Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 569 Das Sternenuniversum
Die Schlacht um Aqua von Peter Terrid Die Gravo-Energetiker...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 569 Das Sternenuniversum
Die Schlacht um Aqua von Peter Terrid Die Gravo-Energetiker greifen an Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den September des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL entscheidende Impulse zu positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff Tausende von Lichtjahren zurückgelegt, und unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, hat längst eine Normalisierung des Lebens an Bord stattgefunden. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe und Gefahren. So ist es auch im sogenannten »Sternenuniversum«, in das die SOL durch einen Hyperenergiestoß versetzt wurde. Als man eines der seltenen Planetensysteme erkunden will, trifft die SOL auf gnadenlose Gegner. Diese Gegner entfesseln DIE SCHLACHT UM AQUA …
Die Hauptpersonen des Romans: Perester Fassyn - Ein Bewahrer der Welt. Fallund Kormant - Ein Verbannter von Aqua II. Atlan - Der Arkonide und sein Team auf Aqua I. Breckcrown Hayes - Der High Sideryt setzt die Machtmittel der SOL ein. Grahn Furier - Kommandant einer Space-Jet. Bora St. Felix - Die Sprecherin der Buhrlos als Retterin in höchster Not.
1. »Sieh an, ein Neuer!« Das waren die ersten Worte, die Perester Fassyn vernahm, als er aus seiner Ohnmacht erwachte. In seinem Schädel dröhnte und hämmerte es, und der Mann brauchte lange, bis er seine Gedanken wieder geordnet hatte. Richtig, er war Perester Fassyn, der Bewahrer der Nuun. Er bekleidete das höchste Amt, das es im Volk der Versteckten überhaupt gab. Und was machte er an diesem Ort? Wer wagte es, so despektierlich über ihn zu reden? Und wieso Neuer? Nur stückweise kehrte die Erinnerung zurück, und die war begleitet von Scham und Schmerz. Die eigene Tochter hatte sich aufgelehnt, den Bewahrer entmachtet. »Tautilla«, murmelte Perester. »Er kommt zu sich. Schlagen wir ihn gleich tot, oder lassen wir ihn noch ein bißchen zappeln?« Es tat bitter weh, das erleben zu müssen, und noch ärger wurde der Schmerz, da es sich um das leibliche Kind handelte. Was hatte er getan, daß seine Tochter so an ihm gehandelt hatte? Hatte er sie tatsächlich, ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, so schändlich behandelt, daß sie wahren Grund hatte, ihn, den Vater, dem Höllenschlund zu überantworten?
Perester Fassyn nahm seine Umgebung nicht zur Kenntnis. Seine Wahrnehmung war ganz nach innen gerichtet. Was auch immer ihm nun zustoßen mochte, welches Schicksal ihm auch bestimmt war – er wollte zuvor sich selber erforschen, sein Gewissen prüfen, ob dies eine Quälerei oder eine gerechte Strafe der Schicksalsmächte war. Nein, er hatte sich nichts vorzuwerfen. Er hatte die Tochter nach besten Kräften erzogen, sie geliebt und geachtet; frühzeitig hatte er ihre Gedanken und Wünsche ernst genommen und respektiert. Zu früh? Nur wenig Zeit hätte noch verstreichen müssen, dann hätte er ihr in gebührend feierlicher Form Amt und Würde des Bewahrers übergeben – und damit auch die geheimen Kenntnisse, die mit dem Amt verbunden waren. Während er nun auf einer harten Unterlage ruhte und rauhe Stimmen böswillige Reden führten, war Tautilla vermutlich längst Bewahrerin – aber ohne Kenntnis der tieferen Zusammenhänge. Das Schicksal des Volkes war damit der Willkür preisgegeben, der Jahrtausende währende Zusammenhang vom ersten bis zum amtierenden Bewahrer war zerrissen. Das konnte für das Volk der Nuun den Untergang bedeuten, dem sie so knapp entronnen waren – und was schadete es da, wenn ruppige Gesellen in lästerlichem Ton die Todesarten besprachen, die sie ihm bereiten wollten? »He, du, versuche nicht, uns zu täuschen. Wir wissen, daß du wach bist, also mach die Augen auf.« Es wurde Zeit, sich wieder mit der Wirklichkeit zu beschäftigen. Perester Fassyn öffnete die Augen. Er lag auf einer metallenen Pritsche, und neben diesem Lager standen drei grimmig dreinblickende Nuun, deren Äußeres arg ramponiert war. Perester kannte den Grund dafür – diese Nuun waren verbannt worden, vermutlich schon vor Jahren. Ja, er erinnerte sich an eines der Gesichter. Er hatte selbst am Urteil mitgewirkt – ein Aufrührer und Störenfried, der aus der Gemeinschaft hatte entfernt werden müssen. Seltsamer Hohn, daß ihm nun das gleiche widerfahren war.
»Wo bin ich?« fragte Perester verwirrt. Zeit gewinnen, das war das erste Ziel. Wenn diese Leute erkannten, wer da zu ihnen gestoßen war – ausgerechnet der Bewahrer, der sie selbst dem Höllenschlund hatte überantworten lassen – war sein Leben keinen Wassertropfen mehr wert. Sie würden ihn vermutlich auf der Stelle erschlagen. Perester raffte das Gewand enger. Er erinnerte sich, daß man ihm das Zeichen des Bewahrers gelassen hatte – das Abbild der orangefarbenen Sonne mit einem einzigen Planeten. Perester trug es wie stets an der Kleidung; noch wurde es vom Umhang verborgen. »Bei deinesgleichen, Alter«, sagte der größte der Nuun, ein bulliger Kerl, dem ein Ohr fehlte. »Nun, wie fühlst du dich? Daß ein Mann deines Alters sich so gebärdet, daß man ihn in den Höllenschlund wirft, will mir nicht in den Sinn.« »Mir auch nicht«, sagte Perester Fassyn und stand langsam auf. Der Raum, in dem er sich befand, war kahl. An den Wänden zeigten sich leichte Rostspuren. »Wo sind wir hier?« fragte Fassyn. »Ich habe wohl die Besinnung verloren.« Der Einohrige stieß ein geringschätziges Lachen aus. »Ohmächtig geworden vor Angst, wie? Nun, wo du bist, das kann ich dir so genau nicht sagen. Wir wissen es selbst nicht. Aber es gibt viele hier von uns. Die Schergen des Bewahrers sind in den letzten Jahren sehr eifrig gewesen.« »Seine Lungen sollen verdorren!« schimpfte der jüngste der drei Nuun. »Den Gefallen wird er dir nicht tun«, sagte der Einohrige. »Ich bin Lotham, der Kleine heißt Orlin, und dieser schweigsame Bursche ist Zurraf. Und du?« »Nennt mich Sterfas«, bat Perester Fassyn. »Warum wolltet ihr mich erschlagen?« »Sei nicht zu sicher, daß wir es nicht doch noch tun«, knurrte Lotham. »Es gibt viele Nuun hier und wenig zu essen, und du wirst uns kaum behilflich sein können.«
»Zeigt mir, was zu tun ist, und ich werde mich nützlich machen«, bat Fassyn. Er wußte, wo er sich befand. In der geheimnisumwitterten Station, von der aus vor Urzeiten die Große Flut über den Planeten der Nuun hereingebrochen war. Vor undenklich langer Zeit war es dem Volk der Nuun gelungen, dieser Flut Herr zu werden. Aber das lag so lange zurück, daß sich keiner mehr richtig daran erinnern konnte – es gab Sagen und Legenden, mehr nicht, und sie wurden hinter vorgehaltener Hand weitergegeben von einem Bewahrer auf den anderen. Nun war die absonderliche Lage eingetreten, daß einer, der Bescheid wußte, diese Station erreicht hatte, wenn auch gegen seinen Willen. »Führt mich herum, Freunde. Ich möchte alles sehen.« Lotham wandte sich an seine Begleiter. »Er ist nur ein Fresser mehr. Was sollen wir mit ihm?« »Dreh ihm das Gesicht auf den Rücken«, gab Zurraf von sich. Es war der erste Satz, den Fassyn von ihm zu hören bekam. »Vielleicht kann ich euch doch von Nutzen sein«, gab Fassyn zu bedenken. »Und töten könnt ihr mich immer noch – aber erst zeigt mir eure Welt.« Es hieß, die Station – angeblich befand sie sich auf einer Umlaufbahn, die der Nuuns genau entsprach, damit man die Station niemals zu Gesicht bekam – sei ziemlich klein, nur knapp 22.000 Trockenschritte sollte sie durchmessen. Die Vorstellung, daß das Unheil, von dem das Volk der Nuun ums Haar vernichtet worden wäre, seinem Ausgang in einem so winzigen Gebilde genommen hatte, war erschreckend. Aber bislang hatte niemand die Legende nachkontrollieren können – der Höllenschlund funktionierte nur in einer Richtung. Er verschlang, was ihm eingefüttert wurde, und spie es auf der anderen Seite wieder aus. »Also gut, komm mit. Vielleicht hat einer der anderen eine Idee, was mit dir werden soll.« Perester Fassyn zog den Mantel eng um die Schultern. So lange
wie möglich wollte er das Symbol des Bewahrers verbergen – sein Tod war sonst unvermeidlich. Die Station war uralt, und das war zu sehen. Es waren nur Kleinigkeiten – eine ausgefallene Beleuchtung hier, ein defekter Schalter dort, ein wenig Rost und Schmutz, in einem anderen Raum ein mordriger Geruch. Aber die Fülle dieser Kleinigkeiten traf den Bewahrer tief. Er kannte das Phänomen von den Anlagen unter dem Grünmantel – war dort erst einmal ein Schaden aufgetreten, zog dieser meist einen zweiten Fehler nach. Lawinengleich schwollen die Pannen an – bis zur völligen Zerstörung, wenn nicht sehr frühzeitig dagegen angegangen wurde. Daß sich eine solche Zerstörungslawine im Lauf von Jahrhunderten abspielte, nahm dem Vorgang nichts von seinem Grauen – und das galt ganz besonders für die Station, in der der Bewahrer gelandet war. Was geschah mit der Heimat, wenn Rost und Zerfall diese Station zerfraßen und zermürbten? Wenn die technischen Geräte ausfielen? Kam dann das Wasser zurück? Mit immer stärker werdendem Grauen vergegenwärtigte sich der Bewahrer, daß an jedem noch so kleinen Rostfleck dieses technischen Wunderwerkes das Leben von Tausenden hing. Und ein Wunderwerk war diese Station – hatte sie es doch auf rätselvolle Art und Weise geschafft, die Heimat der Nuun zu überfluten; daß sie jetzt auch die Aufgabe erfüllte, die Wassermassen von dem Planeten abzuhalten, nahm ihr nichts von ihrer bösartigen Perfektion und ihrer einzigartigen Wichtigkeit für das Leben und die Zukunft der Nuun. Perester Fassyn fröstelte. Er spazierte in einem Etwas herum, das nichts weiter war als eine gigantische Vernichtungsmaschinerie, die man gerade noch hatte bändigen können. Der Tatsache, daß es gelungen war, diesem unerschöpflichen Vernichtungspotential gleichsam Ketten anzulegen, verdankte das Volk der Nuun Sicherheit und Frieden. Und doch konnten die Ketten rosten, und dann war es mit der
Sicherheit vorbei. »Wahnsinn«, murmelte der Bewahrer. »Was hast du gesagt, Alter?« »Ich begreife dies alles nicht«, sagte Fassyn hastig. »Es übersteigt meinen Verstand.« »Ach was«, sagte Lotham. »Seit vielen Jahrtausenden leben Nuun hier, und jetzt leben wir hier, und nach uns werden andere kommen und hier leben. Das Zeug funktioniert, und das genügt doch wohl.« »Wovon ernährt ihr euch?« fragte Fassyn. »Es gibt Hefefarmen, da arbeiten viele«, sagte Lotham. »Wir haben das natürlich nicht nötig, wir sind die Oberschicht.« »Aha«, sagte Perester Fassyn. »Und was muß man tun, um zur Oberschicht zu gehören?« Lotham winkelte den rechten Arm ab und schlug sich auf den Bizeps. »Kraft muß man haben, und man muß sie einsetzen können. Das ist alles.« »Wirklich?« »Du wirst es erleben – spätestens, wenn du selbst in einer Hefefarm arbeitest.« Perester Fassyn senkte das Haupt. Ein Gedanke, der aberwitziger nicht sein konnte. Eine Vernichtungsmaschine, die einen Planeten und seine Bewohner unwiderruflich zerstören konnte, am Leben gehalten von namenlosen Sklaven, von den Schwachen und Sanften, kontrolliert von einer Horde kurzgeschorener Kraftbolzen, und es war nur deren Dummheit und dem Glück zu verdanken, daß sie nicht längst sich selbst und alles andere zerstört und vernichtet hatten. In diesen schrecklichen Augenblicken erfuhr Perester Fassyn an sich selbst eine Gefühlsregung, von der er wußte, daß sie ihm bisher völlig fremd gewesen war, von der er gleichfalls wußte, daß sie seiner Tochter noch weitaus fremder war, und von der er nun begriff, daß sie unabdingbare Voraussetzung für jeden war, der über
ein Volk herrschen und es glücklich machen wollte – Perester Fassyn lernte die Demut. Er kam an den Hefefarmen vorbei, übelriechenden Fabrikationsanlagen, erfüllt von Moder und Schweißgeruch, belebt mit elenden Kreaturen, denen das gräßliche Schicksal der Sklaverei den Mut und die Zuversicht genommen hatte. Diese Unglücklichen hatten die Verantwortung für ihr Leben längst abgegeben, sie ließen die Dinge treiben und sich selbst – und diese Regung war für Perester Fassyn durchaus nicht fremd. Lange Jahre hindurch hatte er als Bewahrer auch darauf vertraut, daß das Alterprobte sich von selbst durchsetzte und die Dinge in stetem kontrollierbaren Fluß hielt. Und er erlebte an seinen stämmigen Begleitern die hohlköpfige Kraftmeierei, die er ebenfalls praktiziert hatte – immer dann, wenn er staatliche und polizeiliche Mittel hatte einsetzen lassen, um Widerstand und Opposition zu unterdrücken. So viel Macht hatte er als Bewahrer besessen, daß er andere Meinungen gar nicht hatte zur Kenntnis nehmen müssen, und der Bequemlichkeit und Überheblichkeit halber hatte er es infolgedessen auch gar nicht getan, sondern die Kritiker gewaltsam zum Schweigen gebracht. Tiefe Schuldgefühle erfüllten Perester Fassyn, und er schwor sich, die unhaltbaren Zustände in der Station zu ändern. Es war Zeit, daß etwas geschah. »Ich habe die Hefefarmen gesehen und vieles andere mehr. Ich habe Wärter gesehen und euch – aber wer gibt euch Befehle?« »Die Befehle? Die geben wir uns selbst. Hier redet uns keiner drein.« Lothams Äußerung klang wenig glaubwürdig. Er war der Typ, der dreinschlug, und ganz ohne Nachdenken ließ sich das Leben in der Station sicherlich nicht aufrechterhalten. Irgend jemand in der Station mußte Hirn genug haben, die charakterlose Kraft dieser Muskelstränge sinnvoll nach seinem Willen zu steuern. Lotham und seine kurzgeschorene Rüpelbande waren Werkzeuge, keine Planer.
»Ihr habt doch Ratgeber?« »Klar, haben wir. Der Behüter hält sich eine Schar Tüftler, die auch für uns arbeiten müssen.« Perester Fassyn entschlüsselte die Großmäuligkeit. Es gab eine Person, die der Behüter genannt wurde – es würde zu klären sein, ob es sich dabei um einen Größenwahnsinnigen handelte, der diesen Begriff tatsächlich auf sich selbst anwandte. Die Bezeichnung Tüftler galt vermutlich für die Schar der theorieversessenen Intellektuellen, die Perester Fassyn als Bewahrer des Volkes hatte verschwinden lassen, weil sie den Gleichlauf im Leben des Volkes arg stören konnten. Perester Fassyn hatte den schrecklichen Verdacht, daß der Behüter von diesen Denkern vermutlich die hatte umbringen lassen, die auch in seinem Herrschaftsbereich jenen unbeugsamen Willen gezeigt hatten, der dem Bewahrer in seinem Bereich unerträglich gewesen war. Übriggeblieben waren wahrscheinlich jene, denen man das Rückgrat hatte biegen können. Perester Fassyn preßte die Zähne aufeinander. Es waren Spekulationen, die er anstellte, und daher müßig. Bevor er irgendein Urteil fällte, ob positiv oder negativ, wollte er jetzt zuerst einmal Wissen sammeln. »Ich möchte den Behüter sehen«, sagte er einfach. Lotham lachte laut auf, Orlin stierte Fassyn an, und Zurraf stieß ein warnendes Knurren aus. »Werde nur nicht frech, Alter. Der Behüter ist nicht für jeden zu sprechen, und für einen wie dich schon gar nicht.« »Und was für einer bin ich?« Lotham sah Perester Fassyn von oben bis unten an. Sein Gesicht drückte Verachtung und Überheblichkeit aus. »Entweder bist du nichts weiter als ein alter Mann, ein Träumer wie viele. Dann wirst du in einer Hefefarm landen und dort bald sterben. Oder du bist einer von den Tüftlern, und allein deshalb haben wir dich nicht gleich erschlagen. Du wirst uns dienen – so
oder so.« . Perester Fassyn lächelte mild. Er richtete sich auf. »Ich diene niemandem«, sagte er. Er spürte, daß es unglaublich anmaßend war, aber in dieser Lage war die Überheblichkeit angemessen. »Ich bin Perester Fassyn, der Bewahrer!« Er schlug den Umhang zur Seite und zeigte das Symbol des Bewahrers. Orlin wich erschrocken zurück. Zurraf fletschte die Zähne und machte Anstalten, sich auf Fassyn zu stürzen. Lotham hielt ihn mit hartem Griff zurück. »Ich erkenne dich, Bewahrer!« zischte Lotham. In seinen Augen loderte heiße Wut. Einen Augenblick lang tanzte Perester Fassyns Schicksal auf einem Wellenkamm. Alles oder nichts – entweder konnte er Lotham beeindrucken, dann war er gerettet. Oder der tiefverwurzelte Haß brach durch – auch Lotham war auf Geheiß des Bewahrers hierher verfrachtet worden –, und dann währte sein Leben kein Lichtteil mehr. »Du hast Glück, Fassyn«, stieß Lotham in mühsam gezügelter Wut hervor. »Ich würde dich auf der Stelle töten, aber das soll der Behüter entscheiden – wir werden dich zu ihm bringen.« Perester Fassyn unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Er ahnte, daß es in dieser gespenstischen, bedrückenden Welt wenig zu lächeln gab. Lotham funkelte ihn an. »Komm!« sagte er rauh.
2. Vier Wachen standen neben dem Behüter, der eine Stoffmaske über dem mageren Gesicht trug. Die Wachen waren mit Knüppeln bewaffnet – mehr hatte man an Waffen wohl nicht auftreiben können.
»Perester Fassyn«, sagte der Behüter leise. »Das ist wirklich eine Überraschung. Wie kommst du hierher?« »Auf dem gleichen Weg wie jeder andere – durch den Höllenschlund«, sagte Fassyn. Daß er nicht freiwillig gekommen war, verschwieg er vorsichtshalber. Es konnte nicht schaden, wenn man ihm zutraute, auch den Rückweg antreten zu können – oder, wenn er damit drohte, etliche Bewaffnete nachkommen zu lassen. »Ich will mit dir allein reden«, sagte Perester Fassyn. »Ohne Zeugen.« »Er trägt keine Waffen, Behüter«, sagte Lotham hastig. »Trotzdem …« »Ihr könnt gehen«, sagte der Behüter. Die Wachen verließen den Raum. Er war die bisher erträglichste Kammer, die Fassyn zu sehen bekommen hatte. Der Behüter stand auf. An den Bewegungen ließ sich erkennen, daß er alt war – und vermutlich sehr müde. »Was hast du mir zu sagen?« fragte der Behüter. »Ich habe Fragen«, sagte Fassyn. »Wichtige Fragen.« »Fang an, vielleicht kann ich sie dir beantworten.« »Wer bist du, der du dich selbst Behüter nennst?« Ein Schulterzucken war die erste Antwort. »Ein Niemand, ein Nichts«, sagte der Behüter. »Eine Gestalt, die bald verschwunden sein wird – und doch auf sehr seltsame Art und Weise in die Überlieferung unseres Volkes eingebunden. Wie du, Bewahrer.« »Was ist dies für eine Anlage?« fragte Fassyn weiter. Durch die Sehschlitze sahen ihn zwei nachdenkliche, traurig wirkende Augen an. »Ich werde es dir zeigen«, sagte der Behüter. »Soweit ich es vermag, und du sollst wissen, daß ich nicht viel vermag.« Er schritt voran, ein paar Gänge entlang, vorbei an leeren Kammern, verstaubten Räumen. Es war den Orten anzusehen, daß sich hierher selten ein lebendes Wesen verirrt hatte.
Vor einer Tür blieb der Behüter stehen. »Jetzt eine Frage von mir: Bist du freiwillig hier?« Fassyn schüttelte den Kopf. »Die eigene Tochter«, grollte er bitter. »Und was noch schlimmer ist – aber davon reden wir später.« Der Behüter zog die Maske vom Kopf. »Korav Ghur!« rief Fassyn erstaunt aus. Er hatte in dem mageren, ausgemergelten Gesicht die Züge eines uralten Freundes wiedererkannt – eines Freundes, den er dazu verurteilt hatte, in den Höllenschlund gesteckt zu werden, aus Gründen der Staatsräson. Korav Ghur antwortete nicht, aber seine Augen blieben auf Perester Fassyn gerichtet. Sanft und gelassen und deshalb so gefährlich für den Staat, das war Korav Ghur gewesen, als man ihn gefaßt hatte, ein verträumt wirkender Gelehrter, wirklichkeitsfremd, in Theorien versponnen. Aber er hatte zahlreiche Anhänger gefunden, die versucht hatten, seine Überlegungen praktisch umzumünzen, und Perester Fassyn hatte keine andere Wahl gehabt, als den geistigen Nährboden dieser Umsturzbewegung in Gestalt von Korav Ghur zu entfernen. Und dieser Mann sollte nun der autoritäre Behüter sein, der Anführer der schlageifrigen Rüpel, die Fassyn kennengelernt hatte? In Korav Ghurs Blick war zu lesen, daß er der Behüter war, daß er darunter litt – und daß er Perester Fassyn dafür verfluchte, daß er ihn in diese Rolle gezwängt hatte. Wut und tiefer Schmerz drückten sich in dem Blick aus, ein schneidender Vorwurf, der umso heftiger traf und schmerzte, als er wortlos war. »Komm!« Korav Ghur schritt voran. »Dies ist mein Reich«, sagte der Behüter halblaut. Schalter waren zu sehen, Bildschirme, von denen ein Teil defekt war, Instrumente, die blinkten und Zeiger zappeln ließen – nichts, was Perester Fassyn hätte verstehen können. Er war kein Techniker – er gebot ihnen.
»Du weißt, was das ist?« fragte Ghur. »Du wirst es mir sagen«, gab Fassyn zurück. Korav Ghur schüttelte den Kopf ein wenig. »Ich hätte es mir denken können«, sagte er traurig. »So wisse nun, daß dies einer der Schalträume der Station ist. Was du dort siehst, ist Wasser – das Wasser, das diese Station wie ein riesiger Tautropfen einhüllt. Und dieser Tropfen ist groß wie ein Planet, so hat man es mir gesagt.« »Wer?« »Derjenige, der vor mir die Verantwortung als Behüter getragen hat«, antwortete Korav Ghur. »Und er hatte die Kenntnis von seinem Amtsvorgänger, in langer ununterbrochener Tradition.« Der Stich traf – Fassyn und seine Amtsvorgänger waren es gewesen, die diese Tradition dadurch begründet hatten, daß sie Unbotmäßige und Aufsässige dem Höllenschlund überantwortet hatten. »Vor Urzeiten – so hat man es mir gesagt, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln – lebte unser Volk auf einem sonnenbeschienenen trockenen Planeten. Eines Tages aber erschien der Feind, wir haben das Volk Gravo-Energetiker getauft.« »Du sagst mir nichts Neues«, bemerkte Fassyn. »Es waren vermutlich die Gravo-Energetiker, die diese Station gebaut haben. Sie diente damals wie heute dem unglaublichen Zweck, aus dem Nirgendwo Wasser heranzuschaffen, jenes Wasser, das unseren Planeten überschwemmt und unser aller Leben verändert hat.« Auch das war Perester Fassyn bekannt, aber er schwieg. »Unser Volk wäre trotz aller Rettungsmaßnahmen jämmerlich zugrunde gegangen, wäre es nicht einer Gruppe Verwegener gelungen, diese Station auf dem Weg durch den Höllenschlund zu erreichen. Frage mich nicht, wie dieser Weg durch das Nichts aussieht – ich weiß es nicht. Die Technik der Gravo-Energetiker ist uns noch immer unergründlich rätselvoll. Diese ersten Nuun
schafften es, unser Volk zu retten – sie hinderten die Wassermassen daran, unseren Planeten weiter zu überschwemmen. Die Innere Quelle wurde dadurch ausgetrocknet, aber es fließt noch immer Wasser in diese Station – es sammelt sich rings um uns, umhüllt die Station und wächst von Jahrhundert zu Jahrhundert.« Perester Fassyn fühlte, wie ihn Schwindel ergriff. Das Wasser strömte also noch immer in das System – der alles ertränkende Strom war nicht versiegt, er war lediglich umgeleitet worden? Ein Gedanke, der den Bewahrer bis ins Mark erschütterte. »Wie werden diese Einrichtungen bedient?« fragte Perester Fassyn. »Kann man …?« »Man kann«, sagte Korav Ghur. »Man kann an diesen Anlagen herumspielen, die Schaltungen verändern. Vielleicht ist es möglich, den niemals endenden Strom aus dem Nirgendwo endgültig zum Versiegen zu bringen. Vielleicht ist es möglich, den Weg vom Höllenschlund hierher umzukehren – was vor Urzeiten dem Wasser gelungen ist, könnte auch uns gelingen: von dieser Station zurückzukehren in unsere Heimat.« Korav Ghur legte eine kleine Pause ein. Seine Augen schienen sich in Fassyns Gehirn förmlich hineinbrennen zu wollen, so durchdringend blickte der Behüter seinen Gast an. »Es ist aber auch möglich, daß wir das Unheil erneut nach Nuun bringen, daß der Sintstrom erneut unser Volk zu ertränken versucht – und diesmal, das weißt du so gut wie ich, wird niemand in der Lage sein, die Katastrophe im letzten Augenblick zu verhindern. Zu viel Zeit ist vergangen – wir verstehen nicht einmal die Technik unserer Vorväter, geschweige denn die Anlagen des Feindes. Begreifst du nun?« Perester Fassyn machte eine Geste der Verneinung. Er mußte sich setzen. Was er da zu hören bekam, war so verwirrend, so ungeheuerlich, daß er Mühe hatte, die Informationen in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen. Leise setzte Korav Ghur seinen Vortrag fort.
»Die Mächte des Schicksals haben es gut mit unserem Volk gemeint. Sie brachten ihm nicht nur Rettung in höchster Not, sie ließen auch Retter entstehen, die niemals an eine solche Rolle gedacht hätten. Du weißt, wen ich meine?« Perester Fassyn verneinte. Er sah, daß Ghurs Blick auf das Bewahrersymbol gerichtet war. Hastig verdeckte Fassyn das Abzeichen mit seinem Mantel, und er stellte fest, daß er sich seines Amtes schämte. »Lange Zeit war diese Station völlig verlassen. Elend und einsam sind die Retter unseres Volkes gestorben. Ich habe ihre kümmerlichen Aufzeichnungen gelesen – wenn du wissen willst, wie Helden geraten sind, dann lies diese Berichte. Sobald sie es geschafft hatten, den Sintstrom zu stoppen, haben sie freiwillig auf alle anderen Manipulationen verzichtet; sie haben den gräßlichen Tod in Einsamkeit der möglichen Katastrophe für ihr Volk vorgezogen. Keiner hat es danach gewagt, an diesen Schaltungen auch nur eine Kleinigkeit zu ändern, denn jede Änderung hätte das Verhängnis neu entstehen lassen. Ich bewundere diese Nuun, aber fast noch mehr bewundere ich Ando Lorq. Du kennst den Namen nicht? Er war der erste, der zur Strafe in den Höllenschlund gesteckt worden ist. Lorq hat die Aufzeichnungen gefunden, und er hat sie verstanden.« Korav Ghur sah an Perester Fassyn vorbei ins Leere. »Von den verblendeten Machthabern des eigenen Volkes zum Tode verurteilt, hatte er die Größe, auf jede Rache zu verzichten – auch er hat diese Schaltungen niemals verändert. Mehr noch – er hat, als andere Verbannte ihm nachgeschickt wurden, auch dafür gesorgt, daß diese Verzweifelten ihre berechtigte Wut nicht austoben konnten. Er ist der erste Behüter dieser Station gewesen.« Schmerzlich und voller Scham begriff Perester Fassyn, daß die eigentlichen Bewahrer des Volkes der Nuun im Verborgenen gearbeitet hatten – hier in dieser Station. »Am Anfang muß es Lorq gelungen sein, alle, die ihm
nachgeschickt wurden, von seiner Ansicht zu überzeugen. Aber es kamen immer mehr und immer mehr – und es waren nicht nur Träumer und Idealisten unter ihnen. Unter der Regentschaft Gastrans, den man den Großen Bewahrer nennt, weil er den OrthanAufstand niedergeschlagen hat, kamen mehrere Tausende hier an, und es waren üble Kerle und Frauen darunter.« Korav Ghur machte eine schmerzliche Gebärde. »Aus diesen Zeiten rührt das gräßliche Verfahren der Unterdrückung, das du gesehen hast. Die Lebensverhältnisse hier sind kärglich und roh, nur mit Mühe ernähren die Hefefabriken das Volk. Es war für alle ein jämmerliches Leben, kurz, finster, häßlich. Zwei oder drei Aufopferungsbereite finden sich immer – aber Tausende? Die Nuun, die hierher verbannt waren, hungerten und froren, sie haben gelebt wie die Tiere – und ein knurrender Magen, Nässe und Kälte lassen den Edelmut rasch schrumpfen. Sie wollten mit Gewalt diesen Teil der Station in Besitz nehmen, nach Nuun zurückkehren.« Perester Fassyn versuchte, sich diese Schreckensszenen vorzustellen – und dazu den feierlichen Pomp, der für die letzten Regierungsjahre des Großen Bewahrers Gastran typisch gewesen war. Während man auf Nuun ausgelassen gefeiert hatte, hatte das Schicksal des ganzen Volkes buchstäblich an einem seidenen Faden gehangen. »Der Aufstand der Unterdrückten konnte niedergeschlagen werden«, sagte Korav Ghur leise. »Auch diese Aufzeichnungen habe ich gelesen und studiert, und mir sind nicht die Tränenspuren in den Tagebüchern entgangen. Große, edle Frauen und Männer unseres Volkes, von einem verblendeten Tyrannen in den scheinbar sicheren Tod geschickt, mußten andere Verzweifelte und Verbannte rücksichtslos unterdrücken, um dadurch ein ganzes unwissendes Volk vor dem Tod zu retten.« Ghur trat nahe an Fassyn heran. »Weißt du, was das heißt? Ahnst du es, Perester Fassyn? Nuun zu
sehen, die hungern und frieren, die ärger leben als eure Haustiere? Zu wissen, daß wir es sind, die diese Unglücklichen zu diesem Jammerdasein verurteilen? Weißt du, wie man sich fühlt, wenn man diese hirnlosen Kraftprotze losschickt, um die zu recht Erbitterten zusammenzuschlagen – und all das, um Leute deines Schlages zu retten? Kannst du dich einfühlen? Ja? Du vermagst es? Dann stelle es dir vor: irgendein Kind, dem einer der Schergen das karge Stück Brot wegnimmt, einfach aus Hochmut und Grausamkeit. Kannst du dir diese Augen vorstellen? Und dann denke an die verglasten Blicke deiner noblen Staatsgäste bei den Gelagen – und nun weißt du, wer diese Gastmähler bezahlt hat.« Perester Fassyn konnte hören, wie schwer Korav Ghur atmete. Er konnte den Behüter am ganzen Leib zittern sehen, er hörte das ohnmächtige Zähneknirschen. »Aber gab es denn keinen anderen Weg? Mußte diese Unterdrückung wirklich sein?« Korav Ghur stieß ein verächtliches Lachen aus. »Das fragst ausgerechnet du? Du kennst doch die Antwort – perfekte Sicherheit ist nur durch perfekte Unterdrückung möglich. Nur wenn wir jeden Bewohner dieser winzigen Welt stets und unablässig unterdrücken, ihn gewaltsam in ein winziges Rädchen dieser Maschinerie verwandeln – nur dann können wir das perfekte Funktionieren dieser Maschinerie garantieren. Niemand weiß, wie lange es uns noch gelingen wird.« Perester Fassyn stand auf. Er ging zu jener Wand hinüber, auf der eine Reihe kleinerer und größerer Bildschirme stets das gleiche Bild zeigten – strömendes Wasser, für jeden Nuun ein Symbol der endgültigen Vernichtung. »Grauenvoll«, murmelte er tief betroffen. »Pah«, machte Korav Ghur. »Das ist ein viel zu schwaches Wort, aber das wirst du selbst noch spüren.« Perester Fassyn fuhr herum. In seinem Gesicht stand eine Frage geschrieben.
»Was siehst du mich so an, Perester Fassyn? Du weißt genau, was ich sagen werde – du wirst mein Nachfolger sein, niemand anderer.« Perester Fassyn öffnete den Mund zu einem Schrei des Entsetzens. »Niemals!«
* Zwei Monate nach diesem Zusammentreffen zwischen dem Behüter und dem Bewahrer starb Korav Ghur, erschöpft und ausgemergelt, in den letzten Stunden seines Lebens von fieberdurchglühten Gewissensqualen gefoltert, die ihn toben und schreien ließen, bis ihn der Tod endlich erlöste. Perester Fassyn übernahm sein Amt – und mit ihm die Qualen, die es bereitete. Die Verhältnisse in der Station waren so klar und einfach, daß die zwei Monate vollauf genügten, Perester Fassyn einzuarbeiten. Es gab die Elenden und Sklaven, es gab die Schicht der Peiniger und Prügler, und es gab eine kleine Gruppe Intelligenter, die froh waren, die Last der Verantwortung dem Behüter aufgebürdet zu wissen. Die Nuun in den Fabriken schufteten und litten, die Prügler peinigten, die Berater verwalteten – und Perester Fassyn trug für alles die Verantwortung. Dieser Mikrokosmos des Grauens war klein genug, um jederzeit überschaubar zu sein – nur unter diesen Verhältnissen ließ sich dieser Sklavenstaat überhaupt dauerhaft einrichten und perfektionieren. Ein einziges Mal versuchte der neue Behüter, ein wenig Milde und Freundlichkeit walten zu lassen, aber dieser Versuch schlug jämmerlich fehl. Es war nicht möglich, diese seelisch ausgehungerten Wesen gleichsam an der nahrhaften Suppe erst einmal schnuppern zu lassen und sie auf die Zukunft und die ersten Bissen zu vertrösten ; sie waren so ausgezehrt, daß sie alles sofort
und zur Gänze verlangten, und zu diesem Schritt fehlte es Perester Fassyn am Mut. Vielleicht wäre es möglich gewesen – aber es wäre einer Revolution gleichgekommen, und davor schreckte Perester Fassyn letztlich doch zurück. Er mußte einsehen, da die Freiheit unwiederbringlich verloren war: Er hatte keine wirkliche Entscheidungsfreiheit, so vollkommen seine Macht auch erscheinen mochte. Wollte er die bestehenden Verhältnisse beibehalten, mußten immer wieder Todesurteile gefällt und auch vollstreckt werden. Tote waren aber auch unvermeidlich, wenn er versuchte, die Verhältnisse zu ändern – die gewalttätige Schicht der Wärter und Büttel war nicht gewillt, ihre vermeintlichen Rechte kampflos preiszugeben. Wie sich Fassyn auch entscheiden mochte, er brachte vielen Bewohnern der Station den Tod, und unschuldig waren die Ahnungslosen und Unterdrückten allesamt. Die Last dieser furchtbaren Bürde ließ Perester Fassyn rasch altern, aber sie brachte es nicht fertig, ihn vollständig abzustumpfen. In weiser Voraussicht hatten die ersten Behüter bestimmt, daß dieses Amt stets von einer Frau oder einem Mann verwaltet werden sollte, der unter dieser entsetzlichen Verantwortung zu leiden hatte – und auch Perester Fassyn sorgte dafür, daß einige forsche Nachfolgekandidaten, denen Härteparolen allzu locker von der Zunge gingen, rasch aus der Szenerie verschwanden. Eine Änderung allerdings setzte Perester Fassyn durch. Er sorgte dafür, daß jener Bereich der Station, in dem die Verbannten von Nuun ankamen – und es kamen deren etliche, denn Tautillas Richter arbeiteten rasch und großzügig – nur von ihm allein betreten werden konnte. Eine Warnanlage informierte ihn, wenn neue Verbannte ankamen, und jedesmal suchte Perester Fassyn die Empfangsstation auf und nahm die Ankömmlinge in Empfang. Zweierlei trieb ihn dazu: zum einen die leise Hoffnung, daß sich Tautilla vielleicht eines Tages besinnen könnte, daß es irgendeine
Möglichkeit gab, diese energetische Einbahnstraße umkehrbar zu machen. Das andere war ein Gefühl der Angst – eine tiefverwurzelte Furcht, die jeden der Behüter gequält hatte. Eines Tages konnten vielleicht in der Empfangsstation jene Wesen auftauchen, die aus unerfindlichen Gründen vor Jahrtausenden versucht hatten, das Volk der Nuun zu vernichten. Perester Fassyn war willens, diesem Feind als erster entgegenzutreten. Er wußte nicht, wie dieser Feind aussah, aber er war sicher, daß er ihn erkennen würde. Und dann, eines Tages, war es soweit. In der Empfangsstation rematerialisierten Lebewesen, wie Perester Fassyn sie niemals zuvor gesehen hatte. Geistesgegenwärtig richtete Fassyn seine Paralysatoren auf die vom Transport noch halb Gelähmten. »Nein, Bewahrer!« schrie der Nuun, der die Fremden begleitete. »Wir sind Freunde!« Perester Fassyn glaubte ihm nicht. Auch den Verräter streckte er nieder. Dann blieb er schwer atmend in der Empfangsstation stehen. Der Tag der Entscheidung war gekommen – endlich hatte sich der Feind gezeigt.
3. »Behutsamkeit«, sagte Breckcrown Hayes eindringlich. »Fingerspitzengefühl, das erwarte ich von euch. Draufschlagen kann jeder Tölpel.« Einsatzbesprechung in der Klause des High Sideryt. Ein Zehnergeschwader Space-Jet sollte ausschwirren und sich die Fremden aus der Nähe ansehen, die vor Stunden in das AquaSystem eingedrungen waren und sofort nach ihrem Auftauchen die
SOL angegriffen hatten. Wenn diese Fremden nicht einfach blindwütig auf alles schossen, was ihnen unbekannt war, mußte dieser Angriff sorgsam geplant gewesen sein – und das wiederum wäre Breckcrown Hayes sehr verwunderlich erschienen. »Nun ja«, warf Grahn Furier ein, der eine der Space-Jets fliegen sollte. »Kraftmeier sind unsere Schiffe sicherlich nicht.« »Deswegen habe ich Space-Jets ausgewählt«, sagte Hayes. »Ich hoffe, daß ihr nicht der Versuchung erliegt, den starken Mann markieren zu wollen. Ihr wißt, daß ein Treffer euch aus dem Weltraum blasen würde, also verhaltet euch dementsprechend. Fliegt hin, seht nach, und kehrt wohlbehalten zurück.« Grahn Furier spürte Unbehagen in der Magengrube. Dieser Auftrag war gefährlich – und das war er offenkundig nur für die Solaner, nicht aber für die verrückten Fremden in ihrer absonderlichen Schießwut. »Die SOL mit ihrer Feuerkraft und Defensivbewaffnung kann den Fremden erheblich mehr zusetzen als wir«, warf er ein. »Das ist mir bekannt«, antwortete der High Sideryt. Er lehnte sich etwas in seinem Sessel zurück. »Überlegen wir, was geschehen ist. Es sind fremde Raumschiffe im Aqua-System aufgetaucht und haben uns ohne jede Vorwarnung angegriffen. Wir haben keine Ahnung, um was für Wesen es sich dabei handelt, wir müssen mit allen möglichen Überraschungen rechnen.« »Beispielsweise mit neuen Feuerüberfällen«, warf Grahn Furier ein. »Der Angriff kann ein Mißverständnis sein«, sagte Hayes energisch. »Dieses sogenannte Mißverständnis hat Tote gekostet«, erklang eine Stimme aus dem Hintergrund. »Umso vorsichtiger und feinfühliger müssen wir sein«, gab Hayes zurück. »Diese Fremden werden einen Grund haben, warum sie uns angreifen – und wir werden zunächst einmal versuchen, diesen
Grund herauszufinden.« »Vielleicht schießen die einfach auf alles«, sagte eine junge Frau. Hayes lächelte zurückhaltend. »So viel ungezügelte Aggressivität traue ich keinem Wesen zu, keinem einzelnen und schon gar nicht einem ganzen Volk. Vielleicht sind die Fremden verzweifelt, was weiß ich – ich sehe jedenfalls keine zwingende Notwendigkeit, das Risiko weiteren Blutvergießens zu erhöhen. Habt ihr begriffen?« »Das nächste Blut wird, wenn es fließt, unseres sein«, bemerkte Grahn Furier. Hayes sah ihn aufmerksam an. »Du kannst an Bord bleiben, wenn dir die Sache zu gefährlich erscheint. Ich zwinge niemanden.« Grahn hob die Hände in einer abwehrenden Bewegung. »Ich fliege«, sagte er hastig. »Andernfalls müßte ich die Kammer meiner Freundin neu streichen.« Der Scherz fand keinen großen Anklang. Noch einmal ermahnte der High Sideryt seine Piloten, sich aller Unbesonnenheiten zu enthalten, dann machten sich die Frauen und Männer auf den Weg in die Hangars. Die SOL stand in sicherer Entfernung vom Aqua-System, etwas mehr als 14 Lichtjahre entfernt. Die Fernbeobachtung lief auf Hochtouren, konnte aber nicht die detailreichen Kenntnisse liefern, die zur Analyse der Lage dringend notwendig waren. Grahn Furier ließ seine Space-Jet aus dem Hangar katapultieren. Jedesmal, wenn er auf diese Art und Weise die heimatliche SOL verließ, empfand er das gleiche – ein Gefühl der Befreiung und zugleich der Angst. Die Space-Jet war ein kleines technisches Wunderwerk, nahezu perfekt konstruiert, sicher und zuverlässig. Man konnte sich auf das Gefährt verlassen. Und doch kam sich Grahn vor, als würde eine unsichtbare Nabelschnur gekappt, als er die Triebwerke hochfuhr und sich mit großer Beschleunigung von der SOL entfernte. Die SOL stand frei
im Raum, sie wurde von keiner Sonne beschienen, nur ein paar kleinere Leuchtkörper verrieten die Anwesenheit des Riesenschiffs, und dieser Lichterglanz verlor sich nach kurzer Fahrt. Auf den Ortungsschirmen hingegen war die SOL klar zu erkennen, und die Hyperkomverbindung stand. Grahn Furier warf einen Blick auf seine Kopiloten. Isabelita bediente ihre Instrumente mit der ruhigen Gelassenheit und zuverlässigen Sicherheit, die Grahn von ihr kannte. Sie lächelte flüchtig. »Aufgeregt?« »Ein bißchen«, gab Grahn zu. Das Team harmonierte hervorragend, und das lag nicht zuletzt daran, daß jeder an Bord die Stärken und Schwächen seiner Teamgefährten recht genau kannte und niemand aus seinem Herzen eine Mördergrube machte. Allein das schuf das Klima wechselseitigen Vertrauens, das unerläßlich war, wenn ein so gefahrvoller Auftrag nicht mit einem Fiasko enden sollte. »Ich leite die Linearetappe ein«, gab Grahn bekannt. Auf den Schirmen waren die anderen neun Space-Jets zu erkennen. Sie steuerten andere Kurse – der Schwarm wollte nicht geschlossen das Aqua-System anfliegen, weil er damit leichter zu orten war. Von verschiedenen Seiten aus wollten sich die Kundschafter an die Planeten und die neuen Ankömmlinge heranpirschen. Die Linearetappe trug Grahns Schiff ein Stück über das Ziel hinaus, auch das war beabsichtigt. Mit einer sehr knappen Linearphase brachte er die Space-Jet an das Aqua-System heran. Es war einer der Vorteile dieser kleinen Schiffe, daß sie sehr kleine Sprünge durch den Linearraum vollführen konnten – das gab ihnen die Beweglichkeit, die sie im Ernstfall auch bitter nötig brauchten. Knapp drei Lichtstunden von Aqua-II entfernt kehrte Grahns Space-Jet in den Normalraum zurück. Gleichzeitig wurde auf den Schirmen sichtbar, was sich in diesem Augenblick dort zutrug. »Gewaltige Energieentladungen«, gab Korl Fandar bekannt. »Es
sieht aus, als würde dort gekämpft.« Grahn wölbte die Brauen. »Gehen wir noch näher heran?« fragte er die anderen drei Besatzungsmitglieder. Die Antwort war klar und schnell gefunden. Das Team stimmte zu. Die nächste Linearetappe brachte die Space-Jet bis auf drei Lichtminuten an Aqua-II heran. Körper von der Größenordnung eines Raumschiffs ließen sich aus dieser Entfernung mit Normaloptiken nicht erfassen, von der zeitlichen Verzögerung einmal abgesehen. Dafür reichte das Auflösungsvermögen der Linsensysteme nicht aus. Nur mit Langzeitaufnahmen ließen sich sichere Erkenntnisse gewinnen. Grahn Furier betätigte die entsprechenden Schaltungen. Ein langbrennweitiges Objektiv wurde von der Bordpositronik präzise auf das Ziel gerichtet und bei jeder Flugbewegung entsprechend korrigiert. Fotografische Aufnahmen mit entsprechend langen Belichtungszeiten konnten dann selbst aus dieser Entfernung gestochen scharfe Bilder liefern. Diese Aufnahmen wurden von einem Rechner aufgearbeitet, farblich durchkorrigiert und dann auf einem Bildschirm dargestellt. Bewegungen waren dabei nicht zu sehen, das ließ die Technik nicht zu – allerdings verrieten Leuchtspuren, wo sich während der Aufnahme ein Körper durchs Bild bewegt hatte. Fassungslos starrte die Crew auf den Schirm. Deutlich zeichneten sich die Umrisse des Planeten ab. Sogar Einzelheiten der Wolkenhülle waren erkennbar. Noch klarer aber waren die gewaltigen Fontänen zu sehen, riesige Pilze, die aus dem Blaugrün der Wasseroberfläche herauswuchsen. Die Größenordnung ließ erkennen, daß auf Aqua-II gigantische atomare Entladungen gezündet worden waren. Und die Leuchtspuren, die sich quer durchs Bild zogen, verrieten jedem, wer an diesen Entladungen die Schuld trug – die Schiffe der Fremden zogen ihre Kreise über die Oberfläche von Aqua-II, und
hinter sich ließen sie die Symbole der Vernichtung. »Noch näher heran«, forderte Korl Fandar. »So nahe wie möglich – das müssen wir ganz genau wissen.« Grahn Furier griff zum Hyperkom. Auf einer – hoffentlich – abhörsicheren Frequenz rief er die anderen Space-Jets an. Die Schiffe hatten sich unterdessen ebenfalls nahe an Aqua-II herangeschlichen. Ihre Eindrücke verstärkten das Bild des Schreckens. Die Fremden griffen den Planeten an, und sie taten es mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit. Gewaltige Gravitationsfelder rissen riesige Wassermassen aus den Meeren des Planeten und schleuderten sie ins All, wo sie zu riesenhaften Eisklumpen gefroren. Bomben nagelten auf Aqua-II herab, und auf einstweilen nicht näher identifizierbare Ziele wurde von den Schiffen aus gefeuert. »Wir gehen näher heran!« gab Grahn seine Entscheidung bekannt. »Wer mitmachen will, kann unserem Beispiel folgen. Aber paßt auf euch auf, Freunde – ich glaube nicht, daß man uns dort ungeschoren zusehen lassen wird.« »Hayes hat befohlen, daß wir vorsichtig sein sollen«, gab einer der Kommandanten zu bedenken. »Das stimmt«, funkte Grahn zurück. »Und wir schlagen vor, die Bilder, die wir jetzt haben, sehr vorsichtig zu interpretieren – es ist auch denkbar, daß die Fremden ihrerseits einen unbekannten Angreifer der Aquarianer bekämpfen.« »Eine weithergeholte Vermutung«, bekam Grahn zu hören. »Trotzdem wollen wir alle Zweifel ausräumen. Wir schleichen uns heran – mit aller gebotenen Vorsicht. Ende!« Grahn ließ die Triebwerke der Space-Jet beschleunigen. Das vergleichweise winzige Schiff nahm Fahrt auf und raste dem Geschehen entgegen. Mit jeder Lichtsekunde, die die Crew dem Planeten näherkam, wuchs die Gefahr. Viele Ortungssysteme arbeiteten überlichtschnell,
und das gleiche galt für Waffensysteme – der Gegner konnte einen ersten Treffer landen, ohne daß die Besatzung etwas anderes davon merkte als die tödliche Wirkung. Eine Vorwarnung war da ausgeschlossen. Allerdings rechneten Grahn Furier und seine Freunde damit, daß man sie gar nicht beachten würde. Vermutlich waren die Fremden viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Dennoch war der Pilot der Space-Jet auf der Hut. Sorgfältig verfolgte er die Bewegung, die die Schiffe der Fremden auf den Schirmen vollführten. Bislang war diese Bewegung eindeutig – sie richtete sich gegen den Planeten Aqua und seine Bewohner. Mit einem Angriff aus dem Leerraum rechnete wohl niemand. Wenn es dabei blieb, konnten die Space-Jets ihrer Aufgabe nahezu ungestört nachgehen, denn von einem Angriff war bei der Einsatzbesprechung nicht die Rede gewesen – er wäre mit Sicherheit fehlgeschlagen. So flink und wendig die Space-Jets auch waren, als Gegner von Schiffen wie denen der Fremden waren sie nicht gedacht. Immer näher an den Planeten heran schob sich die Space-Jet. Grahn Furier nahm Fahrt weg. Er versuchte, die Bewegungen der Space-Jet denen der herumdriftenden Eisbrocken anzupassen, deren Zahl sich ständig vermehrte. Mit erschreckender Deutlichkeit waren jetzt die Vorgänge im Raum um den Planeten Aqua zu erkennen – die Fremden griffen an, und sie taten dies mit einer lebensverachtenden Rücksichtslosigkeit, die Grahn Furier schaudern ließ. »Es sieht so aus, als wollten sie allen Ernstes den ganzen Planeten zerstören«, stieß Isabelita hervor; sie war blaß geworden. »So sehe ich es auch«, knurrte Grahn. Offenbar reichte die Bewaffnung der Angreifer nicht aus, die Oberfläche des Planeten unmittelbar anzugreifen, daher trachteten sie zunächst danach, die hinderliche Wasserschicht zu entfernen, die den Planeten in Kilometerdicke umgab.
Von Aqua selbst war kaum mehr etwas zu sehen. Riesige Wasserdampfwolken hüllten die Welt ein, und durch das Heraufblitzen gewaltiger Energieentladungen verriet, daß unter dieser Dampfschicht gekämpft wurde. Und immer wieder setzten die Angreifer die Gravitationswaffe ein, mit der sie auch schon der SOL zugesetzt hatten – kubikkilometerweise wurden Wassermassen aus den Meeren herausgerissen und in den Weltraum katapultiert. Daß von den sofort gefrierenden Blöcken Hunderte von Tonnen in Gestalt von Eismeteoriten zurückstürzten auf Aqua und dort für weitere Schäden sorgten, konnte die Angreifer in ihrem Ungestüm nicht hindern. Einen Augenblick lang sah Grahn Furier, wie sich aus dem undurchdringlich erscheinenden Dampfteppich ein Körper hervorschob, eines der Unterwasserschlachtschiffe der vermuteten Aquarianer. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde war das Schiff zu sehen – dann barst es unter dem Feuerschlag eines der Angreiferschiffe. Grahn preßte die Zähne zusammen, bis seine Kiefermuskeln schmerzten. Die Aquarianer hatten gegen diesen technisch weit überlegenen Gegner nicht den Schimmer einer Chance gehabt, und sie waren mit einer Beiläufigkeit vernichtet worden, die in die Seele schnitt. Zwar stellte sich der Vorgang auf den Schirmen der Beobachtung recht harmlos dar – ein Aufleuchten, eine Energiewolke, mehr nicht. Aber Grahn wußte, daß dieses Aufleuchten den Tod Hunderter von Aquarianern symbolisierte. Grahn Furier hatte niemals einen Schuß auf ein Lebewesen abgegeben, weder mit Handfeuerwaffen noch mit den Bordwaffen der Schiffe, in denen er geflogen war. Er kannte den Vorgang des Schießens und Treffens nur von Übungsapparaturen, und er war dabei sogar recht gut gewesen -jetzt aber begriff er mit schmerzlicher Stärke, was so ein harmlos erscheinender Knopfdruck auslöste.
Grahn Furier besaß eine ausgeprägte Phantasie, und mochte ihm
sein Gehirn auch sagen, daß die Aquarianer von ihrer Vernichtung nichts gespürt haben konnten – der Vorgang hatte sich in höchstens einer Tausendstelsekunde vollzogen – so spürte er doch große Angst und noch stärkere Verzweiflung. »Ungeheuerlich!« stieß Korl Fandar hervor. Seine Stimme war verzerrt, Grahn sah, daß er die Fäuste geballt hatte. »Wie können die nur …?« Es war eine der so naheliegenden und niemals zu beantwortenden Fragen. Sie zog sich durch die Geschichte des Lebens vom Anbeginn, und sie würde wahrscheinlich bis zum Ende allen Lebens keine gültige Antwort finden. Grahn sah seine Freunde an. »Wir haben genug gesehen«, stieß er hervor. »Verschwinden wir.« Isabelita zeigte mit dem Finger auf den Planeten. Unmittelbar in Blickrichtung durchstieß der Pilz einer atomaren Entladung die dichte Dampfhülle. »Irgendwo dort unten stecken Atlan und seine Gefährten«, sagte sie dumpf. Grahn Furier preßte wieder die Zähne aufeinander. »Wir können sie dort nicht herausholen«, sagte er bedrückt. »Aber die SOL könnte es schaffen«, sagte Korl hart. »Hayes muß den Befehl zum Angriff auf diese Wesen geben, sonst ist Atlan verloren.« Grahn Furier verließ mit der Space-Jet den Sichtschatten eines riesigen Eisklobens. Er wollte gerade mit höchster Beschleunigung den Raum in der Nähe des Planeten verlassen, als er auf der Anzeige des Materietasters etwas entdeckte. »Das ist nicht nur Eis!« stieß er hervor. »Seht nur!« Hastig schaltete Isabelita an den Tastern auf eine andere Frequenz. Jetzt war deutlich zu erkennen, was Grahn gesehen hatte – in dem Eisblock steckte eines der Unterwasserschlachtschiffe der Aquarianer. »Energiemessung!« forderte Grahn. Die Taster wiesen aus, daß die
Maschinen im Innern des Schiffes noch liefen – vermutlich gab es Überlebende. »Wir müssen sie herausholen«, stieß er hervor. Korl preßte die Lippen aufeinander, daß sie schmalen Strichen glichen. »Das geht nur, wenn wir unsere Impulsstrahler einsetzen«, sagte er leise. »Es kostet Zeit, und wir können angepeilt werden. Wir sind wehrlos.« »Das weiß ich«, gab Grahn zurück. »Trotzdem – wer von euch will diese Leute ihrem Schicksal überlassen?« Korl Fandar stieß eine Verwünschung aus. »Verwünschter Edelmut«, sagte er zähneknirschend. »Natürlich helfen wir, aber allein schaffen wir das nicht – die anderen müssen zu Hilfe kommen.« Grahn griff nach dem Mikrofon. Die Hyperkomsendungen wurden zerhackt, gerafft, positronisch kodiert und anderen technischen Verfahren unterworfen, die sie abhörsicher und unortbar machen sollten. Aber ein gewisses Risiko blieb. »Grahn Furier spricht«, sagte der Pilot in das Mikrofon. »Wir haben in einem der Eismeteoriten ein Schiff der Aquarianer gefunden. Wir vermuten, daß es Überlebende gibt. Wir brauchen Hilfe, um sie herauszuholen.« Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. Die anderen Piloten versprachen, Grahn und seinen Kameraden zu helfen, so bald wie möglich. »Wir fangen mit der Bergung an«, gab Grahn bekannt. »Kommt, so schnell ihr könnt. Ende.« Mit kurzen Feuerstößen aus den Korrekturdüsen trieb Grahn die Space-Jet dicht an den Eisbrocken heran. Es war ein unregelmäßiger Körper von fast zehn Kubikkilometern Inhalt. Der Zufall wollte es, daß er mit vergleichsweise hoher Geschwindigkeit von Aqua wegdriftete – die Gefahr, geortet zu werden, wurde dadurch aber nur unwesentlich geringer.
Grahn selbst bediente die Geschütze der Space-Jet. Er feuerte mit dem Impulsgeschütz auf das Eis, genau in die Richtung des Aquarianerschiffs. Der Strahl fraß ein mehr als mannsgroßes Loch in das Eis und bohrte sich rasch tief in den Körper des Meteoriten hinein. Fast eine halbe Stunde verging. Bis dieser Kanal lang genug war. Etwa zwanzig Meter vor der Außenhülle des Aquarianerschiffs hörte Grahn mit dem Beschuß auf. Er sah seine Freunde an. »Der Rest ist Handarbeit«, verkündete er. Inzwischen waren vier weitere Space-Jets angekommen. Sie beobachteten weiter das Geschehen auf Aqua und verhielten sich ruhig. Noch hatten die Fremden keinerlei Notiz von den Solanern genommen. »Korl?« Der Angesprochene nickte. »An die Arbeit!« sagte Grahn Furier. Er spürte sein Herz schnell schlagen. Angst erfüllte ihn, aber auch eine seltsame Freude – er wußte, daß das, was er jetzt unternehmen wollte, lebensgefährlich war, aber er spürte auch, daß er es sich selbst schuldete, dieses Wagnis einzugehen.
4. Die Situation war bei näherer Betrachtung grotesk und völlig unlogisch. Während die Fremden dem Planeten mit ungeheurer Aggressivität zusetzten, versuchten ein paar Menschen, deren Leben in diesem Chaos selbst nur an einem Seidenfaden hing, ein paar Bedrohte zu retten. Ein Tropfen auf einen heißen Stein, eine winzige Episode in diesem gandenlosen Kampf. Wenn die Aktion in einem Fiasko endete – niemand auf Aqua würde es auch nur bemerken. Die zehn Space-Jets trieben zusammen mit dem Eismeteoriten langsam von dem angegriffenen Planeten weg. Grahn Furier und
Korl Fandar trieben in ihren Raumanzügen langsam auf diesen Meteoriten zu. Im Licht der Handscheinwerfer leuchtete und glitzerte der Eiskanal, den die Impulskanone geschossen hatte. Die Wände waren spiegelglatt, das Wasser war, wenn es sich nicht verflüchtigt hatte, sofort wieder gefroren. Die beiden Männer trugen einen schweren Impulsstrahler, mit dem sie den Rest des Rettungswegs freischießen wollten. In der Schwerelosigkeit des Raumes ließ sich die Waffe mühelos bewegen. »Ich hoffe nur, diese Aquarianer erkennen uns als Freunde«, erklang Korls Stimme aus dem Helmlautsprecher. »Wir müssen es ihnen klarmachen«, gab Grahn zurück. »Das kostet Zeit, die wir nicht haben«, antwortete Korl. Die beiden erreichten das Ende des Stollens. Glitzernde Zapfen hingen von der Decke herab, auch die Frontseite warf das Licht zurück – es war schwierig, sich unter diesen Umständen zu orientieren. Die beiden Männer brachten das Impulsgeschütz in Stellung und betätigten den Abzug. Sonnengluten ließen das Wasser an der getroffenen Stelle schlagartig verdampfen. Weisse Wolken schlugen den Männern entgegen, der Druck war beachtlich, und an den Außenhüllen der Anzüge schlug sich der Wasserdampf rasch als dünne, aber stetig wachsende Eiskruste nieder. »Weiter!« drängte Grahn. »Beeilt euch!« erklang Isabelitas Stimme. »Ein Schiff der Fremden scheint auf uns zuzufliegen. Es sieht aber nicht so aus, als hätten sie uns entdeckt.« Grahn stieß einen Fluch aus. Wenn die Fremden die Space-Jets erst einmal mit ihren Ortern erfaßt hatten, war es fast schon zu spät – dann begann ein Scheibenschießen, bei dem die Gewandtheit der Space-Jets vom Kaliber der auf sie abgegebenen Schüsse mehr als wettgemacht wurde. »Genug!« stieß Korl hervor. »Nur noch ein paar Zentimeter!«
Die beiden hatten den Stollen so vorangetrieben, daß er an einer Schleuse des Aquarianerschiffs mündete. Der Augenblick des Kontakts konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mit den Handwaffen säuberten sie die Fläche über der Schleuse auf der Oberseite des Schiffes. Die Eile des Vorgehens brachte es mit sich, daß auch die Schleusenwandung ein paar Treffer abbekam, aber sie wurde dadurch nicht zerstört. Als die gesamte Fläche freigelegt war, kniete Grahn nieder und schlug mit dem Kolben des Strahlers dreimal hart auf das Metall der Schleusenwandung. Keine Reaktion. Grahn versuchte es ein zweites Mal, auch danach bekam er keine Antwort. Wenig später aber begann sich die Schleusenwand zu bewegen. Langsam sank sie nach unten und schwenkte zur Seite. Korl stieß einen Freudenschrei aus und beugte sich über die Öffnung. Im gleichen Augenblick flog er zurück, und in fassungslosem Entsetzen sah Grahn, daß sein Begleiter von einer Harpune getroffen worden war. Blitzartig entwich der Sauerstoff aus Korls Raumanzug, und als Grahn hinzusprang und nach Korl griff, spürte er, wie der Körper seines Freundes unter seinen Händen erschlaffte. Grahn sank in die Knie. Sanft ließ er Korls Körper auf den Boden gleiten. Was um ihn herum geschah, nahm er nicht wahr. Er sah nur seinen toten Freund. Der Kopf war zur Seite gefallen, nur das Profil war durch das Fenster des Helmes sichtbar. Korls Gesicht zeigte ein Lächeln. Minutenlang verharrte Grahn Furier in dieser Stellung. Er brauchte diese Zeit, um das Aberwitzige des Vorgangs begreifen zu können – Korl Fandar war ausgerechnet von denen getötet worden, die er unter Einsatz seines Lebens hatte retten wollen. Als sich Grahn aufrichtete, sah er hinter sich ein halbes Dutzend Aquarianer in ungeschlachten Raumanzügen stehen, in den Händen Harpunenwaffen, deren Spitzen allerdings auf den Boden zeigten. Die Aquarianer rührten sich nicht – offenbar hatten sie begriffen,
was geschehen war. Einen Herzschlag lang fühlte sich Grahn Furier von dem wütenden Verlangen ergriffen, die Waffe zu ziehen und den Tod des Freundes zu rächen, aber diese Anwandlung dauerte nicht lange. Er machte heftige Gesten, die Aquarianer antworteten mit Zeichen. Sie schienen zu begreifen. »Bringt nacheinander die Space-Jets heran und fischt die Leute aus dem Raum« gab Grahn über Helmfunk durch. »Wie sieht es bei euch aus?« »Das gegnerische Schiff ist immer noch in der Nähe, hat uns aber noch nicht entdeckt. Und bei dir?« Grahn Furier sah, wie die Aquarianer Korls Körper aufhoben und damit dem Ausgang des Rettungsstollens zustrebten. »Korl ist tot«, sagte er dumpf. »Ein Mißverständnis.« Er überließ es den anderen, sich dieses Mißverständnis vorzustellen, es zu schildern hätte er nicht vermocht. An Grahn Furier vorbei, drängte die Besatzung des AquarianerSchiffs der Rettung entgegen. Offenbar hatten auch die Aquarianer Verluste hinnehmen müssen – nur knapp einhundert Bewohner des Planeten verließen das Schiff, das eine weit größere Besatzung tragen konnte. Als letzter verließ Grahn Furier das Wrack des Aquarianer-Schiffs. Im Helmlautsprecher war Stimmengwirr zu hören. Die Besatzung der Space-Jets drängten die Geflüchteten zur Eile; jede Minute Verzögerung konnte verhängnisvoll werden. Eine der Space-Jets nach der anderen flog den Eismeteoriten an, blieb in der Nähe des Eistunnels stehen und nahm Überlebende an Bord. Sobald die Kapazität der kleinen Raumschiffe erschöpft war, wurde die nächste Einheit herangerufen. Das Einschiffen klappte vorzüglich, jeder Handgriff saß, die Besatzung des Aquarianer-Unterwasserschlachtschiffs war ebenfalls gut eingespielt und paßte sich den veränderten Verhältnissen rasch
an. Als Grahn das Ende des Stollens erreichte, wurde gerade der letzte der überlebenden Aquarianer an Bord geholt. Die Schleuse der Space-Jet wurde geschlossen, und das Schiff machte für Grahns Einheit Platz. Sehr rasch kehrte Grahn Furier an Bord zurück. In der Schleuse lag der Leichnam von Korl Fandar. Man hatte ihn zugedeckt. Die Aquarianer hatten ihre Raumanzüge geöffnet, ihre Gesichter waren zu sehen. Die Augen waren auf Grahn gerichtet, der es vermied, diesem Blick zu begegnen. Er wußte, daß er in diesem Augenblick nicht die Beherrschung aufbringen konnte, die vonnöten war. Die Aquarianer hatten einen Freund getötet, und der Schmerz wurde nicht geringer, weil es sich um einen Irrtum gehandelt hatte. Isabelita hatte stillschweigend den Platz des Kopiloten übernommen. Grahn nahm es kaum zur Kenntnis. Er nahm auf seinem Sessel Platz. Die Hyperkomverbindung zu den anderen Einheiten stand. Ein Blick auf die Schirme – die rasende Vernichtungsangriffe auf Aqua gingen weiter, und in Kernschußweite der Space-Jet-Flottille hing eines der Schiffe der Fremden im Raum. »Wahnsinn«, murmelte Grahn Furier. »Und wir stecken mittendrin.« Isabelita sah ihn an. »Was nun?« »Flucht«, sagte Grahn Furier. »Wir ergreifen das Hasenpanier – und zwar buchstäblich. Könnt ihr mich hören, Freunde?« Die Rückmeldungen kamen in schneller Folge. Die zehn Space-Jets waren einsatzklar. »Zurück zur SOL«, bestimmte Grahn. »Schlagt Haken, soviel ihr nur könnt. In ein paar Augenblicken beginnt die Jagd – und wir sind darin die Beute, denkt daran. Viel Glück.« Er schaltete die Verbindung ab. Von jetzt an war jede Besatzung auf sich selbst gestellt.
Grahn Furier ließ die Triebwerke der Space-Jet mit Höchstschub laufen. Das Diskusschiff machte einen Satz und raste von dem Eismeteoriten weg – und im nächsten Augenblick mußte es auf den Ortungsschirmen des Gegners erscheinen. Es gab für die Flottille nur eine Rettung – die Spanne Zeit, die verstreichen mußte zwischen dem ersten Anmessen der flüchtigen Space-Jets, der Meldung an den Kommandanten des Gegners, dessen Schießbefehl und dann der Ausführung eines solchen Befehls. Ein paar Augenblicke nur – aber sie waren entscheidend. Die Space-Jets stoben auseinander wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm. Je weiter sie sich voneinander entfernten, umso größer waren die Überlebenschancen; auch die Kanoniere des Gegners mußten sich erst entscheiden, welches Ziel sie verfolgen sollten. Einige tausend Kilometer vor Grahns Space-Jet entfaltete sich die Feuerkugel einer Explosion. Fehlschuß. Grahn stieß einen Fluch aus. Offenbar hatten die Kanoniere längst ihre Feuerbefehle erhalten. Eine Entscheidungszeitspanne schien es nicht zu geben – oder aber der Gegner hatte Anweisung, auf buchstäblich alles zu feuern, was auf den Schirmen auftauchte. Das aber konnte sich Grahn nicht vorstellen. Er zog die Space-Jet zur Seite. Das Schiff machte einen förmlichen Satz, als seine Schirmfelder von einem Energiestrahl gestreift wurden. Im Innern der Space-Jet erklangen schmetternde Geräusche, dazwischen schrille Schreie. »Streifschuß«, gab Isabelita bekannt. »Unerheblich.« Das mochte fürs erste stimmen. Zum Glück hatte Grahn keine Zeit, sich zu überlegen, wie diese Lage für die Aquarianer aussehen mochte, die nicht die geringste Chance hatten, auch nur irgend etwas zu tun. Während Grahn und seine Crew mehr als genug damit beschäftigt waren, die Space-Jet zu steuern, mußten die Unglücklichen alles über sich ergehen lassen, ohne eingreifen zu
können. Gegenschub. Grahn ließ die Space-Jet mit Höchstwerten verzögern und änderte gleichzeitig die Flugbahn. Der Abstand zum Feindschiff betrug jetzt schon einige Lichtsekunden. Genügte das? Grahns wahnwitziges Manöver gelang. Der nächste Feuerstoß verfehlte die Space-Jet beträchtlich, während Grahn wieder mit Vollschub flog. Ein paar kostbare Augenblicke noch, dann war die Mindestgeschwindigkeit erreicht, mit der man in den Linearraum gehen konnte. Auf der Anzeige flackerten die Sekundenbruchteile herunter, näherten sich dem Nullwert. Im nächsten Augenblick verschwand das Bild in einer alles überstrahlenden Lichtflut, die über das Schiff hereinbrandete. Grahn spürte, wie er nach vorn gestoßen wurde, wie die Gurte ihn schmerzhaft hielten. Er hörte Schreien und das Krachen von Explosionen, und im nächsten Augenblick hatte das Diskusschiff den rettenden Linearraum erreicht. »Gerade noch einmal gutgegangen«, ächzte Grahn, während er sich aufrichtete. »Schadensmeldungen?« Er und Isabelita überflogen die Kontrollanzeigen. Es gab beträchtliche Schäden, aber zum Glück keine Lebenswichtigen. Ein Hilfsaggregat hatte sich aus der Verankerung gerissen, eine Wand durchschlagen und die Wasservorräte auslaufen lassen. Es gab einen Kabelbrand im Unterdeck, vom Shift war nur noch ein Schrotthaufen übriggeblieben. Zwei der Aquarianer waren verletzt und wurden von ihren Artgenossen versorgt. »Geschafft«, murmelte Isabelita. Sie schob sich einen Kaubonbon in den Mund, ein deutliches Zeichen, wie erregt sie immer noch war. Das Schiff flog sich fast von selbst. Grahn hatte ein paar Augenblicke Zeit zum Nachdenken. Es ging zurück zur SOL, die Sicherheit und Zuflucht verhieß. Dutzende todgeweihter Aquarianer waren gerettet worden. Aber an Bord der Space-Jet lag ein Toter.
»Einer zuviel«, murmelte Grahn. Isabelita wölbte die Brauen. Grahn sah an ihr vorbei.
* Das Schnappgeräusch der Arretierung schlug bis in die Zentrale der Space-Jet durch. Grahns Schiff war am Ziel angekommen, es stand wieder im Hangar der SOL. Auf den Schirmen war zu sehen, wie sich die anderen Space-Jets näherten, zwei mit ziemlich lahmen Bewegungen, offenbar angeschossen. Zwei der Diskusschiffe fehlten gänzlich, und auf seltsame Art wußte Grahn Furier, daß diese Schiffe nicht zurückkehren würden. Müde stand er auf und verließ die Space-Jet. Die Hangarmannschaft war dabei, das Schiff zu versorgen. Zwei Brände mußten gelöscht werden. Rettungstransporter standen bereit und schafften die verwundeten Aquarianer in die Medo-Station. Laufbänder und der Antigrav brachten Grahn rasch in die Zentrale. Breckcrown Hayes wartete mit einem wie versteinert wirkenden Gesicht in seiner Klause auf die Zurückkehrenden. Grahns Gesichtsausdruck beim Eintreten sagte dem High Sideryt genug. Er deutete auf einen Sessel. »Es hat Verluste gegeben«, sagte er ruhig. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich. Grahn sah ihn voll an. »So kann man es auch ausdrücken«, stieß er hervor. »Es sind Menschen gestorben, und Bewohner eines tödlich bedrohten Planeten, die auch gerne weitergelebt hätten.« »Ich habe die Meldungen gehört«, sagte der High Sideryt. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« fragte Grahn bitter. Nacheinander trafen auch die anderen Piloten ein; die Gesichter waren müde und zeigten Trauer und Erbitterung.
Hayes hielt seinen Blick auf Grahn gerichtet. »Was schlägst du vor?« fragte er ruhig. Grahn Furier schloß die Augen. Er sah Korls Gesicht vor sich. »Kreuzer ausschleusen«, murmelte Grahn mit geschlossenen Augen. »Alles an die Kanonen, was nur schießen kann, und dann blasen wir diese Bestien aus dem Weltraum. Wir werden über sie hereinbrechen wie ein Strafgericht des Schicksals, wir …« Er öffnete die Augen. »Sie sind dabei, den ganzen Planeten zu zerstören«, sagte er drängend. »Tausende von Aquarianern sterben dort.« Breckcrown Hayes nickte. Er stand auf und ging langsam im Raum auf und ab. »Ich kann dich verstehen«, sagte er leise. »Ich fühle das Gleiche wie du, und ich schäme mich dieser Rachewünsche nicht.« Er blieb stehen und faßte wieder Grahn ins Auge. »Ich glaube, dies ist für uns ein Augenblick der Entscheidung«, fuhr er fort. »Vergessen wir für einen Augenblick, daß wir Frauen und Kinder an Bord haben, die bei einem Angriff ebenfalls in Lebensgefahr geraten werden. Vergessen wir die Frage, ob wir überhaupt stark genug sind, einen erfolgreichen Angriff auszuführen. Das Problem stellt sich mir anders dar.« Grahn konnte sehen, daß der High Sideryt sich anstrengte, den Gedanken richtig zu formulieren. Er rang mit sich, machte es sich schwer, und in diesen Sekunden begriff Grahn Furier, warum dieser Mann die SOL kommandierte und kein anderer. »Ich glaube nicht, daß Waffen ein Mittel sind, Probleme zu lösen. Es fällt manches Mal leicht, darauf zu verzichten. In diesem Fall ist es sehr schwer, die Versuchung ist übermäßig groß. Ich bin für Friedfertigkeit und Verständigung, und ich möchte bei diesem Grundsatz bleiben – nicht nur bei strahlendem Sonnenschein, sondern auch bei widrigen Umständen. Es gehört zu meinem Begriff von Menschlichkeit, mich an einmal aufgestellte Spielregeln auch dann zu halten, wenn es mir schwerfällt, in allen anderen Fällen ist
es nämlich keine Kunst.« »Sollen wir einfach abwarten und zusehen?« rief Grahn fassungslos. Er begriff, was der High Sideryt hatte ausdrücken wollen, aber in diesem Ausmaß konnte er nicht mithalten. Hayes schüttelte den Kopf. »Wir werden die SOL gefechtsklar machen«, sagte er ruhig. »Während ihr die Lage erkundet habt, waren wir nicht untätig – überall an Bord sind Solaner und Roboter damit beschäftigt, alle Gegenstände wegzupacken und festzubinden, die im Notfall herumfliegen können. Ihr habt die Auswirkungen der Gravitationswaffe ja selbst erlebt. Sobald das abgeschlossen ist, werden wir Aqua anfliegen und sehen, was wir dort erreichen können. Wenn es wirklich keinen anderen Ausweg gibt, werden wir kämpfen – aber nur in diesem Fall, und ich werde mir das Hirn zermartern, um andere Lösungswege zu finden. Das ist vorläufig alles.« Grahn und die anderen standen auf. Ihre Gesichter spiegelten ein wenig Ratlosigkeit, aber auch den starken Willen, diese Krise zu meistern. Breckcrown Hayes sah ihnen einen Augenblick lang lächelnd nach, dann befaßte er sich wieder mit dem Plan, den SENECA in Zusammenarbeit mit dem High Sideryt und den Stabsspezialisten ausgearbeitet hatte. Es gab in diesem Plan, der viele Schachzüge, Alternativen, Schlichen und Varianten vorsah, einen schwachen Punkt. »Atlan!« murmelte Hayes. Nach den letzten Informationen war der Arkonide mit seinem Team ein Gast oder Gefangener der Aquarianer – er steckte mitten im Getümmel. Ein besserer Vorwand zum Dreinschlagen ließ sich schwerlich finden. Breckcrown Hayes preßte die Zähne aufeinander. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er in eine solche Lage gebracht worden war – von seiner Entscheidung hing nun nicht
mehr allein die Sicherheit der SOL und ihrer Bewohner ab. In diesem gräßlichen Konflikt standen die Schicksale dreier Völker auf dem Spiel. Der High Sideryt mußte eine Entscheidung fällen. Er hätte viel darum gegeben, wäre ihm das Schicksal oder der Zufall zu Hilfe gekommen, hätte ihm irgend eine höhere Instanz die Bürde dieser Entscheidung abgenommen. Breckcrown Hayes war nicht so vermessen, sich für einen Mann zu halten, der die Geschicke von Völkern zu entscheiden hatte – aber in diesen bangen Stunden sah es danach aus, als bliebe ihm diese Entscheidung nicht erspart.
5. Der Augenblick war da. In Perester Fassyns Hand zitterte die Waffe. Er hatte sich vor dieser Sekunde gefürchtet, nun war sie gekommen. Er hatte den ersten Versuch des Feindes zerschlagen, sich wieder der Station zu bemächtigen. Perester Fassyn sah auf. Kamen noch andere? War dies die ganze Invasion oder nur ein Stoßtrupp? War am Ende gar die Heimatwelt längst in der Hand des Feindes, ohne daß man in der Station etwas davon mitbekommen hatte? Die Anwesenheit eines Nuun sprach dafür, mochte er auch noch so laut beteuert haben, daß er kein Feind sei. Perester Fassyn sah haßerfüllt auf den reglosen Körper des jungen Mannes herab. Wieviel Schlechtigkeit gehörte dazu, mit dem Feind zu paktieren, der das eigene Volk vernichten wollte? Was mochte man ihm dafür versprochen haben? Die Herrschaft über die kümmerlichen Reste der Nuun? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden – Perester Fassyn mußte abwarten, bis sich die Betäubung löste, und dann mit dem
Nuun reden. Die anderen gedachte er so lange gelähmt zu lassen, bis er sich über ihr weiteres Schicksal klar war. Perester Fassyn verspürte große Lust, die Eindringlinge zu töten – eine derartige Möglichkeit gab es wahrscheinlich nicht wieder. Aber es widerstrebte ihm, auf Wehrlose zu schießen – und ihm war nicht entgangen, daß keiner der Fremden eine Waffe trug. List und Tücke? Oder eine echte Friedensbotschaft? Perester Fassyn kniete neben dem jungen Nuun nieder. Er versuchte, in den verkrampften Zügen zu lesen. Das Gesicht drückte Enttäuschung aus und Schmerz. Ein Geräusch erklang hinter dem Rücken des Behüters. Er fuhr in die Höhe. Die Reaktion kam zu spät. Ehe er noch die Waffe auf den Angreifer hätte richten können, hatte der ihm den Strahler aus der Hand geschlagen. Perester Fassyn versuchte den Angriff zu beantworten, aber er war dem weitaus größeren Feind hoffnungslos unterlegen. »Hör auf, Alter!« erklang die Stimme des Feindes aus einem Übersetzungsgerät. »Wir sind keine Feinde!« Perester Fassyn glaubte ihm kein Wort. Was hätte er auch in dieser Situation anderes tun können? Für Vertrauen war in dieser verzweifelten Lage keinerlei Raum. Verbissen griff der Behüter den Fremden an, aber gegen dessen ungeheure Körperkräfte wußte der Behüter kein Mittel. Nach ein paar wilden Kampfminuten hing er fest im Griff des Fremden. »Willst du endlich aufhören?« fragte der Gegner. »Ich habe keine Lust, mich stundenlang mit dir zu balgen. Wir sind Freunde und kommen aus deiner Heimat – so glaube uns doch endlich.« Perester Fassyn dachte nicht daran. Er trat um sich und schlug, und das führte dazu, daß der Fremde die Geduld verlor und den Behüter mit seinem eigenen Gürtel fesselte. Der Fremde legte den Behüter auf dem Boden ab. Er verfuhr dabei so sanft wie möglich, aber das konnte Fassyns Mißtrauen nicht
mildern – er traute dem Feind jede nur denkbare Schurkerei zu. Der Feind sah gräßlich aus – die Haare farblos, die Augen blutgetränkt, versehen mit gewaltigen Muskeln, dazu riesenhaft gewachsen. Für den Behüter sah er aus, als sei er den Schlünden des Grauens entwichen. Der Feind betrachtete Fassyn lange und schüttelte dann den Kopf. Er begann sich um seine Gefährten zu kümmern. Perester Fassyn wußte, was nun geschehen mußte. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Sie würden ihn foltern und quälen, um alles in Erfahrung zu bringen, was der Behüter wußte. Perester Fassyn versuchte sich vorzustellen, was für Torturen auf ihn warteten, und er versuchte zu überlegen, ob er fähig sein würde, den Qualen schweigend zu trotzen. Er schauderte beim bloßen Gedanken an das, was man mit ihm veranstalten würde. Dabei war nicht einmal der Gedanke an den sicheren Tod so unerträglich; Fassyns Lebensspanne neigte sich ohnehin dem Ende zu, und er hätte es als Erlösung von der schrecklichen Verantwortung empfunden. Was ihn mehr als alles andere in Angst und Schrecken versetzte, war die Aussicht, von diesen Feinden in ein schmerzzuckendes, schreiendes Häufchen Kreatur verwandelt zu werden, das nichts mehr gemein hatte mit einem würdevoll lebenden Wesen. Perester Fassyn stieß einen leisen Schrei aus, als der Fremde nach ihm griff. Der Rotäugige zog sofort die Hand zurück. Seine Stirn fürchte sich. »Hast du Schmerzen?« erklang es aus dem Translator. Perester Fassyn zeigte keine Reaktion. Wieder kam die Hand, legte sich auf die schmale, altersgebeugte Schulter des Behüters. Der Druck war warm und angenehm, die roten Augen des Fremden waren auf Fassyns Gestalt gerichtet. Wahrscheinlich war es ein boshaftes Täuschungsmanöver, daß er den Behüter teilnahmsvoll ansah. Wahrscheinlich gehörte es zu der ausgeklügelten Grausamkeit dieses Wesens, daß es sich verständnisvoll und mitleidig zeigte.
Ein Ächzen klang durch den Raum. Nach und nach kehrten auch die anderen Eindringlinge ins Bewußtsein zurück. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern …
* Bjo zeigte ein schmerzverzerrtes Gesicht, aber auch Erleichterung. Es tat weh, wenn die Paralyse wich. Ich hatte es am eigenen Leib gespürt und mich anstrengen müssen, weiterhin den Besinnungslosen zu mimen. Der alte Nuun, der uns niedergeschossen hatte, durfte nicht merken, daß er mich nicht voll getroffen hatte und zudem der Zellaktivator die Schockwirkung rascher abbaute als bei den anderen. Das Manöver war geglückt – ich hatte den Nuun überwältigen können. Jetzt lag er da und schwelgte offenbar in Alpträumen; vermutlich gehörte er zu jenen bedauernswerten Kreaturen, die in der Lage waren, jedes Idyll durch katastrophische Erwartungen zu zerstören. Wenn ich seine schreckzuckenden Glieder richtig bedeutete, malte er sich allerlei gräßliche Torturen aus, die wir ihm antun würden – und da halfen auch Beteuerungen nichts. »Hast du eine Ahnung, wo wir stecken?« fragte ich Bjo. Er schüttelte den Kopf. »Was kannst du wahrnehmen?« »Eingesperrt«, sagte Bjo ratlos. »Als wären wir von einem unglaublich großen Wall umgeben.« »Lebewesen?« Bjo deutete auf den Gefesselten. »Außer ihm noch einige, aber weit entfernt«, antwortete er. »Und er denkt nicht an den Ort, an dem er sich befindet – er schüttelt sich vor innerer Angst. Er glaubt, wir würden ihn mißhandeln.« »Kannst du die Gedanken der anderen erkennen?« Bjo verneinte.
»Alles, was ich wahrnehme, ist Verwirrung, krauses Durcheinander. Nirgendwo etwas Klares zu erkennen.« Mit dieser Auskunft war uns wenig gedient. Wir hatten einen Transmittertransport hinter uns, das stand fest. Aber wir hatten nicht die leiseste Ahnung, wo wir gelandet waren. Unterdessen waren auch die anderen wieder zur Besinnung gekommen. »Sanny, du wirst mit Bjo und mir die Lage erkunden. Die anderen bleiben bei dem Nuun – vielleicht wird er langsam ruhiger und gibt Auskunft. Aber behandelt ihn so schonend wie möglich.« »Die Aufforderung war überflüssig«, sagte Federspiel empört. Ich deutete auf den Translator. »Er kann mithören«, sagte ich. »Deswegen.« Federspiel lächelte und nickte. Zusammen mit Sanny, der Molaatin, und Bjo Breiskoll verließ ich den Raum. »Eine Festung«, schilderte Bjo seine Eindrücke. »Ein riesiges Bauwerk. Hier leben etliche hundert Nuun, ich kann ihre Gedanken auffangen. Sie sind allerdings ziemlich weit von uns entfernt.« »Dann hat der Alte uns ganz allein in Empfang genommen«, stellte ich fest. »Das hat sicherlich etwas zu bedeuten. Hoffentlich finden die anderen das heraus.« Wir setzten unsere Entdeckungsreise fort. Die ersten Anzeichen waren eindeutig. Diese Station oder Festung – vielleicht auch ein Raumschiff – hatte schon bessere Tage gesehen. Die Einrichtung machte einen heruntergekommenen Eindruck. Zwar gab es keine erkennbaren Schäden, aber die Staubschicht auf einigen Geräten hatte sich bereits zu geologischen Sedimenten ausgewachsen. Ich tippte, daß diese technischen Anlagen schon seit einigen Jahrtausenden in Betrieb waren. »Versuchen wir es dort«, sagte Bjo plötzlich. »Ich glaube, wir werden etwas Wichtiges finden.« Seine Ahnung erwies sich als richtig. Wir gelangten in einen
Schaltraum, dessen Anlagen in Betrieb waren. Bildschirme zeigten uns eine Darstellung der Verhältnisse im Innern der Anlage, es gab auch eine Außenbeobachtung. Beim ersten Hinsehen hatte ich den Eindruck, daß wir uns noch auf Aqua befanden – die Außenoptiken zeigten vor allem Wasser. »Hm«, machte Bjo. »Ich glaube, ich weiß, wo wir sind.« »Laß uns nicht zappeln«, forderte Sanny ihn auf. »Dieser Ort ist der Kern von Aqua-I«, berichtete Bjo. »Ich kann das Wasser draußen deutlich spüren.« Rasch rief ich mir ins Gedächtnis zurück, was wir bei der Erkundung der beiden Planeten hatten feststellen können. Während die erste Erkundungssonde beim Kontakt mit der Wasseroberfläche von Aqua-II ihre Funktion eingebüßt hatte, war die zweite Sonde tief in die Wassermassen von Aqua-I eingedrungen. Sie hatte dort einen Planetenkern von 22 Kilometern Durchmesser gefunden, bestehend aus einer hochverdichteten Eisen-Nickel-Legierung. Dann war auch dort der Kontakt abgerissen. »Ein Aufzeichnungsgerät«, sagte Sanny und trat an ein Pult. Mit geschickten Fingern bediente sie die Anlage. Ein Bildschirm flammte auf und zeigte zunächst nichts als Wasser. Dann aber schob sich von oben her etwas ins Bild. »Unsere Aufklärungssonde«, sagte Bjo sofort. »Ich erkenne den Typ.« Die Sonde schien genau auf die Kamera zuzusteuern, dann aber schob sich von der Seite her ein wesentlich kleinerer Körper in den Weg, und ein wenig später war unsere Sonde von dem Kleinsttorpedo zerstört. »So also ist das gewesen«, sagte Bjo. »Jetzt wissen wir wenigstens genau, wo wir sind.« Sanny hatte sich unterdessen um die anderen Einrichtungen des Schaltraums gekümmert. Während sie die Anlagen zu verstehen suchte, betrachteten Bjo und ich die Bilder aus dem Innern der Station.
Es war zu erkennen, daß ein Teil des Planetenkerns besiedelt war. Aquarianer waren zu sehen, die mit mancherlei Arbeiten emsig beschäftigt waren. Aus den Kamerastandorten ging hervor, daß der bewohnte Teil der Station vom Empfangsteil des Transmitters weit entfernt war – offenbar wurden die Aquarianer vorsätzlich von diesen Einrichtungen ferngehalten. Ein Grund dafür war einstweilen nicht zu finden. »Dies ist eine Steuereinrichtung für den Transmitter«, klärte uns Sanny auf. »Wenn wir etwas Zeit haben, kann ich die Anlage möglicherweise so bedienen, daß wir den Transmitter nach Belieben benutzen können.« »Vielleicht kann uns der Alte dabei helfen«, sagte Bjo. »Wir sollten ihn fragen.« Sanny und ich stimmten dem Vorschlag zu. Wir machten uns auf den Rückweg zu den anderen.
* Perester Fassyn machte eine Geste der Verneinung. »Begreife doch, was ich sage«, drängte der junge Nuun, dessen Namen der Behüter inzwischen erfahren hatte. Er nannte sich Fallund Kormant. »Wir sind Freunde.« Seit geraumer Zeit redete Kormant auf den Behüter ein, aber der blieb halsstarrig. Er mißtraute seinem Gegenüber, auch wenn er klar erkennen konnte, daß Kormant einen großen Respekt vor dem ehemaligen Bewahrer empfand. »Du kannst uns helfen«, sagte Kormant. »Wir müssen soviel als möglich über diese Station in Erfahrung bringen, damit wir helfen können. Du kennst dich doch hier aus.« Perester Fassyn sah den jungen Mann aufmerksam an. Wieder machte er eine verneinende Geste. »Überlege – im Augenblick sind wir stärker als du, und wären wir
die, für die du meine Freunde hältst, gäbe es für diese Station keine Chance mehr. Du kannst offen sprechen – nur ich werde dich verstehen. Atlan hat den einzigen Translator mitgenommen.« »Verräter«, sagte Perester Fassyn. »Wer verrät unser Volk – ich oder du? Ich will ihm helfen, aber du offenbar nicht. Jede Minute, die wir mit einem solchen Geschwätz verbringen, kann entscheidend sein – dein Zögern kann Leben kosten, nicht nur deines. Ich sage es noch einmal – Feinden kannst du mit deinem Schweigen nur wenig schaden; aber deinen Freunden könntest du entscheidend weiterhelfen, wenn du endlich erzählst, was du weißt.« Dieses Argument traf. Perester Fassyn wußte, daß er dem Feind nicht lange widerstehen konnte. Gegen einen echten Angriff besaß die Station keinerlei Abwehrmittel. Es war eine unerhört schwere Entscheidung – den Schmerz, womöglich dem Feind geholfen zu haben, würde er kaum ertragen können. Aber noch schwerer wog die Angst, in diesem entscheidenden Augenblick die Wahrheit nicht erkannt und Freunde behindert zu haben. »Also gut«, sagte Perester Fassyn. »Ich danke dir, Bewahrer«, stieß Fallund Kormant impulsiv aus. »Warte es ab«, sagte Fassyn, ein wenig gerührt von Kormants offensichtlicher Freude. »Es ist nicht viel Gutes, was ich zu berichten habe.« Rasch gab er die Erkenntnisse weiter, die er über die Station gewonnen hatte – den Wissensschatz, den Bewahrer und Behüter über Generationen hinweg angesammelt hatten. Fallund Kormant zeigte sich tief beeindruckt. »Wirst du uns nun helfen?« fragte Kormant endlich. »Helfen? Wobei?« »Den Transmitter so zu schalten, daß man eine dauerhafte Verbindung zwischen der Station und unserer Heimat herstellen kann.«
Perester Fassyns Augen weiteten sich vor Schreck. »Junge, bist du von Sinnen?« rief er aus. »Jeder kleine Fehler kann dazu führen, daß die Sintwässer erneut über unser Volk hereinbrechen. Begnüge dich damit, daß sie einstweilen gestoppt sind, mehr erreichen zu wollen, wäre Frevel.« Kormant kam nicht mehr dazu, zu antworten. Atlan und die anderen betraten den Raum. »Hast du etwas erreicht?« fragte Atlan den jungen Nuun. Perester Fassyn hatte sich allmählich an das befremdliche Äußere des Ankömmlings gewöhnt – aber er war nicht bereit, diesem Fremden zu trauen. Nun, diese Gefahr bestand wohl nicht – wenn Kormant den Mund hielt, und Perester Fassyn rechnete damit, daß der Nuun die Geheimnisse vorläufig für sich behalten würde. Aber der Behüter wurde bitter enttäuscht – die Person, die zusammen mit Kormant und ihm im Raum geblieben war, hatte offenbar doch verstanden, was gesagt worden war. Wie Federspiel das geschafft hatte, war augenscheinlich auch Fallund Kormant ein Rätsel, das verriet sein Gesicht überdeutlich. Atlan hörte sich ruhig an, was Federspiel zu berichten hatte. Dann warf er einen prüfenden Blick auf Fallund Kormant. »Was meinst du?« Fallund sah zu dem Bewahrer hinüber. Perester Fassyn schien wie vor den Kopf geschlagen. In seinen Augen stand Angst geschrieben, Todesfurcht. Kormant wandte den Blick zu Atlan. »Wir sollten es wagen«, sagte er.
6. Es war eine mehr als knifflige Aufgabe, die zu lösen wir übernommen hatten.
Von dem Transmitter verstand Perester Fassyn so gut wie nichts – er kannte ein paar Schalter, die er nicht zu berühren gewagt hatte, das umschrieb fast seinen ganzen Kenntnisstand. Fallund Kormant war zwar eifrig, aber auch er verfügte über keinerlei brauchbare Kenntnisse. Bjo sah mich an. »Die beiden haben gräßliche Angst«, sagte er leise. »Sie befürchten, daß erneut riesige Wassermassen ihre Welt überschwemmen, oder daß wir gar die wirklichen Feinde mit unseren Versuchen herbeilocken.« »Ich kann sie gut verstehen«, gab ich zurück. »Aber ich sehe keine andere Möglichkeit.« Es war wie so oft das Grundproblem – der augenblickliche Zustand war schier unerträglich. Eine Veränderung schloß das Risiko einer Verschlechterung ein; eine Wendung zum Besseren ließ sich ohne dieses Wagnis beim besten Willen nicht erreichen. Dabei gab es Möglichkeiten, die Perester Fassyn noch gar nicht bedacht zu haben schien. Wenn wir nämlich an dem Transmitter herumarbeiteten, war es zwar durchaus möglich, daß erneut Wasser aus dem Nirgendwo nach Aqua-II strömte. Auf der anderen Seite aber konnten wir nach einiger Zeit vermutlich den Transmitter so gut bedienen, daß wir imstande waren, dieses Problem ein für allemal zu lösen. Ich sah Sanny an. Die Molaatin mit ihren besonderen Fähigkeiten war in dieser Lage unsere wichtigste Helferin. Sie studierte die Anlage des Transmitters. Grundsätzlich mußte der Transmitter ähnlich geartet sein wie die Anlagen, die wir von der Erde her kannten, ebenso von Arkon und anderen Welten. Die physikalische Gleichartigkeit des Problems – Menschen und Waren sollten ohne Zeitverlust von einem Ort zum anderen geschafft werden – sollte eigentlich auch gleichartige Lösungen hervorrufen. Aber der Teufel steckte im Detail – und da waren sehr unterschiedliche Verfahren denkbar. Es war auch nicht
auszuschließen, daß der Transmitter eine Selbstzerstörungsvorrichtung enthielt, die uns, der Station und wohl auch Aqua-II zum Verhängnis werden konnte. »Ich komme langsam hinter die Geheimnisse der Konstruktion«, gab Sanny bekannt. »Es wird aber noch eine Zeitlang dauern, bis ich etwas verändern kann.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, die SOL anzurufen?« fragte ich. »Funkgeräte haben wir nicht finden können«, sagte Perester Fassyn. »Wahrscheinlich gibt es gar keine.« Ich stieß eine Verwünschung aus. Wir saßen in einer recht üblen Zwickmühle – ohne Waffen, ohne technisches Gerät. Lediglich Nahrung war sichergestellt, aber eine Probe Hefekekse, die in der Station als Grundnahrungsmittel verwendet wurden, hatte mich davon überzeugt, daß ich diesen Ort allein deswegen schnellstens verlassen wollte. In dem Schaltschrank, den Sanny gerade aufmerksam studierte, gab es ein Knacken, dann flackerte eine Lampe auf. Perester Fassyn schrak auf. »Ein neuer Transport«, sagte er. »Tautilla ist eifrig am Werk.« Er ging zu dem Instrumentenpult hinüber und betätigte einen Regler. Im nächsten Augenblick stieß er einen schrillen Entsetzensschrei aus. Ohne Mühe konnten wir den Grund sehen – auf dem Bildschirm waren die Ankömmlinge genau zu erkennen. Ich sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Bjo bleich wurde. Federspiel preßte die Lippen aufeinander. »Was ist los?« Bjo deutete auf die Gestalten auf dem Bildschirm. »Ich kann nur Gedankenfetzen auffangen«, stieß er mühsam hervor. »Sie sind noch betäubt vom Transmitterschock. Aber das, was ich auffangen kann, ist entsetzlich – soviel Aggressivität habe ich noch nie gespürt.« Ich sah mir die Ankömmlinge an.
Als erstes sah ich die Schuppenhaut, die in vielen Farben schillerte, von einem weißen Bauchfleck abgesehen. Zwei Arme waren zu sehen, sie mündeten in dünne, vielgliedrige Hände. Diese Beschreibung galt entsprechend auch für die unteren Extremitäten. Der Leib war sehr dünn und lang. Bis zu zwei Metern hoch konnten diese Geschöpfe offenbar werden. Die Köpfe waren breit und flach, bei zweien der Betäubten hingen die Zungen heraus – gespalten nach Schlangenart. Ohren waren nicht zu erkennen, und die Augen waren geschlossen. Kleidung konnte ich keine erkennen, dafür aber einige Körperringe, an denen offenbar Ausrüstungsgegenstände befestigt waren – vor allem, wie es schien, Waffen. »Sie hassen uns«, stieß Bjo hervor. »Ihr ganzes Denken ist davon erfüllt.« »Sonst nimmst du nichts wahr?« fragte ich verblüfft. Ich hatte im Lauf meines Lebens allerhand seltsame, teilweise amüsante, manchmal auch weniger freundliche Lebewesen kennengelernt, aber noch kein Volk, dessen Denken nur aus Aggressivitätsimpulsen bestand – so simpel konstruiert konnte eine Spezies schwerlich sein. »Hochmut«, sagte Bjo. Er war kreideweiß. »Sie halten sich für die höchste Lebensform überhaupt. Alle anderen Völker sehen sie als primitiv und minderwertig an.« Ich runzelte die Stirn. Diese Überheblichkeit trat zwar nicht selten als Schwester der Aggressivität auf, aber in allen bekannten Fällen war eine so groteske Selbstüberschätzung verbunden mit Angst. Arroganz ohne Angst war nach meiner Erfahrung nicht vorstellbar. Ich sah Bjo an. Sein Gesicht spiegelte deutlich wieder, was er empfand. Offenbar war er außerstande, die auf ihn einstürmenden Gedankenimpulse in Worte zu fassen. Ich vermutete, daß das Ausmaß der wahrgenommenen Aggressivität sein verbales Ausdrucksvermögen überstieg – auch wenn ich mir solche Aggressivität beim besten Willen nicht vorstellen konnte, jedenfalls nicht als Dauerzustand. »Ich habe niemals so etwas erlebt«, sagte Bjo fassungslos.
Federspiel mußte sich festhalten, um nicht umzusinken. »Ich habe einmal einen Mann festgenommen, der in einem Anfall tobsüchtiger Eifersucht seinen Rivalen erschlagen hat. Der Mann damals ist vor Haß und blinder Wut fast geborsten – aber das war nichts im Vergleich zu den Ausbrüchen, die bei diesen Geschöpfen stattfinden.« »Du malst schwarz in schwarz«, sagte ich. Ich glaubte Bjo, obwohl seine Darstellung schier unglaublich war. In Bjos Augen glomm ein düsterer Funke auf. »Ich wünschte, du könntest es selbst wahrnehmen«, sagte er wütend. Ich begriff, daß die Gefühle der Ankömmlinge auf ihn überzuspringen schienen. Es wurde Zeit, dem Einhalt zu gebieten. »Unterbrich den Kontakt«, sagte ich scharf. Bjo schloß die Augen und nickte. Er schüttelte den Kopf, dann sah er mich wieder an. Er atmete schwer. »Sie nennen sich selber die EINZIGEN«, sagte er undeutlich. »Und sie denken dementsprechend.« »Es fällt mir schwer, das zu verdauen«, sagte ich. Hochmut, Rassedünkel und unverhüllte Aggressivität als emotionales Fundament einer technisch hochstehenden Zivilisation – an dieser Nuß würden Fachwissenschaftler zu knacken haben. Es widersprach allem, was an kosmopsychologischen Kenntnissen gesichert war. Ich fand dafür nur eine Erklärung – jemand hatte die EINZIGEN manipuliert. Entweder hatten sie sich durch äußere Umstände in diesen massenhaften Wahnsinn hineingesteigert, oder eine unbekannte Macht hatte dieses Volk derartig verdreht. Sie waren so gemacht worden – aber ganz sicher waren sie nicht so, wie sie sich gaben. Andererseits machte dieser Charakter deutlich, wie es möglich war, daß diese Wesen die friedfertigen und harmlosen Aquarianer einfach hatten ersäufen wollen – vorausgesetzt, daß die GravoEnergetiker der Vergangenheit mit diesen EINZIGEN identisch waren.
Sie sind es, gab der Logiksektor durch. Damit war dieses Problem geklärt – aber es war eine nebensächliche Frage. Hage Nockemann stellte die naheliegende Frage. »Was haben die EINZIGEN vor?« Und Bjo brachte die Antwort, mit der ich gerechnet hatte. Ruhig sagte er: »Sie werden jedes lebende Wesen in dieser Station töten. Und dann werden sie den Transmitter wieder in Betrieb nehmen und nicht eher aufhören, bis Aqua-II endgültig entvölkert ist.«
* Mein Herz schlug sehr schnell. Ich wußte, daß es auf die nächsten Augenblicke ankam. Bjo kniete hinter mir auf dem Gang, sprungbereit. Wir hatten nur eine einzige Waffe – den Paralysator, mit dem Perester Fassyn uns niedergestreckt hatte. Ansonsten konnten wir mit metallenen Werkzeugen dreinschlagen oder werfen – ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen angesichts der Waffen, die die EINZIGEN mitführten. Unsere Taktik konnte daher nur so aussehen – mit Hilfe des Paralysators Waffen erbeuten und damit kämpfen. »Sie sind vorsichtig«, murmelte Bjo. Er konnte mir verraten, wo sich die EINZIGEN in der Station herumtrieben. »Trotz ihrer Überheblichkeit.« »Wie viele?« Er zeigte mir drei Finger. Drei – das war mit diesem Waffenpotential und unserer kümmerlichen Ausrüstung eine beachtliche Streitmacht. »In ein paar Augenblicken werden sie da sein«, murmelte Bjo. Ich hatte ihn mitgenommen, weil er mit seiner unglaublichen Reaktionsschnelligkeit und Körpergewandtheit noch am ehesten in
der Lage war, mir bei dem Unternehmen zu helfen. »Nur noch Sekunden.« Die Waffe lag ruhig in meiner Hand. Ich kannte Situationen dieser Art. Viele Male hatte ich Ähnliches erlebt – und doch war ich aufgeregt wie beim ersten Mal. Die kreatürliche Angst angesichts des Todesrisikos ließ sich nicht ausschalten, und das war gut so – sie mobilisierte alle Sinne, schärfte die Wachsamkeit und verhinderte Unbedachtheiten. Es waren mehr gute Kämpfer durch Mangel an Angst gestorben als umgekehrt. »Jetzt!« Ich machte einen Satz, der mich um den Winkel des Ganges herumbrachte. Ohne lange zu zielen, feuerte ich. Einer der EINZIGEN brach sofort zusammen, der andere schaffte es noch, sich herumzudrehen bevor er getroffen wurde und ebenfalls auf den Boden stürzte. Gleichzeitig fegte hinter mir Bjo aus seiner Deckung und stürzte sich auf den dritten Eindringling. Der Kampf dauerte nicht lange. Der EINZIGE war völlig überrascht, und der Kraft und Geschmeidigkeit von Bjo Breiskoll hatte er nichts entgegenzusetzen. »Rasch«, stieß Bjo hervor, nachdem er seinen Gegner betäubt hatte. »Es kommen noch mehr!« Hastig nahmen wir den EINZIGEN die Waffen aus der Hand. Sie wirkten zierlich, fast zerbrechlich – offenkundig waren sie für die eher zierlichen Gliedmaßen der EINZIGEN konstruiert, neben denen sich unsere Hände wie Pranken ausnahmen. »Wie viele?« »Ich orte insgesamt fünfzehn«, gab Bjo bekannt. Insgesamt fünf Waffen hatten wir erbeutet, deren Funktionsweise uns unbekannt war – angesichts des Charakters der EINZIGEN stand zu befürchten, daß sich dabei keine einzige Schock- oder Betäubungswaffe befand. So schlug der Vernichtungswille dieser Wesen auf sie selbst zurück – wir konnten es nicht ändern. Bjo gab die Richtung an. Plötzlich blieb er stehen. Sein Gesicht
zeigte einen verärgerten Ausdruck. »Was gibt es?« »Sie haben sich getrennt«, sagte Bjo leise. Er hatte die Augen geschlossen, um sich besser konzentrieren zu können. »Und eine der beiden Gruppen marschiert genau auf unsere Freunde zu.« Nockemann, Federspiel und die anderen waren unbewaffnet und hatten gegen die EINZIGEN keine Chance. »Sie sollen zurückweichen«, bestimmte ich. »Federspiel kann die Angreifer ja orten und entsprechende Routen vorschlagen. Auf keinen Fall einen Kontakt zulassen, das wäre zu gefährlich. Wir kommen ihnen zu Hilfe.« Bjo nickte. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Gesichtsausdruck noch immer verdrossen. »Wir stecken in einer Klemme«, sagte er leise. »Wenn wir zu Federspiel und den anderen wollen, geraten wir genau zwischen die beiden Gruppen der EINZIGEN.« »Das müssen wir riskieren«, entschied ich. Die drei Gestalten am Boden konnten liegenbleiben. Stunden würden vergehen, bis die Lähmung wich. Von irgendeinem Fernsprechanschluß der Station aus konnte Perester Fassyn einige seiner Schläger damit beauftragen, die EINZIGEN gefangenzunehmen und sicher zu verwahren. Wir eilten durch die Gänge der Station von Aqua-I. Bjos Spürsinn erwies sich dabei einmal mehr als ausgesprochen guter Ratgeber, wir kamen zügig voran. »Es kann Zufall oder Absicht sein«, murmelte Bjo unterwegs. »Aber Federspiels Gruppe wird genau auf den Transmitterraum zugetrieben.« »Und die Schaltanlagen?« Bjo ließ seine telepathischen Fühler umhertasten. Er murmelte einen Fluch. »Zwei der EINZIGEN sind im Schaltraum«, stieß er hervor. »Was spürst du?«
»Ratlosigkeit«, antwortete er. »Sie kennen sich mit ihrer eigenen Technik nicht sehr gut aus. Ihre Gedanken verraten, daß sie in den letzten Jahrhunderten an technischem Niveau eingebüßt haben – die Anlagen ihrer Urväter sind für sie überaus kompliziert.« »Nun, dann sind sie wenigstens beschäftigt«, sagte ich. »Bjo – bleibe an den beiden und versuche zu verstehen, was sie machen. Wir können so möglicherweise lernen, den Transmitter zu bedienen.« »Das erfordert viel Konzentration«, sagte Bjo. Ich verstand. Wenn er seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Hantierungen der EINZIGEN richtete – und das war notwendig, um verstehen zu können, was sie taten – dann blieb wenig übrig für Bjos Umgebung. Als Kämpfer fiel er dann praktisch aus. »Ich werde mich um dich kümmern, konzentriere dich ganz auf das, was in dem Schaltraum vorgeht. Wenn du Zeit findest, dann kümmere dich ab und zu um Federspiels Gruppe. Sage mir, was sie tun und wo sie sich befinden.« »Ich will es versuchen«, sagte Bjo. Er schloß die Augen. Ich griff nach seiner Hand. In diesem Zustand höchster Konzentration mußte ich ihn führen, und ich wußte, daß Bjo mir vertraute. Es ist keine leichte Sache für einen Sehenden, sich vorsätzlich als Blinder führen zu lassen und der Versuchung zu widerstehen, zwischendurch probeweise die Augen zu öffnen. Dadurch aber wäre Bjos Konzentration sehr geschwächt worden, sein Wahrnehmungsvermögen hätte darunter gelitten. Langsam marschierten wir weiter. Ich sah, wie Bjo ab und zu die Lippen bewegte, mit den Augen rollte und nickte. Er folgte jedem Handgriff der beiden EINZIGEN, während er sich von mir durch die Station führen ließ. Für mich bestand die Aufgabe zum einen darin, Bjo so zu führen, daß er nirgendwo anstieß, zum anderen darin, überhaupt den richtigen Weg zu finden. Wäre der Extrasinn nicht gewesen, dessen fotografisches Gedächtnis mich unterstützte, hätten wir uns in
diesem Wirrwarr von Gängen, Kammern und Hallen hoffnungslos verirrt. »Federspiel muß aufpassen«, gab Bjo zwischendurch bekannt. »Die EINZIGEN kommen der Gruppe bedrohlich nahe.« Ich vermutete, daß er diese Warnung sofort an Federspiel auf telepathischem Weg weitergegeben hatte. Ich konnte meine ganze Aufmerksamkeit darauf legen, den Weg zu finden. »Die beiden EINZIGEN haben ihre Arbeit beendet«, gab Bjo bekannt. Er öffnete die Augen. »Der Transmitter funktioniert jetzt wieder als Sender. Sie wollen an Bord ihres Schiffes zurückkehren und von dort Verstärkung holen.« Bjo sah mich ernst an. »Außerdem habe ich ihre Gedanken dahingehend lesen können, daß draußen im Raum ein Kampf stattfindet. Die EINZIGEN greifen Aqua-II an, und die SOL scheint den Aquarianern zu Hilfe zu kommen.« »Erfolgreich?« Bjo zuckte die Schultern. »Das ließ sich den Gedanken nicht entnehmen«, antwortete er. »Ich schlage vor, daß wir Fallund und dem ehemaligen Bewahrer davon nichts sagen – sie haben schon Sorgen genug.« »Bring uns zu den anderen«, forderte ich ihn auf. »So schnell wie möglich.« Bjo rannte los, ich folgte ihm. Es dauerte nicht lange, dann hatten wir den Raum erreicht, in dem sich unsere Freunde aufhielten. Federspiel öffnete uns, nachdem Bjo unser Erscheinen telepathisch angekündigt hatte. »Es sieht so aus, als wollten die EINZIGEN in den Transmitterraum zurück«, sagte Federspiel. »Dort werden wir versuchen, sie abzufangen«, sagte ich. »Wenn sie Verstärkung holen können, ist diese Station für uns verloren. Und einem Angriff aus dem Raum und einer Unterwanderung über die Transmitterstrecke haben die Aquarianer nichts
entgegenzusetzen.« Ich hatte vorsichtshalber den Translator ausgeschaltet, so daß nur meine Freunde meine Worte verstehen konnten. Fallund Kormant machte ein kämpferisches Gesicht, während Perester Fassyn sehr erschüttert wirkte. »Und wir müssen schnell machen«, sagte ich zum Schluß. »Die Zeit drängt.«
7. »Wir sind bereit«, sagte der High Sideryt. »Trifft das auf alle zu?« Er sah sich in der Runde der Stabsspezialisten um. Die Mienen waren eindeutig. Die SOL war kampfklar, selbst unter den besonderen Umständen, die dieser Gegner erzwungen hatte. »Dann werden wir uns Aqua-II nähern«, sagte Breckcrown. Hayes und stand auf. Seine Augen verrieten ein wenig von der Last der Besorgnis, die der Mann zu tragen hatte. »Ich hoffe, daß wir alles Glück haben in diesem Kampf – wir werden es brauchen.« Bora St. Felix nickte. Die Bemerkung des High Sideryt hatte ziemlich genau ausgedrückt, was auch sie fühlte. Sie wollte gerade etwas sagen, als die Tür geöffnet wurde. Über die Schwelle taumelte eine kleine Gestalt. »Foster!« rief Bora aus. Mit allem hatte sie gerechnet, nicht aber damit, daß ihr Sohn in die Führungskonferenz platzen würde. Einen Augenblick lang befürchtete sie, Foster würde sich beschweren wollen – immerhin war dieser Tag sein fünfter Geburtstag, aber das Gesicht des Jungen verriet, daß er an ganz andere Dinge dachte. Immer wieder schüttelte er den Kopf, als wolle er seinen Schädel von einem Druck befreien. »Atlan!« brachte der Junge hervor. Breckcrown Hayes reagierte als erster. Er schritt auf den Jungen zu, bückte sich, damit er Foster ins Gesicht sehen konnte und fragte drängend:
»Was ist mit Atlan?« »Aqua!« stammelte der Junge. »Hilfe!« »Er will uns etwas mitteilen, aber was«, murmelte Hayes. »Foster, versuche dich zu konzentrieren. Wie lautet die Botschaft? Welche der Aqua-Welten ist gemeint?« »Nummer eins«, murmelte Foster mühsam. Bora St. Felix wollte auf ihren Jungen zueilen und ihn in die Arme schließen, aber Hayes hielt sie mit einer bittenden Miene und einer energischen Armbewegung zurück. »Atlan ist auf Aqua-I? Stimmt das?« »Er und seine Freunde«, sagte der Junge schwach. »Hilfe!« Aus dem Tonfall ging nicht hervor, ob Atlan Hilfe brauchte oder versprach. Hayes wollte eine zusätzliche Frage stellen, aber bevor er dazu kam, brach der Junge zusammen. Bora fing ihren Sohn auf. Er war besinnungslos geworden. »Was hat das zu bedeuten?« fragte einer der Stabsspezialisten. Breckcrown Hayes sah nach dem Jungen. Der Puls schlug kräftig, und die vorher bleichen Wangen röteten sich allmählich wieder. Der Junge schien einen Schock erlitten zu haben, von dem er sich zusehends erholte. Auch der Atem ging wesentlich regelmäßiger. »Ich habe eine Vermutung«, sagte der High Sideryt. »Es gibt eine Möglichkeit, daß dem Jungen die Phantasie durchgegangen ist. Das ist bei Kindern in diesem Alter völlig normal. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er dann so frech sein würde, diese Konferenz zu stören. Die andere Möglichkeit ist die, daß er ein Telepath ist, möglicherweise nur manchmal, möglicherweise nur schwach, aber möglicherweise hat er uns tatsächlich einen wichtigen Tip gegeben.« »Etwas sehr viel möglicherweise in diesen Überlegungen«, sagte einer der Spezialisten trocken. »Darüber bin ich mir klar«, sagte Hayes und lächelte. »Es ist eine Kalkulation, nicht mehr.« Der Junge öffnete die Augen und sah zuerst lächelnd, dann
verwirrt seine Mutter und die Umgebung an. »Wie komme ich hierher?« fragte er entgeistert. Hayes entging nicht, daß sich die Wangen des Jungen ein wenig stärker zu röten begannen. Er schien sich für seine Handlung zu schämen, und das wertete Hayes als deutliches Indiz dafür, daß die zweite seiner Möglichkeiten zutraf. »Du hast uns etwas sagen wollen«, beruhigte Bora St. Felix ihren Sohn. »Kannst du dich nicht mehr erinnern?« »Ich bin eingeschlafen«, sagte Foster. »Und jetzt wache ich hier auf. Von einer Botschaft weiß ich nichts.« Bora strich ihrem Sohn über den Kopf. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte sie beruhigend. »Du hast nichts falsch gemacht.« »Ich möchte einen Kreuzer haben«, sagte sie und fixierte Breckcrown Hayes. »Ich will versuchen, diesem Hinweis nachzugehen.« »Einverstanden«, sägte der High Sideryt. »Aber beeile dich – wir fliegen bald los.«
* Auf den Schirmen sah die Flotte der Solaner wie eine Perlenkette mit einem besonderen Schloß aus. Die riesige SOL in der Mitte der Formation, umsäumt von den Kreuzern, die wiederum umschwärmt von kleineren Einheiten, die die Aufgabe hatten, Nothilfe zu leisten, Überlebende zu bergen und auch den Aquarianern beizuspringen. Es sah beeindruckend aus, aber Bora St. Felix wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Die Waffe der Gegner war unglaublich wirkungsvoll, und sie engte den Aktionsradius der SOL gewaltig ein. An Bord des Kreuzers sah es aus wie an Bord eines jeden Schiffes,
das zu der SOL gehörte. Es war verstaut und festgezurrt worden, was immer sich beim Kampf lösen, davonschwirren und irgendwo aufprallen konnte. Das schloß die Besatzung ein. »Fertig? Dann los.« Die Triebwerke des Kreuzers stießen das Schiff nach vorn. Der Kreuzer entfernte sich von dem Pulk der SOL-Schiffe, aber auf den Schirmen und Tastern war die Flotte gut zu erkennen. In der Fernortung waren auch die Gegner zu sehen. Noch immer setzten sie mit erbarmungsloser Härte den Bewohnern von Aqua-II zu. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatten, alles Leben auf dieser Welt zu vernichten. Es war ein Glück für Bora und die anderen, daß sie dieses gräßliche Geschehen gleichsam nur in abstrahierter Form wahrnahm – als Reaktion der Energietaster, die einen Kernverschmelzungsprozeß aufzeichneten, oder als das Verschwinden eines kompakten Punktes auf dem Massetaster, der als Wolke wieder auftauchte. Hinter dieser Messung verbarg sich dann das Schicksal eines mit lebenden Wesen bemannten Fahrzeugs. Bora verfolgte diese Ereignisse mit zusammengepreßten Zähnen. »Was für ein Wahnsinn«, murmelte sie. Der Kreuzer nahm Kurs auf Aqua-I. Deutlich war der Planet mit seiner riesigen Wasseransammlung auf den Schirmen zu erkennen. Da er auf der jenseitigen Bahnhälfte des Doppelsystems Aqua-I und II stand und ständig von der Sonne verdeckt wurde, hatten die Bewohner von Aqua-II diese sehr seltsame Welt wahrscheinlich niemals entdeckt – und das war sicherlich kein Zufall. Der Gedanke, daß irgend jemand sich erfrechte, am Schicksal ganzer Planetenbevölkerungen herumzuspielen, war erschreckend genug. Die Vorstellung, daß ein Volk ein anderes schlichtweg aus dem Universum zu entfernen trachtete, entzog sich Boras Einfühlungsvermögen – derlei konnte sie nur beobachten, aber nicht nachempfinden. Sie empfand allerdings diese Tatsache nicht als Mangel.
Kinder waren ausnahmslos an Bord der SOL geblieben, wo ihr Schutz noch am ehesten gewährleistet war. Bora sah zu dem Piloten hinüber. Er hieß Grahn Furier und hatte bereits einen Kontakt mit den Fremden hinter sich. Sein Gesicht zeigte ruhige Gelassenheit. Nur wenn er sich das Geschehen auf den Schirmen betrachtete, verfinsterte sich seine Miene für Sekunden. »Es sieht aus wie einer dieser Spielautomaten«, sagte Grahn einmal. »Nur ohne die Geräuscheffekte.« Der Vergleich traf; hätten die Bildschirme jetzt noch das elektronisch nachempfundene Grollen von Geschützen geliefert, wäre das Bild komplett gewesen. »Vielleicht ist es sogar ein gutes Zeichen«, sagte Bora. Grahn sah auf. »Das?« fragte er und deutete auf die Schirme. Wieder war eines der Schiffe zerstört worden – höchstwahrscheinlich eines der Aquarianer, die ihrem Gegner entsetzlich unterlegen waren. Hätte es einen Kampfrichter gegeben, wären die Aquarianer wegen offensichtlicher Verteidigungsunfähigkeit aus dem Ring genommen worden; so aber ging das gräßliche Geschehen weiter und weiter. »Vielleicht sind wir inzwischen so intelligent und einsichtsfähig geworden, daß solche Abstrahierungen nötig sind, um überhaupt noch Kriege möglich zu machen – jedenfalls auf diesem technischen Niveau.« »Ein seltsamer Gedanke.« Bora schüttelte den Kopf. »Überlege. Kannst du dir einen Menschen vorstellen, der einen Knopf drückt und damit eine Rakete losschickt, die eine ganze Stadt vernichtet?« Grahn nickte. »Kannst du dir vorstellen, daß jemand, der selbst absolut gegen die Folgen einer solchen Explosion gesichert ist, es fertigbringt, neben einer solchen Bombe stehenzubleiben, sie selbst zu zünden und sich am Ort des Geschehens anzusehen, was mit den Opfern
geschieht?« Grahn Furier schüttelte sich vor Ekel. »Nein«, stieß er hervor. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Ich auch nicht«, sagte Bora. »Aber leider gibt es in diesem und in unserem Universum genug Knopfdrücker, um alles Leben zu vernichten.« Die beiden verstummten. Während der Kreuzer sich mit hoher Fahrt dem Planeten näherte, hatten sie Gelegenheit, mit sich selbst in dieser Lage ins reine zu kommen. Bora St. Felix war keine Expertin, was die Geschichte der SOL und der Menschheit betraf; in den vergangenen Jahrhunderten war speziell an Bord der SOL vieles in Vergessenheit geraten. Aber Bora wußte, daß es in der Geschichte der Menschheit immer wieder Kriege gegeben hatte – jemand hatte einmal ausgerechnet, daß es in der mehr als zehntausendjährigen Geschichte der Menschheit nur knapp 150 Jahre gegeben hatte, in denen nirgendwo auf der Erde Krieg geführt worden war. In der ganzen anderen Zeit, viele Jahrtausende hindurch, waren Menschen gestorben, hatte der rote Hahn auf den Dächern getanzt, war gemordet worden, gebrandschatzt, verschleppt, gefoltert und dergleichen Widerwärtigkeiten mehr. Fast noch gräßlicher waren diese Schauspiele des Grauens, wenn man sich die vermeintlich triftigen Gründe ansah, aus denen heraus Kriege geführt worden waren. Es war um die Herrschaft im Lande, zu Wasser, in der Luft gegangen; um Bodenschätze war gekämpft worden, wegen persönlicher Eitelkeiten. Wahnsinnige Herrscher hatten Völker bluten lassen, das eigene nicht weniger als das fremde. Vorwände hatten sich stets gefunden – mal hatte sich ein Herrscher durch das Quaken 200 Kilometer entfernter Frösche in der Nachtruhe gestört gefühlt, mal war es um das Bett eines Untertanen gegangen, mal um ein abgeschnittenes Ohr, einmal war
gar ein Krieg nach einem Sportereignis ausgebrochen – wer sich die Menschheitsgeschichte unter diesem Blickwinkel betrachtete, konnte leicht das Gefühl bekommen, es mit einer Spezies von Narren und Wahnsinnigen zu tun zu haben. Und seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte hatten sich kleine und große Denker die Köpfe zerbrochen, wie diesem blutigen Irrsinn ein Ende zu bereiten sei – aber keiner hatte das Patentrezept gefunden. Bora St. Felix war nicht so vermessen zu glauben, daß sie die Lösung für dieses Problem finden konnte – so brennend und quälend es auch war. Sie war nicht bereit, es bei der platten Formel zu belassen, nach der Kriege einfach Prüfungen des Schicksals zur Läuterung und Weiterentwicklung der Menschheit waren – seltsame Prüfungen, bei denen die Schlächter bestanden und die Unschuldigen durchfielen. Bei ihr verfingen auch die zahlreichen Heilsrezepte nicht, die alle mit: »Man muß nur einfach …« begannen und damit endeten, daß erneut gekämpft wurde. Ihr blieb nur das übrig, was denkenden Menschen stets beschieden gewesen war – unter diesen Dingen zu leiden und von der Sehnsucht verfolgt zu werden, dem allen ein Ende bereiten zu können. Eine unstillbare Sehnsucht, so schien es. Bora St. Felix kam nicht dazu, diesen Gedankengang weiter zu verfolgen, so faszinierend er auch war. Die Ortung meldete, daß der Planet Aqua-I erreicht sei. Der Kreuzer verlangsamte seine Fahrt. Dicht über der Wasseroberfläche verharrte er eine Zeitlang, dann ließ Grahn Furier das Schiff in die Wasserhülle dieses befremdlichen Planeten eindringen. Genaugenommen war eine Welt dieser Art ein Unding – der früher angemessene Eisen-Nickel-Kern von 22 Kilometern Durchmesser war niemals in der Lage, durch seine Anziehungskraft eine solche Wasserhülle zu binden. Die Vermutung lag nahe, daß dort mit technischen, wahrscheinlich hyperphysikalischen Mitteln
nachgeholfen worden war. Die Abwehrschirme des Schiffes standen. Bora wollte das Risiko nicht eingehen, wie die früher ausgeschickte Sonde vernichtet zu werden. Ob es an oder in dem Kern schwere Waffen gab, die auch einem Kreuzer gefährlich werden konnten, ließ sich nicht sagen – dieses Risiko mußte die Besatzung eingehen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollte. Andererseits bildete der dicke Wasserpanzer auch einen gewissen Schutz vor Überraschung – Wasser stand den üblichen Waffenstrahlen wie ein Panzer entgegen. Dieser Widerstand mußte erst überwunden werden, bevor die vernichtende Wirkung solcher Waffen die Außenwand des Kreuzers berühren konnten. Ausgenommen dabei waren solche Waffensysteme, die auf hyperphysikalischer Basis arbeiteten und kein Medium zur Wirkung benötigten. »Alles angeschnallt?« ließ Bora rundfragen. Das Ergebnis war positiv. Die Besatzung hatte sich auf den zu erwartenden Gegner eingestellt. Bora überprüfte noch einmal das Gurtsystem ihres Sitzes. Auch dort stimmte alles. Kilometer um Kilometer sank der Kreuzer in die Tiefe. Die Schirmfelder wurden durch den Wasserdruck zwar strapaziert, konnten die Belastung aber verkraften. Selbst wenn sie zusammenbrechen sollten, sollte die stählerne Hülle des Kreuzers ausreichen, den ungeheuren Wasserdruck von den Menschen im Innern fernzuhalten. »Können wir irgend etwas erkennen?« fragte Bora, »Zweierlei«, gab die Ortung durch. »Wir haben den Kern auf den Schirmen der Materietaster. Und wir haben gerade einen hyperphysikalischen Energieimpuls angemessen. Die Positronik behauptet, daß es sich um einen Transmittertransport gehandelt haben soll. Die Kurvenprofile stimmen allerdings nicht mit denen bekannter Transmittertypen überein.« »Aha«, machte Bora. Wenn es in dem Planetenkern einen
Transmitter gab, dann war durchaus wahrscheinlich, daß sich Atlan hatte flüchten können – oder daß er dahin verschleppt worden war. Der vergleichsweise winzige Kern in dem riesigen Wassergebilde war kein übles Versteck. »Wir gehen tiefer!« bestimmte Bora. »Konnte ermittelt werden, was für Massen transportiert worden sind?« »Nur sehr grob – es könnte sich um zwei oder drei Personen handeln, oder um eine entsprechende Menge Material.« »Aus dem Kern weg oder zu ihm hin?« »Da sind die Ergebnisse eindeutig – der Transport ging zum Kern. Und jetzt messen wir einen weiteren Transmitterschub an.« Offenbar war allerlei im Gang im Innern von Aqua-I. »Einzelheiten?« forschte Bora. »Schätzungsweise fünfzig Personen sind im Innern angekommen«, gab die Ortung bekannt. »Hm«, machte Bora. »Noch zehn Kilometer bis zum Ziel«, gab Grahn Furier bekannt. »Jetzt kann es brenzlig werden.« »Wir werden aufpassen«, versprach Bora. Näher und näher glitt der Kreuzer an den Nickel-Eisen-Kern des seltsamen Planeten heran. Knapp fünf Kilometer neben dem metallenen Gebilde blieb das Schiff schließlich stehen. »Was nun?« fragte Grahn. »Wir steigen aus«, bestimmte Bora. »Ich nehme nicht an, daß man uns dort drüben eine passende Schleuse für den Kreuzer öffnen wird. Und wenn wir versuchen, ein entsprechendes Loch zu schaffen, werden wir dieses Gebilde vermutlich zerstören. Ich brauche zwanzig Mann und eine Space-Jet.« »Für die paar Kilometer?« fragte Grahn verblüfft. Bora lächelte. »Als Deckung«, erklärte sie. Das gut eingespielte Team brauchte nur kurze Zeit, um startklar zu sein. Bora hatte ihre Gruppe mit Energietornistern ausrüsten lassen, die ein besonders starkes Schirmfeld gegen den ungeheuren
Wasserdruck aufbauen und halten konnten. Der Space-Jet verließ sehr langsam den Hangar. Erst als sich die Tore wieder hinter dem kleinen Schiff und dem Einsatztrupp geschlossen hatten, ließ Bora die Space-Jet weiterfliegen. Es war ein kleines, nicht ungefährliches Kunststück, aus dem Schiff herauszukommen. Man konnte nicht einfach die Schirmfelder abschalten und den Kreuzer dem Druck aussetzen, daher mußten sich die Space-Jet und der Einsatztrupp gleichsam durch eine Strukturlücke hinausmogeln. Der Versuch gelang auf Anhieb. Handscheinwerfer hielten eine optische Verbindung zur Space-Jet, während die Gruppe mit ruhigen Bewegungen hinter dem Diskusschiff auf den Kern des Planeten zuschwamm. Ein heftiger Schlag ging durch die Space-Jet, »Treffer von einem Torpedo«, gab der Pilot bekannt. »Von den Schirmfeldern abgefangen.« Genau das hatte Bora geplant. Es gab vermutlich einen Sicherheitsbereich, der von den Geschützen des Eisen-Nickel-Kern verteidigt wurde – gegen wen oder was auch immer. War diese Sperrzone durchschwommen, gab es keine großen Gefahren mehr – einmal abgesehen von irgendeiner Maßnahme, die die Erbauer der Station getroffen hatten, um die Hülle der Station gegen Algenbewuchs und Ähnliches zu schützen. Dieser Bewuchs hätte auf Dauer auch der stabilsten Hülle zugesetzt und sie allmählich zerfressen. »Sichtkontakt!« gab der Pilot der Space-Jet bekannt. »Noch dreißig Meter, dann seid ihr am Ziel.« Im gleichen Augenblick machte sich auch die von Bora erwartete Bewuchssperre bemerkbar; ein mehr fühlbares als hörbares Singen durchdrang den ganzen Körper und war besonders an den Zähnen deutlich zu spüren. Die Wirkung ließ allerdings nach kurzer Zeit nach. Im Licht der Scheinwerfer tauchte dann die Hülle der Station auf.
Jetzt war der endgültige Beweis gefunden, daß es sich dabei nicht um ein Kuriosum der Natur handelte, sondern um das Werk intelligenter Wesen. Deutlich waren Linien und Kanten zu sehen, und unmittelbar vor Bora schälte sich der Umriß einer Schleuse aus dem Dunkel der umgebenden Wassermassen. »Weiter!« bestimmte Bora.
8. Breckcrown Hayes saß wie versteinert. Er verfolgte auf dem Kontrollschirm das, was in die Annalen der SOL als die Schlacht um das Aqua-System eingehen würde – wenn die SOL diese Schlacht überhaupt überstand. Die rein taktischen Aspekte dieses Unternehmens waren nicht die Sache des High Sideryt; er war der Natur seines Amtes nach mehr Politiker als Stratege. Das änderte nichts daran, daß die Taktiker und Kommandanten ihre Befehle letztlich vom High Sideryt erhielten, der für dieses gesamte Unternehmen die Verantwortung trug. »Was für ein Glück«, dachte Hayes in bitterem Zynismus, »daß die Hauptleidtragenden mich nie werden wirklich verantwortlich machen können!« Auf den ersten Blick sah es imponierend aus, das SOLGeschwader. Die riesige SOL, die Kreuzer, die kleineren Schiffe. Perfektion, einwandfreies Funktionieren aller Menschen und Apparate, sicheres Zusammenspiel der Kommandanten und Besatzungen – beeindruckend, wäre der schreckliche Zweck dieses Zusammenspiels nicht gewesen. Hayes hatte einen Befehl gegeben, der alle anderen einschränkte – als erstes sollte versucht werden, Kontakt mit den Aggressoren von
A
qua-II aufzunehmen. Hayes gedachte nicht einen Schuß abzufeuern, bis er nicht mit einem der Fremden gesprochen hatte. Der High Sideryt besaß auch Härte und Durchsetzungsvermögen, aber er konnte sie nur dann zu voller Wirkung entfalten, wenn sein moralisches Empfinden ihm das gestattete – und ein halbherzig oder wankelmütig geführter Angriff, mit Bedenken und Skrupeln vorgetragen, hätte das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. »Kontakt?« fragte Hayes. »Noch nicht«, bekam er zu hören. Hayes hätte gerne öfter gefragt, aber er unterdrückte den Impuls. Man hätte ihn womöglich als Zaudern oder Ängstlichkeit ausgelegt. Den Stabsspezialisten gegenüber scheute sich Hayes nicht, Sorgen und Befangenheit auszudrücken, wenn er sie empfand; ob die Besatzungen der Schiffe dies aber so interpretieren würden, wie es die Stabsspezialisten taten, war eine andere Frage. Tief im Innern der SOL lagen angeschnallt auf Betten und auf dem Boden die Besatzungsmitglieder, die bei dem Kampf nichts zu tun hatten, Kinder vor allem. Hayes versuchte einen Augenblick lang, sich in eines der kleinen Geschöpfe hineinzudenken. Irgendwo im Bauch der SOL, angeschnallt – oder vielmehr gefesselt. Kann ein Kinderhirn den Unterschied erfassen? Was mag an Ängsten in diesen Köpfen wühlen, wie tief frißt sich das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht ins Gemüt? Die Erwachsenen machen besorgte Gesichter – oder übertrieben fröhliche, als ob man den feinen Wahrnehmungsapparat eines Kindes so übertölpeln könnte. Viele Väter und Mütter sind nicht da – irgendwo anders, weil das angeblich wichtig ist. Wenn das, was geschieht, so wichtig ist, warum sind die Eltern nicht da, wo sie in solchen Augenblicken hingehören – bei ihren angstbebenden Kindern? Aus den Lautsprechern und aus dem Schiffsinnern erklingen seltsame Geräusche, furchteinflößend, weil sie so unverständlich sind. Irgend etwas bricht herein, niemand weiß, was es ist – nur eines steht fest:
es ist gräßlich. Hayes riß sich aus diesen Bildern heraus. Wer sich in solche Phantastereien hineinstürzte, war nicht geeignet, die SOL in einen solchen Kampf zu führen – diese beiden Regungen ließen sich nicht vereinbaren. »Kontakt!« »Schaltet auf meinen Schirm!« Wenig später wurde das Bild sichtbar. Die lange dünne Zunge des Fremden bewegte sich heftig. Die Stimme klang schrill und pfeifend. Die Augen wirkten stechend, aber das war nichts als die Interpretation des Beobachters, der das Bild des Fremden mit seinen eigenen Vorstellungen und Werten verband. »Was wollt ihr hier? Ihr stört uns.« »Was wir sehen, ist, daß ihr den Planeten angreift und offenbar völlig zerstören wollt.« »Das ist richtig«, erklang es aus dem Translatorlautsprecher. »Wir werden dieses Volk vernichten.« »Was haben die Bewohner des Planeten euch getan?« Die Antwort ließ Breckcrown Hayes schaudern. »Nichts, aber ist das ein Grund, sie nicht zu vernichten? Dies ist unser Universum. Wir werden jeden vernichten, der nicht von unserer Art ist.« Hayes glaubte sich verhört zu haben. »Was sagt ihr da?« »Du hast es gehört, Fremder. Sage mir, wo deine Heimatwelt ist, damit wir auch sie vernichten können. Wir dulden kein anderes Leben außer dem unsrigen.« Hayes zwinkerte. Gab es das wirklich? Eine Art kollektiven Verfolgungswahn, der so weit ging, daß nur die Vernichtung jeder anderen intelligenten Lebensform Sicherheit bot. Hayes war so verblüfft, daß ihm ein aufrichtiger Satz entschlüpfte. »Ja, seid ihr denn vollständig übergeschnappt?«
Was der Translator aus dieser Bemerkung machte, konnte Hayes nicht wissen, aber er tat seine Wirkung. Die Reaktion des Gegenübers jedenfalls war heftig. »Verrückt? Wir? Fremder, du bist es, dessen Geist verwirrt ist. Wir sind die EINZIGEN, uns gehört dieses Universum, und wir werden euch daraus entfernen, wie wir alle anderen daraus entfernt haben. Du mußt irre sein, daß du das nicht begreifst. Rufe deine Schiffe zurück, sonst werden sie schon jetzt das Schicksal dieses Planeten teilen.« Hayes schauderte. In dem selbstgegebenen Namen schwang eine solche Portion Verblendung und Größenwahn mit, daß es dem High Sideryt den Atem verschlug. »Neue Ortung!« Mehr sagte der Spezialist nicht, aber er lieferte die Ortungsergebnisse auf einen Bildschirm, den Hayes einsehen konnte. Auch der EINZIGE schien gerade eine entsprechende Meldung bekommen zu haben. Seine Stimme klang höhnisch aus dem Translator. »Ich sehe, daß wir Verstärkung bekommen haben. Wir können eure Vernichtung daher sofort in Angriff nehmen. Komm näher, Fremder.« Danach wurde der Schirm dunkel. Breckcrown Hayes holte tief Luft. Das Betragen des Fremden hatte ihn erschüttert. Er kam damit nicht zurecht. Beim besten Willen konnte er solche Wahnvorstellungen nicht nachempfinden. Solange er nicht eines Besseren belehrt wurde, mußte er davon ausgehen, daß der Gegner in seiner Gesamtheit geisteskrank war – wie immer das hatte entstehen können. Kranke zu bekämpfen aber widersprach Hayes ganzer Lebensauffassung. Auf der anderen Seite stellte sich das Problem, die möglichen Reaktionen dieser Gegner im Kampf vorherzusagen – waren diese Wesen wirklich so komplett durchgedreht, ließ sich kaum
kalkulieren, was sie anstellen würden. Besorgt betrachtete der High Sideryt die Lage. Den Aquarianern, die angesichts dieser Bedrohung aus dem Raum mit dem verzweifelten Mut Todgeweihter kämpften, war es nicht gelungen, auch nur eines der Schiffe der EINZIGEN – das Wort allein ließ Hayes schaudern – zu zerstören. Die Verluste der Aquarianer hingegen waren verheerend. Und zu dem bisher kämpfenden Verband der EINZIGEN waren nun zwölf weitere Schiffe gestoßen, jedes knapp 550 Meter durchmessend. Dazu war ein ganzer Schwarm kleinerer Schiffe aufgetaucht. Diese Einheiten stürzten sich ohne Zögern in den Kampf. Hayes wartete nun nicht länger. Er mußte schnell eine Entscheidung treffen, einen Befehl geben, von dem Tod und Leben abhingen. »Greift an!« sagte er laut. »Versucht, sie zurückzutreiben, und wenn es nicht anders geht, zerstört die Schiffe der EINZIGEN.« Er preßte die Lippen aufeinander. Einen kurzen Augenblick lang horchte er in sich hinein. Sein Herz schlug schnell, er war aufgeregt. Aber sein inneres Gefühl war eindeutig – er hatte den richtigen Befehl gegeben. Herz und Kopf waren im Einklang; er hatte nach bestem Wissen und Gewissen eine Entscheidung getroffen. Mochten die Folgen aussehen, wie sie wollten -Hayes hatte aufgeboten, was aufzubieten war. Die Reaktion, die aus den Lautsprechern klang, war nüchtern. Die Kommandanten bestätigten die Befehle, mehr nicht. Von Kampfbegeisterung war nichts zu spüren, nur eine gewisse wütende Entschlossenheit. Der Pulk der Solaner schwärmte aus. Die Taktik war klar – sie wollten versuchen, sich zwischen die EINZIGEN und Aqua-II zu schieben, um die Angreifer von ihren Opfern abzudrängen. Hayes spürte ein Ziehen in der Magengrube. Der Gegner setzte
seine Geheimwaffe ein. Er sorgte dafür, daß die künstliche Schwerkraft verschwand. Es war ein gräßliches Gefühl, erträglich nur für solche, die schon im freien Raum geschwebt waren. Bei allen anderen machte es sich als ein Gefühl eines unaufhörlichen Fallens bemerkbar, und das war das Thema vieler menschlicher Alpträume entsprechend mochten jetzt die Gefühle der Angeschnallten und Hilflosen sein. Ein Treffer schlug in die Schirmfelder der SOL ein, ohne eine Wirkung zu zeigen. Auf den Schirmen konnte Hayes sehen, wie zwischen den Schiffen der Solaner und der Angriffsflotte der EINZIGEN eine strahlende Kette von Feuerkugeln aufglühte. Die Solaner hatten eine Sperrfeuersalve aus den Transformkanonen abgegeben. Es lag an den EINZIGEN, ob sie versuchten, diese Abwehr zu durchbrechen. Sie taten es. Von den sieben Schiffen, die es versuchten, gelang es nur dreien, durchzubrechen, der Rest wurde von den atomaren Entladungen vernichtet. Wenig später trieb einer der SOL-Kreuzer angeschlagen im Raum, und nur dem raschen Eingreifen der SZ-1 war es zu danken, daß ein Pulk kleinerer Schiffe der EINZIGEN keine Möglichkeit fand, dem Kreuzer und seiner Besatzung den Rest zu geben. Einen Bildschirm hatte Hayes in bitterer Ironie freigeräumt – dort erschienen jetzt die Verlustziffern der Solaner. Menschenverluste waren noch nicht bekannt, aber ein Kreuzer tauchte in der Statistik als schwerbeschädigt auf. Schlagartig setzte die Schwerkraft wieder ein, und Hayes hatte ein Gefühl, als drehe sich ihm der Magen um. Selbstverständlich sorgte die Arbeit SENECAS dafür, daß der Effekt nur sehr gering ausfiel, auch an der positronischen Steuerung der Geschütze und anderer Einrichtungen änderte sich nichts. Aber die Wirkung auf die Besatzung war durchschlagend. Die Medo-Robots bekamen zu tun – erste Anzeichen von krankhaften Angstzuständen und Übelkeit.
Wenn es dabei blieb … aber damit war nicht zu rechnen. Es hatte Tote an Bord des Kreuzers gegeben, dazu viele Verwundete. Die Zahlenkolonnen veränderten sich ständig – in nackten, gnadenlosen Ziffern, kalt und gefühllos, wurde Hayes mitgeteilt, daß wieder ein Mensch gestorben war, daß ein anderer verstümmelt, verkrüppelt war. Tragödien in der Sprache der Mathematik. Einen Augenblick lang dachte Hayes daran, was für eine Aberwitz es war, daß die perfekte Positronik SENECAS, ohne die ein Leben in der SOL nicht denkbar war, die alle Vorgänge an Bord steuerte und lenkte, nun ausgerechnet zu diesem Zweck mißbraucht wurde. Die SZ-2 mußte sich zurückziehen. Gleich fünf Schiffe der EINZIGEN hatten sie unter Beschuß genommen, und auch für die Schirmfelder der Solzellen gab es Grenzen der Belastbarkeit. Eine Space-Jet flog die SOL an und dockte ein. Sie brachte Überlebende und Verletzte, die sofort von den Robots in die Krankenstation gebracht wurden. SENECAS Statistik wurde genauer. Etliche Zahlen bekamen nun in den Speichern Namen zugeordnet. Während draußen das Kämpfen weiterging, vollzog sich im Innern der SOL ein geradezu gespenstischer Vorgang, von dem niemand etwas mitbekam – es war nichts weiter als ein in ferner Vergangenheit aufgestelltes Programm der Riesenpositronik. Die Toten wurden namentlich erfaßt. Die Sektionen wurden bestimmt, in denen sie gelebt hatten. SENECA koordinierte die Termine der Trauerfeierlichkeiten, er stellte fest, ob Hinterbliebene zu benachrichtigen waren; falls es sich um eine alleinerziehende Person gehandelt hatte, wurde für die Kinder ein Vormund ausgewählt. Bei den Toten und Verletzten wurde der Ausfall in den Arbeitsplänen der Zukunft berücksichtigt, Nachfolger wurden ernannt, die entsprechenden Anordnungen weitergegeben. Lebensmittellieferungen wurden umgeleitet oder gestoppt, die Lieferstelle für Bekleidung wurde ebenso informiert wie die
Pflanzgärten, bei denen entsprechende Mengen Pflanzenschmuck für Feierlichkeiten bestellt wurden. Jurn Fernther war gefallen. SENECA registrierte, daß ein Paar Schuhe einer seltenen Größe pro Quartal weniger anfiel als früher. Eine Einzelkabine wurde frei und konnte neu belegt werden. An den Arbeitsplatz in einer der kleineren Fabriken wurde ein Robot kommandiert. Der Bildungskurs über Robotkunde, den Jurn belegt hatte, wurde um ein Mitglied geringer. Es lag eine letztwillige Verfügung des Verstorbenen vor, derzufolge das Sorgerecht für Jurns sechsjährige Tochter einem Freund zugesprochen werden sollte. Da dieser Freund in einer anderen Sektion der SOL lebte, wurde die Tochter von einer Kinderkrippe in eine andere umgebucht. Die entsprechende Schulsektion wurde von einem Wechsel unterrichtet, außerdem wurde die Gemeinschaftsverpflegung umgestellt. Über Jurn Fernther lagen in SENECAS Speicher insgesamt knapp dreitausend Daten vor, davon mehr als die Hälfte gegen Mißbrauch so gesichert, daß nach seinem Tod nur besonders autorisierte Personen Zugang zu dem Material hatten. Jurns gesamte Krankenakte wurde aus der Zugriffsdatei seines Vertrauensarztes gelöscht und unter Sicherungsschutz genommen. Es gab einige hundert Datenvorgänge, die von der einfachen Information ausgelöst wurden, daß Jurn Fernther im Kampf um das Aqua-System gestorben war. Diese Datenumarbeitung nahm nur ein paar Sekundenbruchteile in Anspruch, danach war das Problem Jurn Fernther für SENECA erledigt. Nicht erledigt war das Problem, einem kleinen Mädchen beibringen zu müssen, daß sein Vater nicht zurückkehren würde. Nicht erledigt war der doppelte Schmerz eines Freundes, der seinen Freund betrauerte und sich vor der Aufgabe fürchtete, diese Nachricht einem kleinen Mädchen beibringen zu müssen. Breckcrown Hayes wußte nichts von diesen Dingen. Aber er wußte, daß sich die wirklich wichtigen Dinge in diesen Stunden
nicht im freien Raum abspielten, nicht in den Geschützständen, nicht in den Maschinenräumen. Sie spielten sich ab in den Herzen der Menschen – und dort waren sie allein.
* »Rückzug!« ordnete Breckcrown Hayes an. Er war schweißgebadet, obwohl er sich von seinem Sitz nicht gelöst hatte. Seit Stunden tobte die Schlacht, und jede Minute, die verstrich, hatte den High Sideryt unglaubliche Kraft gekostet. Es kostete Kraft, einen kalten Blick auf den Statistikschirm zu werfen, wo die Zahlen langsam, aber unaufhaltsam in die Höhe kletterten. Es strengte an, die innere Erregung zurückzuhalten, die sich jedesmal Bahn zu brechen versuchte, wenn wieder ein Leuchtkörper auf dem Schirm auftauchte und den ehemaligen Standort eines Schiffes anzeigte, das nun vernichtet war. Dabei spielte es für den High Sideryt keine Rolle, ob es sich bei diesem Schiff um eine Einheit der EINZIGEN, um ein Schiff der Aquarianer oder um eine Space-Jet der SOL handelte. Jeder dieser Punkte signalisierte Tod. Er hätte einigermaßen zufrieden sein können. Die EINZIGEN hatten starke Verluste. Ihre Schiffe waren den Angriffen der Kreuzer und vor allem der drei Teilschiffe der Gesamt-SOL nicht gewachsen. Zwar waren auch die Zellen der SOL nicht ungeschoren davongekommen, nach einem Treffer hatte die Verletztenstatistik geradezu einen Sprung nach oben gemacht, und Hayes war nur mit Mühe seiner Schmerzen Herr geworden – aber im Gesamtergebnis ging die Flotte der EINZIGEN einer Niederlage entgegen. Das betraf allerdings hauptsächlich die kleineren Einheiten dieser Flotte. Zwei der Schiffe aber hatten sich bisher weitgehend ungeschoren
aus dem Getümmel heraushalten können, und nach SENECAS vermutlich zutreffender Interpretation handelte es sich ausgerechnet bei diesen Schiffen um jene, die das häßliche schwerkraftaufhebende Feld erzeugen konnten. Alle Versuche, diesen Schiffen beizukommen, waren gescheitert. Es schien, als besäßen sie eine Möglichkeit, die Art von Waffenenergie, die ihnen zugemutet wurde, abzuleiten oder gar aufzusaugen. Immerhin war es gelungen, diese Einheiten so weit abzudrängen, daß sie Aqua-II nicht länger beschießen konnten. Es war Rettung im letzten Augenblick gewesen. Die schützende Wasserhülle des Planeten war fast zur Gänze verschwunden, so verheerend hatten die EINZIGEN gewütet. Die Aquarianer besaßen nur noch wenige Schiffe, die kaum einsatzbereit waren, und wie es um die Moral der Besatzungen bestellt war, wollte der High Sideryt lieber nicht untersuchen. Es schien aussichtslos, diese beiden Schiffe der EINZIGEN weiter anzugreifen. Sie selbst schienen unzerstörbar, aber das hieß nicht, daß sie es nicht vermocht hätten, ihren Gegnern Schaden zuzufügen. Im Augenblick erschien es Hayes ratsam, zurückzurufen, was noch zurückfliegen konnte. Er wollte mit einigen der Kommandanten und den Stabsspezialisten besprechen, was man möglicherweise gegen die unüberwindliche Abwehr der EINZIGEN unternehmen konnte, wenn sie fortfuhren, Aqua-II anzugreifen. Breckcrown Hayes erlebte eine Überraschung. Obwohl sie weder von einer aquarianischen noch von einer Einheit der SOL angegriffen wurde, verging eine der beiden Stammeinheiten der EINZIGEN in einer gewaltigen Explosion. Breckcrown Hayes kniff die Augen zusammen. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?«
9. Wir saßen in der Klemme, und ich sah keine Möglichkeit, da herauszukommen. Das Ablenkungsmanöver war geglückt. Der größte Teil der Gruppe war in Sicherheit, aber dafür steckten Bjo und ich in einer geradezu scheußlichen Lage – eingeklemmt zwischen den beiden Gruppen der EINZIGEN. Und es ging auf den Transmitter zu. Die EINZIGEN hatten es eilig, und das verhinderte, daß wir sie erwischen konnte. Wir setzten ihnen nach, in der Hoffnung, sie im Transmitterraum stellen zu können. Bjo blieb stehen. »Jetzt haben wir eine Chance!« flüsterte er. »Sie warten auf ihre Kameraden.« Wir wechselten einen raschen Blick, dann riß ich die Tür auf und stürmte in den Transmitterraum. Bjo setzte in Gedankenschnelle nach. Der überraschende Angriff gelang. Wir schafften es in einem unglaublich schnellen, hektischen Kampf, die EINZIGEN auszuschalten. Dann aber machte mich Bjo darauf aufmerksam, daß die nachfolgende Gruppe heranrückte. Es gab nur noch einen Ausweg den nach vorn. Das Transmitterfeld stand – aber wir würden vermutlich in der Höhle des Löwen herauskommen, in einem der Schiffe der EINZIGEN. »Vorwärts!« sagte ich. »Wir haben keine andere Wahl!«
* Die Einrichtung hätte die der SOL sein können, wären nicht die extrem schmalen Türen gewesen und die andersartigen Beschriftungen. Offenbar hatte man nicht damit gerechnet, daß der ausgeschickte
Stoßtrupp so rasch zurückkehrte. Die Gegenstation des Transmitters war unbesetzt. »Glück muß man haben«, murmelte Bjo. Da in jedem Augenblick unsere Verfolger auftauchen konnten, hatten wir nicht viel Zeit. Als erstes galt es, ein Versteck zu finden. Was wir taten, war heller Wahnsinn – in dem Schiff wimmelte es von EINZIGEN, und wir konnten sicher damit rechnen, daß keiner von ihnen auch nur einen Herzschlag lang zögern würde, uns niederzuschießen, wenn wir gesehen wurden. Es kam ganz und gar auf Bjo an, uns rechtzeitig zu warnen, wenn einer der EINZIGEN uns bedrohlich nahe kam. Aber trotz Bjos Fähigkeit blieb es ein Lotteriespiel mit vielen tödlichen Nieten und nur einem Haupttreffer. »Kannst du etwas in Erfahrung bringen?« fragte ich Bjo. »Vielleicht kannst du den Kommandanten erwischen.« »Das versuche ich gerade.« Wir hatten eine Rumpelkammer gefunden, in der seltsame Geräte herumstanden, deren Sinn und Zweck wir nicht begriffen. Die dicke Staubschicht ließ allerdings vermuten, daß die EINZIGEN sich hier nicht oft blicken ließen. Bjo stieß mich an. »Es sieht so aus, als hätten die EINZIGEN sich mit der SOL angelegt und dabei eine Niederlage einstecken müssen. Der Kommandant ist allerdings nicht sehr besorgt, er vertraut darauf, daß die Spezialwaffen dieses Schiffes ihm helfen werden. Sie haben eine Art Gravitations-Neutralisator an Bord.« »Daraus erklärt sich wahrscheinlich der Name GravoEnergetiker«, vermutete ich. »Er hat auch weiterhin vor, Aqua anzugreifen«, berichtete Bjo weiter. »Aha, unsere Freunde aus der Station sind angekommen. Sie schäumen vor Wut.« »Bleibe bei dem Kommandanten«, bat ich Bjo. »Ich möchte soviel wie möglich über dieses Volk in Erfahrung bringen.«
»Er denkt daran, den Beherrscher Keit anzurufen«, gab Bjo bekannt. »Es scheint eine Art König oder Diktator der EINZIGEN zu sein. Jetzt denkt er an die Heimatwelt. Sie ist weit entfernt, mindestens vierzigtausend Lichtjahre. Die Sonne heißt Gers, der Planet Gersenter.« Das hörte sich einfach an, aber ich konnte mir ausmalen, wie kompliziert es für Bjo war, aus den sich überschlagenden Gedanken des Kommandanten diese Fakten auszufiltern. Bjo öffnete kurz die Augen und sah mich an. »Es sieht so aus, als seien die EINZIGEN tatsächlich die beherrschende Kraft des Universums«, sagte er. »Es ist natürlich möglich, daß der Kommandant sich das nur einbildet, aber ich fürchte, wir müssen von dieser Tatsache ausgehen.« Er schloß wieder die Augen. Ich stieß ihn an. In der Nähe waren Maschinengeräusche zu hören. »Keine Aufregung«, murmelte Bjo. »Ein Reparaturkommando, ich habe sie längst erfaßt. Sie wollen nicht zu uns. Ich bin wieder bei dem Kommandanten. Er denkt über die SOL nach.« Ich sah, wie sich Bjos Körper anspannte. Offenbar fing er höchst wichtige Informationen auf. »Löcher in das Jenseits«, murmelte Bjo. »Er denkt, wir wären durch eines dieser Löcher gekommen, und er fürchtet, wir könnten auf demselben Weg wieder verschwinden.« Diese Information war für uns unersetzlich wertvoll – es gab also eine Möglichkeit, aus dem Sternenuniversum wieder in unser Raum-Zeit-Kontinuum zurückzukehren. Schlimm war nur, daß offenbar nur die EINZIGEN mehr über diese Löcher ins Jenseits wußten – ich kam mir vor wie ein Todkranker, der das lebensrettende Serum in den Händen seines Todfeindes weiß. Keine besonders erfreulichen Aussichten. »Kannst du Einzelheiten erfassen?« Bjo schüttelte den Kopf. »Der Kommandant ist technisch nicht sehr beschlagen, und von
solchen Dingen wie Dimensionsverbindungen hat er nicht die geringste Ahnung. Ich habe festgestellt, daß die EINZIGEN ihre eigene Technologie nicht mehr so beherrschen wie früher- sie entwickeln sich zurück.« »Kein Wunder«, kommentierte ich. »Wer ständig schießt, hat keine Zeit zu forschen.« »Nichts mehr«, sagte Bjo. »Er ergeht sich in Privatem. Aber jetzt habe ich wieder die EINZIGEN erwischt, die wir in der Station getroffen haben. Sie haben sich ausgerechnet, daß wir hier sind.« Ich murmelte eine Verwünschung. »Wollen sie uns suchen?« Bjo sah mich an. »Sie fangen gerade damit an.« Viel mehr als das, was Bjo telepathisch erfahren hatte, würden wir nicht an Erkenntnissen sammeln können. Was diesen Teil des Unternehmens betraf, konnten wir uns absetzen. Anders sah es aus, was die Station anging. Vorsichtshalber fragte ich bei Bjo noch einmal an. »Es stimmt«, sagte Bjo. »Der Kommandant ist sich sicher, daß die SOL seinem Schiff nicht gefährlich werden kann. Er will im AquaSystem bleiben.« Da man an Bord der SOL vermutlich nichts von der Transmitterverbindung wußte, bedeutete das, daß die EINZIGEN ihr Werk der Zerstörung ungestört weitertreiben konnten. Wir mußten um jeden Preis verhindern, daß sie den Transmitter von Aqua-I unter ihre Kontrolle brachten. Der einzig brauchbare Weg dazu schien mir die Zerstörung des Bordtransmitters in diesem Schiff zu sein. »Bjo, wir brauchen Sprengmaterial. Kannst du herausfinden, wo so etwas zu finden ist?« »Puh, das wird schwer werden. Aber ich werde es versuchen.« Minuten vergingen, in denen Bjo sich nur auf seine telepathischen Fähigkeiten konzentrierte. Es waren kostbare Minuten, denn man
suchte uns bereits. Das Versteckspiel konnte sich nicht ewig hinziehen – früher oder später wurden wir gefaßt. »Ich habe etwas gefunden«, sagte Bjo plötzlich. »In unserer Nähe ist ein Depot für Sprengmaterial.« »Dann machen wir uns am besten auf den Weg.« Bjo sicherte uns. Wir mußten Haken schlagen, um unser Ziel zu erreichen, weil überall an Bord nach uns gesucht wurde. Zum Glück war ein Schiff dieser Größe nicht so leicht zu durchkämmen, und wenn das gehetzte Wild obendrein stets wußte, in welcher Richtung sich die Jäger bewegten, hatte es eine leidliche Chance, durchzukommen. Allerdings kostete diese Flucht viel Kraft – einige Male konnten wir uns nur durch wahre Panthersätze vor einer Patrouille in Sichtschutz bringen. Wir brauchten daher fast eine Stunde, bis wir den Raum erreichten, den Bjo nur deshalb gefunden hatte, weil einer der EINZIGEN an diesen Raum gedacht hatte. Der Zugang wurde durch ein Impulsschloß in einem Schott gesichert. »Die Luft ist rein – wir haben ein paar Minuten Zeit«, sagte Bjo. Ich deutete auf das Schloß. »Wenn wir das Ding zerstören, gibt es Alarm – und dann wissen sie, wo wir stecken.« »Ich weiß«, sagte Bjo. Er hob die Beutewaffe und gab eine Serie von Schüssen auf das Schloß ab. Nach kurzer Zeit war es zerstört. Mit vereinten Kräften drückten wir das Tor auf. Der Raum dahinter lag im Dunkel. Hastig rafften wir das zusammen, was uns in die Hände kam. Es waren Haftladungen und ein größerer Sprengkörper, den ich mir auflud, weil Bjos Kräfte nicht von einem Zellaktivator regeneriert wurden und damit haushälterisch umgegangen werden mußte. »Fertig? Dann weg von hier – zurück zum Transmitterraum!« Der Rückzug erwies sich als noch schwieriger. Ich hatte richtig kalkuliert. Das zerstörte Schloß hatte den EINZIGEN genau verraten, wo wir zumindest für ein paar Minuten gesteckt hatten.
Aus der Treibjagd wurde nun ein Kesseltreiben. Der Ring der Patrouillen wurde zusehends enger. Ich konnte an Bjos Gesicht ablesen, wie sehr er sich anstrengen mußte, diese Meute telepathisch unter Kontrolle zu halten. Für ein paar Minuten versteckten wir uns in einer weiteren leeren Kammer, danach mußten wir eine Dreierpatrouille außer Gefecht setzen, um weiterkommen zu können. All das gab dem Gegner natürlich Hinweise – ich hatte allerdings die Hoffnung, daß dadurch den EINZIGEN auch der atemraubende Zickzackkurs klar wurde, den wir durch das Schiff beschrieben – vielleicht half das, sie zu verwirren. Möglich war aber auch, daß ein Bordrechner die Daten sammelte und uns auf die Schliche kam – daß ein Telepath an Bord war. »Werden wir auch von Robots gesucht?« fragte ich Bjo während einer Verschnaufpause. »Bis jetzt nicht«, stieß Bjo keuchend hervor. »Sie haben den Ehrgeiz, uns lebend einzufangen. Sie wollen uns verhören, wenn sie uns erwischen – was die EINZIGEN so verhören nennen.« Ich konnte mir ausmalen, was er mit diesem Nachsatz ausdrücken wollte. Es ging für uns um Kopf und Kragen. »Weiter!« Bjo führte uns. Wir schlugen einen weiten Bogen, der uns von der Transmitterkammer fortführte, und vorsichtshalber hinterließen wir sogar Spuren, die einen Kurs ins Innere des Schiffes andeuteten – auf die Zentrale zu. Vielleicht fielen die EINZIGEN darauf herein. »Und jetzt zurück«, ächzte Bjo. »Der Weg zur Transmitterkammer ist gerade frei.« Wir nahmen die Beine in die Hand. Die Sprengladung, die ich schleppte, schien jede Minute ein Kilo schwerer zu werden, und Bjo keuchte und schnappte immer heftiger nach Luft. Schweiß bedeckte meinen Körper, und die Handflächen waren feucht. Es wurde immer schwerer, das glatte Metall des Sprengkörpers zu halten.
»Zwei Wachen im Transmitterraum«, keuchte Bjo. »Im Augenblick sehen sie zur Tür.« »Wir warten. Gib Bescheid, wenn wir sie überraschen können.« »Keine Zeit mehr!« stieß Bjo hervor. »Eine Patrouille kommt.« Jetzt war jede Sekunde kostbar. Ich legte die Bombe ab und griff zur Waffe. Noch immer verwendete ich den Paralysator, den ich Perester Fassyn abgenommen hatte. Die Tür flog auf. Zwei Waffenstrahlen zischten über uns hinweg. Wir lagen fast auf dem Boden und feuerten zurück. Zwei Treffer setzten die EINZIGEN außer Gefecht. »Gib mir Deckung!« Ich schleppte die Sprengkörper in den Transmitterraum. Die Ladung sollte ausreichen, die Anlage zu zerstören. Fraglich war nur, ob ich in dieser Eile den Zeitzünder richtig einstellte. Es war auch denkbar, daß ich die Bombe unabsichtlich sofort zündete, aber das Risiko ließ sich nicht vermeiden. Kontaktladungen an die Steuerpulte, die große Ladung an den Sockel des Geräts. Dann der spannende Augenblick, ein Dreh am Zünder. Die Bombe flog nicht hoch, aber eine Leuchtdiode begann langsam zu blinken. Bjo war auf dem Gang geblieben und hielt die EINZIGEN in Schach. Er war das einzige Lebewesen, das ich kannte, daß einen solchen Angriff abwehren konnte – mit der unglaublichen Bewegungsschnelligkeit kam niemand mit. »Bjo – wir können verschwinden!« »Eine Sekunde noch!« Ein paar Augenblicke später tauchte Bjo auf. Er rannte auf den Transmitter zu. Obwohl ich früher gestartet war, überholte er mich. Dann ging es – hoffentlich – zurück zur Station.
*
Wir waren dem Zusammenbruch nahe, aber wir schafften es, wieder auf die Beine zu kommen. »Weg!« Es gab nicht mehr zu sagen. Die Freunde, die in der Gegenstation in Aqua-I auf uns gewartet hatten, begriffen sofort, was wir meinten. Sie halfen uns auf. »In den Schaltraum. Wir müssen den Transmitter ausschalten, bevor die EINZIGEN uns nachsetzen können oder die Schiffsanlage hochgeht.« »Was habt ihr gemacht?« fragte Nockemann, während er mir half. Es ging entsetzlich langsam, die Beine wollten nicht mehr recht. »Sprengladung am Transmitter im Schiff der EINZIGEN«, stieß ich hervor. »Was für eine Ladung?« »Keine Ahnung, möglicherweise eine atomare. In der Eile konnte ich nicht nachsehen.« »Dann ist es höchste Zeit«, stieß Nockemann hervor. Ich sah, daß er bleich geworden war. »Wenn die Energie vom Transmitter zu uns geschickt wird, reicht das aus, auch diese Station zu zerstören.« Daran hatte ich in der Hektik des Kampfes gar nicht gedacht. Nockemann hatte zweifelsfrei recht. Es kam auf jede Sekunde an. Aber es schien Stunden zu dauern, bis wir endlich den Raum erreicht hatten, von dem aus der Transmitter gesteuert werden konnte. Ich lehnte mich gegen eine Wand. »Bjo, jetzt kommt deine Stunde – erkläre Sanny, was du gesehen hast.« Die Zeit drängte. Ich spürte jeden Herzschlag, der uns der Vernichtung entgegenzutreiben schien. Bjo war völlig erschöpft, aber er riß sich zusammen. Er brachte es sogar fertig, seine Erklärung mit der Ruhe vorzubringen, die nötig war, damit Sanny ihn verstand. Die Molaatin machte sich an die Arbeit. Niemand drängte oder hetzte die beiden – aber die Bildschirme
verrieten, daß die ersten Jäger in der Station aufgetaucht waren. Einer nach dem anderen erschien im Transmitterraum, und alle waren schwer bewaffnet. Es wurden immer mehr – zwölf, zwanzig, dann fast vierzig. Sanny behielt die Ruhe, obwohl sie ebenfalls sehen konnte, was sich abspielte. Und an Bord des EINZIGEN-Schiffes tickte eine Zeitbombe. Hoffentlich wurde sie nicht gefunden – sonst waren wir unrettbar verloren. Die EINZIGEN konnten sich Zeit lassen, um uns einzukesseln. Niemand wußte, daß wir hier waren, keiner konnte uns zu Hilfe kommen. »Geschafft!« stieß Sanny hervor. Der Bildschirm zeigte, daß sie sich nicht geirrt hatte. Perester Fassyn stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und sank ohnmächtig zu Boden; die Aufregung der letzten Stunden war wohl mehr gewesen, als der alte Nuun zu ertragen in der Lage war. Vielleicht hatte er das beste Los gezogen. Denn das, was uns in den nächsten Stunden bevorstand, würde noch härter zu ertragen sein.
10. Sie ließen sich Zeit. Bjo hatte ihre Gedanken aufgefangen. Die EINZIGEN wußten, daß der Transmitter abgeschaltet war. Sie wußten, wer ihn desaktiviert hatte, und sie kannten auch den Ort, an dem die Schaltung vorgenommen worden war! Wenn wir die Beherrschung des Transmitters nicht aus der Hand geben wollten, war den EINZIGEN auch klar, wo sie uns finden konnten – im Schaltraum. Es war ein Hasardspiel auf Leben und Tod. War unsere Bombe im Transmitterraum des Schiffes
hochgegangen, dann konnten wir den Schaltraum preisgeben. Zumindest war dann den EINZIGEN der Rückweg in ihr Schiff versperrt. Mit Bjos Hilfe konnten wir dann nach und nach einen der EINZIGEN nach dem anderen ausschalten. War die Bombe gefunden und entschärft worden, dann bedeutete die Preisgabe des Schaltraums, daß eine Invasionswelle nach der anderen über uns hereinbrechen würde. Dieser Streitmacht hatten wir nichts entgegenzusetzen – Aqua-I und wir waren dann der Willkür der EINZIGEN preisgegeben, und das hieß Tod. Diese Wahl hatten wir nur aus einem einzigen Grund – Bjo hatte den wuterfüllten Gedanken der EINZIGEN entnommen, daß sie zunächst an unserer Vernichtung interessiert waren. Erst später wollten sie mit Hilfe des Transmitters die Eroberung oder Vernichtung von Aqua-I einleiten. »Wir sitzen in der Falle«, stellte Sanny fest. »Richtig«, stimmte ich zu. »Was machen wir – geben wir den Schaltraum auf, oder versuchen wir ihn zu halten?« Alles hing davon ab, ob die Bombe gezündet hatte oder nicht. Wir konnten nichts darüber wissen, entscheiden mußten wir uns trotzdem – und das bald. Obwohl die EINZIGEN sich Zeit ließen – absichtlich, wie Bjo ermittelt hatte – war der Augenblick abzusehen, an dem der Kampf entbrennen würde. Bjo hatte noch ein paar Haftladungen mitgebracht, dazu hatten wir die Beutewaffen des Gegners; angesichts der Streitmacht, die uns bedrohte, kein gewaltiges Aufgebot. »Wir könnten einige Leute aus der Station bewaffnen«, schlug Fallund Kormant vor; er machte sich besondere Sorgen, weil während unserer Abwesenheit seine Freundin in Aqua-I aufgetaucht war, auch sie von Tautilla Fassyn verbannt. Ich schüttelte den Kopf. »Davon halte ich nichts«, versuchte ich zu erklären. »Sie wissen mit den Waffen der EINZIGEN nicht umzugehen. Es hört sich
grotesk an, aber sie würden wahrscheinlich eher hinderlich als förderlich sein.« »Wir brauchen eine Entscheidung«, sagte Bjo. »Bald.« Fallund Kormant sah mich flehentlich an. »Wollt ihr das Schicksal dieses Volkes diesen Wesen überlassen, indem ihr ihnen diese Schaltanlagen zugänglich macht?« fragte er leise. »Sanny, kannst du den Transmitter gezielt zerstören? So, daß es noch eine Verbindung zwischen den Aqua-Welten gibt, daß aber kein Wasser nach Aqua-II fließen kann?« »Das ist möglich«, sagte die Molaatin. »Aber nicht in dieser kurzen Zeit. Tut mir leid.« »Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen«, sagte ich. »Ich bin dafür, den Schaltraum zu räumen. Später können wir ihn uns zurückholen – die EINZIGEN werden nicht viel damit anfangen können, und zerstören werden sie ihn mit Sicherheit nicht. Sie brauchen die Anlage, um an Bord ihres Schiffes zurückkehren zu können.« »Ich stimme zu«, sagte Bjo, und die anderen schlossen sich ihm an. Nachdem die Entscheidung gefallen war, gab es nur noch eines – rascher Aufbruch. Wir verließen den Schaltraum und hetzten durch die Station. Es war kein Zufall, daß wir dabei deutliche Spuren hinterließen. Wir wollten die EINZIGEN damit von den anderen Bewohnern der Station ablenken, die in ihren Quartieren keinerlei Widerstandschancen hatten und wahrscheinlich furchtbar dezimiert worden wären, hätten die EINZIGEN die Wehrlosen entdeckt. »Wir versuchen, die Wandung der Station zu erreichen«, bestimmte ich. »Vielleicht finden wir dort eine Möglichkeit, Aqua-I zu verlassen.« »Reichlich optimistisch«, ließ sich Bjo vernehmen. Was blieb uns anderes übrig, als zu hoffen? Wir eilten weiter. Bjo und Kormant trugen den noch immer ohnmächtigen Perester
Fassyn, wir konnten ihn schließlich nicht den EINZIGEN überlassen. Die Sektion von Aqua-I, die wir erreichten, war vermutlich der älteste und muffigste Teil der gesamten Anlage. »Sie sind auf unserer Spur«, berichtete Bjo. »Sie haben einen Infrarotdetektor dabei, der ihnen unsere Spuren zeigt.« Damit war es natürlich leicht, die Verfolgung durchzuführen. Auf ein Versteckspiel durften wir es jetzt nicht ankommen lassen. Sie würden uns unweigerlich finden. In Bewegung bleiben hieß die Devise, kein Stillstand. »Sie schwärmen aus«, wußte Bjo zu berichten. Zweiundzwanzig Kilometer Durchmesser hatte der Kern des Planeten, ein ziemlich gewaltiger Raum, sich darin zu verstecken – aber nicht, wenn der Gegner mit Detektoren jede Bewegung erfassen konnte. »Wir trennen uns«, bestimmte ich. »Später können wir wieder zusammentreffen, aber zunächst wollen wir den EINZIGEN ein paar Rätsel aufgeben.« Wenn sie unseren Spuren mit dem Infrarotdetektor folgten, dann mußten sie an dieser Stelle bemerken, daß wir uns getrennt hatten – und dann bestand für sie das Problem darin, die richtige Fährte auszuwählen. Daß wir uns wieder treffen würden, konnte sie nicht ahnen. Die Übermacht war gewaltig, aber vielleicht hatten wir so eine Chance. Ich rannte, was Beine und Lungen hergaben. Ich schlug Haken, lief ein Stück auf meiner Spur zurück, bewegte mich im Kreis. Viel würde es nicht helfen, aber es verzögerte die Verfolgung – und jede Minute war kostbar. Nicht, daß ich Hilfe erwartet hätte. Woher hätte die kommen sollen? Aber vielleicht gab uns diese langwierige Hetzjagd Zeit zum Nachdenken. Irgendeinen Weg mußte es geben, auf dem diese Wesen zu erledigen waren.
Ich legte eine kurze Verschnaufpause ein. Wie lange war ich jetzt schon unterwegs? Stunden, Tage? Ich wußte es nicht. Es erschien mir unendlich lange zu sein. Weiter, befahl ich mir selbst. Der Extrasinn half mir, nicht die Orientierung zu verlieren. Er sagte mir auch, daß ich mich allmählich der Außenwand der Station näherte. Die Räume waren dunkel und leer. Nur ein wenig Ungeziefer – wahrscheinlich von Aqua-II hierher verschleppt – trieb sich herum, und es gab so gewaltige Mengen von Staub, daß sich die EINZIGEN allein nach den Fußspuren richten konnten, um uns zu finden. Dann entdeckte ich die Schleusenkammer. Sie war leer. Nur die Einrichtung verriet, daß man hier die Station verlassen konnte. Ich ärgerte mich. Es gab keine Raumanzüge, keine Boote, nichts, was mir weitergeholfen hätte. Und im nächsten Augenblick verriet mir der Lärm, daß mein Hakenschlagen vergeblich gewesen war. Sie hatten mich gefunden – und ich saß in einer mehr als häßlichen Falle. Ich warf mich in Deckung. Ich konnte nicht mehr tun, als mich so teuer wie möglich zu verkaufen. Die ersten Strahlschüsse zischten über mich hinweg und landeten am hinteren Ende der Schleusenkammer. Eine boshafte Freude erfüllte mich, als ich sah, daß die EINZIGEN in ihrer Angriffslust dabei waren, die Wandung der Schleuse zu zerstören. Taten sie das, drang vermutlich Wasser in die Station ein. Dann aber dachte ich an die Aquarianer, die unser Schicksal teilten, wenn die Station zerstört wurde, und eine wilde Wut erfüllte mich auf die Wesen, die so leichtfertig und unbekümmert mit dem Leben anderer Intelligenzen umgingen. Ich feuerte zurück. Fassyns Paralysator tat gute Dienste. Zwei der
Gegner konnte ich niederstrecken, bevor ich mich wieder in Deckung werfen mußte. Die EINZIGEN wollten mich lebend, und das gab mir ein paar Minuten. Sie nahmen die Decke über mir unter Feuer. Verflüssigtes Metall spritzte herum und sengte mir Löcher in die Kleidung und Haare. Ich rollte mich zur Seite. Ausweglos – es gab keine Fluchtmöglichkeit. Der einzige Weg führte genau auf die EINZIGEN zu, und ich hatte keine Lust, ins Verderben zu laufen. Ruhe bewahren, gab der Logiksektor von sich. In einer solchen Lage sagte sich das leicht. Ich sprang auf, hechtete zur Seite und versuchte gleichzeitig zu schießen. Der breitgestreute Paralysatorstrahl traf. Wieder sanken zwei der EINZIGEN zu Boden. Und dann sah ich, aus den Augenwinkeln, wie noch einer der Angreifer umkippte. Sehr vorsichtig streckte ich den Kopf aus meiner Deckung. Ich sah nur noch fallende Gestalten, und dann erschien jemand in meinem Blickfeld, den ich am wenigsten dort erwartet hatte. Bora St. Felix.
* »Das war Rettung in buchstäblich letzter Sekunde«, sagte ich. Das heiße Getränk tat mir gut, und ein Wundgel sorgte in Zusammenarbeit mit dem Zellaktivator dafür, daß die wenigen Verletzungen, die ich abbekommen hatte, auch rasch ausheilen konnten. Ich saß in der Zentrale des Kreuzers, der Bora und ihre Leute nach Aqua-I gebracht hatte. Mit deren Hilfe war es uns gelungen, die verbliebenen EINZIGEN niederzukämpfen. Jetzt befanden wir uns auf dem Rückflug zur SOL. Ein Paar Techniker unter Sannys Leitung waren dabei, sich mit dem
Transmitter zu beschäftigen. Wenn sie es nicht schafften, den Wassertransport aus dem Nirgendwo zu stoppen, konnten sie wenigstens dafür sorgen, daß Aqua-II niemals wieder auf diese Art und Weise von Vernichtung bedroht sein würde. Bora hatte sofort nach dem Verlassen der Wasserhülle von Aqua-I eine Funkverbindung zu Breckcrown Hayes hergestellt. Das Gesicht des High Sideryt sah mich vom Bildschirm herab an. Er wirkte müde und deprimiert; die Verluste, die die SOL während des Kampfes erlitten hatte, waren nicht gewaltig – aber für Hayes, und das galt auch für mich, war schon ein einziger Toter zuviel. »Wie sieht die Lage bei euch aus?« fragte ich Hayes. »Wir haben noch eines der Schiffe auf den Ortern«, sagte der High Sideryt. »Es entfernt sich langsam aus dem System.« »Wir müssen nachsetzen«, erklärte ich Hayes. »Die EINZIGEN wissen einen Weg aus diesem Sternenuniversum – allein deswegen können wir sie nicht unverfolgt lassen.« »Woher weißt du das?« »Bjo hat es telepathisch erfahren«, erklärte ich. »Was geht auf den Aqua-Welten vor?« »Die Aquarianer wissen offenbar nicht recht, ob sie lachen oder weinen sollen. Sie haben einen fürchterlichen Blutzoll gezahlt, aber nun ist Aqua wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt worden. Die Nuun, wie sie sich nennen, können wieder auf dem trockenen Boden leben – vorausgesetzt, die Welt wird nicht schon wieder überschwemmt.« »Ortung! Die Space-Jet ist aus der Wasserhülle aufgetaucht.« »Eine Verbindung!« forderte ich. Wenig später konnte ich mit Sanny sprechen. Die Molaatin hatte sehr erfreuliche Nachrichten für uns. »Wir können den Transmitter beherrschen«, gab sie bekannt. »Die Aquarianer sind nun selbst in der Lage, darüber zu bestimmen. Kormant und Fassyn wollen über die Transmitterstrecke zu ihrer
Heimat zurückkehren und die rebellische Tochter zur Räson bringen.« »Das dürfte so schwer nicht sein«, warf Hayes ein. »Ich habe gerade mit ihr über Funk gesprochen – sie ist völlig mit den Nerven am Ende und vermutlich heilfroh, wenn man sie in Ruhe läßt.« »Und das Wasser?« Sanny stieß ein Lachen aus. »Wir haben zwar keine Ahnung, woher es kommt, aber wir kennen nun zwei Orte, zu denen es nicht mehr gelangen kann – die beiden Aqua-Welten. Der Hahn ist endgültig abgedreht.« Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und versuchte, mir die Stimmung der Aquarianer vorzustellen – der Tag der Erlösung von dem Alpdruck, der Jahrhunderte auf ihnen gelegen hatte, war nun endgültig gekommen. Es fragte sich nur, ob der Preis, den dieses von Natur aus freundliche Volk dafür hatte zahlen müssen, nicht zu hoch war – aber das zu entscheiden war nicht unsere Sache. »Flieg uns nach und komm an Bord«, empfahl ich Sanny. »Das werde ich tun«, antwortete die Molaatin. »Ich habe Ruhe und Frieden dringend nötig.« »Wie geht es Foster?« fragte ich den High Sideryt. Er lächelte. »Foster ist wohlauf, aber er kann sich nach wie vor an nichts erinnern. Es bleibt abzuwarten, ob diese Telepathie eine Eintagsfliege war oder Bestand haben wird. Dergleichen kann man nie genau vorhersagen.« Die Nachrichtentechniker bekamen in diesen Minuten zu tun, denn von Aqua-II aus meldeten sich nun neue Gesprächspartner. Die Ringverbindung war rasch hergestellt. Von der Bodenstelle auf Aqua-II kamen allerdings nur Tonsignale. »Fallund Kormant spricht«, klang es aus den Lautsprechern. »Wir haben es geschafft, Atlan – wir sind im früheren Höllenschlund. Perester Fassyn ist bei mir.«
»Und Tautilla?« »Sie hat ihr Amt zurückgegeben und sich zurückgezogen. Sie wird viel Zeit brauchen, bis sie sich von diesem Schock erholt hat.« »Was werdet ihr nun machen?« wollte der High Sideryt wissen. »Wir werden den Planeten Neu-Aqua nennen, denn er ist in diesen Tagen zum dritten Mal zur Heimat für uns geworden. Die Transmitterverbindung zwischen den beiden Stationen bleibt bestehen, aber es wird künftig keinen Höllenschlund und keine Verbannten mehr geben.« »Wird Fassyn wieder das Amt des Bewahrers übernehmen?« fragte ich. Die Stimme des alten Nuun klang matt aus den Lautsprechern. »Ich fühle mich zu alt dazu«, sagte Perester Fassyn. »Ich bin der Verantwortung müde. Ich werde daher meinem Volk vorschlagen, einen neuen Bewahrer zu berufen – und ich werde Fallund Kormant für dieses Amt vorschlagen.« »Das ist mehr, als ich annehmen kann«, wehrte sich der Nuun. »Ich bin noch viel zu jung für so ein hohes Amt.« »Macht das unter euch aus«, schlug ich lachend vor. Diese Art von Konflikten ließ sich wesentlich leichter lösen als das, was hinter uns lag. »Wir danken euch jedenfalls für die Hilfe, die ihr unserem Volk gewährt habt.« Was sollte ich dazu sagen? Die beiden konnten nicht wissen, daß ich befürchtete, daß es ausgerechnet die SOL gewesen war, die das Interesse der EINZIGEN wieder auf die Aqua-Welten gelenkt hatte. Genau konnte man das nicht wissen, erst wenn wir die Bewohner des Planeten Gersenter befragt hatten. Aber die Ahnung, daß meine Kalkulation richtig sein könnte, belastete mich sehr. »Vielleicht sehen wir uns einmal wieder«, sagte Fallund Kormant. »Ich würde euch gerne als Gäste meines Volkes auf Nuun, Verzeihung: Neu-Aqua begrüßen, auch wenn hier viel zerstört worden ist.«
»Ich fürchte, dazu haben wir keine Zeit«, gab ich zurück. Der Kreuzer hatte die SOL erreicht, die sich wieder komplettiert hatte. Auch die Space-Jet mit Sanny und den Technikern hatte dicht aufgeschlossen. »Was habt ihr vor?« fragte Kormant. Ich sah Hayes an. »Wir werden die Spur der EINZIGEN aufnehmen und zu ihrem Heimatplaneten zurückverfolgen«, gab er bekannt. Die restlichen Gedanken verschwieg er – daß wir nämlich in jedem Fall dafür sorgen mußten, daß die EINZIGEN keinen neuen hinterhältigen Angriff auf die Nuun starteten. Wie wir das bewerkstelligen sollten, war eine Frage, die nur die Zukunft beantworten konnte. War diese Frage gelöst, tauchte das nächste Problem auf – jenes, das den Solanern am meisten auf den Nägeln brannte. Wie kamen wir aus dem Sternenuniversum wieder heraus? Und was mochte sich in dem Kontinuum inzwischen ereignet haben, das wir verlassen hatten? Es gab viele solcher Fragen – und es sah danach aus, als wäre die Lösung nur bei den EINZIGEN zu finden, ein Gedanke, der einem Alpdrücken verschaffen konnte.
* Vergangen sind viele Zeiten. Für alle Zeiten ausgelöscht ist der drängendste meiner Feinde. Meine Hyperenergie wird ihn ausgelöscht haben. Und sollte er es geschafft haben, dies zu überleben, so wird sein Geist umnachtet und sein Hirn verfinstert sein. Wahnsinn wird ihn für immer gefangenhalten. Nicht bekommen konnte ich die SOL. Indessen – es ist nicht wichtig. Meinen Feinden und den Feinden meines Schöpfers wird sie nicht mehr nutzen können – auch sie ist ausgeschaltet für immer. Gefangen in fremder Dimension, verschlagen ins Unbekannte durch
meine Kraft und meinen Willen, wird sie niemals zurückkehren. Sie wird in der leblosen Zone vergehen, für immer verschwinden. Wenn es dort selbst mir zu unwirtlich erscheint, wie sollen sie es dort aushalten können … Beseitigt sind die Störenfriede – Atlan und die SOL. Immerhin haben sie mir etwas hinterlassen. Einen neuen Namen. Hidden-X. Habe ich etwas übersehen? Wo verbirgt sich der Schalter? Flüchtet er noch immer? Schwächling. Vielleicht sollte ich mir neue Diener suchen. Denn meine Kraft ist zurückgekehrt. Stark und mächtig stehe ich da – ich, Hidden-X.
ENDE
Nach der Rettung der Aquarianer durch die SOL blenden wir um zu Oggar, dem Träger des Multi-Bewußtseins, und Insider, dem Extra. Sie sind dem »Schalter« auf der Spur – und ihre Aktionen spielen sich ab IM REICH DER DYNURER … IM REICH DER DYNURER – so lautet auch der Titel des nächsten AtlanBandes. Der Roman wurde von Horst Hoffmann geschrieben.