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Seewölfe 409 1
Frank Moorfield 1.
Man schrieb den 12. Juli im Jahre des Herrn 1594. Die Vormittagssonne tauchte den Hafen von Havanna in gleißendes Licht. Ein schwacher Ostwind, der vom Gebirgsland der Sierra Maestra herüberwehte, ließ die beginnende Hitze etwas erträglicher werden. Auf den öffentlichen Plätzen der Inselhauptstadt herrschte ein buntes Leben und Treiben. Die schrillen Rufe der Marktfrauen und das Stirnmengewirr der kubanischen Fischer, die durch hartnäckiges Feilschen einen guten Preis für die in den frühen Morgenstunden gefangenen Fische erzielen wollten, war bis zu den Piers und Stegen des Hafens zu hören. Jörgen Bruhn, der dunkelblonde Mann mit dem schmalen, scharfgeschnittenen Gesicht und den braunen Augen, hatte sich gegen einen Stapel leerer Wasserfässer gelehnt und gähnte. Schließlich war er seit Stunden auf den Beinen, und dies in einer Mission, die ebenso geheim wie gefährlich war. Der etwa fünfeinhalb Fuß große Hamburger, war bemüht, gar nicht erst Müdigkeit in sich aufkommen zu lassen, deshalb stieß er sich von den Fässern, ab und zog die Hände aus den Hosentaschen. Gleichzeitig ließ er seine Blicke aufmerksam durch das Hafenlabyrinth schweifen. Es war gar nicht so einfach, sich in der grotesken Landschaft von Galeonen, Karavellen, Schaluppen und Booten zurechtzufinden. Die zahlreichen Masten, die in den strahlend blauen Karibikhimmel ragten, erinnerten ihn an einen Wald mit kahlen, völlig entlaubten Baumstämmen. Jörgen hatte den Schatten der Wasserfässer noch nicht verlassen, da flog plötzlich die Tür einer nahe, gelegenen Hafenkneipe auf. Bei den verlotterten Gestalten, die heraustorkelten, handelte es sich nicht etwa um betrunkene Seeleute, sondern unverkennbar um zwei Ladys. Die eine war klein und dicklich, die andere das genaue Gegenteil davon. Ihr dürrer,
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hochaufgeschossener Körper erinnerte eher an eine Bohnenstange. Die beiden Ladys grölten, jawohl, und an der Art, wie sie sich fortbewegten, war überhaupt nichts Graziöses. Die kleinere hatte sichtliche Mühe, ihren Kurs zu halten und drohte immer wieder nach Backbord abzudriften. Ihre Begleiterin verhinderte das, indem sie durch Unterhaken Kurskorrekturen vornahm. So schafften sie es, sich dem Standort des Deutschen zu nähern und stoppten schließlich abrupt ihre Schritte. Die Dralle deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Jörgen. „Schau nur, Rosita“, sagte sie mit schwerer Zunge, „was für ein hübsches Mannsbild! Einen Blondschopf habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“ „Ziemlich dunkelblond“, berichtigte die Dürre sachkundig. „Aber du hast recht, Pepita, so einem schnuckeligen Burschen sollte man noch vor dem Frühstück den Tag versüßen, meinst du nicht auch?” Pepita hieb sich mit den Händen auf den Bauch und kreischte vor Lachen. „Auf was warten wir noch?“ schrie sie begeistert. Jörgen hatte den beiden Ladys zunächst grinsend zugehört, doch als sie sich wieder in Bewegung setzten, begann ihm die Situation unangenehm zu werden. Bei Gott, dachte er, die haben das doch wohl nicht ernst gemeint! Das hatten sie aber ganz offensichtlich, und der Zuckerrohrschnaps, mit dem sie sich schon am Vormittag die Kehlen angefeuchtet hatten, schien ihnen sogar noch Auftrieb zu geben. Jörgen kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Was sollte er tun? Auf keinen Fall wollte er besonderes Aufsehen erregen, denn er, Arne von Manteuffel sowie Jussuf, der Türke, lebten hier auf Kuba ohnehin auf einem Pulverfaß, das ihnen jederzeit um die Ohren fliegen konnte. Natürlich hing das alles mit der berüchtigten Black Queen zusammen, denn dieses Teufelsweib war seit einiger Zeit wieder in Aktion, trotz der harten Niederlagen, die sie hatte einstecken
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müssen. Inzwischen verfügte die schwarze Piratin, vor der einst die ganze Karibik gezittert hatte, über eine Zweimastschaluppe und zehn draufgängerische Kerle, zu denen natürlich auch Caligula, ihr Geliebter, gehörte. In einem anonymen Schreiben und mit einem Seekartenausschnitt hatte sie dem spanischen Gouverneur in Havanna, dem feisten Don Antonio de Quintanilla, die genaue Position der Schlangen-Insel verraten. Arne von Manteuffel aber, der seinem Vetter, dem Seewolf, zum Verwechseln ähnlich sah, war zufällig Zeuge davon geworden und hatte die Freunde vorn Bund der Korsaren per Brieftaube gewarnt. Diese Ereignisse waren auch der Grund dafür, daß sich Jörgen Bruhn und Jussuf seit zwei Tagen im Hafen herumtrieben und unauffällig Ausschau nach den Spähern der Black Queen hielten. Diese Späher mußte es geben, davon waren sie fest überzeugt, denn die Piratin wollte unbedingt wissen, ob der feiste Gouverneur aufgrund ihres anonymen Hinweises einen Kampfverband gegen die Schlangen-Insel zusammenstellen ließ. Schließlich brannte ihr nichts mehr auf dem Herzen als die Rache am Seewolf, den sie für all ihre Niederlagen verantwortlich machte. Jörgen stand noch immer an seinem Platz, als sich die Ladys vor ihm aufbauten und ihm herausfordernde Blicke zuwarfen. Natürlich hatte er längst bemerkt, daß es sich um zwei ausgesprochene Vetteln handelte - um verlotterte Hafenhuren der übelsten Sorte. „Haste wenigstens 'n bißchen Geld, Kleiner?“ wollte die dürre Rosita wissen. „Quatsch!“ sagte die Dralle. „Davon haben wir jetzt selber genug. Er kann uns aber gern einen Humpen Rotwein spendieren.“ „Verschwindet!“ sagte Jörgen. „Ich hab' kein Geld bei mir und spendiert wird auch nichts.“ „Hoho!“ rief die Dürre. „Spricht man so mit zwei Senoritas, he?“ Jörgen begann zu grinsen. „Senoritas?“ fragte er spöttisch. „Gibt es denn hier welche?“
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„Aber klar, mein Söhnchen.“ Die Dürre rückte einen Schritt näher. „Das hier ist Senorita Pepita, und ich“, sie deutete auf ihren kaum vorhandenen Busen, „bin Senorita Rosita.“ „Ach nein“, brummte Jörgen, „daß ich soviel Schönheit auf einem Haufen übersehen konnte! Na, vielleicht habe ich ein anderes Mal die Ehre, die Senoritas auf einen Krug Wein einzuladen. Heute geht es leider nicht, weil es meine Zeit nicht erlaubt. Es freut mich doch, daß ich zwei so liebreizende Schönheiten kennenlernen durfte.“ Er drehte sich um und wollte gehen, um sich so rasch wie möglich aus der Affäre zu ziehen. Aber damit waren die Ladys wohl nicht ganz einverstanden. „He, Jüngelchen, nur nicht so eilig!“ rief Rosita und stelzte hinter ihm her. Da half es auch nicht, daß Jörgen seine Schritte beschleunigte. Die Bohnenstange hing plötzlich wie eine Klette an seinem Hals und versuchte, ihn zu küssen. Jörgen schüttelte sie angewidert ab. „Verhol' dich!“ zischte er. „Sonst spendiere ich dir statt Rotwein ein Faß voll Hafenwasser!“ Aber da schnaufte auch schon die dralle Pepita heran, denn auch auf Kuba war es Ehrensache, daß eine Senorita der anderen beistand. Jörgen Bruhn befürchtete schon, handgreiflich werden zu müssen, aber da wurde er auf eine völlig überraschende Weise aus seiner mißlichen Lage befreit. Den kleinen Trupp Soldaten, der im Hafengebiet aufgetaucht war, hatte er bis jetzt nicht bemerkt. Erst die laute Stimme eines Sargentos ließ ihn aufhorchen Sogar die beiden Ladys wurden in ihrem schier unbändigen Liebeshunger gebremst, denn sie ließen augenblicklich von ihm ab. „Nehmt die beiden Huren fest!“ befahl der Sargento, der wie die anderen die Uniform Seiner Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien, trug. In Wirklichkeit aber gehörte er mitsamt seinem Haufen zu den Schergen des Gouverneurs von Kuba. Im Handumdrehen waren Jörgen Bruhn sowie Rosita und Pepita von den Soldaten
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umzingelt. Die Mündungen von Steinschloßpistolen und etliche Degenspitzen waren drohend auf sie gerichtet. „Den Kerl da auch?“ wollte einer der Soldaten mit einem Seitenblick auf Jörgen wissen. Der Sargento schüttelte den Kopf. „Nur die Weiber!“ befahl er. „Durchsucht sie an Ort und Stelle. Wenn sie die beiden Seeleute tatsächlich im Suff ausgeplündert haben, werden sie mitgenommen.“ Jörgen atmete auf, während die beiden Huren von den Soldaten gepackt wurden. Innerhalb von Sekunden bot sich den Schaulustigen, die sich rasch eingefunden hatten, ein geschmackloses Schauspiel, denn trotz lauter Proteste und heftiger Kratz- und Beißversuche, wurden Pepita und Rosita von den Schergen des Gouverneurs ungeniert durchsucht. Mit Erfolg übrigens, denn aus den unerfindlichen Weiten ihrer Röcke wurden zwei prallgefüllte Lederbeutel zutage gefördert. Die beiden Huren hatten sie offensichtlich betrunkenen Freiern gestohlen. Jetzt half auch kein Fluchen und Kreischen mehr, die Senoritas wurden abgeführt. „Sind Sie ebenfalls von den Weibern bestohlen worden, Senor?“ fragte der Sargento. Jörgen schüttelte den Kopf. „Nein, Sargento. Die beiden sind betrunken und wollten unbedingt, daß ich sie zu einem Krug Wein einlade. Da ich ablehnte, wurden sie ein bißchen zudringlich.“ „Gut so“, entschied der Sargento knapp und schloß sich seinen Leuten an. Jörgen war froh über den raschen Abzug der Soldaten. Er wußte nur zu gut, daß der Gouverneur und seine skrupellose Clique, zu der auch seine Schergen gehörten, nicht lange fackelten. Hätte der Sargento die Situation zufällig anders eingeschätzt, wäre es durchaus möglich gewesen, daß man ihn gleich mitverhaftet hätte. Jetzt aber sah Jörgen Bruhn zu, so schnell wie möglich zu verschwinden. Er hatte nicht das geringste Interesse daran, noch länger im Mittelpunkt des allgemeinen
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Interesses zu stehen, denn außer ihm wußten in Havanna nur Jussuf und Arne davon, daß diese deutsche „Faktorei“ lediglich ein geheimer Stützpunkt des Bundes der Korsaren war und unter anderem dazu diente, die Bewohner der Schlangen-Insel mit Nachrichten und Gütern des täglichen Bedarfs zu versorgen. * Jussufs pechschwarze Augen huschten flink hin und her. Er ließ den Kreolen, der schon eine Weile im Hafen herumlungerte, nicht eine Sekunde unbeobachtet. Vor allem deshalb nicht, weil der schmuddelige und wenig vertrauenerweckend aussehende Bursche auffallend deutlich den Arsenalbereich im Auge behielt, wo etliche Schiffe zur Ausrüstung lagen. Jussuf hatte sich vorsichtig in den Schatten eines Lagerschuppens zurückgezogen und wischte sich von Zeit zu Zeit den Schweiß von der Stirn. Der aus Beirut stammende Türke mit der stämmigen Figur und dem sichelförmigen Schnauzbart war zwar an Hitze gewöhnt, doch hier in der Karibik war das Klima von anderer Art als im Orient. Die Luft war feuchter und schwerer und keineswegs erfrischend. Davon ließ sich Jussuf jedoch nicht beeindrucken. Schließlich hatte er während seiner Zusammenarbeit mit Jörgen Bruhn und Arne von Manteuffel schon oft genug unter Beweis gestellt, daß er in vielerlei Hinsicht brauchbar war - nicht nur was das fachgerechte Züchten von Brieftauben betraf, das zu seinen großen Leidenschaften gehörte. Jussuf war noch in der Nacht zusammen mit Jörgen aufgebrochen. Wenig später hatten sie sich getrennt, um möglichst den gesamten Hafen überwachen zu können. Die Tatsache, daß die Crew der Black Queen aus Farbigen und Mischlingen bestand, war ihnen von Vorteil, denn sie brauchten bei ihrer Suche nach den Spähern der schwarzen Piratin nur auf solche Typen zu achten. Als Jussuf merkte, daß der Kreole seinen Platz nicht mehr verließ und immer
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wieder zu den Ausrüstungsplätzen hinüberstarrte, zog er sich etwas weiter in den Schatten des Lagerschuppens zurück. Er fand dort eine morsche Holzkiste und benutzte sie als Sitzgelegenheit. Gleich darauf stützte er den Kopf in die Hände und döste scheinbar ohne jegliches Interesse an Gott und der Welt vor sich hin. Eine halbe Stunde später, kurz vor der Mittagszeit, tat sich endlich etwas. Ein anderer Kreole, der aus westlicher Richtung aufgetaucht war, traf den vermeintlichen Späher und wechselte einige Worte mit ihm. Dann löste er ihn ab. Der Späher Nummer eins wandte sich westwärts. „Vergiß nicht, die Klüsen offen zu halten, Amigo!“ rief er noch mit gedämpfter Stimme. Doch Jussuf konnte die Worte deutlich verstehen. Für den Türken gab es keinen Zweifel mehr daran, daß er sich „auf dem richtigen Schiff“ befand. Von jetzt an galt es, doppelt aufmerksam zu sein. Langsam und unauffällig erhob er sich von seiner Sitzgelegenheit, gähnte herzhaft und reckte sich, als sei er aus seiner Siesta erwacht. Dann begab er sich ebenfalls ohne erkennbare Hast auf den Weg zum Westteil des Hafens. Der Kreole schien nicht zu bemerken, daß ihm jemand folgte, und das war Jussuf auch recht so. Außerdem schien es der verluderte Kerl nicht besonders eilig zu haben, denn schon nach wenigen Minuten blieb er bei einigen Herumlungerern stehen und schaute ihnen neugierig beim Würfelspiel zu. Jussuf überbrückte die Wartezeit, indem er mit einem Händler, der auf einem primitiven Karren Früchte und Gemüse feilbot, um eine Handvoll Bananen zu feilschen begann. Dabei legte er notgedrungen eine solche Ausdauer an den Tag, daß ihn der Händler schon zum Teufel jagen wollte. Doch da besann sich der Kreole endlich wieder auf seinen Auftrag und setzte seinen Weg fort. Jussuf kaufte kurz entschlossen die Bananen, obwohl er nicht den geringsten
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Appetit darauf verspürte. Dann heftete er sich erneut an die Fersen des Kreolen. Die Sonne hatte mittlerweile ihren höchsten Stand erreicht und verströmte erbarmungslos ihre sengende Hitze. Jussuf hatte sich gerade mit dem Handrücken über die Stirn /gewischt, da stellte sich ihm ein kleiner Junge von höchstens zehn Jahren in den Weg und streckte ihm bittend eine Hand entgegen. „Nur ein paar kleine Münzen, Senor“, sagte der Junge. „Ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.“ Aber so abgemagert und hungrig sah der kleine Bursche gar nicht aus, eher ziemlich schlitzohrig. „Du meinst wohl, dein Vater hat schon seit zwei Tagen kein Geld mehr zum Saufen, mein Söhnchen“, sagte Jussuf lächelnd. „Trotzdem kann deinem Kohldampf abgeholfen werden.“ Er drückte dem kleinen Bettler kurzerhand die Bananen in die Hände. „Laß sie dir schmecken, und sag deinem Alten einen schönen Gruß, er soll seinen faulen Hintern hochhieven und mal kräftig in die Hände spucken.“ Der Kleine grinste. „Danke, Senor! Vielen Dank!“ Im Handumdrehen war er mit den Bananen verschwunden. Jussuf war froh, endlich wieder die Hände frei zu haben. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange vor, denn er stellte im selben Augenblick mit Erschrecken fest, daß er den Kreolen aus den Augen verloren hatte. „Bei Allah!“ stieß er hervor. „Hat sich dieses etwas dunkel geratene Exemplar eines Kamels in Luft aufgelöst?“ Jussuf befürchtete schon, auf ein Ablenkungsmanöver hereingefallen zu sein, aber dann fiel ihm doch ein Stein vom Herzen, als er den Kreolen wieder entdeckte. Der Kerl löste sich gerade vom Eingang einer Kneipe, wo er wohl einen neugierigen Blick .ins Innere geworfen hatte. Im stillen dankte Jussuf Allah und seinem Propheten und nahm sich fest vor, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen. Schon bald führte der Weg aus dem Hafengewirr hinaus. Nach einem Fußmarsch von etwa zwei Meilen, bei dem
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das unwegsame Dschungelgelände das Vorhaben Jussufs sehr begünstigte, nahm der Kreole Kurs auf eine kleine, versteckte Bucht, in der eine Zweimastschaluppe vor Anker lag. Jussufs Herz schlug höher. Also doch, sagte er sich. Ich bin genau dem richtigen Mann gefolgt. Da der Kreole nur noch wenige Schritte vom sandigen Ufer entfernt war, blieb er jetzt in der Deckung weit ausladender Farnbäume zurück. Eine Schar bunter Vögel hob sich lärmend in die Luft, doch darum kümmerte sich niemand, denn der Dschungel, der einen Großteil der Insel überwucherte, gab Tag und Nacht vielfältige Geräusche von sich. Der Kreole blieb im Ufersand stehen und rief die Schaluppe an. An Bord hatte man ihn offenbar sofort bemerkt, denn zwei muskulöse Kerle enterten flink in ein winziges Beiboot ab und pullten es mit kräftigen Riemenschlägen zum Ufer. Jussuf harrte bewegungslos in seinem Versteck aus und beobachtete, wie der Kreole an Bord gebracht wurde. Einen Augenblick später hielt er sogar kurz den Atem an, als er die beiden Gestalten entdeckte, die aus den Achterdecksräumen erschienen. Es handelte sich um eine halbnackte und gutgebaute Negerin und um einen herkulischen Schwarzen. Jussuf erkannte den hünenhaften Kerl sofort. Es war niemand anderes als der gefürchtete Caligula. Er hatte ihn vor einiger Zeit in Havanna beschattet, als er im Auftrag der Black Queen dort aufgetaucht war. Und wenn dieser muskelbepackte Mann Caligula war, dann konnte die rassige Negerin an seiner Seite nur die berüchtigte schwarze Piratin sein. Jussuf kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Aber er hatte sich nicht getäuscht, es bot sich ihm noch immer dasselbe Bild. Die Piraten hatten sich in dieser winzigen Bucht unweit des Hafens versteckt und würden erst dann abziehen, wenn sie sich über die Weiterentwicklung der Dinge in Havanna informiert hatten. Der Kreole, dem Jussuf gefolgt war, gab offensichtlich einen ausführlichen Bericht. Der Türke bedauerte lebhaft, daß er von all
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dem nichts verstehen konnte, weil die Entfernung zu groß war. Dafür aber fiel ihm auf, daß der Kreole während seines Berichtes häufig den Kopf schüttelte und mit den Schultern zuckte. Daraus war zu schließen, daß sich im Hafen noch nichts tat und er der Queen deshalb keine positiven Nachrichten überbringen konnte. Die endgültige Bestätigung für seine Vermutung erhielt Jussuf sofort, als die Queen in höchster Wut irgendetwas Unverständliches schrie. Der Kreole wich ängstlich zurück, aber er konnte dem kraftvollen Fausthieb der Frau nicht mehr ausweichen. Der Schlag fegte ihn wie eine Puppe über das Achterdeck der Schaluppe. Jussuf konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er war sich darüber im klaren, daß es hier nicht mehr viel zu erkunden gab. Demnach war es höchste Zeit für ihn, sich zurückzuziehen und Arne von Manteuffel seine Beobachtungen mitzuteilen. Vorsichtig, stets die Deckung des Gestrüpps und der Farnbäume ausnutzend, begab er sich auf den Rückweg. Er durfte auf keinen Fall riskieren, von den Leuten der Black Queen entdeckt zu werden, denn das würde nicht nur ihn selber in Lebensgefahr bringen, sondern auch seine Kameraden. Erst als er außer Sichtweite war, schlug er eine schnellere Gangart ein und kehrte in relativ kurzer Zeit zum Hafen zurück. Dort traf er an dem vereinbarten Treffpunkt auf Jörgen Bruhn, der schon eine ganze Weile auf ihn gewartet hatte. „Da bist du ja endlich“, sagte Jörgen verwundert. „Warum schnaufst du wie ein altes Walroß?“ „Ich bin ziemlich schnell gelaufen“, erwiderte Jussuf, „denn es gibt eine Menge Neuigkeiten.“ Jörgen horchte auf. „Bist du etwa fündig geworden?“ „Das kann man wohl sagen. Und was hast du die ganze Zeit über getrieben?“ Jörgen winkte ab. „Ich hatte meine Not, nicht von zwei liebeshungrigen Senoritas untergemangelt zu werden.“
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Der Türke grinste. „Das hat man davon, wenn man so schrecklich schön ist. Aber Spaß beiseite. Am besten, wir trennen uns jetzt und kehren auf verschiedenen Wegen zur Faktorei zurück. Nachdem ich die Black Queen samt ihrem Geliebten gefunden habe, bin ich der Meinung, daß Arne das so schnell wie möglich erfahren sollte.“ Jörgen klopfte dem Türken anerkennend auf die Schulter. Danach marschierten sie getrennt zur Faktorei zurück. 2. Im Kontor des Handelshauses war es ebenfalls brütend heiß. Trotzdem waren die hohen Temperaturen hier leichter zu ertragen als draußen in der prallen Mittagssonne. Die drei Männer, die um einen wuchtigen Tisch saßen, hatten jedoch ganz andere Sorgen. Das Gesicht Arne von Manteuffels, das demjenigen des Seewolfs so sehr ähnelte, wirkte ernst, während Jussuf seine Beobachtungen schilderte. Der ehemalige Kaufmann aus Kolberg an der deutschen Ostseeküste hatte bis jetzt nur zugehört und den Türken kaum unterbrochen. Nun aber trank er einen Schluck aus dem irdenen Becher, den er seit einigen Minuten langsam zwischen den Fingern drehte. „Alle unsere Vermutungen haben sich demnach bestätigt“, sagte er. „Die Black Queen hat eine Gelegenheit gefunden, den Schritt zu tun, den wir seit langem zu verhindern suchten. Sie hat die Position der Schlangen-Insel an den Gouverneur verraten und wartet darauf, daß die Spanier einen Kampfverband zusammenstellen, um jene schmutzige Arbeit zu tun, für die sie zur Zeit selber zu schwach ist.“ „Diese Queen ist ein wahres Teufelsweib“. sagte Jörgen. „Der kann wohl niemand was anhaben. Kaum liegt sie mit der Nase im Dreck, da erholt sie sich wieder und beginnt von vorn.“ Er goß sich aus einem schweren Steinkrug. der auf dem Tisch stand, von dem
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erfrischenden Getränk in den Becher, das Jussuf mit wenigen Handgriffen zubereitet hatte. Es handelte sich um frischen Limonenund Zitronensaft, etwas Grenadinesirup, einen Schuß Wasser und Rum. Obenauf schwamm eine Scheibe Ananas, und ein Hauch von geriebener Muskatnuß gab dem Getränk die feine Würze. „Dieses Weib ist wie eine Katze“, sagte Jussuf. „Sie kann das Mausen nicht lassen. Dabei ist sie zäh wie Leder, und stutzt ihr jemand die scharfen Krallen, dann wachsen sie sofort wieder nach.“ Arne nickte zustimmend. „Trotzdem kann man ihr ein gewisses Maß an Mut und Intelligenz nicht absprechen“, meinte er. „Sie spinnt die Fäden ihres Netzes so fein wie eine Spinne, um ihr Ziel zu erreichen. Das gleiche kann man von Caligula sagen, denn kaum jemand anders würde sich in seiner Situation auf Kuba blicken lassen. Wenn er dem dicken Don Antonio ein zweites Mal in die Hände fällt, kommt er gewiß nicht mehr lebend davon.“ Er spielte damit auf die spektakuläre Flucht an, die Caligula vor einiger Zeit gelungen war. Trotz Folter und schärfster Bewachung war er aus dem Kerker des Gouverneurs ausgebrochen und hatte dabei eine blutige Spur hinterlassen. Selbst die Bluthunde und Reitersoldaten, von denen er verfolgt worden war, hatten ihn nicht aufhalten können. Er hatte sich zu den Islas de Mangles durchgeschlagen, wo die Black Queen von den Meuterern der „Caribian Queen“ an Land gesetzt worden war. Hinter den Stirnen der drei Männer arbeitete es. Sie waren sich der Gefahr, in der sie und ihre Freunde schwebten, durchaus bewußt. Es ging um den Fortbestand des wichtigsten Stützpunktes des Bundes der Korsaren - um die Schlangen-Insel. Sie war ihnen allen zur zweiten Heimat geworden. Außerdem hatte sie bisher hervorragenden Schutz gegen Überraschungsangriffe geboten, weil kaum jemand die genaue Position jener bei der Caicos-Gruppe liegenden Insel kannte. Arne, Jörgen und Jussuf dachten in dieser Stunde mehr denn je an Philip Hasard
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Killigrew und seine Männer, an Siri-Tong, den Wikinger, die Kameraden von der „Wappen von Kolberg“ sowie an den Schiffsbaumeister Hesekiel Ramsgate und die Araukaner. Und sie waren fest entschlossen, alles zu tun, um die Zerstörung ihrer karibischen Heimat zu verhindern. Nur über die Art und Weise ihres Vorgehens waren sie sich noch nicht im klaren. Jörgen hieb mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „An den Intrigen der Black Queen können wir nichts mehr ändern“, sagte er. „Ich möchte jetzt nur gerne wissen, wie Don Antonio darauf reagiert. Wie ich den Gouverneur einschätze, wird er auf jeden Fall aus seinem Wissen Kapital schlagen wollen. Jeder weiß, daß der feiste Kerl gierig nach Reichtum und Macht ist. Meiner Meinung nach wird er einen Kampfverband gegen die Schlangen-Insel zusammenstellen. Es wird kein Problem für uns sein, das zu beobachten.“ Jussuf zuckte mit den Schultern. „Ich halte das ebenfalls für möglich, obwohl sich bis jetzt noch nichts in dieser Richtung getan hat. Dennoch scheint auch das schwarze Teufelsweib von der entsprechenden Reaktion des Gouverneurs überzeugt zu sein. Wie ich selbst mitgekriegt habe, wartet sie sogar voller Ungeduld darauf.“ Einem plötzlichen Einfall folgend, fügte er hinzu: „Es juckt einem wirklich in den Fingern, den Spieß einfach umzudrehen und Don Antonio einen Hinweis auf den derzeitigen Aufenthaltsort Caligulas und der Piratenschaluppe zu geben. Vielleicht würden sich alle Probleme dadurch lösen, und wir wären das Gesindel für alle Zeiten los.“ Arne erhob sich und trat ans Fenster. Dabei verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. „Dieser Gedanke bietet sich zwar an“, entgegnete er nach einem Augenblick des Nachdenkens, „aber ich halte ihn zur Zeit nicht für praktizierbar. Die Black Queen ist auf jeden Fall schlauer und raffinierter als Don Antonio samt seiner Clique. Außerdem läßt sie das Geschehen im
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Hafen ständig beobachten. Sobald sie eine Gefahr wittert, verschwindet sie und verholt sich in eins ihrer Verstecke, noch bevor es Don Antonio gelingt, einen Finger zu rühren. Zudem könnten wir nicht mit offenen Karten spielen und müßten ebenfalls auf anonyme Weise intrigieren. Anderenfalls würde man sich fragen, woher unser Wissen stammt.“ „Da hast du völlig recht“, sagte Jörgen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Wir sollten jetzt nichts überstürzen, denn wir dürfen auf Kuba genauso wenig auffallen wie Caligula. Zwischen seinem Schicksal und dem unsrigen dürfte es wohl kaum einen Unterschied geben, wenn der Gouverneur jemals von unserer tatsächlichen Identität erfahren sollte.“ „Mir geht Don Juan nicht aus dem Kopf“, fuhr Arne jetzt fort. „Von seinem Eingreifen würde ich mir noch die größten Chancen versprechen, und zwar im Hinblick auf die Queen und den Gouverneur. Mir scheint besonders wichtig, daß in erster Linie gegen Don Antonio Front gemacht wird, denn selbst wenn es uns gelänge, die Queen und Caligula ans Messer zu liefern, würde das am Wissen Don Antonios nichts ändern und ihn wahrscheinlich auch nicht davon abhalten, die Freunde auf der SchlangenInsel anzugreifen. Die schwarze Piratin hingegen bildet mit ihren wenigen Schnapphähnen gegenwärtig keine unmittelbare Gefahr - zumindest, was einen direkten Angriff betrifft.“ Was Arne da sagte, leuchtete seinen Gesprächspartnern voll und ganz ein. „Genauso ist es“, meinte Jussuf. „Wir dürfen jetzt wirklich nicht den Fehler begehen, die Black Queen als Hauptgefahrenquelle zu sehen. Die größte Bedrohung geht tatsächlich von unserem wohlgenährten Freund, dem Gouverneur, aus. Man müßte Don Juan gegen Don Antonio und seine Schergen mobilisieren.“ Der Türke meinte damit - so paradox sich das auch anhören mochte - Don Juan de Alcazar. Der Spanier war von der spanischen Krone mit hohen Vollmachten ausgestattet worden, die ihn im Rang höher
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einstuften als den Gouverneur. Genau genommen war er eine Art Menschenjäger, den Seine Allerkatholischste Majestät damit .beauftragt hatte, Philip Hasard Killigrew zur Strecke zu bringen. Daß Don Juan bei den Seewölfen und ihren Freunden trotzdem in Ansehen stand, war auf seinen geraden Charakter, auf seine anständige und faire Art zurückzuführen. In gewissem Sinne hatte er sich den Respekt dieser Männer erworben, und zwar nicht etwa wegen seines eleganten Aussehens, sondern aufgrund seiner menschlichen Verhaltensweise. Was er tat, das tat er aus ehrlicher Überzeugung und nicht aus skrupelloser Berechnung wie der feiste Gouverneur, dessen korruptes Verhalten ihn selber mehr und mehr in Schwierigkeiten und Gewissensnöte brachte. Diese Geradlinigkeit Don Juans war es, die den Seewolf und seine Mannen hoffen ließen, ihn eines Tages „umdrehen“ zu können. Don Juan de Alcazar, der elegante Mann mit den schwarzen Haaren, den schiefergrauen Augen und dem energischen Kinn, spukte jetzt den drei Männern im deutschen Handelshaus von Havanna im Kopf herum. Jörgen legte die Stirn in Falten und trank von dem rumhaltigen Fruchtsaftgetränk, das sich auch bei den Einheimischen großer Beliebtheit erfreute. „Wenn es Don Juan gelänge, den Gouverneur seines Amtes zu entheben und vor ein Gericht zu stellen, wäre uns bereits geholfen“, erklärte er. „Kraft seiner weit reichenden königlichen Vollmachten müßte er das eigentlich tun können. Nur schade, daß er hier in Havanna über keinerlei polizeiliche Macht verfügt, denn die liegt ausnahmslos in den Händen Don Antonios und seiner Clique.“ Arne von Manteuffel nickte zustimmend. „Leider ist es so. Don Juans Vollmachten sind hier auf Kuba nur ein Fetzen nutzlosen Papiers. Ich muß deshalb leider gestehen, daß mir aus dem Stegreif auch keine Patentlösung einfällt. Vorerst bin ich mir nur über eines im klaren: Wenn tatsächlich eine Kampfgruppe gegen die
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Schlangen-Insel ausläuft, müssen wir unsere Freunde rechtzeitig warnen, so daß sie sich dem Gegner bereits im Vorfeld zum Kampf stellen können. Die Verteidigung auf offener See ist einem heimtückischen Überfall unbedingt vorzuziehen.“ „Daran gibt es keinen Zweifel“, sagte Jussuf und zupfte an seinem Schnauzbart herum. „Aber wir können trotzdem die Möglichkeit nicht ausschließen, daß daraus ein Kampf gegen ein vielköpfiges Ungeheuer wird. Wer immer auch erfährt, wo sich der legendäre Unterschlupf der Seewölfe und das Versteck ihrer Schätze befindet, der wird nicht ruhen, sich dieser Beute zu bemächtigen.“ „Das siehst du völlig richtig, Jussuf“, sagte Arne. „Selbst wenn sich die Spanier blutige Köpfe holen würden, wüßte immer noch die Black Queen von der Position der Insel. Dadurch würde sich das Ganze im Kreise drehen, und die Schlangen-Insel wäre in ständiger Gefahr.“ Die drei Männer saßen noch eine weitere halbe Stunde im Kontor zusammen, diskutierten und stellten Überlegungen an. In einem Punkt waren sie sich alle einig: Sie waren fest entschlossen, die Black Queen samt Caligula in die Hölle zu schicken, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. In Bezug auf diese üble Sorte von Schnapphähnen vornehme Zurückhaltung zu üben, wäre selbstmörderische Dummheit, wie Arne das nannte. Der Mann aus Kolberg beendete schließlich das Gespräch mit einem Vorschlag. „Da die Sache noch Zeit hat“, sagte er, „sollte jeder von uns einen eigenen Plan entwickeln, auf welche Weise er einen tödlichen Schlag gegen die schwarze Piratin und ihre Kerle führen würde. Danach stimmen wir über den besten Vorschlag ab und einigen uns auf die Strategie, die uns am wirksamsten erscheint. Das verhindert auf alle Fälle, daß wir aufgrund mangelhafter Überlegungen Fehlentscheidungen treffen.“
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Dieser Vorschlag wurde von Jörgen und Jussuf begrüßt. „Sollen wir die Späher der Queen weiter im Auge behalten?“ wollte der Türke noch wissen. „Ich glaube, wir können zunächst darauf verzichten“, antwortete Arne. „Wir wissen ja jetzt, wo sich die Bande versteckt hält.“ Die Männer tranken einander zu. Sie waren trotz der düsteren Schatten, die drohend am Horizont heraufzogen, zuversichtlich. Es würde ihnen schon etwas einfallen, daran zweifelten sie keinen Augenblick. 3. Die Wachen am Eingang des Gouverneurspalastes flossen vor Ehrerbietung fast über, als Don Juan de Alcazar das prunkvolle Gebäude betrat. Einer von ihnen, ein älterer Sargento, hatte offenbar die Anweisung, den Besucher zu Don Antonio zu bringen, denn er ging dem hohen spanischen Generalkapitän dienernd voran. Don Juan nahm das kriecherische Gehabe der Soldaten kaum zur Kenntnis, denn im stillen ärgerte es ihn noch immer, daß der hinterhältige Kerl von einem Gouverneur ihn einfach durch einen Boten zu sich beordern ließ, als könne er ganz nach Belieben über ihn verfügen. Was mochte der feiste Kapaun jetzt wieder ausgeheckt haben? Sosehr Don Juan sich auch den Kopf zerbrach, es wollte ihm nichts einfallen. Oder gab es am Ende Neuigkeiten über die Engländer, die er seit einiger Zeit verbissen jagte? Nun, er würde es gleich erfahren. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Erwartung folgte er dem Sargento durch die langen Korridore. Don Juan war in der Tat eine stattliche Erscheinung. In gewissem Sinne war er das genaue Gegenteil des Gouverneurs, der ihn jetzt in seinem luxuriösen Arbeitszimmer empfing und mit einem öligen Lächeln begrüßte. Don Juan verspürte jedesmal, wenn er den Dicken sah, ein unangenehmes Prickeln, das ihm über den Rücken kroch, und das hing unzweideutig mit der Ausstrahlung
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zusammen, die von dem Dicken ausging. Don Antonio de Quintanilla floß für gewöhnlich über vor Freundlichkeit, Höflichkeit und huldvoller Geneigtheit. Doch alle, die ihn näher kannten, wußten genau, daß dieses pfauenhafte Gehabe nur dazu diente, andere einzulullen. In Wirklichkeit war der Mann mit dem Doppelkinn, den Hamsterbacken und den verschlagenen, flinken Schweinsäuglein ein eiskalter und durchtriebener Halunke. Darüber konnte die monströse Puderperücke, die seine Glatze verdeckte, ebenso wenig hinwegtäuschen wie das schmale, weibisch wirkende Genußmündchen, in das er unentwegt kandierte Früchte stopfte. Don Antonio war ein Intrigant ersten Ranges - berechnend, skrupellos und durch und durch korrupt. Don Juan de Alcazar wußte das seit geraumer Zeit. Kein Wunder, daß er gleich nach seinem Eintritt in das mit kostbarem Mobiliar ausgestattete Arbeitszimmer den Dicken mit kritischen Blicken musterte. „Oh, der Senor Generalkapitän!“ rief Don Antonio scheinbar hochentzückt und erhob sich sogar aus seinem riesigen Sessel. „Seien Sie willkommen, verehrter Freund“, fügte er schleimig hinzu und bedächte den Besucher mit einem Lächeln, das sein Gesicht noch wabbeliger erscheinen ließ, als es ohnehin war. „Ich freue mich, daß Sie so rasch gekommen sind, denn ich habe Ihnen - natürlich in aller Diskretion eine wahrlich freudige Botschaft zu übermitteln. Aber nehmen Sie doch Platz, Senor Generalkapitän.“ Elegant, als sei er eine seiner Mätressen, geleitete er Don Juan zu einem Sessel und nötigte ihn, sich dort niederzulassen. Gleichzeitig schnippte er mit den Fingern nach einem bereits wartenden Lakaien. „Bring uns zwei Karaffen Wein, aber vom besten! Außerdem neue Früchte und etwas Gebäck!“ Der Lakai verschwand und kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück. Das ließ darauf schließen, daß man das Gewünschte schon vor der Tür bereitgestellt hatte. Nachdem er die
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Senores bedient hatte, zog er sich auf einen Wink des Gouverneurs zurück. Don Juan gab sich freundlich und interessiert, obwohl ihn alles in dieser Umgebung anwiderte. „Sie stimmen mich neugierig, Don Antonio“, sagte er. „Vor allem, weil Sie eine gute Nachricht für mich haben. Ich muß gestehen, daß es ein angenehmes Gefühl ist, einmal ausnahmsweise keine Hiobsbotschaft zu hören.“ Der Dicke kicherte albern. „Nun denn“, begann er, „ich habe auch nicht vor, Sie lange auf die Folter zu spannen, dazu ist die Sache viel zu brisant. Gerade eben habe ich nämlich eine anonyme Mitteilung erhalten, die darüber Auskunft gibt, wo sich der geheimnisvolle Schlupfwinkel des von der Krone so dringlichst gesuchten englischen Piraten Philip Hasard Killigrew befindet.“ Er legte eine kurze Pause ein, wohl um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Don Juan tat ihm den Gefallen, obwohl er bereits davon überzeugt war, daß der Dicke log. „Oh!“ stieß er scheinbar voller Verwunderung hervor. „Das nenne ich in der Tat eine gute Botschaft, denn gerade das hätte ich nicht erwartet. Ich sehe schon, mein Lieber, daß sich mein Besuch in Ihrem Hause lohnt.“ Er lächelte verbindlich, dennoch glaubte er Don Antonio kein Wort, den „gerade eben“ konnte er bestimmt keine Nachricht erhalten haben. Aber die größte Überraschung sollte ihm noch bevorstehen. Sich weiterhin interessiert gebend, fuhr er fort: „Ich kann es, ehrlich gesagt, kaum erwarten, von Ihnen zu erfahren, wohin sich dieser Mann mit seinen Leuten verkrochen haben soll, und ich versichere Ihnen, daß ich nichts unversucht lassen werde, ihn endlich zur Strecke zu bringen.“ „Dabei bin ich Ihnen selbstverständlich behilflich“, sagte der Gouverneur. Dann dämpfte er, um die Wichtigkeit seiner Mitteilung zu betonen, die Stimme und beugte sich ein Stück vor. In diesem Augenblick glich er einem riesigen, aufgeblähten Ochsenfrosch. „Die anonyme
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Nachricht besagt nämlich, daß sich dieser Schlupfwinkel in einer Lagune südlich von Tampico befindet. Genauer gesagt, in der Laguna de Tamiahua.“ Don Juan war ja auf einiges gefaßt gewesen, als er den Gouverneurspalast betreten hatte, aber damit hatte er nicht gerechnet. Die Mitteilung des Dicken verschlug ihm beinahe die Sprache, zumal dieser jetzt auch noch eine Seekarte der Ostküste Mexikos samt des Golfes von Campeche ausbreitete. Die Lagune war mit einem Kreuz markiert. Aber das war noch nicht alles. Don Antonio hatte eine weitere Überraschung bereit, nämlich ein Schriftstück, auf dem unter anderem folgendes zu lesen war: „An Don Antonio de Quintanilla, Gouverneur von Kuba. Ich bin untröstlich, hochverehrter Senor, daß ich Ihnen nicht mit Angaben zu meiner bescheidenen Person dienen kann, aber ich bin dennoch davon überzeugt, daß ich mit dieser Nachricht Ihnen und Ihrer Majestät, dem König von Spanien, einen großen Dienst erweisen werde. Ich weiß nämlich aus absolut zuverlässiger Quelle, wo sich der langgesuchte englische Verbrecher, den man El Lobo del Mar - den Seewolf nennt, zur Zeit versteckt hält. Als ergebener Freund der spanischen Krone drängt es mich, durch Preisgabe meines Wissens einen kleinen Anteil daran zu haben, daß dieses Piratenpack, das der Krone bislang unermesslichen Schaden zugefügt hat, zur Strecke gebracht wird ...“ Der anonyme Brief gab dann eine ganz genaue und detaillierte Beschreibung des Schlupfwinkels. Don Juan lächelte und ließ den Brief sinken. „Sehr interessant, Don Antonio“, sagte er, „ja, wirklich außerordentlich interessant.“ „Sie sehen, ich habe Ihnen nicht zuviel versprochen-, sagte der Gouverneur und schob eine weitere kandierte Frucht in den Mund. In Don Juan kroch langsam die Wut hoch. Was führte der Dicke mit dieser Information im Schilde? Hatte er wirklich
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geglaubt, daß er, Don Juan, sie als echt akzeptieren würde? Don Antonio ließ ihm keine Zeit für lange Überlegungen. „Diese Mitteilung ist ein Geschenk des Himmels.“ Er lächelte süffisant. „Man braucht nur noch zuzupacken, denn die Piraten sitzen in der Lagune wie in einer Falle, wenn man den südlichen Zugang abriegelt.“ Er bemühte sich in auffallender Weise, dem Generalkapitän die Sache so schmackhaft wie möglich darzustellen, während dieser sich den Kopf darüber zerbrach, was der Gouverneur damit bezweckte. Daß er ihn von Kuba weghaben wollte, war ganz offensichtlich. Und zwar möglichst weit weg, um andererseits sein eigenes Süppchen mit dem richtigen Versteck der Engländer kochen zu können. Jawohl, nur so konnte die wahre Sachlage aussehen. Tampico lag über 900 Meilen von Havanna entfernt, und wenn er, Don Juan, unverrichteter Dinge von seiner Fahrt zurückkehrte, dann würde Don Antonio, dieser elende Schurke, bereits sein Schäfchen im trockenen haben. Vorausgesetzt natürlich, die Engländer ließen sich von ihm überrumpeln. Don Antonio hob den Weinbecher und nötigte seinen Besucher, mit ihm anzustoßen. „Natürlich“, so fuhr er dann fort, „werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um Ihnen bei Ihrer ehrenvollen Mission für die spanische Krone behilflich zu sein. Ich werde selbstverständlich dafür sorgen, daß Ihre Schebecke möglichst rasch ausgerüstet wird und stelle Ihnen außerdem ein Kontingent ausgesuchter und bewährter Seesoldaten zur Verfügung. Ja, Don Juan, an nichts soll es Ihnen fehlen.“ In Don Juan begann es jetzt richtig zu kochen. Er hörte sich den Schmus des Gouverneurs nur noch kurze Zeit an, dann riß ihm der Faden. Er leerte seinen Weinbecher und sagte zur totalen Verblüffung des feisten Kerls seelenruhig: „Ich danke Ihnen, Don Antonio, und Ihr großzügiges Angebot nehme ich mit Dank
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an. Nur werde ich mit meinem Schiff nicht nach Tampico segeln.“ Der Dicke verlor um ein Haar die Fassung und konnte gerade noch verhindern, daß er sich an einer kandierten Frucht verschluckte. Er beugte sich vor und erinnerte in dieser Körperhaltung abermals an einen Ochsenfrosch. „Wie bitte?“ fragte er. „Habe ich richtig gehört? Sie wollen nicht nach Tampico segeln?“ Er begann plötzlich zu kichern. „Nun, Don Juan“, er japste ein bißchen, „ich weiß, daß Sie ein Mann sind, der auch einem Späßchen nicht abhold ist. Deshalb nehme ich an, daß Sie das Gesagte nicht unbedingt ernst meinen ...“ „Es ist mein voller Ernst, Don Antonio“, unterbrach ihn der Generalkapitän. „Es entspricht nicht meiner Art, mit solch wichtigen und ernsten Angelegenheiten zu scherzen.“ Der Gouverneur wurde blaß. „Verzeihen Sie, verehrter Freund“, sagte er, „aber ich bin jetzt wirklich etwas durcheinander. Ich weiß immer noch nicht, was ich von Ihrer Antwort halten soll, denn ich bin mir darüber im klaren, daß es Ihre ehrenvolle Pflicht ist, jedem Hinweis auf diese äußerst gefährlichen Verbrecher nachzugehen.“ Don Juan de Alcazar winkte ab. „Damit haben Sie natürlich recht, Don Antonio, und ich hoffe, daß Sie mich nicht falsch verstehen. Ich weiß Ihre Information durchaus zu schätzen, aber ich halte die Nachricht, die man Ihnen zugespielt hat, dennoch für eine Fälschung oder für ein Phantasiegebilde. Schließlich habe ich seinerzeit durch den Kreolen Cariba einiges herausgefunden. Nicht allzu viel zwar, aber dennoch so viel, daß ich weiß, das Versteck der Engländer muß sich bei den Turks- oder Caicos-Inseln befinden. Außerdem schlägt Killigrew meist nördlich der Floridastraße zu, wie auch bei seinem letzten überfall auf einen spanischen Geleitzug. Das alles läßt eher auf ein Versteck im Bereich der gesamten Bahama-Inseln schließen, als auf das entgegengesetzt liegende und viele hundert Meilen entfernte Tampico.“
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Die übertriebene Freundlichkeit des Gouverneurs ließ zusehends nach. Seine feisten Züge spiegelten jetzt eine deutliche Verärgerung wider. „Diese Meinung kann ich leider nicht teilen, Senor, denn ich halte das anonyme Schreiben beileibe nicht für eine Fälschung. Was hätte der Informant schon davon! Natürlich kann ich Ihnen die irrige Meinung nicht ausreden, obwohl ich das im Interesse der spanischen Krone außerordentlich bedaure. Was gedenken Sie jetzt zu tun? Wollen Sie sich wirklich im Bereich der Turks- oder Caicos-Inseln umsehen?“ Seine Frage klang lauernd. Aha, dachte Don Juan, das ist es wohl, was du unbedingt verhindern willst, du durchtriebenes Schlitzohr. Für einen Augenblick verspürte er den fast übermächtigen Wunsch, dem charakterlosen Gouverneur mit Kraft die Stiefelspitzen gegen den drallen Achtersteven zu wuchten. Aber er beherrschte sich. „Ich bedaure ebenfalls“, sagte er und erhob sich, „aber über meine nächsten Schritte kann ich vorerst aus Sicherheitsgründen nichts verlauten lassen. Das ist für mich sozusagen eine dienstliche Vorschrift.“ Der Dicke reagierte beleidigt. Er stemmte sich mühsam von seinem Sessel hoch. „Senor Generalkapitän!“ stieß er schnaubend hervor. „Es trifft mich zutiefst, und ich bin untröstlich, daß Sie mir, dem Gouverneur auf Kuba und treuen Untertan Seiner Majestät, kein Vertrauen schenken, obwohl ich mich meinerseits vertrauensvoll an Sie gewandt habe, als ich die Information erhielt. Es ist mir völlig unverständlich, daß Sie den absolut sicheren Tip über Tampico als Phantasiegebilde bezeichnen und- jawohl, das muß ich sagen - leichtfertig in den Wind schlagen. Dabei habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und die Nachricht verbreitet, daß ich nach Hinweisen über das Versteck Killigrews suche. Sogar eine hohe Belohnung habe ich dafür ausgeschrieben und bereits den Boten bezahlt, der die Tampico-Nachricht zu meiner Residenz gebracht hat. Und Sie,
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Senor, wischen das alles beiseite, als habe ich Sie zu meiner persönlichen Belustigung benachrichtigen lassen.“ Nach dieser langen Rede verschränkte der Gouverneur die Hände auf dem Rücken und schniefte gekränkt. Don Juan jedoch war nach wie vor davon überzeugt, daß dieser Mann das Blaue vom Himmel herunter log. Außerdem wurde er das merkwürdige Gefühl nicht los, daß irgendetwas gegen ihn im Gange war. Es mußte triftige Gründe dafür geben, daß ihn der Dicke auf eine falsche Fährte schicken wollte. Er mußte jetzt auf der Hut sein, irgendwie war ihm die ganze Sache nicht mehr geheuer. Er mußte plötzlich an Arne von Manteuffel denken, der ihn gewarnt hatte, daß hier alles nach der Pfeife des Gouverneurs tanze. Hatte der beleidigte Don Antonio vielleicht noch einen Trumpf im Ärmel? Wenn ja, dann allenfalls den, ihn, Don Juan de Alcazar, auf irgendeine Weise kaltzustellen oder auszuschalten, um selbst freie Bahn für seine korrupten Machenschaften zu haben. Don Juan vollführte eine bedauernde Geste. „Es tut mir leid, wenn ich Sie irgendwie beleidigt habe, Don Antonio. Es war jedenfalls nicht meine Absicht. Ich muß Sie allerdings um Verständnis für mein Verhalten bitten, denn auch ich bin an gewisse Weisungen gebunden. Niemand kann das besser beurteilen als Sie.“ Der Gouverneur war immer noch verschnupft. „Ich habe mein möglichstes getan“, sagte er knapp. „Mir kann niemand etwas vorwerfen, Senor Generalkapitän.“ Don Juan, der bis jetzt sämtliche Höflichkeitsformen gewahrt hatte, verabschiedete sich kühl und steckte die Seekarte sowie das anonyme Schriftstück jenes „Freundes der spanischen Krone“ ein. „Ich werde mich zu gegebener Zeit wegen der Ausrüstung meines Schiffes an Sie wenden“, sagte er frostig und wandte sich zur Tür.
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Don Juan de Alcazar hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, da hörte er, wie der Gouverneur dreimal scharf läutete. Er drehte sich deshalb um und sah, daß Don Antonio das mittels eines Kordelzuges getan hatte, der sich in unmittelbarer Nähe seines Schreibtisches befand. „Ich brauche keine Begleitung, Don Antonio“, sagte der Generalkapitän, „für den Fall, daß Sie nach einem Lakaien geklingelt haben.“ „Ich weiß“, gab der Dicke mit unbewegtem Gesicht zurück, „ich habe lediglich nach Corda, meinem Sekretär, geläutet.“ Don Juan aber wurde jenes merkwürdige Gefühl, das ihn beschlichen hatte, nicht wieder los. Er merkte instinktiv, daß jetzt Wachsamkeit geboten war, aber er vermochte nicht genau zu sagen, warum. Daß er sich nicht getäuscht hatte, sollte ihm sehr schnell klar werden - sozusagen nach wenigen Yards. Er durchschritt entschlossen den langen Korridor, an dessen anderem Ende eine geschwungene Steintreppe nach unten führte. Seine Gedanken kreisten noch immer um die ominöse „Botschaft“ des Gouverneurs. Doch da wurde er urplötzlich aus seinen Überlegungen gerissen. Eigentlich geschah alles blitzschnell und mit einer Skrupellosigkeit, die er selbst in seinen schlimmsten Träumen und Vermutungen nicht erwartet hätte. Nur wenige Schritte von der ersten Treppenstufe entfernt sprang rechts von ihm eine Tapetentür auf. Eine gutgekleidete Frau wankte heraus und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Im selben Augenblick krachte die Tür schon wieder zu. Don Juan de Alcazar wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Nicht nur, weil sich in den Zügen dieser Frau Todesangst und ungläubiges Entsetzen spiegelten, sondern weil der Schaft eines Messers aus ihrem Rücken ragte. Irgendein Meuchelmörder mußte soeben mit der tödlichen Waffe zugestoßen haben.
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Don Juan erkannte die Frau sofort. Es war die Tischdame Arne von Manteuffels, die ihm nach seiner Ankunft in Havanna anläßlich eines Festmahles des Gouverneurs in einem illustren Kreis von Gästen vorgestellt worden war. Ihr Name war Samanta de Azorin, und sie war eine wohlhabende Witwe. Der Generalkapitän konnte sich noch daran erinnern, daß Arne von Manteuffel von ihr ziemlich beeindruckt gewesen war. Außerdem hatte sie großes Interesse für den hübschen Bernsteinschmuck bekundet, den der Deutsche von der Ostseeküste mitgebracht hatte. Jetzt aber wankte diese Frau mit einem Messer im Rücken auf ihn zu. Die Beine trugen sie kaum, die Arme hatte sie nach Halt suchend von sich gestreckt. Ihre Lippen bebten, und Don Juan erkannte sofort, daß sie sich krampfhaft bemühte, ihm noch etwas zu sagen. Aber sie schaffte es nicht mehr. Die sonst so graziöse Gestalt sackte kraftlos in sich zusammen. Ihrem Mund entrang sich ein langgezogenes Stöhnen, und noch bevor der Spanier, der für einen Moment wie gelähmt war, zugreifen konnte, schlug ihr Körper hart zu Boden. Ein leises Röcheln war der letzte Laut, den sie von sich gab. Samanta de Azorin war tot. Der Generalkapitän wich zurück. Er begriff jetzt, daß diese schier unglaubliche Szene eine Falle darstellte. Seine rechte Hand zuckte reflexartig zum Gürtel. Sekunden später blitzte die Klinge seines Degens auf. Im stillen verwünschte er sich, daß er keine Pistole mitgenommen hatte. Alle seine Befürchtungen und düsteren Vorahnungen fanden in den nächsten Minuten ihre Bestätigung. Lautes Getrampel auf den steinernen Treppenstufen bildeten die ersten, Anzeichen dafür. Im Handumdrehen tauchten Soldaten vor ihm auf und versperrten den Korridor. Damit war der Weg nach unten für ihn abgeschnitten. Die Soldaten waren schwer bewaffnet, die Mündungen von Steinschloßpistolen und todbringende Degenspitzen waren auf
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seinen Körper gerichtet. Die Gesichter der Schergen ließen Spott und Hohn erkennen. Sie wußten offenbar ganz genau, welch schändliches Spiel sie trieben. Da der Fluchtweg nach vorn versperrt war, wandte sich Don Juan blitzschnell um und blickte geradewegs in das hagere und gelbliche Gesicht von Don Ruiz de Retortilla, einem getreuen Mitglied der Hofkamarilla und Stadtkommandant von Havanna. Es gab also kein Vor und Zurück mehr für ihn. Die Schergen des Gouverneurs hatten, wie es schien, an alles gedacht. Neben dem unsympathischen Mann mit der Hakennase, dem spitzen Kinn und den schmalen, zusammengekniffenen Lippen hatten sich zwei Sargentos aufgebaut. Auch sie hatten ihre Pistolen auf Don Juan gerichtet. In die starre Gestalt des Stadtkommandanten geriet Bewegung. „Geben Sie auf, Don Juan“, sagte er höhnisch. „Sie sehen selbst, daß jeder Widerstand zwecklos ist. Ich erkläre Sie hiermit für verhaftet, und zwar wegen heimtückischen Mordes an der ehrenwerten Senora de Azorin.“ Der Generalkapitän, dem es längst wie Schuppen von den Augen gefallen war, verspürte jetzt einen schier grenzenlosen Zorn. „Das würde Ihnen so passen, Sie Hundesohn!“ stieß er hervor. Er hatte nämlich festgestellt, daß dem gewissenlosen Don Ruiz ein schwerwiegender Fehler unterlaufen war: Welche Seite auch immer das Feuer auf ihn eröffnete - sie gefährdete damit auch die eigenen Leute, denn man stand sich in gewissem Sinne genau gegenüber. Don Juan handelte deshalb blitzartig. Im Zickzack stürmte er auf die Soldaten zu, die ihm den Zugang zur Treppe versperrten. In diesem Moment krachten die ersten Schüsse. Der Generalkapitän hatte die Lage richtig eingeschätzt. Beide Seiten beschossen sich, ohne das beabsichtigt zu haben. Und das blieb nicht ohne Folgen.
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Der Sargento links von Don Ruiz de Retortilla ließ seine rauchende Pistole fallen und brach mit einem erstickten Laut zusammen. Der Stadtkommandant aber kriegte einen Schulterstreifschuß ab und begann wie ein Stier zu brüllen. Er preßte die rechte Hand auf die Wunde, zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Sein hageres Gesicht verfärbte sich und wurde kalkweiß. Auf der anderen Seite hatte die übereilte Reaktion der Soldaten ebenfalls böse Folgen. Einer der vier Männer, die Don Juan den Weg abgeschnitten hatten, kippte mit einem Aufschrei vornüber. Die Ereignisse begannen sich zu überstürzen. Im Nu herrschte im Gouverneurspalast ein Chaos. Don Juan de Alcazar fühlte, wie ihm etwas heiß über die linke Hüfte raste, aber er hatte nicht die Zeit, darauf zu achten. Er erreichte die Soldaten, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, und sie sollten in den nächsten Sekunden zu spüren kriegen, wie gut er zu kämpfen verstand. Sein Degen zuckte schnell wie der Kopf einer giftigen Viper nach allen Seiten. Metall klirrte mit hässlichem Geräusch gegeneinander. Einen der Soldaten trieb er durch einen Degenstoß zurück. Doch da war die hohe Steintreppe. Der Mann stürzte laut schreiend hinunter. Einen weiteren Schergen streckte Don Juan mit einem geschickten Hieb nieder, und dem dritten schlug er geistesgegenwärtig die leergeschossene Pistole aus der Hand, noch bevor der Mann seinen Degen ziehen konnte. Der Generalkapitän achtete nicht auf den brennenden Schmerz an seiner Hüfte, denn jetzt galt es, die nackte Haut zu retten und einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Den Weg zur Treppe hatte er sich in sehr kurzer Zeit freigekämpft. Die Gefahr, die ihm von hinten drohte, war wesentlich geringer geworden, denn ein Sargento lag tot auf dem Steinboden und Don Ruiz war wegen seiner Verletzung völlig mit sich selber beschäftigt. Da war nur noch der Sargento rechts von ihm. Der Mann hatte bisher wie gebannt
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auf den brüllenden Stadtkommandanten gestarrt, jetzt aber hob er seine Pistole und feuerte sie mit einem lauten spanischen Fluch auf Don Juan ab. Doch der jagte bereits die Treppe hinunter. Die Kugel pfiff ungefähr zwei Handbreiten über seinen Kopf weg, prallte jenseits der Treppe gegen die Mauer und sirrte als Querschläger durch die Gegend. Der Generalkapitän kümmerte sich nicht darum. Für ihn gab es nur noch den Weg nach vorn. Unten angelangt, sprang er über den Soldaten weg, der die Treppe hinuntergestürzt war und mit weit aufgerissenen Augen am Boden lag. Gleich darauf erreichte er den Ausgang. Weitere Soldaten waren noch nicht zu sehen. Offenbar hatte der Galgenvogel von Gouverneur damit gerechnet, daß der kleine Trupp unter Führung des ihm treu ergebenen Don Ruiz ausreichen würde, den Generalkapitän zu überwältigen. Rechts neben der Freitreppe, die auf den Hof führte, entdeckte Don Juan das Pferd des Stadtkommandanten. Man hatte das Tier an einem Querbalken festgebunden. Über das Gesicht des Spaniers huschte ein grimmiges Lächeln. Er schob den Degen mit einer raschen Bewegung in die Scheide zurück, löste das Pferd von dem Balken und sprang in den Sattel. Sekunden später galoppierte er über den Vorhof und jagte an den verdutzt schauenden Posten vorbei. Der Fluchtweg führte durchs Tor hinaus auf die Plaza. Während hinter ihm laute Alarmrufe ertönten, bog er bereits in eine Nebengasse ein. Hinter der Stirn Don Juans jagten sich die Gedanken. Der Zorn auf den verbrecherischen Gouverneur fraß an ihm wie ein eiterndes Geschwür. Dennoch wurde ihm immer deutlicher bewußt, daß er mit seiner Flucht erst recht den Mordverdacht auf sich lenkte. Andererseits hatte er jedoch keine Chance gehabt, den Klauen des Gouverneurs zu entwischen. Der feiste Bursche hätte bestimmt eine Reihe falscher Zeugen aufmarschieren lassen - beispielsweise Männer wie Don Ruiz de Retortilla. Und die hätten mit
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ziemlicher Sicherheit behauptet, „seinen“ Mord an Samanta de Azorin mit eigenen Augen gesehen zu haben. Don Juan war sich darüber klar, daß der Gouverneur das teuflische Spiel exakt geplant und eingefädelt hatte. Und er, der Abgesandte des spanischen Königs, war diesem Kerl auch noch auf den Leim gegangen. Der Dicke hatte von Anfang an beabsichtigt, ihm einen Mord anzuhängen, falls er nicht bereit war, nach Tampico zu segeln. Letzten Endes bewies dies, daß Don Antonio de Quintanilla noch weit skrupelloser, gefährlicher und verbrecherischer war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Er, Don Juan, war noch der Meinung gewesen, das dreimalige Glockensignal habe den Zweck gehabt, einen Lakaien herbeizurufen. In Wirklichkeit aber hatte es sich um das Signal für einen feigen und brutalen Mord gehandelt. Vielleicht wäre es richtig gewesen, in den Arbeitsraum des Gouverneurs zurückzustürmen und ihn als Geisel zu nehmen, statt sich den Weg aus dem Palast freizukämpfen. Solche und ähnliche Gedanken gingen ihm jetzt durch den Kopf. Dann aber verwarf er diese Überlegungen wieder, denn höchstwahrscheinlich hätte er bei einer Umkehr den Dicken nicht mehr angetroffen. Der war raffiniert genug, sich schleunigst in einen anderen Raum abzusetzen. So gesehen, war seine Flucht zwar keine endgültige Lösung, aber doch das Vernünftigste, was er in dieser verzwickten Situation hatte tun können. Don Juan bog jetzt in eine andere Gasse ein und zügelte das Pferd, um nicht zu sehr aufzufallen. Jetzt, da die allgemeine Siesta zu Ende war, tauchten die Menschen überall aus ihren kastenförmigen Lehmhäusern auf, um einzukaufen, Waren anzubieten oder aber mit dem Nachbarn zu plaudern. Die heißeste Zeit des Tages war vorüber, schon bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen. Von jetzt an versuchte Don Juan, auf eine möglichst unauffällige Weise
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voranzukommen. Dabei wechselte er ständig die Gassen und wandte sich schließlich nach Süden. Mit Erschrecken wurde ihm klar, daß er trotz seines hohen Ranges und aller königlicher Vollmachten ein Geächteter geworden war. Diese bittere Erkenntnis vermittelte ihm für einen Augenblick das Gefühl, der einsamste Mensch auf dieser Karibik-Insel zu sein. Doch dann dachte er an seine Freunde. Hatte er überhaupt welche? Nun, es gab schon ein paar anständige Männer in Havanna - den Leutnant vom Castillo de la Punta zum Beispiel. Aber der unterstand dem Kommandanten des westlichen Hafenforts. Und dieser wiederum gehörte zur Clique des Gouverneurs. So sehr sich Don Juan auch den Kopf zerbrach - der traurige Reigen ließ sich fortsetzen: Alle öffentlichen Institutionen wie Polizei, Militär, Gericht, Gefängnisverwaltung und Hafenkommandantur waren von der Gnade und dem Wohlwollen des Gouverneurs abhängig oder von diesem korrumpiert. Egal, wohin er sich auch wenden würde es gab überall Männer, die ihn an Don Antonio und seine Schergen verraten würden. Don Juan de Alcazar gab deshalb nicht auf, denn er gehörte ganz und gar nicht zu jener Sorte von Menschen, die rasch die Flinte ins Korn warfen oder resignierten, wenn sie sich in einer ausweglosen Situation wähnten. Auswege gab es fast immer, davon war Don Juan überzeugt, man mußte sie nur finden. Je mehr er über seine Lage nachdachte, umso klarer wurde ihm, daß es zur Zeit nur einen Mann in Havanna gab, von dem er ehrliche Hilfe erwarten konnte: von Arne von Manteuffel. Während er die letzten Häuser von Havanna passierte und das Pferd in den dichten Dschungel dirigierte, entschloß er sich dazu, den deutschen Kaufmann aufzusuchen, sobald es dunkel geworden war. Bis dahin aber mußte er sich im üppigen Grün der Insellandschaft verstecken.
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Nach ungefähr dreihundert Yards vernahm er ein leises Rauschen, Plätschern und Gurgeln. Das deutete auf Wasser hin. Don Juan lenkte das Pferd in die Richtung, aus der die Geräusche drangen und erreichte schließlich einen kleinen, schmalen Bach. Da mit zahlreichen Verfolgern zu rechnen war, glitt er aus dem Sattel und jagte das Pferd zurück. Das dichte Gestrüpp, das an den Ufern des Baches wucherte, bot hervorragende Versteckmöglichkeiten. Außerdem wurde er jetzt wieder auf den brennenden Schmerz an seiner linken Hüfte aufmerksam. Als er die Wunde befühlte, spürte er die Wärme des eigenen Blutes an den Fingern. Es handelte sich, wie er gleich darauf feststellte, um einen Streifschuß, der nicht besonders gefährlich war. Dennoch mußte die Verletzung behandelt werden, um der Gefahr eines Wundbrandes zu entgehen. Don Juan stillte an dem Bach zuerst seinen Durst und wusch sich das verschwitzte Gesicht. Dann aber säuberte er die Wunde und deckte sie notdürftig mit einem Hemdfetzen ab. Das war alles, was er im Augenblick tun konnte. Nachdem er sich in den Schatten eines weit ausladenden Farnbaumes niedergelassen hatte, um den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten, lauschte er aufmerksam auf die Geräusche seiner Umgebung. Er wußte nur zu gut, daß die Häscher des Gouverneurs unterwegs waren, um ihn ans Messer zu liefern. Don Antonio würde in jedem Winkel Havannas und der Umgebung nach ihm suchen lassen. Wie merkwürdig das Leben doch war: Aus dem Jäger mit königlichen Vollmachten war im Handumdrehen ein Gejagter geworden ein Geächteter, den das Volk in den Gassen von Havanna nach seiner Festnahme anspeien würde. 5. Im Gouverneurspalast herrschte dicke Luft. Don Antonio de Quintanilla tobte und kreischte vor Wut. Seine wabbeligen Hamsterbacken zitterten, während er mit den Fäusten auf die Tischplatte trommelte.
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Vor ihm stand mit wackligen Beinen und blassem Gesicht Don Ruiz de Retortilla, der Stadtkommandant. Der hagere Mann glich in diesen Minuten einem Häufchen Unglück, und .das nicht nur wegen seiner schmerzhaften Schulterverletzung, sondern auch wegen des tobenden Gouverneurs. Er hatte ihm gerade zähneknirschend gemeldet, daß ihm Don Juan durch die Lappen gegangen wäre. „Das ist unglaublich!“ schrie der Dicke mit schriller Stimme. „Ja, zum Teufel, das ist unfaßbar! Da biete ich einen Trupp Soldaten auf, unterstelle ihn der Führung des Stadtkommandanten, und der ganze schwachköpfige Haufen schafft es nicht, einen einzelnen Mann festzunehmen. Aber nicht genug damit: Statt den Kerl zu liquidieren, schießen sie sich gegenseitig über den Haufen. O Santa Madonna womit habe ich das nur verdient!“ Das feiste Gesicht des Gouverneurs, der die Schüsse auf dem Korridor völlig anders gedeutet hatte, glich einer überreifen Tomate. Er vollführte eine Geste, als wolle er sich die Haare raufen, doch in letzter Sekunde besann er sich wohl darauf, daß er auf seinem Kahlkopf eine Perücke trug. Dafür aber stemmte er sich jetzt mit einem zornigen Schnauben aus seinem Sessel und begann erregt auf und ab zu trippeln. Don Ruiz, der noch immer die Hand auf seine Schulterwunde preßte, blickte zerknirscht zu Boden. „Er wird nicht weit gelangen“, sagte er. „Er wurde ebenfalls verletzt. Darf ich daran erinnern, daß ich dringend eine Wundbehandlung benötige ...“ Der Gouverneur unterbrach ihn wütend. „Was interessiert mich der kleine Kratzer an Ihrer Schulter! Seien Sie gefälligst nicht so wehleidig, Don Ruiz. Der Ärger, der jetzt folgen wird, überwiegt Ihre Schmerzen bei weitem. Por Dios, ich könnte wahnsinnig werden. Alles war bis ins kleinste Detail durchdacht, und Sie lassen mir den Kerl davonlaufen. Sie können von Glück sagen, Don Ruiz, daß Sie zu den höheren Diensträngen zählen, sonst würde ich Sie nämlich auspeitschen lassen, jawohl! Schließlich ist das
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Weibsstück völlig umsonst umgebracht worden. Was ist übrigens mit dem Kerl geschehen, he?“ Der Dicke verhielt seine Schritte und sah Don Ruiz fragend an. Mit dem „Kerl“ meinte er den gedungenen Mörder, der Samanta de Azorin niedergestochen hatte. Man hatte sich für diese Aufgabe einen Galgenvogel aus dem Kerker geholt und ihm für seine „Gefälligkeit“ die Freiheit versprochen. „Der ist schon erledigt“, erwiderte der Stadtkommandant mit zitternder Stimme. Damit war die Frage um den Meuchelmörder für Don Antonio bereits abgetan. Schließlich war von Anfang an beschlossen worden, den unliebsamen Zeugen zu beseitigen, sobald er seine schmutzige Arbeit getan hatte. Don Antonio hatte jetzt andere Sorgen. Der Generalkapitän mußte schnellstens gefunden werden, denn er war durch seine Flucht zu einer ernsten Gefahr für ihn geworden. Es hatte sich eine Situation ergeben, die im Mordkomplott nicht einkalkuliert worden war. Der Dicke schwitzte nicht umsonst Blut und Wasser, denn er zweifelte nicht daran, daß Don Juan das ganze Spiel durchschaut hatte. Es war ja auch nicht besonders schwierig, in dieser Sache zwei und zwei zusammenzuzählen. Außerdem hatte der Generalkapitän die Frau ja nicht umgebracht. Der Gouverneur wandte sich erneut dem Stadtkommandanten zu. „Ich verlange, daß Don Juan herbeigeschafft wird! Ob tot oder lebendig, das ist mir gleich. Kümmern Sie sich sofort darum, daß die ganze Stadt abgeriegelt wird! Jeder Winkel wird durchsucht. Alle Stadtgardisten, Polizeikräfte, Soldaten und Spitzel sind sofort einzusetzen. Ferner ist jeder Bürger von Havanna aufzufordern, nach Don Juan zu suchen. Lassen Sie meinetwegen bekanntgeben, wie er aussieht und um wen es sich handelt. Als offizielle Begründung lassen wir verlauten, er habe in einem Nebengemach der Residenz versucht, die Senora Samanta de
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Azorin zu vergewaltigen und sie erdolcht, weil sie sich verzweifelt wehrte.“ Don Ruiz nickte zu jedem einzelnen Befehl, den der Gouverneur wutschnaubend erteilte. „Vielleicht sollte man eine Belohnung aussetzen“, wandte er zaghaft ein. „Ich bin ja noch nicht fertig mit meinen Anordnungen!“ stieß der Dicke giftig hervor. „Natürlich setzen wir für die Ergreifung des Unholds eine Belohnung aus, und zwar in Höhe von hundert Goldtalern. Das trägt nicht nur dazu bei, daß der Kerl gefaßt wird, sondern erhöht gleichzeitig unser Ansehen in der Öffentlichkeit. Des weiteren lassen wir allgemein verbreiten, daß jeder, der dem Flüchtigen Hilfe leistet oder Schutz gewährt, damit rechnen muß, als Mittäter gehängt zu werden. So, Don Ruiz, nun walten Sie Ihre Amtes und lassen Sie sich meinetwegen den Kratzer verbinden. Aber denken Sie daran, daß ich sie voll zur Verantwortung ziehen werde, wenn der Kerl nicht herbeigeschafft wird. Ja, zum Teufel, ich werde Sie in die Wüste schicken, wenn Sie noch einmal so schändlich versagen!“ Der Stadtkommandant zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, denn er konnte sich sehr wohl einen Reim darauf bilden, was Don Antonio mit „in die Wüste schicken“ meinte. „Ich - ich werde mein möglichstes tun“, sagte er stotternd, „und ich verspreche Ihnen, daß ich die Schlappe wieder wettmachen werde.“ „Das will ich auch hoffen!“ fauchte der Dicke und begann sich mit einem weißen Seidentüchlein die Schweißperlen von der Stirn zu tupfen. Don Ruiz wollte sich zurückziehen, um die Befehle des Gouverneurs weiterzugeben. Außerdem wollte er endlich seine heftig schmerzende Wunde behandeln lassen. Doch Don Antonio rief ihn zurück. „Einen Moment noch, ich habe Sie noch nicht entlassen. Damit alles seine Ordnung hat, sind noch einige Dinge zu beachten. Veranlassen Sie, daß für die ermordete Witwe eine feierliche Totenmesse gehalten
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wird. So etwas macht immer einen guten Eindruck. Außerdem ist da noch die Schebecke Don Juans, sie liegt zur Überholung in der Werft. Ich möchte, daß sie beschlagnahmt und bewacht wird. Lassen Sie vorsichtshalber die ganze Mannschaft verhaften und ins Gefängnis überführen, denn ich vermute, daß die Kerle ihrem Kapitän hörig sind und ihm womöglich Hilfe leisten. Es ist besser, wenn da gleich ein Riegel vorgeschoben wird. Ansonsten, Don Ruiz, erwarte ich Ihre baldigen Erfolgsberichte. Schaffen Sie mir um jeden Preis diesen Mann herbei!“ Der Gouverneur japste nach dieser langen Rede nach Luft wie ein dicker Fisch, der von einem Angler an Land gezogen wird. Dann vollführte er eine herrische Geste in Richtung Tür. Der Stadtkommandant beeilte sich, das Gemach des Gouverneurs zu verlassen, um so schnell wie möglich eine Treibjagd in Gang zu setzen, die in Havanna ihresgleichen suchte. Kaum hatte er die schwere Tür hinter sich geschlossen, stürzte sich Don Antonio de Quintanilla fahrig und nervös auf das Tablett mit seinen heißgeliebten kandierten Früchten. In seiner momentanen Gemütsverfassung ließ er sie jedoch nicht einzeln in seinem kleinen Genußmündchen verschwinden, sondern stopfte sie gleich haufenweise in sich hinein. Er glich in diesem Augenblick einem halbverhungerten Hund, dem man ein Stück Fleisch vorgeworfen hat. 6. In Havanna war der Teufel los. Noch am Nachmittag jenes 12. Juli 1594 streiften Suchtrupps durch die Stadt. Die Nachricht von dem Verbrechen an Samanta de Azorin und ihrem angeblichen Mörder verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jussuf, den Brieftaubenzüchter, hatte sie noch nicht erreicht, obwohl er sich auf dem Marktplatz befand, um frisches Futter für seine gefiederten Lieblinge einzukaufen. Diese für ihn überaus wichtige Tätigkeit war meist mit einem enormen Zeitaufwand
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verbunden. Vor allem dann, wenn man sich beim hartnäckigen Feilschen nicht über den Preis einigen konnte. Bei vielen Händlern war der Türke mit dem sichelförmigen Schnauzbart bereits berüchtigt für sein Talent auf diesem Gebiet. Aber das störte Jussuf nicht im geringsten, denn fachmännisches Können beim Feilschen wirkte sich nicht nur auf den Inhalt des kleinen Lederbeutels aus, den er bei sich trug, sondern bereitete auch Spaß. Außerdem war es auch in seiner Heimat üblich, beim Einkauf über den vom Händler genannten Preis zu reden. Genau das tat Jussuf seit einer Viertelstunde, und sowohl er als auch der kreolische Händler rauften sich in schierer Verzweiflung über die unmäßigen Forderungen des anderen abwechselnd die Haare. „Fünf Silbermünzen sind das mindeste“, beteuerte der Kreole. „Selbst bei diesem Preis habe ich die erlesene und frische Körnermischung schon halb verschenkt. Kein Wunder, wenn meine Frau und meine acht Kinder schon seit vorgestern nichts mehr zu essen haben.“ Er zog ein leidendes Gesicht und wischte sich einige unsichtbare Tränen aus den Augenwinkeln. Doch davon ließ sich Jussuf nicht beeindrucken. Er kannte das Schlitzohr namens Miguel, und es war nicht das erste Mal, daß er Futter für seine „Kinderchen“ bei ihm einkaufte. Am Anfang war er sogar auf den traurigen Blick Miguels hereingefallen und hatte aus lauter Mitleid einen höheren Preis bezahlt. Inzwischen aber wußte er, daß der Kreole weder eine Frau noch ein einziges Kind hatte. Er pflegte sein Geld vielmehr in Rum, Zuckerrohrschnaps und Bier umzusetzen oder aber bei gewissen glutäugigen Senoritas im Hafenviertel anzulegen. Kein Wunder, wenn er angesichts der leidenden Miene Miguels zu grinsen begann. „Deine hungernde Familie tut mir ja schrecklich leid“, entgegnet er, „vor allem die lieben und wohlerzogenen Kleinen. Ach, mir bricht fast das Herz, wenn ich an ihre hungrigen Blicke denke. Deshalb kann ich auch nicht verstehen, daß du so ein
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Rabenvater bist. Statt das alte und verschimmelte Zeug endlich zu einem niedrigen Preis zu verkaufen, läßt du lieber deine Familie darben. Ich glaube, mein lieber Miguel, dein Herz besteht aus Stein, denn wenn du die beiden Säcke nicht herausrückst, müssen deine hübsche Frau und die acht reizenden Sprößlinge - so fürchte ich - ab morgen dieses Taubenfutter essen, um satt zu werden.“ Miguel reagierte empört. „Was sagst du da? Ich sei ein Rabenvater? Aber ich versuche doch die ganze Zeit, meiner armen Familie zu helfen, doch Gott sei's geklagt - bin ich an einen hartherzigen Menschen wie dich geraten; der für meine wertvolle Ware nicht einmal ein Trinkgeld bezahlen will. Ich hoffe ja immer noch auf deine Einsicht. Du kannst doch einem armen Mann wie mir kein Verlustgeschäft zumuten.“ Er hielt fordernd die rechte Hand auf und vergaß nicht, einen tiefgründigen Seufzer von den Lippen zu lassen. „Fünf Silbermünzen. Bitte!“ Jussuf winkte ab. Seine pechschwarzen Augen blitzten. „Nein. Ich habe dir drei angeboten und dabei bleibt es. Du siehst, ich bin sehr großzügig. Obwohl ich genau weiß, daß das gammelige Zeug nur zwei Silbermünzen wert ist, bin ich bereit, drei zu bezahlen.“ Er hielt dem Händler die offene Hand mit den drei Silbermünzen entgegen. „Schau sie dir genau an, Miguel. Blinken sie nicht herrlich im Sonnenlicht, als seien sie gar nicht aus Silber, sondern aus purem Gold? Bei Allah, wenn du nicht so eine arme Familie hättest, könntest du dafür ein ganzes Faß voll Rum kaufen, und“, er kniff ein Auge zu, „es würde sogar noch soviel übrig bleiben, um damit einer Senorita eine Freude zu bereiten.“ Der Kreole starrte die Münzen an und leckte sich dabei genießerisch die Lippen. Doch dann schlüpfte er rasch in seine alte Rolle zurück. „Du bist wirklich ein Halsabschneider“, sagte er jammernd. „Wenn du dich wenigstens dazu entschließen könntest, noch eine einzige Münze dazuzulegen,
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dann würde ich notgedrungen und nur wegen meiner weinenden Kinder ja sagen. An Rum oder Senoritas wage ich armer Hund ohnehin nicht zu denken.“ Jussuf grinste. „Den Gefallen kann ich dir leider nicht tun, Miguel. Ich weiß nicht einmal, wie lange ich mein Angebot über drei Silbermünzen noch aufrechterhalte, denn das Körnergemisch in den beiden Säcken verliert durch das lange Herumstehen in der prallen Sonne nicht nur an Nährkraft, sondern auch an Gewicht. Dann allerdings könnte ich nur noch zwei Silbermünzen dafür bezahlen. Jetzt aber kannst du noch alle drei haben, du brauchst sie nur zu nehmen ...“ Obwohl der Kreole ein recht mißtrauisches Gesicht zog, als Jussuf von einem angeblichen Gewichtsschwund redete, fielen ihm kaum noch neue Argumente ein, außer daß seine Kinderschar von Minute zu Minute hungriger wurde. Und hätte das Feilschen nicht eine plötzliche Unterbrechung erfahren, wäre man sich wohl bald handelseinig geworden. So aber tauchte Pedro, ein Obsthändler, der seine Geschäfte ganz in der Nähe betrieb, gestikulierend bei seinem Freund Miguel auf. , „Hast du es schon gehört, Miguel?“ „Was denn, Pedro? Du störst mich bei einem wichtigen Geschäft.“ „Vergiß das Geschäft“, sagte Pedro. Seine Stimme klang erregt. „Du kannst, wenn du die Augen aufhältst, ein viel größeres Geschäft machen. Das Geschäft deines Lebens sogar. Es gibt nämlich hundert Goldtaler zu verdienen!“ „Du bist verrückt, Pedro. Oder hast du etwa zu tief in den Rumbecher geschaut?“ Pedro tat entrüstet. „Ich überbringe dir die wichtigste Nachricht deines Lebens, und du behauptest, ich hätte mir einen hinter die Binde gegossen. Dabei weißt du genau, daß ich nie am Nachmittag trinke.“ „Aber nur, weil du bis dahin noch nicht genug Geld verdient hast.“ „Hör' mal ...“ Jetzt mischte sich Jussuf ein, denn die Nachricht, die der Obsthändler zu
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überbringen hatte, begann ihn zu interessieren. „Aber, aber, Senores“, sagte er beschwichtigend. „Wenn es hundert Goldtaler zu verdienen gibt, wird man sich doch nicht wegen eines lumpigen Bechers Rum streiten. Erzähl' uns doch mal, Pedro, wie man sich diesen märchenhaften Reichtum verdienen kann. Ich habe ohnehin das Gefühl, daß schon halb Havanna hinter den blinkenden Talerchen her ist, wenn es einer dem anderen erzählt.“ „Natürlich spricht schon halb Havanna davon“, berichtete Pedro aufgeregt. „Der Gouverneur läßt es ja überall verbreiten. Die Bevölkerung ist nämlich aufgefordert worden, bei der Suche nach einem Mörder zu helfen. Dafür gibt es die hundert Goldtaler.“ „Für die Suche bestimmt nicht“, berichtigte ihn Jussuf, „höchstens für die Ergreifung oder aber für Hinweise, die zur Ergreifung führen.“ „So ist es richtig“, bestätigte Pedro und nickte eifrig. „Das muß schon ein ganz besonderer Mörder sein, wenn er dem Gouverneur hundert Goldtaler wert ist“, meinte Jussuf. Wieder nickte Pedro. „Er hat ja auch die Witwe de Azorin umgebracht, und zwar hat er ihr im Gouverneurspalast ein Messer in den Rücken gestoßen.“ Jussuf schluckte. Er glaubte, sich verhört zu haben. „Samanta de Azorin?“ In seiner Stimme lag grenzenlose Verwunderung. „Genauso hat sie geheißen“, antwortete Pedro. „Und warum ist sie ermordet worden? Hat man das auch gesagt?“ „Natürlich, Senor. Der Kerl wollte sie vergewaltigen, und da sie eine ehrenhafte Dame war, hat sie sich verzweifelt zur Wehr gesetzt. Deshalb hat er sie einfach erdolcht.“ „So ein Mistkerl!“ entfuhr es Jussuf. „Möge ihn Allah dafür in die tiefste aller Höllen verbannen! Weiß man denn schon, wer der Mörder ist?“
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„Si, Senor“, sagte Pedro strahlend. „Der Bursche ist leicht zu finden, deshalb sind die Chancen, die hundert Goldtaler einzuheimsen, ziemlich groß. Viele kennen diese Bestie. Es handelt sich nämlich um Don Juan de Alcazar, den spanischen Generalkapitän, dessen Schebecke drüben in der Werft liegt.“ „Oi!“ stieß Jussuf hervor. Für einen Augenblick war er völlig sprachlos, was bei ihm nur äußerst selten geschah. Don Juan - ein Mörder und Sittenstrolch? Unmöglich! Der Kerl wollte ihm sicher einen Bären aufbinden. „Ich glaube, du hast einen Sonnenstich, Pedro“, sagte er, nachdem er den ersten Schock verdaut hatte. „Du solltest dich nach einem schattigeren Verkaufsplatz für deine Bananen umsehen. Don Juan kann kein Mörder sein. Mann, er ist ein Sonderbeauftragter des spanischen Königs ...“ „Ja, genau“, unterbrach ihn Pedro. „Das haben die Boten des Gouverneurs ebenfalls gesagt. Aber auch solche Leute haben oft eine Menge Dreck am Stecken. Wenn er ein armer Teufel wäre, gäbe es ganz gewiß keine hundert Goldtaler als Belohnung.“ Jussuf schluckte hart. „Da hast du nun auch wieder recht“, sagte er mit heiserer Stimme. Trotzdem war er sich darüber klar, daß da eine riesige Schweinerei im Gange war. Daß Don Juan de Alcazar ein Meuchelmörder war, nein, das glaubte er ganz einfach nicht. Jussuf hatte es jetzt plötzlich eilig. Er holte rasch eine weitere Silbermünze aus dem Lederbeutel. „Hier“, sagte er zu dem verdutzt dreinblickenden Miguel. „Damit deine Kinderschar endlich mal satt wird.“ Er drückte ihm die vier Münzen in die Hand und griff nach den beiden Futtersäcken. „Oh, Senor!“ rief Miguel überrascht und grinste von einem Ohr bis zum anderen. „Warum plötzlich so großzügig?“ Jussuf zuckte mit den Schultern. „Vielleicht verdiene ich die hundert Goldtaler, wer weiß. Dann bin ich auf die Silbermünzen nicht mehr angewiesen. Adios, Miguel, bis zum nächstenmal!“
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Der Türke begab sich mit dem Futter für seine Brieftauben, durch die der Nachrichtendienst zwischen Kuba und der Schlangen-Insel hervorragend funktionierte, auf den Weg zum Handelshaus. Die beiden Kreolen aber zerbrachen sich laut debattierend die Köpfe darüber, wie man wohl Don Juan, jenen reichen Lüstling und Mordbuben, ans Messer liefern könnte, um die Belohnung des Gouverneurs einzuheimsen. Und sie waren bei weitem nicht die einzigen in einer quirligen Stadt wie Havanna, die auf diese Weise das große Geld kassieren wollten. Überall in den Gassen und auf den zahlreichen kleinen und größeren Plätzen standen Leute beisammen und redeten temperamentvoll aufeinander ein. Und immer mehr Uniformierte tauchten auf - zu Fuß und im Sattel. Die Befehlshaber brüllten laute Kommandos und ließen ihre Truppen nach allen Himmelsrichtungen ausschwärmen. Alles was Beine hatte, begann nach Don Juan de Alcazar, dem angeblichen Mörder der reichen Witwe de Azorin, zu suchen. * Aufatmend ließ Jussuf im Hof der Faktorei die beiden Futtersäcke zu Boden sinken und wischte sich zunächst einmal den Schweiß aus dem Gesicht. Die Körner waren schwer, und er war ziemlich rasch marschiert, um Arne von Manteuffel die erschütternde Botschaft zu überbringen. Deshalb ging er auch sofort zum Kontor hinüber, wo er Arne zu finden hoffte. Der Vetter des Seewolfs tauchte gerade einen Federkiel ins Tintenfaß, um ein Schriftstück zu unterzeichnen, als Jussuf hereinstürmte. „Bringst du Neuigkeiten, Jussuf?“ fragte er lächelnd. „Woher weißt du das, Kapitän?“ „Man sieht es dir an der Nasenspitze an, außerdem läßt auch das Tempo, das du vorlegst, darauf schließen.“
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„Ach so! Und ich dachte schon, du hättest die Hiobsbotschaft bereits von anderer Seite gehört.“ „Schon wieder eine schlechte Nachricht?“ „Eine verdammt schlechte sogar“, erwiderte Jussuf, „sonst hätte ich mich nicht so sehr beeilt und einen günstigeren Preis für das Taubenfutter erzielt, das kannst du mir glauben.“ Arne legte den Federkiel zur Seite und blickte den Türken abwartend an. „Hängt es etwa wieder mit unserer speziellen Freundin, der Black Queen, zusammen?“ Jussuf schüttelte den Kopf. „Diesmal nicht. Die Nachricht, die ich zu übermitteln habe, ist viel schlimmer. Bleib ruhig auf dem Stuhl sitzen, Kapitän, sonst haut es dich glatt um. Es geht nämlich um Don Juan, er soll die - äh -“, Jussuf schluckte, „er soll eine - eine Frau ermordet haben. Jedenfalls läßt der Mastochse von einem Gouverneur in der ganzen Stadt diese Nachricht verbreiten und hat sogar hundert Goldtaler auf seine Ergreifung ausgesetzt.“ Arne schüttelte fassungslos den Kopf. „Don Juan, ein Frauenmörder - mein lieber Jussuf, wenn die Sache nicht so traurig wäre, würde ich jetzt laut lachen. Da hat doch unser Freund, der Gouverneur, bestimmt mit seinen Wurstfingern ein Süppchen angerührt, das andere für ihn auslöffeln sollen.“ „Hm, ja“, druckste Jussuf herum, weil er nicht so recht wußte, wie er Arne das alles beibringen sollte. Es war ihm sehr wohl bekannt, daß seinem Herrn die Senora de Azorin damals als Tischdame sehr sympathisch gewesen war. „Don Juan soll im Gouverneurspalast versucht haben, diese - diese Frau zu vergewaltigen. Dabei hat er ihr angeblich ein Messer in den Rücken gestoßen, weil sie sich wehrte.“ Jetzt trieb es Arne vom Stuhl hoch. „Unglaublich!“ stieß er hervor. Seine Stimme klang zornig. „Selbst wenn es auf der ganzen Welt nur zwei Menschen gäbe, die so etwas nicht tun würden, dann gehörte Don Juan mit absoluter Sicherheit dazu. Übrigens - was war das für eine Frau, die er umgebracht haben soll?“
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Jetzt kratzte sich Jussuf ausgiebig am Hinterkopf. Aber er mußte heraus mit der Sprache, da half nichts. „Es war - die Senora de Azorin.“ Der blonde Deutsche fuhr auf dem Stiefelabsatz herum. „Samanta de Azorin?“ In seinen Zügen lag blankes Entsetzen. „Mein Gott, das kann doch nicht wehr sein ...“ „Leider stimmt es“, sagte Jussuf. „Ich konnte es zunächst auch nicht fassen.“ „Warum nur?“ fragte Arne. „Warum mußte diese Frau, die bestimmt keiner Fliege etwas zuleide tat, sterben? Und dann noch auf diese Weise?“ Jussuf ließ sich auf einen Schemel sinken. „Da bin ich überfragt, Kapitän, ich kann dir nur versichern, daß Don Juan damit bestimmt nichts zu tun hat. Es gibt nur einen, der solch teuflische Intrigen ausheckt, und das ist der liebenswürdige und ewig kandierte Früchte fressende Don Antonio de Quintanilla.“ Arne gewann seine Fassung langsam zurück. Sein Gesicht wirkte ernst und zornig. „Du hast es erraten, Jussuf“, sagte er hart. „Nur dieser erlauchte Verbrecher kann dahinterstecken. Don Juan ist kein Mörder, das ist völlig ausgeschlossen, daran gibt es für mich nicht den kleinsten Zweifel. Aber zu Don Antonio paßt das alles. Er führt irgendetwas Teuflisches im Schilde, deshalb hat er seine Netze ausgespannt. Es müssen Machenschaften im Gange sein, von denen wir noch nichts wissen, und die müssen zu diesem brutalen Mord geführt haben.“ „So sehe ich das auch“, sagte Jussuf. „Der Mord hat dem Gouverneur in irgendeinen Plan gepaßt. Dann aber hat er dafür einen Sündenbock gesucht und, wie es scheint, auch gefunden. Wahrscheinlich versucht der Dicke sogar, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“ „Das ist mit Sicherheit so“, meinte Arne. „Doch wie dem auch sei - wenn er Don Juan suchen läßt, dann ist diesem die Flucht gelungen. Irgendwie muß er es geschafft haben, den Schergen Don Antonios ein Schnippchen zu schlagen und
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sich zunächst einmal ihrem Zugriff zu entziehen. Damit hat er sich zweifelsohne das Leben gerettet, denn ich kann mir lebhaft vorstellen, daß es dem Gouverneur an Zeugen, die alles mit eigenen Augen gesehen haben, nicht mangelt.“ „So wird es sein“, sagte Jussuf. „Und bei der hohen Belohnung, die dieser Galgenstrick ausgesetzt hat, sucht ganz Havanna nach ihm. Wenn man ihn tatsächlich erwischt - und damit ist über kurz oder lang zu rechnen -, ist sein Leben keine einzige Silbermünze mehr wert.“ Arne ging mit festen Schritten in seinem Kontor auf und ab. „Ja, damit ist zu rechnen“, sagte er, und seine Stimme klang jetzt völlig beherrscht. „Zu einer Hinrichtung wird es gar nicht erst kommen, denn dazu wäre eine ordentliche Gerichtsverhandlung erforderlich. Daran aber ist Don Antonio bestimmt nicht interessiert, denn Don Juan könnte ihn öffentlich bloßstellen und den Spieß umdrehen. Also wird der Gouverneur. bei einer eventuellen Festnahme sofort versuchen, ihn umbringen zu lassen. Darüber tischt er der Öffentlichkeit dann eine neue rührende Geschichte auf.“ Arne von Manteuffel war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß der spanische Generalkapitän eigentlich auf der gegnerischen Seite stand. Don Juan hatte den Auftrag, Philip Hasard Killigrew und seine Männer auf der Schlangen-Insel zur Strecke zu bringen. Er handelte jedoch im guten Glauben, hatte inzwischen schon manchen Irrtum eingesehen und erwies sich immer wieder als fairer und anständiger Mann, der Hilfe verdiente. Arne zweifelte nicht daran, daß der Spanier eines Tages die Sinnlosigkeit und Unrechtmäßigkeit seiner Jagd auf die Seewölfe einsehen würde, denn er war intelligent genug, um die Machenschaften der spanischen Krone nach und nach zu durchschauen. Jussuf riß Arne von Manteuffel aus seinen Überlegungen, indem er sich von dem niedrigen Schemel erhob.
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„Eine verzwickte Situation ist das“, sagte er. „Mir ist noch nichts eingefallen, was man für Don Juan tun könnte. Mit Sicherheit hält er sich irgendwo versteckt. Daß er auf seine Schebecke zurückgekehrt ist, halte ich für undenkbar.“ Arne nickte bestätigend. „Das wäre in der Tat zu riskant, auch wenn der größte Teil seiner Männer fest zu ihm halten würde. Der Übermacht des Gouverneurs könnten sie jedoch nicht lange standhalten. Don Juan muß irgendwo untergeschlüpft sein. Wie lange er sich dort halten kann, ist sehr fraglich. Bei der hohen Fangprämie muß er überall damit rechnen, verraten zu werden.“ Arne schwante bereits, daß der Spanier irgendwann bei ihm Hilfe suchen würde, denn der Generalkapitän hatte nur wenige Freunde auf Kuba, weil die meisten Amtsträger zur Clique des Gouverneurs gehörten. Er hatte Don Juan schon einmal aus einer sehr mißlichen Lage befreit, in die er wegen der skrupellosen Machenschaften des Gouverneurs geraten war. Aber wie dem auch sei - Arne war fest entschlossen, Don Juan die Hilfe nicht zu verweigern. Die ganze Misere bedeutete für ihn, der offiziell als deutscher Kaufmann auf Kuba lebte, daß er seine eigene ins Auge gefaßte Aktion gegen die Black Queen und ihre Bande zunächst zurückstellen mußte, um für den Flüchtigen jederzeit zur Verfügung zu stehen. Schließlich berührte das künftige Schicksal Don Juans in vielen Punkten auch seine eigenen Interessen und die der Freunde auf der Schlangen-Insel. Und irgendwann, so hoffte Arne, würde er auch noch herausfinden, was der Gouverneur mit diesen skrupellosen Intrigen bezweckte. Jörgen Bruhn betrat das Kontor und begriff sofort, weshalb Arne und Jussuf so ernste Gesichter zogen. Er hatte die verrückte Nachricht ebenfalls in der Stadt mitgekriegt und war rasch zur Faktorei zurückgekehrt. „Ihr wißt es schon?“ fragte der dunkelblonde Hamburger. Jussuf und Arne nickten.
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„Dann bin ich froh, daß ich die ganze Geschichte nicht erzählen muß“, fuhr Jörgen mit düsteren Blicken fort. „Am liebsten würde ich in den Gouverneurspalast gehen und das hinterhältige Ferkel mit der Puderperücke vor die Klinge fordern.“ „Solche Wünsche verspüren wir auch, Jörgen“, sagte Arne von Manteuffel. „Aber sie müssen vorerst Wunschträume bleiben. Die angespannte Situation, die derzeit in Havanna herrscht und auch ihre Schatten auf uns wirft, kann derzeit nicht mit dem blanken Degen gelöst werden. Im Moment helfen nur Ruhe, Überlegung und geschicktes Vorgehen. Solange wir nicht wissen, was aus Don Juan geworden ist, sind uns die Hände gebunden. Doch ich bin der Hoffnung, daß er sich irgendwann bei uns melden wird.“ Jörgen wollte sich gerade auf einem Stuhl niederlassen, da wurde heftig an die Tür der Faktorei gehämmert. „Öffnen!“ brüllte eine laute Stimme, dann trommelten weitere Fausthiebe gegen das dicke Holz. Die drei Männer warfen sich fragende Blicke zu. „Don Juan ist das bestimmt nicht“, sagte Arne unwillig. Doch dann gab er Jussuf einen Wink. Der Türke ging zur Tür und schob den schweren Eisenriegel zurück. * Vor der Tür stand Don Ruiz de Retortilla mit einigen Soldaten. Die drei Männer im Kontor hatten sich nicht getäuscht. Der Gouverneur ließ offenbar die ganze Stadt durchkämmen. Auch die Faktorei wurde nicht ausgelassen. Das hagere Gesicht des Stadtkommandanten glich einer starren Maske. „Senor von Manteuffel“, sagte er in herrischem Ton, „ich habe den Befehl, Ihr Haus zu durchsuchen. Ich nehme an, daß Ihnen bekannt ist, warum das notwendig ist.“
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Arne, dem die schlechten Nachrichten über zwei Menschen, die er sehr schätzte und geschätzt hatte, noch immer wie ein Felsbrocken im Magen lagen, ließ sich nichts anmerken. Er lächelte verbindlich. „Treten Sie ein, Don Ruiz“, sagte er, obwohl er den Stadtkommandanten für einen korrupten Schweinehund hielt. „Ich kann mir zwar denken, was die Ursache für die Hausdurchsuchung ist, aber warum man sie für notwendig hält, ist mir völlig unerklärlich. Werden denn alle Häuser in Havanna durchsucht?“ „Der Gouverneur wünscht, daß kein Winkel ausgelassen wird“, entgegnete Don Ruiz schroff. „Wir suchen Don Juan de Alcazar wegen Mordes an der Senora de Azorin. Und da man weiß, daß der Mörder gut mit Ihnen bekannt, wenn nicht gar befreundet ist, muß Ihr Haus als eines der ersten in Augenschein genommen werden.“ Arne fühlte Zorn in sich aufsteigen. Vor allem auch über die anmaßende Art dieses Kerls. Doch er beherrschte sich und wahrte die Form. „Bitte sehr, Don Ruiz“, sagte er höflich. „Niemand hindert Sie an der Ausübung Ihrer Pflicht. Ich habe nichts zu verbergen, und Don Juan befindet sich gewiß nicht in meinem Haus. Ich habe von ihm - seit er wegen Mordes gesucht wird - weder etwas gehört noch gesehen.“ Arne tat einen Schritt zurück und forderte Don Ruiz und seine vier Soldaten durch eine höfliche Geste dazu auf, einzutreten, obwohl er dieser dem Gouverneur hündisch ergebenen Marionetten lieber einen Tritt verpaßt hätte. Die Soldaten folgten ihrem Anführer in das Kontor. Dort gab Don Ruiz einige knappe Befehle, und die Männer begannen in Begleitung Jussufs und Jörgen Bruhns, die gesamte Faktorei gründlich zu durchsuchen. Arne zwang sich weiterhin zur Freundlichkeit, denn er durfte die Lage, in der er sich befand, nicht durch eine falsche Verhaltensweise verschärfen. Es stand alles in allem gesehen zuviel auf dem Spiel. Deshalb blieb ihm nichts anderes
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übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Nachdem er Don Ruiz, der sich selber an der Durchsuchung nicht beteiligte, eine Sitzgelegenheit angeboten hatte, erkundigte er sich höflich nach dem werten Befinden des Stadtkommandanten. „Ich habe Sie eine Weile nicht gesehen, Don Ruiz“, sagte er. „Deshalb frage ich mich, warum Sie einen Schulterverband tragen. Sie sind doch nicht etwa verletzt worden?“ Er füllte zwei Weinbecher und bewirtete den hageren Mann mit dem gelblichen Gesicht. Don Ruiz griff nach dem Becher und trank ihn gierig aus. Erst dann ging er dazu über, die Frage Arnes zu beantworten. „Die Schulterverletzung verdanke ich dem gesuchten Mörder“, sagte er. „Als ich den Kerl festnehmen wollte, versuchte er, mich zu erschießen. Zum Glück bin ich mit einem Schulterstreifschuß davongekommen. Zwei meiner Leute hatten weniger Glück, sie wurden von ihm niedergeschossen.“ Er log ungeniert, doch seine Augen waren unruhig und nervös. „Sie sehen also“, fuhr er fort, „daß ich mittlerweile auch ein persönliches Interesse daran habe, diesen hinterhältigen Frauenschänder und Mordbuben zur Strecke zu bringen.“ Don Ruiz gab sich nicht einmal die Mühe, seine infamen Lügen einer gewissen Logik zu unterwerfen, denn Arne von Manteuffel fragte sich aufgrund seiner Schilderung sofort, wie Don Juan innerhalb weniger Augenblicke auf drei Leute schießen konnte. Er hatte bestimmt keine drei Pistolen mit sich herumgeschleppt, und zum Nachladen war ihm mit Sicherheit keine Zeit geblieben. Dennoch vollführte Arne eine bedauernde Geste. „Ich hoffe, Ihre Verletzung ist nicht allzu schwer. Ja, es geht schon manchmal recht merkwürdig zu in dieser Welt. Da lernt man mitunter Menschen kennen und achten, von denen man dann grausam enttäuscht wird. Ich bedaure außerordentlich, was vorgefallen ist, zumal
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auch ich die Senora de Azorin wegen ihrer Ehrenhaftigkeit geschätzt habe. Ich darf Ihnen doch noch einen Becher Wein einschenken, Don Ruiz?“ Der mürrische Stadtkommandant schob ihm wortlos den leeren Becher zu und setzte ihn sofort an die schmalen Lippen, nachdem er gefüllt worden war. * Die vier Schergen, die der Stadtkommandant mitgebracht hatte, durchstöberten ungeniert einen Raum nach dem anderen. Jörgen und Jussuf erkannten immer deutlicher, daß sie gut daran getan hatten, die ungehobelten Burschen auf diesem Streifzug zu begleiten. Einer von ihnen bekundete Interesse am Hof, wo sich Jussufs „Kinderchen“ befanden. Das aber war dem Türken gar nicht recht. Er traute den Soldaten zwar kein großes Maß an Intelligenz und Kombinationsvermögen zu, aber man konnte ja nie wissen, auf welche Gedanken sie angesichts der Brieftauben verfielen. „Was ist auf dem Hof?“ wollte der Soldat bereits zum zweiten Male. wissen, weil Jussuf die erste Frage geflissentlich überhört hatte. „Auf dem Hof?“ Jussuf winkte geringschätzig ab. „Dort würde sich niemals ein Mörder verstecken. Es gibt da lediglich eine Schar Hühner und einige hungrige Wildtauben, die den Hennen das Futter stehlen. Zudem hat das Vogelzeug nichts anderes zu tun, als auf Stangen zu sitzen und jedem, der den Hof betritt, was Weiches auf den Kopf fallen zu lassen. Ständig tritt man in das verdammte Zeug. Brrr, widerlich!“ Der Soldat bleckte die gelblichen Zähne und lachte meckernd. „Hühnerscheiße, was?“ fragte er wenig geistreich. „Sie haben es erfaßt, Senor“, sagte Jussuf und ging einfach weiter. Der Scherge folgte ihm und hatte offenbar jedes Interesse am Hof verloren. Jussuf aber, dem es wieder einmal gelungen war, seine „Kinderchen“ vor
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Unbill zu bewahren, fühlte so etwas wie Vaterstolz in der Brust. Auch Jörgen Bruhn hatte seine Nöte. Er mußte einen der Soldaten, einen kleinen, vierschrötigen Kerl mit stupidem Gesicht und einer riesigen Zahnlücke in jenen Teil des Lagerhauses begleiten, in dem zwischen Weinfässern und anderen Kleingütern drei kleine Kisten mit Bernsteinschmuck standen. Die wertvollen Stücke waren in Havanna auf großes Interesse gestoßen und hatten sich als zugkräftiges Zahlungsmittel für all die Waren erwiesen, die auf der Schlangen-Insel und auf Coral Island gebraucht wurden. Der vierschrötige Bursche schien eine Nase für solche Dinge zu haben. Er rundete zielstrebig einige Rotweinfässer und nahm dann geradewegs Kurs auf die drei kleinen Holzbehälter, die man absichtlich unauffällig zwischen den Fässern platziert hatte. „Was ist da drin?“ fragte er. „Handelsware“, erwiderte Jörgen wahrheitsgemäß. Der Soldat gab sich mit dieser Auskunft jedoch nicht zufrieden. „Ich muß nachsehen“, sagte er und griff nach der obersten Holzkiste. „Wozu?“ begehrte Jörgen auf. „Sie glauben doch wohl nicht, daß sich Don Juan darin versteckt hält? Nicht mal ein kleiner Hund würde da hineinpassen.“ Doch die Neugierde des Schergen schien geweckt zu sein. „Der Gouverneur“, so beharrte er, „hat angeordnet, daß kein Winkel ausgelassen wird. Also muß ich nachschauen.“ Jörgen konnte nicht verhindern, daß er die Kiste öffnete und sah, was darin war. Prompt begannen die Augen des Mannes gierig zu funkeln. „Was sind das für Steine?“ fragte er. „Das ist Bernstein“, erwiderte Jörgen. „Es gibt ihn nur in unserer Heimat. Können wir die Kiste wieder schließen? Sie haben sich ja davon überzeugt, daß Don Juan nicht drinsteckt.“ Der Soldat zeigte keinerlei Anstalten und grinste hämisch.
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„Nur nicht so eilig, mein Freund. Dem deutschen Kaufmann kommt es doch wohl nicht auf ein paar Steinchen an, wie?“ Er griff sich einfach eine Handvoll Bernstein heraus. „Sagen wir, es handelt sich um eine kleine, private Durchsuchungsgebühr.“ Jetzt wurde Jörgen böse. „Sie haben den Auftrag, die Faktorei zu durchsuchen. Vom Plündern war keine Rede. Bitte, legen Sie die Steine in die Kiste zurück, sonst gibt es Ärger.“ „Aber, aber, Freundchen“, sagte der Soldat grinsend. „Du brauchst doch nur den Mund zu halten. Hast du dir nicht auch schon einige von diesen hübschen Klunkerchen beiseite geschafft? Kannst es ruhig zugeben. Ich bin verschwiegen.“ Er lachte schleimig. Jörgen schoß die Zornröte ins Gesicht. „Ich verbitte mir solche Unterstellungen!“ entgegnete er scharf. „Ich lasse mir nicht gefallen, wenn man mich als Dieb bezeichnet. Auch nicht von dir Freundchen. Ebenso wenig dulde ich, daß du auch nur einen einzigen Stein entwendest. Leg' das Zeug zurück, sonst erstatte ich Don Ruiz und Senor de Manteuffel sofort Meldung!“ „Hähä!“ Der Kerl gab ein höhnisches Lachen von sich. „Wenn du mich anschwärzen willst, brauchst du Zeugen, ist das klar?“ Er blickte sich rasch um und warf Jörgen dann einen herausfordernden Blick zu. „Und die, du Ehrenmann, hast du im Moment nicht.“ Er versuchte, die Steine hinter seinem Gürtel verschwinden zu lassen. Jetzt aber war Jörgen nicht mehr zu bremsen. „Du hast recht, du diebische Elster“, sagte er zu dem Schergen. „Es gibt im Augenblick wirklich keine Zeugen, deshalb wird auch niemand sehen, wie ich dir die letzten Zahnstummel aus der Futterluke klopfe.“ Der drahtige Hamburger packte blitzschnell zu, erwischte den Kerl am Kragen seiner Uniformjacke, und dann schoß seine rechte Faust vor. Der kraftvolle Hieb traf den Schergen unter das Kinn. Er stieß einen gurgelnden
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Laut aus, ließ das Plündergut fallen und torkelte zurück, bis ihm ein Stapel Fässer den Weg versperrte. Instinktiv versuchte er, nach seinem Degen zu greifen, doch Jörgen ließ ihm dazu keine Zeit. Zwei weitere Treffer fegten den Beutelschneider zwischen Fässern und Kisten hindurch. Noch bevor er wieder auf die Beine kam, war Jörgen über ihm, riß ihn hoch und lehnte ihn, ohne den Uniformrock loszulassen, gegen einen Holzstapel. „Du kannst noch mehr davon haben“, sagte er, „denn schau dich um, es gibt immer noch keinen Zeugen. Und was du von mir kriegst, ist nicht geklaut, sondern geschenkt.“ „Hör auf, por dios, hör endlich auf!“ jammerte der Vierschrötige. „Oder willst du mich totschlagen?“ „Das wäre wohl das einzig Richtige für Dreckskerle von deiner Sorte“, sagte Jörgen hart. Erst dann lockerte er seinen Griff. „So, und jetzt begleite ich dich weiterhin bei der Durchsuchung, und du benimmst dich ausnahmsweise einmal wie ein ganz normaler Mensch. Ich denke, es liegt in deinem eigenen Interesse, daß der Vorfall rasch wieder vergessen wird.“ Der Kerl nickte. Er hatte offenbar wirklich die Nase voll und betastete mit schmerzlich verzogenen Mundwinkeln sein Gesicht und einige andere Körperteile, die mit den Fäusten Jörgen Bruhns Bekanntschaft geschlossen hatten. Er hatte kapiert, daß es besser für ihn war, wenn er über die Sache schwieg, denn neuer Ärger würde mit Sicherheit die üble Laune von Don Ruiz überkochen lassen. Und er wäre dann der erste, der das zu spüren kriegte. „Eigentlich kannst du dich bei mir bedanken“, sagte Jörgen spöttisch, „daß ich wenigstens deine Zahnlücken nicht vergrößert habe. So hat zumindest deine berauschende Schönheit nicht unter dem Tänzchen gelitten. Du siehst, ich bin ein ziemlich großzügiger Mensch.“ Die beiden setzten ihren Rundgang fort, und der Soldat verzichtete tunlichst darauf, in irgendwelche Kisten schauen zu wollen.
Die Schergen des Gouverneurs *
Arne atmete erleichtert auf, als die Stadtgardisten in Begleitung Jörgens und Jussufs ins Kontor zurückkehrten. Ein kleiner, dicklicher Mann salutierte vor Don Ruiz, der ihn fragend ansah. „Wir haben alles durchsucht, Senor Comandante, aber ohne Ergebnis. In diesem Haus hält sich der Gesuchte nicht auf.” Ruiz de Retortilla stieß einen Knurrlaut aus und erhob sich. Fast sah es aus, als bedauere er lebhaft, daß man Don Juan nicht ausgerechnet hier gefunden hatte. „Sie werden mich entschuldigen, Senor de Manteuffel“, schnarrte er, „es gibt heute noch viel für mich zu tun. Doch auf einen wichtigen Erlaß des Gouverneurs, unseres allseits beliebten Don Antonio de Quintanilla, muß ich Sie und Ihre Männer noch hinweisen: Jeder ist des Todes, der Don Juan de Alcazar, diesem ruchlosen Mörder, Hilfe leistet oder zur weiteren Flucht verhilft.“ Arne beherrschte sich nur noch mühsam, aber er ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Wem sagen Sie das, Don Ruiz?“ erwiderte er kühl. „Es gehört nicht zu meiner Art, irgendwelche Mörder zu decken, schon gar nicht niederträchtige und gemeine Frauenmörder. Solche Burschen haben einen niedrigeren Charakter als hergelaufene Straßenköter und verdienen ausschließlich Abscheu und Verachtung. Ich kann da mitreden, Don Ruiz, denn ich selbst mußte in meiner Heimat mit ansehen, wie meine eigene Braut von Mörderhand erschossen wurde.“ Don Ruiz de Retortilla sagte nichts mehr. Er schluckte nur, so daß sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. Zudem senkte er den Blick, denn Arne hatte ihm während seiner Entgegnung fest in die Augen gesehen. Der Stadtkommandant hatte es plötzlich eilig, aus der Faktorei zu verschwinden, und schnarrte einen entsprechenden Befehl. „Gut, daß das Lumpenpack gegangen ist“, ließ sich Jörgen, kaum, daß die Tür
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geschlossen war, vernehmen. „Hier stinkt's nämlich, und wir wollen ja nicht, daß unser Kontor zu einem Schweinestall wird, nicht wahr?“ Jussuf stieß die Luft aus. „Wer auch immer auf den ehrenwerten Senor Comandante geschossen haben mag - er hätte viele Menschen vor Unheil bewahrt, wenn er besser gezielt hätte.“ Arne winkte ab. „Er ist nur eine Marionette“, sagte er, und in seiner Stimme schwang tiefe Verachtung mit. „Don Antonio spielt mit ihr, solange es ihm beliebt. Aber eins steht dennoch fest: Dieser hagere Bursche steckt ganz dick in dieser wüsten Geschichte mit drin, auch wenn wir den Sinn dieser Machenschaften noch nicht durchschauen.“ Daran zweifelte keiner der drei Männer auch nur im geringsten. 7. Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung verstärkte sich die frische Brise, die von den Bergen der Sierra Maestra herüberwehte. Die sengenden Sonnenstrahlen verloren weitgehend an Kraft, es konnte nicht mehr allzulange dauern, bis sich die ersten Schatten der Nacht über die Karibik senkten. Arne von Manteuffel stand am Fenster des Kontors und blickte zum Hafen hinüber, denn es war ihm seit geraumer Zeit aufgefallen, daß dort mehr und mehr Soldaten zusammengezogen wurden. Schließlich erkannte er auch Don Ruiz de Retortilla, der eitel wie ein Pfau herumstolzierte und Anweisungen gab. Nach kurzer Zeit rückte die Streitmacht des Stadtkommandanten zur Werft vor. Don Juans Schebecke! schoß es Arne durch den Kopf. Ja, er war sich völlig sicher, daß Don Ruiz es jetzt auf das Schiff des Generalkapitäns abgesehen hatte. Sollte sich Don Juan wirklich dort versteckt haben, um bei Nacht mit dem Dreimaster zu fliehen? Der Unterstützung von Ramon Vigil und der achtköpfigen Crew könnte der Generalkapitän freilich
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gewiß sein, dennoch hegte Arne Zweifel daran, daß sich Don Juan tatsächlich an Bord der Schebecke befand, die an einer Werftpier vertäut war. Er hätte von Anfang an damit rechnen müssen, daß man ihn dort suchen würde. Wo aber sollte sich der Spanier versteckt halten? So sehr sich Arne auch den Kopf darüber zerbrach, es wollte ihm keine vernünftige Antwort auf diese Frage einfallen. Er blieb jedoch an seinem Fensterplatz, um zu beobachten, was sich drüben im Werftgelände abspielte. Nachdem Don Ruiz und seine Streitmacht den Schauplatz erreicht hatten, schirmten sie sofort die der Pier zugewandte Seite der Schebecke ab. Das sonst so quirlige Leben im Hafen kam fast zum Erliegen. Jeder, der es nur halbwegs ermöglichen konnte, verholte sich in die Nähe der Pier, um zu gaffen. Es war ja möglich, daß es sensationelle Neuigkeiten gab. Vielleicht hatte sich der gesuchte Frauenmörder sogar an Bord der Schebecke versteckt, und der Stadtkommandant ließ ihn jetzt verhaften. Wenn dem so war, dann hatte bestimmt jemand den entscheidenden Hinweis dazu gegeben und sich die Belohnung von hundert Goldtalern verdient. War es vielleicht einer von der Crew des kleinen Schiffes? Alle starrten wie gebannt auf die Szene, die sich jetzt anbahnte - ob Händler, Hafen- oder Werftarbeiter, Herumlungerer, Säufer, Seeleute oder Hafenhuren. Keiner wollte die Festnahme eines Frauenmörders verpassen. Insgeheim fluchte so mancher, weil nicht er es war, der sich die Goldtaler verdient hatte. Doch es sollte alles ganz anders kommen, als die meisten erwartet hatten. Nachdem der kleinen Schebecken-Crew jede Fluchtmöglichkeit genommen worden war, enterten zehn Soldaten an Bord. Don Ruiz blieb auf der Pier zurück, um das Kommando zu führen. Die Crew zog sich jedoch nicht ängstlich und zaghaft zurück, sondern trat der Übermacht der Soldaten mit gezückten
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Degen entgegen. Die Führung hatte Ramon Vigil, der Bootsmann, übernommen. „Was wollt ihr hier an Bord?“ fragte Vigil scharf, und seine blauen Augen blitzten zornig. „Ich kann mich nicht daran erinnern, daß jemand um die Erlaubnis nachgesucht hat, an Bord kommen zu dürfen. Ich verlange sofortige Aufklärung!“ Die sollte er haben, und zwar aus dem schmallippigen Mund des Stadtkommandanten, der sich drüben auf der Pier im Schutze seiner Soldaten ziemlich stark fühlte. „Das Schiff wird auf Anordnung des Gouverneurs durchsucht!“ rief Don Ruiz. „Dazu sehe ich keine Veranlassung!“ rief der Bootsmann zurück. „Außerdem muß ich darauf hinweisen, daß es sich um die Schebecke von Don Juan de Alcazar handelt. Somit haben Sie es mit einem Schiff zu tun, das einem königlichen Generalkapitän untersteht. Kein Gouverneur ist befugt, ohne seine Zustimmung über sein Schiff zu verfügen. Im Gegenteil - der Gouverneur hat sich den Weisungen und Verfügungen des Generalkapitäns unterzuordnen. Da mir von einer Zustimmung Don Juans zur Durchsuchung des Schiffes nichts bekannt ist und auch nicht um eine Erlaubnis nachgesucht wurde, verlange ich, daß dieser Haufen hier“, er deutete auf die Soldaten, die an Bord geentert waren und mit ihren gezogenen Degen unschlüssig herumstanden, „sofort wieder abentert!“ Der Stadtkommandant grinste hämisch. „Sie nehmen den Mund reichlich voll, Bootsmann!“ rief er. „Es scheint Ihnen entgangen zu sein, daß hier außergewöhnliche Umstände vorliegen, die Don Antonio de Quintanilla zwingen, für die Einhaltung von Recht und Ordnung zu sorgen. Sie und Ihre Kumpane befinden sich nämlich auf dem Schiff eines Mörders und Frauenschänders. Zudem besteht Grund zur Annahme, daß sich der Gesuchte an Bord versteckt hält, um im Schutz der Dunkelheit zu fliehen. Das aber muß um der Gerechtigkeit willen verhindert werden.“
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Ramon Vigils Gesicht rötete sich vor Zorn. Der Stadtkommandant erzählte ihm da nichts Neues. Einer seiner Männer hatte schon vor einer knappen Stunde über die Neuigkeit, die offensichtlich ganz Havanna bewegte, an Bord berichtet. Er hatte die unglaubliche Geschichte von einem Werftarbeiter gehört. Dennoch glaubte niemand an Bord auch nur ein einziges Wort davon. Die Crew stand geschlossen hinter Don Juan. Außerdem waren die Männer klug genug, sich auszumalen, wer hinter dieser teuflischen Intrige stand. Ramon Vigil beherrschte sich nur mühsam. „Die Behauptungen, die Sie ohne jegliche Beweise vorbringen, Senor Comandante, sind unfaßbar. Niemand an Bord dieses Schiffes glaubt auch nur ein einziges Wort davon. Außerdem ist eine Durchsuchung überflüssig, denn Don Juan befindet sich nicht auf seinem Schiff.“ „Da haben Sie doch den besten Beweis!“ rief Don Ruiz und zog ein triumphierendes Gesicht. „Warum kehrt er nicht an Bord zurück? Warum hält er sich versteckt und scheut die Gerechtigkeit, wenn er unschuldig ist?“ Einen Lidschlag später fuhr er fort: „Na, wo bleibt Ihre Antwort, Bootsmann?“ „Die können Sie haben, Don Ruiz!“ schrie Ramon Vigil. „Wir kennen Don Juan als einen Mann von Ehre und Charakter, und jeder von uns würde die Hand dafür ins Feuer legen, daß die Anschuldigungen gegen ihn nicht der Wahrheit entsprechen. Es ist auch nicht seine Art, sich vor dem Arm der Gerechtigkeit zu verstecken. Nur, Senor Comandante, befürchte ich, daß man ihn zu einem Versteckspiel gezwungen hat. Einem Menschen, der die Gerechtigkeit gegen sich hat, dazu eine riesige Übermacht an Soldaten, bleibt zunächst keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen, um zum gegebenen Zeitpunkt seine Unschuld zu beweisen. Und das, Don Ruiz, scheint Ihre und des Gouverneurs Befürchtung zu sein.“ Diese mutige Antwort gab Don Ruiz einen regelrechten Ruck. Er wurde abwechselnd blaß und rot. Das war einfach
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ungeheuerlich, was dieser gewöhnliche Bootsmann da vorbrachte, und die acht Männer, die außer ihm zur SchebeckenBesatzung gehörten, nickten auch noch zustimmend. „Diese Worte werden Sie noch bereuen, Sie Vaterlandsverräter!“ schrie der Stadtkommandant außer sich vor Wut. Dann brüllte er die Soldaten an, die bereits an Bord geentert waren. „Auf was wartet ihr noch? Verhaftet diese Kumpane eines Mörders endlich, damit wir das Schiff durchsuchen können!“ Dieser Befehl bildete das Signal für beide Seiten. Im Nu war an Bord der Schebecke die Hölle los. Die kleine Crew dachte nicht daran, ihr Schiff kampflos aufzugeben. Ramon Vigil und die acht anderen Männer warfen sich den Schergen des Gouverneurs entschlossen entgegen. Schon nach wenigen Augenblicken klirrte das Metall der Waffen gegen' einander. Zahlreiche Stiefelabsätze polterten über die Decksplanken. Flüche, Schreie und Drohungen wurden ausgestoßen. Dazwischen war immer wieder die schrille Stimme des Stadtkommandanten zu hören, der einerseits Befehle brüllte und andererseits die Crew aufforderte, sich zu ergeben. Ramon Vigil kämpfte wie ein Teufel. Seinem ersten Gegner, einem Sargento, hieb er nach kurzem Zweikampf bei einem blitzschnellen Ausfall den Degen aus der Hand. Dann verpaßte er ihm mit der freien Linken einen Faustschlag, der den Mann bis zum Schanzkleid zurücktorkeln ließ. Dort versuchte er, seine Pistole aus dem Gürtel zu ziehen. Doch Ramon war schneller. Er erreichte den Sargento mit einem einzigen Satz, duckte sich und packte ihn an beiden Beinen. Eine Sekunde später kippte der Kerl hintenüber ins Hafenwasser, in dem allerlei Unrat herumschwamm. Da Ramon Vigil stark beschäftigt war, schwebte er für einen Augenblick in höchster Gefahr, denn ein anderer Scherge, der dem Sargento helfen wollte, aber seinen Degen auf den Planken nicht
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wiederfand, riß die Steinschloßpistole hervor und spannte den Hahn. Als Ramon Vigil herumwirbelte, feuerte der Soldat seine Waffe auf ihn ab. Doch der Bootsmann schaffte es buchstäblich in letzter Sekunde, in die Hocke zu gehen. So pfiff die Kugel haarscharf über seine linke Schulter hinweg. Er spürte noch ihren sengenden Hauch an der linken Gesichtshälfte. Zu weiteren Aktionen kam der Schütze nicht mehr, denn Vigil erreichte ihn wie eine Sturmbö und setzte ihm die Faust in die Magengrube. Der Kerl wurde wie von einer Woge zurückgeschleudert und krachte gegen das Schanzkleid, das der Pier zugewandt war. Dort rutschte er wie ein leerer Mehlsack auf die Planken. Doch damit gab sich der Bootsmann nicht zufrieden. Er riß den Mann wieder hoch und wuchtete ihn kraftvoll über den Handlauf. Gleich darauf landete der Uniformierte auf der Pier - nur wenige Schritte vor den Füßen des erschrocken zurückweichenden Stadtkommandanten entfernt. „Passen Sie auf, daß Ihnen die Kerle nicht auf den Kopf fallen, Don Ruiz!“ brüllte Ramon Vigil. Und schon wandte er sich dem nächsten zu. Das Gezeter und Geschrei des wütenden Don Ruiz beachtete er nicht. Auch die anderen Männer der Crew schlugen sich tapfer. Sie kämpften mit einer Zähigkeit und Entschlossenheit, die manchem Beobachter Bewunderung abrang. Noch sah alles danach aus, als würden sie mit der Übermacht von zehn Soldaten spielend fertig werden. Aber sie wußten auch, daß sich auf der Pier noch weitere vierzig Kerle befanden, die nur darauf warteten, daß Don Ruiz den Befehl zum Eingreifen gab. Zwei Männer der Schebecken-Crew lieferten den Schergen heftige Degenduelle. Einer kämpfte mit dem Entermesser, und die anderen waren in eine wüste Keilerei verstrickt. Sie benutzten ihre Waffen fairerweise nicht, weil ihnen auch die Gegner mit bloßen Fäusten gegenüberstanden. Ihre Waffen
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waren im Getümmel über das Deck geschlittert oder aber mit Zutun der Besatzung über Bord gegangen. Drei weitere Soldaten teilten innerhalb kurzer Zeit das Schicksal ihres Sargentos, den Vigil gleich zu Beginn ins Wasser befördert hatte. Auch sie landeten kopfüber und laut brüllend in der Hafenbrühe - sehr zur Erheiterung der zahlreichen Gaffer. Es hatte sich ziemlich viel Volk am Schauplatz eingefunden, und so blieb es nicht aus, daß manche laut Beifall spendeten oder anfeuernde Rufe ertönen ließen - sehr zum Mißfallen des Stadtkommandanten. Doch der Pöbel hatte sein Schauspiel, daran konnte auch er nichts ändern. Ramon Vigil wütete noch immer, als müsse er die Schlacht seines Lebens gewinnen. Dennoch hatte von Anfang an keine wirkliche Chance gegen die mehrfache Übermacht bestanden, mit der Don Ruiz angerückt war. Auf Befehl des Stadtkommandanten stürmten jetzt weitere Soldaten das Schiff. Aber das hielt die Crew nicht davon ab, einige weitere über Bord zu befördern. Don Ruiz gebärdete sich wie wild. „Nehmt die verdammten Hunde endlich fest!“ schrie er. „Ihr Widerstand ist Verrat an der spanischen Krone. Packt sie!“ In diesem Moment flog ihm ein weiterer Mann vor die Füße. Gleich darauf jedoch war das Schicksal der tapferen Schebecken-Crew besiegelt. Sie konnte sich nicht länger gegen die Übermacht halten. Die Schar der Gaffer registrierte das mit Bedauern. Einzelne Rufe wurden laut, die aber angesichts der zahlreichen Soldaten rasch wieder verstummten. Die meisten Zuschauer glaubten zwar die Geschichte, die der Gouverneur eifrig verbreiten ließ, aber die Abreibung, die viele seiner Schergen an Bord der Schebecke bezogen hatten, gönnten sie ihnen von Herzen, denn weder sie noch Don Ruiz noch der dicke Don Antonio waren in der Bevölkerung beliebt. Viele Soldaten stürmten jetzt mit schußbereiten Pistolen an Bord.
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Diejenigen, die auf der Pier blieben, waren auf Geheiß des Kommandanten mit Musketen in Stellung gegangen. Die Mündungen der Waffen zeigten drohend auf Ramon Vigil und seine Mannen. Jeder weitere Widerstand wäre völlig zwecklos gewesen. Auch der Bootsmann sah das ein. Er selber hatte eine blutende Schramme an der Stirn, drei andere hatten leichtere Verletzungen davongetragen. Meist handelte es sich jedoch nur um Kratzer und Beulen. „Fesselt die Kerle!“ brüllte Don Ruiz und reckte stolz die Brust, als habe er mit der Überwältigung einer Handvoll Männer eine Meisterleistung vollbracht. Die Schebecken-Besatzung blickte grimmig drein, aber es blieb ihnen keine andere Wahl, als sich die Hände auf den Rücken binden zu lassen. Sämtliche Waffen hatte man ihnen bereits weggenommen. Als Ramon Vigil das überlegene Grinsen des Stadtkommandanten sah, rief er laut: „Gratuliere, Don Ruiz! Hätten Sie weitere fünfzig Schergen mitgebracht, dann wäre das Tänzchen einige Minuten früher zu Ende gewesen!“ In den Reihen der Zuschauer tönte erneut Gelächter auf. Der Kommandant hob drohend die rechte Faust. „Sie werden Ihren Widerstand noch bereuen, Bootsmann! Wir sehen nämlich keine Veranlassung, Kumpane eines Mörders zu schonen.“ „Es fragt sich, wer hier wessen Kumpan ist, Don Ruiz! Diese Frage sollten Sie einmal in einem der Luxusgemächer der Residenz abklären.“ Der Wutschrei des Stadtkommandanten ging Ramon Vigil herunter wie Öl, obwohl er jetzt von Musketenkolben vorwärts gestoßen wurde. Während die Gefangenen vom Schiff gebracht wurden, begannen die Soldaten die Durchsuchung. Mindestens zwanzig waren es, die die Schebecke bis zum letzten Winkel durchstöberten, als gäbe es eine ganze Schar von Mördern festzunehmen.
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Arne von Manteuffel hatte die Vorgänge vom Fenster seines Kontors aus beobachtet. Er bewunderte die Männer Don Juans, die sich ohne Rücksicht auf die eigene Person für ihren Kapitän eingesetzt hatten. Das war eine Verhaltensweise, wie er sie von seinem eigenen Schiff, der „Wappen von Kolberg“, her kannte und auch bei den Freunden vom Bund der Korsaren zu beobachten war. Bei den Spaniern jedoch war ihm eine solche Loyalität bisher sehr selten begegnet. Mit Erbitterung stellte Arne fest, daß man die Gefangenen wie Schwerverbrecher abführte, während das Schiff durchsucht wurde. Don Ruiz ließ den Dreimaster weiterhin abschirmen, selbst an Deck zogen Posten auf. Immerhin blieb Arne eine Genugtuung: Die Suchaktion wurde bald wieder abgebrochen, Don Juan wurde nicht gefunden. Die gaffende Menge zerstreute sich - teils enttäuscht, teils aber zufrieden über den Mißerfolg des verhaßten Stadtkommandanten. Die Schebecke blieb unter Bewachung zurück. Arne fühlte sich zwar erleichtert, dennoch verdeutlichte das brutale Vorgehen, daß dem feisten Gouverneur die Angst im Nacken sitzen mußte - seinem Handlanger, Don Ruiz de Retortilla, ebenso. Die beiden Männer hatten die absolute Macht auf Kuba, und dennoch zitterten sie vor einem einzelnen Mann oder vielmehr vor dem, was er aussagen könnte. Später erfuhr Arne noch, daß man Ramon Vigil und die anderen Crew-Mitglieder ins Stadtgefängnis gebracht hätte. Jussuf, den er zur Beobachtung losgeschickt hatte, überbrachte ihm diese Information. * Jörgen Bruhn war nach der Durchsuchung der Faktorei zu einem „Rundgang“ in Stadt und Hafen aufgebrochen. Er wollte sich an diesem ereignisreichen Tag noch etwas umhorchen, denn alle Nachrichten, die gegenwärtig in Umlauf waren, konnten auch für ihn, Arne und Jussuf von größter Bedeutung sein.
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Da ihm in der Stadt nicht entgangen war, daß verstärkt Truppen im Hafengelände zusammengezogen wurden, hatte er sich dorthin gewandt. Im Hafen stieß er auf eine kleine Kneipe, an der er bisher immer vorübergegangen war. Sie nannte sich „El Hoyo“, das Loch, und sie sah auch wie ein solches aus. Jörgen beschloß, heute einen Blick hineinzuwerfen, denn gerade in solchen Kneipen waren Neuigkeiten meist zuerst zu erfahren. Vielleicht konnte man hier sogar ein Bier trinken, das auf einigen Karibikinseln bereits mit Erfolg gebraut wurde. Der Hamburger betrat die Schenke, die schon beim ersten Blick durch die Tür ihren Namen rechtfertigte. Wahrscheinlich war sie früher einmal von Zechern als „Loch“ bezeichnet worden, und der Wirt hatte diesen Namen mangels eigener Phantasie einfach übernommen. Der Schankraum sah düster und nicht gerade sauber aus. überall roch es nach Rum, Wein und Schweiß. Dennoch war die Kneipe nur mäßig besetzt. Die meisten Zecher waren wohl unterwegs, um Ausschau nach Don Juan zu halten. Die hohe Belohnung, die der Gouverneur ausgesetzt hatte, brachte inzwischen viele Leute in Havanna auf die Beine. Jörgen ließ sich auf einer der grob gezimmerten Holzbänke nieder und stützte sich auf den Tisch. Er konnte von seinem Platz aus den Schankraum überblicken. Das erwies sich jedoch nicht unbedingt als Vorteil, denn die finsteren Gestalten, von denen einige schlafend, andere mit schwerer Zunge lallend herumhockten, waren nicht gerade geeignet, den beginnenden Abend zu verschönen. Der kleine Wirt, der einem laufenden Weinfäßchen glich und dessen Hängebacken irgendwie an das feiste Gesicht Don Antonios erinnerten, watschelte heran. Sein weißes Hemd war schmuddelig, die umgebundene Lederschürze ebenfalls. Sie war mit unzähligen Rotweinflecken übersät. „Was darf ich dem Senor bringen?“ fragte er mit einer höflichen Verbeugung.
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„Ich habe Appetit auf einen Humpen Bier“, sagte Jörgen. „Gibt es hier so was?“ „Aber natürlich, Senor, soviel Sie wollen. Ich habe sogar ein ganz hervorragendes Bier. Lassen Sie sich davon überzeugen.“ Jörgen lächelte. „Ich nehme Sie beim Wort.“ Der Wirt watschelte davon, um das Bier zu zapfen. Im selben Moment öffnete sich die Tür der Schenke. Jörgen, der sich gerade ein wenig im Schankraum umsah, glaubte plötzlich seinen Augen nicht mehr trauen zu können. „Ach, du heiliger Strohsack!“ entfuhr es ihm leise, denn die beiden Senoritas, die da hüftwackelnd hereinspazierten, hatte er noch gut in Erinnerung. Es handelte sich um die dürre Rosita und die kleine, dralle Pepita. Erst am Vormittag hatten die beiden verkommen aussehenden Hafenhuren versucht, ihn zu kapern, doch dann waren sie von einigen Soldaten der Stadtgarde verhaftet worden, weil sie betrunkenen Freiern Geld gestohlen hatten. Jörgen war reichlich verwundert, die beiden Hübschen nach nur wenigen Stunden wiederzusehen, und diese waren es offenbar auch, denn sie steuerten sofort auf seinen Tisch zu. „Was sehen meine entzündeten Augen!“ ,sagte die dralle Pepita kichernd und stieß der spindeldürren Bohnenstange an ihrer Seite gegen die Rippen. Dabei deutete sie mit dem Kopf in Richtung Jörgen Bruhns. „Nein, so eine Überraschung“, säuselte Rosita. „Da sitzt ja der hübsche Blondschopf, der uns zu einem Krug Rotwein einladen wollte. Meinst du nicht auch, Pepita, daß wir ihn an sein Versprechen erinnern sollten?“ „Aber klar doch“, erwiderte die Dralle. „Ein Senor hält sein Wort.“ Es war Jörgen äußerst peinlich, daß sich die beiden Vetteln, die wie am Vormittag nach Rum und Zuckerrohrschnaps dufteten, zu ihm an den Tisch setzten. Aber da er kein Aufsehen erregen wollte, gab er sich jovial. „Ich bin wirklich überrascht“, sagte er, „die beiden Senoritas so bald
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wiederzusehen. Natürlich werde ich mein Versprechen einlösen.“ Er winkte nach dem Wirt, der hinter dem Schanktisch stand. „Bitte, einen Krug guten Rotwein für die Senoritas und zwei Becher!“ Die Freudenmädchen quittierten das mit einem geschmeichelten Grinsen. Offensichtlich fühlten sie sich in diesem Augenblick wirklich als Damen, die es verdienten, daß man ihnen den Hof machte. Jörgen holte sie jedoch in die Wirklichkeit zurück. „Wie kommt es eigentlich, daß ihr auf freiem Fuß seid?“ fragte er. „Es ist schließlich noch keinen Tag her, seit man euch verhaftet hat.“ Etwas schwindelnd fügte er hinzu: „Ich habe das übrigens sehr bedauert.“ „Das haben wir auch, Kleiner“, sagte Pepita mit rauher Stimme. „Aber genau genommen sind wir heilfroh, daß wir wieder unserer Arbeit nachgehen können.“ „Jawohl“, bestätigte die Dürre. „Wir haben mächtig Glück gehabt.“ „Man hat euch wieder laufen lassen?“ wollte Jörgen wissen. „Trotz der beiden Lederbeutel, die man bei euch gefunden hat?“ „Du hast es erfaßt, Süßer“, sagte Pepita. „Nur sind wir die Lederbeutel jetzt los, und wir werden viele spendable Freier finden müssen, bis wir jemals wieder soviel Zaster auf einem Haufen sehen.“ „Soll das heißen, daß es sich um verdientes Geld gehandelt hat?“ Jörgen grinste. „Natürlich nicht“, sagte Pepita frei heraus. „Wir hatten schon ein bißchen nachgeholfen. Man muß in dieser verdammten Stadt eben sehen, wo man bleibt. Letzten Endes gehören wir nicht zu jenen vornehmen und hochnäsigen Dämchen, die im Gouverneurspalast ein und aus gehen. Wir müssen noch etwas bieten für unser Geld.“ „So wird's wohl sein“, meinte Jörgen trocken. „Trotzdem würde es mich sehr interessieren, warum man .euch wieder auf freien Fuß setzte.“ Die beiden lachten, weil sie ihn wohl für etwas einfältig hielten.
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„Das ist doch ganz einfach“, sagte Rosita. „In der Öffentlichkeit, als man uns festnahm, verfuhr man so, daß alles nach Recht und Gesetz aussah. Kaum aber waren wir in der Kommandantur zum Verhör, da sah alles ganz anders aus. Man hat uns geschlagen, die Geldbeutel weggenommen und wieder hinausgeworfen. Darüber können wir noch froh sein, denn hier im ,El Hoyo` ist es schon gemütlicher als im Kerker, nicht wahr, Pepita?“ Die Senoritas lachten und schienen die Lösung des Falles als unabänderliches Schicksal hinzunehmen. So lagen die Dinge eben, und man konnte sie nicht ändern. Für Jörgen aber war dieser Vorfall eine weitere Bestätigung dafür, daß die Korruption in dieser Stadt die wildesten Blüten trieb. Man schreckte nicht einmal davor zurück, Dieben das Diebesgut abzujagen und dann in die eigene Tasche zu stecken. Den bestohlenen Freiern hatte man wahrscheinlich erklärt, die beiden Huren hätten das Geld bei der Festnahme bereits in Rum und Wein umgesetzt gehabt. „Ist euch das schon öfter passiert?“ Jörgen zeigte sich neugierig. „Eigentlich nicht“, erwiderte Pepita. „Dafür aber einigen Freundinnen von uns. Einigen hat man sogar das sauer verdiente Geld weggenommen, indem man einfach behauptete, es sei gestohlen.“ Man lernt doch immer wieder dazu, dachte Jörgen. Don Antonio und seine Clique schienen sich sogar noch als Zuhälter zu betätigen. Offenbar ließ man keine Gelegenheit aus, sich zu bereichern. Er mußte den Kopf schütteln. „Ist was?“ fragte Rosita. „Hast du Kummer, mein Junge?“ „Nein, nein“, sagte Jörgen schnell. „Ich finde nur, ihr beiden habt den Krug Wein wirklich verdient.“ Der Meinung waren die Senoritas auch und ließen sich nicht lange bitten, als der Wirt den Krug und die Becher auf den Tisch stellte. Jörgen zeigte sich durchaus spendabel, doch als die beiden Schönen näher und
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näher an ihn heranrückten, fand er es an der Zeit, sich bei nächster Gelegenheit zu verziehen. Doch dann betrat ein angetrunkener Kreole die Schenke und erlöste ihn ungewollt aus der peinlichen Situation. „Draußen ist gleich was los“, berichtete der Mann mit schwerer Zunge und begab sich auf wackligen Beinen zum Schanktisch. Der Wirt des „El Hoyo“ spitzte die Ohren. „Was gibt es, Rodrigo?“ fragte er neugierig. „Na, alle suchen doch diesen - diesen Mörder, der die Witwe de Azorin um umgebracht und vergewaltigt hat.“ „Umgekehrt meinst du, Rodrigo.“ „Hä? Egal. Der Stadtkommandant ist mit vielen Soldaten an der Sche - Schebecke des Mörders aufmarschiert. Wahrscheinlich wollen sie ihn dort verhaften, Gib - gib mir schnell einen Becher Rum, Jose, ich - möchte das Schauspiel nicht versäumen.“ Einige Männer, auch solche, die bisher scheinbar vor sich hin gedöst hatten, wurden plötzlich hellwach und kriegten lange Ohren. Wenn es etwas zu gaffen gab, durfte man das nicht versäumen. Kein Wunder, daß sich die schummrige Hafenkneipe anläßlich der Mitteilung des versoffenen Rodrigo zu leeren begann. Darüber war Jose, der Wirt des „Loches“, nicht sonderlich erbaut. „Du vertreibst mit deinem Geschwätz die Gäste, Rodrigo!“ schimpfte er. „Hättest du nicht das Maul halten können?“ „D-doch“, sagte Rodrigo stotternd. „Aber d-du hast ja unbedingt wissen wollen, wwas da draußen los ist ...“ Jörgen war froh über die Störung Rodrigos. Er erhob sich, noch bevor ihm die dürre Rostia den geplanten Kuß auf die Wange drücken konnte. „Bis später!“ sagte er, ging zielstrebig zum Schanktisch und zählte dem Wirt einige Münzen auf das Tablett. Dann verließ er eilig die Kneipe. Das von Pepita nachgerufene „Komm bald wieder, Süßer!“ quittierte er mit einem freundlichen Grinsen.
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Wenig später erlebte er aus gebührendem Abstand mit, wie Ramon Vigil und seine Mannen Don Juans Schebecke verteidigten und am Ende vor der Übermacht des Stadtkommandanten kapitulieren mußten. 8. Don Juan de Alcazar, der sich in einem vom Dschungel überwucherten Randgebiet Havannas versteckt hielt, hatte von den Vorgängen um sein Schiff nichts mitgekriegt. Aber er konnte sich durchaus vorstellen, daß in der Stadt der Teufel los war. Der Gouverneur und seine Marionette, Don Ruiz de Retortilla, würden nichts unversucht lassen, ihn aufzuspüren. Während der vergangenen Stunden hatte er sich in den Schatten eines Farnbaumes zurückgezogen, seine Wunde an der linken Hüfte notdürftig behandelt, und über die verzwickte Situation nachgedacht, in der er sich befand. Erst nach Einbruch der Dunkelheit wollte er sich in die Stadt zurückschleichen, um bei Arne von Manteuffel Hilfe zu suchen. Am meisten ärgerte sich Don Juan darüber, daß er voll in die teuflische Falle des Gouverneurs getappt war, der zunächst versucht hatte, ihn durch ein gefälschtes Schriftstück nach Tampico an der mexikanischen Ostküste zu schicken. Weil er darauf nicht hereingefallen war, mußte Samanta de Azorin, ohne daß er die geringste Ahnung davon hatte, sterben. Das alles hatte Don Antonio arrangiert, um ihn los zu sein, denn ein verhafteter Mörder war so gut wie tot, er würde einem gewiß nicht mehr in das Süppchen spucken, das man im verborgenen kochte. Obwohl Don Juan die Flucht gelungen war, sah er zur Zeit keine Möglichkeit, sich gegen die ungeheuerlichen Lügen des Gouverneurs zu wehren. Mit seiner kleinen Schebecke und den neun Mann Besatzung konnte er - trotz seiner hohen königlichen Vollmachten - nicht gegen Don Antonio de Quintanilla und seine Häscher antreten. Das lag zum einen an der bewaffneten Übermacht, die dem Gouverneur hörig
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war, und zum anderen an der Tatsache, daß nahezu alle einflußreichen Leute in Havanna zur Clique Don Antonios gehörten oder aber von ihm bestochen wurden. Hinzu kam noch die unfreiwillige Rolle als Sittenstrolch und Frauenmörder, in die man ihn, Don Juan, hineinmanövriert hatte. Was immer er auch gegen diese Machenschaften unternehmen würde - er konnte nur den kürzeren ziehen. O ja, er würde sich schon verdammt anstrengen müssen, wenn er seinen Kopf aus der wohlvorbereiteten Schlinge ziehen wollte. Und - por Dios - das wollte er! Der Spanier warf einen Blick zum Himmel. In spätestens einer Stunde würde es dunkel sein. Dann endlich wäre es an der Zeit, nach Havanna zurückzuschleichen. Was Don Juan fühlte, war nicht nur Enttäuschung und Zorn, sondern es mischte sich mehr und mehr auch eine merkwürdige innere Unruhe dazwischen. Er lauschte immer wieder auf die vielfältigen Geräusche des Dschungels, auf die Schreie der Reiher und Flamingos und auf den ohrenbetäubenden Lärm eines bunten Papageienschwarms, der sich vorübergehend in den nahe gelegenen Baumwipfeln niederließ. Einmal schreckte ihn ein Geräusch in seiner unmittelbaren Nähe hoch, doch es war nur eine Eidechse, die flink im Gebüsch verschwand. Eine Weile später richtete sich Don Juan ruckartig auf. Er glaubte plötzlich das Bellen von Hunden zu hören. Die Laute kamen zwar aus weiter Entfernung, aber sie waren unüberhörbar. Hatte man etwa Bluthunde auf ihn angesetzt? Über seinen Rücken rieselte trotz der Wärme ein eiskalter Schauer. Es würde nicht das erstemal sein, daß man sich dieser Tiere bediente. Durch sie hatten die Häscher mehr Aussicht, ihn zu finden, als durch ein riesiges Soldatenaufgebot. Hatten ihn die scharfen Hunde erst einmal aufgespürt, gab es kaum noch ein Entrinnen. Don Juan überlegte, wie er sich auf die neue Situation einstellen sollte. Da
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erinnerte er sich an das Boot, mit dem ihn Arne von Manteuffel und Jörgen Bruhn retteten, als er seinerzeit von der Werft floh. Sie hatten das leichte Boot damals im Seitenarm eines Baches versteckt, der in die kleine Bucht von Atares, eine südwestliche Abzweigung der HavannaBai, mündete. Ob es dort wohl noch war? Zwar hatte er geplant, nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückzukehren, um bei Arne von Manteuffel Hilfe zu suchen. Doch das wütende Hundegebell, das immer wieder zu hören war, brachte ihn rasch von diesem Vorhaben ab. Er mußte von hier verschwinden, und zwar so schnell wie möglich. Das versteckte Boot ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Es würde vor allem Schutz vor den Bluthunden bieten - sofern es sich tatsächlich um solche handelte. Zudem war die Havanna-Bai buchtenreich und bot hervorragende Verstecke, vor allem in den Schilfgürteln, in die man von Land her kaum eindringen konnte. Außerdem müßte er sich nicht durch die Stadt zur Faktorei pirschen, sondern könnte sie mit dem Boot auf dem Wasserweg ansteuern, ohne befürchten zu müssen, irgendwelchen Spitzeln oder Suchtrupps zu begegnen. Die Bluthunde waren jedoch der ausschlaggebende Faktor bei seiner Entscheidung für den Wasserweg, denn im nassen Element konnten sie keine Spuren wittern, da versagte ihre feine Nase. Don Juan beschloß, sofort aufzubrechen. Vielleicht gelang es ihm noch, das Versteck vor Einbruch der Dunkelheit zu finden. Bis jetzt waren zwar noch keine Hunde zu sehen, aber er wollte es auch gar nicht erst darauf ankommen lassen. Das Gebell drang jedenfalls in immer kürzeren Abständen an seine Ohren. Don Juan erhob sich, klopfte sich gewohnheitsmäßig den Staub aus der Kleidung und überprüfte kurz den Sitz seines 'Notverbandes. Dann brach er auf. Dabei scheute er auch nicht vor Abkürzungen zurück, die durch dichtes Gestrüpp führten, und er achtete kaum darauf, wenn ihm Zweige ins Gesicht
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schlugen. Er hatte jetzt ein Ziel vor Augen - das Ziel, das ihm die meisten Chancen versprach. Nach einer halben Stunde etwa, gerade, als sich die Dunkelheit mit tropischer Geschwindigkeit herab- senkte, vernahm er ein schwaches Rauschen und Plätschern. Wenig später stand er am Ufer jenes Seitenarmes, den er in Erinnerung hatte. Nur etwa zweihundert' Yards von ihm entfernt mündete der Bach, zu dem der Seitenarm gehörte, in die winzige Bucht von Atares. Don Juan atmete erleichtert auf. Er hatte den Bach gefunden, jetzt durfte er nur das Boot nicht verfehlen, sonst war alles umsonst. Prüfend blickte er sich um. Er hatte drei hohe Palmen im Gedächtnis, die in unmittelbarer Nähe jener Stelle in den Himmel ragten, an der man das Boot ins Dickicht geschoben hatte. „Dem Himmel sei gedankt!“ flüsterte er, als er die Palmen entdeckte. So schnell ihn die Beine trugen, legte er die hundert Schritte zum Versteck zurück. Das Boot war noch da. Don Juan fielen tonnenschwere Felsbrocken vom Herzen. Er verlor keine weitere Zeit, denn das Hundegebell war schon beträchtlich näher gerückt. Rasch schob er das Boot ins Wasser und sprang hinein. Schon wenig später pullte er aus dem Seitenarm in den Bach und von da aus erreichte er die Ataresbucht. Er achtete nicht auf den brennenden Schmerz, der zeitweise von seiner Hüftwunde ausging, sondern legte sich immer wieder kräftig in die Riemen. Die Nacht hüllte jetzt die Karibik in einen grauschwarzen Schleier, und der heraufziehende Mond überschüttete das Wasser der Bucht mit silbrigem Glanz. Jetzt, da er bereits Abstand vom Ufer gewonnen hatte, war Don Juan wieder zuversichtlicher. Er hoffte, daß es ihm doch noch gelingen würde, dem fetten Gouverneur und seinen Schergen ein Schnippchen zu schlagen. Aber noch war seine Flucht nicht zu Ende. Es würde
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schon noch eine Weile dauern, bis er seine Unschuld beweisen konnte. Nahes Hundegebell riß ihn aus dem nur Sekunden währenden Gefühl der Euphorie. Der Lärm kam eindeutig vom Seitenarm des Baches herüber, beziehungsweise von dessen Ufer. Die Bluthunde gaben Standlaut und verbellten die Spur, die sie jetzt verloren hatten. Also hatte er doch richtig vermutet, daß man die gefährlichen Bestien auf ihn angesetzt hatte. Den endgültigen Beweis dafür erhielt er, als plötzlich auch der helle Schein von Fackeln zu sehen war. Noch im nachhinein fuhr ihm ein seltsames Gefühl durch die Magengegend. Nicht wegen der Soldaten und auch nicht wegen der Fackeln, sondern ausschließlich wegen der Bluthunde, denen er um Haaresbreite entgangen war. Er wagte nicht daran zu denken, was geschehen wäre, wenn er das Boot nicht in seinem Versteck vorgefunden hätte. Kurze Zeit später erblickte er weit entfernt die Stadt, die ebenfalls vom Licht zahlreicher Fackeln erhellt wurde. O Madonna! fuhr es ihm durch den Kopf. Don Antonio scheint tatsächlich Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, nur um mich zu fassen. War er noch vor kurzem fest entschlossen gewesen, in dieser Nacht auf dem Wasserweg zur Faktorei zu gelangen, so beschloß er jetzt, damit zu warten. Wie es aussah, war ganz Havanna auf den Beinen, und die Häscher würden mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch das deutsche Handelshaus überwachen oder gar durchsuchen. Nein, er mußte abwarten, um Arne von Manteuffel nicht in Gefahr zu bringen. Konnte er dem Deutschen, der ihm bisher so selbstlos geholfen hatte, überhaupt zumuten, ihn aufzunehmen? Ja, durfte er ihn überhaupt in diese schmutzige Intrigengeschichte hineinziehen? Don Juan zerbrach sich den Kopf, denn andererseits hatte ihm Arne von Manteuffel bereits mehrmals aus der Patsche geholfen, ohne viel zu fragen, und sogar unter Einsatz seines Lebens - was übrigens der Seewolf, den er im Auftrag der spanischen Krone
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jagen sollte und der dem Deutschen so verblüffend ähnlich sah, ebenfalls getan hatte. Ja, verrückt war das alles schon. Die eigenen Landsleute versuchten ihm einen infamen Mord anzuhängen, und Fremde oder sogar Gegner halfen ihm. Kein Wunder, wenn es Zeitgenossen gab, die die Welt nicht mehr verstanden. Don Juan, der das wütende Gebell der Bluthunde nur noch aus weiter Entfernung vernahm, pullte kraftvoll weiter. Er war entschlossen, für diese Nacht noch irgendeinen Schlupfwinkel zu finden, und sei das auch noch so schwierig. Das würde das Risiko für Arne von Manteuffel und seine beiden Männer zumindest etwas mindern. Nach einer knappen Stunde tauchte ein dunkler Schatten vor ihm auf. Seiner Orientierung nach konnte das nur jene kleine Insel sein, die in der Bucht von Marimelena lag. Er befand sich östlich des Stadtkerns, das sah er an den lodernden Fackeln, und demnach schon in der Bucht von Marimelena, während Havanna im oberen westlichen Teil der Bai auf einem Landvorsprung lag. Das winzige Eiland konnte höchstens noch eine gute Meile von ihm entfernt sein. Don Juan hielt es für einen guten Platz, von dem aus er tagsüber die Stadt beobachten konnte. Ja, dort würde er zunächst unterschlüpfen. Es würde wohl kaum jemand auf den Gedanken verfallen, ihn dort zu suchen. Nachdem er am Ufer der kleinen Insel angelegt hatte, versteckte er das Boot unter Mangroven und stieg an Land. Im stillen hoffte er, irgendwo ein paar Kokosnußpalmen zu finden, denn er verspürte heftigen Durst, und sein Magen knurrte empfindlich. Don Juan de Alcazar glaubte allein zu sein - allein mit sich und den Nachtvögeln, die ihre Rufe ertönen ließen oder aber erschreckt aufflatterten, weil sie sich von dem nächtlichen Eindringling gestört fühlten. 9.
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Die Nacht war mondhell. Die gelbe Kugel, die hoch am Himmel stand, tauchte die Umgebung in fahles Licht. Don Juan war froh darüber, denn das half ihm, sich besser auf dem winzigen Eiland in der Marimelena-Bucht zurechtzufinden. Er prägte sich die Stelle gut ein, an der er das Boot versteckt hatte, und beschloß, sich in das Innere der Insel zurückzuziehen. Von dort aus konnte er zumindest tagsüber die Stadt im Auge behalten und rechtzeitig erkennen, wenn sich Schiffe oder Boote näherten. Noch jetzt stach ihm der Schein vieler Fackeln in die Augen, man schien in Havanna die Nacht zum Tage machen zu wollen. Don Juan stieg die Uferböschung hinauf und arbeitete sich zwischen Gestrüpp, Farnen und wilden Orchideen vorwärts. Schon nach dreihundert Yards stieß er auf eine Gruppe hoher Palmen, die eine kleine Lichtung säumten. Mit Palmen hatte er ja gerechnet, ja, sogar darauf gehofft, welche zu finden. Doch was er jetzt entdeckte, nachdem er aus einer dichten Buschgruppe hervorgetreten war, ließ ihn abrupt seine Schritte stoppen. Auf der kleinen Lichtung stand eine Hütte - schlicht und einfach aus Brettern und Balken zusammengebaut. Durch die Türund Fensteröffnung fiel der Schein einer Tranlampe und ließ deutlich eine Gestalt erkennen, die vor der Hütte auf einer Bank saß und aus einer Flasche trank. Don Juan starrte verwundert auf dieses Bild, zumal er geglaubt hatte, die Insel sei unbewohnt. Die Gestalt auf der Bank aber erwies sich als ein weißhaariger alter Mann, der - wie es den Anschein hatte friedlich seinen Feierabend genoß. Es war eineregelrechte Idylle, die sich seinen Augen bot. Einen Augenblick war Don Juan verblüfft und unschlüssig. Was sollte er tun? Gab es vielleicht noch mehr Bewohner auf diesem Eiland? Das war von der Größe der Insel her unwahrscheinlich, aber völlig ausschließen konnte er es nicht. Er rang sich zu dem Entschluß durch, den Alten anzusprechen, denn spätestens bei
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Tagesanbruch würde der ihn sowieso bemerken, es sei denn, er würde sich ständig im Dickicht verkriechen. Da er nicht vorhatte, längere Zeit hierzubleiben, würde der alte Mann wohl keine besonders große Gefahr für ihn sein. Notfalls mußte er ihn eben zwingen, während seines Aufenthaltes die Insel nicht zu verlassen, damit er ihn nicht verraten konnte. Don Juan trat langsam aus dem Schatten des Dickichts und ging auf die Hütte zu. Er war davon überzeugt, daß ihn der Alte, der gerade wieder die Flasche an den Mund setzte, längst gesehen hatte. Das war nicht schwer in dieser mondhellen Nacht. Erst als Don Juan seine Schritte verhielt, setzte der knorrige Alte die Flasche ab, blickte ihm ruhig entgegen und grinste gelassen. „Kommen Sie nur näher, Don Juan de Alcazar“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Ich freue mich, endlich einmal einen Frauenmörder auf meiner Insel begrüßen zu können.“ Er lachte. Die Hand des Spaniers jedoch zuckte instinktiv zum Griff des Degens. War er etwa erneut in eine Falle getappt? Woher kannte ihn dieser Alte? Der Mann winkte ab. „Lassen Sie den Piekser nur stecken, und entschuldigen Sie meine direkte Art, aber ich weiß genau, daß Sie die Senora de Azorin nicht ermordet haben.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ fragte Don Juan. Er hatte noch immer die Hand am Griff des Degens. „Ganz Havanna scheint es zu glauben, warum gerade Sie nicht?“ Der alte Mann winkte erneut ab. „Treten Sie näher, Don Juan. Ihre Frage läßt sich leicht beantworten. Sie brauchen keine Falle zu befürchten. Außer mir sowie einigen Reihern und Eidechsen gibt es niemanden auf dieser Insel.“ Don Juan fühlte instinktiv, daß er diesem Mann vertrauen konnte. Er ging auf ihn zu und blieb wenige Schritte von ihm entfernt stehen. Jetzt, aus der Nähe, sah er das von Runen durchzogene, kantige Gesicht, das von dem weißen Haar umrahmt wurde, deutlicher. Der Alte hatte helle, scharfe
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Augen und ein festes Kinn. Nein, wie ein Spitzel oder Scherge sah er wirklich nicht aus. Und er war tatsächlich allein. Daß sich in seiner Hütte niemand aufhielt, war im Licht der Tranlampe, das durch das offene Fenster und die Türöffnung fiel, deutlich zu erkennen. „Ihre Antwort interessiert mich sehr“, sagte der Spanier. „Das kann ich mir lebhaft vorstellen“, meinte der Alte lächelnd. „Ich würde an Ihrer Stelle wahrscheinlich genauso empfinden. Aber ich will Sie nicht auf die Folter spannen, ich weiß wirklich, daß Sie gar nicht der Mörder der Sefiora de Azorin sein können. Ich habe gestern nämlich mit eigenen Augen gesehen, daß die Frau von Schergen des Gouverneurs in die Residenz geschleppt worden ist - gefesselt und geknebelt. Ich kann Ihnen sagen, daß sich die bedauernswerte Senora wie eine Raubkatze gewehrt hat, aber leider vergeblich.“ Don Juan glaubte, sich .verhört zu haben. Das war eine umwerfende Mitteilung, die der Alte da von sich gab. „Wie kommt es, daß Sie das gesehen haben?“ fragte er. „Die Antwort ist einfach“, fuhr der Mann fort. „Sie müssen wissen, daß ich ein einfacher Fischer bin, dem im Leben bisher nichts geschenkt worden ist. Daß ich dennoch ein bescheidenes Auskommen habe, liegt daran, daß ich seit einigen Jahren die Residenz des Gouverneurs mit Fisch beliefere. Genau das tat ich auch gestern. Ich hatte gerade einen Korb mit Fischen in der Küche der Residenz abgestellt, da fiel mein Blick durch die offene Tür in den Hof - und da sah ich zufällig, was ich Ihnen gerade geschildert habe. Man muß die Senora unauffällig mit einer Kutsche zum Palast gebracht haben. Natürlich konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was man mit dieser armen Frau vorhatte. Und selbst wenn ich es geahnt hätte, zu wem hätte ich gehen sollen? Zu Don Ruiz de Retortilla vielleicht?“ Er spuckte verächtlich aus. „Dann säße ich heute nicht mehr friedlich
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vor meiner Hütte, das dürfen Sie mir glauben.“ „Ich glaube es Ihnen, Senor ...?“ „Ach so“, sagte der Alte, „ich habe mich noch nicht vorgestellt. Aber da gibt es auch nicht viel zu sagen. Nennen Sie mich einfach Amando. Den Senor können Sie weglassen, ich bin diese Anrede nicht gewöhnt.“ „Geht in Ordnung, Amando“, sagte Don Juan, der plötzlich wieder ein kleines Lichtlein am dunklen Horizont aufgehen sah. Was dieser Alte, der ein guter, einfacher und harter Mann zu sein schien, da erzählte, klang einerseits schockierend, aber es mußte andererseits der Wahrheit entsprechen. Und sollte er jemals die Gelegenheit erhalten, Don Antonio und seine korrupte Clique vor ein ordentliches Gericht zu bringen, dann konnte die Aussage dieses Mannes von ausschlaggebender Bedeutung sein. Ja, genau genommen war sein Zeugnis von unschätzbarem Wert. Fast fühlte Don Juan so etwas wie Dankbarkeit dafür, daß er diesen Mann - wenn auch völlig unerwartet - getroffen hatte. Amando deutete auf die Bank. „Setzen Sie sich, Don Juan. Ich habe das Gefühl, daß Sie einige anstrengende Stunden hinter sich haben. Nehmen Sie ruhig einen Schluck aus meiner Flasche, das tut gut.“ Don Juan ließ sich neben dem Alten nieder, griff dankbar nach der Flasche und nahm einen langen Schluck. „Danke, Amando“, sagte er. „Das hat wirklich gut getan.“ „Freut mich“, erwiderte der Alte. „Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, auch wenn meine Möglichkeiten sehr bescheiden sind. Trotzdem sollen Sie wissen, daß ich das fette Schwein Don Antonio und seine ganze verdammte Kamarilla für die größten Lumpen, Betrüger und Verbrecher unter Gottes Himmel halte. Von Ihnen aber weiß ich, daß Sie ein Ehrenmann sind, der sogar für die Stadt gekämpft hat, als sie im März von dem Schnapphahn Catalina und
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seinen Totschlägern überfallen worden ist.“ Don Juan lächelte. „In meiner gegenwärtigen Lage tut es gut, so etwas zu hören, Amando.“ Der Alte grinste. „Ich sage das nicht, um Ihnen zu schmeicheln, sondern weil es schlicht und einfach die Wahrheit ist. Und bei der sollte man bleiben, auch wenn man nicht unbedingt reich dabei wird.“ „Ich habe Sie verstanden, Amando, und weiß, daß ich es mit einem ehrlichen Mann zu tun habe.“ Don Juan legte dem Alten die Hand auf die Schulter. „Irgendwann wird man auch in Havanna wissen, daß Don Juan de Alcazar kein Mörder und Sittenstrolch ist, das dürfen Sie mir glauben.“ Amando nickte zustimmend. „Mit meiner Hilfe können Sie rechnen. Doch jetzt kommen Sie bitte mit in meine bescheidene Behausung. Sie sind bestimmt hungrig. Was ich habe, biete ich Ihnen gern an, auch wenn ich es nicht auf silbernen Tellern und Tabletts servieren kann.“ „Das ist auch überflüssig. Ich bin ja schließlich nicht der erlauchte Don Antonio, der sich zuweilen schon zum Frühstück einen gebratenen Fasan servieren läßt. Ich habe in meinem Leben gelernt, auch mit einfachen Dingen auszukommen und bin froh darüber.“ Wenig später saßen die beiden Männer in der einsamen Fischerhütte am Tisch. Amando bewirtete seinen Gast mit kaltem Bratfisch, Brot und Käse. Sogar eine Flasche Rotwein hatte er von einem Regal gezaubert. „Sie können übrigens so lange bei mir bleiben, wie Sie es für nötig erachten“, sagte Amando. „Mit Neuigkeiten aus Havanna kann ich Sie täglich versorgen. Zuletzt war ich heute nachmittag drüben gewesen, doch was ich bei dieser Gelegenheit miterlebt habe, ist nicht unbedingt erfreulich für Sie, aber ich finde, daß Sie es trotzdem wissen müssen.“ „Schießen Sie los, Amando, ich bin dankbar, wenn man mich auf dem laufenden hält.“
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Der Alte räusperte sich, trank einen Schluck und berichtete dann: „Ich habe gesehen, wie man Ihre Schebecke besetzt und Ihre Crew gefesselt ins Gefängnis gebracht hat ...“ „Oh, verdammt!“ entfuhr es Don Juan. „Will man meinen Männern vielleicht auch noch was anhängen?“ „Offensichtlich ja“, fuhr Amando fort. „Don Ruiz leitete die Aktion, und ich hörte, wie er sie als Kumpanen eines Mörders beschimpfte. Wahrscheinlich glaubte diese Ratte, Sie auf dem Schiff zu finden, doch die Durchsuchung verlief zu meiner Genugtuung ohne Ergebnis. Dafür aber haben Ihre Männer für Furore gesorgt. Die Kerle haben sich kräftig zur Wehr gesetzt - trotz einer riesigen Übermacht. Es hat mir richtig gut getan, als anfänglich ein Scherge nach dem anderen von Bord flog entweder ins Hafenwasser oder aber vor die Füße von Don Ruiz. Natürlich mußten sie dann vor der Übermacht die Flagge streichen, aber sie haben wirklich bewiesen, daß sie zu Ihnen halten.“ Don Juan nickte, sein Gesicht wirkte besorgt. „Soweit ist es also schon gekommen. Sogar Ramon und die Crew wurden in das schurkische Spiel des Gouverneurs hineingezogen, und ich kann momentan nichts für sie tun.“ „Ich kann verstehen, was in Ihnen vorgeht, Don Juan. Doch hier sind Sie auf jeden Fall sicher. Zu meiner Insel verirrt sich keine Menschenseele, da können Sie völlig unbesorgt sein. Außerdem hat man von hier eine ausgezeichnete Sicht hinüber nach Havanna und über die Bai, so daß man notfalls auch Zeit genug hat, sich auf die östliche Landseite abzusetzen, falls sich Boote mit Suchtrupps nähern sollten. Auch an Land kenne ich gute Schleichwege und Verstecke. Sie werden es schaffen, davon bin ich überzeugt.“ Der spanische Generalkapitän lächelte. „Jetzt, da ich auf einen anständigen Mann wie Sie gestoßen bin, glaube ich auch selber wieder daran“, sagte er. „Es sieht in der Tat danach aus, daß man ohne fremde Hilfe kaum eine Chance hat, den Häschern
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des Gouverneurs zu entkommen. Gemessen an dem Fackelmeer in dieser Nacht, scheint Don Antonio wirklich alles aufzubieten, was in seiner Macht steht.“ Der Alte lachte verächtlich. „Vielleicht erstickt der Mastochse von einem Gouverneur eines Tages an seinen kandierten Früchten“, sagte er hart. „Im Moment aber läßt er tatsächlich die ganze Stadt umkrempeln, und damit das Volk gut mitmischt, hat er raffinierterweise eine Belohnung von hundert Goldtalern auf Ihre Ergreifung ausgesetzt. Das bringt manchen auf die Beine, der das Intrigenspiel nicht durchschaut. Sie hätten gegenwärtig in der Stadt kaum eine Chance, unerkannt zu bleiben.“ „Hundert Goldtaler?“ fragte Don Juan verwundert. „Das ist eine enorme Summe.“ „Ja“, fuhr Amando fort, „das sagen sich die Leute auch. Vor allem die Halunken, Schnapphähne und Spitzel. Ich wette, daß die heute die ganze Nacht durch auf den Beinen sind. Und das weiß Don Antonio, er hat die Belohnung nicht ohne Hintergedanken so hoch angesetzt.“ Don Juan schüttelte den Kopf. „Der Kerl muß eine fürchterliche Angst vor mir haben, doch dazu hat er auch genug Gründe. Da sein intriganter Plan nicht so verlaufen ist, wie er sich das vorgestellt hatte, versucht er, mich mit anderen Mitteln auszuschalten, und zwar bevor ich ihm gefährlich werden kann.“ Amando wollte seinem Zufallsgast erneut ein Stück Bratfisch auf den einfachen Holzteller legen, aber Don Juan wehrte ab. „Danke, Amando“, sagte er. „Ich bin wirklich satt, und ich weiß Ihre Gastfreundschaft sehr zu schätzen. Es tut gut, noch Freunde zu haben.“ „So ist es“, sagte der Alte in seiner gelassenen Art. „Daß Sie trotz allem welche haben, das weiß auch Don Antonio. Er befürchtet offensichtlich, daß Ihnen jemand Hilfe leisten könnte, deshalb hat er gleichzeitig mit der Festsetzung der Belohnung die Nachricht verbreiten lassen, daß jeder, der Ihnen hilft, damit rechnen müsse, am Halse lang gezogen zu werden.“ Don Juan schnitt ein grimmiges Gesicht.
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„Ich bin nur gespannt, was diesem Halunken noch alles einfällt. Aber unabhängig davon habe ich jetzt ein richtig schlechtes Gewissen, denn die Drohung des Gouverneurs gilt auch für Sie. Wenn er je erfährt, daß Sie mir geholfen haben, werden Sie ernste Schwierigkeiten kriegen, und das möchte ich ganz gewiß nicht ...“ Der Alte schnitt ihm das Wort ab. „Darüber brauchen wir nicht zu reden. Ich habe keine Angst, denn ich weiß, daß Sie diese Verbrecherclique eines Tages zur Strecke bringen werden. Und was die hohe Belohnung betrifft, Senor, da brauchen Sie sich in Bezug auf meine Person nicht zu sorgen. So was ist nur für charakterschwache Kerle ein verlockendes Angebot. Für anständige Menschen aber stinkt dieses Judasgeld schon, bevor man es überhaupt anfaßt.“ Er spuckte verächtlich aus. Don Juan zweifelte nicht mehr daran, daß er sich auf den Alten absolut verlassen konnte. „Ich verdanke Ihnen viel“, sagte er. „Viel mehr, als Sie glauben.“ Er wollte sich erheben, doch er sank mit schmerzlich verzogenem Gesicht auf die Bank zurück. Er hatte nicht mehr an seine Wunde gedacht, die sich bei der raschen Bewegung mit Nachdruck in Erinnerung gebracht hatte. Amando blickte ihn verwundert an. „Was ist mit Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“ Der Generalkapitän winkte ab. „Nicht der Rede wert“, antwortete er. „Ich hatte nur für einen Augenblick meine Hüftwunde vergessen. Aber das ist schon wieder vorbei.“ „Por Dias!“ entfuhr es dem Alten. „Ich wußte gar nicht, daß Sie verwundet sind. Wie kommen Sie denn zu einer Hüftverletzung?“ „Es handelt sich nur um einen Streifschuß“, antwortete Don Juan. „Ich habe die Wunde bereits vor einigen Stunden ausgewaschen und notdürftig verbunden. Während meiner Flucht aus dem Gouverneurspalast hat eine Kugel meine linke Hüfte gestreift, das ist alles.“
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„Na, für heute ist es gerade genug“, meinte der Alte und erhob sich. „Die Wunde wird sofort behandelt. Ich habe da nämlich meine Mittelchen ...“ In der Tat wurde Don Juan de Alcazar hervorragend von Amando versorgt. Und als ihm der Alte dann noch ein Nachtlager in seiner bescheidenen Holzhütte anbot, da
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begann der Sonderbeauftragte Seiner Allerkatholischsten Majestät wieder an das Gute im Menschen zu glauben. Doch wenn er es recht bedachte, hatte er diesen Glauben nie völlig aufgegeben, weil er wußte, daß er noch Freunde hatte - auch drüben in Havanna ...
ENDE