Wolken auf einen Ort zu, von welchem nur ein helles blaues Leuchten zu erkennen war. Die Magie kam dem Fürsten vor wie eine Schlange, welche man wie ein Schwert schwang ... und bei der man stets darauf gefasst sein musste, dass sie sich zurückwand und die Hand biss, welche sie hielt. Phelinndar geriet ins Schwitzen, und das Nebellicht verdross ihn zunehmend. Dabei hatte er nicht mehr beabsichtigt, als eine Verbindung zu seinem alten Freund Hulgor herzustellen. Sie beide hatten in der Zeit, als Phelinndar noch nicht Fürst gewesen war, so manches Ding miteinander gedreht. Mit einem Mal entstand eine Lücke im Leuchten, und dieser Riss füllte sich mit allen Farben ...
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Doch das Grün setzte sich darin durch, und daraus schälte sich eine Gestalt in allen Farben des Waldes ... Ja, aber das war doch tatsächlich Hulgor! Hulgor Delkamper, und er schien sich überhaupt nicht verändert zu haben. Na gut, sein Haar war weiß, aber er hielt sich noch so aufrecht wie eh und je. Sein ehemaliger Saufkumpan verschwand durch eine Tür. Aber Phelinndar wollte ihn nicht mehr verlieren. Er starrte immer angestrengter in den Dwaer-Nebel ... Dann entdeckte er den alten Freund in einem Raum mit Holzvertäfelung und brennenden Kerzen ... Hulgor wirkte jetzt rastlos und starrte verdrossen auf die Gemälde von Frauen, welche ebenso wütend zurückschauten. Phelinndar fiel ein, dass einer aus dem Hause Delkamper als enger Vertrauter und Freund des neuen Königs galt ... Flaeros, der fahrende Sänger ... vermutlich ein Neffe seines alten Spießgesellen. Na ja ... na ja ... na ja ... Und dennoch, Phelinndar blieb keine große Wahl. Entweder Hulgor oder keiner. So viele vertrauenswürdige Freunde besaß er nun auch wieder nicht. »Hulgor!«, zischte der Fürst und zwang ihn mit seiner Willenskraft dazu, ihn zu hören. Der Grüngewandete drehte sich argwöhnisch um, stand auf und lief im Zimmer umher, um nach dem Sprecher zu suchen. »HULGOR!« Der Mann blieb stehen, drehte sich genau zu Phelinndar um ... und sah durch ihn hindurch. Hört mich! Schaut mich! Und lasst mich Euch hören ... Er sah, dass die Lippen des alten Delkamper sich bewegten. Bei der Dreifaltigkeit!
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»Alter Schwede!«, platzte es in diesem Moment aus Hulgor heraus. »Ja!«, brüllte Phelinndar. »Es wirkt! Es wirkt!« »Aber natürlich, Ihr habt Euch ja immer schon auf die schwarze Kunst verstanden, und vor einiger Zeit habt Ihr es sogar zum Fürsten gebracht. Was liegt an, Genosse früherer Tage?« »Ich brauche Eure Hilfe, alter Halunke. Denn ich bin in den Besitz von etwas geraten, welches des alten Fürsten Silberbaums Bannmeister dringend haben will. Im Moment halte ich mich in seinem Versteck auf –« »Dann nehmt die Beine in die Hand und rennt davon!« »Noch nicht gleich, aber bald ... Und ich brauche einen sicheren Hort, in welchen ich mich zurückziehen kann.« Falten zeigten sich auf der Miene des alten Delkamper. »Und da verlangt Ihr, dass ich unseren kostbaren Familiensitz Euch öffne und mir gleichzeitig mächtige Zauberer zu Feinden mache?« Er tat so, als würde er nachdenken. »Natürlich könnte eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes oder Geschmeides mich davon abhalten, mir allzu sehr darüber den Kopf zu zerbrechen ...« Phelinndar zuckte zusammen. »Hulgor, ich bin mittellos!« »Das bin ich in gewisser Weise auch: Die Zähne fallen mir aus dem Maul, der Bauch wird immer dicker, und alles andere erschlafft. Die jungen Dirnen schauen mir nicht mehr so hinterher wie früher ... Aber es soll einen Zauber geben, und der kostet mich die Kleinigkeit von tausend Sirl-Talern in Gold.« »Hulgor, Ihr müsst etwas Falsches getrunken haben!«, lach-
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te der Fürst. »Da ich ja auch etwas Reisegeld brauche, könnten wir uns auf einen Freundschaftspreis von zweitausend Talern in Gold einigen, was meint Ihr?« »Hulgor, Euch muss das Essen nicht bekommen sein!« Beide grinsten und rieben sich die Hände. Endlich wieder feilschen so wie früher ... »Da wären wir also wieder zu viert«, meinte Craer und wandte sich an die Talasorn-Zauberin. »Nun wird Euch die Ehre zuteil, in die Viererbande aufgenommen zu werden.« »Ich will alles geben«, erklärte Tschamarra in gespielter Feierlichkeit, »um mich dieser Auszeichnung würdig zu erweisen.« Er legte einen Arm um sie, und beide lauschten sie dem, was Embra nun zu verkünden hatte. »Wir haben wieder nur einen Dwaer, und ich will versuchen, den nächsten aufzuspüren. Ich habe die Türen dieses Raums versperren und durch Magie sichern lassen, damit uns niemand zu stören vermag.« »So beginnt, Herrin«, forderte Hawkril sie auf. »Lamaranthal«, flüsterte die Zauberin, und dann: »Hawkril, kennt Ihr dieses Wort? Sprecht es nicht aus, bestätigt es nur.« Er nickte. »Wenn ich später mit der Hand winke, dürft Ihr es sagen. Damit wird der Zauber ausgelöst, welchen ich eben in Euch gelegt habe.« »Ich habe das Gefühl, als würde ein Wurm durch meinen Kopf kriechen.« »Alle Magier kennen dieses Gefühl zur Genüge.«
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»Kein Wunder, dass Ihr so oft schlechte Laune habt.« Craer kicherte, und die Letzte der Talasorn raunte ihm zu: »Freut Euch nicht zu früh, für Euch haben wir uns noch etwas viel Besseres ausgedacht.« Embra warf ihm den Weltenstein zu, und ohne nachzudenken ruckten seine Hände hoch und fingen ihn auf. »Schaut hinein«, forderte die Zauberin ihn auf. »Spürt und seht Ihr die Energie? Bald werdet Ihr den Dwaer nicht mehr aus der Hand geben wollen.« Er äugte hinein. »Und jetzt seht wieder zu mir«, fuhr die Herrin der Edelsteine fort und zog einen Bergkristall, welchen sie an einer Halskette trug, aus dem Mieder. »Dieser Stein hält mir die Insekten vom Leib. Außerdem stellt er für mich so etwas wie einen Notgroschen dar. Wenn ich einmal dringend zusätzlicher Energie für einen Bann bedarf, wird er mir helfen. Nun schaut noch einmal in Euren Dwaer, und sucht nach diesem kleinen Stein. Ihr werdet feststellen, dass alle magischen Gegenstände ihren eigenen Glanz besitzen. Euch obliegt es nun, dieses besondere Stück unter allen anderen herauszufinden.« Aber der Beschaffer hatte mit dieser Aufgabe einige Mühe, und so verlieh Embra dem Bergkristall die Ausstrahlung eines Dwaers. »Prägt Euch dieses Schimmern gut ein für den Fall, dass Ihr es rasch wiederfinden müsst. So, und jetzt zur nächsten Übung. Setzt Euch auf den Boden. Auf die eine Hand setzt Ihr Euch, und die andere legt Ihr in den Schoß. Spreizt die Fin-
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ger unter Eurem Hintern und bewegt sie nicht, ganz gleich, wie stark Ihr die Macht in Euch aufsteigen spürt.« »Magie?« »Ja. Und sie entstammt Treibschaum selbst, denn es sind meine eigenen Zauberbanne der Lebenden Burg.« Tschamarra meldete sich zu Wort: »Wahrlich beeindruckend. Und was soll ich tun?« »Wenn ich Hawkril das Zeichen gebe und er seinen Zauber beginnt, fangt Ihr ihn mit Euren Fähigkeiten ein. Dadurch verwandeln sich euer beider Zauberbanne in reine, entfesselte Energie zurück. Diese schickte Ihr dann zu mir, und ich sende sie an Craer weiter. Solange er die Verbindung nicht unterbricht, kann kaum etwas schief gehen, mag er auch noch so lange nach der Energie suchen müssen.« Die Zauberin sah den Beschaffer an. »Vergesst nicht, dass wir nach dem nächsten Dwaer suchen. Wenn wir ihn entdeckt haben, bekommt Ihr das Gefühl, zu dem Weltenstein zu fliegen. Lasst Euch treiben, und nähert Euch dem Dwaer, aber ergebt Euch nicht dem Ehrgeiz, nach demjenigen Ausschau zu halten, welcher den Stein in Besitz hat. Damit macht Ihr den Unbekannten nur unnötig auf uns aufmerksam. Ihr nutzt uns mehr, wenn Ihr die Verbindung aufrechterhaltet. Wenn jemand sich mit seinem Dwaer gegen Euch wenden sollte, zieht Ihr Euch sofort zurück und vernebelt Euren Rückzug.« Die Herrin der Edelsteine sah nach, ob alles recht vorbereitet war, und erläuterte dann ihren Plan: »So vernehmt nun,
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wie ich mir das Ganze vorstelle: Sobald wir einen Dwaer aufgespürt haben, stürzen wir uns sofort darauf. Tschamarra und ich greifen an, und Craer folgt uns, damit wir uns bei Bedarf sofort unseres Weltensteins bedienen können.« Die anderen drei nickten, und die Viererbande atmete gemeinsam tief durch. Nach einem Moment glaubte Craer zu fliegen. Die anderen befanden sich in seiner Nähe, und man steuerte eine Höhle an ... unweit des Silberflusses. Dort hielt jemand einen Weltenstein in Händen und bekam gar nicht mit, dass die Hochfürsten auf dem Weg zu ihm waren. Beim Näherkommen erkannte Craer, dass es sich bei dem Mann um keinen Magier handelte, sondern um ... Phelinndar! Schon spürte der Beschaffer, wie Embra ihm Energie abzapfte. Er klammerte sich an das, was ihm verblieb, denn dieses unglaubliche Gefühl wollte er nie wieder missen müssen. Verliert ihn nicht!, ermahnte ihn die Zauberin. Craer gehorchte und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den verräterischen Fürsten. Embra bereitete derweil alles für den Angriff vor ... Und die Vier fanden sich in einem Käfig mit Gitterstäben aus Energie wieder. Die Edle riss dem Beschaffer den Weltenstein aus der Hand und zerschmetterte ohne größere Anstrengung das Gefängnis. »Für Aglirta!«, brüllte der Beschaffer. »Der Sieg ist unser! Die Vier kommen über euch! Gehorcht und ergebt euch, oder seid des Todes!«
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Die Frau fuhr mit einem leisen Schrei der Überraschung aus ihrem Schlummer hoch und blickte sich verdrossen um. All ihre Schutzzauber hatten sich in nichts aufgelöst, und ein paar Schritte von ihr entfernt befand sich ein Weltenstein ... In den Händen von Embra Silberbaum! Die ganze Viererbande hatte sich hier in Ingryl Ambelters Versteck eingefunden! Der Bannmeister schickte mit einem wütenden magischen Befehl den Eindringlingen die ganze Schar der Geschmolzenen entgegen. Unbeholfen setzten die Kreaturen sich in Bewegung, aber in der Beengtheit der Höhle stellten sie ein nicht zu verachtendes Hindernis dar. Da blitzte der Dwaer auf und ließ einen Geschmolzenen in einer Flammensäule aufgehen. Und das mit solcher Wucht, dass Ingryl sich in Deckung werfen musste! Ambelter sog alle Magie ein, welcher er habhaft werden konnte, und fühlte sich so stark wie nie zuvor. Einen Teil davon nutzte er zur Errichtung eines neuen Schildes, um den nächsten Energiestoß abzuwehren. Währenddessen wüteten die Hochfürsten unter den Geschmolzenen. Das Schwert des Hünen fuhr wie die Axt eines Holzfällers zwischen sie. Der Beschaffer hüpfte wie üblich hierhin und dorthin und sammelte unterwegs alle Gegenstände ein, welche Magie zu enthalten schienen. Phelinndar hatte sich in die hinterste Ecke zurückgezogen und versuchte, irgendetwas mit dem Weltenstein zu bewerkstelligen. Ambelter zweifelte an seinem Verstand, als er erkannte,
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was sein Verbündeter dort trieb: Er versuchte, mittels des Steins Verbindung mit jemandem außerhalb der Höhle aufzunehmen! Vermutlich hatte dieses törichte Unterfangen die Viererbande überhaupt erst hierher gelockt! In diesem Moment blitzte der Weltenstein der Fürstin Silberbaum wieder auf und mähte wie eine Sense eine Gasse in die Reihen der Geschmolzenen. Wenn ihr das noch zwei- oder dreimal gelang, würde der Bannmeister schutzlos vor ihr stehen! Bei den Göttern! Das Luder, welches die Hochfürsten mitgebracht hatte, streute Phelinndar gerade etwas ins Gesicht, um ihn zu blenden ... und ihm den Dwaer abzunehmen! In seiner Not schleuderte Ingryl alle Energie, mit welcher er in der letzten Zeit den Fürsten bei der Stange gehalten hatte, in seinen Weltenstein. Und ja! Der Dwaer schien zu explodieren und die Hexe von Kopf bis Fuß zu versengen. Brennend und schrumpfend prallte sie zurück. Phelinndar wimmerte, weil der Feuerstoß ihm ebenfalls die Hände verbrannt hatte. Der Weltenstein fiel ihm aus den Fingern und landete in seinem Schoß. Ingryl ließ seine Verkleidung fahren und raste wie ein riesiger Raubvogel auf die Eindringlinge zu. Dabei kam er dem Riesenschwert des Recken gefährlich nahe. Im allgemeinen Getöse der Schlacht bemerkte niemand den Bannmeister ... und auch nicht Tschamarras Geschrei. Ambelter musste seinen Dwaer erreichen, sonst konnte er sich nicht mehr lange gegen die Viererbande halten. Zwar
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hatte die ihn noch nicht bemerkt, aber das konnte sich jeden Moment ändern ... Schon streckte er die Hand nach seinem Weltenstein aus ... aber die verhasste Fürstin Silberbaum griff ebenfalls danach. Der Bannmeister stieß seinen Schild voran und drängte Embra damit auf Phelinndar. Das Letzte, was der Fürst zu sehen bekam, war Ingryls befriedigtes Grinsen. Dann zerfiel der Verräter, und endlich standen sich Ambelter und die Zauberin gegenüber. Beide mit einem Weltenstein in der Hand. Im fernen Ragalar blinzelte Hulgor Delkamper ungläubig: Sein alter Kumpan schien von einem Energiewirbel davongetragen zu werden. Der Alte griff nach seiner Waffe, aber das Getümmel drang nicht bis zu ihm vor, sondern verging nur einen Moment später ... Der Bannmeister gab sich keiner Selbsttäuschung hin. Einem kampfbereiten Weltensteinträger in Begleitung von Kriegern und Zauberern konnte man nicht ohne weiteres trotzen. Während sich die Energien der beiden Dwaerindim kreuzten und sich gegenseitig den Weg versperrten, gelang es dem Bannmeister, in den Kopf seiner Gegnerin einzudringen. Embra erkannte ihn sofort! »Ingryl Ambelter, Ihr verdammtes Ungeheuer, verschwindet sofort aus meinem Geist!« Tatsächlich gelang es ihr, ihn hinauszuwerfen. Im nächsten Moment sahen sich Hawkril und Craer mit großen Augen an. Die Geschmolzenen rührten sich nicht mehr, und der Beschaffer musste entdecken, dass alle magischen Gegenstände, welche er an sich bringen wollte, zu Staub zerfielen.
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»Er hat uns ein Wildfeld hinterlassen. Damit wir ihm nicht folgen können und seine Spur verlieren!«, brüllte er und sah sich nach den Gefährten um. Tschamarra krümmte sich vor Schmerzen, und Embra kroch auf allen vieren über den Boden. Der Beschaffer eilte gleich zu seiner Geliebten. Die Edle Silberbaum erhob sich nicht, und Hawkril fiel neben ihr auf die Knie. »Herrin, was ist mit Euch?« »Ingryl Ambelter war in meinem Kopf. Der alte Bannmeister der Silberbaums hat versucht, mich mit den alten Zaubern zu versklaven. Er ist stärker denn je!« Huldaerus erwachte aus einem wüsten Rachetraum, weil Magie ihn durchtoste. Dabei handelte es sich nur um den Ausläufer einer gewaltigen Energieeruption. Vor sich erblickte er eine wunderschöne junge Frau, welche sich an seinen Ketten zu schaffen machte, so als wollte sie die sprengen. Er musste immer noch schlafen und nur in einen anderen Traum gelangt sein ... Dann öffneten sich die Ketten klirrend, und Huldaerus fiel ein Stück weit die Mauer hinunter. Wie konnte ein so junges Ding über solche Zauberkräfte gebieten? Vermutlich hatte sich ein mächtiger Zauberer nur das Aussehen einer jungen Frau verliehen. Um nicht erkannt zu werden? Oder um ihn böswillig zu täuschen. Doch als der alte Magier die Schöne näher betrachtete, kam sie ihm irgendwie bekannt vor, wenn auch nur entfernt... Fledermäuse umkreisten fröhlich ihren befreiten Herrn,
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und er lächelte zu ihnen hinauf. Dann wurde er durch Zauberenergie auf die Füße gestellt. Seine so lange gefesselten Beine wackelten bedenklich, aber der Zauber hielt ihn auch gerade und aufrecht. Nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte, sprach er: »Arkle Huldaerus, zu Euren Diensten, edles Fräulein. Oder sollten meine alten Augen mich getäuscht haben?« Die Zauberin lächelte, und der Herr der Fledermäuse schöpfte ein wenig Hoffnung. Doch in diesem Augenblick traf ihn ein harter Energiestoß, und er prallte so hart gegen die Wand, dass er sich die Schulter prellte und eine Rippe brach. Die gleiche unsichtbare Kraft pflückte auch Fledermäuse aus der Luft und zerquetschte sie wie Weintrauben. Als sich bereits ein ansehnlicher Berg von Fledermausleichen auf dem Boden angesammelt hatte, entdeckte Huldaerus, dass sich die Züge des Fräuleins verändert hatten. Ein Totenschädel grinste ihn stattdessen an, und er rechnete fest damit, im nächsten Moment aufzuwachen ... wieder an die Wand gekettet. Er drehte sich langsam zu den Steinblöcken der Wand um, spürte ihre Festigkeit und Kälte. Als Huldaerus wieder nach vorn schaute, war seine Befreierin spurlos verschwunden. Der alte Mann glaubte jetzt zu wissen, was die Fremde ihm hatte sagen wollen: Sie könnte ihn überall aufspüren, die mächtigsten Ketten sprengen und ihn töten, wenn ihr der Sinn danach stand. Huldaerus hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihm noch beschieden war ... Er musste nur so weit wie möglich von Aglirta fort, und das so rasch wie möglich ...
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Tschamarra atmete vernehmlich ein. Am liebsten hätte sie die Hände aus dem eisigen Heilungsnebel des Weltensteins zurückgezogen, aber Craer hielt sie an den Schultern fest, und da wollte sie sich keine Blöße geben ... »Wir sind fast fertig«, verkündete die Herrin der Edelsteine. »Könnt Ihr sie bewegen?« Die Letzte der Talasorn wackelte mit den Fingern, nickte und lächelte tapfer. »Verzeiht, liebste Freundin, aber sie sind viel zu lang und zu schlank geraten. So wie Eure ... ich bin aber kleiner als Ihr.« Embra nickte langsam, bewegte ihre Finger, und Tschamarra biss sich auf die Lippen. Doch als sie wenig später wieder auf ihre Hände schaute, jauchzte sie vor Vergnügen. Die Zauberin lehnte sich zurück und an den zuverlässigen Hawkril, um an seiner breiten Brust zu rasten und neue Kraft zu schöpfen. Nach einer Weile fühlte sie sich ausreichend gestärkt für die nächste Aufgabe. Mit Hilfe ihres Dwaers zerstörte sie einen Geschmolzenen nach dem anderen. »Eigentlich hätten sie mit ihrem Schöpfer untergehen müssen«, murmelte die Edle dabei. »Dass sie aber noch hier herumstehen, beweist, dass Ambelter noch lebt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich lasse nicht zu, dass er sie noch einmal gegen uns einsetzen kann. Seid auf der Hut, Freunde. Der Bannmeister hat in diesem, seinem Versteck gewiss etliche Fallen angebracht.« Sie rief Craer zu sich. »Vergessen wir die zauberischen Gegenstände, welche ja doch unter unserer bloßen Berührung zu Staub zerfallen. Aber Ihr könntet nach Münzen suchen, denn auch Magier müssen gelegentlich etwas einkaufen. Des-
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gleichen nach Edelsteinen und so weiter.« Der Beschaffer machte sich gleich begeistert auf den Weg. Staunend lief er an den Aschehaufen vorbei. »Habt Ihr sie alle vernichtet?«, fragte er voller Bewunderung. »Wohl kaum. Ingryl hat immer schon eine Vorliebe für heimtückische und grausame Fallen gehabt. Halb verhungerte Ungeheuer, halb wahnsinnige Magier, alles Mögliche könnte schon hinter der nächsten Klappe über Euch herfallen ... Wenn ich es recht bedenke, sollten wir uns lieber alle gemeinsam auf die Suche machen.« Craer half seiner Liebsten auf. Die blickte kaum von der Betrachtung ihrer neuen Finger auf und meinte streng: »Jetzt bloß keine flauen Witze, mein Freund.« Karten fanden sich kaum, Schriftrollen noch seltener, und Zauberbücher überhaupt nicht. Zwar entdeckten die Gefährten einiges Beutegut, welches Hawkril und der Beschaffer durchstöberten, aber darunter gab es kaum etwas von Wert. Embra verwandelte die halb fertig geschriebenen Zauberanweisungen in unangenehme Überraschungen für den Bannmeister und jeden anderen, welcher ungebeten seine Nase in diese Dinge stecken wollte. Dann versetzte sie sich und die Gefährten mittels eines Dwaer-Zaubers zurück nach Treibschaum. Kurz nachdem die Vier verschwunden waren, wirbelte die Asche in der verlassenen Höhle auf, und eine junge Frau mit einem Totenschädel als Kopf erschien. Gadaster schaute sich kurz in dem Versteck um, lachte sich über Embras Fallen halb tot und hinterließ dann einen ganz anderen Zauber.
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Einundzwanzig
Gewaltsame Ankunft und Abreise C Die alte Dame seufzte: »Jetzt verstehe ich auch, warum man Aglirta das Land ohne König nennt.« Flaeros sah sich rasch um, ob jemand diese Bemerkung mitbekommen hatte, und fuhr die Dame dann scharf an: »Dies mag nicht unser König sein, weil wir nicht zu Aglirta gehören, aber er ist ohne Zweifel der Herrscher des Reiches. Erweist ihm also die schuldige Achtung!« »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Euer Majestät«, sprach Natha Orele nach einem weiteren Seufzer, »aber mir geht es um die Wahrheit, und die bekommt Ihr von Euren Höflingen sicher nicht oft zu hören.« »Dann erläutert mir bitte, was Ihr mit Eurer Bemerkung vorhin gemeint habt«, entgegnete Raulin. »Schon bei Schneestern war es so, und unter Euch ist es nicht anders geworden: Ständig müsst Ihr in einen Krieg ziehen, und die ganze Zeit über seid Ihr nur auf Abwehr eingestellt. Aber weder Euer Vorgänger noch Ihr habt Euch jemals
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um die kleinen Dinge gekümmert, welche den Menschen das Leben erträglicher machen. Kurz gesagt, der Krieg lässt Euch keine Zeit für andere Dinge. Aber ohne Euer Volk seid Ihr gar nichts. Natürlich müssen erst die Schlangen ausgerottet werden. Doch habt Ihr schon einmal einen Gedanken an die Zeit danach verschwendet?« »Ich, äh ... nein«, gestand der junge König. »Gut, dann hört meinen Ratschlag: An Eurer Stelle würde ich alle Fürsten abschaffen. Setzt überall Tersepten ein, und Ihr selbst reist von Burg zu Burg durch das Stromtal. Aber Ihr gebt nie vorher bekannt, wo Ihr als Nächstes auftauchen werdet. Sprecht mit den Menschen, verschafft Euch ein Bild von ihren Sorgen und Nöten, und arbeitet mit der Kirche zusammen, um den Schlangenglauben außen vor zu halten. Jeder Bittsteller soll das Gefühl erhalten, Ihr kümmertet Euch um sein Anliegen. Solltet Ihr all dies befolgen, wird Euch die Liebe des Volks gewiss sein.« Raulin sah sie mit leuchtenden Augen an. »Bei der Dreifaltigkeit schwöre ich, mich nach diesen Grundsätzen zu richten!« »Vergesst es aber nicht«, ermahnte ihn die Alte. »Die Welt kennt genug Herrscher, welche guten Willens waren und später ihre Versprechungen dennoch vergessen haben.« Raulin wandte sich an den fahrenden Sänger. »Flaeros, wollt Ihr das Amt übernehmen und mich zu gegebener Zeit immer wieder an meine Versprechen erinnern?« Nachdem Delkamper zugesagt hatte, beschloss die Runde,
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sich zur Nacht zurückzuziehen. Für die Edlen wie auch für die Wächter war es ein harter Tag gewesen, und so gähnte der ganze Zug immer wieder und vergaß darüber, in allen Ecken und Nischen nachzuschauen. Craer wachte auf, weil irgendetwas nicht zu stimmen schien. Tschamarra wälzte sich unruhig hin und her, und im nächsten Moment lag sie auf ihm. »Helft mir, Liebster!« Der Beschaffer versuchte, sie festzuhalten, aber sie schüttelte sich so heftig, dass er beinahe aus dem Bett gefallen wäre. »Ich verbrenne!«, stöhnte die Letzte der Talasorn. Der Beschaffer unternahm alles, um sie zu beruhigen. Aber es wurde immer ärger mit ihr. »Ich will ... ich muss ... ich werde ...« »Mich küssen«, sagte Craer und drückte rasch seine Lippen auf die ihren. Zunächst wehrte Tschamarra sich noch dagegen, aber dieses Mittel hatte immer schon eine heilende Wirkung auf sie ausgeübt ... Doch als sie beide sich dem Höhepunkt näherten, erstarrte Craer. Eben löste sich nämlich ein Flämmchen aus dem weit aufgerissenen Mund der Zauberin ... Auch der ehemalige Regent lag mit einer Schönen im Bett und war gerade sehr beschäftigt. Während Indalue und er sich ihren neckischen Spielereien hingaben, schrie die junge Kammerzofe plötzlich auf. »Herr! Hinter Euch!« Der Goldene Greif warf sich aus dem Bett und tastete auf dem Boden nach seinem Schwert. Als er den Griff in der
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Hand hielt, kreischte die Schöne wie von Sinnen. Schwarzgult ruckte hoch und gewahrte eine grinsende Kreatur mit Totenschädel, welche sich gerade über das Bett beugte. Das Ungeheuer hatte schlanke Mädchenhände, welche im Dunkeln glühten, und diese suchten unter den Kissen nach Schwarzgults Weltenstein. Schreiend schlug Indalue nach den fremden Händen. Der Totenkopf zischte, und die Mädchenhände verwandelten sich in Klauen, welche der Schönen das Gesicht zerfetzten. So rasch hatte der ehemalige Regent sich noch nie aufgerappelt. Angespornt von Indalues Angst- und Schmerzensschreien schleuderte Schwarzgult das Schwert in das Gesicht des Ungeheuers und sprang zwischen die Kissen. Schwarzgults Bettgefährtin sank leblos zurück, und das Ungeheuer griff nun den Goldenen Greifen an. Dieser aber konnte den Dwaer dazu bewegen, grüne Blitze auszusenden. Von diesem Feuerwall wurde der Eindringling immer weiter zurückgeworfen. Ein Wandteppich fing Feuer, und in dessen Schein erkannte Schwarzgult, dass das Wesen die Hände hob, um einen Zauber zu wirken. Schwarzgult nutzte die Kraft seines Weltensteins, um einen Spiegel von der Wand zu reißen und auf den Händen des Ungeheuers zu zerschmettern. Ein unmenschlicher Schrei löste sich aus der Kehle des Totenschädels. Schwarzgult triumphierte und wollte seinem Gegner den nächsten Schlag versetzen, als plötzlich ein gelber Nebel auftauchte und ihm die Knie weich wurden. Im nächsten Moment flog die Tür auf, und von draußen ertönte das Geräusch sich entfernender Stiefelschritte. Schwarzgult lag auf dem Boden und hielt krampfhaft seinen Dwaer
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fest. Woher war dieses Totenschädelwesen gekommen? Wohin war es verschwunden? Aber war es überhaupt fort? Eine lilafarbene Feuerwand erschien und schleuderte den Goldenen Greifen gegen die Wand. Die Sinne drohten ihm zu schwinden. Doch da entdeckte er das Wesen mit dem Totenschädel, das auf der Suche nach etwas durch den Raum rannte. Schwarzgult vergaß alles andere um sich herum und machte sich auf die Jagd nach dem Ungeheuer. Hawkril sprang in seine Stiefel, riss das Schwert heraus und ließ die Scheide achtlos fallen. Er rannte los, und Embra mit dem Dwaer in den Händen lief hinter ihm her. Irgendwo vor ihnen erbebte der Palast. Die Zauberin hatte aber schon vorher erkannt, dass irgendwo in Treibschaum ein zauberischer Zweikampf auf Leben und Tod stattfand. Die nächste Erschütterung warf Embra fast von den Füßen. Dann hörte sie Hawkril brüllen: »Aus dem Weg, Untier! Macht Platz, sonst muss ich Euch erschlagen!« Als die Edle um die nächste Ecke bog, fand sie sich in einem Gang mit einer Kammer wieder, welcher jetzt die Tür fehlte. Dafür schössen Rauch und Feuer aus dem Raum. Ihr Vater wehrte sich dort mit dem Mut der Verzweiflung gegen einen noch nicht sichtbaren Feind ... oder? Schaum stand Schwarzgult vor dem Mund, und er hielt seinen Weltenstein so gleichgültig in der einen Hand, als habe er ihn längst vergessen. Jetzt erkannte Embra seinen Gegner: Eine junge Zauberin mit einem glühenden Totenschädel statt eines Kopfes. Und
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auf den Trümmern des Betts lag eine tote Kammerzofe. Hawkril stürmte mit seinem Schlachtruf gegen die Feindin an, diese schleuderte ihm aber einen Zauber entgegen. Als sie sich über Schwarzgult hermachen wollte, stürzten sich die Wachen auf sie. Der Recke brüllte, weil der gegen ihn gerichtete Zauber in eine Wand fuhr und ihn mit Steinbrocken und Trümmern überschüttete. Die Finger der Zauberin sandten Lichtstrahlen aus, und wo ein solcher einen Soldaten traf, brach der schreiend zusammen. Embra richtete ihren Weltenstein auf die Feindin und beschoss sie mit Dwaer-Feuer. Dieses fuhr mitten in einen Bann der Zauberin und ließ sie zurückprallen. Schwarzgult wurde ebenfalls von dem Feuer getroffen, flog an die Wand und verlor dabei seinen Weltenstein. Dieser fiel auf den Boden, wurde weitergeschleudert und kullerte durch die Kammer. Inzwischen hatte Hawkril sich wieder aufgerichtet. Er marschierte mit erhobenem Schwert auf die Feindin zu. Splitter ragten wie Stacheln aus seinen Beinen und aus seinem Rücken. Die Totenschädel-Zauberin war in die Hocke gegangen, erwartete den Hünen und wob ihm zum Empfang einen starken Bann. Embra richtete wieder ihren Dwaer auf die Feindin. Doch sie ließ ihre ganze Wut hineinfließen, und darunter leuchtete auch der zweite Stein auf, welchen Schwarzgult fallen gelassen hatte. So wurde auch die Totenschädel-Zauberin gewahr, wo
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sich der zurzeit herrenlose Weltenstein befand. Um ihr zuvorzukommen, musste Embra sich von ihrem Dwaer auf eine Stelle neben dem zweiten befördern lassen. Schwarzgult schien bereits vollständig den Verstand verloren zu haben. Er wähnte sich nur noch von Feinden umgeben und fiel über die verbliebenen Wächter her. Einen riss er hoch und wirbelte ihn über seinem Kopf durch die Luft. Der Mann ließ erschrocken sein Schwert fallen, und dieses sauste unglücklich auf Hawkril zu und bohrte sich in seine Seite. Der Recke brach zusammen, Embra rief seinen Namen, und schon wurde sie von ihrem eigenen Weltenstein mitten hinein in den Raum befördert. Sie kam auch wirklich dort an, wohin sie sich gewünscht hatte. Doch schon im nächsten Moment riss ein schwerer Körper sie nieder. Ihr Vater hatte den Wächter von sich geschleudert. Woher hätte er auch ahnen können, dass eben dort seine Tochter auftauchen würde? Da erkannte der Greif die Totenschädel-Zauberin und stürzte sich brüllend auf sie. Doch die bückte sich, hob den Weltenstein auf und hielt ihn Schwarzgult entgegen. Gerade als er seine Arme um die Feindin schließen wollte, schlug sie ihm nur mit dem Dwaer an die Brust. Embras Vater flog wie ein weggeschleudertes Möbelstück an die Decke. Die Herrin der Edelsteine erinnerte sich der Zaubermacht der Lebenden Burg und ließ den Boden unter den Füßen der Feindin verschwinden. Die Totenschädel-Zauberin sackte erschrocken ein paar Schritte tief nach unten und wurde dann auch noch von den
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Energien von Embras Weltenstein überschüttet. Der Totenschädel kreischte, vermochte aber, Embras Energien abzulenken. Diese fuhren an die gegenüberliegende Wand, wurden von dort zurückgeworfen und rasten der Feindin in den Rücken. Die Kreatur wand sich unter Schmerzen. Der hinterrücks erfolgte Energieangriff hatte ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, so dass sie ihren Bann gegen die Edle nicht wirksam werden lassen konnte. Embra richtete die Zaubermacht der Lebenden Burg nach oben, und die Feindin wurde aus dem Loch im Boden gerissen. Als die Totenschädel-Zauberin hart gegen die Decke knallte, fiel ihr der Weltenstein aus der Hand. In ihrer Aufregung richtete die Zauberin ihren Dwaer darauf ein, den frei gewordenen einzufangen ... Und das erwies sich als schwerer Fehler. Ein ungeheurer weißer Blitz entstand zwischen den beiden Weltensteinen. Embras Arm war davon wie gelähmt, und der Dwaer ihres Vaters hüpfte Funken versprühend in die nächste Ecke. Dort blitzte er noch einmal ... und war dann verschwunden. In ihrer Wut darüber sandte die Edle der Totenkopffeindin erneut einen Energieschlag entgegen. Doch bevor ihr Bann das Wesen treffen konnte, grinste dieses kalt und hatte sich schon auf ganz eigene Weise aus der verwüsteten Kammer entfernt. Als Embra sich wieder im Griff hatte, versuchte sie, mit ihrem Dwaer dem verschwundenen Weltenstein auf die Spur
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zu kommen. Wenn er sich noch irgendwo in der Nähe aufhielt ... Da traf sie ein schwerer Schlag von hinten, gefolgt von einem tierischen Brüllen. Schwere Hände senkten sich wie Klauen auf ihre Schultern. Die Edle befreite sich eilends aus ihrem Umhang, und der blieb in den Händen des Angreifers zurück. Als sie sich umdrehte, erkannte sie ihren Vater. Schwarzgult wirkte verwirrt, als könne er nicht begreifen, warum er nur eine Hülle in der Hand hielt, nicht aber den Gegner, welchen er eben noch angegriffen hatte. Als er dann aber den Kopf hob und die Zauberin erblickte, wollte er gleich wieder über sie herfallen. Seufzend schloss Embra ihn in einen Käfig aus Dwaer-Energie ein. Geschrei ertönte in dieser Nacht auch in einem Schlafgemach im weit entfernten Varandaur. Hulgor Delkamper fuhr aus dem Schlaf hoch und blickte halb benommen die beiden jungen Mägde an, welche heute Nacht das Bett mit ihm teilten. Links war Nuelara, rechts war ... die andere eben ... und beide starrten auf etwas, das nun auch seine Neugier weckte. Ein Stein, wie man ihn zu Hunderten auf den Feldern im Hochland fand. Nur leuchtete dieser, summte gleichförmig und schwebte einfach so in der Luft. Er griff nach seinem Schwert, und Nuelara floh kreischend aus dem Bett. Die andere Magd aber, deren Name ihm entfallen war, klammerte sich an ihn. Mit einem Ruck konnte Hulgor sich von ihr befreien, hieb mit dem Schwert nach dem schwebenden Stein und brüllte vor Befriedigung, als er gleich beim ersten Mal traf.
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Dann brüllte der Stein auch, das Schwert zerbrach in tausend Scherben, und Hulgor wurde quer durch das ganze Zimmer geschleudert. Zu seinem Glück landete der alte Delkamper inmitten der Kleider, welche die Mägde schon für den nächsten Morgen bereitgelegt hatten. Grollend erhob er sich und kehrte zu dem Bett zurück, über welchem immer noch der Stein schwebte. Hulgor stieg auf das Bett, lief einige Male um den leuchtenden Besucher herum und streckte dann ganz, ganz vorsichtig die Hand danach aus. Stille herrschte in dem zerschmetterten Haus des Magiers Morauntauvar in Sirlptar. Die Sterne zeigten sich anstelle des nicht mehr vorhandenen Daches. Wenig später vernahm der oberste Bannmeister des Reiches, wie Flammen aus dem Körper des Mannes schlugen, welchen er eben getötet hatte. Leider war hier irgendwie alles schief gegangen. Gut, er hatte den mächtigsten Magier von Sirlptar überwinden können. Doch von den Zaubern und Bannen, welche er hier zu gewinnen gehofft hatte, ließ sich nichts mehr entdecken. Alles schien im Feuergefecht zerstört worden zu sein. Ambelter fand ein noch nicht verbranntes Zauberbuch und eine Kugel, welche sein Interesse weckte, und dann wurde er selbst gefunden. Vier Schlangenpriester tauchten auf, und mit ihnen sieben Zauberer aus dem Ort. Doch sie schienen ihn nicht angreifen zu wollen. »Großer Magier von Silberbaum«, begann einer der Pries-
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ter, »hört uns an, denn wir kommen in Frieden.« »Nennt mir einen guten Grund, euch zuzuhören, sonst seid ihr schon im nächsten Moment des Todes!« »Eigentlich wollten wir mit Morauntauvar ins Geschäft kommen«, erklärte der Schlangenanbeter, »aber da Ihr ihn besiegt habt, seid Ihr uns noch willkommener. Würde es Euch gefallen, an seine Stelle zu treten?« »Kommt darauf an, was ihr ihm geboten habt.« »Nun, unsere Brüder waren mit dem Magier übereingekommen, ihm für gewisse Hilfestellungen den Thron von Aglirta anzubieten.« Ingryl zog eine Braue hoch. »Sprecht weiter, das könnte mich unter Umständen reizen.«
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Zweiundzwanzig
Wie man Dwaerindim einsetzen kann C Bei der Dreifaltigkeit«, stöhnte Craer wohlig in seiner Wanne, »ich könnte mich an das Leben als Hochfürst gewöhnen.« Tschamarra lächelte ihn aus dem parfümierten Wasser an. »Ja, Bedienstete haben unbestreitbar ihre Vorteile. Wie wäre es mit einem Becher Wein?« Der zierliche Mann verließ den Zuber und trat an den Beistelltisch. »Wo Ihr schon gerade steht«, murmelte die Schöne, »könntet Ihr mir doch auch den Rücken schrubben.« »Ich vermute, der Rest Eures Körpers sehnt sich auch nach meiner Pflege«, gab der Beschaffer zurück. »Dann will ich mal sehen, was ich für Euch tun –« »Morgen zusammen«, grüßte Hawkril in seiner gewohnt grummelnden Art, und die beiden drehten sich sofort zu ihm hin. »Ich brauche euch. Beeilt euch.« Sie ließ sich von Craer aus der Wanne helfen, und dann folgte das Paar rasch dem Hünen. »Aglirta sollte sich wirklich angewöhnen, vorher anzufragen, ehe es wieder einmal dringend der Rettung bedarf«,
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murrte der Beschaffer. »Es geht nicht um Aglirta, sondern um Embra und ihren Vater. Aber was genau anliegt, weiß ich auch nicht. Deswegen bin ich ja euch beide holen gekommen.« Craer und die Letzte der Talasorn bedeckten sich im Laufen notdürftig mit einigen der hastig zusammengerafften Kleidungsstücke, und vor allem die kaum verhüllte Tschamarra erntete dafür glotzende Blicke seitens der Wächter. Flaeros hielt sich mit sechs Soldaten vor Schwarzgults Gemach auf. Als die drei Hochfürsten um die Ecke gebogen kamen, machten sie ihnen bereitwillig Platz. Die drei traten ein. Hawkril befahl dem fahrenden Sänger, die Tür hinter ihnen zu schließen und geschlossen zu halten. Tschamarra drückte Flaeros etliche tropfnasse Kleidungsstücke in die Hand, welche anzulegen sie nicht die Zeit gefunden hatte. Craer warf dem Sänger seine feuchten Sachen über das Gesicht, weil dem jungen Mann die Augen aus dem Kopf zu quellen drohten. Das Gemach von Embras Vater erwies sich nicht als sehr gepflegt: überall Brandspuren, ein zerfetztes Bett und ein mit Trümmern übersäter Boden. Dazwischen eine abgeschlachtete Frau ... und ein Energiekäfig, in welchen die Zauberin in ihrer Not den rasenden Schwarzgult gesperrt hatte. Embra selbst schien eingeschlafen zu sein, jedenfalls hockte sie zusammengesunken auf dem Boden, während sich der glühende Dwaer neben ihr in der Luft drehte. Der Greif warf einen kurzen Blick auf die Neuankömmlinge, ehe er in seinen Dämmerzustand zurücksackte. »Die Herrin der Edelsteine hat die ganze Nacht über ver-
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sucht, ihm zu helfen, indem sie sich in seinen Geist versenkte«, erklärte der Recke den beiden anderen. »Eigentlich hat sie aber nur Gitterstäbe an seinem Energiekäfig eingezogen ... Irgendwann muss sie dann eingeschlafen sein, und da hat ihr Vater irgendwie die Kontrolle übernommen, jedenfalls von Zeit zu Zeit.« Wie zur Bestätigung seiner Worte ertönte ein leises Klingeln, und die Gitterstäbe des Käfigs verschoben sich kaum merklich. Der ganze Käfig näherte sich ganz sacht der eingeschlafenen Embra und ihrem glühenden Dwaer. »Wer hat das denn jetzt bewirkt?«, fragte der Beschaffer leise, als wage er nicht, laut zu sprechen. »Da Embra schläft und ich das Ding nicht anrühre«, antwortete Hawkril, »muss es wohl Schwarzgult gewesen sein.« Tschamarra, welche sich inzwischen halbwegs schicklich bedeckt hatte, dachte laut: »Möglich, dass die Zauberin das im Traum bewirkt ... oder dass jemand von außen angreift ... jedenfalls hat es zur Folge, dass der Goldene Greif auf irgendeine Weise immer näher an den Dwaer gelangt.« Sie kaute nachdenklich auf ihren Lippen und meinte schließlich beinahe widerstrebend: »Es gibt da einen Zauber ...« »Was ist denn eigentlich mit dem ehemaligen Regenten geschehen?«, fragte der Beschaffer rasch, ehe Tschamarra etwas Unbedachtes unternehmen konnte. »Wir wissen es nicht«, antwortete der Hüne. »Vielleicht hat ihn die Blutpest wieder befallen, was seine Raserei erklären würde ... oder die Totenschädel-Zauberin hat etwas mit ihm angestellt. Die Herrin der Edelsteine hat leider keine Ahnung.« »Embra hat einmal erzählt, sein Geist sei in einem Welten-
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stein-Zweikampf in Mitleidenschaft gezogen worden«, bemerkte die Letzte der Talasorn. »Seitdem setzt sein Gedächtnis immer wieder aus.« Craer baute sich vor dem Käfig auf und rief: »Schwarzgult, alter Knabe, alter Schwerenöter!« Doch der Mann im Käfig schaute weder auf, noch ließ er sich überhaupt irgendwie anmerken, den Gefährten gehört zu haben. Während die drei Gefährten noch hinstarrten, bemerkten sie etwas Merkwürdiges. Der Käfig mit dem Regenten bewegte sich wieder, und ohne jeden Zweifel sah es so aus, dass der Dwaer Schwarzgult an sich zog. Hawkril betrachtete seinen ehemaligen Kriegsherrn mit Tränen in den Augen, ehe er sich an die Letzte der Talasorn wandte. »Habt Ihr vielleicht eine Idee?« »Ich wüsste eine Möglichkeit, in den Geist der Edlen zu gelangen. Wir könnten hineinschauen und feststellen, ob sie immer noch über den Käfig gebietet oder ob eine fremde Macht Besitz von ihrem Vater oder gar ihr genommen hat.« »Worauf warten wir dann noch?«, grollte der Hüne. Die Zauberin hob die Hände, und der Weltenstein fing an zu glühen. Etwas von seiner Energie strömte in Tschamarras Fingerspitzen. Ein Funkenregen folgte, und die Edle fiel aufheulend auf die Knie und hielt sich den Kopf. Als der Beschaffer zu ihr kam und sie festhielt, ließ sie sich gegen ihn fallen. »Geliebte, was ist Euch geschehen?« »Der Dwaer hat mir ... meine gesamte Zauberkraft ... auf einen Schlag ... zurückgeschleudert ...« Wenig später fing der Käfig an zu singen, und es klang, als
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würden Dutzende von Klingeln geläutet. Die drei schauten hin. Ezendor Schwarzgult grinste sie triumphierend an, und dunkles Feuer brannte in seinen Augen. Und er hielt den Dwaer in beiden Händen. »Greif?« »Schwarzgult?« Auf ihre Anrufe hin lächelte er nur noch feister. Der Käfig drehte sich um ihn, und mit einem Mal griffen dessen Gitterstäbe wie Tentakel nach der schlafenden Zauberin. Die glühenden Stäbe rüttelten die Edle wach, und plötzlich verschwand der Weltenstein mitsamt dem Fürsten Schwarzgult. Embra schrie, als sei sie noch nicht recht wach und könne sich noch nicht zurechtfinden. Die Tentakel hielten sie weiterhin im Griff. »Wie kann ich Euch helfen, Herrin?«, rief Tschamarra. »Indem Ihr Hawkril zu mir schickt!« Sie wies den Hünen an, ein langes Seil um sie zu werfen und sie auf diese Weise aus den Gitterstäben herauszuziehen, bis sie eine Wand erreicht habe. »Aber haltet Euch von dem fern, was von dem Käfig übrig geblieben ist!« Der Recke lief durch die Kammer, sammelte halb zerfetzte Wandteppiche ein und riss diese in Streifen. Zusammen mit Craer knotete er diese zu einem langen Seil zusammen. Dann banden sie einen Stein an das eine Ende, um ihm Wurfwucht zu verleihen. Nun schwang der Beschaffer, welcher sich besser mit solchen Hilfsmitteln auskannte, das Seil wie ein Lasso über dem Kopf und warf das Ende schließlich in Embras Richtung. Die Zauberin fing das mit dem Stein beschwerte Ende,
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ehe die glühenden Stäbe es ablenken konnten. Sie zog ein gutes Stück Seil an sich heran und wickelte sich die Streifen mehrmals um den Leib. Auf ihr Zeichen hin zogen Craer und Hawkril gleichmäßig und zügig an dem Seil. Die Herrin der Edelsteine schüttelte sich, duckte und streckte sich, um sich möglichst gründlich von den Tentakeln zu befreien. Nachdem sie eine besonders knifflige Stelle hinter sich gebracht hatte, erreichte sie die Wand und konnte befreit aufspringen. »Nichts wie raus hier!«, rief Embra den Gefährten zu. Die vier Gefährten rasten zur Tür, und hinter ihnen loderten auf den Gitterstäben Flammen auf, und eine ungeheure Hitze verfolgte die Fliehenden. Doch kaum hatten sie den Ausgang erreicht, erstarb der ganze Spuk. Ja, selbst die Gitterstäbe erloschen. »Herrin, was ist hier gerade geschehen?«, wollte der Recke erfahren. Als Erstes warf sie sich in seine Arme, und als sie wieder zu Atem gekommen war, antwortete sie: »Sobald ich etwas berühre, was ursächlich zu diesem Palast gehört, erhalte ich Zugang zu dessen Lebender Magie ... Ich habe sie kurz und bündig dazu gebracht, die gesamte Energie des Käfigs aufzusaugen. Das Ganze hat noch eine angenehme Nebenwirkung: Alle magischen Gegenstände sind jetzt wieder so sehr mit Energie aufgeladen, dass sie uns beste Dienste leisten werden. Und wir benötigen solche Hilfsmittel für die Banne, welche Tschamarra und ich vorhaben.« Sie strahlte den Hünen an. »In seinem Wahn lässt mein
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Vater den Dwaer dauerhaft strahlen, und damit kann ich ihn umso leichter aufspüren.« In einer tiefen und dunklen Kammer schlossen sich Finger, welche zu lang waren, um einem Menschen zu gehören, um einen Steinblock und zogen daran. Der Block ließ sich aus der Wand lösen, und dahinter zeigte sich eine Höhlung. Die zu langen Finger griffen hinein und zogen ein kleines Säckchen heraus. Die Finger wuchsen noch länger und ringelten sich wie Schlangen um das Säckchen herum. Viermal aber griffen sie auch hinein. Danach glühten vier Kristallkugeln auf dem Boden. Jede trug auf der Oberfläche eine Rune, und aus dieser entsprang das Leuchten. Die wurmartigen Finger drückten leicht auf diese Zeichen, und eine Stimme murmelte dazu Laute, welche am ehesten einem zusammengepressten und verdrehten Satz ähnelten. Daraufhin sprühten Farben hervor, und aus diesen erwuchs das Bild eines Mannes mit strengem, befehlsgewohntem Blick. Der Schöpfer lief um die Gestalt herum und betrachtete sie von allen Seiten, obwohl sein Gesicht doch über keine Züge und schon gar nicht über Augen verfügte. Das Wesen mit den Schlangenfingern veränderte sich beim Schreiten und ähnelte immer mehr dem Mann im Bild. Bald war die Ähnlichkeit vollkommen, und das Wesen straffte seine Gestalt und verkündete: »Man heißt mich Jhavarr Bogendrachen!« Danach begab sich der falsche Bogendrachen zu einem Geheimfach in der Wand, zog ein Kästlein hervor und ent-
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nahm ihm einen Stein, welcher unter seiner Berührung aufleuchtete. »Jeder, welcher im Machtspiel um Aglirta mitmischen will, sollte einen Weltenstein besitzen«, lächelte der Koglaur, steckte den Dwaer ein und verließ sein Geheimversteck. Der falsche Jhavarr gelangte in einen ähnlich dunklen Raum, blieb stehen und rief: »Vater? Onkel Dolmur?« Nur völliges, leeres Schweigen antwortete ihm, und so wurde er deutlicher: »Ich bin’s, Jhavarr Bogendrachen, der Sohn des Ithim, und ich freue mich nach langer Abwesenheit auf das Wiedersehen mit der Familie. Wo steckt ihr denn alle?« »Ihr hört Euch aber nicht an wie Jhavarr«, entgegnete eine Stimme unmittelbar hinter ihm, und der Koglaur zuckte erschrocken zusammen. »Ich weiß«, seufzte der Falsche, »und nicht nur sie ist mir abhanden gekommen. Doch beim Kampf gegen den Regenten von Aglirta wurde ich vom Strahl eines Weltensteins getroffen ... Es hat Monate gedauert, bis ich mich wenigstens wieder an meinen Namen erinnern konnte. Doch sagt mir, ich bitte Euch, lebt mein Vater noch? Und ist er wohlauf?« »Ja, er lebt«, teilte Dolmur ihm mit und hob die Hand. Daraufhin vernahm der falsche Jhavarr das Schluchzen eines Mannes. »Mein Sohn«, krächzte Ithim. Vater und Sohn umarmten sich kurz, dann fragte das Familienoberhaupt: »Ihr habt Eure Sippe gefunden, was wollt Ihr nun von uns?«
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Der falsche Bogendrachen senkte das Haupt: »Ich bedarf Eurer Hilfe, Eurer Zauberfähigkeit und Eurer Weisheit ... Denn ich will mich an dem Regenten und am ganzen Reich für das rächen, was man mir angetan hat. Alle Zauberer sollen aus Aglirta getilgt werden!« »Recht so! Wohl gesprochen!«, rief Ithim und wollte seinen Sohn noch einmal umarmen, aber Dolmurs Zauberbann hinderte ihn daran. »Mich deucht«, erklärte der Sippenälteste mit Grabesstimme, »dass solche Unternehmung unseren endgültigen Untergang bedeutet. Dennoch wollen wir nicht davor zurückschrecken. Wenn die Bogendrachen schon ihr Ende erleben sollen, wäre es kein zu hoher Preis, das Reich mit in den Abgrund zu ziehen.« Er stellte sich vor den verloren geglaubten Neffen. »Doch wenn Ihr unser Versteck so leicht finden konntet, dürfte es mit unserer Zaubermacht nicht mehr allzu weit her sein ... Deshalb sollten wir uns zusammensetzen und einen Schlachtplan schmieden. Wir wollen nicht unvorbereitet in den Tod gehen!« »Damit wäre der Untergang des Reiches also beschlossene Sache!«, rief der Koglaur. »Warten wir es erst einmal ab«, erwiderte Dolmur weit weniger eifrig. Die Nebel fielen langsam von ihren Augen ab, und die Gefährten fanden sich in einem Schlafgemach mit hoher Decke wieder. Beherrscht wurde der Raum von einem riesigen unge-
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machten Bett. Eine nackte Frau starrte sie mit großen Augen und noch weiter aufgerissenem Mund an. Schon seit dem Erscheinen der Hochfürsten stieß sie einen Schrei aus, und wenn einer von ihnen sich ein wenig bewegte, schwoll das Kreischen an, als wolle sie die Fensterscheiben zum Bersten bringen. Tschamarra brachte sie mit einem Bann zum Schweigen ... allerdings schlossen sich Mund und Augen nicht. Die anderen machten sich daran, sich von mehreren Seiten dem Schreibtisch zu nähern. An dem hockte ein nicht mehr ganz junger, aber ebenso nackter Mann und starrte auch. Aber nicht auf die Eindringlinge, sondern auf einen glühenden Stein, der vom Tisch gefallen war und vor ihm auf dem Boden ausrollte. Zunächst schien er die Gefährten auch gar nicht zu bemerken, dann aber sprang er unvermittelt auf, bewaffnete sich mit dem Dolch, welcher vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und stürzte sich auf die Hochfürsten. Trotz seines Alters wich der Nackte geschickt Craers Angriff aus, so dass dieser nicht mehr abbremsen konnte, über eine Sitzbank fiel, zu Boden plumpste und auf diesem entlangschlitterte. Dann ging alles sehr schnell: Der Nackte brachte den Dwaer an sich und hielt schon ein Messer an die Kehle des Beschaffers. »Wer seid ihr?«, verlangte er zu erfahren. »Die Hochfürsten von Aglirta«, antwortete Hawkril. »Wir sind gekommen, jenen Stein dort an uns zu bringen. Euch selbst wollen wir nichts tun, ja, wir wissen nicht einmal, wo genau wir uns hier befinden.«
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»Auf Burg Varandaur, in Ragalar gelegen und Sitz derer von Delkamper. Genauer ausgedrückt befindet ihr euch in meinem Schlafgemach, und mich nennt man Hulgor Delkamper. Ein Onkel des Flaeros, von welchem ihr schon gehört haben dürftet.« Er ließ den Beschaffer los, trat an seinen Schreibtisch und legte den Weltenstein darauf. »Warum wollt ihr ihn haben?« »Um das Stromtal gegen die Schlangen zu verteidigen«, antwortete Embra. »Wie seid Ihr denn an dieses Stück geraten?« Hulgor zuckte die Achseln. »Er tauchte eines Tages wie ihr einfach aus dem Nichts auf. Die Magie ist meine Sache nicht, und ich habe seit seinem Auftauchen häufig überlegt, wie ich dieses Ding am besten loswerden könnte. Also gut, dann bitte ich um euer Eröffnungsangebot.« »Was verlangt Ihr von uns?«, fragte die Letzte der Talasorn. Delkamper starrte sie an, als habe er nicht bereits eine Schöne im Bett liegen. »Nun, mich hat das Reisefieber gepackt. Zum einen will ich meinen Neffen Flaeros besuchen, zum anderen noch einmal Treibschaum sehen ... Das Dumme ist nur, dass ich Seereisen hasse. Bei der letzten habe ich tagelang nur über der Reling gehangen. Um die Sache abzukürzen: Wenn ihr mich ins Reich mitnehmt, gebe ich euch den Stein.« Embra versprach ihm das, und er begab sich zu ihr und legte ihr den Dwaer in die Hand. In diesem Moment platzte die Tür auf, und eine Schar bewaffneter Wächter quoll herein. Doch ihren grimmigen Blicken bot sich nichts. Die Viererbande war schon wieder verschwunden, und
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mit ihr Hulgor Delkamper. Und die nackte Schöne im Bett fing unvermittelt wieder an, wie am Spieß zu kreischen. Ezendor Schwarzgult stand auf einem der zerfallenden Balkone des Schweigenden Hauses, von dem kaum mehr als Ruinen übrig geblieben waren. Der Blick des ehemaligen Regenten fiel auf den Friedhof, der sich mittlerweile als überwachsener Irrgarten darstellte. Unvermittelt überkam Embras Vater wieder schwärzeste und röteste Wut. Diese zwang ihn auf die Knie, und er konnte sich in seiner Not nur noch an den zerbröckelnden Steinen festhalten. Als er wieder klarer denken konnte, erhob er sich zitternd und stieg hinauf auf die Zinne, um sich beim Anblick des Silberflusses endgültig zu erholen. »So weit habe ich es also gebracht«, erklärte er dem Strom. »Da stecke ich im Schweigenden Haus, der Grablege aller verrückten Zauberer und Abenteurer, welche Aglirta je hervorgebracht hat, und ringe mit der Blutpest.« Der nächste Anfall kündigte sich an, und er rannte über den Wehrgang. »Wenn die Krankheit mich nur lange genug aus ihren Krallen entließe, dass ich mich an ein Zehntel dessen erinnern könnte, was ich einst gewusst ... so vermöchte ich, mich selbst zu heilen.« Als die Verkrampfungen sich ein weiteres Mal legten, betrachtete Schwarzgult voll Bitternis seinen Weltenstein. »Allein, nicht einmal das vergönnt mir der Schlangen Seuche!« Sein Blick fiel auf die schwarzen Gorcraw-Vögel, welche sich schon in seiner Nähe niederließen. Noch ließen sich die Aasfresser verscheuchen. Doch sie flogen stets nur gerade e-
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ben aus seiner Reichweite. Der nächste Anfall kam, und der Wind riss Ezendor die Worte der Wut aus dem Mund. Danach begab der ehemalige Regent sich rasch wieder nach unten. Vor einem Moment war ihm nämlich wieder bewusst geworden, dass er seiner Tochter den Weltenstein gestohlen hatte. Sie konnte sich ohne den Dwaer kaum noch verteidigen, und er würde hier im Schweigenden Haus sterben. Wie würden die Schlangen ausgelassen um sein Grab tanzen! Er hämmerte mit dem Dwaer auf die löchrige Mauer ein, obwohl man damit einem Weltenstein nicht einmal einen Kratzer zufügen konnte. Keuchend fand Schwarzgult sich plötzlich am Fuß der Treppe wieder. Offensichtlich hatte er schon wieder einen Anfall durchgemacht und nichts davon mitbekommen. Doch wenn er hier schon verrecken sollte, dann nicht ohne Einsatz des Dwaers, schwor sich der Goldene Greif. Als Erstes wollte er feststellen, wer sich außer ihm noch im Schweigenden Haus befand ... wer hier bereits länger hauste und wer sich erst vor kurzem hier eingeschlichen hatte. Der Dwaer zeigte es ihm: Das Ungeziefer, welches sich hier eingenistet hatte ... ein uralter Schatten, der Geist von irgendwem, welcher sich aber selbst nicht mehr an seine Zeit als Lebender erinnern konnte ... Und eine größere Gruppe von Soldaten, welche gründlich eine Kammer ausräumte ... unter dem Befehl von nicht weniger als neun Schlangenpriestern! Dann mal aufgepasst, meine Herren, sprach Ezendor in Gedanken, das Schweigende Haus hat einen tödlichen Ruf zu
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verlieren! Schwarzgult eilte nach unten und hieß diesmal den Wutanfall willkommen. Der Dwaer half ihm dabei, seine Sinne nicht ganz zu verlieren ... »Das auch, Herr?« Der Soldat hob ein Schulterblatt mit halbem Oberarm hoch. An Letzterem hingen zwei eherne Armbänder. »Natürlich, Ihr Trottel!«, fuhr ihn der Schlangenbruder an. »Wickelt das zweifach in Leinen ein, damit es mit nichts von dem in Berührung gerät, was wir bereits in die Truhe gelegt haben.« Der Priester wandte sich an den nächsten Ungeschickten: »He, Ihr da, Elmargh oder wie immer Ihr heißen mögt! Zieht den Block vorsichtig heraus. Ihr zerrt daran herum wie ein Bader an einem kranken Zahn!« Ilmark von Sirlptar, so hieß der Gemaßregelte, lächelte in sich hinein. Er verstand sich auf sein Handwerk. Bis eben hatte er den Mörtel eines bestimmten Stücks Mauerwerk gelockert. Nur noch ein kleines Stück ... und schon konnte er den ganzen Block herausziehen. Der Schlangenpriester heulte hinter ihm vor Begeisterung. »Die Große Schlange hat mich gesegnet!«, schrie der Priester. »Und mir Erkenntnis geschenkt. Platz gemacht! Platz da! Lasst mich sehen, welcher Schatz hinter dieser Mauer verborgen liegt!« Er riss einem seiner Mitbrüder die Laterne aus der Hand und stürmte zu dem Loch. Die anderen Priester schlossen sich ihm an und beglückwünschten und ermunterten ihn.
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Als der Oberpriester den Durchbruch erreicht hatte, wurde ihm doch ein wenig mulmig zu Mute, hieß es doch vom Schweigenden Haus, hier wimmele es von Fallen. Und man hörte ja auch immer wieder wenig appetitliche Geschichten ... Er spähte hinein und atmete einen Moment später erleichtert aus. Auf der anderen Seite lauerten keine tückischen Wächter oder gerade erwachten Ungeheuer. Nur eine Statuette von einem Fürsten, anscheinend aus einem einzigen Rubin geschnitzt! Eigentlich hätte Thraunt, der Oberpriester, jetzt vor Freude ganz aus dem Häuschen sein müssen. Doch am Fuß der Statue störte eine Schrift: BLUT DES HAUSES SILBERBAUM – WISSET ES BESSER! Offensichtlich hatte das angesprochene Fürstengeschlecht diese Warnung nicht befolgt, denn hier waren gar viele der ihren gestorben ... Moment mal, und wenn diese Statue den Ursprung des Fluches darstellte, unter welchem das Geschlecht derer von Silberbaum litt? Er drehte sich zu seinen Brüdern um. »Einer von euch soll herkommen und mir sein Tuch bringen!« Keiner von den Priestern hatte es eilig damit, sich vom Heiligtum der Schlange zu befreien, wie man dieses Tuch nannte. Sie entkleideten sich daher sehr umständlich, und ein jeder hoffte, einer der anderen möge schneller sein. Thraunt nahm sich vor, sie erst später für solche Unbotmäßigkeit zu bestrafen. Der Oberpriester schlang das Tuch um die Statue, brachte
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sie zum Kippen und hob sie aus der Höhlung, ohne sie auch nur einmal zu berühren. Das Kunstwerk fühlte sich schwer an, schien also keine verborgenen Kammern mit hinterhältigen Fallen zu besitzen. Vorsichtig legte der Schlangenpriester diesen Schatz in die Truhe. Erregtes Gemurmel ertönte hinter ihm, als die Brüder zum ersten Mal einen richtigen Blick auf das Stück werfen konnten. Thraunt wandte sich an die anderen Schlangenanbeter. »Hütet diesen Schatz wie euren Augapfel. Ständig müssen ihn zwei von euch bewachen!« Die acht nickten, teils heftig, teils zögernd. Aber Thraunt sah sie so lange an, bis auch der Letzte auf diese Weise seine Zustimmung gegeben hatte. Sorgfältig und behutsam schlang der Oberpriester nun das Tuch um die Rubinstatue, und erst als er kurz aufschaute und sein Blick wie zufällig auf das Loch fiel, entdeckte er den Rauch, welcher dort herauswirbelte ... In seinem ersten Schrecken wäre Thraunt beinahe über die Truhe gestolpert. Zwei Soldaten fingen ihn auf, ehe er hinfallen konnte. Und mehr Hilfe erhielt er nicht, denn die anderen Krieger waren längst geflohen. Der Oberpriester sah wieder zu der Wand ... Und gewahrte Ornaugh, den jüngsten der Brüder, welcher sich dem Loch genähert hatte. Er würgte, presste die Hände an den Hals, gab ein eigentümlich helles Geräusch von sich und brach zusammen. Thraunt konnte sich gerade noch sagen, dass der Jüngling vermutlich Schwierigkeiten mit dem Schlucken gehabt hatte
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... da wurde er schon von den anderen Brüdern über den Haufen gerannt. Als der Oberpriester den Kopf hob, stellte sich ein sonderbares Prickeln in Rachen und Nase ein ... Nein, bei der Schlange! Thraunt sprang auf und rannte zur Tür, auch wenn er husten und würgen musste, weil die Zunge in seinem Mund immer mehr anschwoll. Er versuchte, zu den auf und ab tanzenden Laternen aufzuschließen, welche seinen Brüdern gehören mussten. Doch der Abstand schien sich nur noch zu vergrößern. Da krachte es vor ihm gewaltig, und dem folgte ein Brüllen, welches sich verdächtig nach dem anhörte, was sie alle ... Eine zweite Explosion, und eine Wolke von IlmarkEinzelteilen raste heran. Jede seiner Gliedmaßen suchte sich einen anderen Landeplatz aus. Und jetzt wusste Thraunt auch, woher dieses Getöse stammte ... von einem Bann, den jeder in der Bruderschaft als »Feuer der Schlange« kannte. Aber den beherrschten doch nur die Priester. Verbarg sich vielleicht ein Verräter in ihren Reihen, oder hatte jemand es auf seinen Posten abgesehen und wollte ihn aus dem Weg räumen? Dem Oberpriester fiel in der Eile kein besserer Gegenzauber als die »Rache der Schlange« ein ... die Salve der fliegenden Schlangen, welche sogar von gestandenen Priestern gefürchtet wurde! Ein dritter Knall löste einen weiteren Todesschrei aus, und der Boden wurde mit weiteren Leiberteilen bestreut. Der Verräter musste hinter der nächsten Kurve stecken.
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Thraunt fragte sich, wie lange er warten sollte, bis er um die Ecke stürmte, um seine Geschosse zu verschleudern. Daran, dass es sich um einen tatsächlichen Gegner handelte, konnte kein Zweifel mehr bestehen. Fallen lachten nicht höhnisch, nachdem sie zugeschnappt waren. Bis auf einen kleinen Unterschied: Je länger sein Feind lachte, desto mehr hörte es sich nach dem Gelärme eines Verrückten an ... oder von jemandem, welcher der Blutpest zum Opfer gefallen war. Wenn es sich wirklich so verhielt, brauchte Thraunt nur zu warten, bis der Kranke völlig entkräftet oder gar tot zusammenbrach. Leider gehörte der Oberpriester aber nicht zu den Geduldigsten im Lande. Von jenseits der Ecke ertönte jetzt das Klirren von Waffen. Von weit mehr Waffen, als er Soldaten mitgenommen hatte. Natürlich war Thraunt nicht der einzige Schlangenpriester, welcher sich im Schweigenden Haus nach Schätzen umsehen wollte. Um Spannungen zu vermeiden, war man deswegen übereingekommen, jeder Gruppe einen Tag ungestörten Herumstöberns zuzugestehen. Danach wäre die nächste Gruppe an der Reihe. Der Oberpriester wusste aber, dass sich im Ernstfall niemand an solche Einschränkungen hielt. Vermutlich waren sie auf eine andere Gruppe gestoßen, und statt Worten sprachen nun die Waffen. Und auf der Gegenseite war einer der Blutpest zum Opfer gefallen ... Nach einigen weiteren Explosionen setzten die Schreie
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und Rufe aus. Neugierig kroch der Oberpriester ein Stück vorwärts. Zu seiner Erleichterung war das Gift nicht bis hierher geströmt ... Da kam ein Mann in einem Nachthemd um die Ecke und trug einen leuchtenden Stein vor sich in der Hand. Er streichelte den Brocken wie sein eigenes Kind. Und als er Thraunt gewahrte, lachte er voller Irrsinn und richtete den Stein auf den Schlangenpriester. So erfuhr Thraunt in den letzten Momenten seines Lebens, was es hieß, von einem Dwaer-Strahl getroffen zu werden ... Lachend und schreiend stolperte Schwarzgult durch die Gänge. Mit dem Feuer des Weltensteins hatte er bislang mindestens vier Dutzend Schlangenpriester erwischt. Ezendor lachte zufrieden und gelangte in den Westteil des Palasts. Sein Ende stand bevor, aber wenigstens würde er nicht allein sterben. Drei leuchtende Kugeln tauchten vor ihm auf, und diesen entstiegen drei Männer, von denen er einen schon einmal gesehen hatte ... Jhavarr Bogendrachen, der doch eigentlich längst tot sein musste. Die beiden anderen sahen ihm so ähnlich, dass es sich bei ihnen nur um Verwandte von ihm handeln konnte. »Ezendor Schwarzgult!«, rief der Älteste ihn an, und die beiden anderen fingen sofort an, Banne zu weben. »Ich heiße Dolmur Bogendrachen und habe meinen Bruder Ithim und dessen Sohn Jhavarr mitgebracht. Denn wisset, ein Bogendrachen vergisst niemals, und Ihr seid uns noch einiges schuldig.« Der Goldene Greif warf den Kopf in den Nacken und
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lachte dröhnend. »Und jetzt wollt ihr mich mit dem Leben bezahlen lassen? Was für ein Kitsch! Was für eine Schmierenkomödie!« Er richtete seinen Weltenstein an die Decke, schoss Blitze hinauf und sorgte so dafür, dass diese Versammlung unter einem Regen von Gesteinstrümmern begraben wurde. So war es jedenfalls vorgesehen, aber zu seiner großen Überraschung musste Schwarzgult erkennen, dass Jhavarr ebenfalls einen Weltenstein in der Hand hielt und mit dessen Energie die Trümmerbrocken ablenkte. Ezendor schluckte. Dann war es also doch möglich, mit einem Dwaer den Zauber eines anderen aufzuheben, oder? Er würde es ausprobieren, und sollte es ihn unsägliche Schmerzen kosten. Aber er würde ja ohnehin in kurzer Zeit sein Leben aushauchen. Was für ein Triumph, wenn er in den Himmel aufführe und drei tote Bogendrachen als eine Art Morgengabe mitbrächte! Sein nächster Beschuss, in welchem alle Energie seines Steins steckte, traf das Trio völlig überraschend. Jhavarr, der den Dwaer hielt, wurde von so viel Energie überschüttet, dass er sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte. Die beiden anderen Bogendrachen flogen so hart gegen die Wand, dass ihre Knochen splitterten. Unter dem Eindringen der Energie veränderte sich Jhavarr. Seine Züge zerschmolzen, und übrig blieb ... nichts! Die beiden zerschmetterten Bogendrachen starrten fassungslos auf den Koglaur. »Man hat uns hereingelegt!«, stöhnte Dolmur. »Wir sind des Todes!« Ithim starrte noch auf seinen vermeintlichen Sohn, als
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Dolmur ihm eine Hand auf die Schulter legte und mit ihm an einen anderen Ort verschwand. Lachend nahm Schwarzgult den Koglaur ein weiteres Mal unter Beschuss. Der Gesichtslose sah ihn wütend an und zog es ebenfalls vor zu verschwinden ... leider unter Mitnahme seines Weltensteins. »Soll ich mich nun, da ich siegreich und allein auf der Wallstatt stehe, zum Sterben hinlegen?«, fragte sich der Goldene Greif. Nein, wenigstens noch einen Versuch. Er umgab sich mit einem sehr vertrackten Schutzschild und versuchte ein letztes Mal, sich mit Hilfe des Dwaers selbst zu heilen. Ezendor legte sich auf seinen Umhang und schloss die Augen. Dabei stellte er sich vor, der Dwaer würde niedrig über ihm schweben und ihn umkreisen. »Wenn ich wirklich geheilt werde, bei meiner Seele, was würden die Schlangenpriester sich darüber giften!« Zufrieden grinsend ließ er sich in die Dunkelheit hinabsinken ...
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Dreiundzwanzig
Die Grosse Schlange erwacht C Ingryl Ambelter lächelte das gute Dutzend Schlangenpriester an, das ihn erwartete. Der Unterpriester, welcher ihn hierher geführt hatte, zog sich hastig zurück und schloss die Tür hinter sich. Die Ältesten hockten auf Steinbänken, welche rund um eine erhabene Fläche aufgestellt waren. Auf Letzterer stand der Bannmeister der Silberbaums. Er konnte nur die eine Tür ausmachen, durch welche der Unterling verschwunden war. Zu seiner Linken erhob sich die Statue einer zum Biss aufgerichteten Schlange. Ingryl überprüfte unmerklich, ob es sich bei dieser wirklich um ein Steingebilde oder um eine tödliche Falle handelte. »Wir alle hier bekleiden das Amt eines Schlangenfürsten«, begann der Älteste in der Versammlung, »und damit stehen wir im Rang gleich unter der Großen Schlange. Um Euch unsere Offenheit zu beweisen, will ich nicht verhehlen, dass wir nicht die Gesamtheit der Schlangenfürsten darstellen, sondern nur eine Partei derselben. Denn auch unter uns gibt es verschiedene Ansichten darüber, wie der Großen Schlange am besten zu dienen sei.«
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»Verzeiht mein Unwissen«, entgegnete Ambelter, »aber welche Priester stehen im Range unter Euch?« Ein anderer Ältester ergriff das Wort. »Wir sind aus dem Rang der Oberpriester aufgestiegen. Unter diesen stehen die Schlangenpriester. Denen gehorchen die Schuppenmeister, und unter diesen stehen die Schlangenbrüder oder Unterpriester. Danach kommen noch einige weitere Titel, welche jedoch so tief unter uns stehen, dass ich ihre Bezeichnung längst vergessen habe. Doch muss ich hinzufügen, dass sich unter jeder neuen Großen Schlange das Ranggefüge etwas wandelt.« »Und verstehe ich es richtig«, fuhr der Bannmeister fort, »dass es sich bei euch allen um mächtige Zauberer handelt, welche ihre Kenntnisse sowohl der allgemeinen Magie wie auch den Bannen verdanken, über welche die Kirche der Schlange streng wacht?« »Jawohl. Die Große Schlange besitzt Zugang zu einem großen Schatz von Zaubern, welche man unter dem Namen Thrael kennt. Genauer gesagt, das Erbe des ersten Erzmagiers, welcher den Schlangenglauben begründete und selbst zur Ersten Großen Schlange wurde.« »Wozu genau benötigt ihr nun mich?«, wollte Ingryl wissen. Der Sprecher hob eine Hand. »Lasst mich zuerst eine Einschätzung der Lage geben. Ich bin Caronthom und erste Stimme unseres Rats. Nach den jüngsten Berichten, welche uns vorliegen, hat die Kirche erfolgreich ganz Aglirta mit der Seuche angesteckt. Wir besitzen natürlich das Gegenmittel und verteilen es an
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die Menschen, welche uns wichtig erscheinen. Dank dieser beiden Dinge beherrschen wir nun jeden Ort im Stromtal, von der großen Stadt bis zum kleinen Weiler. Mal unter dem Deckmantel eines uns treu ergebenen Tersepten oder Fürsten, mal offen als Priester.« »Habt ihr dies mit der Unterstützung der anderen Parteien erreicht, oder bekämpft ihr euch untereinander?«, hakte Ambelter nach. »Alle Gruppen verehren aus ganzem Herzen die Kirche. Unterschiede bestehen nur in den Ansichten darüber, wann die Große Schlange kommt und wo wir sie suchen müssen. Über die Ziele und Ansprüche der heiligen Kirche besteht hingegen nicht die geringste Uneinigkeit.« »Aber dann könnten sie doch auch hier bei euch im Rat sitzen, oder?«, fragte der Bannmeister. Der Älteste ließ vor Ingryl eine Karte des Stromtals erscheinen. »Unsere Gegner, wenn ich sie einmal so nennen darf, obwohl dieser Begriff viel zu stark sein dürfte, sitzen in Sirlptar und Telbonter. Auch die Priester in Dranmaer und Ool vertreten andere Ansichten als wir. Dann gibt es da noch den Meister Yedren, welcher beabsichtigt, einen einfältigen Novizen zur Großen Schlange zu küren, welche durch den Rat und ein Netzwerk von Blutbannen beherrscht und gesteuert werden soll.« »Und warum schließt ihr euch dieser Bewegung nicht an?«, wollte Ambelter wissen. »Weil wir der Ansicht sind, dass ein solcher Einfaltspinsel, welcher auch noch von Zaubern eingeschränkt wird, überhaupt keine Aussicht hat, mit dem Thrael umzugehen. Niemals könnte ein solcher die wahre Macht der Kirche in
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Händen halten und bedienen!« »Darf ich dann annehmen, dass die restlichen Oberpriester, immerhin die Mehrheit, eurer Seite anhängt?«, fragte Ingryl. »Und wenn dem so ist, würde ich natürlich gern wissen, wozu ihr dann noch meiner Hilfe bedürfen solltet.« »Ihr sollt uns bei der Suche nach der wahren Großen Schlange unterstützen, uns im Disput mit den, äh, anderen Schlangenfürsten zur Seite stehen und uns natürlich dabei helfen, das Reich endgültig zu erobern. Der Thron in Treibschaum muss unser werden!« »Nach allem, was ich gesehen und erlebt habe«, entgegnete Ambelter, »brauchtet ihr doch nur nach Treibschaum zu spazieren und einen der euren auf den Thron zu setzen. Im ganzen Stromtal gibt es keine Macht mehr, welche euch das streitig machen könnte.« »Nun ja«, erwiderte der Älteste, »einige Fürsten stehen auf unserer Seite, weil sie sich davon Vorteile versprechen, nicht aber aus Glaubenseifer oder Furcht vor der Großen Schlange. Einige haben sogar insgeheim Söldner angeworben, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Auch haben sich in Sirl einige der reichsten Kaufleute zusammengetan, um die Entwicklung im Reich genau im Auge zu behalten und sich, sobald die Gelegenheit günstig erscheint, ein Stück aus dem Reichskuchen zu holen. Die Bauern und Handwerker fürchten uns so sehr, dass sich aus ihnen kaum eine schlagkräftige Truppe aufbauen lässt. Wir sind also dazu gezwungen, uns auf Hilfe von außen zu stützen.« »Ich hatte bislang nicht den Eindruck, als seien eure Schatztruhen auf den Hund gekommen«, sagte der Bannmeister.
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»Das ist richtig«, erklärte der Älteste, »aber wir wollen mit dem Aufbau eines neuen Heeres warten, bis die neue Große Schlange gefunden worden ist. Zu groß erscheint uns andernfalls nämlich die Gefahr, dass ein Söldnerführer die Gelegenheit nutzt und sich selbst auf den Reichsthron setzt. Damit wäre Aglirta nur zu noch mehr Schaden gekommen und würde weiter verarmen.« »Ein weises Wort, wie man es schon lange nicht mehr gehört hat«, nickte Ingryl. »Also gut, wie kann ich die Große Schlange finden? Woher weiß ich, dass ich tatsächlich auf sie gestoßen bin? Woran erkenne ich sie?« »Nun, das ist eher ein Gefühl«, lächelte der Älteste, »eines, welches jeder Priester kennt.« »Verstehe«, meinte der Bannmeister, hielt plötzlich seinen Weltenstein in der Hand und beschoss die Schutzschilde der Ältesten. Binnen weniger Momente war alles vorüber. Die Schlangenfürsten versuchten, Gegenzauber zu weben, zu fliehen oder sich sonst wie zu wehren. Doch vergebens. Sie zerplatzten, einer nach dem anderen, und zerfielen. Als nach Ingryls Eindruck alle vernichtet waren, lächelte er und ließ den Weltenstein wieder in seiner Hand verschwinden. Dann löste Ambelter die Banne an der Tür auf. Die flog gleich auf, und etliche Priester purzelten herein. Diese rannten in der leeren Kammer hierhin und dorthin, schnüffelten den Spuren der verströmten Energie nach und entdeckten schließlich den Bannmeister. Doch bevor die Priester sich sammeln und ihn angreifen konnten, sprach Ingryl zu ihnen: »Die obersten Schlangen-
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fürsten der Kirche haben mir außerordentliche Macht übertragen und sich dann in Klausur zurückgezogen, um eine sehr wichtige Angelegenheit zu beraten.« Er ließ den Blick über die Schar vor ihm wandern. »Ihr untersteht ab sofort allein meinem Befehl, und das bis zu dem Zeitpunkt, an welchem die Große Schlange anders entscheidet.« Ambelter wandte sich nun an den Priester mit dem aufsässigsten Gesichtsausdruck und gebot ihm: »Ihr begebt Euch sofort zu Maskalos und Cheldraem. Sie haben sich ohne Säumen vor mir einzufinden.« Dann zeigte er auf den Nächsten mit Hass im Blick. »Ihr holt mir den Naumun ...« Und so weiter. Der Bannmeister fuhr damit fort, bis alle Versammelten einen Befehl erhalten hatten. Ein Oberpriester aber stemmte die Fäuste in die Hüften und fragte herausfordernd: »Und wer seid Ihr, dass Ihr glaubt, uns gebieten zu dürfen? Kein einziger Schlangenfürst hat sich gezeigt, uns solches zu befehlen! Vielmehr hat er vorhin mir einen Befehl gegeben, nämlich den, Euch genau im Auge zu behalten!« Der Weltenstein des Bannmeisters blitzte auf, und unter dem frechen Priester öffnete sich der Boden wie ein Schlangenmaul. Dieses schloss sich um ihn, und nur noch die obere Hälfte des Mannes ragte aus dem Loch. Das Maul öffnete sich träge noch einmal und verschlang auch den Rest seines Opfers. »Ich hatte gehofft, wir würden auf solch unschöne Maßnahmen verzichten können«, erklärte Ingryl den bleich gewordenen restlichen Priestern. »Nun werdet ihr sicher erkannt haben, dass die Schlangenfürsten mir uneingeschränkte
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Macht übertragen haben. Und nun zieht los und sputet euch. Ich will euch erst mit dem Mann wiedersehen, nach welchem ich euch ausgeschickt habe. Diejenigen, welche noch keinen Befehl erhalten haben, rufen alle Brüder zusammen, so dass ich noch weitere Anweisungen geben kann.« Die Schlangenanbeter hatten es plötzlich sehr eilig. Noch ehe Ingryl sein sattestes Lächeln aufsetzen konnte, war schon niemand mehr da, es zu sehen. Als er allein war, verwandelte er sich und umgab sich mit einigen Schutzzaubern. Danach hatte der großartigste Bannmeister aller Zeiten einen Schlangenkopf auf dem Hals sitzen. Während Ambelter auf die neuen Schlangenbrüder wartete, betrachtete er seine grünen Schuppen im Spiegel und streckte spielerisch die gespaltene Zunge heraus. Sein Plan sah furchtbar einfach aus: Wenn er – schön einen nach dem anderen – alle Schlangenfürsten umbrachte und als Einziger übrig blieb, konnte es ihm doch wohl kaum verwehrt werden, als nächste Große Schlange anerkannt und angebetet zu werden. Die Nebel fielen von ihnen ab, und die Welt hatte sich wieder einmal deutlich verändert. Die Gefährten standen in einem Raum mit hohen Fenstern und leuchtend poliertem Marmorboden. Nachdem die Wächter sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, nahmen sie vor den Hochfürsten und dem Mann in ihrer Mitte Haltung an. »Seid gegrüßt, Braeros«, sprach die Zauberin ihren Offizier
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an. »Wo finde ich Seine Majestät?« »Im südlichen Söller, Herrin«, antwortete der Mann, »zusammen mit dem Herrn und der Dame Delkamper.« Auf dem Weg zum Südflügel murmelte Hulgor vor sich hin: »Dame Delkamper? Hat der Schlingel denn geheiratet? So ein Satansbraten! Und sagt uns kein Sterbenswörtchen davon!« Die meisten Diener und Mägde erwiesen dem Besuch die hohe Ehrerbietung, aber Craer fiel auf, dass einige von ihnen danach einen anderen Weg einschlugen ... Endlich erreichten sie den Söller, wurden auch von den Wächtern vorgelassen und erblickten die drei am Ende eines langen Tisches. »Flaeros, alter Halunke!«, rief Hulgor, und der Jüngling fuhr hoch. »Onkel Hulgor?« Die beiden fielen sich in die Arme, um den Hals und wieder in die Arme. Dann packte der Ältere den Jüngeren und trug ihn wie ein Kind zu der Dame, welche ebenfalls am Tisch saß. Diese, es handelte sich um die Edle Orele, streckte ihm huldvoll ihre Hand entgegen, der Onkel aber riss sie von ihrem Sitz und presste sie an sich, bis sie keine Luft mehr bekam. »Lasst mich endlich los, Ihr Grobian! Wisst Ihr nicht, dass man vornehmen Damen Achtung erweisen muss ... und nicht in einem solchen halb nackten Lumpenaufzug vor ihnen erscheinen darf? Ihr musstet wohl aus dem Bett einer Schönen fliehen, weil der Ehemann früher als erwartet heimkehrte, was?« Als Hulgor sie noch immer nicht herunterlassen wollte
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und sie immer wieder »Alte Krähe« nannte, beschloss die Dame, ein wenig nachzuhelfen. Unter normalen Umständen reichte sie ihm kaum bis an die Schulter. Aber nun befanden sich ihre Schuhe auf einer Höhe mit seinen edelsten Teilen. Ein leichter Tritt genügte, und er stellte sie rasch wieder auf die Füße. »Ich darf Euch darauf hinweisen«, erklärte Orele danach, »dass man mich in der Öffentlichkeit nicht mit ›Alte Krähe‹, ›Spinatwachtel‹ oder ›Giftspritze‹ anzusprechen hat. Desgleichen vergleicht man mein Gesicht nicht mit einem ungemachten Bett und kommt auch sonst nicht auf die Falten in meinen Zügen zu sprechen.« Bevor Hulgor etwas darauf entgegnen konnte, stellte Flaeros ihn rasch dem König vor. »Oh, dann seid Ihr Raulin. Erfreut, Euch kennen zu lernen«, sagte sein Onkel. »Seid mir in Treibschaum willkommen«, grinste der Jüngling. »Ich darf hoffen, dass Ihr diesen Aufzug nicht als neue Mode bei Hof einführen wollt.« Die Herrin der Edelsteine trat vor, nachdem sie Craer mit einem mahnenden Blick zum Schweigen gebracht hatte. »Fürst Hulgor, damit hätten wir unseren Teil der Abmachung erfüllt.« »Ja, das habt ihr«, entgegnete Hulgor und schien wirklich froh zu sein. »Meine Herren, meine Dame«, wandte Embra sich nun an ihre Gefährten, »auf uns wartet noch einiges an Arbeit.« Sie zeigte ihnen ihren Dwaer. »Suchen wir also den Weltenstein meines Vaters!« Die Hochfürsten scharten sich um sie herum, und die
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Zauberin versetzte sich in einen geistigen Dämmerzustand. Nach einigen Minuten rief sie: »Ich habe den ehemaligen Regenten zusammen mit seinem Dwaer gefunden – im Schweigenden Haus!« »Das überrascht mich wenig«, brummte Hawkril. »Irgendwie hätte ich es mir ja denken können«, murmelte die Edle, »dass wir wieder an jenen Ort gelangen und dort womöglich unser Abenteuer beschließen.« Craer zuckte die Achseln. »Wir sollten ganz dorthin ziehen. Ein bisschen Farbe und ein paar neue Vorhänge, und das Haus sieht aus wie neu.« Embra verzog das Gesicht. »Ihr scheint vergessen zu haben, dass das Schweigende Haus Mitgliedern der Silberbaumfamilie geistige Umnachtung beschert.« »Da kann es bei Euch ja nicht mehr viel Schaden anrichten«, entgegnete der Beschaffer. Nachdem sie sich gestärkt und einige von ihnen ihre Kleidung ergänzt hatten, verkündete die Herrin des Hauses Silberbaum: »Fürst Hulgor, seht es uns bitte nach, wenn wir Euch nicht auch noch dorthin mitnehmen. Aber wir reisen nun an einen Ort, an welchem uns Fallen, Ungeheuer, Gift und ein Wahnsinniger mit einem Stein wie diesem hier erwarten. Vergebung, Herr, aber Ihr würdet dort keine sechs Herzschläge lang überleben.« »Dann müsst Ihr mir aber versprechen, mich bei Eurer Rückreise aufzusuchen und mir alles genauestens zu berichten.« »Gern«, versprach Embra, stellte sich mit den Gefährten zusammen, hielt den Dwaer in die Mitte, und die Zauberin,
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ihre Gefährten und der Weltenstein verschwanden in Nebelschwaden. Der Dunst wirbelte auf und sank in sich zusammen, und die Viererbande fand sich in einem großen, dunklen Saal wieder. Embras Stein blitzte auf, und ganz in der Nähe antwortete ein weiterer Dwaer mit einem Glühen. Der zweite Stein drehte sich in einer endlosen Schleife um einen Mann, welcher nackt auf einem auf dem staubigen Boden liegenden Kleiderbündel lag und schlief: Schwarzgult, der ganz genauso aussah wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatten. Bei jedem Aufflammen der Dwaerindim glomm die Luft um den schwebenden Stein herum für einen Augenblick auf und ließ die Umrisse eines großen bogenförmigen magischen Schildes erkennen. »Er hat sich in Trance versetzt«, erkannte Embra. »Vielleicht heilt er sich ja gerade selbst. Und er hat sich mit einem mächtigen Schildzauber umgeben. Wir warten besser, bis er wieder erwacht.« »Meint Ihr denn, er vermag sich selbst zu heilen?«, fragten die drei anderen. »Ich hoffe nur, dass es sich bei demjenigen, welcher irgendwann erwacht, immer noch um meinen Vater handelt ... und nicht um einen ganz anderen ... Wir sollten an den Eingängen dieses Saales Wache halten.« »Haben die Schlangen ihm das angetan?«, wollte Tschamarra wissen, nachdem die beiden Männer zu den Türen gegangen waren. »Ja, eindeutig. Nun kommt, wir wollen die anderen Eingänge mit einem Bann versiegeln.« Die beiden Frauen trafen den Hünen vor einem Gang an.
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»Hier hat man wohl die Tür vergessen«, erklärte dieser. »Vielleicht solltet Ihr eine herbeizau–« Sein letztes Wort ging in einem zischenden Surren unter. Ein Dutzend oder mehr Schlangenpfeile kamen durch den Gang herangesaust. Diejenigen Geschosse, welche gegen Schwarzgults Abwehrschild prallten, verkohlten sofort zu Asche. Doch die anderen umschwirrten die Gefährten wie lästige Insekten. Embra und die Letzte der Talasorn hielten den Weltenstein gemeinsam, und eine Flammenwand stieg auf und bewegte sich auf die kleinen Biester zu. Brennend stürzten die meisten der Schlangen ab, doch noch immer waren welche übrig geblieben. Craer sprang in die Luft und zerlegte eine mit zwei Messern in mehrere Teile, wie es kein Metzger besser gemacht hätte. Hawkril erwischte die letzte, hieb sie mit seinem Schwert aus der Luft und zerstampfte sie dann mit seinem Panzerschuh. Schon einen Moment später flog nicht weit von ihm ein Teil der Wand auseinander, und aus dem Staub, welcher dort aufstieg, stürmten mit wildem Geschrei Schlangenpriester herbei. Voller Kampfeswut sprang der Beschaffer ihnen entgegen. Ein Bogenschütze wurde auf den Angreifer aufmerksam und zielte mit seinem Bogen auf ihn. Die Zauberin erledigte ihn mit einem Energiestrahl mitten ins Gesicht und wirbelte gleich herum, um den Weltenstein auf ein verwachsen aussehendes Ungeheuer zu richten, welches gerade wuchtig und schwerfällig durch das Loch in der
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Wand kroch. Die Bestie hielt kurz und mit verwundertem Gesichtsausdruck an ... und stampfte dann weiter vorwärts. Sie war mindestens so groß wie ein Pferdefuhrwerk und an der Unterseite mit Knochenplatten gepanzert. »Was ist denn das?«, schrie Tschamarra und wich vor dem Untier zurück. »Alles zurück!«, rief die Herrin Silberbaum. »Mir gefällt das nicht ...« Aus dem Staub, welcher aus dem Loch in der Wand aufstieg, schob sich ein zweites Ungeheuer und glitt durch die Reihen der Schlangenpriester. Ein grüner Schimmer umgab die neue Bestie ... äußeres Anzeichen dafür, wie sehr man sie mit Zauberkraft aufgeladen hatte. Als die Energie die Kämpfer traf, stöhnten diese und brachen zusammen. Craer schob sich unter seinem Gegner hervor, dem aus mehreren Wunden Blut strömte, steckte seine Messer wieder ein und krabbelte zurück zu Embra. Ein Priester jagte dem Beschaffer hinterher. Hawkril fand einen ausreichend großen Trümmerbrocken und warf diesen dem Verfolger an den Kopf. Der Schlangenanbeter überschlug sich in der Luft. »Ich weiß nicht, was das ist«, stöhnte Craer rau, als er die Zauberin erreichte, »aber seine magische Energie lähmt einen ... raubt alle Willenskraft ...« Er sackte zusammen und blieb liegen. Tschamarra nahm der Edlen den Dwaer ab, hielt ihn ihrem Geliebten an die Schulter und heilte seine Verletzung. Der Recke deutete auf das erste Ungeheuer, welches sich langsam, aber stetig immer weiter in den Raum schob. Die
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Schlangenpriester folgten im Schutz des Knochenpanzers, hüteten sich aber davor, in die Nähe der stämmigen Stummelbeine zu kommen. »Ein Dargauth«, erläuterte der Hüne, »ein schwerfälliges Ungetüm, das sich kaum schneller als jetzt vorwärts bewegen kann. Seht seine Scheren, damit kann es leicht einen Krieger zerschmettern. Und schaut den grünen Brei auf den Rändern. Mich deucht, dort hat man ihm zusätzlich eine Giftpaste aufgetragen.« »Ich würde sogar sagen, es handelt sich dabei um Erreger der Blutpest«, warf die Letzte der Talasorn ein. »Wollen wir es vernichten?« Embra nickte grimmig. Die beiden Frauen schossen die gesamte Energie des Weltensteins auf das Panzerungeheuer. »Hierher, ihr Fräuleins!«, rief der Beschaffer aufgeregt dazwischen und zeigte auf die Angreifer, welche sich an der Bestie vorbeigeschoben hatten. Die Zauberin richtete den Strahl auf eine Gruppe Priester, welche gerade einen Zauber bewirken wollten, und die Energie setzte den rieselnden Staub zwischen ihnen in Brand. Craer schüttelte den Kopf. »Diese Schlangenheinis scheinen sich doch tatsächlich im Schweigenden Palast häuslich einrichten zu wollen!« Hawkril deutete auf das zweite Ungeheuer und erklärte: »Ein Sarath aus den Sümpfen. Sie müssen ihn mit Bannen gezähmt haben. Bei dem grünen Licht, welches von ihm ausgeht, handelt es sich tatsächlich um einen Zauber. Dieser lähmt unsereinen und schickt kleinere Wesen sofort in tiefen Schlaf.
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Ich habe ein solches Untier erst einmal gesehen, weiß aber, dass es nur ans Fressen denkt und wir für es nicht mehr als Nahrung sind.« »Wie herzig«, bemerkte Tschamarra und hatte dann einen Einfall. »Gibt es für uns irgendeine Möglichkeit, diese beiden Wesen dazu zu bringen, einander zu bekämpfen?« »Wohl kaum, solange sie von den Priestern gesteuert werden«, antwortete Embra und fügte nachdenklich hinzu: »Es würde mich allerdings auch nicht verwundern, wenn es sich bei diesen beiden Bestien in Wahrheit um verwandelte Pestkranke handelte.« Die Untiere kamen immer näher, und die ihnen folgenden Schlangenanbeter heulten schon in Vorfreude auf den sicher geglaubten Sieg. Die Herrin der Edelsteine nahm den Dwaer in beide Hände. »Tretet alle dicht an mich heran. Ich versuche, einen Schild um uns zu erzeugen ...« Einen Moment später glühte die Luft vor den Gefährten auf. Die beiden Monstren schlugen mit den Vordertatzen und Scheren dagegen, als fühlten sie sich von der Schildenergie angegriffen. Der Sarath richtete sich schließlich auf, als wolle er über das Hindernis klettern, aber in Wahrheit öffneten sich an seinem Bauch viele Mäuler, welche in den Energieschild bissen. Dann donnerte und krachte es hinter den Hochfürsten, als sei dort der Weltuntergang ausgebrochen. Sie flogen an die hintere Wand und hörten nur noch das Geschrei der Schlangenpriester. Sie richteten sich dort auf, kamen aber nicht weiter, weil eine unsichtbare Kraft ihren Schild festhielt ...
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Die beiden Ungeheuer lagen aufgeplatzt da, und zwischen ihnen verstreut die zerschmetterten Priester. Schwarzgult lag noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten, hatte aber inzwischen die Augen geöffnet und schrie aus Leibeskräften. Ein endloser, gleich bleibender Ton von ungeheurer Lautstärke, der jedoch weder auf- noch abstieg. Eine junge Frau, welche nicht mehr als ein schwarzes Nachthemd am Körper trug, schwebte über ihm. Eine ihrer Hände lag auf seinem Weltenstein, während ihr Blick die Gefährten keinen Augenblick losließ. Eine atemberaubende Schönheit, umspielt von langem, rabenschwarzem Haar, die nur über Embras Bemühungen lachte, den Schild in eine Lanze umzuwandeln und damit nach der Feindin zu stechen. Gleichzeitig drückte der Schild die Hochfürsten immer fester an die Wand. Die Herrin der Edelsteine richtete all ihre Kräfte dagegen, und es gelang ihr, den Schild vorwärts zu bewegen. Hawkril und Craer packten ihre Waffen fester und stürmten gegen die Frau vor ... Da blitzte der Stein in der Hand des Goldenen Greifen auf, und die feindliche Zauberin verschwand. Gleichzeitig hörte der endlose Schrei Schwarzgults ohne Vorwarnung auf. »Vater? Vater!«, schrie Embra und rannte zu dem ehemaligen Regenten. Boazshyn von Ool war verdammt schnell, aber nicht schnell genug. Er starb genau so wie vor ihm der Schlangenfürst Yedren. Ingryl grinste, als Boazshyn sich in öligen Rauch auf-
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löste. Er konnte kaum glauben, wie viel Erfolg ihm bereits beschieden war. Mit dem Dwaer erledigte er einen Schlangenzauberer nach dem anderen und nahm ihre Energie in sich auf. Vielleicht war dies ja der vorgezeichnete Weg, um zur neuen Großen Schlange zu werden. Womöglich musste man nur eine ungeheure Menge an Zaubermacht in sich aufnehmen. Und Ambelter fühlte sich bereits stärker als je zuvor. Selbst der Schlangenkopf auf seinen Schultern fühlte sich so an, als sei er schon immer dort gewesen. Einer der Unterpriester klopfte an und verkündete mit zitternder Stimme: »Herr, hier draußen sind etliche Fürsten eingetroffen, welche Einlass begehren.« Der Bannmeister rief den ersten herein, und der Unterpriester sorgte dafür, dass nur dieser Durchlass fand, während die anderen keine Gelegenheit erhielten, einen Blick in die Kammer zu werfen. In vielen Jahrzehnten um den Raum gelegte Banne sorgten dafür, dass man nichts belauschen und keinen Blick hinein erhaschen konnte. Rauldron, der Zauberer, welcher nun eintrat, war also wirklich ahnungslos und deswegen ebenfalls dem Untergang geweiht. Ambelter lächelte den gut aussehenden Oberpriester an, welcher ihm fragend entgegenblickte. »Willkommen, Fürst Rauldron«, grüßte Ingryl, »tretet näher, auch wenn Ihr mich vielleicht noch nicht kennt. Caronthom und Raunthur haben mir den allerheiligsten Auftrag erteilt. Ihr wisst, wovon ich spreche. Und zur Durchführung die-
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ses Auftrags muss ich mit allen führenden Priestern zusammenkommen.« Das war wirklich zu einfach, sagte sich der Bannmeister, und kehrte seinem neuesten Besucher den Rücken zu. Wenn er sich wieder umdrehte, würde Rauldron so stehen, dass ein kurzer Weltensteinstrahl genügen sollte, um ... Ein Feuerstoß traf Ingryl, zerriss seine Schilde und schleuderte ihn zwischen die Bänke. Doch zu seinem Glück hielt er ja längst den Dwaer in der Hand. Als er hochkam, grinste der Schlangenfürst ihn an ... und sandte ihm aus seinem eigenen Weltenstein den nächsten Energiestoß entgegen. Für einen Moment glaubte Ambelter, nicht mehr die angenehmen Züge Rauldrons, sondern die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels vor sich zu sehen. Ingryl umgab sich mit Dwaer-Feuer, um die Geschosse seines Gegners abzuwehren. Er drehte sich immer schneller, und tatsächlich prallten die Feuerkugeln ab und flogen in alle Richtungen davon. Doch sein eigener Energiestoß ging noch hoffnungsloser daneben. Ambelter wusste jetzt, dass er Gadaster vor sich hatte. Er ließ sich fallen, errichtete rasch einen stärkeren Schutzschild und nahm seinen Feind erneut unter Beschuss. Doch in Wahrheit flogen nur wahllos Geschosse auf Gadaster zu, einzig zu dem Zweck, diesen abzulenken. Sein Feind machte sich jetzt daran, die Kammer Stück für Stück auseinander zu nehmen. Als die Tür aus den Angeln gerissen wurde, bekamen die ahnungslos draußen wartenden Priester mit, dass etwas nicht
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stimmte. Sie fühlten sich von Gadaster angegriffen und wehrten sich gegen ihn. Dies wiederum nutzte Ingryl, um sie einen nach dem anderen umzubringen und ihre Energie in sich aufzunehmen. Der Bannmeister spürte so viel Macht in sich, dass es ihn taumeln ließ ... und mit einem Mal meldete sich in seinem Kopf die Stimme eines Gottes zu Wort. INGRYL AMBELTER, IHR KENNT MICH, SO WIE ALLE MENSCHEN MICH KENNEN. »Ja, Dunkler ...« IHR HABT NUN GENUG ENERGIE IN EUCH AUFGENOMMEN. MEIN KOMPLIMENT. VON NUN AN DÜRFT IHR DIE GROSSE SCHLANGE SEIN, WENN EUCH SO VIEL DARAN LIEGT. Der Thrael öffnete sich Ingryl, und er fühlte sich inmitten eines Stroms von Macht. Gadaster sandte ihm weiterhin seine Geschosse entgegen, doch die richteten bei ihm keinen Schaden mehr an, kitzelten ihn höchstens. Darum ging es also bei der Großen Schlange, sagte sich Ambelter. Man musste sich nicht mehr um irgendwelche Steine balgen, nein, man gelangte mitten in lebendes Gewebe aus reiner Magie ... Die dunkle Stimme verließ seinen Kopf, und Ingryl richtete sich zur vollen Größe auf. So fühlte es sich also an, die Große Schlange zu sein ... Mit laut widerhallendem Lachen beschoss er seinen Widersacher und alten Lehrmeister mit reiner Energie. Niemand, noch nicht einmal ein Weltenstein, dürfte das überle-
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ben. Die gegenüberliegende Wand zerplatzte, die Decke regnete herab, und Sonnenlicht drang zum ersten Mal in die Kammer. An der Stelle, wo sich eigentlich Gadaster hätte befinden müssen, schwebte ein kleiner Gegenstand. Ingryl lächelte. Sein Feind war geflüchtet und hatte das hier zurückgelassen, so wie er selbst es auch getan hätte. Ein Wildfeld! Wenn jemand versuchen sollte, mit seinem Weltenstein den Dwaer Gadasters aufzuspüren, würde er dank dieses kleinen Gegenstands aufs Geratewohl irgendwohin geschleudert werden. Aber wenn Ambelter nun die Thrael-Energie dagegen setzte ... Nach einiger Überlegung kam er von dieser Idee ab. Sicher, mit Hilfe der neuen Energie in ihm könnte er die Suche innerhalb der unendlich vielen Möglichkeiten auf wenige Stunden verkürzen. Aber wer wusste schon, wozu Gadaster diese wenigen Stunden nutzen würde? Und auf der anderen Seite, warum sich überhaupt mit diesem alten Trottel mit dem neuen Mädchenkörper aufhalten? Als Große Schlange hatte er doch für alles, was dieser Totenkopf an Waffen einsetzen mochte, höchstens ein mitleidiges Lächeln übrig. Ihn bewegten jetzt ganz andere Dinge ... Ingryl Ambelter wuchs und wuchs, aus dem zerstörten Tempel hinaus und weiter gen Himmel, bis er auch äußerlich eine Große Schlange darstellte!
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Als er so gewaltig geworden war, dass er das ganze Stromtal überblicken konnte, öffnete er das Schlangenmaul zu einem Riesenschrei. Dank sei dem Thrael. Als ihm das lebende Energienetz wieder einfiel, vergaß er darüber alles andere. Die Riesenschlange schrumpfte, bis sie nicht mehr zu sehen war. Nackt und bloß stand Ingryl Ambelter inmitten der Fetzen seiner Kleidung und hatte sich ganz in den Wundern des Thrael verloren. Er hielt den blitzenden Weltenstein in der Hand und hatte keinen Blick übrig für die Schlangenpriester, welche die Verwüstungen in ihrem Tempel überlebt hatten. Alle Anbeter der Großen Schlange fielen vor ihm auf den Bauch, verhüllten ihr Antlitz und wagten vor Ehrfurcht keinen Laut von sich zu geben.
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Vierundzwanzig
Gestaltwandler und Geheimnisse C Wabernde Nebel vergingen, und die Viererbande fand sich im Thronsaal von Treibschaum wieder. Zusammen mit Ezendor Schwarzgult, welchen Hawkril wie ein Kind in den Armen hielt. Als die Wachsoldaten die Zauberin Silberbaum erkannten, beruhigten sie sich rasch wieder, und ihr Hauptmann erkundigte sich nach dem Befinden des ehemaligen Regenten. »Er bedarf nur der Ruhe«, versicherte Embra ihm, auch wenn sie es besser wusste. Aber was sollte es nützen, die Menschen hier kopfscheu zu machen? Ihr Vater schien zwar nicht mehr unter der Blutpest zu leiden, aber dafür war er zu oft Dwaer-Beschuss ausgesetzt gewesen, und das hatte sein Gehirn angegriffen. Wenn er wach war, erkannte er die Hochfürsten nur gelegentlich wieder, und aus seinem Gebrabbel wurde man beim besten Willen nicht schlau. Die Gefährten hatten die königlichen Gemächer schon fast erreicht, als links und rechts von ihnen Türen aufflogen und
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Bewaffnete ihre Bogen auf sie richteten. König Raulin Burgmäntel zeigte sich hinter ihnen und schrie: »Dort sind sie! Ergreift die Verräter! Alle, die treu zum Thron stehen, stürzt euch auf diese Elenden!« Craer sauste wie ein Wiesel davon, und die Bogenschützen waren viel zu langsam, um ihn noch zu erwischen. Embra starrte den jugendlichen König für einen Moment fassungslos an und versetzte dann mit Dwaer-Energie allen Soldaten und auch Seiner Majestät eine Backpfeife. Tschamarra trat neben sie, damit sie gemeinsam den Weltenstein besser einsetzen konnten, und Hawkril legte den Goldenen Greifen auf den Boden und stellte sich schützend vor ihn. Die erschrockenen Soldaten hatten sich wieder erholt und feuerten die erste Pfeilsalve ab. Eigentlich hätten Embras Zauber die Geschosse mitten in der Luft einfrieren müssen, und zunächst sah es auch ganz danach aus. Doch da blitzte etwas an Raulins Kehle auf, und alle Banne der Zauberin waren zunichte gemacht. Der junge König verfügte über einen Dwaer! Der Edlen blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Palast selbst, mit der Lebenden Burg zu verbinden. Und hier, nahe dem Thronsaal, erwiesen sich diese Energien als besonders stark. Die Pfeile fielen zu Boden, ohne Schaden anzurichten, und die Züge des jungen Königs zerschmolzen, bis von seinem Gesicht überhaupt nichts mehr übrig geblieben war ... »Ein Koglaur!«, schrie Tschamarra. »Ein Gesichtsloser gibt sich als Seine Majestät aus!«
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Beide Weltensteine beschossen jetzt einander, und es sah ganz so aus, als wolle keine Seite nachgeben. Die Soldaten stürmten weiter gegen die Gefährten an ... Nur einige sahen den Gesichtslosen scheel an und zögerten. Hawkril schwang sein Riesenschwert und spürte ein leichtes Ziehen an der Seite. Ein Blick dorthin belehrte ihn, dass Schwarzgult einen seiner Dolche herausgezogen hatte und den Wächtern entgegenrannte. Embra biss unter der Anstrengung des DwaerindimKampfes die Zähne zusammen. Es ging nicht anders, sie musste sich noch einmal mit der Lebenden Burg verbinden. Der Boden fing an zu rumpeln und brachte alle zu Fall, auch den Hünen. Da traf sie ein Streifschuss aus dem Weltenstein des Koglaur. Doch zu früh freute sich der Gesichtslose; denn schon schlug der Bann der Zauberin zu. Ein Regen von scharfen Marmorscherben aus dem Boden ging auf ihn nieder. Der Koglaur gab alle Verkleidung auf und schützte mit seinen Tintenfischarmen den Dwaer vor den Trümmern. Embra nutzte die Gelegenheit, riss den Boden ein weiteres Mal auf und ließ ihren Gegner in ein Verlies fallen. Tschamarra schickte ihm den Steinregen hinterher ins Loch. Der Koglaur aber zerblies die Scherben mit der Energie seines Dwaer und brachte dann eine ausreichend lange Strecke des Bodens zum Einsturz, um ihm als Rampe zu dienen, über welche er wieder nach oben gelangen konnte. Als vielbeiniges Untier krabbelte der Gesichtslose nun nach oben – und sah sich einem aufs Äußerste erzürnten Ezendor
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Schwarzgult gegenüber. Der Goldene Greif hieb und stach sofort auf die Bestie ein. Der Gestaltwandler nutzte die Überzahl seiner Tentakel, um sie um den Brustkorb und den Hals des ehemaligen Regenten zu wickeln. Tschamarra entdeckte, dass es schlimm um Embras Vater stand, und schickte ihm Hawkril und Craer zu Hilfe. Die hackten auf die langen Arme ein und zersägten sie. Der falsche Raulin schleuderte ihnen das ganze Wirrwarr seiner Tentakel entgegen und vermochte sich auch wirklich für einen Moment zu befreien. Den Beschaffer schleuderte dieser Angriff gegen die Wand, aber der Recke und der Greif stürzten sich sofort wieder ins Getümmel. Der Koglaur richtete sich wie ein Drache vor den beiden Kämpfern auf, und neue Mäuler mit scharfen Zähnen wuchsen aus seinem Hals. Mittlerweile hatte aber auch der letzte Wächter begriffen, auf wessen Befehl sie gehandelt hatten. Von allen Seiten rasten dem Ungeheuer Pfeile entgegen. Es versuchte, seine neuen Köpfe dadurch zu schützen, dass es ihnen Schuppen wachsen ließ, und von denen prallten die Pfeile wirkungslos ab. Zwei Mäuler verbissen sich in Schwarzgults Waffen, und ein drittes versuchte, dem Mann in die Brust zu beißen. Tschamarra schleuderte einen Blitz auf den Gestaltwandler, und von den drei Mäulern stieg Rauch auf. Die Zauberin Silberbaum blieb ebenfalls nicht untätig. Diesmal ließ sie Steine von der Decke regnen. Doch der falsche König wehrte sich mit seinem Weltenstein dagegen, und
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wieder rangen beide Dwaerindim um die Vormachtstellung. Überspült von Blut und anderen Körpersäften, hieben die beiden Kämpfer immer noch gewaltig auf das Gewirr von Tentakeln und anderen Gliedmaßen ein – galt es doch, das Herz des Koglaur zu treffen, ehe er sich ein weiteres Mal verwandeln konnte. Tschamarra unterstützte die beiden, indem sie Feuer auf die abgetrennten Körperteile schickte, damit der Gestaltwandler sie nicht mehr benutzen konnte und so immer weiter geschwächt würde. Nun aber schlangen sich einige Tentakel um Schwarzgults Beine, rissen ihn hoch und warfen ihn auf seine Tochter. Embra war so damit beschäftigt, ihre Dwaer-Energien und die der Lebenden Burg miteinander in Einklang zu bringen, dass sie davon erst etwas bemerkte, als ihr Vater auf ihr landete. Die beiden purzelten über den Boden davon, und der Koglaur brüllte seinen Triumph hinaus. Er drehte sich rasend schnell mit seinem Weltenstein um die eigene Achse, und Blitze fuhren in allen Stahl, welchen die Männer bei sich hatten, sei es als Panzer oder als Waffe. Dieses Getöse wollte der Gestaltwandler nun nutzen, um die Flucht zu ergreifen. Doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn eben kam Hulgor Delkamper um die Ecke gelaufen und bohrte dem Feind gleich sein Schwert durch Tentakel und zurückweichendes Fleisch. Flaeros und der echte König folgten dem Mann dichtauf und gingen den Koglaur gleich mit ihren Waffen an. Der Gestaltwandler stürzte sich sofort auf den wahren Raulin.
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Zu dumm für Flaeros’ Onkel, dass er sich zwischen dem Ungeheuer und dem König befand. Während er unter dem Gewicht des Koglaur erdrückt zu werden drohte, gelang es ihm, sein Messer zu ziehen und damit auf den Gegner einzustechen ... wieder und wieder und wieder ... Craer hatte den Gestaltwandler längst von hinten angesprungen, rannte an dessen Hälsen hoch, schleuderte seine Dolche hierhin und dorthin und hatte nur ein Ziel ... den Weltenstein des Koglaur. Eine Woge blauen Blutes überschwemmte Hulgor, und der Gestaltwandler schrie. Der Dwaer war für den Beschaffer zum Greifen nahe, und ... Im nächsten Moment war der Feind verschwunden. Craer landete unvermittelt auf seinem Hinterteil und kam neben Hulgor zu liegen. Der König sah sich mit sorgenvoller Miene um und befahl: »Die Waffen nieder. Das gilt für alle!« Embra kniete längst neben ihrem Vater, der auf dem Boden lag und das Bewusstsein verloren hatte. Die anderen Hochfürsten gesellten sich zu den beiden. »Wie geht es ihm?«, fragte Hawkril. »Seine körperlichen Wunden werden schnell heilen, aber sein Verstand ...« Hawkril legte einen Arm um sie, und der König erschien mit den anderen. Nachdem Raulin sich bei allen erkundigt hatte, wie sie die Schlacht überstanden hatte, schlug er vor: »Wollen wir nicht eine Liste derjenigen Personen erstellen, welche nachweislich einen Dwaer besitzen?« »Nun, da wäre zunächst einmal ein gewisser Koglaur mit vielen Mäulern und Tentakeln«, begann der Recke.
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»Und einen anderen hält ein gewisser Magier in den widerlichen Händen, welcher einst als Bannmeister des Hauses Silberbaum seine unrühmlichen Dienste verrichtete«, ergänzte die Letzte der Talasorn. »Den dritten besitzt Embra«, meldete sich auch der Beschaffer zu Wort, »und den vierten hatte einmal Schwarzgult an sich gebracht, ehe eine junge Zauberin mit langem schwarzen Haar ihm diesen entriss. Vielleicht hat uns da aber auch nur dieser Gestaltwandler in einer uns bislang unbekannten äußeren Form genarrt.« »Also wissen wir bei zwei Steinen mit Gewissheit, wer sie in Händen hat«, schloss die Zauberin, »und bei den beiden anderen haben wir zumindest eine Vermutung.« »Mit dem kleinen Unterschied«, bemerkte Tschamarra, »dass wir Aglirta retten, aber alle anderen den Untergang des Reiches wollen.« »Wollt ihr den Tod der Viererbande und den Untergang des Reiches?«, fragte der Herr der Fledermäuse streng. Dolmur Bogendrachen winkte ab und zeigte Huldaerus seine leeren Hände. Ithim, der sich in einem üblen Zustand befand, hinkte heran und schüttelte den Kopf. »Gut«, sprach der Herr der Fledermäuse, »dann dürft ihr bleiben.« Als Huldaerus sich in Bewegung setzte, konnte er ebenfalls ein leichtes Hinken nicht verbergen. »Die Welt hat mehr Schaden durch Narren genommen, welche dem Reich Übles wollten, als durch alle Kriege und Aufstände. Wenn ihr mir versprecht, nichts gegen Aglirta oder mich zu unternehmen, führe ich euch an die Stelle, von der aus ich
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die Ereignisse im Stromtal und auf Treibschaum zu beobachten pflege.« Die vielen Fallen, das ewige Dämmerlicht und die auch ansonsten unheimliche Atmosphäre im Schweigenden Haus schreckten Besucher und Neugierige ab. Dennoch hausten in seinem Innern allerlei Wesen, die ein solches Versteck als ganz kommod empfanden. So fand hier zum Beispiel schon seit Jahren ein Einzelgänger unter den Koglaur Unterschlupf. Wer ihm im Weg stand, den brachte er um, gleich ob Mensch oder Gesichtsloser. Doch nie zuvor war er so unter Schmerzen durch die feuchtdunklen Gänge geschlichen. Mochte er sich auch noch so oft verwandeln, keine Gestalt konnte ihm die Pein nehmen. Der Dwaer in seiner Hand glühte und heilte seine Wunden, aber so langsam, so schrecklich langsam. Ja, der Einzelgänger musste sich in Geduld üben, und das wohl noch für eine ganze Weile. Er erreichte eine Tür, hinter welcher er sich in aller Ruhe verbergen konnte. Oder die Stufen zum Turm der Geborstenen Krone hinaufkriechen, wo er noch mehr Abgeschiedenheit finden würde ... allerdings auch Schwärme von Vögeln mit ihrem Gebalze, Gepiepe und ihrem ständigen Kacken. In diesem Moment glühte der Weltenstein so hell auf, dass seine Hände versengt wurden. Fassungslos starrte der Gestaltwandler auf die Rauchfäden, welche von seinen Fingern aufstiegen. Ein paar Atemzüge später trat eine Frau mit schwarzem Haar und noch dunklerem Gewand hinter einer zerbroche-
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nen Säule hervor, trat zu ihm und nahm ihm den Dwaer ab. »Ihr hättet schon seit Jahrhunderten tot sein sollen«, sprach die schöne Fremde, »ausgerottet wie Eure ganze Brut.« Sie hielt jetzt in jeder Hand einen Weltenstein, und als beide im Einklang summten, feuerte sie beide auf den Koglaur ab. Doch dieser Gestaltwandler war ebenso alt wie listig. Er wob bereits einen ganz besonderen Zauber. Zwar konnte er damit nicht verhindern, von den Energiestrahlen getroffen zu werden, aber ein blaues Wabern floss entlang der Schussbahnen zurück und verbreitete sich über die Wände. Die Dwaerindim summten unregelmäßig und abgehackt, und das löste bei Gadaster doch einige Besorgnis aus. Aber davon konnte er sich nicht von seiner Aufgabe abbringen lassen. Die schöne Hexe beschoss den Koglaur, bis von diesem nur noch Asche übrig geblieben war. »Bei der Dreifaltigkeit, was ist das?«, rief Hawkril und glaubte, verbrennen zu müssen. Embra lag halb auf ihm und hatte ihn mit ihren langen Fingernägeln gekratzt, bis er aufgewacht war. Doch nicht diese Wunden brannten, sondern die bloße Berührung von Embras Haut löste dieses Gefühl bei ihm aus. »Ich bin gerade in einem Feuermeer geschwommen«, teilte sie ihm noch ganz aufgeregt mit, und der Dwaer an ihrem Hals glühte so wie immer, als sei alles in bester Ordnung ... Der Greif regte sich heftig und befreite sich mit den Beinen von seiner Decke. Die beiden schauten nach ihm und entdeckten, dass er ebenso stark schwitzte wie sie selbst auch.
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»Was ist mit dem Beschaffer und Tschamarra?«, fragte der Recke. Das Gesicht der Zauberin wurde wieder leer, wie es immer geschah, wenn sie in Gedanken Verbindung mit jemand anderem aufnahm. Nach einem längeren Moment sah sie ihren Geliebten an. »Die beiden haben den gleichen Traum gehabt und glauben, es handele sich dabei um eine Warnung von den Göttern. Aber das kann ich mir nicht vorstellen –« »Die Große Schlange ist zurückgekehrt«, erklärte Hawkril in einer plötzlichen Eingebung, »und deswegen dürfen wir auch einen neuen Drachen erwarten.« Flaeros Delkamper wachte schreiend auf, brüllte mehrmals »Feuer!« und glaubte, in einem Meer von Flammen unterzugehen. »Ganz ruhig, mein Junge«, sprach Hulgor und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Bei allen Göttern, er glüht ja! So ein Fieber ist mir mein Lebtag noch nicht untergekommen!« Besorgte Mienen beugten sich über den jungen Sänger, und König Burgmäntel hielt eine Laterne. »Schafft alle Mägde und Wächter raus«, knurrte der Onkel. »Der Junge braucht einen Heilkundigen und sonst nichts.« Während Raulin versuchte, ihm diese Wünsche zu erfüllen, wandte Hulgor sich wieder seinem Neffen zu, der eben erwachte. »Wir müssen zu Orele«, bestimmte der Onkel, nahm seinen Neffen hoch und warf ihn sich wie einen Sack Getreide über die Schulter.
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Der ganze Zug setzte sich in Bewegung, und der Onkel wunderte sich ein ums andere Mal, wie heiß Flaeros sich anfühlte. Jemand eilte voraus, und als sie vor Oreles Tür anlangten, stand diese ihnen bereits offen. Die Alte erwartete sie in einem Sessel und mit einem Gehstock in der Hand. »Hulgor, legt den Jungen auf das Bett, und dann besorgt Seiner Majestät einen Stuhl. Danach schmeißt Ihr alle anderen raus und verriegelt hinter ihnen die Tür.« Der König sorgte dafür, dass die Anordnungen der alten Dame befolgt wurden. »Hört, Gewitterziege«, begann der Onkel in seiner liebenswürdigen Art, »der Junge erwachte mit dem fürchterlichsten Fieber und schrie –« »Ihr habt recht getan, ihn gleich hierher zu bringen, alter Knurrhahn. Und nun besorgt Seiner Majestät und uns etwas zu trinken.« »Ihr hattet einen Traum«, erklärte die Alte nun dem fahrenden Sänger. »Besorgt Euch nicht um Fieber und innere Hitze, die vergehen bald wieder.« »Herrin«, entgegnete Flaeros, »ich stehe schon seit längerem unter dem Eindruck, dass Ihr zu den Weisen gehört ...« »Endlich einmal ein Delkamper, der nicht wie gewisse andere mit vollständiger Blödigkeit geschlagen ist.« Der König und der Onkel rückten näher, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was die alte Frau nun verkünden würde. »Bevor Ihr fragt, seid versichert, dass ich nicht einer Hexe im landläufigen Sinne entspreche. Ich küsse weder Kröten, noch tanze ich nackt bei Mondenschein, noch zaubere ich
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Leuten eine Warze an die Nase. Auch kann ich nicht auf einem Besen reiten, und ich braue auch keine Liebeszauber, nicht einmal auf Geheiß des Königs. Dafür vermag ich einige andere Dinge, welche hier aber nichts zur Sache tun. Habe ich damit Eure erste Neugier gestillt und kann nun auf das Wesentliche zu sprechen kommen, junger Freund?« Flaeros nickte, und Orele fuhr fort: »Also, Ihr seid heute Nacht schreiend aus dem Schlaf erwacht, Flaeros. Nun, das ist zur gleichen Zeit mindestens zwei Dutzend weiteren Menschen widerfahren, von denen sich die meisten im Stromtal aufhalten dürften.« »Deckt uns doch bitte alles auf«, bat der jugendliche König. »Trotz Eurer jungen Jahre dürftet Ihr bereits erfahren haben, dass Weise niemals ihr gesamtes Wissen preisgeben. Und wo wir gerade dabei sind, was hat man Euch noch beigebracht. Was versteht man zum Beispiel unter dem Arrada?« »Die Gesamtheit der Magie auf Darsar«, antwortete Raulin sofort. »Sehr gut«, lobte Orele. »Nun, zwei Wesen stellen mit ihrer Gegenwart die beiden Enden des zauberischen Energiestroms dar: Die Schlange und der Drache. Ihr und einige andere habt von Feuer geträumt. Feuer nun steht als Symbol für einen von beiden.« »Für den Drachen!«, entfuhr es dem fahrenden Sänger. »Richtig«, lobte die alte Frau. »Wann immer eine Große Schlange auftaucht, bei der es sich für gewöhnlich um einen Magier handelt, welcher sich vollkommen dem Bösen ver-
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schrieben hat, findet sich auch ein Drachen. Ohne den einen gibt es keinen anderen. Der Barde Tanathavur hat einmal gesungen: ›In der Nacht des Feuers ich brannte, nahm teil an der Geburt des Drachen.‹« »Ja, und dann wurde er zum Drachen!«, flüsterte Flaeros. »Dann wurde er am Himmel über dem Silberstrom erschlagen ... von dem Magier Garaunt, welcher die geflügelte Schlange ritt.« Der junge Delkamper schüttelte mehrmals das Haupt und fragte dann noch leiser: »Heißt das etwa, ich werde der neue Drache?« »Nicht unbedingt«, antwortete Orele. »Wenn Ihr als Einziger diesen Traum gehabt hättet, bestünde eine große Wahrscheinlichkeit dafür ... Euer Majestät, erlasst doch bitte morgen den Befehl, dass sich jeder hier melden soll, der in der vergangenen Nacht einen ungewöhnlichen Traum gehabt hat.« »Mir wird bei allem ein wenig unheimlich«, gestand Raulin. »Habt Ihr als weise Frau vielleicht einen Rat, was ich nun tun soll?« »Verheiratet Euch«, drängte sie ihn. »Aber stellt sicher, dass Ihr die Richtige gefunden habt. Schwängert sie gleich und zeugt zwei Kinder. Das eine davon übergebt Ihr mir, damit ich es in aller Abgeschiedenheit großziehen kann. Und sorgt Euch nicht, ich werde es lieb haben, als wäre es mein eigenes.« Raulin Burgmäntel sah sie mit großen Augen an und nickte. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass er am ganzen Körper zitterte.
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»Was für Geheimnisse«, flüsterte die Kammermagd Faerla und hob den Kopf von dem Schlüsselloch der Tür, welche ihre Kammer mit den Gemächern der Dame Orele verband. Ihre Genossin Lameira nickte. Die beiden Frauen standen nahe genug beieinander, dass Faerla trotz der Dunkelheit das Nicken ihrer Gefährtin wahrnahm.
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Ein Drachen über Treibschaum C Habt ihr alle meine Befehle verstanden?«, fragte Ambelter in die Runde. »Und auch, was demjenigen widerfährt, welcher sie nicht befolgt?« »Ja, Große Schlange«, antworteten sie unterschiedlich laut und überhaupt nicht einstimmig. »Dann zieht nun hinaus, meine Schlangenfürsten, und sammelt alle Pestkranken zusammen, welche sich noch nicht in ein Untier verwandelt und auch noch nicht dem Irrsinn anheim gefallen sind.« Die Priester verließen den Raum. Sie alle hatten gespürt, dass dieser Schlangenköpfige – Ingryl gefiel sich in diesem Äußeren immer mehr – mit dem Thrael in Verbindung stand. Also konnte es sich bei ihm nur um die neue Große Schlange handeln. Nur seine neuen engsten Vertrauten blieben zurück. Er trug ihnen auf, was für sie zu tun sei. Als Ambelter ganz allein war, schritt er stolz auf und ab. Vom Bannmeister des Reiches zur Großen Schlange der
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Welt – ein beachtlicher Aufstieg. Mit dem Dwaer würde er sich im Stromtal von einem Punkt zum anderen befördern können, von einem Signalfeuer zum nächsten. Seine Priester waren zu ihren Städten und Dörfern unterwegs. Auch sie bewegten sich mit Hilfe der Magie, und mit der Zauberkraft des Thrael würden sie auch die neuen Truppen zusammenziehen und nach Treibschaum befördern. Ambelters engste Vertraute, ein Dutzend besonderer Priester, würden sich voraus in den Palast begeben und dort untertauchen. Wenn dann die Armee der Pestkranken anrückte, würden diese Priester den Abwehrbann von ihnen nehmen, auf dass die Krankheit mit voller Wucht ausbräche und die braven Bürger sich in reißende Bestien verwandelten. Ingryl lachte laut bei dieser Vorstellung. Was hatten der König und seine wenigen Getreuen schon dagegen aufzubieten? Die Große Schlange hatte sich in die Halle des Schlängelns begeben, eine Grube mit stufig abfallenden Seiten und Schlangendarstellungen an den Wänden. Die Abbildungen trugen Edelsteine als Augen, und ihre Schwänze ragten in den Raum hinein. Ingryl lächelte immer noch. Die Große Schlange? Nichts als ein leerer Titel. Aber der Thrael ... er war jede Sünde und sogar den Verlust der Barmherzigkeit der Götter wert. Ein Diener brachte ihm Wein. Ambelter schickte ihn dann gleich fort. Er brauchte sich nicht umzusehen, um festzustellen, dass er sich hier ganz allein aufhielt. Oder dass niemand
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gerade durch die Spionlöcher spähte. Dies alles und noch viel mehr gewährte ihm der Thrael! Wenn er gewusst hätte, was es mit diesem Magienetz auf sich hatte, hätte er schon viel früher alle Schlangenpriester getötet, welche ihm zum Erwerb desselben im Weg standen. Dann hätte er sich nicht so lange in seiner Höhle unter dem Flussufer verkriechen müssen. Und nicht mehr lange, dann würde ihm auch der Thron von Treibschaum gehören! Seine getreuen Priester würden dann jeden verbliebenen Zauberer im Reich aufspüren und erschlagen. Und auch die in Sirl und überhaupt auf der ganzen Welt. Zufrieden mit sich und dem Schicksal spazierte Ambelter auf den Balkon hinaus, welcher sich am Ende der Halle befand. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, als nicht weit von ihm auf einem Hügel ein Feuer aufloderte. Das erste Signalfeuer. Ingryl sprang aus dem Stand auf die Brüstung, genoss das Gefühl, ein wenig über dem tödlichen Abgrund zu schwanken, und sprang. Der Dwaer trug ihn fort ... In der Halle des Schlängelns trat eine junge Frau in einem schwarzen Gewand aus einer Nische unweit des Balkons. Langes rabenschwarzes Haar floss von ihrem Totenschädel. Gadaster trat hinaus, sah die Reihe von Feuern und verfolgte für einen Moment, wie immer mehr von ihnen aufleuchteten. »Das habt Ihr also vor. Nun, auf dieses Spiel verstehe ich mich auch. Treibschaum, ich komme!«
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»Bei den Klauen des Dunklen!«, keuchte der König. »Nimmt das denn überhaupt kein Ende?« »Zurück mit Euch, Raulin!«, grollte Hawkril. »Schon ein verirrtes Messer kann Euch den Rest geben. Beschützt lieber Orele. Wir haben hier schon mehr als genug zu tun, da können wir uns nicht auch noch um Euch Sorgen machen.« Bevor der König widersprechen konnte, packten ihn schon einige Wächter an den Schultern und drängten ihn in Richtung Tür. Währenddessen ging die Schlacht mit unverminderter Heftigkeit weiter. Überall blitzte Embras Weltenstein auf und beleuchtete immer wieder für einen kurzen Moment die Masse der entfesselten Angreifer. So weit das Auge reichte, strömten die irrsinnigen Bürger heran. Mochten sie sich auch immer wieder untereinander bekämpfen, ihrer schieren Masse waren die Soldaten nicht gewachsen. Einer nach dem anderen sanken die Palastwächter zusammen, niedergemacht von einem Feind, dem das eigene Leben völlig gleichgültig zu sein schien. Nur an den engsten Stellen durften die Verteidiger hoffen, sich länger halten zu können. Und immer noch mehr von den Bauern und Handwerkern, Geschäftsleuten und Hausfrauen strömten heran. Sie trugen richtige Waffen, Handwerksgeräte und Bauernwerkzeug, ja, mitunter griffen sie mit bloßen Händen an. Überhaupt hatten sie alles dabei, womit man einem Menschen Verletzungen beibringen oder ihn töten konnte. Kammer um Kammer, Saal um Saal, Gang um Gang wur-
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de von den Verteidigern aufgegeben. Den Soldaten war durchaus bewusst, wie viel vom Palast sie schon dem Feind überlassen hatten. Als die Wächter den König aus dem Thronsaal führten, drang graues Licht durch die Fenster, und jetzt wussten die Verteidiger, dass sie die ganze Nacht hindurch gefochten hatten. Der jüngste Dwaer-Beschuss der Zauberin drängte die Woge der Angreifer zurück, und die keuchenden, erschöpften Verteidiger stellten überrascht fest, dass der große Thronsaal für den Moment leer war und ihnen somit eine Verschnaufpause vergönnt war. Ein junger Wächter mit einer bluttriefenden Klinge in der Hand schrie, man solle die Türen verbarrikadieren. »Nein! Nein!«, hielt der Recke dagegen. »Das ist eine Falle! Wenn wir uns hier einschließen, sind wir des Todes!« Er beriet sich mit den Gefährten und befahl dann: »Wir schlagen uns zur Schildhalle durch. Dort finden sich Vorratskammern, und dort gibt es nur einen Hintereingang zu schützen, nämlich die Kellertreppe!« Die verbliebenen Hauptleute sammelten die Reste ihrer Truppen ein. Auch die anderen Gefährten trieben die Wächter an, und Hulgor strahlte über das ganze Gesicht, nachdem er sich so viel Blut aus den Zügen gewischt hatte, dass man ihn wieder erkennen konnte. »So viel Spaß habe ich mein Lebtag noch nicht gehabt!«, krächzte er. »Ich dachte, auf meine alten Tage müsste ich nur noch mit den Verschlüssen an den Gewändern der Mägde ringen!« »Wir haben es mit der Schlangenpest zu tun!«, erwiderte
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Hawkril. »Schon mehrmals mussten wir von ihr Befallene bezwingen, aber so etwas wie heute Nacht haben wir noch nie erlebt.« »Und wer sagt, dass uns überhaupt noch eine weitere Nacht bleibt?«, brummte ein Soldat. Da flog eine Tür auf, und ein sehr großer Mann in einer von Blut rot gefärbten Rüstung stampfte herein. Ehe die Soldaten ihn mit ihren Waffen angehen konnten, klappte er sein Visier hoch. »Eure Magie hat wieder einmal gewirkt, Tochter!«, rief Ezendor Schwarzgult aus der Rüstung. »Ich bin wieder ganz ich selbst und fühle mich wie neugeboren. Aber jetzt verratet mir doch einmal, wer von euch Narren all dieses Gesindel hereingelassen hat. Den ganzen Weg von der unteren Waffenkammer bis hierher ist mein Schwert nicht zur Ruhe gekommen!« Ein Höfling kam hereingerannt und störte den Redefluss des Greifen. »Hochfürst Craer Delnbein schickt mich. Er wünscht dringend, die Herrin Embra an seiner Seite zu sehen!« »Was ist denn jetzt schon wieder?«, stöhnte die Zauberin. »Hat er nicht mehr genug Taschen, die er sich beim Plündern voll stopfen kann? Oder erweist sich eine der Mägde doch nicht als so willig, wie er geglaubt hatte?« »Mit Verlaub, aber das glaube ich weniger, Herrin. Er rief aus seinem Gemach, dass etwas mit der Edlen Talasorn nicht stimme.« »Bin schon auf dem Weg«, erklärte die Herrin der Edelsteine und befahl drei Soldaten, sie zu begleiten. Den anderen Bewaffneten riet sie, sich Hawkril anzuschließen und sich mit
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ihm zur Schildhalle zurückzuziehen. »Und nehmt auch die Dame Orele und Seine Majestät dorthin mit. In diesem Palast wimmelt es noch zu sehr von den Tobsüchtigen.« Der Recke ließ die Männer noch etwas rasten und brach dann mit ihnen auf. Von draußen hörten sie schon die Geräusche anstürmender Pestkranker. »Wer ist da?«, fragte eine Stimme streng, und schon erschien in der Ritze zwischen den Flügeltüren eine Schwertklinge. »Die Zauberin Silberbaum«, antwortete Embra. »Jetzt öffnet endlich, oder soll ich mit meinem Weltenstein nachhelfen?« Eine andere Stimme mischte sich ein und schimpfte die erste einen »Blödian«. Dann hörte man, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. »Dank den Göttern, dass Ihr gekommen seid, Herrin«, verbeugte sich der zweite Wächter und führte die Neuankömmlinge durch den Salon zum Schlafgemach. Dort hielt der Beschaffer Wache. »Nur die Herrin der Edelsteine darf herein. Der Rest soll sich an den Tisch setzen und stärken.« Nachdem Embra eingetreten war, schob Craer die Bettvorhänge beiseite. Dahinter zeigten sich verbranntes Stroh, weggetretene Decken und Felle und Tschamarra Talasorn. Diese schwebte nackt über dem Lager, wand sich wie unter großer Pein und stieß statt Atem Flammen aus. »Helft ihr, bitte«, flehte Craer, und er klang so unglücklich, wie die Edle ihn noch nie erlebt hatte. »Feuer ist nicht das Zeichen der Schlange«, murmelte die
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Herrin nachdenklich, »aber vielleicht steckt ja ein ganz anderer dahinter ... möglicherweise Ingryl Ambelter? Oder irgendein anderer Widerling? Und wenn es eine geschickte Falle ist ... ach was!« Sie sah den Beschaffer an und erklärte dann: »Ich werde Tschamarra zunächst von aller Magie befreien, welche gerade auf sie einwirkt.« Schon flammte der Weltenstein in ihrer Hand auf, und nach einer kurzen Weile strömten die Flammen schwächer aus dem Munde der Talasorn-Zauberin. Dafür kam etwas anderes aus der Letzten der Talasorn heraus. Etwas, das sich mit unglaublicher Wucht auf Craer und auf die Zauberin warf. Die beiden flogen bis an die Wand und hatten kaum Zeit, sich wieder aufzurappeln, als schon das Nächste aus Tschamarras Innerem flog. Eine Energiewoge überspülte die Hochfürsten, und der Dwaer läutete wie eine Glocke. Dennoch ließ Embra den Stein nicht los, auch wenn sie darunter in seltsam lustvollen Krämpfen stöhnte. Craer spürte nichts davon, denn er besaß ja keinen Zugang zur Magie. Dafür fiel ihm aber auf, dass sie ebenso wie seine Liebste über dem Boden schwebte. Die Energie strömte immer noch aus Tschamarra, und die Edle stöhnte ebenfalls, und zwar laut genug, um Embra zu übertreffen. Die Letzte der Talasorn fing nun auch noch an zu glühen, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie stünde in hellen Flammen. Mittlerweile wurden auch die Wachen am Tisch auf das
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Spektakel aufmerksam und sprangen auf, aber sie konnten ja nicht ins Schlafgemach gelangen. »Bitte, ihr Götter!«, heulte der Beschaffer. »Lasst sie leben! Tschamarra darf nicht sterben!« Die Edle bekam kaum etwas von seinen Worten mit, denn zu stark wogte die fremde Energie in ihr. Nicht einmal mit dem Weltenstein hatte sie so etwas schon einmal erlebt. Und der Ansturm schien an Stärke noch zuzunehmen ... Embra kam sich vor wie im Paradies. Sie wollte nie mehr von dieser Welle lassen müssen. Die Edle geriet in Ekstase und sang schrill vor sich hin. Die Frau über dem Bett stand bereits in hellen Flammen, und der Beschaffer brüllte wieder und wieder ihren Namen. Tschamarra schien jetzt zu fliegen. Während der Beschaffer noch verzweifelt hinschaute, glaubte er, einen langen Schwanz und kleine Flügel zu erkennen. Die Talasorn-Zauberin schwebte zum Fenster und zum selben hinaus. »So helft ihr doch!« Craer fiel auf die Knie. Doch als er sich zu Embra umdrehte, brannte die auch lichterloh. Und nun setzte sie sich ebenfalls in Bewegung, aufs Fenster zu! Sie lächelte verzückt, als würde sie von einem Freudentaumel überwältigt. Doch für die Herrin der Edelsteine ging es nicht hinaus in den jungen Morgen. Sie sank nach unten, hielt sich keuchend am Fensterbrett fest und blickte nach draußen. »Ja! Oh ja. Oh Tschamarra.« Seufzend sank die Edle in sich zusammen, und ihre Flammen erloschen. Auch Craer fühlte sich von allem Druck befreit ... und schlug erst einmal lang hin.
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Embra lief schon auf ihn zu und hatte nie glücklicher ausgesehen. Als Craer wieder hochgekommen war, umarmte die Zauberin ihn und rief verzückt: »Sie lebt, Freund! Frohlocket, denn Aglirta besitzt einen neuen Drachen!« »Niemals!«, rief der Beschaffer ebenso laut. »Sie wird elendig zu Grunde gehen, wie damals schon unser Sarasper. Und ich ... und ich ... werde sie nie wieder an mich drücken können!« Schon hielt die Edle ihren Dwaer in der Hand, legte ihn dem weinenden Mann auf die Stirn und murmelte dazu einen bestimmten Spruch. Nur einen Moment später staunte der Beschaffer wie ein kleines Kind und hatte allen Liebeskummer vergessen. Die Zauberin schloss ihn in die Arme und sagte: »Alles wird gut. Der Drache hatte immer schon die Macht, sich zwischen den Einsätzen zurückzuverwandeln. Euer beider Liebe ist so stark, dass Tschamarra Euch gar nicht mehr vergessen kann. Mehr noch, Eure Liebe gibt ihr erst die Kraft, all das durchzustehen, was gerade mit ihr geschieht.« Die Große Schlange hielt den Weltenstein hoch und schickte die letzte Schar Reichsbürger, Schlangenpriester und Sonstige nach Treibschaum. Jetzt stand Ambelter ganz allein hier draußen auf einem dieser namenlosen Hügel. Sein Blick ruhte auf den Loaurimm-Höhen, dem mächtigen Gebirge, aus dessen Schoß der Silberfluss entsprang. Bald würde alles Land, von der Quelle bis zur Mündung, ihm gehören. »Ich bleibe hier«, sprach der ehemalige Bannmeister. »Hat
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doch keinen Zweck, im Palast mein Leben aufs Spiel zu setzen. Und hier droht mir ja keine Gefahr.« »Na, wenn Ihr Euch da mal nicht irrt!«, erhielt er unerwartet zur Antwort. Noch während Ingryl seinen Dwaer hochriss und die Zauberin mit dem Totenschädel anstarrte, hob die beide Hände und hatte in jeder einen Weltenstein. Ambelter drang so ungestüm in den Thrael ein, dass reihenweise stromauf und stromab Schlangenpriester in Ohnmacht fielen. Doch sein alter Lehrmeister zielte nicht auf ihn, sondern auf seinen Dwaer. Beide Geschosse trafen den Weltenstein, und der hatte nichts Besseres zu tun, als zu verschwinden ... und die Große Schlange gleich mit sich zu nehmen. Ithim Bogendrachen klammerte sich an den Herrn der Fledermäuse, und sein Blick löste sich für keinen Augenblick von den Bildern, welche die vor ihm liegende Kugel enthüllte. »Das war Maelra, meine Tochter! Ich muss zu ihr! Wenn ich ihr nicht sofort helfe –« Dolmur brachte ihn mit einem Beruhigungszauber zum Schweigen, und nach einem Moment fiel Ithim wieder ein, dass er sich hier im Turm des Herrn der Fledermäuse befand. Die Tiere flogen schon ganz aufgeregt herum ... »Also Eure Tochter«, sprach Huldaerus. »Hm, und sie ist im Besitz von zwei Dwaerindim ... Wenn Ihr mich fragt, hat sie keine Hilfe nötig. Selbst wir drei zusammen können nichts gegen sie ausrichten. Deshalb wollen wir uns darauf beschränken, sie weiter zu beobachten. Mal sehen, was sich noch alles tut.«
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Ein riesiger Drache voller gefährlich ausschauender Schuppen kreiste über dem Palast von Treibschaum. Bei der Dreifaltigkeit, dieses Erlebnis war einfach unbeschreiblich. So viel Macht, so viel Energie, so viel Stärke! Tschamarra lachte nur trocken über die Schreie der Schlangenpriester unter ihr. Über ihre jämmerlichen Banne, welche vollkommen wirkungslos von ihren Schuppen abprallten. Sie schlug spielerisch mit ihrem langen Schwanz aus, und etliche Tobsüchtige unten wurden von einem Sturmwind beiseite gefegt. Wenn Craer sie doch jetzt sehen könnte! Im nächsten Moment sauste die Zauberin schon wie ein Pfeil vom Himmel. Diese Narren dort unten wollten ihrem Liebsten ans Leder. Sie sauste zwischen die Reihen der Pestkranken und landete schließlich im Garten, wo sie erst recht mit Klauen, Maul und Schwanz zwischen die Schlangenpriester und ihre Gefolgschaft fuhr. Als der Große Drache dann auch noch Feuer spuckte, brach jeglicher Widerstand zusammen. Bald lagen nur noch zerrissene und verkohlte Leichen herum. Danach stieg die Letzte der Talasorn wieder auf und nahm sich die nächste Ansammlung von Gegnern vor. Als sie eine ganze Gruppe von Schlangenpriestern entdeckte, ließ sie sich auf diese fallen und zerquetschte alle miteinander mit ihrem überlegenen Gewicht. Bald spürte sie ein Brennen ihre Kehle hinabrinnen und erkannte, dass sie Krankheit in sich aufnahm. Kunststück, wenn man nur Pestbefallene zerbiss!
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Tschamarra hatte jetzt genug davon, nur arme Bauern und Handwerker zu vernichten. Lieber wollte sie sich auf die Schlangenanbeter beschränken. Sie gewahrte drei von ihnen, welche im Palast an einem offenen Fenster standen und einen Zauber gegen den Drachen woben. Tschamarra flog mit den Krallen voran gegen die Mittelsäule des Fensters und zertrümmerte sie. Als die Priester sich vom Fenster entfernten, fing der Drachen an, von außen die Hauswand einzuschlagen. Schließlich griff die Edle Talasorn mit einem ihrer Beine hinein und zerquetschte die drei. Wie eine Katze auf Mäusejagd machte sie sich nun auf die Suche nach mehr. Wo immer sie auftauchte, hatten die Schlangenanbeter ihr Leben verwirkt. Als die Sonne über dem Stromtal aufging, hörte Tschamarra in ihrem Kopf ein widerhallendes Klirren. Mit jedem weiteren Feind, welcher ihr zum Opfer fiel, wurde das Geräusch lauter. Jetzt ähnelte es auch mehr einem metallischen Kreischen, so als zersägte jemand straff gespannte Harfensaiten. Als ein Turm des Palasts zerplatzte, vermochte Tschamarra, einen tiefen Blick hineinzuwerfen. Sie entdeckte fünf Priester, welche eben mehrere Soldaten getötet hatten und nun vor einer Tür standen. Zu ihrem Schrecken erinnerte sich Tschamarra an das, was sich hinter dieser Tür befand: Embras Sammlung magischer Gewänder. Mit einer Klaue hielt Tschamarra die Tür geschlossen, und gleichzeitig blies sie ihr Feuer auf die fünf Priester. Diese ver-
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suchten bis zum letzten Moment, sich mit eigenen Bannen zu wehren. Deshalb musste der Drache sie verbrennen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Noch während sie starben, verdünnte sich das metallische Kreischen und zerriss, als sei die Saite durchtrennt. Danach ließ sich nichts mehr davon vernehmen. Der Thrael war fort. Im ganzen Stromtal stimmten die Schlangenpriester Heulen und Zähneknirschen an. Aus ihren Köpfen schlugen Flammen, und die meisten sahen sich nicht mehr in der Lage, sich zu rühren ... so dass sie erstarrt wie eine Fackel verbrannten. Flussauf, flussab schrien die Menschen und fielen auf die Knie. Zitternd, schwitzend und verständnislos erlebten sie mit, wie die Blutpest von ihnen wich. Aber ihrem Gedächtnis blieb erhalten, was die Schlangenpriester alles mit ihnen angestellt hatten ... Am Himmel kam es zu einem Knall, ein Loch umrahmt von schwarzen Flammen tat sich auf, und heraus fiel ein Mensch. Doch dieser verwandelte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in eine Riesenschlange. Als sie ausgewachsen war, stürmte sie auf Treibschaum zu, wo der Drache wütete. Die Große Schlange biss dem Drachen in den langen Schwanz, und Tschamarra schrie erschrocken auf. Diesen Moment nutzte Ambelter, um seinen gewaltigen Leib um sie zu wickeln. Die Letzte der Talasorn konnte ihre Flügel nicht mehr bewegen und wurde nur noch von ihrem Erzfeind gehalten.
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Vom Untergang, vom Drachen und vom Tod C Viele Boote trieben sich an diesem Morgen auf dem Silberfluss herum. Bemannt waren diese mit Tersepten und deren Leibgarde sowie den unterschiedlichsten Ansammlungen von Reichsbürgern ... bewaffnet mit allem, was sich auf die Schnelle hatte auftreiben lassen. Die ganze Armada steuerte Treibschaum an. Die Königsburg tauchte nun vor ihnen auf, und darüber zog der Drache seine Kreise, was bei ihnen gereckte Fäuste und Flüche auslöste. Noch während sie hinaufstarrten und ihre Waffen fester packten, zeigte sich eine neue Erscheinung am Himmel – die Große Schlange. Sofort fiel sie über ihren Erzfeind her, biss diesen in den Schwanz und wickelte ihren Leib um ihn. Ihre gefährlichen Zähne bohrten sich immer wieder in das Drachenfleisch. »Fort von hier!«, riefen die Ersten auf den Booten. »Zurück, bringt euch in Sicherheit!« »Niemals!«, brüllte einer der Tersepten. »Aglirta muss unser
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werden! Zu lange haben wir uns unser Land von den Schlangen, den Drachen und den Zauberern nehmen lassen. Wir werden das Tal zurückerobern!« »Recht gesagt!«, rief jemand aus einem anderen Boot, und immer mehr Stimmen meldeten sich zustimmend zu Wort. Nur wenige zogen die Ruder ein und fielen zurück. Der Rest aber ruderte mit verdoppelter Anstrengung weiter. Die Drachenflügel flatterten matt, und die beiden Untierleiber wälzten sich über den Himmel. Ineinander verbissen stürzten Drache und Schlange auf den Königspalast ab. Unter ihrem Gewicht brach ein Dach ein. Die um sich schlagenden Bestien richteten noch mehr Zerstörung an. So mancher Balkon oder Turm regnete unter ihren Schlägen als Trümmer hinab. Da ging der Drache in Flammen auf. Tschamarra trieb es die Tränen in die Augen, als flüssiges Feuer durch ihre Adern rann und sich wie Gift überallhin ausbreitete. Dort, wo die Schlangenzähne sich in das Drachenfleisch bohrten, quoll kein Blut hervor, sondern trat Rauch aus. Für die Letzte der Talasorn bestand die ganze Welt nur noch aus Schmerz. Ohne etwas dagegen ausrichten zu können, rutschte der Drache immer weiter in den Thronsaal hinab. Den vereinten Angriffen von Zähnen und Gift hatte er nur wenig entgegenzusetzen. Die Westwand der Schildhalle barst und krachte zusammen. Die Verteidiger konnten mit einem Mal in den dachlosen
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Thronsaal schauen. Doch dort sah es noch schlimmer aus als bei ihnen. Höflinge, Diener und Schlangenpriester lagen im Tode vereint zwischen den Trümmern – allesamt zerdrückt, zermalmt oder erschlagen vom Wüten der Schlange und des Drachen. »Bei den Hörnern der Herrin!«, stöhnte König Raulin voller Entsetzen, und Hulgor Delkamper neben ihm fluchte, dass es ihm eigentlich die Schamröte hätte ins Gesicht treiben müssen. »Hierher!«, rief Ezendor Schwarzgult. »Die Viererbande zu mir!« Er wartete die Antwort seiner Gefährten nicht ab, sondern rannte gleich die halb verschüttete Treppe hinunter, welche in den Thronsaal führte. Hawkril folgte ihm dichtauf, und hinter ihm kam der Beschaffer, welchem ob des Schicksals seiner Liebsten die Tränen in den Augen standen. Die Zauberin gebot Hulgor, Flaeros und den anderen, beim König zu bleiben und ihn zu schützen. Aber davon wollte Raulin nichts wissen. »Ich bitte Euch, Euer Majestät«, beschwor die Edle ihn. »Lasst uns wieder einmal das Schicksal Aglirtas beeinflussen. Wer weiß, vielleicht leben wir ja noch lange genug, um den nächsten Sonnenaufgang zu erleben.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und folgte ihren Gefährten. Die Schlange riss schon wieder das Maul weit auf, brüllte dann ihren Triumph hinaus, ließ die Kiefer aufeinander krachen ... und biss auf bloßen Stein.
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Der Drache hatte sich in eine junge Frau zurückverwandelt, welche halb ohnmächtig zwischen zwei umgestürzten Säulen lag. Der ehemalige Regent flitzte wie ein Insekt zwischen den Schlangenzähnen hindurch, um Tschamarra zu retten. Er hob sie hoch und sprach: »Nun werde ich Euch zum König bringen. Könnt Ihr ihn dort oben sehen? Von dort aus mögt Ihr zuschauen, wie wir hier unten den Heldentod sterben.« »Schwarzgult!«, brüllte Hawkril und beschleunigte seine Schritte noch mehr. Aber er würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen, ehe die Schlange wieder zubiss ... Ein Riesenzahn von doppelter Mannshöhe fuhr dicht neben dem Greifen in den Boden. Ezendor sprach seinen Zauber und ließ sich auch von den Giftmengen nicht dabei stören, welche rings um ihn herum herabregneten. Ambelter legte wieder den Schlangenkopf in den Nacken, aber da erhob sich Schwarzgult bereits mit der Letzten der Talasorn in die Lüfte und schwebte davon. »Schwarzgult!«, brüllte der Recke ein weiteres Mal und baute sich mit erhobenem Kriegsschwert zwischen dem Regenten und der Schlange auf. Als der Riesenschatten der Schlange auf Embras Vater fiel, wich dieser gewandt zur Seite aus ... Ingryls Zähne verfehlten ihn knapp. Dann hatten sie Craer erreicht. Schwarzgult überreichte ihm Tschamarra und kehrte dann sofort wieder zurück, um Hawkril beizustehen. Die Große Schlange wandte sich bereits dem Recken zu. Der Hüne wich immer wieder geschickt zwischen den
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Trümmerblöcken aus, und Ambelter holte sich eine Menge blauer Flecken. Schwarzgult holte mit seinem Schwert nach den Augen der Schlange aus und stellte fest, dass deren drei vorhanden waren. Oder ... Bei dem dritten schien es sich um etwas anderes zu handeln, eine Art Edelstein vielleicht ... Als die beiden Gegner sich hasserfüllt anstarrten, wusste Schwarzgult, wen er da in Form der Schlange vor sich hatte – Ingryl Ambelter. Und kurz darauf wurde ihm klar, womit er es bei dem dritten Auge zu tun hatte – mit einem Weltenstein! Dagegen konnte Ezendor in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nichts ausrichten. Der ehemalige Bannmeister belegte den ehemaligen Regenten mit eisigem grünem Feuer. Das mächtige Schwert des Goldenen Greifen zerbröselte von einem Moment auf den anderen. Dann löste sich auch noch seine Rüstung Stück für Stück auf. Schwarzgult ergriff lieber die Flucht, um dem übermächtigen Bann zu entgehen. Dabei verlor er noch mehr Bestandteile seiner Panzerung. Er stieg steil auf, ließ sich abstürzen, zog in einer harten Kurve wieder hoch, und ... die Schlange kam ihm immer näher. Schon bog sie den Kopf zurück, um ihn im nächsten Moment vorschnellen zu lassen. Embras Vater schoss hinauf in die Lüfte und versuchte, über seinen Gegner zu gelangen. Wenn er im erneuten Hinabtauchen nahe genug am Schlangenkopf vorbeikäme, könnte er sich Ingryls Dwaer greifen. Dann landete er tatsächlich auf dem Schuppenwulst über
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den Augen der Schlange. Ambelter drehte und wand sich, um den unerwünschten Reiter loszuwerden. Aber so leicht ließ Schwarzgult sich nicht abschütteln. Näher und näher rückten seine Fingerspitzen an den Weltenstein heran. Weiß glühende Schmerzen durchtosten ihn, als er den Stein berührte und nicht mehr losließ. Aber wenn er seine Hand jetzt zurückzöge, wäre für die Gefährten und das Reich alles verloren ... Doch Ingryl hatte die Zeit auch zu nutzen gewusst und einen Bann gewirkt: Der Dwaer explodierte, und den Goldenen Greifen fegte es vom Schädel der Schlange. Er flog davon, so rasch er nur konnte, und die Hand, mit welcher er nach dem Weltenstein gegriffen hatte, war zur Hälfte durch und durch verkohlt. Ezendor landete neben Tschamarra und küsste sie auf den Mund. Als er halb auf ihr lag, kehrte ein Leuchten in ihre Augen zurück, und er küsste sie immer noch ... so als würde er etwas aus ihr heraussaugen. Danach legte Schwarzgult die Hexe sanft ab und sprach: »Vergebung, Herrin, aber jemand muss der Drache sein.« Er sprang in die Lüfte und ließ einen völlig verwirrten Craer zurück. Ezendor besaß eigentlich nicht mehr die geistigen oder körperlichen Kräfte, um einen richtigen Drachen abgeben zu können. Dennoch stellte er sich dieser Aufgabe, denn wenn nicht er Aglirta rettete, wer sollte es sonst tun? Hawkril hatte den Moment, in welchem Ambelter Embras Vater abgeschüttelt hatte, genutzt, um sein Schwert zwischen zwei große Schlangenschuppen zu stechen.
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Jetzt rannte er um sein Leben, als der rasende Bannmeister hinter ihm herstürmte und immer wieder mit dem Schlangenkopf nach ihm stieß. Embra sandte aus ihrem Dwaer einen Feuerstoß nach dem anderen gegen die Schlange, um deren Schädel stets rechtzeitig von ihrem Liebsten abzulenken. Bislang hatte sie damit Erfolg gehabt ... Als die Schlange sich aufrichtete, um die Störenfriedin auszuschalten, sprang der neue Drache das Untier von hinten an. Er spuckte Feuer auf die Schlangenschuppen, und Ambelter fuhr angesengt zurück. Danach musste er sich arg zusammenreißen, denn die Schmerzen in seinem Innern wurden unerträglich. Schwarzgult biss seinen Gegner, und aus seinen Drachenzähnen drang Feuer in die Schlange ein. Ingryl zuckte zusammen, schlug mit dem Schwanz um sich und wehrte sich nach Kräften. Einmal flog sein Schwanzende wie eine Peitsche heran und schlug den Drachen zu Boden. Embras Vater stöhnte und konnte für einen Moment nichts mehr sehen. Sofort wickelte sich die Schlange um ihn, so wie sie es vorhin bei Tschamarra gemacht hatte. Gleichzeitig bediente sich Ambelter seines Dwaers, um einen uralten Zauber zu wirken. Während sein Leib sich fester und fester um den ehemaligen Regenten wand, bildete sich aus seiner gespaltenen Zunge ein Menschenarm. Damit schlug er auf bestimmte Steine ... und erweckte so den Zauber der Lebenden Burg für sich. Embra warf es auf die Knie, und sie wurde quer durch den Raum gezogen. Der alte Zauber der Burg steckte so tief in ihr drinnen, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. Die Zauberin
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kämpfte dennoch, doch blieben alle ihre Bemühungen vergeblich. Gegen die Lebende Burg ließ sich nicht einmal ein Weltenstein einsetzen. Der König und alle in seiner Nähe verfolgten ohnmächtig, wie die Herrin der Edelsteine schließlich hinfiel und besinnungslos liegen blieb. Der Dwaer rollte aus ihren kraftlosen Fingern. Bevor Hawkril den Weltenstein erreichen konnte, schnellte schon der Kopf der Schlange herab. Aus ihrem Maul fuhr ein Arm, der den Dwaer wegschnappte. Nun wandte sich Ambelter wieder seinem Opfer zu. Mit dem neuen Weltenstein beschoss er den gefangenen Drachen, bis die Strahlen immer tiefer in Schwarzgults Leib hineinfuhren. Der Drache konnte nur noch schreien und wurde immer kleiner, genau wie eben Tschamarra ... »Bei den Göttern, nein!«, grollte Hulgor, während er den jungen König mit seinem Schild und mit seinem Körper schützte. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Macht euch alle zum Sterben bereit ...« Die Verteidiger in der Schildhalle beobachteten voller Schaudern, wie die Große Schlange erneut ihren Kopf zurückschnellen ließ. Doch hinter ihr flimmerte etwas in der Luft, das sich zu einem Loch im Himmel mit dunkel brennenden Rändern ausweitete. Aus dieser Öffnung stieg eine junge Frau mit einem Totenschädel. In jeder Hand trug sie einen Weltenstein.
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»Auch das magische Schwert verfügt über zwei Schneiden, eingebildetster aller Lehrlinge«, knurrte Gadaster und bediente seine Dwaerindim. Doch ging es dem uralten Magier nicht darum, dem Feind die Schuppen zu versengen. Nein, er belebte die alte Verbindung wieder, über welche Ingryl in all den Jahren Gadasters Lebensenergie herausgesaugt hatte. Doch diesmal ging es anders herum, und der Alte zwang dem Jüngeren seinen Willen auf. Der ehemalige Bannmeister wehrte sich nach Kräften. Das Ringen währte Äonen und war doch schon im nächsten Moment vorüber. Dann hatte Ambelter verloren. »Ihr wolltet die Dwaerindim mehr als alles andere in der Welt«, sprach Gadaster in Ingryls Gedanken. »Wie schade, dass sie Euch jetzt, da Ihr sie endlich beisammen habt, zerstören werden.« Alle vier Weltensteine flammten in gleißendem Weiß auf, befreiten sich von der Hand, welche sie gerade hielt, und stiegen hinauf in den Himmel, um in einem leuchtenden Ring zu tanzen. Und mit ihnen richteten sich einige Menschen im Palast auf und gewannen ihr Bewusstsein wieder: Embra Fürstin Silberbaum und die wenigen überlebenden Schlangenfürsten. Sie alle starrten hinauf zu den Steinen. Überall im Land schaute man nach Treibschaum, aber nicht, weil ein magischer Ruf sie dazu zwang, sondern weil sich am Himmel über dem Königspalast so viel Magisches tat. Die vier Steine drehten sich, und in einer langen Parade zogen dort die alten Könige und Krieger aus der langen Ge-
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schichte des Reiches vorüber. Doch da tauchte in deren Mitte etwas Schwarzes auf. Es sprang von einem Weltenstein zum nächsten, und mal wuchsen im Flügel, dann wieder Klauen und endlich Drachenschädel, welche jedoch allesamt gleich wieder vergingen. Endlich schwebte es als gesichtsloses Wesen am Himmel und starrte hinab auf Gadaster Mulkyn. Der abtrünnige Koglaur war zurückgekehrt! Und schon regnete es Salven von weißen Blitzen auf Treibschaum. Männer und Frauen schrien, und überall ging Mauerwerk zu Bruch. Ambelter nutzte die Gelegenheit, fuhr rasend schnell herum und spuckte Gadaster schwärzeste Energie entgegen. Eine schwarze Faust umschloss die junge Frau, und aus dem Totenschädel erklang ein Schrei der Verzweiflung. Dann verging der Schädel, und Maelra Bogendrachen war wieder sie selbst. Trotz ihrer Verwirrung besaß sie die Geistesgegenwart, sich sofort an einen anderen Ort zu versetzen. Und so starb Gadaster Mulkyn zum zweiten Mal ... Nur Embra glaubte nicht an sein Ende, sondern vermutete, dass er in irgendjemanden eingefahren sei. Die Große Schlange begeisterte sich darüber, auch diesen Feind bezwungen zu haben. Sie brachte die vier Dwaerindim dazu, vom Himmel herabzusteigen und sich um ihren Hals zu legen. Schon eine Salve aus allen vier Weltensteinen genügte, um den Koglaur vom Himmel zu schießen. Wie ein zerfetztes schwarzes Tuch fiel er herab und zerschmetterte zwischen den Trümmern. Die Zauberin war immer noch bei Bewusstsein. Sie schob
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sich zwischen umgestürzten Säulen hoch, denn sie wollte keinen Moment ihres bevorstehenden Untergangs verpassen. Ambelter machte sich nun über den Drachen her, der winzig zwischen den Windungen des Schlangenleibs gefangen war. Doch gerade als Ingryl zubeißen wollte, fing Schwarzgult wieder an, sich zu wehren. Er kämpfte mit der Schlange um den Einfluss auf die Dwaerindim, und er konnte sie tatsächlich zurückdrängen. Embras Vater nahm alle ihm innewohnenden Zauberkräfte und verschmolz sie mit den Energien der Weltensteine, um damit den Schlangenzähnen einen magischen Fausthieb zu verpassen. Unter diesem Schauer fing die Schlange an zu brennen. Man konnte zusehen, wie das Fleisch von den Knochen schmolz. Ingryl Ambelter und seine schwarzen Pläne zerfielen einfach so zu Asche. Embra rannte los, weil sie die Dwaerindim bergen wollte, doch ein Schatten kam ihr zuvor. Der Koglaur! Die Zauberin sprang ihn an, auch wenn sie wusste, dass sie nichts gegen ihn ausrichten konnte. Fassungslos musste sie mit ansehen, wie die Weltensteine auf ihn zuschwebten, als riefe er sie. Der Gestaltwandler nahm die Form von Ambelter an, zwischen den vier Steinen entstand ein Tor, und der Gesichtlose trat hindurch. Danach rasten die vier Dwaerindim in entgegengesetzte Richtungen davon, und für eine ganze Weile wusste keiner der Zurückgebliebenen etwas zu sagen.
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»Haben wir eben das Ende des alten Bannmeisters erlebt?«, fragte Flaeros Delkamper schließlich. »Oder hat uns der Gestaltwandler die ganze Zeit schon etwas vorgemacht?« »Und vor allem, müssen wir uns jetzt schon wieder auf die Suche nach den Weltensteinen machen?«, wollte der Beschaffer wissen. Magisches Licht brannte in der Kammer des Herrn der Fledermäuse auf und überstrahlte die Kristallkugeln. Etwas fiel vor den drei Zauberern auf den Boden. Huldaerus trat vor, packte die junge Frau an der Gurgel und zog sie hoch. »Seid Ihr Gadaster Mulkyn?«, fuhr er sie an. Die Maid sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Ich kenne Euch nicht, Herr, und weiß nur, dass ich Maelra Bogendrachen bin und von Magiern die Nase gründlich voll habe!« Erleichtert ließ der Herr der Fledermäuse von ihr ab, und Ithim Bogendrachen stürmte vor, um seine Tochter in die Arme zu schließen. Und kurz darauf trat auch Onkel Dolmur hinzu. Huldaerus wandte sich von dem rührenden Familienwiedersehen ab und schaute wieder in die Kristallkugeln. Und was er dort zu sehen bekam, schien ein genaueres Hinsehen durchaus wert zu sein. Ezendor Schwarzgult wusste, dass er im Sterben lag. Eben war er in seiner Drachengestalt neben einem schwer verwundeten Schlangenfürsten zusammengebrochen. Hawkril erreichte ihn als Erster, und der Goldene Greif ergriff seine Hand. »Nehmt mein Fürstentum, Ihr habt es mehr als verdient.
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Mit mir geht es zu Ende ... Ich bin vielen Träumen nachgelaufen, und einige davon konnte ich mir sogar erfüllen.« Als Nächste traf seine Tochter ein und konnte nur noch »Vater« schluchzen. Dann bemerkte sie, dass sich der Schlangenfürst verdächtig bewegte. Embra nahm ihren Dolch und stach ihn dem Feind ins Auge. Doch dieser starb nicht sogleich, sondern rief nach der Großen Schlange. Als sich nichts tat, rief er sie noch einmal. Dann standen ihm blutige Blasen vor dem Mund. »Ich hatte mir so viel mehr erhofft«, murmelte er und verschied. Der Priester war tot, und eine Schlange kroch aus seinem Kragen und schnellte vor, um die Herrin der Edelsteine zu beißen. Doch Embra bekam sie unterhalb des Mauls am Hals zu fassen, schleuderte sie zu Boden und zertrat ihr den Kopf. Als sie zu ihrem Vater zurückkehrte, ergriff der ihre Hand. »Gehabt Euch wohl ... erwerbt Euch mit Hawkril unsterblichen Ruhm ... rettet Aglirta!« Sie kniete sich neben ihn hin, und als Schwarzgult sich hochmühte, um seine Tochter ein letztes Mal zu küssen, verließen ihn die Kräfte, und sein Lebenslicht erlosch.
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Siebenundzwanzig
Der Verzicht des Drachen C Embra ließ sich in ihrem Kummer überhaupt nicht mehr beruhigen. Als sie sich ein letztes Mal über ihren Vater beugte, löste sich eine blaue Flamme von seinen Lippen und fuhr in sie ein. Im nächsten Moment umrankten sie blaue Flammen, welche ihr jedoch kein Leid zufügten. Nun trafen auch all die anderen Überlebenden ein, an ihrer Spitze der König. Sie warfen Embra scheele Blicke zu, aber die Zauberin ließ sich nicht anmerken, ob sie die Menschen überhaupt wieder erkannte. »Schwarzgult ist tot!«, riefen die Wachen durch den Palast, und auch: »Die Große Schlange ist tot!« »Nun ist Aglirta endlich frei!«, seufzte einer. »Nein!«, donnerte eine dunkle Stimme und durchbohrte den König mit dem Schwert. »Erst jetzt darf Aglirta sich frei nennen!« Raulin brach zusammen, und der Tersept Eisenstein zog seine Klinge aus ihm heraus und nahm ihm die Krone vom Kopf. »Sehet, euer neuer König!«, rief er der Menge zu und
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krönte sich selbst. Sein Gefolge brüllte gleich: »Heil König Eisenstein!« »Manche Dinge ändern sich eben nie«, murmelte Craer, sprang dem ehemaligen Tersepten auf die Schultern und schlitzte ihm die Kehle auf. Orele und Tschamarra befanden sich bereits auf dem Weg zu Raulin, und die Letzte der Talasorn versorgte ihn gleich mit ihren magischen Heilkünsten. Inzwischen machten sich die königlichen Gardesoldaten unter der Führung von Hawkril, Hulgor, Flaeros und dem Beschaffer über das Gefolge Eisensteins her und machten es bis auf den letzten Mann nieder. Doch da strömten bereits neue Bewaffnete vom Hafen in die Burg, unter ihnen auch Schlangenpriester mit vergifteten Dolchen. Schon entspann sich im Thronsaal eine große Schlacht, und so mancher Tersept nutzte die Gelegenheit, um mit einem Rivalen eine alte Rechnung zu begleichen. Tschamarra war am Ende ihrer Kräfte angelangt, und Orele musste sie stützen. Hulgor und Flaeros wehrten alle Kämpfer ab, welche den beiden Frauen und dem jungen König zu nahe zu kommen drohten. Einen Moment, nachdem der Tersept Dornenholz einem alten Feind Saures gegeben hatte, wurde ihm selbst ein Speer in den Leib gebohrt. Nicht weit von ihm sank der Tersept Harbrücke zusammen, weil ihn ein vergifteter Schlangendolch getroffen hatte. Und so ging es weiter, und so ging es fort ... Bis Embra »Es reicht!« rief. Ihre Stimme hallte von allen Räumen wider, von den Ufern des Silberstroms und sogar
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vom Schweigenden Haus. Drachenschuppen wuchsen auf ihrer Haut, verschwanden aber rasch wieder. »Sittra Dourr«, flüsterte die Zauberin, und dennoch klang es wie Donnerhall. Alle Schwerter, Messer, Speere und Pfeile flogen in den Himmel. Alle drehten sich zur Herrin der Edelsteine um und starrten sie an. Mit wogendem Busen und abstehendem Haar starrte Embra auf die Riesenschar zurück. »Für heute ist genug Blut vergossen worden«, verkündete die Edle. Alle sahen sich mit scheelen Blicken um, und die Zauberin, immer noch eingehüllt in blaues Strahlen, fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Nicht auszudenken, wenn diese Menge sich gegen sie wenden würde ... »Der König lebt!«, rief Craer in das Schweigen hinein. Raulin ließ sich von Hawkril aufhelfen und trat bleich, aber gefasst vor die Menschen. »Ich ertrage Schlangenpriester und Unruhe stiftende Fürsten und Tersepten nicht länger, will sie nimmer dulden! Deswegen vernehmt meine Worte. Wer fürderhin die Schlange anbetet, ist des Todes. Weiters gibt es ab heute keine Fürsten mehr, und wer Tersept bleiben oder werden will, hat mir dies durch besondere Treuebeweise anzuzeigen. Ich werde eine neue Armee aufstellen und mit ihr das Stromtal von allen reinigen, welche hier nichts verloren haben, und ich –«
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»Nein!«, unterbrach ihn die Zauberin. »So vermögt Ihr nicht, die Liebe Eures Volkes zu gewinnen. Nach allem, was Aglirta durchmachen musste, hat es nun etwas Besseres verdient.« Sie beugte sich vor, nahm die Krone vom Boden auf und trat dann neben den Jüngling. »Anstelle Seiner Majestät werde ich die Schlangenanbeter und die Unruhestifter aus dem Reich jagen, denn ich bin der Drache, und eine neue Große Schlange erhebt bereits ihr Haupt. Doch sie wird nur eine schwache Schlange sein, wenn sie keine Anhänger findet. Und ich werde über dem Tal wachen und dafür sorgen, dass niemand sie verehrt.« Embra hob beide Arme. »Vernehmt meinen Wunsch: Unser König, er lebe hoch. Viele Jahre lang haben die Reichskönige geschlafen, und man kannte Aglirta nur als das Land ohne König. Die Fürsten bekriegten sich untereinander, denn ein jeder von ihnen wollte seine Macht auf Kosten der anderen ausbauen. Doch dieser Zustand gehört nun der Vergangenheit an. Ich erkläre Raulin Burgmäntel hiermit zum Regenten von Aglirta. Von heute an soll es nämlich weder Fürsten noch einen König geben; nur Tersepten, welche als Statthalter tätig sind und im Namen des Regenten über das Wohl des Volkes wachen.« Die Herrin der Edelsteine atmete tief durch. »Der Regent wird sich auch andauernd auf Reisen befinden, und zwar an der Spitze seines Heeres. Die Soldaten werden in den entvölkerten Landstrichen
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Getreide anbauen und es überall im Reich gerecht verteilen. Sie werden Brücken und Straßen bauen beziehungsweise ausbessern. Treibschaum aber soll fortan ein Ort des Heilens sein, wohin sich die Leidenden und Beladenen wenden können, um Linderung zu erfahren. Darüber hinaus errichten wir überall offene Altäre für die Dreifaltigkeit. Aber niemand darf es wagen, je wieder die Schlange anzubeten!« Sie legte eine kleine Pause ein, und alle warteten gespannt darauf, was sie noch zu verkünden hatte. »Ich widerrufe den uralten Krieg zwischen dem Drachen und der Schlange, und ich verbiete auch, dass man mich anbetet. Ich verzichte auf und entsage jeder Form von Verehrung, denn nur so können wir die Große Schlange daran hindern, wieder Tod und Verderben über das Reich zu bringen! Die Weltensteine habe ich längst an einem sicheren Ort versteckt, und gemeinsam mit meinen Gefährten entsage ich dem Titel eines Hochfürsten.« Zum Abschluss ihrer Rede warf sie die Krone in die Luft und vollführte eine Geste, woraufhin der Reif von Aglirta in tausend Stücke zersprang, welche sich in Rauch auflösten. Als alle seufzten, fügte die Edle hinzu: »Und dennoch werden wir nicht aufhören, die Hüter über Aglirta zu sein.« Sie trat zurück, und Flaeros Delkamper rief ihr ergriffen hinterher: »Heil den Wächtern des Reiches!« Doch bevor die anderen einfallen konnten, schrie einer der Tersepten: »Burgmäntel, entspricht das alles auch Euren Vor-
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stellungen?« Und Raulin trat nun vor und ergriff das Wort: »Das tut es, und ich begrüßte es sehr, würde es auch alles so eintreten. Wer sich gegen Embra und mich stellt, wird das Reich verlassen müssen. Auch sollen alle Aglirtaner, gleich ob Mann oder Frau, Menschen aus ihrer Mitte bestimmen, welche sie für würdig und gerecht genug erachten, über sie zu Gericht zu sitzen.« »Gut gesprochen!«, lobte die Dame Orele. »Lang lebe Aglirta!«, rief Flaeros Delkamper. »Die Wächter haben gesprochen, und der Regent hat gesprochen, deswegen: Lang lebe das Reich!« Und nun fielen alle ein und wiederholten die Worte des fahrenden Sängers. »Na, das wäre dann ja wohl geregelt«, meinte Craer. »Wie wäre es dann jetzt mit einer Siegesfeier?« Und mit einem Mal hatte alles anwesende Volk nichts anderes mehr im Sinn, als eine Siegesfeier auszurichten, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Hawkril und Embra aber stießen erst später zu dem Fest. Vorher besuchten sie noch das Grab ihres einstigen Freundes und Gefährten Sarasper. Die Edle weinte leise, und der Hüne stellte fest, dass ihm ebenfalls Tränen in die Augen stiegen.
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Epilog C In den Schänken und Wirtshäusern von Sirlptar wimmelte es an diesem Abend von Kaufleuten, welche aufgeregt über einen Mann debattierten, welcher jüngst in die Stadt gekommen war: Regent Raulin von Aglirta! Einige meinten, der ehemalige König bereite einen größeren Einfall in irgendein aufrührerisches anderes Reich vor. Dann wolle er bestimmt ein Bündnis mit Sirlptar schließen, behaupteten die einen. Nein, er wolle sich Unterstützung in Form von klingender Münze holen, erklärten die anderen. Nein, Raulin wolle sich einmal einen Eindruck darüber verschaffen, was unermesslicher Reichtum bedeute, glaubte eine Gruppe zu wissen. Eine andere hielt dagegen, dass der Regent vielmehr hier mit seiner Freundin einen größeren Einkaufsbummel unternehmen wolle. Wenn der Jüngling sich dann im Folgenden auf der Straße zeigte, fand er sofort ein großes Gefolge. Alle diejenigen, welche zu reich zum Arbeiten waren, drängten in seine Nähe.
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Doch Raulin suchte weder um ein Bündnis nach, noch wollte er seine Freundin beim Einkauf begleiten. Vielmehr zog es ihn zum Hafen und dort zu einem Schiff mit Namen »Kräftige Winde«, auf welchem er bereits von dessen Eigner erwartet wurde. Eine unübersehbare Menschenmenge überschwemmte mittlerweile die Hafenanlagen. »Möget Ihr eine gute Reise nach Ragalar haben«, verabschiedete Raulin nun den Flaeros Delkamper. »Ihr scheint immer dann aufzutauchen, wenn man Euch am dringendsten braucht. Und dennoch vermisse ich Euch schon jetzt.« »Nicht so sehr wie ich Euch und das schöne Aglirta«, entgegnete der fahrende Sänger. »Dir seid uns herzlich willkommen, wann immer es Euch in unsere Heimat zieht.« »Ja, wenn Ihr Euch mal wieder so tüchtig von der Dame Orele kujonieren lassen wollt!«, lachte Hulgor Delkamper. »Die Zeit wird knapp, jeder nur einen Abschiedskuss«, drängte ein gewisser Beschaffer. »Das kann man auch wirklich netter sagen«, mäkelte Tschamarra an ihm herum. »Wenn Ihr jetzt nicht sofort still seid, werfen wir Euch ins Wasser und sehen mal zu, wie gut Ihr schwimmen könnt.« »Jeder Fisch würde vor Neid erblassen«, murmelte der zierliche Mann. Doch da packte ihn schon Orele am Ohr, zog ihn zu sich heran und brachte ihn mit einem dicken Schmatzer auf den Mund zum Schweigen. Noch während sich alle in den Armen lagen, wurden bereits die ersten Leinen gekappt. Nun hieß es, sich zu sputen. Als wenig später alle an Bord waren, legte der Segler gleich
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ab. Auch der König und sein Gefolge wandten sich nun zum Gehen. Doch da fiel Raulin etwas ins Auge. Unter den Zuschauern fand sich eine Gruppe, welche die ganze Zeit unbewegt dastand. Als Hawkril ihrer ansichtig wurde, stieß er ein dumpfes Grollen aus und zog sein Kriegsschwert halb aus der Scheide. Dies blieb natürlich den anderen nicht verborgen, und hastig zogen sich alle Sirlptaraner zurück ... bis sich nur noch das königliche Gefolge und das Dutzend Magier aus Sirl gegenüber standen. Hinter diesen zeigten sich einige reiche Handelsherren von den Ieirembor-Inseln und lächelten hämisch. Tschamarra wusste sehr wohl, dass die Bewohner dieser Inseln immer noch Rache dafür wollten, dass Schwarzgult einmal dort hatte einmarschieren wollen ... auch wenn dieser Einfall fehlgeschlagen war. Vielleicht würden sie sich aber auch mit der Zahlung einer gewissen Summe zufrieden geben. Da die Letzte der Talasorn ja nicht aus dem Reich stammte, hielt sie sich für die geeignete Vermittlerin. »Was liegt an, meine Herren?«, wandte sich die Zauberin an die Gruppe. Einer der Inselvertreter trat vor und räusperte sich, schwieg dann aber lieber, als Craer seine Wurfmesser aus dem Gürtel nahm. Tschamarra hob die Hände und warnte die Magier vor voreiligen Schritten. Die aber zogen die Hände aus den Ärmeln und zeigten die zauberische Energie, welche darin bereits wartete. »Ohne Weltenstein seht ihr ganz schön alt aus«, grinste einer von ih-
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nen. »Danke, wir kommen zurecht«, entgegnete Embra und verwandelte sich auf der Stelle in den Drachen. Groß und gewaltig stampfte sie mit einem Fuß auf. Den meisten Zauberern gerieten die Banne durcheinander. Die Herrin der Edelsteine streckte einen nieder, der trotzdem seinen Zauber gegen sie einsetzen wollte, und Craer brachte einen weiteren mit einem Dolch zu Fall. Embras Feuerstoß ließ nichts mehr von drei weiteren Magiern übrig. Den Übriggebliebenen fiel ein, dass sie noch andernorts etwas Wichtiges zu erledigen hatten, und sie rannten davon. Damit blieben nur noch die Inselvertreter übrig. Die ehemalige Zauberin beugte sich vor, bis sich die Spitze des Drachenmauls auf einer Höhe mit den Gesichtern der Kaufleute befand. »Wenn einen von euch noch einmal der Hafer stechen sollte und er mit Zauberern oder Gebeten an die Schlange nach Aglirta kommen sollte, weiß er ja jetzt, welcher Empfang ihm hier bereitet wird.« Nun richtete Embra sich zur vollen Größe auf. »Wer aber in friedlicher Absicht kommt, sei uns und allen Bürgern willkommen.« Embras Worte drangen in den Schankraum des Wirtshauses »Zum Seufzenden Wasserspeier« vor, und augenblicklich ersetzte Stille das übliche Gelärme. In einer Ecke saßen vier Menschen um einen ganzen Wald von leeren Weinflaschen herum. Maelra Bogendrachen erbebte unter der Drachenrede, und Onkel Dolmur und Vater Ithim klopften ihr beruhigend auf Arm und Schulter.
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»Ich nehme an, jetzt müssen wir uns einen friedfertigen Grund ausdenken, wenn wir ins Reich wollen, oder Aglirta für alle Zukunft meiden«, lächelte der Herr der Fledermäuse. »Na ja, Ihr könntet ja einen Fledermaushandel eröffnen«, schlug Craer vor, der gerade mit Tschamarra an ihrem Tisch auftauchte. »Ihr dürft nur nicht so viele von ihnen aussenden, uns auszuspionieren, sonst haben wir bald genug von ihnen – und das meine ich in des doppelten Sinnes Bedeutung.« Die vier Zauberer am Tisch sahen sich für einen Moment fassungslos an und brachen dann in lautes Gelächter aus.
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Glossar
Aglirta: sagenumwobenes untergegangenes Königreich. Sein Herrscher, der von einem Zauber umfangene Schlafende König, kann nur mit Hilfe der Weltensteine erweckt werden, um seinem Land in der Stunde höchster Bedrohung beizustehen und es zu neuem Glanz zu führen. Ambelter, Ingryl: der einstige Bannmeister des Faerod Silberbaum und mächtigste Magier der Dunklen Drei weilt eigentlich nicht mehr unter den Lebenden, scheint aber eine Möglichkeit gefunden zu haben, doch wieder ins Leben zurückzukehren. Dem ehrgeizigen und grausamen Zauberer ist es gelungen, die Kontrolle über die unheimlichen Geschmolzenen zu erlangen. Anharu, Haivkril: einst Ritter und Schwertmeister im Dienst des Goldenen Greifen, bester Freund von Craer Delnbein, Mitglied der Viererbande und inzwischen zum Hochfürsten ernannt. Arthroon, Belgur: ein grausamer und ehrgeiziger Ränkeschmied, welcher den Rang eines Schuppenmeisters innehat. Bogendrachen, Dolmur: der älteste Bogendrachen-Bruder. Der Familienälteste ist ein mächtiger Zauberer, dabei besonnen und ernsthaft.
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Bogendrachen, Ithim: der jüngste Bogendrachen-Bruder. Schwach und empfindsam, Vater der Maelra. Bogendrachen, Jhavarr: arroganter junger Zauberer, Sohn des Ithim, welcher während eines magischen Kampfes getötet wurde. Bogendrachen, Maelra: hitzköpfige Tochter des Ithim Bogendrachen, deren Rastlosigkeit ganz Darsar in allergrößte Gefahr bringt. Bogendrachen, Multhas: mittlerer Bogendrachen-Bruder, für sein hitzköpfiges, arrogantes Wesen bekannt. Burgmäntel, Raulin: König von Aglirta, wegen seiner Jugend weithin als Königsjüngling bezeichnet und vor seiner Krönung Gefährte der Viererbande. Caronthom: hoch gestellter Schlangenfürst der Schlangenanbeter. Delkamper, Flaeros: fahrender Sänger aus dem Hause Delkamper. Delkamper, Hulgor: Onkel des Flaeros. Delnbein, Craer: ehemals Beschaffer – also Kundschafter und Dieb – im Dienste des Goldenen Greifen. Freund des Hawkril, Mitglied der Viererbande und mittlerweile zum Hochfürsten ernannt.
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Drache: geheimnisvoller Feind der Schlange. Dwaer: einer der vier Weltensteine. Dwaerindim: die geheimnisvollen verschollenen vier Weltensteine, welche den Schlafenden König erwecken können und ungeahnte Zauberkräfte besitzen. Embra Fürstin Silberbaum: Zauberin, vermeintliche Tochter des bösen Faerod Silberbaum, Mitglied der Viererbande. In Wahrheit ist Fürst Schwarzgult ihr Vater. Ezendor Fürst Schwarzgult: Vater der Embra Silberbaum, für eine kurze Zeit Regent von Aglirta und bekannt als der Goldene Greif. Goldener Greif: Bezeichnung für Ezendor Fürst Schwarzgult. Großsarn, Suldun: treu ergebener Leibwächter König Raulins. Hanenhather, Melvar: Schlangenfürst, Verbündeter des Caronthom. Huldaerus, Herr der Fledermäuse: Zauberer auf der Suche nach den Dwaerindim. Kelgrael: aus diesem Hause stammt der Schlafende König ab. Khavan: verängstigter Reißzahnbruder im Dienste des Schuppenmeisters Arthroon.
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Kodelmer, Sarasper: Heiler, der auch die Gestalt der schrecklichen Langzahn-Wolfsspinne annehmen konnte, vor seinem Tod Mitglied der Viererbande. Koglaur: unheimliche Gestaltwandler, welche aus eigenen Gründen über Aglirta wachen. Land ohne König: Bezeichnung für das von politischen Ränken geschüttelte Gebiet, auf dem sich einst das Königreich Aglirta befand. Landrun: rangniedriger Schlangenbruder, eine Art persönlicher Diener des Hanenhather. Mulkyn, Gadaster: oberster Bannmeister im Dienst von Faerod Silberbaum, weilt angeblich nicht mehr unter den Lebenden. Orele, Natha: älteste und ranghöchste Kammerfrau und Weise in der Burg der Delkampers. Wird als Dame angeredet und als so gut wie adelig betrachtet. Pheldane, Orlin: Erster Ritter des Tersepten von Stornbrücke. Phelinndar: Fürst von Phelinndar und im Besitz eines Dwaer. Priester der Schlange: unheimliche Anführer eines Schlangenkultes. Rauldron, Phelmaer: Weiser und ältester Schuppenfürst.
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Schlafender König: Sagenumwobener Herrscher, welcher dem Land Aglirta in der Stunde der höchsten Not zu Hilfe kommt, falls es mittels der Dwaerindim gelingt, ihn aus einem Zauberbann zu erwecken. Schlange: auch Schattenschlange, Heilige Schlange, Große Schlange genannt. Ein Wesen von großer Bösartigkeit, der Sage nach einst ein menschlicher Zauberer, welcher mithalf, die Dwaerindim zu verzaubern, dem Wahnsinn verfiel, Schlangengestalt annahm und wie der König in Schlaf versetzt wurde. Die Schlange gilt als der schlimmste Feind Aglirtas und verleiht ihren Anhängern magische Kräfte. Stornbrücke, Tersept: feiger Tersept, welcher gemeinsame Sache mit den Schlangenpriestern macht. Talasorn, Tschamarra: Zauberin, letzte überlebende Edle des Hauses Talasorn und Kampfgefährtin der Viererbande. Treibschaum: Insel im Silberfluss mit einem Palast gleichen Namens, in welchem einst Fürst Silberbaum herrschte. Inzwischen Regierungssitz des Königs von Aglirta. Urbrindur: höchst unbeliebter Verwalter von Burg Stornbrücke. Viererbande: die Helden der Geschichte und gleichzeitig die Helden des Königs.
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