Richard Hey Die schlafende Schöne in Formalin und andere frühe Erinnerungen
Inzwischen gehörte die Schöne mir. Auch wen...
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Richard Hey Die schlafende Schöne in Formalin und andere frühe Erinnerungen
Inzwischen gehörte die Schöne mir. Auch wenn ich nicht mehr zu ihr hinunterstieg, ich sah sie ja deutlich vor mir, wann immer ich wollte. Ich spielte trotz miserabel schwacher linker Hand einen von mir nicht allzu schlecht erfundenen Chopin für sie. Als die Amsel plötzlich dazwischensang, brach ich ab, wiederholte nur ihre Fideliotöne. Und plötzlich machte die Amsel mit. So lebte ich in den Tagen nach der Zerstörung Frankfurts mit einer Amsel, die Beethoven sang, und einer schlafenden Schönen in Formalin.
Richard Hey Die schlafende Schöne in Formalin Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt Umschlagfoto: Bertram Hey Ullstein Verlag Berlin, München 2003 ISBN 3-550-08409-9
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch Mit Distanz, wo sie nötig ist, mit Nähe, wo er sie zulassen kann, mit Witz, den er auch in gar nicht komischen Situationen zu finden weiß, mit einem großen Maß an Phantasie, die sein Leben bestimmt, erzählt Richard Hey Geschichten aus der Zeit, die ihn prägte. Er war zwölf, als die Synagogen brannten in Frankfurt, sechzehn, als er einer abenteuerlichen antinazistischen Hitlerjugend-Einheit angehörte und Luftwaffenhelfer wurde, neunzehn, als es endlich vorbei war mit dem uniformierten Wahnsinn. Für den Sohn aus »gutem Hause«, der Musiker werden wollte, waren Träume oft realer als die surreale Umwelt, der er sich ausgeliefert fühlte. In Momentaufnahmen voller Poesie, Schilderungen erschreckend genau, berichtet er, wie er davonkam und die ersten Jahre nach dem 8. Mai 1945 als »Neugeborener« mit Geliebter und späterer Frau verbrachte. Und warum es Hoffnung für diese Welt nur durch die Frauen geben kann.
Der Autor
Richard Hey, geboren 1926, lebt in Berlin. Autor, Regisseur von Hörstücken, Fernsehfilmen und Schauspielen und Übersetzer aus dem Italienischen. Wichtigste Buchveröffentlichungen: »Ein Mord am Lietzensee« (1973), »Engelmacher &. Co« (1975), »Ohne Geld singt der Blinde nicht« (1981), »Im Jahr 95 nach Hiroshima« (1982), »Ein unvollkommener Liebhaber« (1990) und »Das bodenlose Mädchen« (1999).
Richard Hey
Die schlafende Schöne in Formalin und andere frühe Erinnerungen
Ullstein
Der Ullstein Berlin Verlag ist ein Unternehmen der Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG © 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Jörge Schmidt unter Verwendung eines Fotos von Bertram Hey Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Friedrich Pustet Graphischer Großbetrieb, Regensburg ISBN 3-550-08409-9
»Es gibt keine Chronologie, nur Querschnitte durch eine dicke Salamiwurst, deren Abfolge und Abstände immer willkürlich sind, egal welches Wissenschaftliche System, welches sonstige Ordnungsbedürfnis oder welche Gefühlsaufwallung sie veranlassen. Dann hast du einen Haufen Salamischeiben, die du zu einer neuen Zeitwurst zusammensetzen kannst.« John Federbaum, Physiker
»Es ist gerade noch hell genug, um zu sehen, dass es anfängt, dunkel zu werden.« Hans Arp, Maler, Bildhauer, Dichter
1
ERINNERUNGEN? JEDE ERINNERUNG ist Gegenwart. Den Mann hasse ich noch heute, der mir im November 1938 an der Frankfurter Hauptwache eine Ohrfeige gab, weil ich seiner Meinung nach zu dicht am Gleis der sich nähernden Trambahn stand und seine Ermahnung nicht beachtete. Ich war zwölf und kannte mich aus in der Breite der Wagen der Linie 23. Trotzdem trat ich, eingeschüchtert, einen halben Schritt zurück. Irgendwo in der Nähe wurden die zersplitterten Schaufenster jüdischer Geschäfte zugenagelt. Ich hör das Hämmern noch, seh noch das kantige Gesicht dieses so anmaßend um mein Leben besorgten Mannes, weiß auch noch, was ich ihm danach jahrelang wünschte: Siechtum und grauenvolle Wunden im Krieg, Krepieren und namenlos Verscharrtwerden. Oder wenigstens eine demütigende Entnazifizierung. Nun ja, da war ich schon milder. Aber nie konnte ich aufhören, ihn zu hassen, nie ist er aus meiner Gegenwart verschwunden. Ständig und unabsichtlich mit Erinnerungen zu leben muss nicht notwendigerweise damit zu tun haben, dass jemand alt wird (was ich gelegentlich, leicht befremdet, an mir feststelle). Die Beatles, nur als Beispiel, Musiker voller überwältigender jugendlicher Gegenwart, hatten schon mit knapp über zwanzig ihre Erinnerungen (»Penny Lane«). Und Kinder, kaum auf der Welt, erinnern sich bekanntlich genauer als jeder Erwachsene. Ohne mit ihnen konkurrieren zu können: Erinnerungen begleiten mich seit eh und je. Kein Tag, keine Stunde ohne sie. Sicher -7-
gehts auch andern so. Vorausgesetzt, sie lassen Erinnerungen zu. Aber ich brauch Erinnerungen außerdem als Handwerkszeug. Das liegt, zugegeben, meistens unordentlich herum zwischen Vergesslichkeit und Beschönigungen. Mir genügt, dass es immer vorhanden ist, wenn ich Hilfe für meine Erfindungen suche. Doch Erinnerungen verändern sich auch, verändern sich dauernd, je nach Chemie des Körpers, dessen Gehirn sich erinnert, verändern sich schon dadurch, dass sie zitiert werden. Aber sie bleiben. Während, was geschehen ist, unwiederbringlich versinkt. Nichts wiederholt sich identisch mit sich selbst. Kein Teilchen, sagen uns die Physiker, wird, egal in welcher kommenden oder vergangenen Zeit, genau wieder dort sein, wo es jetzt ist. Damit muss leben, wer mit Erinnerungen lebt. Ich kann den Mann, der mich geohrfeigt hat, jetzt nicht mehr zur Rede stellen, kann nicht zurückschlagen. Er bleibt mir für immer. Aber ich hab ihn verloren.
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2
ZWEI TAGE VOR der Ohrfeige ließ meine Mutter mich und meinen jüngeren Bruder nicht zur Schule gehen. Wir wohnten damals in einer ruhigen Straße am Holzhausenpark. Vor der Nachbarvilla hatte sich eine drohende Menge versammelt. Mit Brecheisen und Balken versuchten junge Männer in das Haus einzudringen, die geschlossenen Rollläden vor den Fenstern auszuhebeln. Der alte Herr Rothschild, der hier wohnte, allein mit einem Foxterrier, war mir nicht besonders sympathisch. Oft ließ er den Hund morgens gegen die Straßenlaterne pinkeln, die neben unserm Gartentor stand. Und ich musste auf dem Weg zur Schule an der frisch angepissten Laterne vorbei. Mein Vater, Gerichtsmediziner, war wie jeden Morgen schon früh über den Main nach Sachsenhausen gefahren, in sein Institut. Meine Mutter rief ihn an, bat ihn, schnell zurückzukommen. Das tat er denn auch, bahnte sich mit dem Wanderer-Kabriolett vorsichtig einen Weg durch die Belagerer, ging ins Schlafzimmer, zog sich um, trat dann, in brauner Amtswalteruniform samt Parteiabzeichen und Eisernem Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg, ans Gartentor, redete mit kaum erhobener Stimme, aber sehr deutlich, sehr entschieden auf die Leute ein: »Wenn Sie alle nicht sofort hier verschwinden, hole ich die Polizei.« Und tatsächlich, die Leute, der Autorität gehorchend, trollten sich. Herr Rothschild sei, hörte meine Mutter später, noch am selben Tag nach Paris entkommen. Offenbar mit Hund. Denn die Laterne blieb von da an trocken. Dies Beispiel deutscher Schizophrenie gehört zu den -9-
unentschlüsselbaren Bildern, die mir von meinem Vater geblieben sind. Zwei Jahre später starb er, knapp achtundvierzig Jahre alt, und was immer ich danach über ihn erfuhr, ist voller Widersprüche. Als Kind fürchtete ich den Ernst, die Strenge dieses Mannes, der nie mit Vater oder Papá angeredet werden wollte, nur mit Vornamen, als wär er mein Kumpel. Doch der durchdringende Blick der großen hellen Augen des Kumpels war schwer erträglich. Besonders, wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte. Als ältester von drei Brüdern hatte ich selten ein gutes. Und unsere junge neue Haushaltshilfe kriegte einen roten Kopf, ließ das Tablett mit Sonntagsbraten, Erbsen, Kartoffeln und Sauce aufs Parkett fallen, als mein Vater sie ansah und nur wissen wollte, ob sie an den Zucker für seinen Salat gedacht habe. Aber meine Mutter erzählte auch, er habe eines Nachts laut und falsch singend vor ihr gekniet, händeringend, armeschwenkend die Oper parodiert, aus der sie gerade gekommen waren. Und dass er gern Rheinwein trank, Rüdesheimer Berg, weiß ich noch, und gut tanzte. Aber nur mit Marie-Therese geb. Welter. Ich seh noch sein unbewegtes, ganz und gar verschlossenes Gesicht, als wir beide am Radio saßen und Hitlers Rede zum Kriegsbeginn hörten: »Ab heute fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen!« Um ihm zu gefallen, rief ich: »Hoffentlich dauert der Krieg lange genug, dann kann ich noch Soldat werden.« In Wahrheit hatte ich die größte Angst davor. Mein Vater reagierte nicht. Dasselbe unbewegte Gesicht hatte er gehabt, jetzt fällts mir wieder ein, als Hitler irgendwann Mitte der dreißiger Jahre durch Frankfurt fuhr, umsäumt von begeistert tobenden Menschenmassen. Mein Vater hob mich hoch, damit ich den Führer sehn und wie die andern »Heil!« schreien konnte. Er selbst blieb stumm. Und wieder dieses Gesicht bei der ersten Kommunion meines jüngeren Bruders, in der Kirche St. Georgen. Er bekreuzigte sich nicht, sang nicht, -10-
faltete nicht die Hände, stand nur da und sah zu, gänzlich außerhalb der Zeremonie. Aber der Jesuitenpater, der St. Georgen vorstand, war ein- oder zweimal bei uns zu Gast, um mit meinem Vater über psychopathologische Probleme zu diskutieren. Ein schöner alter Mann, stattlich, mit wehenden weißen Haaren. Wie ich mir damals den lieben Gott vorstellte. Die Kirche, habe er gesagt, so meine Mutter, sei für diejenigen da, die allein den Weg zu Gott nicht fänden. Wer aber den Weg zu Gott allein gehen könne, brauche die Kirche nicht. Für die Kirchenoberen war ein Geistlicher mit dieser Einstellung schwer tragbar. Da er auch seine Ablehnung der Nazis kaum verhehlte, arbeiteten Gestapo und Kirchenleitung zusammen, und er wurde in ein entlegenes Dorf versetzt. Dort, ohne seine Bibliothek, verkümmerte er, starb bald. Weil ich schon früh nichts mehr von dem glaubte, was ein Christ zu glauben hat, bin ich nach dem Krieg, sowie das möglich war, aus der Kirche ausgetreten. Mein Vater blieb in der Kirche, auch als überzeugter Nationalsozialist. Der war er zumindest in Greifswald, wohin er 1928, nach Bonner Oberarztjahren, einem Ruf als Professor folgte, und sicher auch noch anfangs in Frankfurt, wohin er 1934 berufen wurde. Ich war damals acht und konnte mir nicht vorstellen, dass es jemanden gab, dessen Ruf mein Vater folgen würde. Wenn einer rief, war ers. Übrigens rief er nie mit erhobener Stimme. Immer war er ernst, ruhig und höflich, und er küsste meiner Mutter die Hand, wenn er abends aus dem Institut kam. Nach dem Novemberpogrom 1938 trug er das Parteiabzeichen nicht mehr am Revers seiner stets dunkelgrauen Anzüge. Aber in den ersten Frankfurter Jahren nahm er noch gelegentlich an SA-Kameradschaftsabenden teil. Bloß dass er da kein Bier trank wie die andern Parteigenossen, sondern aus einem Krug mit Deckel Sekt, den ein instruierter Kellner unauffällig nachfüllte. Dazu rauchte er seine Zigaretten mit goldenem Mundstück. Dumpfe Kameraderie, wie er das nannte, war seine Sache nicht. Und holte sich einen arbeitslosen SA-Mann als Institutsdiener. -11-
Der wurde dann in kurzer Zeit zum kenntnisreichen Gehilfen im Labor und bei Sektionen, besser als mancher Assistenzarzt. Wir lebten zunächst im Westend, Freiherr-vom-Stein-Straße, gegenüber der kleinen englischen Kirche, in einem Etagenhaus mit großen Wohnungen, unweit der Synagoge. Freitagabends hörte ich, schon im Bett, die Schritte der Juden auf dem Bürgersteig vorm Haus, Trappeln, Scharren, Stimmen. Noch gab es die Mendelssohnstraße. Aber auch schon das HermannGöring-Ufer. Und an unserm Vorgartenzaun einen Schaukasten mit dem »Stürmer«. Denn in der Etage über uns wohnte der neue Oberbürgermeister. Und eifrige Parteigenossen dachten wohl, der »Stürmer« gehöre zum Oberbürgermeister. Nur mochte der das antijüdische Hetzblatt nicht, mein Vater noch weniger, der evangelische Propst im Parterre schon gar nicht, und der Gerichtspräsident im dritten Stock war rechtlich schockiert. So einigten sich die Herren schnell, und der Schaukasten wurde abmontiert. Etwa um diese Zeit bekam mein Vater Besuch von einem Freund. Seinem besten, sagte meine Mutter, vielleicht seinem einzigen. Er war zwar manchen Kollegen lose freundschaftlich verbunden, anderen aber galt er wegen seiner Parteizugehörigkeit als Verräter humanistischer Ideale, besonders in Greifswald. Das gab sich dann in Frankfurt, als mehr und mehr Professoren Parteimitglieder wurden. Doch er muss, wenn auch fachlich hoch geschätzt, im Grunde ziemlich allein gewesen sein. Nun also saß Professor Riesser bei uns im Wohnzimmer, Pharmakologe, von den Nazis aus der Leipziger Universität gejagt, weil Jude. Die Studenten hatten zunächst heftig gegen die Entlassung des beliebten Lehrers protestiert, so war ihm noch ein Semester zugestanden worden. Die Frist war abgelaufen, die Studentenschaft gleichgeschaltet, Riesser brauchte Rat und Hilfe des Freundes. Oft habe ich mich gefragt, wie diese Freundschaft möglich gewesen sein konnte. Eine -12-
Antwort habe ich nicht gefunden. Damals war ich kaum neun, und als ich kurz ins Wohnzimmer gerufen wurde, um meinen Diener zu machen, sah ich einen schon älteren Mann im Sessel sitzen, Tee trinkend mit den Eltern, und am Ohr, was mich sehr interessierte, ein Hörgerät. Ich hatte mitgekriegt, dass Riesser Jude war, und irgendwo, in der Schule, auf der Straße, mal aufgeschnappt, dass Juden, wenn sie nicht hören können, eben fühlen müssen. Daher fand ich es klug von Riesser, eine Hörhilfe zu benutzen. Erst Jahre nach dem Tod meines Vaters war meine Mutter in der Lage, mir zu berichten, was Riesser an diesem Nachmittag von seinem Freund zu hören bekam. In Zeiten wie den unsern, habe mein Vater erklärt, da es um die nationale Erneuerung Deutschlands gehe, dürfe man das große Werk nicht allein den Leuten von der Straße überlassen. Auch und besonders die Intellektuellen seien gefordert, klare Entscheidungen zu treffen. Und sosehr es ihn schmerze, er könne und wolle der notwendigen Entscheidung nicht ausweichen. Fortan sei es ihm unmöglich, einen Juden zum Freund zu haben. Meine Mutter war entsetzt, widersprach. Aber mein Vater blieb bei seinem Entschluss. Und die gute Ehefrau fügte sich. Riesser gelang es, mit seiner Frau nach Belgien auszureisen. Dort starb er, bevor die Nazis ihn mit ihrer Kriegsmaschine einholen und ermorden konnten. Meiner Mutter blieben Schamund Schuldgefühle. Nach dem Krieg erfuhr sie, dass und wo die Witwe von Riesser überlebt hatte. Sie schrieb ihr, bat sie um Verzeihung. Sie musste das loswerden. Eine Antwort erwartete sie nicht. Aber es kam eine, kühl und höflich: Was damals geschah, sei ja nun vergangen, dennoch danke für den Brief und alles Gute. Meiner Mutter half es, die Erinnerung an jenen Nachmittag zu ertragen. Denn Marie-Therese war nie auf der Seite der Nazis gewesen. Schon diese kackefarbenen Uniformen! (Sie äußerte sich damenhafter.) Das Gebrülle, Fahnengeschwenke! Die -13-
stumpfsinnigen Lieder! Das menschenverachtende Arier-Getue! Aber vor allem: dass viele der von ihr geliebten Schriftsteller nicht mehr gelesen werden durften. Sie war gelernte Buchhändlerin, hatte die Ausbildung bei ihrem Vater durchgesetzt, keine Kleinigkeit für ein Mädchen vor dem Ersten Weltkrieg. Aber sie wollte nicht zu Hause sitzen und Staub wischen, bis jemand käme, um sie zu heiraten. Ich weiß nicht, ob der Kölner Schreinermeister Welter viel von Büchern hielt. Ich vermute, eher nicht. Doch sicher hatte Marie-Therese in ihrer Mutter eine Fürsprecherin. Die war zwar gut katholisch, gebar acht Kinder, ging aber leidenschaftlich gern ins Theater, versäumte keine Premiere. Der Schreinermeister ließ es zu. Vielleicht, weil es seinem neuen gesellschaftlichen Status entsprach. Er hatte sich inzwischen auf Schaufenstereinrichtungen spezialisiert. Durch die Reparationszahlungen, die nach dem Krieg 1870/71 von den Franzosen an das Deutsche Reich zu richten waren, blühten Handel und Gewerbe, viele Geschäfte wurden eröffnet. Welter kam zu Wohlstand, konnte Marie-Therese nach Grenoble ins Pensionat schicken, wurde vorübergehend sogar Millionär. Bis er, ungeübt im Umgang mit Geld, in der Inflation 1923 fast alles wieder verlor. Da wird es ihm schon recht gewesen sein, dass diese Tochter inzwischen ihr eigenes Geld verdiente. Zuvor musste er jedoch hinnehmen, dass Marie-Therese nicht in Köln bleiben mochte. Sie wurde Angestellte einer Leihbücherei für Arbeiter in Kassel, wunderte sich allerdings, dass die Arbeiter nicht zu bewegen waren, Goethes »Faust« zu lesen. Bei aller Weltzugewandheit: Immer hatte sie etwas leicht Weltfremdes an sich. 1918 arbeitete sie in einer Kieler Bibliothek. Da bekam sie im November ein Telegramm ihres Vaters: ES IST REVOLUTION KOMM SOFORT NACH HAUSE. Manchmal denke ich, sie hat erst durch das autoritäre Telegramm erfahren, dass unmittelbar vor ihren Bücherregalen tatsächlich eine Revolution stattfand. Auch dass sie während der -14-
vierundzwanzigstündigen chaotischen Bahnfahrt nach Köln zwischendurch in einem Hamburger Stundenhotel übernachtet hatte, begriff sie zunächst nicht. Sie hielt den ständigen Lärm in den andern Zimmern, die Stimmen, das Treppengepolter für Begleiterscheinungen der Revolution. Was sie in gewisser Hinsicht ja auch waren. In Köln arbeitete sie bald wieder in einer Bücherei, wischte Staub zu Hause und ging mit der Mutter ins Theater. Eines Tages hörte sie von einer älteren Freundin der Mutter, medizinisch-technische Assistentin im nahen Krankenhaus, dass da ein junger Arzt im Sterben liege, weil er sich bei einer Obduktion mit Leichengift infiziert hatte. Ob sie diesem so sympathischen Dr. Rolf Hey, um den sich sonst niemand kümmere, nicht eine Freude mit ihrem Besuch machen wolle. Marie-Therese war nicht danach, einen ihr unbekannten Sterbenden zu trösten. Aber dann ging sie doch hin. Und sah einen zu ihrer Überraschung durchaus beeindruckenden Mann, der mit zwei Mädchen, die links und rechts neben ihm auf dem Krankenbett saßen, angeregt plauderte und Sekt trank. Offenbar fand auch er sofort Marie-Therese beeindruckend. Die Mädchen verschwanden. Aber mich gabs erst vier Jahre später.
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3
So WUCHS ICH denn bürgerlichakademisch auf. Alle Vorfahren meiner Mutter waren Bauern und Handwerker gewesen, auch Schiffer auf dem Rhein und Fischer, sowie durch Suff heruntergekommene kleine rheinische Landadelige, und im siebzehnten Jahrhundert eine lebenslustige rothaarige Wirtin, die in Köln als Hexe verbrannt wurde. Vergebens hatte sich der Jesuit Friedrich Spee für sie eingesetzt. Das alles fand mein Vater heraus, weil er gezwungen war, Ahnenforschung zu betreiben. Der Ruf nach Frankfurt war gefährdet. Jemand hatte Marie-Therese als Jüdin denunziert. Sie sah in der Tat nicht eben germanisch aus, sondern mit ihren dunklen Haaren und den großen braunen Augen eher italienisch. Wahrscheinlich hatten vor zweitausend Jahren römische Legionäre in Köln einige Gene hinterlassen. Da er nun mal dabei war, kümmerte sich Rolf auch um die eigenen Vorfahren. Die waren ebenfalls Bauern und Handwerker gewesen, vor allem Schneider und Nagelschmiede. Aber auch ein Rittergutsbesitzer fand sich, der alles, was er besaß, verspielte. Rolfs Vater war der Erste in der Familie mit einem solide gehobenen Beruf: Beamter. Vom Postrat in BerlinSchöneberg zum Karrieregipfel in Bad Godesberg. Ich erinnere mich an die Glückwunschkarte zu einem Geburtstag von mir mit der Unterschrift: »Dein Großvater Postdirektor Hey«. Dieser Mann war ganz und gar preußisch und ganz und gar katholisch zugleich, eine verheerende Mischung. Er muss als Familientyrann selbst für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beispiellos gewesen sein. Warum er seinen Sohn Rudolf Albert -16-
Camillus nicht mochte, bleibt ungeklärt. Der galt ihm erst was als Professor. Mit dem schmückte er sich dann. »Mein Sohn, der Herr Professor, hat kürzlich gesagt…« Aber eine ganze Kindheit, eine ganze Jugend hindurch kujonierte er ihn, verbot ihm zum Beispiel die Beschäftigung mit Musik, etwa Querflöte zu lernen, setzte ihn auch ständig herab vor dem ein Jahr älteren Bruder Richard, dem er, als es ans Studieren ging, hundertzwanzig Goldmark monatlich gab, während Rolf lediglich achtzig erhielt. Aber die Brüder verstanden sich und teilten, was sie hatten. Selten und nur in Andeutungen äußerte sich Rolf zu alldem. Doch Marie-Therese hatte schon bald den Verdacht, der Postdirektor verarge es Rolf sogar, dass nicht er, Rolf, sondern Richard im Ersten Weltkrieg getötet wurde, abgeschossen als Flieger. Um den Postdirektor milde zu stimmen, bekam dann der erste Enkel, ich, den Namen des abgeschossenen Fliegers. Ich weiß nicht, ob das dem Postdirektor viel gebracht hat. Vielleicht hatte, mehr noch als Rolf, seine ältere Schwester Maria unter dem Vater zu leiden. Die Mutter, wie in solchen Familien üblich, litt stumm mit, widersprach nie. Und Maria verließ am ersten Tag ihrer Volljährigkeit, damals der einundzwanzigste Geburtstag, für immer das elterliche Haus in Godesberg, ging zurück nach Berlin, lernte Krankenschwester, sehr harte Jahre für ein ganz allein auf sich gestelltes Mädchen in der brutalen Großstadt, sagte sie später, aber nichts im Vergleich zu Godesberg. Irgendwann 1910 oder 1911 schickte sie der Mutter ein Telegramm aus Bremerhaven: Für den Fall, dass die Mutter sie noch einmal sehen wolle, in zwei Tagen fahre ihr Dampfer nach New York. Wie nicht anders zu erwarten, verbot der Vater seiner Frau, die missratene Tochter aufzusuchen. Maria wurde dann amerikanische Staatsbürgerin und Mitbegründerin der Gewerkschaft der Krankenschwestern in den USA. 1933 schrieb sie Rolf, mit den Nazis werde nichts als Unheil kommen, sie rate ihm dringend, in die USA zu -17-
übersiedeln, als Pathologe könne er hier leicht eine für ihn geeignete Universität finden. Manchmal frage ich mich, was wohl aus uns allen geworden wäre, hätte Rolf nicht den Rat der Schwester in den Wind der nationalen Erneuerung Deutschlands geschlagen. 1966, während einer Amerikareise, konnte ich diese außergewöhnliche Frau noch kurz vor ihrem Tod kennen lernen. Sie lebte in Santa Monica, in einem Wohnwagen, der im Garten des Hauses ihrer Tochter abgestellt war. Sie wollte das so, mochte keine vier Wände um sich. Das intensive Blau ihrer Augen erinnerte mich an die Augen meines Vaters. Aber diese Augen durchbohrten mich nicht, sondern umarmten mich gleichsam, voller Wärme – die von blauen Augen sonst ja eher selten ausgestrahlt wird. Wärme! Die hatte es in meiner Kindheit und Jugend nicht gegeben, jedenfalls nicht innerhalb der Familie. Marie-Therese bekam im Lauf der Jahre ihre drei Söhne, die kaum jemand der schmächtigen, meist blassen Frau zugetraut hätte. Was sie gelegentlich ärgerte. Denn die Kinder hatten ja, wie es so schön heißt, ihre Ordnung. Nichts fehlte, für alles wurde gesorgt. Nur erinnert sich keiner von uns, je von der Mutter umarmt worden zu sein. Oder gar geküsst. Sie sei eine Frau mit verschüttetem Temperament, erklärte sie mir Jahrzehnte später. Aber Rolf, der als Verschütter infrage kommt, war ja selbst verschüttet. Und, wer weiß, vielleicht sogar der Postdirektor. Mag sein, auch der Schreinermeister. Zur Etablierung und Festigung der bürgerlichen Kultur gehören offenbar verschüttete Temperamente. Zu ihrer Zerstörung ebenfalls. Nicht leicht für so bevorzugte Kinder, wie wir es waren, sich da ohne Wärme zurechtzufinden. Wäre nicht Erna Bachl gewesen, unsere letzte Kinderfrau, die mir Wärme gegeben hat, mich empfänglich gemacht hat für weibliche Nähe, mir Mut gemacht hat, Gefühle nicht nur zu haben, sondern auch zu -18-
zeigen, die meine Phantasie (Geschichten erfinden, mich verkleiden, imaginäre Landkarten zeichnen) auf heitere Weise ernst nahm, dabei immer ganz konkret, ganz unsentimental blieb, die Dutzende Spiele wusste und schöne Lieder – ich weiß nicht, unter wie viel Schutt auch mein Temperament begraben läge. Wie war ich verstört, als ich hörte, Erna wird heiraten, einen Sparkassenangestellten, uns also verlassen. Doch blieb sie nach Rolfs Tod meiner Mutter und uns verbunden, sagte, als sie selbst schon Kinder hatte: Aber ihr seid doch meine ersten Kinder gewesen. Als mein Vater einmal zufällig sah, wie sie das jüngste ihrer ersten Kinder umarmte, meinen damals noch sehr kleinen Bruder, verbot er ihr, seine Söhne zu umarmen. Sie tat es trotzdem. Was dieses Mädchen, Tochter eines armen Handschuhmachers, den Professorensöhnen fürs Leben gebracht hat, war, da bin ich sicher, nicht weniger wichtig als die humanistische Bildung, mit der es jetzt losging bei mir und von der sich letzten Endes doch nur Bruchstücke erhalten haben.
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4
MEIN NEUES LEBEN als Sextaner des Lessing-Gymnasiums begann zunächst mit einer Enttäuschung. In der hellen, modernen Holzhausenschule hatten wir auf beweglichen Leichtmetallstühlen an verschiebbaren Tischen gesessen. Nun der düstere Sandsteinbau mit engen starren Holzbänken an tintenbeklecksten Uraltpulten. Einschüchterung und Beklemmung als Voraussetzung humanistischer Bildung. Das entsprach wohl, oberflächlich betrachtet, einer Tradition. Aber im Lauf der Jahre wurde mir etwas entscheidend anderes deutlich: Diese Schule war keine Nazi-Schule. Und hier bin ich schon wieder bei meinem Vater. Wieso hatte er gerade das Lessing für mich (und damit auch für meine Brüder) ausgesucht? Es gab und gibt noch ein weiteres humanistisches Gymnasium in Frankfurt, mehr staatstragend. Söhne von Beamten schickte man eher dorthin. Die beiden Lessing-Lehrer, die allmählich immer wichtiger für mich wurden, Eduard Bornemann und Otto Schumann, lehrten nun aber nicht nur Griechisch und Latein, sondern vor allem kritisches Denken. Und die Schüler, je älter sie wurden, konnten immer klarer erkennen: Beide Lehrer verabscheuten die Nazis. Doch sprachen sie stets mit besonderer Hochachtung von meinem Vater. Was wussten sie von ihm? Kannten sie, zum Beispiel, den Artikel, 1934 von ihm in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht, in dem er die These vertrat, dass Homosexuelle als Kriminelle anzusehen und entsprechend zu behandeln seien? Nach dem Krieg ließ mich -20-
Marie-Therese den Artikel lesen. Bedrückende Lektüre. Die menschenverachtende Tendenz des Artikels lag im Trend der damaligen Zeit (und entsprach im Übrigen bis 1973 gültigen Gesetzen). Doch schwer vorstellbar für mich, dass mein Vater, wenn auch Nationalsozialist, sich irgendeinem Trend gefügt hätte. Er musste von dem, was er da schrieb, überzeugt gewesen sein. Aber Ende 1945, als ich schon erfahren hatte, dass gelegentlich, wenn ich irgendwo in Frankfurt mir unbekannte Leute traf, einige nicht mit dem Sohn des Nazi-Professors reden mochten – da umarmte mich, Tränen in den Augen, eine alte Gesangslehrerin des Hochschen Konservatoriums, sagte: Du bist der Sohn des Mannes, der meinen homosexuellen Bruder aus dem KZ geholt hat. Und meine Mutter, die, um weiter ihre Witwenpension zu bekommen, eine Spruchkammerverhandlung gegen den toten Professor durchstehen musste, erlebte es, dass plötzlich Zeugen zur Verhandlung erschienen, die aussagten, der Professor habe mit seinen Gutachten von ihnen oder ihnen Nahestehenden Nazi-Unheil abgewendet. Zum Beispiel war die Rede von ein paar jungen Männern, die bei Kriegsausbruch nach Holland fliehen wollten und erwischt wurden. Das Gutachten habe nachgewiesen, dass sie aus irgendwelchen Krankheitsgründen momentan geistig nicht zurechnungsfähig gewesen seien. So entkamen sie der sofortigen Hinrichtung, wurden zur Strafkompanie abkommandiert. Dort waren die Überlebenschancen gering. Immerhin, es gab sie. Die Fragen an den Professor bleiben. Doch die Suche nach Antworten des Vaters ist nichts als Spekulation. Ich seh schon, meine Erinnerungen verstricken sich. Und ich denke an John Federbaum. Chronologie! Wär sie jetzt nicht doch hilfreich? »Chronologie frisst die Wahrheit«, sagt er. Aber, möchte ich ihm entgegnen, haben wir nicht wenigstens die Chance, Wahrheit vorübergehend zu erkennen, während sie -21-
gefressen wird? »Eher«, meint er, »wenn wir die willkürlich aus unserer Zeitwurst herausgeschnittenen Scheiben mischen und mit den Gewitterblitzen sämtlicher möglicher Widersprüche beleuchten.« Für einen Physiker ein kühnes Bild. Aber die Physiker sind ja heute fast alle zu Metaphorikern geworden. Und es kann durchaus sein, dass die Metaphern der Physiker, mögen sie auch schief daherkommen, uns, zumindest für den Moment, eher zu Erkenntnissen verhelfen als die Metaphern der alten Religionsstifter. Dazu hätte ich jetzt gern die Meinung jenes Jesuitenpaters gehört, der mit meinem Vater gelegentlich diskutierte. Ihn, also auch er, offenbar schätzte. Zurück zum Sextaner. Der hatte nicht nur die neue Schule zu bewältigen, sondern auch, dass er zur gleichen Zeit Pimpf im Deutschen Jungvolk geworden war. Ich mochte nicht marschieren und Lieder von Deutschland singen, das uns gehört und morgen die ganze Welt. Oder von Wildgänsen, die nachts mit schrillem Schrei nach Norden rauschen. Ebenso wenig mochte ich, eingezwängt in bedrückende Schulbänke, lateinische Wörter schreiben. Obwohl mir die Sprache gefiel. Avus volat cum gallina. Großvater fliegt mit dem Huhn. So veränderte ich, was ich lernte. Aber frei fühlte ich mich nur im Grüneburgpark. Da gabs, abseits vom Weg, eine Baum- und Gebüschgruppe, die gehörte meinem Freund und mir. Zwischen Baumwurzeln hatten wir uns eine Höhle gegraben und mit Laub ausgepolstert, zwei Robinsons auf ihrer einsamen Insel, zehntausend Kilometer entfernt von allen Erziehungsberechtigten und Jungenschaftsführern. Nur einmal, in der Dämmerung, trieben Schiffbrüchige quer über die Wiese zur Insel, ein älterer Herr von mindestens zwanzig und eine ebenso alte Frau. Was die beiden dann miteinander machten, während wir erstarrt im Gebüsch hockten, fanden wir schon aufregend. Aber unsere Wut über die Eindringlinge war größer als unsere Neugier. Eines Nachmittags kam mein Freund nicht. Auch nicht an den -22-
folgenden Nachmittagen. Er blieb verschwunden. Im Lessing konnte ich ihn nicht treffen, er ging in eine andere Schule. Als ich bei ihm zu Hause klingelte, öffnete niemand. Die Wohnung schien verlassen. Später hörte ich, die Familie sei nach Palästina ausgewandert. Das war zwei Jahre vor dem November 38. Bis dahin hatte das Lessing seine jüdischen Schüler halten können. Mein Banknachbar hieß Lewis. Ich schrieb von ihm ab und er von mir. Wenn in der Pause zwei sich stritten und eine Schlägerei begann, sprang er zwischen die Kämpfer, fuchtelte mit Rosinenbutterbroten vor geballten Fäusten und rief: »Frieden! Frieden!« Da seine Brote sehr gut schmeckten, erreichte er oft, dass die andern lieber mampften als prügelten. Manchmal taten welche auch bloß so, als wollten sie sich schlagen, nur damit sie an die Rosinenbrote kamen. Lewis durchschaute das wohl nicht, hungerte gern für den Frieden. Andere, auch das gabs, wendeten plötzlich ihm ihre Wut zu, rissen ihm die Brote aus der Hand, schmissen die Brocken in die nächste Pfütze und verprügelten dann gemeinsam den Friedensstifter. Dunkel fühlte ich in solchen Momenten, dass ich helfen müsste. Aber Prügeleien hab ich schon immer gehasst, und wenn ich Glück hatte, beendete die Klingel für Schluss der Pause den Konflikt. Lewis nahm mir meine Feigheit nicht übel. Meistens war in der nächsten Pause ja auch alles vergessen. Es gab nichts Grundsätzliches in diesen Rempeleien. Oder wenn, dann nur verborgen. Erst viel später begriff ich, dass ich beteiligt gewesen war an einem Lehrstück über die Schwierigkeit, Frieden zu erreichen und dabei am Leben zu bleiben. Nach dem 10. November 38: kein Lewis, kein »Frieden!« mehr. Jetzt, da ich an ihn denke, höre ich wieder seine Stimme aus dreitausend Jahren Entfernung über der abendländischen Wüste. -23-
Mit sofortiger Wirkung war »Juden« der Besuch »deutscher Schulen« verboten. Der Verbleib so genannter Halbjuden (ein Elternteil jüdisch, einer nicht) und Bastarde (beide Eltern halbjüdisch) hing davon ab, ob die Schulen sie einstweilen noch duldeten. Das Lessing, mit seinem kommissarischen Direktor Schumann, schützte sie bis 1944. Da mussten auch die Halbjuden raus aus der Schule, wurden abtransportiert zu Schwerstarbeit in Steinbrüchen, zum Schleppen von zentnerschweren Zementsäcken. Die aus meiner Klasse haben überlebt. Zunächst aber bekam ich einen neuen Banknachbarn, Franz. Ich erinnere mich nicht, dass er von mir abschrieb oder ich von ihm. Jahrzehnte später war er anerkannter surrealistischer Dichter (vergröberte Etikettierung, zugegeben), während ich in verschiedenen Medien hinter der Kunst der Komödie her war. Schöne Idee sich vorzustellen, welche besonderen Wege, die sich verzweigen, im ramponierten Garten der deutschen Nachkriegsliteratur noch möglich gewesen wären, hätten wir beide nur rechtzeitig angefangen voneinander abzuschreiben. Mit der Komödie gings offenbar schon ziemlich früh bei mir los. Auf einem Klassentreffen erinnerten mich vergnügte ältere Herren an eine Stegreif-Episode, längst von mir vergessen. Plötzlich wusste ich wieder Details. Ich muss knapp über dreizehn gewesen sein. In Deutsch hatte es als Hausaufgabe gegeben, einen Aufsatz zu schreiben. Thema ist mir entfallen. Längst hatte ich angefangen zu komponieren. Das war mir wichtiger als der Aufsatz. Ich wusste, der Deutschlehrer würde durch die Reihen gehn, flüchtig in aufgeschlagene Hefte blicken, sie erst zum Wochenende für die Benotung einsammeln. Zeit genug für mich, den Aufsatz nachzuliefern. Unglücklicherweise hatte der Deutschlehrer am nächsten Tag Rheumabeschwerden, hockte hinter dem Katheder, rief ausgerechnet mich auf, meinen Aufsatz vorzulesen. Nichts blieb mir als mich langsam zu erheben, dabei meine Gedanken zu -24-
ordnen, sorgfältig im Heft zu blättern und von leeren Seiten Ungeschriebenes abzulesen. Das gelang zunächst überraschend gut. Aber gegen Ende versagte meine Improvisationskunst. Ich fing an zu stottern, verhaspelte mich. »Ja was denn«, kam es vom Katheder, »kannst du deine eigene Schrift nicht mehr lesen?« Dann stand der Lehrer trotz Rheuma unversehens neben mir, entdeckte die leeren Seiten. Folge: Gelächter der Mitschüler, Eintrag ins Klassenbuch, Strafgericht. Ich fand, eher hätte ich ein Lob verdient. Um diese Zeit ließen meine Schulleistungen in allen Fächern nach. Ich las Karl May und heimlich ausgeliehene Zukunftsromane von Hans Dominik sowie stapelweise »Tom Shark«-Hefte, die wohl einzigen in der Nazizeit geduldeten Groschenkrimis, erhältlich am Kiosk auf dem Schulweg und verborgen in Tüten zwischen Beuteln mit grünem oder rotem Brausepulver. Außerdem hatte ich viele weitere unentwirrbar miteinander verwobene nebenschulische Interessen. Verpflichtungen, Aufregungen. Besonders, natürlich, pubertäre. Zum Beispiel das Ausprobieren der geheimnisvollen Freuden der Masturbation. Oder die allmähliche Annäherung an die dunklen Rätsel zwischen Mann und Frau. In der Altpapiersammlung des Deutschen Jungvolks hatten ein Mitpimpf und ich ein Buch mit genau diesem Titel gefunden und schnell beiseite geschafft: »Mann und Frau«. Das war in prächtiges rotes Leinen gebunden, mit erhabenen goldenen Lettern auf dem Deckel und seidenpapiergeschützten Illustrationen zwischen den Seiten. Weil wir uns nicht einigen konnten, wer das Buch zuerst kriegen sollte, rissen wirs mit viel Mühe genau in der Mitte auseinander, wollten die Hälften später austauschen. Ich weiß nur noch einen einzigen Satz aus meiner Hälfte, weil er mich in tiefste Ratlosigkeit stürzte: »Es ist nicht nötig, dass der Mann das geliebte Weib mit seinem Urin übergießt.« Nicht -25-
nötig! Also doch wohl nicht gänzlich unüblich. Sorgenvoll betrachtete ich eine Zeit lang meinen Vater, meine Mutter, die getrennten Schlafzimmer der beiden. Aber dann vergaß ich solche Sorgen auch wieder. Anderes wurde wichtiger. Da mir nicht mehr gefiel, was ich komponierte, schrieb ich. Und zwar zunächst eine Wagner-Parodie: »Siegfrieds Fliegentod«. (Dunkle Erinnerung, dass ich, wohl unter dem Einfluss von Vischers »Faust III. Teil«, einen Chor von Fliegen auf Siegfrieds Leichnam zur Trauermusik Stabreimverse summen ließ.) Danach kam eine historische Erzählung über den Sieg Hannibals in der »Schlacht am Trasumenischen See«, berichtet aus der Sicht eines tödlich verletzten römischen Centurio, und schließlich, von Dominik inspiriert, eine Science-FictionVorwegnahme: »3710 stürzt auf den Mond«. Da gerät ein britischer Astronom in höchste Gefahr, weil Berechnungen ergeben, dass ein Meteor genau dort auf den Mond prallen wird, wo sich seine Beobachtungsstation befindet. Aber wegen eines technischen Defekts seines Raumschiffs kann er nicht zur Erde zurückkehren. Er muss abgeholt werden. Dazu sind weder die Engländer in der Lage noch die von kommunistischen Untermenschen unterjochten Russen, noch die von Negern regierten degenerierten Franzosen und erst recht nicht die von Gangstern beherrschten US-Amerikaner, sondern nur die edlen Deutschen, die selbstverständlich auch über modernste Raumfahrttechnik verfügen. Die Rettung gelingt, wie nicht anders zu erwarten, in letzter Minute. So spiegelte diese Geschichte, mir damals nicht bewusst, außer offizieller Propaganda ebenso die noch im ersten Kriegsjahr vorhandene untergründige Bereitschaft der NS-Regierung, eine Möglichkeit zur Verständigung mit den Engländern zu finden, deren letztes Echo knapp zwei Jahre später der wirre Flug von Hitlers Stellvertreter nach Schottland war. -26-
Wenn ich auch mit Kummer die Produktion eigener Musik zunächst einstellte, weil meinen Ansprüchen die Töne nicht genügten, die ich autodidaktisch mühsam aus dem im Esszimmer abgestellten nie gestimmten Klavier heraushackte und auf Notenblätter kritzelte – die Musik blieb meine Liebe, mein Ziel. Um so härter traf mich die Zeugnis-Fünf in Musik, die ich mir wegen »mehrfachen respektlosen Dazwischenredens« einhandelte. Dabei hatte ich lediglich, als wir auf Schallplatte oder Flügel Musikbeispiele zu hören bekamen, einem unwissenden Mitschüler, der zufällig im Musiksalon neben mir saß, auf seine Frage hin erklärt, wo in der »Tannhäuser«-Ouvertüre die Pilger entlangzogen und wann der Venusberg sich öffnete. Der alte Musikprofessor, versunken in seine Akkorde, gab bloß spärliche Erläuterungen. Ich war sehr enttäuscht von ihm. Unerhört fand ich auch, wie er einen Halbjuden abkanzelte, weil der die Hand zum Hitlergruß, mit dem jede Unterrichtsstunde zu beginnen hatte, nach Meinung des Professors nicht hoch genug hob: »Ach, der deutsche Gruß liegt dem Herrn wohl nicht besonders, wie? Möge er bitte vortreten und ihn wiederholen.« Später begriff ich die tragische Situation dieses Mannes. Ich erfuhr, dass er in den zwanziger Jahren mit einer Jüdin verheiratet gewesen war. Die Frau hatte sich scheiden lassen und einen jüngeren Mann geheiratet. Der war kurz darauf gestorben. Gleich nach 1933, als das gerade noch möglich war – die Gesetze zur Reinhaltung des deutschen Blutes kamen erst 1935 –, heiratete der Professor seine frühere Frau von neuem. Um sie zu schützen. Ich weiß nicht, ob ihm das auf Dauer gelungen ist. Jedenfalls hatte er sie so erst mal wieder, und ganz für sich. Welch ein Stoff für ein Theaterstück der großen Gefühle unter ständiger mörderischer Bedrohung. Ich sah beide noch im Sommer 1944 in Marienberg im Westerwald, wohin das Lessing evakuiert worden war. Wir verstanden uns gut. Er wirkte gelöst, ja heiter, machte -27-
Schüttelreime, um die schweigsam neben ihm sitzende Frau zu zerstreuen. Nach dem Krieg hörte ich zum letzten Mal von ihm. Es wird berichtet, dass er im Februar 45 in der einsturzgefährdeten Aula der völlig zerstörten ausgebrannten Schule zwischen verkohlten Dachbalken um den zerbrochenen Flügel herum Sandsteinsplitter, Schneebrocken, Scherben, Mörtelhaufen und angesengte Partiturenreste hin und her fegte, tränenüberströmt. Auf einem Koffergrammophon ließ er dazu in höchster Lautstärke alte Schallplatten kreisen, Gustav Mahlers »Lied von der Erde«. Das hätte ich gern mitbekommen: wie am Ende der Nazizeit Mahler aus den Trümmern dröhnt.
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NOCH WAR ES nicht so weit. Noch hatte ich mit schlechten Zensuren zu kämpfen. In Latein und Griechisch, dachte ich, fliegt mir alles leicht zu. Tat es auch, anfangs. Aber bald flog kaum noch was, und wenn, dann mühsam. In Deutsch bekam ich oft meine Aufsätze zurück mit dem Vermerk: Thema verfehlt. Zum Beispiel war als Aufgabe gestellt worden: »Gang zum Briefkasten«. Da sollte ein Stück Straße gut beobachtet und knapp, auf höchstens drei Seiten, beschrieben werden. Ich füllte ein ganzes Heft, mehr als fünfundzwanzig Seiten, mit der Schilderung der sozialen Verhältnisse der Bewohner des Hauses hinter dem Briefkasten. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung von den sozialen Verhältnissen anderer Familien. Ich erfand sie einfach. Oder es hieß: »Notlandung im Dschungel«. Erwartet wurden Überlegungen, wie man auch mit beschädigter Technik in feindlicher Umwelt überleben könnte. Ich schilderte einen armen Dichter, der auf flügellahmem Pegasus zwischen Hochöfen und qualmende Schornsteine gerät. Schlimmer noch gings mir mit der Mathematik. Ein sturer Rechenmeister vergraulte sie mir. Erst als Dreißigjähriger erkannte ich die Schönheit und die faszinierenden Abgründe der Mathematik. Aber weil ich aus Trotz nie richtig rechnen gelernt habe, konnte ich ihnen nicht so nahe kommen wie ich es, jetzt, so gern wollte.
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Mein einziger flüchtiger Triumph als Schüler war die Verlegenheit, in die ich den Religionslehrer brachte mit der Frage, warum Männer Brustwarzen haben. Hatte Adam jemanden zu säugen? War es nicht eher so, dass zuerst die Frau geschaffen wurde und dann, offensichtlich eine mehr oder weniger geglückte Kopie von ihr, der Mann? Und falls es sich so verhalte, und falls Gott tatsächlich den Menschen nach seinem Bild geschaffen habe, müsse das nicht bedeuten, dass Gott eine Frau ist? Unwirsch, ohne zu antworten, schickte mich der Kaplan auf meinen Platz zurück. Glücklicherweise war er verklemmt genug, nicht von mir wissen zu wollen, woher der Mann, wenn er schon Kopie der Frau sei, denn bitte sehr den Schwanz habe. Darauf hätte ich keine Antwort gewusst. Selbst moderne Wissenschaftler haben ja viel Zeit für halbwegs schlüssige Vermutungen gebraucht. Heute denke ich, Ergebnisse der Embryonenforschung legen nahe, dass tatsächlich zuerst ein weibliches Prinzip da war. Die Frau also. In den Schöpfungsmythen der alten Griechen wird berichtet, Gaia, Urgöttin der Erde, gebar alles, was ist, ohne Begattung – schließlich auch den Gott Uranos, um einen Kerl fürs Umarmen zu haben. Was doch nur heißen kann, der Mann samt Penis aus Klitoris wurde mit Hilfe eines vorübergehend nützlichen Y-Chromosoms von der Natur entwickelt, um der Frau beim ebenso schwierigen wie notwendigen Geschäft der Fortpflanzung mehr Lust zu verschaffen. Sich selbst natürlich auch, als Lohn für die Lust der Frau. Das hat er lange gründlich missverstanden. Zumindest die letzten zehntausend Jahre. Die in der zweiten Hälfte dieses Zeitraums von genialen Männern erfundenen monotheistischen Hochreligionen unterdrücken nach wie vor Frauen aus Angst vor der selbstbewusst machenden Lust der Frau. Und seit es möglich geworden ist, Lust von Fortpflanzung zu trennen (wie unüberlegt von den doch überwiegend männlichen Wissenschaftlern!), durchweht pure Existenzangst die -30-
Hochreligionen. Noch bekämpfen deren Würdenträger diese Angst mit variantenreich polierten alten Dogmen, mühsam verhohlen in Rom, gänzlich unverhohlen momentan in Kabul, und dazwischen, mehr oder weniger abgestuft, in sämtlichen christlichen, islamischen, jüdischorthodoxen Zentren sowie in denen des Hindu-Kastensystems. In Wahrheit wird überall nichts so sehr gefürchtet wie die zunehmende Widersetzlichkeit, ja die Rache der Frauen. Gaia, so berichten jene alten Mythen, die von Uranos ziemlich übel Behandelte, während sie mit Hilfe seiner Gier einen Haufen Götter- und Titanenkinder zur Welt brachte, ließ ihm schließlich abschneiden, was ihr längst nicht mehr diente, sie nur noch bedrängte. Nehmen wir das symbolisch. Die amerikanische Hausfrau, die ihrem gewalttätigen Ehemann, während er schlief, den Penis abschnitt, wird nicht Schule machen. Noch mögen die meisten Frauen ja Männer, erfreulicherweise. Aber sie sind schon dabei, ihnen Spitzenpositionen in Wirtschaft und Politik abzuschneiden. Vielleicht demnächst auch in der Religion. Wenn wir Glück haben, wird Globalisierung nicht mehr heißen: weltweite Ausplünderung der Schwachen, Profit über alles. Und es bleiben uns Politikerinnen erspart, die einfach bloß Männersysteme fortführen, oder calvinistische Bischöfinnen, oder andersrum dogmatische Päpstinnen. Oder weibliche Mullahs. Denn, wie Walter Benjamin schreibt, »wenn wirklich die Befehls- und Herrschgewalten weiblich werden, dann wandeln sich diese Gewalten, wandelt das Weltalter, wandelt das Weibliche selber sich. Wandelt sich nicht ins vage Menschliche, sondern es schickt sich an, ein neues, ein rätselhafteres Antlitz erstehen zu lassen, ein politisches Rätsel, wenn man so will, ein Sphinxgesicht…« Vielleicht kriegen wir dann ja tatsächlich eine neue Religion, falls noch eine für nötig gehalten werden sollte, eine Religion, die nicht mehr in Erwartung von einem unbedingt zu erstrebenden diffusen Jenseits die Missachtung und Zerstörung des Diesseits samt -31-
Vernichtung seiner Bewohner hinnimmt oder gar befördert, sondern die uns das Diesseits lehrt als einziges, einmaliges Zuhause, das wir haben im ungeheuren Universum voller niemals von uns zu lösender Rätsel. Nun ja, Utopie aus vielen Vielleichts. Aus zu vielen, mag sein. Immerhin, das damals ins Meer geschmissene göttliche Gemächt brachte die schaumgeborene Göttin der Liebe hervor. Auch die, zugegeben, nicht ohne bedrohliche Eigenschaften. Aber das ist schon eine andere Geschichte. Selbst wenn ich sie damals gekannt hätte, dem bereits durch Adams Brustwarzen überforderten Kaplan hätte ich nicht auch noch mit Aphrodite kommen dürfen. Die Zeit meiner schlechter werdenden Zensuren war zugleich, was Wunder, die Zeit höchst verworrener Träume, sexueller wie grauenvoller. Doch eben auch die Zeit meiner Abkehr von einer vorgeschriebenen Religion. Der eindringlichste meiner damaligen Träume illustrierte das: In einer großen Kirche mit hohem Gewölbe steh ich vorn am Portal. Kerzenlichter überall. Ich steh da mit anderen Jungen, bewacht von finsteren schwarz gepanzerten Figuren. Fern am Hochaltar werden Kreuze aufgerichtet. An den Kreuzen hängen, angenagelt, Jungen in meinem Alter. Die stöhnen, jammern. Wahnsinnige Angst packt mich. Ich werde zum Altar gestoßen. Ich weiß, einer der Nächsten, die an ein Kreuz genagelt werden, bin ich. »Ich muss mal«, flüstere ich. Keiner hört zu. »Soll ich in die Kirche pinkeln?«, schrei ich. Da stoßen sie mich in einen kleinen Raum. Tatsächlich: ein Klo. Die Figuren bleiben vor der Tür. Ich kletter auf die Kloschüssel. Über mir ist ein kleines Fenster. Es ist gummiartig, lässt sich öffnen. Ich quetsch mich durch. Als die Figuren das Klo stürmen, spring ich raus. Und wach auf, während ich ejakulierend ins Bodenlose stürze. Freud hätte seine Freude gehabt. Den Traum hab ich nochmal geträumt, Monate später. Da -32-
kennen die Bewacher schon meinen Trick mit dem Klo. Jetzt stoßen sie mich in einen engen Beichtstuhl vor den Kreuzen. In dem Moment kommt von draußen, von der Straße, ein dicker Priester in den Beichtstuhl. Ich quetsch mich an seinem Bauch vorbei, renn über die Straße davon, bin wieder gerettet. Und hör noch hinter mir die Hammerschläge, mit denen die andern Jungen an ihre Kreuze genagelt werden. Passend zu den Träumen las ich in dieser Zeit »Nathan der Weise«. Meine Mutter hatte Lessing sowie weitere von den Nazis nicht eben geschätzte oder ausdrücklich verbotene Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, Hesse, Döblin, Heine, Klabund in die zweite Reihe ihres mit Glasschiebescheiben geschützten Rosenholzbücherschranks gestellt. Auch ein paar Bände Balzac und Zola waren dabei. Aber die gab sie mir erst später zu lesen. In der ersten Reihe, die Missliebigen verdeckend, standen den Nazis genehme Schriftsteller, Beumelburg, Kolbenheyer, Dwinger, v. Mechow und andere. Mein Vater billigte das schweigend. Die dunklen Regale in seinem Arbeitszimmer waren fast nur mit wissenschaftlichen Büchern gefüllt, dicke Schwarten in endloser Folge von Bänden. Nathans Ringparabel nun von den drei einander täuschend gleichenden monotheistischen Religionen gefiel mir. Wenn ich auch im Begriff war, meinen Ring und damit alle drei von mir zu werfen. Was sie symbolisierten, fand ich, gefälschte Ringe hin, echter (verlorener) Ring her, in jedem Fall kaum brauchbar für die Lösung mich bedrängender Probleme. Aber Lessings Erfindung beeindruckte mich, ebenso sein Mut, weniger seine Sprache. Kein Gedanke, darüber im Unterricht zu diskutieren. Nicht mal das Lustspiel »Minna von Barnhelm« wurde behandelt mit seiner doch nur leichten Ätzung von Preußischblau und dem preußischen König, der am Ende immerhin Gerechtigkeit walten lässt. Während meiner ganzen Schülerzeit haben wir in der -33-
Klasse keine Zeile von Lessing gelesen. Grotesk: LessingGymnasium ohne Lessing. Wahrscheinlich gehörte das zum Preis, den die Schule für ihr Fortbestehen zu zahlen hatte. Dabei war, wie ich später erfuhr, das Verhältnis der Nazis zu Lessing durchaus gespalten. Den »Nathan«-Lessing gabs nicht, den »Minna«-Lessing schon, auf nicht wenigen Bühnen. Man versuchte ihn zu vereinnahmen. Das gelang nicht so recht, obwohl er doch ein paar Jahre Sekretär eines preußischen Generals gewesen war. Aber Preußens Friedrich II. hatte ihn nie zur Kenntnis genommen. Also ging man ihm offiziell lieber aus dem Weg. Irgendwann sah mein Vater mich mit Lessing in der Hand und hatte den berechtigten Verdacht, dass ich mehr daran interessiert war, Lessing zu lesen als fürs Lessing zu arbeiten. Fortan wollte er jeden Abend meine Hausaufgaben auf dem Schreibtisch sehn. Tagelang, wochenlang legte ich ihm die Hefte hin, mal an dieser, mal an jener Stelle aufgeschlagen, mit fast immer denselben Übersetzungstexten oder xy-Gleichungen. Ich wusste, er kam spät aus dem Institut, manchmal erst nachts, völlig erschöpft, kaum noch fähig, einen Blick in »Das Schwarze Korps« zu werfen, Wochenzeitung der SS, die er abonniert hatte, oder in »Die Dame«, Hochglanzzeitschrift, die meine Mutter vormittags zum Tee im Wintergarten durchblätterte. Ich denke, ihm genügten die Hefte, kontrolliert hat er nicht oder nur flüchtig. Andernfalls wären die Folgen für mich ziemlich unangenehm gewesen. Eines Morgens blieb mein Vater zu Hause, ja in seinem Zimmer, im Bett. Das war ungewöhnlich und beunruhigend. Er hatte hohes Fieber, auch, wie er knapp mitteilte, starke Schmerzen in der Brust. Sein internistischer Uni-Kollege war nicht gleich erreichbar. Aber der musste es sein, Professor zu Professor. Ein braver Hausarzt um die Ecke kam nicht infrage. Als der Kollege schließlich den Patienten untersuchen konnte, stellte er eine Rippenfellentzündung fest. Dazu am nächsten Tag -34-
eine Lungenentzündung. Und am dritten noch eine Herzmuskelentzündung. Nach drei schlimmen Nächten ging es Rolf immer schlechter. Er atmete mühsam. Marie-Therese saß am Bett und hielt seine Hand. Aber er wollte nicht schwach sein, wollte nicht ins Krankenhaus. Ich bekam das mit, weil ich mal kurz ins Zimmer blicken durfte, bevor ich vom Kollegen losgeschickt wurde, um beim Roten Kreuz eine Sauerstoffflasche zu holen, per Taxi, mit Sondergenehmigung. Nach einem Jahr Krieg gabs für Taxis kaum noch Benzin. Als ich, zurückgekehrt, mit dem Taxifahrer die schwere Flasche durch den Kücheneingang ins Haus trug, saß vor dem Herd unsere neue Hausangestellte, ältere Zicke, hab sie von Anfang an nicht gemocht, und die flennte, schluchzte: »Nein, dass mir das passieren muss! Kaum eine Woche bei so angenehmer Herrschaft, und schon ist der Herr tot! Dass mir das passieren muss!« Er lag halb auf der rechten Seite, zur Wand hin, Mund offen, die Knie unter weißem Laken leicht angewinkelt. Entsetzt stand ich neben meiner Mutter vor dem ersten Toten meines Lebens. Vom Postdirektor und seiner Frau hatte ich nur den jeweiligen Sarg gesehn, vom Schreinermeister nicht mal den. Meine Mutter hielt mich am Arm. Und ich starrte die schiefe Leiche an, die mein Vater gewesen war. Dann kamen die jüngeren Brüder dazu. Doch ich wollte der nicht sein, der ich jetzt sein sollte, ältester Sohn, fast erwachsen, vernünftig, Stütze von Mutter und Brüdern. Ich wollte meinen Vater belügen, Angst haben vor seinen Augen, aber ich wollte nicht ohne ihn sein. Und mir gings, wies Ertrinkenden angeblich geht. Bilder rasten sekundenschnell durch den Kopf: Winter. Sonntagabendrunde um den Wohnzimmertisch, Rolf trinkt Curaçao, Marie-Therese und ich lesen abwechselnd vor, Kloster Dreizehnlinden, Versepos über die Christianisierung der Germanen, all die Mönche, besonders Pater Ivo, traun dem -35-
Alten stünden besser Schwert und Brünne als des Chorhemds weiße Falten – Mit 100 km im offenen Auto durch Taunusdörfer rasen, Hund wird überfahren, Marie-Therese will, dass Rolf anhält, der rast weiter – Im Garten, er bietet eine Mark für zehn Klimmzüge hintereinander am Reck, mach ich aber nicht, ich hasse Reck – Sonntagabend mal allein mit Rolf am Wohnzimmertisch, Curaçao, ich les Admiral Byrds Buch über seine Südpolexpedition, lache, Rolf will wissen warum, ich zeig ihm die Stelle, da kocht Brei über, irgendwas wie Griesbrei, Byrd war draußen, hat Herd vergessen, kommt vom Schnee in den Gries, immer mehr Gries, der kriecht aus dem Topf, kriecht über den Herd, kriecht durch den Raum, kriecht raus, kriecht und kriecht, Eis des Südpols unter heißem Griesbrei, Rolf lacht wie ich, einziges Mal, dass ich ihn lachend erlebe – Nebeneinander in der Garageneinfahrt, Marie-Therese macht Fotos, er in extra angefertigter eleganter Wehrmachtoffiziersuniform, Obersonstwasarzt, für Zivilaufgaben freigestellt, ich auch in Uniform, Jungenschaftsführer mit kleiner rotweißer Schnur zwischen Jackenknöpfen. Ich versuchte, die Bilder festzuhalten. Aber sie lösten sich auf. Mir schien, der Tote duldete sie nicht.
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WIR MUSSTEN UMZIEHEN. Rolf war nicht lange genug Professor gewesen, die Witwenpension für Marie-Therese fiel eher bescheiden aus, gemessen am früheren gutachterhonorargenährten Wohlstand. Statt der Dreizehnzimmervilla mit Mansarden für die Dienstboten und Kirschbaum im Garten also nun, Ecke Liebig-Altkönigstraße, eine immerhin noch Siebenzimmerwohnung im ersten Stock direkt gegenüber der Seitenfassade der Synagoge. Zufall, dass wir wieder in ihre Nähe gerieten. Aber meine Mutter mochte die Gegend. Ein Zimmer musste untervermietet werden an ein Studentenehepaar. Der junge Mann hatte einen Klumpfuß, was ihm, vorerst, den Wehrdienst ersparte. Das nächtliche Gekicher, Gequietsche, Geholper der beiden im Nachbarzimmer regte mich auf, enttäuschte mich aber auch. Ich fand diese Geräusche zu banal für das, was ich mir vorstellte. Im Parterre wohnte allein in ihren sieben Zimmern die Frau eines Hauptmanns. Gelegentlich schleppten stämmige Soldaten Pakete aus allen Gegenden Europas heran, vom fern kämpfenden treu sorgenden Ehemann geschickt – Unterbrechung 11. September 2001 und folgende Wochen. Einfach weiterschreiben geht nicht. Wie Millionen Fernsehzuschauer, Radiohörer, Zeitungsleser versuche ich zu begreifen, was in New York, Washington und auf der Wiese in Pennsylvania geschehen ist. Außer den unzähligen Stimmen des Abscheus, der Verzweiflung, der -37-
Trauer, der Rache gibt es auch Fragen (Was taugen Geheimdienste, die ein solches ungeheuerliches Verbrechen nicht verhindert haben?) und sachliche Kommentare, Hinweise darauf, dass der menschenverachtende fundamentalistische Islamismus der Attentäter nicht identisch sei mit der Religion des Islam. Aber längst wissen wir doch, jede Religion, die sich im Alleinbesitz der Wahrheit wähnt, ist im Kern aggressiv, nährt religiösen Wahnsinn. Das gilt ebenso für die modernen säkularisierten Religionen. Stalin, Hitler, Mao, Pol Pot samt ihren Gefolgsleuten waren, so verstanden, religiöse Wahnsinnige. Mit dem religiösen Wahnsinn der Christen leben wir seit Jahrhunderten (Hexen- und Ketzerverbrennung, Kreuzzüge, Ermordung der Hugenotten in Frankreich, Vernichtung der Kulturen Süd- und Mittelamerikas, die erbarmungslos sich bekämpfenden Katholiken und Protestanten im Nordirland unserer Tage). Den religiösen Wahnsinn orthodoxer Juden in Israel kennen wir ebenfalls (Ermordung von Rabin, Ermordung von Palästinensern in einer Moschee). Den religiösen Wahnsinn des Islam (palästinensische Selbstmordattentäter gegen Israel) hat die westliche Zivilisation bisher nicht ernst genommen. Jetzt wird sie von den radikalsten islamischen Attentätern der Geschichte bedroht. Apokalyptische Nihilisten seien die, lese ich. Eine eher ratlose Umschreibung für das nun klar erkennbare, nur von keinem der Beteiligten eingestandene Ende der monotheistischen Religionen. Trotz überfüllter Kirchen, Tempel, Moscheen taugen sie nicht zur Bewältigung der lebensbedrohlichen Probleme, welche der homo sapiens sapiens auf allen Kontinenten seines Planeten angehäuft hat. Mögen einzelne Gläubige noch so aufopferungsvoll gegen Ungerechtigkeit und Elend ankämpfen, sie lindern bestenfalls, beseitigen nichts. Gegen den Hunger von 850 Millionen Menschen, gegen den Hungertod von täglich dreißigtausend Kindern, gegen Kinderarbeit, Kinderverkauf und Kinderprostitution, gegen mörderische Bürgerkriege, gegen -38-
modernen Sklavenhandel und regionale wie überregionale Völkerausplünderer kommen sie nicht an. Schon gar nicht gegen Aids. Nein, es braucht Hilfsorganisationen mit sehr viel Geld und internationaler wirtschaftlicher Planung, in einem weit umfassenderen Sinn als alle bisherigen und beschämend kümmerlich gebliebenen Maßnahmen. Nur damit kann dem Terrorismus Boden entzogen werden. Nichts Neues, gewiss. Das wird schon lange gefordert. Und wurde, da es Einschränkungen der wohlhabenden Länder voraussetzt, auf immer längere Bänke geschoben. Auf denen hocken wir nun, egal wie brüchig sie geworden sind. Doch Türme über Tausenden von Leichen zusammenkrachen zu lassen und Allah zu beschwören bringt ebenso wenig eine Lösung wie im Namen der Freiheit Bomben zu schmeißen und »God bless America« zu singen. Gott, welcher auch immer, hat offensichtlich anderes zu tun, als Amerika zu segnen, seine Bomben und seine Geheimdienste, die in früheren Jahren die Terroristen finanziert hatten, welche sie jetzt bekämpfen. Unter dem Namen Allah wird er für Jungfrauen im Paradies sorgen müssen, die arabischen Massenmördern als Lohn ihrer selbstlosen Arbeit in Amerika und Israel versprochen wurden. Und als Jahwe hat er israelische Soldaten zu schützen, die in Palästina arabische Kinder erschießen. Wir alten Europäer, diesmal vorerst noch nicht direkt Betroffene, wenn auch nicht schuldlos am Zustand, in dem sich die Welt befindet, wir könnten inzwischen ja mal anfangen, uns zu fragen, warum wir immer noch rücksichtslosen Wirtschaftsmanagern und trügerischen Seelenheiltyrannen so viel Macht über uns einräumen. Und warum, ganz aktuell, keine der europäischen Regierungen der amerikanischen geraten hat, was der pakistanische Autor und Filmemacher Tariq Ali als Alternative zur Bombardierung vorschlägt: auf der Jagd nach Bin Laden so listig und geduldig zu sein wie Israel während der Jagd auf Eichmann. -39-
Zwei Bilder noch, die mir bleiben: Die Frau, die, schon qualmumhüllt, aus einem Fenster der oberen Stockwerke eines der zusammenbrechenden WorldTrade-Center-Türme mit einem hellen Tuch oder Kleid verzweifelt um Hilfe winkt, während an ihr vorbei sich Menschen in die Tiefe stürzen. Die palästinensische Frau, die mit triumphierendem Zungentriller auf die Nachricht vom Attentat reagiert. Die Bilder mit ihr seien gefälscht, hieß es später. Was ändert das. Ich weiß ja, dass es palästinensische Mütter gibt, die stolz sind auf ihre mordend sich in die Luft sprengenden Märtyrersöhne. Ich hör den Zungentriller im Qualm. Und frage mich, woher ich meine Zuversicht nehme, dass Frauen den religiös verbrämten tödlichen Machtwahnsinn des Y-Chromosoms beenden werden. Eines Tages, eines Jahrhunderts, doch, ja, werden sie. Was bleibt ihnen anderes übrig als unsern verkommenen blutigen Laden aufzuräumen, wenn sie selbst am Leben bleiben wollen. Alleine schaffts der Mann ja offenbar nicht, gegen sein Y das Weibliche in sich zuzulassen. Jetzt den Weg zurückfinden in den Herbst des Jahrs 1941, in die Liebigstraße. Vom Terror der Gegenwart zum Terror der Vergangenheit. Von den Mördern im Namen Allahs zu den Mördern im Namen des Führers. Über uns, im zweiten Stock, wohnte mit zarter silberhaariger Frau und erwachsener Tochter, Kriegerwitwe, was für ein Wort, ein untersetzter gebieterisch erscheinender alter Herr. In Wahrheit war er liebenswürdig, tolerant, großzügig, auch wenn er, ehemals Verpackungen en gros, nur noch vom Ersparten lebte. Mir erschien er als Inbegriff eines Thomas-Mannschen hanseatischen Kaufmanns. Von ihm erfuhr ich, dass vor kurzem im Westend Juden aus ihren Wohnungen geholt und in Konzentrationslager nach Polen transportiert worden waren. Ich hörte zum ersten Mal das Wort Konzentrationslager, das Wort Ghetto. Der beunruhigten Marie-40-
Therese versicherte er, Vormieterin unserer Wohnung sei bis zu ihrem Tod eine garantiert arische alte Dame gewesen. Ich begann mir Gedanken zu machen. Aber ich verlor die Gedanken auch wieder. Ich sah aus dem Fenster meines Zimmers auf die rauchgeschwärzte Synagogenfassade. Aber die Synagoge ging mich nichts an. Ich war jetzt in der Hitler-Jugend und in diesem von mir gehassten Gleichschritt- und Liedergegröleverein wurde ich zu meiner Überraschung wieder, was ich vorher als Pimpf gewesen war, jemand mit armseliger Schnur zwischen zwei Jackenknöpfen. Nur, dass der jetzt Kameradschaftsführer hieß. Kameradschaft! Nichts als Geblöke und Hackenzusammenschlagen wurde da erwartet. Heilig Vaterland, in Gefahren deine Söhne sich um dich scharen – den Dichter dieser miesen Verse, die wir singen mussten, hab ich gehasst wie den Mann, der mir an der Hauptwache die Ohrfeige gab. Bei den Sternen steht, was wir schwören, Ohrfeige, nochmal heilig Vaterland, Ohrfeige, und irgendwas mit stehen wir Hand in Hand. Vaterlandsliebe, so Lessing dazu, sei »aufs höchste eine heroische Schwachheit«. Hilfreicher Satz. Leider erst viel später gelesen. Keine Ahnung, warum ich mir weiterhin die rotweiße Schnur andrehn ließ. Gleichgültigkeit oder doch Eitelkeit, was weiß ich. Gespalten fühlte ich mich, voller Widersprüche. Meine sexuellen Träume, meine Poesie- und Musikphantasien waren mir wichtiger als Krieg, Schule, Parteigedröhn. Uniformierte Pubertät. Mit Marie-Therese war darüber nicht zu reden. Aber es dauerte nicht lange, da hockte ich mit dem hanseatischen Kaufmann unter dicken Wolldecken vor seinem sehr leise eingestellten Radio, um aus London mit Beethoven-Pauke, tatatatam, und Lindley Fraser BBC-Nachrichten zu hören. Später auch den Soldatensender Calais. Und manchmal von Radio Beromünster die Kommentare des Schweizer Professors Salis. Das Abhören ausländischer Sender, unter den Nazis streng verboten, auch mit Todesstrafe bedroht, wurde uns selbstverständlich. -41-
Irgendwann kam dann noch eine sehr ferne Stimme aus Amerika dazu, die von Thomas Mann. Mir ist, bei aller Bewunderung für seine Eleganz, seine hohe Kunstfertigkeit, fast immer fremd geblieben, was er schrieb, wie er schrieb, von ein paar Ausnahmen abgesehn. Zu denen gehören ohne Frage die »Buddenbrooks«. Doch auch der grandios schroffe letzte Roman »Der Erwählte«. Und die erste »Krull«-Fassung, ein Achtzigseiten-Fragment. Ebenso die rätselhafte Geschichte von den vertauschten Köpfen. Und der eine oder andere seiner Briefe. Die vier Joseph-Romane hab ich nicht zu Ende lesen können, auch der metasyphilitische Dr. Faustus hat mich nicht erreicht. Der mehrfach gebrochene Heinrich Mann ist mir näher, besonders mit »Henri Quattre«. Aber damals, diese Stimme über den Ozean, oft gestört, fast unwirklich, sie war eine Art Lebenselexier für mich, machte mir Hoffnung, dass es außer der Welt, in der ich aufwuchs, noch eine andere für mich geben könnte. In Erwartung dieser Welt war ich zunächst mal sitzen geblieben. Selbst wohlmeinende Lehrer wie Schumann und Bornemann hatten mich nicht davor bewahren können. Zwar war ich durchaus fleißig, komponierte wieder, schrieb Gedichte, erfand für die Teddy-Bären meiner jüngeren Brüder eine eigene Sprache nebst Grammatik, aber in der Schule waren ja andere Sprachen gefragt. Also hockte ich nun, ziemlich elend, in einer Bank der Klasse unter mir, ermutigt immerhin durch Schumann, der den Neuen der Klasse vorstellte als phantasievoll, in Literatur beschlagen, ja als künftigen Schriftsteller. Was die Klasse milde belächelte. Dabei fühlte sich der künftige Schriftsteller doch eher in der Musik zu Hause. Ich wusste nicht, woran ich war. Dazu der Krieg. Wenn auch fern, trotz gelegentlicher aber von niemandem ernst genommener nächtlicher Luftalarme, er wurde mir immer unheimlicher. Und war, wie der hanseatische Kaufmann ruhig erläuterte, mit dem -42-
Überfall auf Russland und der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten schon verloren, sosehr momentan von den Deutschen noch gesiegt werden mochte. Ich suchte nach Orientierung, beschloss irgendwann pathetisch, mein Leben nicht zu vertun, bevor es mir möglicherweise vom Krieg genommen würde. Vor allem, Marie-Therese nicht weiterhin Kummer zu machen. Die hatte Rolfs Tod und den Umzug mit großer Energie überstanden. Jetzt lag sie oft schon frühabends mit Kopfschmerzen im Bett. Allmählich begriff ich, dass sie, solange keine Anforderungen an sie gestellt wurden, stets eine blasse Leidende war. Kamen Anforderungen, entwickelte sie ungeahnte Kräfte. Aber in meinem Fall konnte sie ohne mich nichts ausrichten. Also musste ich ihr die Kopfschmerzen ersparen, die sie wegen ihres Ältesten hatte, musste wirklich System in mein Leben bringen. Ich lernte Vokabeln, Gleichungen, ödesten Kram, machte Hausaufgaben. Daraufhin bekam ich von ihr, sozusagen als Lohn, privaten Musikunterricht bezahlt. An Klavierspielverfeinerungen traute ich mich nicht mehr heran. Da blieb alles grob autodidaktisch. Aber bei einem Musiker des Frankfurter Museumsorchesters lernte ich B-Klarinette. Und bei einem Bratschisten des Orchesters Harmonie und Kontrapunkt. Dies Glücksgefühl, als er mir dafür die Harmonielehre von Schönberg lieh! Von Schönberg hatte ich bis dahin nur gewusst, dass er verboten war. So empfand ich das Vertrauen des Bratschisten als große Ehre. Es half mir, aus meinen Wirrnissen herauszufinden. Nicht aus allen. Die meisten blieben. Aber Klarinette und Schönberg machten sie, für Momente jedenfalls, weniger wichtig. Im dritten Stock, dem obersten des Altbaus, wohnte mit Familie ein Dichter. Der war Reichskultursenator und stellvertretender Generalintendant der Städtischen Bühnen. Gelegentlich ließ er sich in Uniform sehen. Die war -43-
eindrucksvoller als Rolfs Amtswalterverkleidung. Aber er wirkte eher harmlos auf mich. Angenehm war, dass es durch ihn immer Freikarten gab für Oper und Schauspiel. Und dass seine Tochter mich mochte, obwohl ein Jahr älter und auch ein paar Zentimeter größer. In ihrem Zimmer hingen Fotos des Operntenors, in den sie zu meinem Missvergnügen verliebt war. Ich durfte ein bisschen fummeln und knutschen, damit hatte sichs. Scharf war sie auf Pferderennen. Die gabs noch in den ersten Kriegsjahren. Einmal lud sie mich ein, sie zu begleiten. Wahrscheinlich musste der Tenor Stimmübungen machen. Ich fand, die hatte er auch nötig, als alter Mann von mindestens vierzig. Pferderennen waren ja nun meine Sache nicht. Aber dies Mädchen wars, weich und angenehm anzufassen. Also ging ich mit. Zuvor kaufte ich, auf kostbare Punkte meiner Textilkarte, einen grauen Filzhut, den ersten und einzigen meines Lebens. Der sollte die mir fehlenden Zentimeter ausgleichen. Wie ich im Spiegel feststellte, sah er scheußlich aus. Aber ich trug ihn, an ihrer Seite, zu den Pferden. Bloß brachte er mir nichts. Sie hatte nur Augen für Pferde und Jockeys. Während ich das schreibe, frage ich mich, wieso gabs eigentlich noch Jockeys? Wo doch alle jungen Männer Hand in Hand ums Vaterland und auch ziemlich weit außerhalb des Vaterlands zu stehen, zu kriechen, zu töten, zu sterben hatten. Aber irgendwelche schmächtigen Figuren müssen ja auf den Pferden gesessen haben. Und die Begehrte an meiner Seite streichelte Pferdehälse und Jockeyhände. Zwischendurch verglich sie Wettscheine. Ihre Lieblingspferde gewannen nie. Das rührte mich. Doch den Hut schmiss ich ins Gebüsch. Wir sahn uns dann seltener. Unerwartet harmonisch waren noch ein paar Nachtstunden, bei Luftalarm. Da hockten wir im verdunkelten Zimmer auf meinem Bett, durch die angelehnte Tür kam Kerzenschein vom Vorplatz, wo die Frauen der oberen Stockwerke mit Marie-Therese und der Frau des -44-
Studenten um einen Tisch mit irgendeinem Ersatzgetränk saßen und halblaut seufzten, plauderten, Fliegernachrichten aus dem Radio hörten und abwarteten, ob es nötig sein würde, meine Brüder zu wecken und zum Luftschutzkeller hinunterzugehn. Wir beide auf dem Bett hielten uns umschlungen, streichelten uns, flüsterten, Kinder im Höhlenversteck, die sich Geschichten erzählen, während draußen Ungeheuer vorbeiziehn. Männer saßen nie mit am Vorplatztisch. Der Student, nun doch bald eingezogen, tat Dienst irgendwo weit entfernt in einer Wehrmachtschreibstube, der hanseatische Kaufmann hörte oben BBC, und der Reichskultursenator war entweder beim Führer (»Diese Augen! Diese wunderbar tiefen warmen Augen des Führers!«) oder bei Goebbels oder stritt mit seinem Sohn. Der war lang, blass, dünn, vom Militärdienst zurückgestellt, und seine Auseinandersetzungen mit dem Vater wurden gelegentlich lautstark geführt. Einmal, nachts, im finsteren Treppenhaus, unter Sirenengeheul, schrie er ihm, zitternde Taschenlampe in der Hand, irgendwas ins Gesicht, vergessen, worum es da ging, aber ich hör noch die flehende Stimme des Vaters: Sei still, ich bitte dich, du weißt, ich muss dich anzeigen, wenn du so redest. Viele Nächte später, als ich mit dem Sohn im Hof stand und einen sternenklaren von Scheinwerferstrahlen durchkreuzten Himmel beobachtete, redete er wie beiläufig vom Brand der Synagoge. Sein Vater habe zum Gedenken an den neunten November (Ende des Kaiserreichs 1918, Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle München 1923) gerade für diesen Abend einige deutsche Dichter eingeladen, um über die Aufgaben von nationaler Literatur in großer Zeit zu diskutieren. Sehr bald hätten die versammelten Herren sich gestört gefühlt durch das Gebrüll auf der Straße und die aus den Fenstern der Synagoge lodernden Flammen. Man habe die Rollläden heruntergelassen, um die Flammen nicht mehr zu sehn, und Bruckners Siebte -45-
aufgelegt, um das Gebrüll zu übertönen. Der Sohn schnippte mit den Fingern. Das sei für ihn Literatur, seitdem. Ich sehe, ich bin schon weit ins Jahr 1942 geraten. Heute scheint mir, es hat für mich bereits im Spätsommer 41 begonnen. Da schrillten an irgendeinem Vormittag nach den Ferien die Klingeln durchs Gymnasium. Lehrer und Schüler versammelten sich in der Aula. Die beiden Nationalhymnen, Deutschland- und Horst-Wessel-Lied, wurden gesungen. Und Schumann, immer noch oder wieder kommissarischer Direktor, weiß ich nicht mehr, ging zum Rednerpult, ein paar Zettel in bebender Hand, sagte etwa folgendes: Auf Anordnung der Gauleitung sei nach den überwältigenden Siegen der deutschen Wehrmacht in Russland jetzt eine Feier abzuhalten. Zettelknittern. Dann: Allein von den Schülern des Lessing-Gymnasium seien bisher im Krieg gefallen… Er nannte Zahlen und Namen, die ich vergessen habe. Vermisst seien… Verwundet seien… Und erklärte die Siegesfeier für beendet. Die Nationalhymnen. Die versteinerten Gesichter der Lehrer, die wir als NaziSympathisanten kannten. Aber niemand hat Schumann denunziert, den ursprünglich wohl eher Deutschnationalen (geht aus einigen hinterlassenen Briefen hervor), der die Nazis hasste, weil sie seine Ideale pervertierten, und der so zum Statthalter des »bürgerlichen Revolutionärs« Lessing geworden war. Nur allmählich wurde mir damals klar: Nicht bloß die Stimme, die über den Ozean kam, verhieß eine andere Welt. Dieser mutige Schulmeister mit seinen hinter dicken Brillengläsern fast verborgenen Augen sah sie deutlich. Und lebte in ihr. So war er nicht nur unser Lateinlehrer, sondern machte durch sein Beispiel jene andere Welt für uns sichtbar. Dasselbe gilt für Eduard Bornemann, der weit mehr als Griechisch lehrte. Während Schumann gelegentlich cholerisch reagierte, etwa wenn Unruhe in der Klasse war oder wenn ihm zu dumme Fragen gestellt wurden, blieb der meistens milde -46-
melancholisch wirkende, leicht frankfurterisch redende Bornemann stets ruhig. »Gell, du weißt, wie du stehst«, war das Äußerste an Tadel, zu dem er sich entschließen konnte. Nie fragte er Vokabeln ab. Er setzte voraus, dass man sich freiwillig aneignete, was nötig war, um Homers Odyssee folgen zu können. Viele Schüler, nicht nur ich, haben das zunächst als Lizenz zum Ausruhn missverstanden. Bis wir dahinterkamen, dass der Demokrat Bornemann uns mit seinem Griechisch unauffällig ermutigen wollte, selbstverantwortlich handelnde Individuen zu werden. Was allerdings auch dazu führte, dass die ermutigten Individuen bisweilen leichtsinnig ausprobierten, wie weit sie gehen konnten. Wir hatten einen begabten Zeichner unter uns. Einmal blieben in der Pause vor Griechisch die meisten in der Klasse und ermunterten ihn zu einer Hitler-Karikatur auf der Tafel. Die zeigte dann den Führer als Redner aus verschiedenen Perspektiven. Comic Strip in Kreide. Anfangs Hitler mit erhobener Hand hinter dem Rednerpult, dann mit verzerrtem Gesicht, brüllend, das Pult mit Fausthieben zerschlagend, am Ende umgeben von Pulttrümmern, schwankend, mit zerrissenem Hemd und stierem Blick. Gespannt warteten wir auf die Reaktion von Bornemann. Der kam rein, blickte kurz auf die Tafel, sagte ruhig: »Wischt das weg. Den brauchen wir hier nicht.« Und war sofort bei der Zauberin Circe, welche die Gefährten von Odysseus in Schweine verwandelte. Während der einzige Nazi unter uns, der bisher stumm gelitten hatte, aufsprang und mit nassem Schwamm über die Tafel fuhr, begleitet von unserm Grinsen. Bornemann beachtete weder Schwamm noch Grinsen, sagte am Ende der Stunde nur seinen Lieblingssatz, leicht verändert: »Gell, ihr wisst schon, wo ihr steht.« Wir verstanden die Warnung. Aber eigentlich fühlten wir uns sicher. Wir – das waren die Nazikritischen, etwa die Hälfte der Klasse. Die andere Hälfte war indifferent, versuchte allenfalls, -47-
ausgleichend zu wirken, wenn die Nazikritischen den Nazisympathisanten verhöhnten, weil einige mal mitbekommen hatten, dass er seine Eltern begrüßte mit Heil Hitler Vater, Heil Hitler Mutter. Er hätte uns gefährlich werden können. Aber er wollte dazugehören, warb um Zuneigung, machte sich nützlich. Spiegelverkehrte Wirklichkeit: Er, beschützt von der Staatsmacht, fühlte sich schwach. Wir, ungeschützt, unklar opponierend, fühlten uns auf dem richtigen Weg. Tatsächlich lernte ich allmählich nicht wo ich stand, sondern wo ich zu stehen hatte. Lessings Schüler eben. Dazu noch ein Bornemann-Beispiel: Wir hatten auch einen Kunsterzieher. Der war untersetzt, rund, mit Glatze und grauem Künstlerhaarkranz, verkaufte »Hilf mit«-Märkchen, stank nach Kautabak, wenn er sich über einen beugte und mit feinem Stift Korrekturen an der Zeichnung vornahm, die man gerade in Arbeit hatte. Im Sommer waren das Äpfel, im Winter Schneemänner, nie was anderes, jahraus, jahrein. Er wurde nur mit »Meister« angeredet und war berühmt für seine Aussprüche. Die hatten vor Jahren Abiturienten gesammelt. Schreibmaschinenblätter mit Meisterworten wanderten als kostbarer Schatz von Klasse zu Klasse. Ein paar dieser Worte, die ich selbst gehört habe, sind mir geblieben: »Jongs, ich bin der Einzige, der den Führer von links gemalt hat.« Oder: »Ich habe dem Kaiser gedient, bis es nicht mehr ging. Ich habe der Weimarer Republik gedient, bis es nicht mehr ging. Ich werde auch dem Dritten Reich dienen, bis es nicht mehr geht.« Oder: »Jongs, Typhus ist eine sehr gefährliche Krankheit. Entweder man stirbt oder man wird verrückt. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe Typhus gehabt.« Nie haben wir herausbekommen, ob diese Aussprüche von anmaßender Torheit zeugten oder von äußerster Verbergungs-Raffinesse. Ungläubig, so erzählte Marie-Therese mir Jahre später, habe sie den Meister betrachtet, als sie, bevor ich Sitzenbleiber wurde, in die Schule gekommen war, um mit Bornemann über meine schlechten Leistungen zu -48-
sprechen. Der Meister schritt würdig den Korridor entlang, huldvoll nickend, mit erhobener Hand wie Hitler grüßend, durch ein Spalier jüngerer Schüler, die, den Arm zum deutschen Gruß ausgestreckt, laut schrien: »Heil Meister!« »Wie kann diese Schule einen solchen Lehrer tragen!«, habe sie einigermaßen fassungslos gesagt. »Nur diese Schule kann einen solchen Lehrer tragen«, habe Bornemann, lächelnd, geantwortet.
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IN DER HITLERJUGEND wurde von irgendeinem oberen Stammoder Bannführer ein großes Geländespiel im Stadtwald angeordnet, Blau gegen Grün, können auch andere Farben gewesen sein. Irgendwas außerordentlich Wertvolles, alte Keksbüchse oder rostiger Löffel, sollte heimlich von den einen irgendwohin getragen werden, und die andern sollten sie daran hindern. So ähnlich. Ich weiß nicht mehr, ob ich mit meiner Kameradschaft die Büchsenträger angreifen oder beschützen sollte. Aber egal, mir war klar, das hieß vor allem, stumpfsinnig durch Dreck und Gebüsch robben, mit Aussicht auf eine große Schlägerei am Schluss. Dazu hatte ich keine Lust. Meine Kameradschaft, etwa zehn Jungen, die ein Jahr jünger waren als ich, wurde von mir auf eine abgelegene Lichtung geführt. Dort saßen wir in Sonne und Halbschatten auf Baumstämmen, räkelten uns im Gras, schlürften Brausepulver aus der Handfläche. Und ich erzählte von Odysseus und Circe, auch vom Meeresgott Poseidon, der ein Techtelmechtel mit einer Göttin oder Sterblichen hatte, welche ihm in seinem schaukelnden Wasserbett gefällig war, Poseidaoni migeisa, wie es im Text hieß, wörtlich: sich mit Poseidon vermischend, vom leicht verklemmten Bornemann in seinem Kommentar so übersetzt: »Sich Poseidon in Liebe gesellend.« Damit hatte ich großen Erfolg. Die Kameradschaft wälzte sich vor Lachen. Anschließend versuchten wir, die richtigen Verben für die Tätigkeit der beiden zu finden. Viel mehr als ficken und vögeln kam nicht heraus. Das waren Wörter, die man damals kaum zu -50-
denken wagte, auch in der Kameradschaft nicht. Aber Homer hatte uns befreit. Wir brüllten und sangen durch den Wald: Poseidaoni fickeisa. Dann wollten ein paar von der Kameradschaft noch unbedingt Grüne oder Gelbe verhauen. Ich ließ sie ziehen und machte mich mit den andern auf den Heimweg, weil ich dachte, irgendwer wird die alte Keksbüchse ja inzwischen bei irgendwem abgeliefert haben. Wobei ich vergaß, dass als Abschluss des Geländespiels eine Kundgebung aller Beteiligten auf dem Sportfeld befohlen war. Vorgesetzte suchten nach uns. Einige meiner Kameradschaft wurden aufgegriffen, als sie führerlos im Wald umherstreunten. Die berichteten, was ich ihnen erzählt hatte. Mit Folgen für mich, die mein HJ-Leben entschieden veränderten. Und nicht nur mein HJ-Leben. Am nächsten HJ-Nachmittag standen auf dem üblichen Appellplatz Dreierreihen von Hitler-Jungen im Karree um den Fahnenmast herum. Ich wurde vorgerufen und vom Gefolgschaftsführer wegen Feigheit und Unfähigkeit feierlich degradiert. Das Feierliche litt darunter, dass es dem Gefolgschaftsführer nur mit mühevollen Fingerverrenkungen gelang, mir die rotweiße Schnur von den Jackenknöpfen zu reißen. Die Komik der Situation entging mir nicht, auch wenn ich sie nicht genießen konnte. Wie betäubt trat ich zurück ins Glied, als letzter in die dritte Reihe. Meine Kameradschaft kannte den plötzlich aussätzig Gewordenen nicht mehr. Irgendwas war nach Poseidaoni fickeisa ja zu erwarten gewesen. Ich hatte mit einem strengen Verweis gerechnet, nicht mit dieser Sorte öffentlicher Entehrung. Die machte mir zu schaffen, mehr, als ich mir eingestehen wollte. Am HJ-Leben nahm ich nicht mehr teil. Solln die mich doch holen kommen, dachte ich. Wie trotzdem der Kontakt mit dem HJ-Gebietsarzt zustande kam, dem obersten im Gau HessenNassau, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wo das erste Gespräch stattfand. Wohl aber, dass ich diesem Mann von etwa Ende -51-
zwanzig sofort vertraute, obschon seine braune Uniform derjenigen meines Vaters glich. Da müssen von ihm wie nebenbei ein paar Worte gefallen sein, die mich aufhorchen ließen. Die mich dazu brachten, eines Nachmittags zusammen mit zwanzig, fünfundzwanzig anderen Jungen erwartungsvoll in einem Raum der Frankfurter HJ-Zentrale zu sitzen, Residenz des Bannführers, einer heruntergekommenen alten Villa am Mainufer, früher sicher in jüdischem Besitz. Wir erfuhren, dass aus uns eine so genannte Feldscher-Einheit werden sollte, was bedeutete, dass wir eine Ausbildung als Sanitäter erhalten würden, um bei Sportveranstaltungen, Aufmärschen, Geländespielen der HJ eingesetzt zu werden. In Wahrheit ging es diesem Doktor als Gebietsarzt um weit mehr. Die Feldscher-Einheit war Oberfläche, Tarnung. Zwar wurden wir gründlich unterrichtet, und nicht nur im Mullbindenaufwickeln, Schienenanlegen, Wiederbeleben, sondern auch, wie regelrechte Medizinstudenten, in Physiologie und Chemie. Zum Beispiel weiß ich seitdem, dass laut damaligem Lehrbuch Kohlehydrate aldehyd- oder ketonartige Abkömmlinge mehrwertiger aliphatischer Alkohole sind. Aber indem wir uns beim Lernen auch selbst besser kennen lernten, kamen wir dahinter, dass viele von uns Schwierigkeiten in ihrer HJ-Vergangenheit gehabt hatten. Jörgen, auf seinen Wunsch redeten wir den Gebietsarzt titellos an, hatte offenbar ein besonderes Auswahlprinzip für seine Feldscher-Einheit befolgt, mochte aber, wie er später erklärte, seine Pläne nicht sofort offen legen. Auch er wollte uns erst besser kennen lernen. In der Tat verschwanden nach kurzer Zeit einige der Feldscher-Anwärter, die sich den Anforderungen nicht gewachsen fühlten, der eine oder andere kam dazu. Schließlich blieben ein paar mehr als ein Dutzend übrig. Die hatte der Gebietsarzt sich also herausgefiltert, indem er lange Zeit beharrlich in verschiedenen Frankfurter HJ-Gruppierungen nach Hitlerjungen fragte, die negativ aufgefallen waren. Seine -52-
Autorität reichte aus, um die gewünschten Informationen zu erhalten. Er beobachtete, führte Gespräche, prüfte, nahm nicht jeden. Diejenigen, die übrig blieben, versammelte er dann in der Villa am Mainufer. Es ging ihm um nichts weniger als die Schaffung einer antinazistischen HJ-Einheit. Ein wahrhaft abenteuerliches Unternehmen. Soviel ich weiß, hat es nirgendwo im Großdeutschen Reich vergleichbar Waghalsiges gegeben. Dabei wurden wir ja wirklich zu guten Sanitätern ausgebildet, und zwar von jungen Wehrmachtärzten oder Medizinstudenten in den letzten Semestern, Freunden von Jörgen. Für Mediziner galt damals die offizielle Regelung: abwechselnd ein Semester Studium, ein Semester Kriegsdienst auf den Schlachtfeldern Russlands oder sonstwo. Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, erschien Jörgen in unserer Feldscherausbildungszeit nie in Wehrmachtuniform; möglicherweise war er als unabkömmlich einstweilen zurückgestellt, weil er dem Reich als Hitlerjugend-Gebietsarzt wichtigste Dienste leistete. Oder, mag sein, seine nicht sehr stabile Konstitution schützte ihn vorerst. Er war mager, hochgewachsen, sehr blass, trug wie Schumann dicke Brillengläser, galt als hervorragender Arzt. Später erfuhr ich, dass er sich in dieser Zeit zum Herzspezialisten hatte ausbilden lassen. Nahm er Routineuntersuchungen an erkrankten oder verletzten Hitlerjungen vor, wirkte er meistens ruhig, heiter, Mut machend. Aber er konnte auch kühl abweisend sein, verschlossen, unnahbar. Einige von uns waren bei diesen Untersuchungen stets dabei, zunächst als Zuschauer, um zu lernen, dann schon als Helfer mit Tupfern, Kanülen, Pflasterstreifen, Tabletten, Verbänden. Während der Ausbildung aber hörten wir abends nun immer wieder und immer häufiger Vorträge von Jörgen und seinen Freunden zu Themen der Literatur, der Philosophie, der Musik, der Malerei. So lernten wir auch und vor allem Dichter, Komponisten, Maler kennen, die von den Nazis verfolgt oder -53-
totgeschwiegen wurden, deren Werke nicht erwähnt werden durften. Ich war ja ganz gut vorbereitet, hörte aber trotzdem Neues, vor allem über jüdische Kultur als wichtigen Bestandteil der deutschen Kultur. Zwischendurch gab es Berichte derer, die vorübergehend von »draußen« zurückkamen, Berichte von solch schonungsloser Offenheit über Wesen und Praxis des Raub- und Vernichtungskriegs, den die Wehrmacht für heilig Vaterland in Russland führte, dass ich Mühe hatte sie zu fassen, zu verarbeiten. Den andern gings ähnlich. Jörgen und seine Freunde werden sich überlegt haben, wie viel sie uns zumuten konnten, ohne dass der eine oder andere durchdrehte. Wissende zu werden, meinten sie wohl, müssten wir aushalten, um widerstehen zu können. Das war schon hart. Fast unerträglich, was wir über die SS erfuhren. Der Toten Tatenruhm, wie dumpf trommelnde Vergangenheitsverbieger heute zu deren Ehren skandieren, bestand für uns damals aus Wörtern wie Auschwitz, Treblinka, Ghetto von Warschau, Ghetto von Wilna. Nie werde ich den Abend vergessen, als ein Freund Jörgens über seine Erlebnisse in Polen berichtete. »Ich weiß nicht, ob es einen jüdischen Rachegott gibt«, sagte er, »aber ich seh ihn hinter jedem Gebüsch. Wir werden furchtbar bezahlen müssen. Und können nur dankbar sein, wenn wir lebend davonkommen.« Schon bald beschäftigte mich die Frage, was Jörgen veranlasst haben könnte, mit dieser ebenso tollkühnen wie kalt kalkulierten Methode die Nazi-Mordmaschine zu sabotieren, uns zu Mitbewohnern einer zwar ständig bedrohten, aber lebensnotwendigen Gegenwelt zu machen, eben jener Gegenwelt, die ich schon, auf andere Weise, durch Schumann, Bornemann und den hanseatischen Kaufmann kennen gelernt hatte. Sein Vater, so wurde erzählt, von ihm selbst oder einem der Freunde, bin mir da nicht sicher, pensionierter Direktor einer -54-
Frankfurter Oberschule, schwer zuckerkrank, erbitterter Feind der Nazis, brauchte viel Insulin, wenn die Nazis Erfolge feierten. Kamen schlechte Nachrichten für die Nazis, damals noch selten genug, war er beschwerdefrei. Ziemlich früh verständigten sich beide darüber, dass von außen das NaziTerrorsystem nur durch Krieg zu beseitigen wäre. Innerhalb Deutschlands hatte kein bewaffneter Kampf gegen das System eine Chance. Einzelne Sprengstoff-Attentäter oder Untergrundkämpfer, so ehrenwert die auch seien, kommunistisch oder sonstwie organisiert, sie würden nichts bewirken, sondern rasch entdeckt und hingerichtet werden. Es gebe nur eine einzige Möglichkeit effektiven Widerstands: das System von innen her zu lähmen, auszuhöhlen. Und alles zu stärken, zu bewahren, was durch das System vernichtet werden sollte. Das System zu benutzen, um es zu zerstören. Das war hochgesteckt, aber, nehme ich an, doch mit der von heute her gesehn natürlich utopischen Hoffnung verbunden, anderswo kämen andere auf gleiche Ideen, und ein Ende von Krieg und Massenmord könnte schneller erreichbar sein. Bis dahin gelte: sich vorzubereiten auf die Zeit danach. Also entschloss sich Jörgen zu einer rücksichtslosen NSKarriere. Die katastrophalen Folgen im Fall des Scheiterns bedachte er gewiss, hielt Scheitern aber offenbar für unwahrscheinlich. Denn auch hier wieder: keine Denunziation. Er hatte uns gut ausgesucht. Beabsichtigte der Bannführer, sich über die Fortschritte der Feldscher-Ausbildung zu informieren, erfuhr Jörgen das rechtzeitig. In der Nazi-Hierarchie stand er wohl höher als der Bannführer, wenn auch der Bannführer dort Hausherr war, wo wir uns trafen. Und so fand er uns Feldschere über Kohlehydrate und Streckverbände gebeugt, das Verhältnis von Grillparzer zu Beethoven diskutierend, und sprach anerkennende markige Worte über die notwendige Verbindung von Bildung und Gesundheit, die der deutsche Mann für sein Volk entwickeln und bewahren müsse. Nach Krieg und -55-
Gefangenschaft starb er in Jörgens Armen an Syphilis, sagte noch, er habe alles gewusst. Gelegentlich wurde dennoch deutlich, wie gefährdet wir waren. Einer von uns, Norbert, wurde angezeigt, weil er sich in der Öffentlichkeit schamlos abfällig über den Nationalsozialismus geäußert hätte. Norbert, asketisch, absoluter Spinner, faszinierte mich. Es hieß, er experimentiere zu Hause heimlich im Keller mit Säuren und Ultrakurzwellen. Welch kühne Verbindung von Forschungsgebieten! Gern hätte ich ihm bei der Arbeit zugesehn. Leider lud er weder mich noch andere ein, forschte einsam. Ich hielt ihn für einen genialen künftigen Wissenschaftler. Vielleicht wäre er der auch geworden. Aber er hat den Krieg nicht überlebt. Damals verhörte ihn die Gestapo in ihrem Quartier in der Lindenstraße. Man benachrichtigte Jörgen. Der Gebietsarzt erschien in voller NS-Montur, beschimpfte Norbert, der sein Vaterland aus Geltungssucht beschmutzt habe, aber die werde er ihm schon austreiben, und verprügelte ihn derb vor den wohlgefällig grinsenden Gestapo-Beamten. Da sie fanden, dass Norbert ja in den besten Händen sei, verzichteten sie auf eine weitere Untersuchung des Falls. Und Norbert begriff, dass Jörgen ihn gerettet hatte. Nicht nur ihn, vermutlich. Uns alle. Marie-Therese begann sich Sorgen zu machen. Kam ich spätabends aus dem Dienst, hatte sie meistens die Brüder bereits ins Bett gebracht, lag selbst schon im Bett, ein Buch in der Hand, ein Glas Rotwein auf dem Nachttisch. Ich setzte mich zu ihr, erzählte. Nicht alles. Aber ihr genügte es, um eines Tages Jörgen anzurufen. Die beiden müssen sich irgendwann getroffen haben. Und es scheint Jörgen gelungen zu sein, ihre Befürchtung zu zerstreuen, man könne ihr wegen politischer Unzuverlässigkeit die Erziehung ihrer Söhne nehmen. Da sei der Gebietsarzt vor, so wird Jörgen sie beruhigt haben, und die Erinnerung an den in der Partei immer noch hoch geschätzten Professor! -56-
Manchmal denke ich, dass Rolf in seinen beiden letzten Jahren vielleicht auf demselben Weg war wie Jörgen. Diese Abende am Bett von Marie-Therese taten uns beiden gut. Wir verstanden uns. Mit ihren nun fünfzig Jahren, trotz Migräneanfällen, grau werdenden Dauerwellehaaren und schwacher Konstitution, war sie, wie ich fand, eine noch ansehnliche und, so gut sies hinkriegte, tätige Frau. Manchmal bekam sie Besuch von einem Jugendfreund. Der war Bürgermeister einer kleinen rheinischen Stadt und Witwer. Zwar in der Partei, aber kein richtiger Nazi. Dazu war er zu lebensfroh und auch zu katholisch. Was ja im Rheinland kein Gegensatz ist. Drei Jahre später rettete er seine Stadt vor der Zerstörung, indem er keine Anordnung der Parteiführung mehr befolgte, den zuständigen Wehrmachtsoffizieren, welche die Stadt verteidigen wollten, falsche Informationen gab und unter Lebensgefahr mit den heranrückenden Amerikanern verhandelte. Marie-Therese wollte wissen, was ich davon hielte, dass er ständig schwere Zigarren rauchte. Ich hatte nichts gegen den Duft von Zigarren. Aber sie mochte den Qualm nicht. So kam es, dass Dienstreisen des Bürgermeisters nach Frankfurt nicht mehr stattfanden. Was mir auch ganz recht war. Eine Beziehung von Marie-Therese zu einem andern Mann konnte ich mir nicht vorstellen. Sie selbst sich wohl auch nicht. Schon ihre Beziehung zu Rolf war mir immer rätselhaft geblieben. Schließlich müssen die beiden ja gelegentlich, zumindest dreimal, im selben Bett gelegen haben. Um diese Zeit kümmerte sich Marie-Therese um zwei Frauen. Eine war neunzehn, Studentin, nach einer Affaire mit einem verheirateten fünfundvierzigjährigen Dozenten schwanger, ohne Hilfe und Zuspruch, weil von ihrer streng bürgerlichen Familie gemieden, allein lebend unter ärmlichen Verhältnissen. Weil sie weder vom Dozenten noch von einer Nazi-Organisation Geld annehmen wollte, arbeitete sie als Putzhilfe in einem Lokal. Einmal hab ich sie gesehen, dachte, die passt doch besser zu mir. Einem gierigen Sechzehnjährigen kommt nicht in den Sinn, -57-
dass der Abstand von ihm zu einer Neunzehnjährigen größer sein kann als der Abstand einer Neunzehnjährigen zu einem Fünfundvierzigjährigen. Allerdings war ich ziemlich schüchtern. Gleichzeitig aber überzeugt, dass ich eher in der Lage wäre, mich in Acht zu nehmen, als ein ausgelaugter Dozentenschwachkopf. Marie-Therese, die meine Gedanken sehr unpassend gefunden hätte, besorgte Windeln, ja eine ganze Baby-Ausstattung, lud die Studentin zum Tee ein, gab ihr wohl auch Geld. Die zweite Frau, der sie half, war eine schon vor Jahren wegen früherer SPD-Mitgliedschaft fristlos entlassene Lehrerin. Marie-Therese erreichte es, dass einige Damen aus ihrem Bekanntenkreis sich mit ihr regelmäßig bei der Lehrerin einfanden, um gegen Honorar Vorträge über kunstgeschichtliche Themen zu hören. Nach dem Krieg wurde die Lehrerin Direktorin einer Oberschule irgendwo in Hessen. Ich traf sie noch ein paar Mal in Frankfurt, fragte sie aus nach den zwanziger Jahren. Sie berichtete von den Fehlern der KPD und der SPD im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Nie wieder, sagte sie, werden KPD und SPD sich wie damals gegenseitig zerfleischen und dadurch schwächen. Ich weiß nicht, ob sie noch erlebt hat, was aus ihrem Niewieder in der späteren DDR und in der Bundesrepublik geworden ist. Marie-Therese, damals, zwischen Strampelhöschen und Tizian, machte sich gewiss keine Gedanken über das Verhältnis von SPD und KPD untereinander und von beiden zu den Nazis. Ihr genügte, dass ein Mensch, den sie kennen und schätzen gelernt hatte, schuldlos in Not geraten war. Und mir gefiel die zerbrechlich wirkende, doch tatkräftige und eher unerotische Mutter. Dass da untergründige Besitzansprüche am Werk gewesen sein sollten, wie bei vielen heranwachsenden Söhnen, kam mir erst nach Jahren und nicht sehr kritischer Freudlektüre in den Sinn. Traf aber, wie ich dann fand, nun doch nicht auf mich zu. -58-
Eines Abend überlegte sie mit mir, ob es nicht ratsam sein könnte, einen Teil unserer Möbel nach Hünfeld zu verlagern. In Hünfeld, zwischen Vogelsberg und Rhön, lebte jetzt Erna, die frühere Kinderfrau, mit eigenen Kindern, während ihr Mann als Soldat in den Weiten Russlands am Leben zu bleiben versuchte. Dort gabs neben dem Haus, in dem sie wohnte, einen leeren Schuppen, geeignet zum Abstellen nicht benötigter Stühle, Schrankwände, Kommoden, Bettgestelle. Zwar habe die Hauptmannsfrau im Parterre ihr erklärt, sagte Marie-Therese, dass Frankfurt niemals Ziel amerikanischer oder britischer Flieger sein werde, weil doch die halbe Stadt den Juden gehöre und die Juden nicht ihre eigenen Häuser zerbomben ließen, Information aus allerhöchsten Militärkreisen, Frau Professor könne ihr glauben. Aber die Frau Professor, die es schon zu Rolfs Zeiten nicht mochte, so angeredet zu werden, glaubte ihr kein Wort, und so nahmen wir denn nachts Schränke auseinander und verschnürten voll gestopfte Kommodenschubladen. Die Sachen standen dann noch fast zwei Jahre in den Zimmern herum, weil sich niemand fand, der eine Lastwagenbeiladung nach Hünfeld fahren wollte oder durfte. Der hanseatische Kaufmann lächelte milde, meinte, es sei sehr die Frage, was eher sein Ziel erreiche, amerikanische Bomben Frankfurt oder Marie-Thereses Möbel Hünfeld. Deshalb möge sie sich doch lieber schonen. »Schonen?«, sagte Marie-Therese. »Lohnt nicht mehr.« Und packte und schnürte weiter, zwischen Rotwein, Buch und Bett, Schnuller und Cézanne, Essen anschleppen, sich um meine Brüder kümmern. Zwar halfen wir alle mit im Haushalt. Aber Schularbeiten waren zu machen, Erste-Hilfe-Griffe und Klarinette waren zu üben (mit beidem fiel ich den andern ziemlich auf die Nerven), Schönberg zu studieren. Mir gings gut in dieser Zeit, trotz intensiver nächtlicher Albträume, in denen ich in Massengräbern lag oder von der -59-
Gestapo gefoltert wurde. Mir gings gut, weil ich wusste, ich bin auf der richtigen Seite. Zugleich genoss ich es, dass ich was hermachte als bedrohlich wirkender Jung-Nazi, in den Schaftstiefeln und der schwarzen SS-ähnlichen Reiterhose meines Vaters (nie war der geritten), im brauen Hemd mit Schulterriemen und, damit wir in der HJ respektiert würden, von Jörgen veranlassten silbernen Sternen auf den Schulterklappen. So fuhr ich mit der Trambahn zur Feldscher-Ausbildung, hätte am liebsten allen Leuten erklärt, ich bin nicht der, den ihr seht, ich bin viel gefährlicher. So lief ich mit einem der jungen Ärzte, Peter, der mein älterer Freund wurde, nachts durch Sachsenhausen, wo er wohnte. Wir sangen echte oder von uns erfundene Verdi-Arien: »Von den trüben Au-augen nihimm den Schleier« - Text und Verdi-Melodie von ihm. Oder wir saßen im Opernhaus, Freikarten vom Reichskultursenator, und provozierten an den richtigen Stellen Beifall. Zum Beispiel in Mozarts »Entführung aus dem Serail«, wo es heißt: »Ha, wie will ich triumphieren, wenn sie euch zum Richtplatz führen und die Hälse schnüren zu, schnüren zu.« Da schrien wir »Bravo!«, klatschten und trampelten wie Verrückte, steckten das ahnungslose Publikum an, mit uns Hitlers und aller Nazis Hinrichtung zu feiern. Ein anderes Mal gabs Freikarten für Marie-Therese und mich zur Uraufführung eines neuen Dramas vom Reichskultursenator: »Pfarr Peder«. Das Stück spielte im zehnten oder elften Jahrhundert und schilderte den Konflikt eines treuen Dieners der Kirche bei Einführung des Zölibats. Soviel ich weiß, hat es einige Jahrhunderte gedauert, bis die katholische Kirche durchsetzen konnte, dass Priester unverheiratet zu sein hätten. Von einem bestimmten Moment an wurden bestehende Ehen nur noch geduldet, neue durften nicht geschlossen werden. Des Reichskultursenators Pfarr Peder hingegen hatte mehrere Akte hindurch die Drangsalierung der Kirche zu ertragen, die von ihm verlangte, sich sofort von seiner Frau zu trennen oder seiner -60-
Gemeinde zu entsagen. Der fromme Hirte litt, denn er liebte ja seine Schäflein. Aber er liebte auch seine Frau. Und das Publikum litt jahrhundertelang mit, bis er sich endlich als deutscher Mann für seine blonde deutsche Frau entschied. Schon in der Pause schlichen Marie-Therese und ich reichlich zermürbt durchs Foyer, fühlten uns unfähig zu fliehen, der Reichskultursenator wusste ja, welche Plätze er uns gegeben hatte, und blickte gewiss gleich wieder aus seiner Loge ins Parkett. Da begegneten wir einem meiner Feldscher-Ärzte. Der machte an diesem Abend Dienst als Theaterarzt, nahm mich beiseite, sagte, wenn ich wissen wolle, was er und seine Freunde von einem solchen Stück hielten, solle ich morgen früh, bevor ich zur Schule ginge, mal oben die Wohnungstür des Dichters betrachten, nein nicht morgen, erst übermorgen, so lange brauche er schon, bis er seine Kritik zusammenhabe. Er wusste, unsere Haustür war immer unverschlossen, also konnte er nachts leicht einen Zettel mit seiner Kritik an die Dichtertür heften. Es war aber kein Zettel. Als ich am übernächsten Tag frühmorgens leise nach oben ging, sah ich vor der Dichtertür große Haufen mehrfarbiger Scheiße, appetitlich auf Papptellern ausgebreitet, garniert mit hineingesteckten Hakenkreuzpapierfähnchen. Und die Frau des Dichters, freundliche Hausmutter, sagte ein paar Stunden später betrübt zu Marie-Therese: »Mein Mann schreibt ja nun mal nicht für die große Masse.« Für mich wars eine wackere Tat. Mit dem unverdächtig altertümelnden Wort wacker bezeichneten wir alles, was antinazistisch war. Ein erprobter Antifaschist war für uns ein wackerer Deutscher. Manche waren auch nur angewackert. Diskutierten wir politische Themen, hieß das: wir wackerten. Aber nun waren wir ja nicht dauernd mit Wackern beschäftigt. Nach einem anstrengenden Feldscherabend beeilte ich mich, auf die Straße zu kommen. Da führte nämlich Susanne, die im Nachbarhaus wohnte, ihren Spaniel Gassi. -61-
Susanne hatte ich durch einen Freund kennen gelernt, der damals weniger schüchtern war als ich. Oft gingen wir zu dritt über verdunkelte Straßen an verdunkelten Häusern den dunklen Main entlang, das Mädchen mit Hund in der Mitte. Oder hockten auf Teppich und Kissen in ihrem Zimmer vor heruntergezogenen schwarzen Fensterrollos, hörten beim Licht schwacher Funzeln Barockmusik. Gewackert wurde da nicht. Wichtiger war, der schmächtigen, sehr gescheiten Susanne zu imponieren. Mir schien, Heinz-Jürgen gelang das besser als mir. Aber zum Streicheln ihrer zarten Brüste wurde keiner von uns zugelassen. Nicht mal ihre langen Haarsträhnen durften wir zwirbeln. Eines Nachmittags trafen wir in ihrem Zimmer noch eine Freundin von ihr an, Vera. Die war von ihr herbeigerufen worden, weil sie, wie sie später erklärte, Vera als Freundin für mich geeigneter fand als sich selbst. Womit sie Recht hatte. Zufrieden sah und hörte sie zu, wies zu knistern begann zwischen mir und Vera. Die war weich, sinnlich, hatte ein von Naturlocken umrahmtes munteres, wenn auch blasses Gesicht mit großen neugierigen Augen. Dass sie empfindlich war, verletzbar, deutete eine hauchdünne blaue Ader unter der Haut ihrer rechten Wange an. »Nun küsst euch doch schon!«, rief Susanne. Taten wir aber nicht. Denn Vera hatte einen Verehrer, Gilprecht, den sie nicht kränken wollte. Nicht gleich jedenfalls. Irgendwie brachte sies fertig, dass Gilprecht uns eines Nachmittags zu sich nach Hause einlud. Ich mochte ihn, wie er ruhig in der Veranda des Holzhausenschlösschens saß (dessen Erbe er geworden wäre, hätte er den Krieg überlebt) und Schellackplatten mit irgendwelcher Musik auflegte, an die ich keine Erinnerung mehr habe, während er Heinz-Jürgen und mich beobachtete, wie wir ungeschickt unsere Pfauenfedern vor den Mädchen spreizten. Ich hantierte mit Circe und Johann Sebastian Bach, der sonst so ernste Heinz-Jürgen schoss sogar Kobolz. Am Ende brachte -62-
er Susanne zurück zu ihrer großzügigen Mutter, und ich brachte Vera zu ihrem strengen Vater, der schon auf dem Balkon seines Hauses am Dornbusch stand, die Taschenuhr in der Hand, und auf die verspätete Tochter wartete. Trotz Taschenuhrvater trafen Vera und ich uns dann häufig. Einmal überredete sie mich, mit ihr den Film »Wiener Blut« anzusehn. Operetten mochte ich nicht (und mag sie auch heute nur begrenzt, es sei denn, sie sind von Jacques Offenbach). Aber »Wiener Blut« gefiel mir, und dadurch erreichten mich später auch »Fledermaus« und »Zigeunerbaron« sowie die ganzen Strauss-Walzer, die ich bis dahin einfach nicht wahrgenommen hatte. Vera lehrte mich, auch das so genannte Leichte zu schätzen, wir lachten und alberten, küssten uns endlich, saßen im Café Laumer an der Bockenheimer Landstraße, hatten die zärtlichsten Momente zwischen Ersatzbrühe und Ersatzkuchen auf Marken. Und hörten im Laumerkeller Jazz. Ich weiß nicht mehr, wie das kam. Ein schmuddeliger bärtiger Kerl vertraute uns, hatte vielleicht mitgekriegt, wie wir über Musik redeten, führte uns in einen mit vergammelten Kisten vollgestopften Raum, legte zerkratzte Platten auf, die, wie er erklärte, in einem abgeschossenen amerikanischen Bomber gefunden worden waren. Kam mir reichlich unglaubhaft vor. Aber diese Musik! Später bildete ich mir ein, ich hätte erste Platten von Charlie Parker und Thelonious Monk gehört, was aber kaum stimmen kann, beide waren damals ja höchstens sechs, sieben Jahre älter als ich, und ich bin mir nicht sicher, ob es so früh schon Platten von ihnen gegeben hat. Jedenfalls, ich war außer mir vor Glück. Vera summte hingerissen mit, stöhnte verzückt im Rhythmus. Nie zuvor hatte ich Jazz gehört, auch nicht aus dem Radio des hanseatischen Kaufmanns. Der mochte solche Musik wohl nicht. Für mich wurde sie die Musik der Freiheit. Ich wusste ja, die Nazis hassten das Niggergedröhn. Ich wollte mehr davon hören, mehr und mehr. Aber wann immer Vera und ich uns noch im -63-
Laumer trafen, den bärtigen Kerl sah ich nicht wieder. Und der Keller war verschlossen, bliebs auch, wie mir schien, bis nach dem Krieg. Vielleicht kein Zufall, dass sich dann ausgerechnet hier, im halb zerstörten ausgebrannten Laumer, der Frankfurter Jazzkeller etablierte. Ein Nachmittag mit Vera: Wir saßen auf dem nicht verpackten Sofa in der Liebigstraße, redeten vorsätzlich gleichgültiges Zeug, während meine Hand auf ihrem Knie geduldet wurde. Es muss ein warmer Herbsttag gewesen sein, Vera hatte helle Socken an und einen karierten Rock, unter dem ich meine Hand vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, weiterschob bis dahin, wo ihr Schlüpfer anfing. In diesem dramatischen Moment kam mein mittlerer Bruder ins Wohnzimmer mit »Oh, Vera«, fragte irgendwas, übersah betont Veras verrutschen Rock, entfernte sich wieder. Und Vera stellte nach einem Blick auf die Armbanduhr fest, dass sie sofort nach Hause müsse. Aber wir fühlten uns wie frisch Verlobte, gingen selig umschlungen, uns ständig streichelnd, durch die Straßen. Der Vater betrat gerade den Balkon, als wir uns ihm Hand in Hand näherten. Ich ging mit bis ganz nah ran und verbeugte mich, man weiß, was sich gehört, nach oben vor dem Vater meiner Verlobten. Die sah ich dann, keine Ahnung warum, erst nach dem Krieg wieder. Doch, einmal noch, ganz kurz nur, als Stalingrad sich schon drohend am Horizont ausdehnte, da war letztes Laumer. Nur wussten wir nicht, dass es das Letzte war.
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STALINGRAD. DASS HITLER hier eine ganze Armee seiner besten Raubkrieger elend abschlachten, erfrieren, verbluten ließ, bis der General Paulus schließlich gegen Hitlers Befehl, wenn auch viel zu spät, kapitulierte – der hanseatische Kaufmann hatte eine solche Katastrophe erwartet. Ebenso Jörgen. Ebenso Peter. Und damit auch ich. Das Ende des Kriegs war abzusehn. Sosehr wir das wünschten, wir ahnten, nein wussten nun, dass es grauenvoll sein würde. Unerschrocken redete die Frau des Hauptmanns von Hitlers Wunderwaffe, die nun bald zum Einsatz komme, das habe sie aus allerhöchsten Wehrmachts- und Geheimdienstkreisen. Beinah wäre sie Kriegerwitwe geworden. Aber der Hauptmann, beschäftigt mit dem Niederbrennen eines griechischen Dorfes, in dem sich Widerstand gegen die deutsche Besatzung geregt hatte, war nur verletzt worden, von einem Partisan, durch Streifschuss. Wofür der Partisan dann am nächsten Baum aufgehängt wurde. Die Frau des Hauptmanns erzählte das sehr bewegt. Streifschuss und Ende des Partisans waren ihr ein Symbol für Krieg und Endsieg über alle Feinde Deutschlands. Stalingrad demnach nichts als ein Streifschuss, die Sowjetunion wird am nächsten Baum aufgehängt, die Wunderwaffe bringts. Für mich bestand Hitlers Wunderwaffe darin, Fünfzehn- bis Sechzehnjährige zu Luftwaffenhelfern zu machen. Die durch uns eingesparten Soldaten würden dann zweifellos Moskau erobern. Oder London. Nachdem wir sämtliche alliierten Bomber über Deutschland abgeknallt hatten. So fiel ich unter -65-
die »Heranziehung von Schülern zum Kriegshilfseinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe«. Und hatte mich, wie in der Heranziehung vorgeschrieben, am 15. Februar 1943 in HJWinteruniform, mit zwei Unterhemden und drei Unterhosen, drei Taschentüchern, drei Paar Strümpfen und Handschuhen am angegebenen Ort einzufinden. Kleiderkarte samt Seifenkarte war abzugeben, Mundvorrat vorsorglich für zwei Tage mitzubringen, der Endsieg mit Hilfe meiner Unterhosen und meines Mundvorrats also gesichert. Dahin der wackere Feldscher samt Vera, Schönberg, Klarinette. Kurzer Abschied von den Brüdern, von MarieTherese. Ich hätte ihr gern noch gesagt: Trink heute Abend zwei Gläser Rotwein. Nicht eins, hätte sie vermutlich geantwortet. Lies fünf Seiten mehr als sonst. Keine Seite. Immerhin, alle paar Wochen sollte es Urlaub geben. Wir wurden nach Sossenheim verfrachtet, Vorort im Westen von Frankfurt. Keine Erinnerung mehr, wie wir da hingelangt sind. Überhaupt weiß ich nur noch wenig aus diesem Jahr der Demütigungen. Ein paar unscharfe Bilder, ein paar grelle, das ist alles. Kaum Zusammenhänge. Zunächst: An öder Straßenkreuzung außerhalb vom Ort ein einzelnes hässliches Haus mit der Dienststelle der Batterie. Gegenüber, eingegraben in lehmige Äcker, schwere Zehnkommafünf-Fliegerabwehrkanonen, Kantinenbaracke, Baracken halb unter der Erde für technischen Militärkram, gepflegte Baracken für Offiziere und Unteroffiziere, schlichte Baracken für Soldaten und Luftwaffenhelfer, miserable Baracken hinter Draht für russische Gefangene. Dann: Die Baracke, die mir und zwölf weiteren Luftwaffenhelfern als Quartier zugewiesen wurde. Schlafraum mit Doppelstockstrohsackbetten und schmalen Spinden, Aufenthaltsraum mit Bänken und Tischen. Da konnten wir in -66-
der Freizeit lesen und Wurstbrote schmieren. Unglücklicherweise machte mich mein Geburtsdatum zum Stubenältesten. Das heißt, ich war verantwortlich, ausgerechnet ich! für Ordnung und Sauberkeit in der Baracke. Und hatte gleich zu Beginn dafür zu sorgen, dass die Baracke einen Namen bekam. Mir fiel keiner ein. Irgendwer wird dann wohl einen gefunden haben. Ich weiß ihn nicht mehr. Ich weiß nur noch, wie sehr ich die Jungs der Baracke uns gegenüber beneidet habe, die ein Schild mit dem Namen ihrer Baracke an die Tür hängten. Auf dem Schild standen groß und schwarz nur zwei Buchstaben: KZ. Das löste, wie nicht anders zu erwarten, während des Kontrollgangs bei Offizieren und Unteroffizieren einen Schock aus. Was die Buchstaben bedeuten sollten, wollte der Batteriechef wissen, ein träger, etwas dicklicher Hauptmann. »Kinderzimmer«, war die fröhliche Antwort. »Dann schreibt auch Kinderzimmer hin«, sagte der Hauptmann. Waschraum: Weil ich meine Erkennungsmarke vergaß, die ich über die Dusche gehängt hatte, wurde mir der erste Urlaub gestrichen. Weil mir dasselbe kurz darauf nochmal passierte, auch der zweite. Granaten schleppen: Weil ich anfangs zu blöd war, ließ ich mich zum Granatenschleppen einteilen. Was bedeutete, dass ich die zentnerschweren Dinger bei Alarm an die Kanonen zu tragen hatte, durch nächtliche Kälte, Eisregen, Schnee. Zwar waren noch andere damit beschäftigt. Aber ich beschädigte mir dabei die Wirbelsäule. Drei Monate genügten, und ich hatte, wie dann festgestellt wurde, eine Kyphose, eine nicht eben deutliche, doch spürbare Wirbelsäulenverkrümmung mit zunehmenden Schmerzen. Die Schmerzen, manchmal leichte, manchmal nachdrückliche, sind mir geblieben bis heute. Bei jedem Koffer, den ich zu tragen habe, denk ich an die Granaten. Aber die ramponierte Wirbelsäule hat mir vermutlich das Leben gerettet. Bei den späteren Musterungen auf Wehrdienstverwendbarkeit wurde ich einige Male als »zeitlich untauglich« zurückgestellt. -67-
Viele der Jungen in meinem Alter gingen zugrunde, rasch und schlecht ausgebildet, bedenkenlos an irgendeine Front geworfen. Umwertung: Unterstand mit technischen Geräten unter Erdhügeln. Darüber ein Ding, das wie ein großer Parabolspiegel aussah, bloß ohne Spiegel, zum Orten von Schallwellen. Hier wurden ballistische Kurven errechnet, Flugbahnen sich nähernder feindlicher Bomber bestimmt, Anweisungen an die Geschütze gegeben, wohin und wie hoch zu zielen wäre. Ich brachte es tatsächlich fertig, mich in dies Refugium versetzen zu lassen. Fortan hatte ich ein erträgliches Leben. Zwar war nachts oft Alarm, zwei, drei Stunden lang. Aber wir wussten schon, die Bomber-Pulks flogen an Frankfurt vorbei Richtung Hannover, Magdeburg, Berlin. Wir hockten in geheizten Räumen, droschen Skat, ich und Skat! immer zu hoch gereizt, knobelten an ungelösten mathematischen Rätseln. Der Wachtmeister, dem wir unterstellt waren, ein gänzlich unmilitärischer Physiker, ließ uns gewähren. So vergingen auch Frühlings- und Sommernächte. Erst im Herbst 43 bekamen wir ernsthaft Arbeit, beim ersten großen Luftangriff auf Frankfurt. Der betraf vor allem den Osten der Stadt mit seinen Industrieanlagen. Stundenlang Scheinwerferkreuze, ohrenbetäubende Bombenexplosionen nah der Flakstellung. So jedenfalls meine Erinnerung. Aber manchmal ist mir auch, als hätten die Luftangriffe tagsüber stattgefunden und die Zehnkommafünfer hätten zu anderer Zeit in die Nacht geballert. Tag-Nachtbilder wechseln sekundenschnell, ich fühl mich von einer Explosion durch die Baracke geschleudert, weiß zugleich, das kann nur ein Traum sein. Doch der Traum war realer als die surreale Umwelt, der ich unaufhörlich, Objekt unter anderen, immer von neuem ausgeliefert wurde. Drill: Appelle, Deutschen Gruß nach Typhus-Impfung üben (sehr schmerzhaft), marschieren, marschieren, unter Gasmaske singen, einmal frühmorgens gleich nach dem Wecken raus vor -68-
die Baracke, zur vorgeschriebenen Gesundheits- und Sauberkeitskontrolle. Befehl: »Hosen runter! Mal sehn, wer Schaum an der Pfeife hat«, so der Unteroffizier vom Dienst. Einige, darunter ich, weigerten sich. Was gings den fingernagelkauenden UvD an, ob und wann ich onaniere. Im Übrigen hatte ich keine Lust dazu. Die vergeht einem nach einem Tag voller Schinderei plus Alarmnacht. Und wir waren im Schlafraum ja auch nie allein auf unseren Strohsäcken. Wegen Befehlsverweigerung wurden wir dem Batteriechef gemeldet. Der gab uns missvergnügt Recht, verwarnte den UvD wegen Kompetenzüberschreitung. Wenig später war der Batteriechef an die Front versetzt. Sein Nachfolger, ein kleiner drahtiger Oberleutnant, früher Lehrer, hatte die Unteroffiziere besser im Griff. Deutschen Gruß üben gabs nicht mehr, auch nicht singen unter der Gasmaske, Urlaub wurde nicht mehr gestrichen, Hosen blieben oben. Stubendurchgang: Fand sonntags statt. Kontrolliert wurde, ob für den Endsieg Fußböden geschrubbt, Holztische krümellos, Stiefel poliert waren, ob den glattgezogenen Strohsack zentimetergenau gefaltetes Bettzeug bedeckte, ob im Spind Wäsche Kante auf Kante geschichtet lag. Einmal langte der Hauptwachtmeister in meinen Spind, holte ein schmales Reclamheft heraus. »Oh, Sie lesen Gedichte? Brav, mein Sohn, brav.« Der Leutnant hinter ihm, unangenehmster Kerl der ganzen Batterie, nahm ihm das Heft aus der Hand. »Heine? Sie lesen Heine? Melden Sie sich beim Batteriechef.« Der, eine halbe Stunde später, lächelte nur. »Mein Lieber, Sie wissen, Heine-Gedichte sind verboten. Ich befehle Ihnen, dies Heft auf der Stelle verschwinden zu lassen. Wenn Sie unbedingt Texte von Heine lesen wollen, lesen Sie seine Berichte aus dem Pariser Konzertleben. Die sind nämlich nicht verboten. Wahrscheinlich«, setzte er noch hinzu, »weil da oben keiner die Berichte kennt.« Denunziation: Allein im Aufenthaltsraum mit einem aus -69-
meiner Baracke, den anzuwackern ich mich inzwischen traute, redete von der SS als Mörderbande, sah zu spät hinter angelehnter Außentür Heilhitlervater-Heilhitlermutter, wurde eine Stunde später zum Batteriechef bestellt. Der war jetzt sehr ernst. »Hören Sie, ich bin sicher, Sie sind ein ebenso guter Nationalsozialist wie ich. Auch ich bedaure einige Fehlentwicklungen. Aber erst müssen wir den Krieg gewinnen. Dann können wir mit der SS aufräumen. Hüten Sie sich also vor unüberlegten Äußerungen.« Nach Jahren, 1952 oder 53, traf ich zufällig HeilhitlervaterHeilhitlermutter vor einem Berliner S-Bahnhof. Er hatte das Bedürfnis, sich auszusprechen, bat darum, ihn zu verstehen, er habe es für seine Pflicht gehalten, meine Äußerungen weiterzugeben. Im Übrigen hätten wir erklärten Nichtnazis ihn, den erklärten Nazi, in der Klasse so isoliert wie Nazis einen Juden isoliert haben würden. Ich musste ihm Recht geben, gab nur zu bedenken, dass wir ihn weder vergast noch verbrannt hätten. Er versicherte, nicht gewusst zu haben, was in den KZs passierte. Ich glaubte ihm. Wir schieden mit Händedruck und spontaner Umarmung. Freizeit: Einer aus meiner Baracke, er wurde später Musikprofessor, spielte entweder in der Kantine auf verstimmtem Klavier Rachmaninoff, bewundert von mir, oder las im Aufenthaltsraum in aller Ruhe unerlaubte Bücher, zum Beispiel von Ernst Kantorowicz die Biographie Kaiser Friedrichs II. Andere schmierten Kommissbrotscheiben mit Margarine und von zu Hause mitgebrachter Marmelade. Oder reichten, wenn es dunkel war, aus dem spaltweit geöffneten Fenster hinaus Wurst und Brot dem Sprecher der miserabel ernährten russischen Gefangenen, wofür wir dann kleine holzgeschnitzte Puppen bekamen. Kontakte, die streng verboten waren. Oder ich lag mit Kopfhörern auf meinem Strohsack, versuchte vergebens aus einem winzigen Transistor-Radio BBC London zu kriegen, fühlte mich nicht getröstet durch jede -70-
Menge Beethoven, Brahms, Schubert, Bruckner, und schon gar nicht durch Franz Schmidt. Dabei war ich gierig nach Musik. Aber ich wollte sie nicht mit Ohrklammern in der Flakstellung hören. Wann immer ich mit Urlaub dran war, suchte ich mir möglichst einen Termin aus, an dem im Frankfurter Saalbau Konzerte stattfanden. Die gabs noch eine Weile. Auch Klavierabende. Seit ich im Jahr zuvor, oder war es zwei Jahre her? Alfred Cortot gehört hatte, der Chopin spielte wie niemand anders, wartete ich darauf, dass er nochmal käme, und mich scherte nicht, dass er bei den Franzosen als Verräter galt, weil er für die Deutschen spielte. Ich war fasziniert von dem kleinen grauhaarigen Mann, der mit starrem Gesicht am Flügel saß und nie auf seine Finger blickte, die, wie nicht gelenkt von ihm, weiße und schwarze Tasten unfehlbar trafen. Er sei morphiumsüchtig gewesen, erfuhr ich später. Hoher Preis für Chopin. Für diesen Chopin. Wie gern hätte ich wieder schräg hinter ihm gehockt, der Saalbau war überfüllt, Schüler durften aufs Podium, und da kauerten wir dicht gedrängt, kaum zwei Meter von seinen Händen entfernt. Aber er kam nicht mehr, oder ich versäumte ihn. Statt seiner hörte ich die Reichsklaviergroßmutter, Elly Ney. Zu Beginn las sie Briefe von Soldaten der Ostfront vor: »Wenn ich Beethoven höre, weiß ich, wofür wir kämpfen.« Dann raste sie, ihre graue Beethovenmähne schüttelnd, mit Donnergetöse die Oktaven rauf und runter. Ach, und der Dirigent Hermann Abendroth. Vor dem Konzert wendete er sich ans Publikum, begrüßte es mit zackig erhobenem deutschem Arm. In den siebziger Jahren hörte ich Musiker munkeln, Abendroth sei vor dem Ersten Weltkrieg als Lübecker Kapellmeister mit einer jungen Frau namens Frahm liiert gewesen. Willy Brandt, geborener Herbert Frahm, sei also sein Sohn. Ob bloß Klatsch oder auch wahr, das Gesicht Abendroths, an das ich mich halbwegs erinnere, scheint mir -71-
seitdem einige Ähnlichkeit mit dem Gesicht Willy Brandts gehabt zu haben. Und dass ein zum Nazi gewordener Dirigent zuvor dank Frahm einen hervorragenden Antifaschisten und Visionär demokratischer Politik gezeugt haben könnte – schöner Gedanke, sekundenlang tröstlich in einer Welt nach wie vor rotierender Massenmorde. Noch ein Traum: Immer wieder der gleiche. Ich steh mit andern in Reih und Glied, vor mir ein brüllender Unteroffizier. Der befiehlt irgendwas Abscheuliches. Ich ducke mich, will ihm mit den Stiefeln ins Gesicht springen, schaffs aber nur bis zu seinem Bauch. Im nächsten Traum komm ich schon bis zur Brust. Erst nach weiteren Träumen erreiche ich das Gesicht, empfinde tiefes Glück, wie ich den nicht mehr brüllenden Mund unter meinen Stiefeln sehe, wache im gleichen Moment auf, erschrocken über mich, zufrieden mit mir, träume nie mehr diesen Traum. Der böhmische Gefreite: Hätte der böhmische Hosenschneider sein können mit dem berühmten Spruch: »Und wo tragen der Herr die werte Natur, rechts oder links?« Aber er war Friseur und schnitt uns die Haare kurz. Wobei er das Kunststück fertig brachte, zugleich mit der Schere zu hantieren, wie der Soldat Schweijk zu philosophieren und mit dem kleinen Finger der linken Hand, die fern vom Haar den Kamm hielt, meine werte Natur in der Hose zu drücken. Ich rückte ein bisschen auf dem Stuhl, um die werte Natur vom kleinen Finger zu befreien, dachte mir sonst nichts dabei. Aber bei anderen muss er wohl erheblich weiter gegangen sein. Wir redeten darüber, beschlossen, uns von ihm nicht mehr die Haare schneiden zu lassen, verabredeten Stillschweigen, um ihn nicht zu gefährden. Aber einer sprach dann doch mit seinen Eltern. Die wendeten sich an den Batteriechef. Folge: Kriegsgerichtsverhandlung in Frankfurt. Auch ich wurde als Zeuge gehört. Immerhin waren wir uns einig darin, die Berührungen der werten Natur als doch ziemlich harmlos zu -72-
schildern. Und nichts von der defaitistischen SchweijkPhilosophie des böhmischen Gefreiten zu erwähnen. Die hätte ihn, das war uns klar, das Leben kosten können. So kam er mit Strafkompanie davon. Damals wussten wir noch nicht, dass auch das ein Todesurteil sein konnte, eins auf Raten. Er wusste es. Ich seh noch sein Gesicht, als er im Korridor des Gerichtsgebäudes an uns vorbeigeführt wurde. Kantine: Da konnten wir kaufen, was auch die Soldaten kauften, nötigen und unnötigen Krimskrams, außer Alkohol, Zigaretten, Präservative. Die gabs nicht für uns. Präservative zu verwenden fehlte uns noch die Gelegenheit, so großmäulig erfahren wir auch taten. Doch gelegentlich ein Bier, eine Zigarette, das, fanden wir, hätte schweren Dienst schiebenden Vaterlandsverteidigern nicht verweigert werden dürfen. Aber einen französischen Liebesfilm mit Danielle Darrieux durften wir sehn, der abends in der Kantine gezeigt wurde, auf schnell ausgerollter Leinwand, mit gequetschtem Ton und flimmerndem Bild. War mir egal, ich ließ mich verzaubern von Danielle Darrieux. Lange blieb sie für mich mit ihrer Schönheit, ihren Bewegungen, ihren Augen die Traumgeliebte. Die Rohheit, den Stumpfsinn, das Absurde meiner Umwelt machte sie nicht leichter erträglich, was wohl die Absicht derjenigen war, die solche Filme zur Betäubung von Soldaten ausgesucht hatten, sondern schärfte nur meinen Abscheu, verstärkte die Sehnsucht nach jener anderen Welt, der ich mich zugehörig fühlte. Und die mir, auch das fühlte ich deutlich, zu entschwinden drohte. Aber es gab, außer der Traumgeliebten, die ja nur Fiktion war, phantasiebelichtetes Zelluloid, auch konkrete Hilfe für mich, diese Welt am gänzlichen Entschwinden zu hindern. Zum Beispiel Besuch von Peter. Der kam vom Ostfronteinsatz zurück als Anfangsmilitärarzt, genauen Titel weiß ich nicht mehr, jedenfalls im Rang eines Fähnrichs. Ein schmucker Dolch -73-
baumelte ihm elegant an der Seite, und als wir durch die Flakstellung schlenderten, mussten ihn alle Unteroffiziere, denen wir begegneten, grüßen. Einen solchen Freund zu haben hob, zumindest vorübergehend, mein Ansehen. Was er erfahren hatte, konnte er nur draußen berichten, zwischen Baracken und Kanonen, nicht in der Kantine, wo die andern mit Angehörigen ihre Besuchsstunde absaßen und man jedes Wort vom Nachbartisch mitkriegte. Schnell wurde mir auch klar, mit Wackern war das Grauen nicht mehr zu fassen, dem Peter nur für kurze Urlaubszeit entkommen konnte. Er war Zeuge, wie deutsche Soldaten beim Rückzug ein russisches Dorf plünderten, Vieh vor sich her nach Westen trieben, Getreide und Geräte auf geraubte Pferdewagen packten, Betriebe zerstörten, Landarbeiter, die freiwillig nicht mitziehen wollten, durch Versprechungen zu ködern suchten, sie würden samt Frauen und Kindern am Dnjepr angesiedelt, in neue Betriebe eingewiesen und somit nicht mehr Gefahr laufen, von der Sowjetmacht zum Militärdienst gezwungen zu werden. Er war dabei, wie diejenigen, die sich weiterhin weigerten, bedroht, geschlagen, in einigen Fällen auch erschossen wurden. Wie das Dorf angezündet wurde. Nichts soll dem Russen bleiben, nichts, nichts! Befehl von oben! Denn wir brauchen Hilfskräfte, Lebensmittel, Material! So die Rede. Peter schüttelte sich, umklammerte den Dolch, während er weiter berichtete. Wenig später, auf der Fahrt hinter der Front zu einem Lazarett, das gerade aufgelöst wurde, trifft er in einer verwüsteten Kate zwei Leute vom Sicherheitsdienst mit einem schwer verletzten, blutenden, röchelnden russischen Offizier. Der Herr Kommissar antwortet nicht auf unsere Fragen, sagt einer. Wieso er hierher kommt, was für einen Auftrag er hat. Er kann nicht antworten, sagt Peter, er ist bewusstlos, muss versorgt werden. Versorgen wir ihn also, sagt der SD-Mann, zieht seine Pistole, zersprengt dem Russen mit einem Schuss den Kopf. Aber Kamerad! sagt der andere, jetzt kriegen wir die -74-
Prämie nicht mehr vom Professor. Peter weiß, wer gemeint ist: hochgeschätzter Lehrstuhlinhaber an der Universität Straßburg, untersucht Kommissarsschädel und Kommissarsgehirne, um die bolschewistischen Merkmale einer niederen Rasse zu finden. Entsetzen und Ekel schlugen bei mir sofort um in eine geradezu metaphysische Gewissheit: Solche Verkommenheit, solche Perversion kann nicht bestehen, die andere Welt muss nahe sein. Metaphysik als Rettung aus unerträglicher Gegenwart – Peter war wohl schon länger auf diesem Weg, der ihn dann auch zurückführte in die katholische Religion. Während ich mich mit der Metaphysik der zukunftsflimmernden Danielle Darrieux begnügte. Und mit den Botschaftern jener anderen Welt, Schumann und Bornemann. Jeden Vormittag kamen die Lessing-Lehrer mit Vorortbahn und zu Fuß über die Landstraße für drei bis vier Stunden Unterricht in der Kantine. Ebenso viele Stunden hatten wir manchmal in der Nacht zuvor im Alarm an Kanonen und Geräten zugebracht, hingen jetzt todmüde auf den Stühlen vor unsern Lehrern. Schumann und Bornemann sagten dann: »Ich werde ganz leise reden, damit diejenigen, die zu erschöpft sind, um dem Unterricht zu folgen, schlafen können. Die andern bitte ich, nah an mich heranzurücken.« Was zur Folge hatte, dass, wer irgend die Augen offen halten konnte, teilzunehmen versuchte an den Gedichten von Horaz und Alkaios, an Sallusts Jurgurthinischem Krieg und Xenophons Anabasis. Denn hier war sie, die andere Welt. Auch sie voller Gemetzel, Schmerzen, Elend. Aber zugleich voller Schönheit und Aufbruch. Jedenfalls empfand ichs so. Und dass es nicht die Spur von Schönheit und Aufbruch bei uns gab, sondern eben nur finsteres kaltes Gemetzel. Vielleicht lags an den alten Sprachen, die zu leuchten begannen in der trüben Kantine, dass mir die andere Welt nicht verloren ging. Und doch, auch in den alten Sprachen klirrten furchtbare Sätze. Auf Lateinisch das -75-
berüchtigte: Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben. Auf Griechisch (von Goethe als Motto für »Dichtung und Wahrheit« zitiert!): Der nicht geschundene Mensch gehorcht nicht. Süß! Ehrenvoll! Geschunden werden, um gehorsam für heilig Vaterland zu verrecken! Nein, ich hörte nicht hin, wollte die andere Welt behalten, die durch Schumann und Bornemann repräsentierte. Der Mathematiklehrer, von gänzlich anderer Art, war jener stupide Rechenmeister, der mir die Mathematik auf Jahrzehnte verschloss. Er verlangte, dass wir, sowie er sich in der Kantine zeigte, aufsprangen und einer von uns militärisch Meldung machte: Soundsoviele Luftwaffenhelfer angetreten zum Mathematikunterricht. Wir grinsten nur müde, blieben auf unsern Stühlen hocken. Der Rechenmeister beschwerte sich beim Batteriechef. Der wehrte ab. Für schulische Probleme sei er hier nicht zuständig. Wir fühlten uns verstanden. Aber sofort nach dem Krieg wurde der Rechenmeister Direktor einer höheren Schule. Er war nicht Mitglied der Nazi-Partei gewesen. Möge der eine oder andere seiner Schüler, wenn auch verspätet wie ich, die Mathematik trotz dieses Lehrers entdeckt haben. Kantine, weiterhin: Aufführung einer Ritterstückparodie von Martin Luserke, »Blut und Liebe«. Wir hatten gehört, dass er den Nazis nicht genehm war, nur geduldet wurde mit seinen Texten für Laienspiele. Wer das Stück ausgesucht, wer die Spielleitung hatte, weiß ich nicht mehr. Nur, dass einer das schöne Burgfräulein gab, ein anderer den reichen Juden, karikiert zwar, aber, so fanden wir, nicht antisemitisch. Auch die Ritter waren ja karikiert mit ihrem Ehr- und Heldengedröhn, Buhler und Nebenbuhler mit ihrem Gesülze um das zirpende Burgfräulein. Trotzdem blieb ein Zwiespalt, allen bewusst, nicht nur mir. War es statthaft, einen Lustspieljuden zu zeigen, der den KZ-Juden verdeckte? Und mir schien, dass der Autor denn doch den Nazis genehm sein müsse. Aber gespielt haben wir mit großem Vergnügen und wurden -76-
von Soldaten und Sossenheimer Ehrengästen sehr gefeiert, als am Schluss sich alle gegenseitig erdolcht, erwürgt, vergiftet hatten und sieben, acht Tote dekorativ auf der Bühne lagen. Nur einer blieb übrig, um die Moral zu verkünden, der Schreiber Wonnebräu. Und der war ich. Von Wonnebräus Moral weiß ich nichts mehr. Sie wird Karikatur gewesen sein wie das Stück und daher ungefährlich in der damaligen realen Situation. Ich weiß nur noch, dass mir zu dämmern begann, eine alle Ordnungen übergreifende, demnach auch für Machthaber gefährliche Moral könne es ohnehin nicht geben, wenn Lessings Ringe sämtlich gefälscht sind. Die Nazi-Ideologie samt Straßburger Professor, KZs und Eroberungskrieg wäre somit von keiner Moral erreichbar gewesen, keiner Moral unterworfen – außer der eignen. Was bedeuten würde: Wer Politik macht, der macht sich auch die ihm passende Moral. Jede Menge gefälschter Ringe. Schon seit Machiavelli bekannt. Für mich, damals, ziemlich neu. Das bringt mich dazu, wieder eine Unterbrechung, darüber nachzudenken, in welcher Situation ich mich in diesem Moment, im Januar 2002, befinde. Wie die reale Situation erkennen, woher die trotz aller Skepsis dringend benötigte Moral nehmen, wenn nicht stehlen aus irgendeiner abgestandenen Religion oder Ideologie. Die sichtbare Welt ist die einzige, sagt Nietzsche, die wahre Welt ist nur hinzugelogen. Wegen hinzugelogener Wahrheiten besteht unsere sichtbare Welt aus unentwirrbar verflochtenen Schrecknissen und Widersprüchen. Ich nehme Amerikaner ernst, die überzeugt sind, nach dem 11. September für Freiheit und Menschenrechte gegen Terroristen kämpfen zu müssen, und ich nehme ebenso ernst die von den US-Amerikanern für lebensnotwendig gehaltenen Interessen an künftigen Öl- und Erdgasleitungen quer durch Afghanistan. Ich nehme ernst, dass der Westen sich vom fundamentalistischen Islam bedroht sieht, und ich nehme ebenso -77-
ernst, dass jahrhundertlange französische und britische Eroberungsmethoden von Algerien bis zum Orient samt gegenwärtiger globaler wirtschaftlicher Machtausdehnung der US-Amerikaner den hasserfüllten islamischen Fundamentalismus unsrer Tage genährt haben. Ich nehme die Israelis ernst, die niemals mehr Opfer sein wollen, und ich nehme die Palästinenser ernst, die niemals eine israelische Besatzung akzeptieren wollen. Ich nehme die Ölgeschäftsbeziehungen zwischen Bush senior und Bin Laden senior so ernst wie die Bomben, die Bush junior nach Abschwächung der Geschäftsbeziehungen auf das gepeinigte Taliban-Afghanistan von Bin Laden junior werfen ließ, der Christ in seinem Denken nicht weniger fundamentalistisch als der Muslim. Den weltweiten Protest gegen die Bomben finde ich berechtigt und muss zugleich zugeben, dass eben diese Bomben eine wenigstens teilweise Befreiung der afghanischen Frauen gebracht haben, dass mit Hilfe der Bomben afghanische Mädchen jetzt wieder in die Schule gehen dürfen. Nein, eine allgemein gültige Moral lässt sich nicht finden. Nur Fragen bleiben. Vielleicht ja noch die einzige Möglichkeit moralischen Handelns in der Politik, und nicht nur da: die richtigen Fragen zu stellen, Widersprüche nicht zu leugnen, sondern klar zu benennen, mithin wohl oder übel subversiv zu arbeiten, von Fall zu Fall zu helfen, »Militant der Vernunft« (Pierre Bourdieu) zu werden im blut- und profitgetränkten Irrationalen, wohl wissend, dass auch die Vernunft nicht mehr ist, was sie nie war. Dennoch: Wenn sie schläft, gebiert sie bekanntlich Ungeheuer. Wacht sie, erleuchtet sie die Finsternis um uns, löst metaphysischen Qualm auf, wärmt uns sogar. Wer meint, sie sei kalt, verwechselt sie mit den eisigen Konstruktionen üblicher Grausamkeit. Und wer sie für ein »zweischneidiges Schwert« (Montaigne) hält, dämonisiert ihren Gebrauch. -78-
Fußnote: Was geschieht in Guantánamo? In diesem »tropischen Gulag« (Bernard Cassen) bereiten die USamerikanischen Bewacher gefangener Taliban- und Al-QaidaKämpfer mit aller Sorgfalt der nächsten islamischen Terroristengeneration den Weg, indem sie die Werte, die sie verteidigen (Menschenwürde zum Beispiel), aus Verteidigungsgründen unkenntlich machen, durch das Bewachungssystem außer Kraft setzen, und so für die Bewachten wirklich werden lassen, was bisher nur propagandistisches Zerrbild fanatischer Prediger war, den »Großen Satan Amerika«. Stoff für eine garantiert moralfreie schwarze Komödie. Noch eine Fußnote: In einer Rede des amerikanischen Präsidenten höre ich die Stimme Churchills mit seiner Ankündigung von 1940, er fordere von den Engländern Blut, Schweiß und Tränen, um den Krieg zu gewinnen. Und ich höre die Stimme von Goebbels 1943: »Wollt ihr, dass der Krieg noch totaler wird?« Bloß bin ich mir nicht sicher, wessen Stimme ich deutlicher höre in den fundamentalistischen Nebelschwaden des Präsidenten.
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IRGENDWANN ANFANG 1944 wurde ich als Luftwaffenoberhelfer entlassen. Ich hatte erfahren, wer sich freiwillig als Offiziersanwärter meldet, wird später als andere eingezogen. Das wollte ich ausprobieren. Außerdem, so hieß es, werde man dann mit Sicherheit nicht zur Waffen-SS einberufen. Ich machte einen stupiden Lehrgang zur Prüfung meiner Befähigung mit, in einem verlassenen oder requirierten Gehöft, keine Ahnung mehr, wo, einer von etwa zwei Dutzend blasser dünner Jungs, die Offizier werden wollten. Wir liefen um die Wette, sprangen hoch und weit, stemmten Gewichte, boxten (ich mit meinen nahezu bizepslosen Armen!), wurden in Schulungsabenden im rechten Glauben unterwiesen, und am Ende zerriss ich voller Verzweiflung meine Bewerbung, trotz der Drohung des Ausbilders, dass mir das schlecht bekommen werde. Wahrscheinlich meinte er damit die Möglichkeit einer nach mir ausgestreckten Waffen-SS-Kralle, vor der ein künftiger Wehrmachtsoffizier, bei allem rechten Glauben, eben sicher gewesen wäre. Zum Glück überstand ich in diesen Tagen eine Musterung mit meinem ersten »Zeitlich untauglich«, brauchte nach Sossenheim ja nicht zurück, hatte also, bis zur nächsten Musterung, eine Art Ferien, lebte wieder in der Liebigstraße, in einer ungewohnt leeren Wohnung allein mit Marie-Therese. Denn die hatte schon im Herbst 43, nach der Bombardierung des Frankfurter Ostends, die beiden jüngeren Brüder aufs Land gebracht, zu einem Gutshof in Lorbach bei Büdingen, wo wir -80-
drei schon seit Jahren immer wieder Sommerferiengäste gewesen waren. Manchmal auch über Ostern und im Herbst. Der Gutsherr, wirklich ein Herr, früher Pächter des Fürsten von Büdingen, hatte sich freigekauft, gebot über hundertfünfzig Morgen Land, was in der fruchtbaren Wetterau am Rand des Vogelsbergs nicht wenig war, und in seinen Stallungen rund um den großen Misthaufen im ausgedehnten Hof über acht bis zehn Pferde, dreißig Kühe, wohl ebenso viele Schweine und einen melancholischen Jagdhund, hatte Frau, zwei Töchter, die ältere geprüfte Kindergärtnerin, einen Verwalter, einen Großknecht mit weiteren Knechten, einen Kuhschweizer und einen Säuschweizer. In der hohen Scheune standen, umgeben von bis unters Dach gestapelten Strohballen, der ungefüge Mähdrescher samt Traktor, Eggen, Pflügen, Motorsensen und im Schuppen gegenüber ein neuer Opel Olympia sowie eine feierliche alte Kutsche, schwarz lackiert, Landauer genannt. Oft rollte die Familie sonntags mit uns im Landauer, ratternd und knarrend, vorn zwei Rappen mit extra schwarz lackierten Hufen, nach Büdingen in die kleine katholische Diaspora-Kirche. Fast immer kamen wir zu spät. Der Pfarrer, schon in der Predigt, unterbrach sich, zog eine Taschenuhr aus der Soutane, auf die er so lange ausdrucksvoll blickte, bis die Lorbacher mit Gepolter in einer Bank Platz gefunden hatten. Ich liebte diese Landauerfahrten, saß auf dem Kutschbock neben dem schnauzbärtigen alten Korl, dem Pferdeknecht, der in einer ganz eigenen Sprache mit den Pferden redete, durfte auch manchmal die Zügel halten, horchte auf Korls Pferdeworte zwischen Rappenfürzen und kurzem Gewieher, und ringsum war Frieden, Frieden über Kornfeldern, über Wiesen mit grasenden Rindern und Fohlen, Frieden mit blauem Himmel und Lerchengesang, Frieden zwischen den Neubauten der Kaserne vor Büdingen. Werktags, wenn Ernte eingefahren wurde und die Knechte -81-
Roggen- oder Weizenbündel kunstvoll auf lange Leiterwagen in die Höhe gabelten, lief ich vorn bei den Pferden mit, wedelte ihnen Fliegen und Bremsen aus den Augen. Einmal, das erste und einzige Mal in meinem Leben, durfte ich auch reiten. Korl setzte mich einer gutmütigen älteren Stute auf den schon leicht eingesunkenen Rücken. Alma schüttelte sich nur ein wenig, und schon rutschte ich ihr am Hintern vorbei auf die Stoppeln. Sie wendete den Kopf, sah nach mir, besorgt, wie mir schien, ob ich mir auch nicht wehgetan hätte, achtete im Übrigen nicht auf Korl, der sie pferdewortreich ausschalt. Ich fand nachträglich, dass sie Recht hatte, und brachte ihr nach Feierabend ein paar Stücke Würfelzucker. Dabei war uns ausdrücklich untersagt worden, allein den Pferdestall zu betreten, wegen der Gefahr, unter einen eisenbeschlagenen Huf zu geraten. Aber mir gefiels, auch den andern Pferden gelegentlich Zucker, Mohrrüben und kleine Extrarationen Hafer zu bringen. Wie man beim Füttern die Hand unter das samtene Maul hält und was man dazu sagen muss, hatte Korl mir beigebracht. Irgendwann entdeckte ich auch die Schweine für mich, lernte vom Säuschweizer, dem Brillheiner, wie man mit ihnen umgeht, womit man sie füttert, lernte ihr Geschrei, ihr Gegrunze zu deuten, stand mit dem Gutsherrn und dem neuen Viehhändler vor den Koben, der alte Viehjud, der bei den Schweinen wohlgelitten war, kam ja nicht mehr, und hätten die Schweine jetzt Krach gemacht, wärs nichts geworden mit dem neuen Viehhändler, kein Vertrag zum Verkaufen und Schlachten von Schweinen ohne Schweinezustimmung. Wie selbstverständlich ging ich mit dem groben Hebel der verrosteten Kartoffelpresse um, harte Arbeit, schleppte, während der Brillheiner sich ausruhte, schwere Eimer mit Futterpampe zu den Fressrinnen der Koben, und einmal sah ich zu, wie eine Sau zwölf Ferkel warf. Zur Idylle gehörten auch Hühner, die geschlachtet wurden -82-
und dann noch ein paar Meter kopflos über den Hof liefen, gehörte auch Schweineschlachten auf dem Hof mit Blutsuppe, die ich verabscheute, gehörte, sehr aufregend, der Hengst, der hinter die Scheune geführt wurde, um eine Stute zu decken, was ihm aus irgendwelchen Gründen Mühe machte, sodass Korl mit behandschuhter Faust den langen Penis des Hengstes packte und dahin führte, wo ihn die nervös trampelnde Stute erwartete, nicht eigentlich eine jugendfreie Szene, aber auf dem Land fand niemand was dabei, wenn Kinder zuschauten. Hinter der Scheune wars auch, wo die wilde Bertsch von Schorsch, dem Nachbarsjungen, und mir wissen wollte, wie groß das denn werden könnte, was wir in der Hose trugen, und ob man einen Eimer dranhängen könnte. Wir zeigten ihr, wie groß das wurde, aber den Zinkeimer schafften wir beide nicht, was die wilde Bertsch enttäuschte. Sie würdigte die untauglichen Eimertraggeräte keines Blicks mehr. Jahrzehnte später hörte ich, sie ist Physiklehrerin geworden, ungewöhnliche Karriere für ein Dorfmädchen. Zur Idylle gehörten schließlich auch seit Herbst 39 polnische Kriegsgefangene, die neben dem Geräteschuppen in der Unterkunft für Saisonarbeiter hausten. Einer hieß wie ich, Ryszard, und auf Polnisch gefiel mir mein Name besser als auf Deutsch. Abends sangen sie sehnsuchtsvolle polnische Lieder zur Mundharmonika, leise, um keinen Ärger zu machen, begleitet vom Jaulen des Jagdhunds, und Ryszard schnitzte aus Brennholzstücken und Kistensparren kleine Schiffe für meine Brüder, die sie auf dem Bach schwimmen ließen, der damals noch offen durchs Dorf floss. Dort also waren sie nun wieder, gingen in Büdingen, wo es auch ein Gymnasium gab, zur Schule, und Marie-Therese besuchte sie oft, kam mit Butter und Himbeermarmelade zurück. Himbeermarmelade! Unvergesslich diese Sommernachmittage unter den dichten Himbeersträuchern im Garten, die warmen Früchte zwischen Fingern und Lippen. Keiner fragte, wie viele -83-
davon wir in uns hineinstopften. Nur einmal, zu Beginn unseres ersten Ferienaufenthalts, als wir an einem Sonntag zusammen mit dem Gutsherrn frühstückten, was selten vorkam, meistens war er schon frühmorgens unterwegs, auf den Feldern, in den Ställen, da stellte er missbilligend fest, dass wir aufs Brot Butter strichen und darüber noch Marmelade, meinte, aufs Brot gehöre entweder Butter oder Marmelade, beides zusammen sei zu viel, sei Luxus. Oft hab ich über den Satz nachgedacht, fand ihn berechtigt und richtete mich nie danach. Wie ich die nächste Zeit zubrachte, ob ich nicht doch noch Luftwaffenhelfer war, bloß Urlaub hatte und erst später entlassen wurde, ob ich Marie-Therese nicht mal begleitet habe bei einer Fahrt zu den Brüdern, ob ich Jörgen traf oder welche von der aufgelösten Feldscher-Einheit, ob ich mit dem hanseatischen Kaufmann Radio hörte oder die Tochter des Reichskultursenators kurz wiedersah, die sich irgendwo außerhalb von Frankfurt dienstverpflichtet durchschlug – all das weiß ich nicht mehr genau, weiß nur, dass da wohl einiges war, dass ich auch entsprechende Erinnerungen haben müsste, aber mir ist keine geblieben. Es ist, als hätten mir die drei großen Luftangriffe auf Frankfurt im März 44 alles undeutlich gemacht, was kurz zuvor geschah, als hätten sich schwarzer Qualm und Feuersturm nicht nur durch die Straßen gewälzt, sondern bildervernichtend auch rückwärts durch die Zeit. Ich widerstehe der Versuchung, mir zu misstrauen, und wende mich wieder Bildern zu, die in der Gegenwart der Erinnerung klar erkennbar sind. Zum Beispiel der Engländer im Luftschutzkeller. Das nächtliche Sirenengeheul zuvor hatte uns nicht beunruhigt. Weiterhin flogen um diese Zeit alliierte Geschwader nördlich von Frankfurt Richtung Hannover, Magdeburg, Berlin. Aber Radiodurchsagen, am finsteren Himmel hektisch suchende Scheinwerferstrahlen, zunehmendes Flakgetöse, dann die über den Häusern gespenstisch langsam -84-
nach unten schwebenden hell leuchtenden so genannten Christbäume, gut zu verfolgen vom Balkon aus, erste ferne Einschläge, Feuerschein und Explosionen machten deutlich, dass es ernst werden könnte. Es wurde ernst. Marie-Therese und ich öffneten Fenster und Türen, damit sie nicht als Splitter durch die Zimmer fliegen konnten. Bald hockten alle Hausbewohner bei Kerzenlicht im Luftschutzkeller und horchten auf näher kommendes Bombengepolter, Zischen, Krachen, auf eine verrückt gewordene Sirene, die Entwarnung heulte, blickten auf die von bebenden Balken gestützte Kellerdecke. Aus dem Mauerdurchbruch zum Keller des Nachbarhauses kam der für beide Häuser zuständige Luftschutzwart gekrochen, mörtelbedeckt, versicherte, er habe alles im Griff. Und die Frau des Hauptmanns erklärte, kein Grund zur Beunruhigung, es handele sich zweifellos um einen Irrtum, die Bomben seien nicht für Frankfurt bestimmt. Der Irrtum nahm an Gewalt zu, die nicht für Frankfurt bestimmten Bomben erschütterten in immer dichter werdender Folge den Keller. »Was geschieht uns?«, murmelte die Frau des Reichskultursenators, die allein, ohne Mann, Sohn, Tochter in einer Ecke saß. »Was geschieht mit uns?« »Wir werden coventrisiert«, sagte der hanseatische Kaufmann und putzte seinen Kneifer, hielt ihn vor eine Kerze. »Was heißt das?« »Eine Methode, Städte aus der Luft zu zerstören. Erstmals und sehr erfolgreich von den Bombern unserer siegreichen Luftwaffe 1940 an der englischen Stadt Coventry praktiziert.« Schweigen im Luftschutzkeller. Die Frau des hanseatischen Kaufmanns fasste nach seiner Hand. Tochter Kriegerwitwe und Marie-Therese bemühten sich um die Frau des Hauptmanns, die plötzlich anfing zu weinen, flüsterten beruhigend auf sie ein. Ich saß bloß still da, nahm wie ein Unbeteiligter meine Angst wahr, -85-
versuchte zugleich als Beteiligter kümmerliche Beschwörungen: Du wirst hier nicht verbrennen, nicht verbrennen, nicht verbrennen, wirst nicht zugeschüttet werden, nicht zugeschüttet werden, nicht zugeschüttet werden. Da wurde von außen gegen die eiserne Luftschutzkellertür gepoltert, die Verschlussgriffe drehten sich, erst zögernd, dann entschieden, sahn wir genau, die Tür wurde aufgerissen. Und auf der Kellertreppe stand jemand, grell beleuchtet vom Sprühzischen einer Brandbombe oben im Hof vor der offenen Haustür, stand jemand in fremder Uniform, zerfetzt, fleckig, mit abgerissen baumelnden Gurtresten um Schultern und Oberkörper und blutig verschrammtem Gesicht unter blutverklebten Haaren, starrte uns an. Wir starrten zurück, endlose Sekunden lang. Spukgestalt und wirklich zugleich, so stand er da, Brandstifter unter eigenem Feuer, nicht Produkt meiner angstbeflügelten Phantasie. Oben schlugen der Luftschutzwart aus dem Nachbarhaus und eine alte Frau, verbeulter Kochtopf als Helm über grauen Locken, mit Feuerpatschen auf die glühenden Reste der Brandbombe ein, verteilten sie eben dadurch im Hof, sprangen zurück vor den scharfen Funken, sprangen vor mit geschwungenen Patschen und rutschendem Topf, groteskes Ballett der Hilflosigkeit im dröhnenden Chaos. Keiner von uns rührte sich. »Hail Hitlö«, sagte schließlich, mit höflicher Verbeugung, der Mann auf der Treppe, blickte besorgt nach oben, stolperte in den Luftschutzkeller. »Good evening«, antwortete die Frau des Hauptmanns sofort, sah dann, erschrocken über sich selbst, verlegen umher, sprach kein Wort mehr. Der Engländer holte mit blutenden Händen aus zerfledderten Hosentaschen in blutverschmiertes Papier gewickelte Schokoladenstücke, zeigte sie vor, legte sie auf einen leeren -86-
Stuhl. Niemand beachtete sie. Erst als der Engländer sich stöhnend auf eine Stufe neben den Stuhl gesetzt hatte und mühsam nach Wörtern suchte, die der hanseatische Kaufmann dann ebenso mühsam übersetzte, da verschwanden die Schokoladenstücke. Draußen war es ruhiger geworden. Keine Brandbomben mehr. Nur fernes Fauchen und Prasseln. Der Feuersturm hatte den englischen Fallschirm offenbar auf den Balkon des Reichskultursenators getrieben. Als seine Frau das begriff, wollte sie sofort nach oben in ihre Wohnung, konnte nur mit Mühe zurückgehalten werden. Es sei nichts beschädigt, versicherte der Engländer laut hanseatischem Kaufmann, nur habe er auf dem Weg ins Treppenhaus mit einem Gurtende zwei Aschenbecher vom Rauchertisch geworfen und nicht aufgehoben, weil er es ja begreiflicherweise eilig hatte. Aus dem Keller des Nachbarhauses waren Frauen und alte Männer gekommen, umringten drohend den Engländer. Auch der Luftschutzwart und die grau gelockte Frau, Topf unschlüssig in der Hand, standen jetzt neben ihm, der, zunehmend beunruhigt, zu lächeln versuchte. Eigentlich solle man ihn auf der Stelle totschlagen, rief denn auch jemand. Der Luftschutzwart wehrte ab: Der Engländer müsse in die Lindenstraße gebracht werden. Zur Gestapo also. Falls es die noch gab in der Lindenstraße. Ich weiß nicht, was aus dem Engländer geworden ist. Im unzerstörten Bett schlief ich ein paar Stunden traumlos zwischen Putzbrocken auf Kopfkissen und Nachttisch. Feuer und Krach waren fern. Am nächsten Morgen erschien Rolfs Nachfolger bei uns. Zwischen ihm und Marie-Therese hatte es hin und wieder freundschaftlichen Kontakt gegeben. Seine Frau war mit ihren Kindern schon seit längerem außerhalb Frankfurts -87-
untergebracht. Er wohnte zusammen mit einem PharmakologieKollegen nicht weit von uns, Liebig- Ecke Bockenheimer Landstraße. Das Haus war von Brandbomben getroffen worden. Die beiden Professoren hatten sie nur zum Teil löschen können. Jetzt fraßen sich unsichtbare Feuerherde schwelend durch Böden und Mauern. So erklärte ers uns, bat um Hilfe. Die wichtigsten und wertvollsten seiner Bücher wollte er bei uns unterbringen. Ich mochte ihn. Ein kluger und freundlicher Mann, unautoritär, vielleicht sogar wacker, mit Sicherheit kein Nazi. Anlässlich der Hochzeit eines ehemaligen Studienkollegen, der Hitlers Leibarzt geworden war, hatte auch er, wie der Reichskultursenator, dem Führer in die Augen gesehn. (»Eiskalter Blick. Menschenverachtend. Pathologisch.«) Die Wohnung des Professors schien, wenn auch schuttbedeckt, unzerstört – bis auf angesengte Teppiche, zersprungene Fensterscheiben sowie seltsam ausgefranste Löcher in Wänden und Fußböden. Während ich vorbereitete Bücherstapel in Wäschekörbe lud und die Wäschekörbe auf einen Handkarren, sah ich die beiden Professoren, wie sie mit einem Dutzend Fieberthermometer, mit Handbohrer, Axt und Hacke umherwanderten, von Stockwerk zu Stockwerk auf- und abstiegen. Es sei wichtig, wurde mir zwischendurch erläutert, mit Hilfe der Thermometer heiße Stellen in Wänden und Böden aufzuspüren und dort eventuell glimmende potentielle Feuerherde mit Axt und Hacke zu vernichten. Auf diese Weise, sagte der Pharmakologe, sei zu hoffen, den Patienten am Leben halten zu können. Der Gerichtsmediziner war wohl eher skeptisch. Sonst hätte er mich nicht die Bücher einpacken lassen. Als die beiden Professoren gerade in entfernten Räumen in den Eingeweiden des Patienten bohrten und hackten, entdeckte ich unter den zu rettenden Büchern einen Prachtband, das indische Liebeslehrbuch »Kamasutra« mit vielen schönen alten Illustrationen. Zu Hause, kaum die Wäschekörbe im Keller -88-
abgestellt, schob ich mir »Kamasutra« unbemerkt unters Bett. Und konnte es kaum abwarten, bis ich abends allein war. Dann die bittere Enttäuschung: Alle vermutlich besonders aufregenden Stellen waren nicht ins Deutsche übertragen, sondern ins Lateinische. Ins Lateinische! Damit weder Krethi noch Plethi sich aufgeilen könnten, sondern nur sittlich gefestigte Altsprachenkundige. Wie sehr bereute ich in jener Nacht, nicht Schumanns bester Schüler geworden zu sein. Denn das erlesene Latein dieser Zaubertexte war mir größtenteils unverständlich. Da halfen auch die Bilder nicht weiter. Meine Forschungen wurden durch den nächsten Alarm unterbrochen. Die Brandbombe durchschlug Dach und Speicher unmittelbar über dem Treppenhaus. Das Treppenhaus wirkte wie ein Kamin. Mit großer Geschwindigkeit floss das Feuer die Stufen hinunter, verzehrte im Handumdrehn Treppengeländer, Stufen, Wohnungs- und Kellertüren. Marie-Therese und ich konnten gerade noch dreimal den Vorplatz unserer Wohnung erreichen und für Hünfeld vorbereitete Möbelstücke nach unten schleppen, vors Haus. Dem hanseatischen Kaufmann und seinen Frauen gelang es noch zweimal, in ihre Wohnung zu kommen. Dem Reichskultursenator, der samt Sohn und Tochter kurz vor dem Alarm eingetroffen war, nur ein einziges Mal. Dann standen wir alle zwischen unserm geretteten Kram vor der Hausfassade am Rand eines kleinen Platzes mit Löschwasserbecken ohne Wasser und blickten hinauf zu den Fenstern der unerreichbar gewordenen und noch quälend lange unbeschädigten Wohnungen. Für Wohnungen und Keller nahmen die Flammen sich Zeit. Aber schließlich zersprangen die Fenster, das ganze Haus loderte. Dass noch Alarm war und weiterhin Bomben explodierten, nah und fern, dass ringsum Häuser brannten, Menschen in panischem Schrecken über mit Trümmern -89-
bedeckte Straßen liefen, hustend, weinend, stumm vor Schrecken, keiner von uns achtete darauf. Wir betrachteten, was uns geblieben war. Der Frau des Hauptmanns: nichts. Sie hätte genug Zeit gehabt, mehr als wir alle, schien aber wie gelähmt zu sein, stand da, presste sich ein Kissen und eine Handtasche an die Brust. Der hanseatische Kaufmann und seine Frauen saßen auf dick vollbepackten Reisekoffern und Wäschekörben. Der Reichskultursenator mochte nicht glauben, was er sah: elf Stühle. Das war alles. Frau, Tochter, Sohn, er selbst hatten gegriffen, was sie gerade in die Hand bekommen konnten, Stühle eben. »Kein Papier!«, stöhnte der Reichskultursenator. »Wenn ich jetzt die Idee hätte, ein Drama zu schreiben, ich wüsste nicht, worauf.« Marie-Therese zog aus verschnürter Kommodenschublade zwei dicke Packen Briefpapier, legte sie dem Dichter auf einen der elf Stühle. »Hier«, sagte sie. »Für ein langes Drama reicht es wohl nicht. Aber vielleicht für eine kurze Komödie.« Bevor der verblüffte Reichskultursenator als Dichter reagieren konnte, jaulten Sirenen Entwarnung, und zugleich näherte sich ein laut schreiender, über und über verdreckter Feuerwehrmann mit rußgeschwärztem Gesicht unter eingebeultem Helm. Er zog ein abgerissenes verbranntes Schlauchende hinter sich her, und was er schrie, übertönte die Sirenen. »Aufgehängt gehörn die, Hitler, Himmler, Göring, Goebbels, alle aufhängen, sofort, Hitler aufhängen, Himmler aufhängen –« Da war er schon, der Anfang einer finsteren Komödie. Ich rannte hinter dem Feuerwehrmann her, packte ihn am Arm, beschwor ihn, aufzuhören mit dem Geschrei, weil sonst er es sein würde, der aufgehängt werde. Vergebens. Der Feuerwehrmann schüttelte mich ab, torkelte schreiend weiter. Niemand achtete auf ihn. -90-
Der Luftschutzwart aus dem Nachbarhaus, der alles im Griff hatte, machte uns darauf aufmerksam, dass die Fassade unseres ausgebrannten Hauses auf uns und die Möbel stürzen könne, und irgendwie brachte es der Reichskultursenator fertig, dass ein Wachmann herangestolpert kam und das Seitenportal der Synagoge für uns aufschloss. So schleppten wir ins brandgeschwärzte Gewölbe der Synagoge unsern brandgeretteten Krempel. Im Gotteshaus der Juden waren auch die elf Stühle des Reichskultursenators sicher vor Feuersturm, Regen und Diebstahl. Marie-Therese holte aus einem Wäschekorb eine gut verpackte Flasche Eierlikör, ein Getränk, das sie normalerweise verabscheute, und ließ die Flasche kreisen. »Das brauchen wir jetzt.« Wo sie die Flasche herhatte, weiß ich nicht. Wir soffen sie leer, wir alle, heimatlos gewordene Hausbewohner der Liebigstraße, in der zur Möbelherberge gewordenen Synagogenruine. Den Rest der Nacht verbrachten wir in zusammengeschobenen Sesseln, auf Luftmatratzen und Lederkissen im Keller des heil gebliebenen Nachbarhauses. »Kamasutra« vergessen, verbrannt mit allen andern Büchern, unseren und denen des Professors, mit meiner unvollendeten gigantomanischen Symphonischen Phantasie und dem systemlos atonalen Konzertstück für unblasbares Horn, roh donnerndes Klavier und schrille Streicher. Ich dachte noch, bevor ich trotz Feuer und ekelhaftem Eierlikörpelz in der Kehle einschlief: Wie konnte ich meine Musik vergessen. Und: Warum ist diese verdammte Brandbombe nicht zehn Meter weiter geflogen. Heiliger Sankt Florian, beschütz mein Haus, zünd andere an. Am nächsten Morgen wieder Alarm. Jetzt wurden auf die brennende Stadt Sprengbomben geworfen. Die Holzgerüste, welche die Kellerdecke auch im Nachbarhaus stützten, tanzten intensiver als zuvor bei uns. In Staubqualm und Mörtelschauern jammerten ein paar Frauen. Andere beteten laut. Ich -91-
wiederholte, wenn auch weniger sicher, stumm meine magische Beschwörungsformel: Du bist noch nicht dran. Marie-Therese saß ruhig im fremden Sessel, grau, mörtelbedeckt, eine Mappe mit allen wichtigen Dokumenten fest in beiden Händen, verlor kein Wort darüber, dass sie das Kellerklo mit einem Dutzend ihr unbekannter Menschen teilen musste, verteilte zwischendurch aus einem Wäschebeutel Brotstücke, Äpfel und Käsescheiben. Als wir nach Stunden aus dem Keller krochen, sahn wir, die Fassade unseres Hause war tatsächlich eingestürzt. Und zwischen den Trümmern stand der Professor in zerrissenem Anzug, stocherte in Aschefetzen, die vielleicht von meinen Notenblättern stammten, vielleicht von seinen Büchern, vielleicht von unsern, vielleicht von denen des hanseatischen Kaufmanns oder denen des Reichskultursenators. Der Patient, sagte der Professor, habe zwar die zweite Brandnacht überstanden, nicht aber diesen Vormittag. Um Backsteinbreite sei es den beiden Professoren erspart geblieben, lebendig begraben zu werden. Er werde jetzt versuchen, für ein paar Tage zu Frau und Kindern in das Taunusdorf zu gelangen, wo sie ihre Bleibe hätten. Und bot Marie-Therese und mir das trotz einiger zersplitterter Fensterscheiben im wesentlichen unbeschädigte Institut als Notquartier an. Eine Mainbrücke, habe er gehört, sei noch passierbar. So packte denn Marie-Therese ein paar Koffer mit dem Nötigsten. Gemeinsam zogen wir den Handkarren durch die brennende Stadt, wie hunderte, vielleicht tausende von Frankfurtern, die mit ihrer letzten Habe über trümmerbedeckte Straßen zwischen schwelenden Häusern irrten, von beißendem Qualm und Feuerböen verfolgt. Auf welchen Wegen wir nach Sachsenhausen gelangt sind, weiß ich nicht mehr. Auch 1945, 46, 47 bin ich durch die verwüstete Stadt gelaufen. Wieder schieben sich Bilder über Bilder. Möglich, dass wir, bedrückte Schatten zwischen bedrückten Schatten, die verschmorten und verkohlten Hartholzbeläge einer Straße entlanggestolpert sind, -92-
aus der gekrümmte Schienenreste mehrere Meter hoch vor verrußten und noch brennenden Villenruinen in die verpestete Luft ragten. Hier war früher die rührend altmodische Linie 1 zum Hauptbahnhof gezockelt, am Ende auch vorbei am Schumann-Varieté-Theater, wo noch kurz vor dem Krieg oder im ersten Kriegsjahr der Schweizer Clown Grock mit seiner winzigen Geige mir Entzücken bereitet hatte. Kein Varieté mehr. Und daneben kein Carlton Hotel mehr, wo NS-Bonzen und Offiziere mit »Lebedamen« (wie ein durchreisender Onkel sie nannte) an der Bar saßen, während ich im vaterländischen Schlamm von Sossenheim Granaten schleppte oder ballistische Kurven suchte. Doch ich seh uns auch durch die Kaiserstraße ziehn, was bedeuten würde, dass wir ab Hauptbahnhof, dessen Fassade erstaunlich unversehrt wirkte, nicht weiter zur Brücke kamen, sondern Umwege machen mussten. Ich seh uns an der Ecke Elbe- Kaiserstraße vor dem zertrümmerten prächtigen Portal eines bürgerlichen Gründerzeitpalastes sitzen, erschöpft, auf einem Schutthaufen, zwischen Mauerbruchstücken und halb verbrannten Möbelteilen. Und ich seh eine rußgeschwärzte alte Frau aus dem Portal schwanken, mit zwei Flaschen Cognac, die fast leer sind, aber eben nur fast. Die trank sie mit uns aus, sagte: »Bevor dess mir alle flambiert wern, soll er lieber weg.« Das Portal gibts, grob restauriert, noch heute. In den siebziger Jahren führte es zu einem Pornokino und, zwei Stockwerke darüber, zu einer Moschee. Links und rechts davon zwischen Hinterhofabfällen verwahrloste Pensionen, Unterkünfte für Bordelle oder hierhin verschleppte Asylsuchende. Ich seh das alles, die verschleierten Frauen, die im Dreck spielenden Kinder, die Luden, und ich seh zugleich Marie-Therese und mich auf dem Schutthaufen, seh um die Ecke in der Elbestraße die Wohnung, in die mich 1948 oder 49 der Jazztrompeter Carlo zu Weißbrot und Whisky eingeladen hatte, wo er mit Musikern über die Jazzharmonielehre diskutierte, die er gerade schrieb, -93-
wo im Stockwerk darunter ein Kürschnermeister Schmuck gegen Lebensmittel verschob und ein paar halbwegs reparierte hochherrschaftliche Zimmer weiter zwei mildtätige Fräulein gelegentlich eine Konservendose der Besatzungsmacht für mich hatten, seh das alles, Vergangenheiten und deren Zukünfte, die längst ebenfalls wieder Vergangenheit sind, seh das einen Moment, jetzt, und schon vorbei. Irgendwie gelang es Marie-Therese und mir, abwechselnd beflügelt vom alten Cognac oder gelähmt durch neues Alarmsirenengeheul, das andere Mainufer zu erreichen samt Institut, eine große Villa, für die Wissenschaft umgebaut, mit noch viel Holzgetäfeltem die Wände entlang. Eine Luftmine in der Nähe hatte sie durchgeblasen, aber nicht zu sehr, einige Fensterscheiben waren heil geblieben. Tränenreich wurden wir begrüßt von der Frau des Institutsdieners, der dem Führer fern von Frankfurt gerade ein Bein für den Endsieg geschenkt hatte: »Ach, die herrliche Frau unseres herrlichen Herrn Professors! Der herrliche Sohn unseres herrlichen Professors!« So lebte mein Vater fort in diesem ständig wiederholten Adjektiv, der neue Professor galt nicht viel. Marie-Therese wurde in seinem Arbeitszimmer untergebracht, wo es auch eine bequeme Couch gab. Für mich wurde in ein provisorisches Labor eine Untersuchungsliege geschoben. Und da stand, welche Freude! quer zwischen Regalen und Tischen mit zersplitterten Reagenzgläsern ein schwarzer Stutzflügel, zerschrammt doch nicht völlig verstimmt, wie ich sofort feststellte. Direkt neben dem Flügel führte eine schmale hölzerne Wendeltreppe hinunter in den Keller. Von dort kam Formalingeruch. Ich, neugierig, stieg hinunter zum Formalin. Am Fuß der Treppe hing eine nur angelehnte Tür schief in den Angeln. Ich schob sie zur Seite und stand in einer Art Waschküche vor einer Wanne. In der bis zum Rand mit bräunlichgrüner Flüssigkeit gefüllten -94-
Wanne schwebte eine nackte junge Frau, deren Schönheit zusammen mit dem Formalingestank mich atemlos machte. Sie schien zu schlafen. Nichts deutete darauf hin, dass sie tot war, warum sie in dieser Wanne lag. Weil unter den Trümmern eingestürzter Häuser noch Mengen von Leichen auszugraben waren, musste sie wohl hier warten, bis ihr ganz ziviler Tod untersucht werden konnte. So erklärte ich mir, nicht ganz logisch, die Situation. Noch nie hatte ich eine völlig nackte Frau gesehn. Lange betrachtete ich sie, ihre Haare, ihr Gesicht, die langen Wimpern der geschlossenen Augen, die Brüste, den Bauch, die Haare zwischen den Beinen, die Rundung der Hüften, die Hände, die Füße, die Zehennägel. Und was ich empfand, war Ehrfurcht. Anders kann ich das Gefühl nicht beschreiben. Ehrfurcht, ja, und wohl auch Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Leben, in dem diese Tote lebendig geblieben wäre. Eine Sehnsucht, die mich seitdem nicht mehr verlassen hat. Benommen stieg ich wieder nach oben, schloss hinter mir, so gut es ging, die Waschküchentür. Der Formalingestank verfolgte mich trotzdem. Oben öffnete ich die breite Terrassentür hinter dem Flügel. Auf einem noch kahlen Baum im Garten sang eine Amsel. Sie sang die ersten Töne der Fidelio-Ouvertüre. Sofort spielte ich ihr die folgenden Töne vor, soweit ich sie noch auswendig wusste. Die Amsel schwieg. Ich spielte weiter. Die Amsel schwieg. Ich spielte. Keine Antwort der Amsel. Erst gegen Abend ließ sie sich wieder hören. Mittlerweile hatte Marie-Therese stundenlang telefoniert, zu unsrer Überraschung funktionierten die Leitungen, trotz gelegentlicher Ausfälle, Störungen, und sie hatte in der Küche der Frau des Institutsdieners mit deren übereifriger Hilfe auf einem alten Herd mit Kaminholz aus dem Garten für uns und einen aus der Zeit des herrlichen Professors übrig gebliebenen freigestellten Assistenten, der aber nicht kam, eine Suppe gekocht. Jetzt wussten die Lorbacher, dass wir noch lebten, und -95-
Marie-Therese wusste, dass wir in ein paar Tagen in der Klettenbergstraße, nur wenige Häuser von unserm früheren Haus entfernt, in der leer stehenden unbeschädigten Wohnung von Bekannten zwei Zimmer zur Verfügung haben würden. Die Leute, in Panik geratenes älteres Ehepaar, wollten Frankfurt für einige Zeit verlassen, waren froh, die Wohnung versorgt zu wissen und so um eine Zwangseinweisung von Fremden herumzukommen. Anschließend legte sich Marie-Therese auf die Couch, hatte Migräne, war lange nicht ansprechbar. Die Schöne in der Wanne. Weder sie noch der Formalingeruch wurden erwähnt. Ich schwieg ebenfalls. Inzwischen gehörte die Schöne mir. Auch wenn ich nicht mehr zu ihr hinunterstieg. Ich sah sie ja deutlich vor mir, wann immer ich wollte. Ich spielte trotz miserabel schwacher linker Hand einen von mir nicht allzu schlecht erfundenen Chopin für sie. Als die Amsel plötzlich dazwischensang, brach ich ab, wiederholte nur die Fideliotöne. Die Amsel schwieg. Ich hörte nicht auf mit Fidelio. Und plötzlich machte die Amsel mit, fügte ihren Fideliotönen zwei von meinen hinzu. Mehr wollte oder konnte sie nicht. Aber sie antwortete, wenn ich mit Fidelio anfing, probierte Variationen. Die ich wiederum aufnahm und weiter variierte. So lebte ich in den Tagen nach der Zerstörung Frankfurts, mit einer Amsel, die Beethoven sang, und einer schlafenden Schönen in Formalin.
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KAUM BILDER VON den nächsten Wochen. Marie-Therese und ich in fremd knarrenden Korbsesseln frierend beim Luxusfrühstück mit geretteter Lorbacher Marmelade, das vorbereitete Mittagessen in die Kochkiste geschoben. Dann unterwegs durch den unberührt friedlichen Holzhausenpark, aber nicht an dem ebenfalls unberührt gebliebenen Haus vorbei, in dem wir früher gewohnt hatten, da mochten wir beide nicht hinsehn, ständig auf der Jagd nach irgendwas Benötigtem: Lebensmittel, Ummeldeformulare, sonstige Dokumente, zum Beispiel Genehmigung für den Transport der Möbel aus der Synagoge nach Hünfeld, die, wir konnten es kaum glauben, jetzt tatsächlich erteilt wurde. Zwischendurch auch für Marie-Therese eine Lorbacher Woche, mühsam halbtagsstockerige Hin- und Rückfahrt mit zweimaligem Umsteigen von verqualmten klapprigen überfüllten Waggons in verqualmte klapprige überfüllte Waggons. Aber sie schaffte das, kam mit Beute (Butter, Eier, Schinken) zurück, lag dann zwei dunkle Migränetage im Bett, von mir mit gerettetem Tee versorgt und einer vorgefundenen Rotweinflasche, leidend aber zufrieden. Ich lebte vor mich hin, ungeduldig, kein baldiges Kriegsende in Sicht. Das waren betäubte Tage ohne Musik und Bücher zwischen Sirenengeheul, gelegentlichen Bombenabwürfen nah und fern, Scherbenzusammenfegen, Krater in den Straßen und Rückenschmerzen. Schule gabs nicht, auch keine wackeren Freunde. Die waren von Italien bis Polen verstreut, unerreichbar. -97-
Und als mich das Wehrbezirkskommando in der Klettenbergstraße aufspürte, sah ich voraus, dass die Kyphose mir nicht mehr lange Schutz davor bieten würde, zeitlich tauglich für den Heldentod gemacht zu werden. Da half mir meine rechte Niere. Innerhalb weniger Tage und Nächte entwickelte sie einen Abszess mit 40 Grad Fieber. Auch ein noch so verkommenes Vaterland ließ sich damit nicht verteidigen. Ich wurde ins kaum zerstörte Städtische Krankenhaus eingeliefert, ein Chirurg wetzte schon das Messer für den herrlichen Sohn des herrlichen Kollegen, da versuchte es der Nierenprofessor, glücklicherweise, erst mal mit Sulfonamiden. Irgendwann fing ich an, tagelang Eiter und Blut zu pissen, und war gerettet, lag noch lange mit einem alten Mann im Zimmer, ders am Herzen hatte oder an der Aorta. Der klärte mich über die Tricks und Betrugsmanöver auf, die bei Pferderennen üblich seien. Da werde schon vor Beginn des Rennens ausgemacht, welches Pferd mit welchem Jockey als Sieger durchs Ziel rasen solle, und dass zur Täuschung von Wettlustigen Pferde als wahrscheinliche Sieger angekündigt würden, die mit Sicherheit nur Dritte oder Vierte blieben, was alles dem kundigen Dechiffrierer durch Zahlenkombinationen in den Zeitungen mitgeteilt werde, so dass er auf das richtige Pferd setzen und hohe Wettgewinne erzielen könne. Da er den Code in jahrelanger wahrlich herzschädigender Tag- und Nachtarbeit entschlüsselt habe, müssten nach Kriegsende wohl zwei, drei Pferderennen genügen, um ihn zum mehrfachen Millionär zu machen. Schon deshalb sei ihm an einem baldigen Endsieg sehr gelegen. Er vertraue da ganz dem Führer. Im Übrigen sei er aus wohlerwogenen Gründen zahlendes Mitglied der Reiter-SS. Prompt träumte ich, dass ich mit der Tochter des Reichskultursenators und grauem Filzhut einem Rennen zusah. Aber es war kein Hut, den ich aufhatte, sondern ein Stahlhelm, und es waren keine Pferde, die da rannten, sondern Panzer, und es gab keinen Zweifel, dass sie ein besonderes Ziel hatten: mich. -98-
Doch sie verfehlten ihr Ziel. Nach zwei Wochen Krankenhaus war ich wieder zeitlich untauglich, trank dreimal täglich in Bad Wildungen ärztlich angeordnetes Nierenheilwasser, immer fein ordentlich mit Marie-Therese, die auch irgendwas Heilwässeriges trank, machte fein ordentlich Kräftigungsübungen, denn mir hing in der Tat das magere Fleisch ziemlich schwach an den Knochen, und hörte fein ordentlich neben Marie-Therese abends Geigengezirpe von ältlichen Händen mit begleitendem Klaviergeschrummse von noch älteren Händen und Pedalfüßen. Oder wir sahn im goldstuckverzierten Plüschkino Willy Birgel für Deutschland reiten. Wobei ich mich fragte, was der wohl zu den Forschungsergebnissen meines Mitpatienten sagen würde. Marie-Therese ließ nichts auf Willy Birgel kommen. Für sie war er der Herr schlechthin, elegant, durch und durch Ehrenmann, vom Oberlippenbart bis zu den Sporen. Ich brachte den Ehrenmann nicht zusammen mit dem Wahnsinn des Kriegs, den über Kassel dröhnenden britischen Bombergeschwadern, den sogar bis zum Nierenwasserbrunnen duchsickernden Flüsternachrichten über die wahre Lage im Osten, in Italien, auf dem Balkan. Ein ordenbehängter Unteroffizier aus Hamburg, den ich fast jeden Morgen beim Nippen traf, berichtete mir ausführlich, wie er eine Niere verloren hatte, die halbe Leber, einige Meter Darm. Er war vor ein russisches Maschinengewehr geraten. Seine Eier, groß wie Tennisbälle, blutige Tennisbälle, hatte er behalten, aber erst nach Monaten gingen die Schwellungen zurück, Monate voller unerträglicher Schmerzen, und das Schlimmste war: sein Schwanz kümmerte sich nicht um den Zustand der Eier, wurde einfach steif, wenn die scharfe Schwester vom Roten Kreuz ans Bett trat. Andererseits war er froh, dass sich da überhaupt noch was regte. Auch bei den andern, den Lungendurchschüssen, Bauchschüssen, die mit ihm in einer elenden Stube in einem elenden Lazarett lagen, da regte -99-
sich was, keine Frage, sagte er, und einmal, als sie nachts Dienst hatte, ist sie rumgegangen und hat es jedem gemacht, ungelogen, sogar ihm, ganz vorsichtig, suttje suttje, mit zarter Hand, o ja, und es hat sogar funktioniert. Gehört zur Heilung, hat sie noch gesagt. Zwei Tage später war sie weg, versetzt. Muss sie wohl jemand suttje suttje verpfiffen haben. Ich sah ihn an, diesen Uffz., während er so redete, und der Ausdruck seines Gesichts erinnerte mich an das Gesicht von dem Feuerwehrmann, der schreiend, mit abgerissenem Schlauch, in der Brandnacht an uns vorbeigelaufen war: Schleichender Irrsinn in den Augen. Nachts starrte ich in den zerbrochenen Kommodenspiegel meines Zimmers, prüfte meine Augen. Ob sie nicht ebenfalls schon schleichenden Irrsinn verrieten. Und wünschte mir zugleich, dass es auch für mich möglichst bald eine scharfe Schwester mit sanften Händen geben möge. Dabei war ich immer noch ziemlich klapprig. Meine Gedanken brannten, der Körper mochte nicht behelligt werden. So fühlte ich mich daneben, außerhalb aller Zusammenhänge, der verheerend geschichtlichen wie der undurchschaubar persönlichen. Wie es kam, dass ich dann in den Schwarzwald zur Fortsetzung der Kur geschickt wurde, weiß ich nicht mehr. Ich sollte Waldwege bergauf, bergab laufen. Hätte ich auch im Taunus gekonnt. Sollte eine andere Sorte von ödem Wasser trinken. Wär auch im Taunus möglich gewesen. Aber in St. Georgen lebte eine Tante, die würde ein Auge auf mich haben. Vielleicht war sie der Grund, weshalb ich ausgerechnet im Schwarzwald gesund werden sollte. Nur, so sehr gesund wollte ich ja nicht werden, die Niere hatte mir den Weg gewiesen, und die Tante war mir zu katholisch. Ich entzog mich dem Auge, war für niemanden ansprechbar, schrieb und komponierte nächtelang, warf das dann tagelang weg, denn, sagte ich mir, wenn ich nicht schreiben kann wie Mozart komponiert, wozu schreib ich, und wenn ich nicht -100-
komponieren kann wie Heine dichtet, wozu komponier ich. So lebte ich in hellwachem Traumzustand und beobachtete wie durch ein umgedrehtes Fernrohr den langsam, viel zu langsam vorrückenden Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches. Noch in meiner Wildunger Zeit waren die Alliierten an der Küste der Normandie gelandet. Jetzt, während ich über Schwarzwaldsteine und Schwarzwaldäste stolperte, kam die Nachricht vom fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler. Und Marie-Therese redete aus Lorbach mit mir über das Wetter. Wenn ich mich nicht irre, hatten wir heitere Sommertage. »Es sieht schlimm aus«, sagte sie, »alles schwarz, alles voller finsterer Wolken.« Nie zuvor hatte ich sie metaphorisch über Wolken reden hören. Wolken-Metaphern waren nur ihren Lieblingen erlaubt, den Dichtern. »Komm zurück nach Frankfurt«, sagte sie. »Ab übermorgen bin ich auch da.«
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IN FRANKFURT BLIEB ich nur ein paar Tage. Das LessingGymnasium war nach Bad Marienberg, Luftkurort im Westerwald, evakuiert worden. Da hausten nun die jüngeren Schüler unter der Obhut einiger mitgereister Mütter, weiß nicht mehr wo untergebracht. Unterrichtet wurden sie in der Mitteloder Realschule von Marienberg, abwechselnd im Turnus vormittags – nachmittags mit den ortsansässigen Schülern. Für die älteren, die Abiturienten, und zu denen zählte ich ja nun, hatte man Privatquartiere ausfindig gemacht. In einer Art ländlichem Konferenzraum saßen wir, Krüppel (einer mit seit Geburt verkrümmten Beinen) oder sonstwie wehruntauglich (ich) oder wehrunwürdig (Sohn des früheren luxemburgischen Außenministers, Sohn naturalisierter Engländer) gemütlich um die Fransendecke eines runden Tischs herum und diskutierten mit unsern Lehrern darüber, wie sinnvoll es sei, jetzt hinter Gleichungen mit allzu vielen Unbekannten her zu sein oder die verschlungenen Schönheiten griechischer und lateinischer Texte zu entschlüsseln, während nur wenige Kilometer entfernt aus den Wäldern V2-Raketen Richtung London abgeschossen wurden. Wir lauschten eher dem Rauschen der sich entfernenden Raketen als den Worten Vergils, denn nicht immer nahmen die Raketen Kurs auf England, sondern stürzten zurück in den Wald mit Explosionskrach und Donnergetöse. Was gelegentlich hieß, zersplitterte Fensterscherben und Rahmenreste zusammenzufegen, auch hier. Geleitet wurde das Westerwälder Exil-Lessing von -102-
Bornemann; Schumann koordinierte, solange das noch möglich war, vom Frankfurter luftangriffbeschädigten Schulbüro aus die Maßnahmen im Luftkurort. Für mich hatte man eine Dachkammer im Haus eines Marienberger Lehrers gefunden. Das Haus war klein, lag abseits am Ortsausgang, fast schon im Wald. Der Hausherr, hoch gewachsen, ziemlich autoritär, gefiel mir trotzdem. Denn schon am zweiten oder dritten Abend, als wir uns in Gesprächen vorsichtig abtasteten, erwies er sich als unerbittlicher Nazigegner, der es hasste, sich verstellen zu müssen, mit den örtlichen Parteibonzen Bier zu trinken, an Gedenktagen ihr schwachsinniges Geschwafel mit unbewegtem Gesicht anzuhören. Übertroffen in diesem Hass wurde er nur von seiner untersetzten dunkelhaarigen bulgarischen Frau, einer vor Leidenschaft lodernden überzeugten Kommunistin. Ihre Tochter, gescheit, blass, hatte es nicht leicht mit so starken Persönlichkeiten als Eltern, das begriff ich sofort. Ich erreichte sie nicht, obwohl sie in meinem Alter war. Und kein Wort von ihr ist mir geblieben, nur ein verschwommenes Bild, wie sie der Mutter in der Küche beim Geschirrspülen hilft. Dabei mochte ich sie doch. Jahrzehnte später sah ich sie wieder. Sie war extra aus einem Taunusort zu einer Lesung von mir nach Frankfurt gekommen. Wieder erinnere ich mich kaum an ein paar Worte von ihr. Sie berichtete von ihrer Ehe und vom Tod der Eltern in Bulgarien. Ich versprach, ihr einige meiner Bücher zu schicken. Ich weiß nicht, ob ichs getan habe. Jedenfalls hörte ich nichts mehr von ihr. Und frage mich, warum mir eigentlich nur dies verschwommene Bild eines blassen Marienberger Gesichts in Erinnerung geblieben ist. Vielleicht, weil ich versäumt habe, das Gesicht für mich deutlich werden zu lassen. Damals kauerten wir abends oder nachts oft zu viert im Wohnzimmer vor dem Radio und hörten Nachrichten aus Moskau in deutscher Sprache. Die Bulgarin war überzeugt, dass -103-
nur Radio Moskau die Wahrheit sagte. Sie misstraute auch den Sendern der westlichen Alliierten. Deren Berichte über das Vorrücken alliierter Truppen durch Frankreich hin zur deutschen Grenze glaubte sie erst, wenn Moskau sie bestätigte. So lebte ich in einem zunächst noch unbedrohten Winkel des täglich von West und Ost her enger zusammengedrückten kaputtgehenden Reichs, fern von Trümmern, Chaos, Opfern, idyllisch mit Moskauer Nachrichten, Westerwälder Kurluft, Fransendeckentisch, allmählich ersterbenden V2-Abschüssen. Und Marion. Die lernte ich kennen, als ich Fotos brauchte für irgendeinen Ausweis. Sie gefiel mir sofort. Und ich ihr, glücklicherweise, auch. Sie war älter als ich, sechs Jahre, wie wir später feststellten, hatte den Fotoladen vom in Polen gefallenen Vater übernommen, Danielle Darrieux auf blond (bildete ich mir ein) mit irgendwo im Osten oder Süden kämpfendem Freund, der ihr, das war zu spüren, nicht nur räumlich fern gerückt war. Mir gefiel auch die Mutter. Die trug ein hübsches Baby umher, das, so Marion, von einem französischen Kriegsgefangenen stammte. Offiziell durfte sie das unter keinen Umständen zugeben, einer ehrlosen deutschen Frau drohten härteste Strafen. Offiziell war der Vater ein verheirateter deutscher Feldwebel, nur mal eben kurz auf Dienstfahrt hier durchgekommen, dem sie das Kind nicht nachtragen wollte, um durch die zu erwartenden Eheschwierigkeiten seine Kampfkraft nicht zu schwächen. Marion erzählte davon, während wir spätnachmittags, nach Geschäftsschluss, durch den Wald streiften oder auf dem kleinen Sofa saßen vor ihrer Dunkelkammer, zu der ich keinen Zutritt hatte. Der war nur dem jetzt fernen Freund erlaubt gewesen. Und ich, so voller Begierde ich war, so schüchtern war ich auch. Lediglich kleine Freiheiten, so nannte das die Mutter, und die musste es ja wissen, wurden mir erlaubt. Die größeren kamen allmählich. Einmal verirrten wir uns bei beginnender Dämmerung im schon düsteren Wald. Während ich nachdachte, -104-
wo jetzt die Sonne sein musste, die gerade noch die höchsten Baumwipfel beschien, kletterte Marion rasch eine Buche hoch, um herauszufinden, wo wir uns befanden. Ich sah hinter ihr her, nach oben, sah, dass sie unter dem Rock nichts anhatte. Gewohnheit oder Einladung, ich war mir nicht sicher, zögerte, verpasste wahrscheinlich eine Gelegenheit. Aber wenig später wurden mir denn doch die Geheimnisse der Dunkelkammer enthüllt. Mein nicht zu verheimlichender Umgang mit Marion missfiel dem Lehrer und der Bulgarin. Sie warnten mich: Marion sei eine Nazigöre, sogar Parteimitglied. Nur aus geschäftlichen Gründen, sagte Marion. Damit sie weiter Fotomaterial geliefert bekomme. Ich glaubte ihr. Im Übrigen wars mir egal. Wenn ich sie sah, dachte ich nicht an Naziverstrickungen, sondern daran, von ihr umarmt zu werden. Außerdem, fand ich, war das französische Baby in der Familie ein gutes Gegengewicht gegen die Partei in der Familie. Aber Klatsch und Tratsch im Ort erreichten auch ein besorgtes Lehrerkollegium. Ich sei möglicherweise sittlich gefährdet, hieß es. Bornemann wollte sich darum kümmern. Zunächst jedoch hatte er ein anderes Problem zu lösen. In einem der von Lessings wie von Marienberger Schülern abwechselnd benutzten Klassenzimmer war frühmorgens vor Unterrichtsbeginn entdeckt worden, dass ein großes Foto von Hitler zwar noch an seinem Platz an der Wand hing, aber schief, mit Lehm beworfen, völlig zugeschmiert. Alles deutete darauf hin, dass als Täter nur aufsässige dreizehnjährige Lessings infrage kamen. Bürgermeister und Ortsgruppenleiter forderten eine strenge Untersuchung. Bornemann brachte es fertig, lückenlos zu beweisen, dass kein Lessingschüler außerhalb der Unterrichtsstunden Zugang zu dem betreffenden Klassenzimmer gehabt habe. Dass aber sehr wohl Marienberger Schüler diese Möglichkeit haben konnten. Der Mann der Bulgarin widersprach entschieden. Keiner seiner Schüler sei zu einer derart abscheulichen Tat -105-
fähig. Schließlich einigten sich er und Bornemann, augenzwinkernd, wie ich annehme, darauf, dass zur fraglichen Zeit ja Quartiermacher des Heeres in der Schule übernachtet hätten. Mit dieser Lösung waren alle einverstanden, außer dem Ortsgruppenleiter. Aber der schwieg jetzt. Alliierte Truppen hatten Aachen erreicht. Und Bornemann ging in Marions Laden, ließ sich von ihr ein Passfoto machen. »Die ist doch e hübsch Mädche«, erklärte er anschließend dem Kollegium (wurde mir sofort hinterbracht). »Da ist der Hey doch net sittlich gefährdet. Wann sie e hässlich aal Kräh wär, dann wär er sittlich gefährdet.«
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WIEDER ZUSAMMENHANGLOSE BILDER von dem, was folgte: Lange Bahnfahrten zwischen Marienberg und Frankfurt, Frankfurt und Marienberg. Wegen bombenbeschädigter Bahnhöfe und Gleise auch mit Umwegen, über Gießen, über Wetzlar. Einmal tagsüber beschossen von britischen Jagdfliegern, wir alle raus aus dem Zug, unters Bahndammgestrüpp gekrochen, heulende Frauen, kreischende Kinder, verbissen schweigende Großväter, Bordkanonengeratter, durchlöcherte Waggons, qualmende heißwassersprühende Tenderlok. Ruhige Dämmerstunden mit Gerhard im Haus des Pastors, wo er sich trotz seiner hakenförmig erstarrten knochendünnen Beine an zwei Stöcken mit Hilfe muskulöser Arme leicht bewegte, ein Wunder an Energie, an Widerstandswillen. Lateinische Texte repetieren, Schallplatten hören, Alt-Rhapsodie von Brahms, Heine lesen. Marion in unterschiedlichen Beleuchtungen. Andere Dachkammer bei Kleinbauern am Ortsende, altes Ehepaar, eine Kuh, zwei Schweine, fünf Kaninchen, halbes Dutzend Hühner. Strenger Winter. Morgens gefrorenes Wasser in der Waschschüssel auf der Kommode vorm Bett, mit lauer Wärmflasche unter schwerem Plumeau, Wurst und Vollmilch zum Frühstück. Vielleicht mochten mich Lehrer und Bulgarin, misstrauisch wegen Marion, nicht länger in ihrem Haus haben. Oder brauchten Platz für geflüchtete Angehörige. Oder planten -107-
schon Bulgarien, was weiß ich. Die Bäuerin, kopfschüttelnd über Hitler wegen verschärfter Eierablieferungsanordnung: »Wie will der Mann den Krieg gewinnen, wenn er von Hühnern nichts versteht.« Am Fransendeckentisch, Abiturarbeiten schreiben, diskutieren, vergleichen, sich gegenseitig helfen. Bornemann, mit dem Rücken zu uns am Fenster: »Gell, machts nicht zu auffällig.« Bestanden mit »gut«. Ein Jahr später für ungültig erklärt von der amerikanischen Militärregierung. Auflösung vom Exil-Lessing in Marienberg. Mit vorletzten und letzten Zügen Rückkehr der Schüler samt Begleitpersonen nach Frankfurt. Marion seh ich erst zwei Jahre später wieder. Bomben Tag und Nacht, aber weit gefächert. In den Zwischenräumen Zeit für Marie-Therese und mich, mit erstaunlich vielen in der Stadt gebliebenen Frankfurtern zu überleben. Von irgendwoher ein Radio aufgetrieben. Amerikanische Nachrichten, BBCNachrichten, bruchstückhaft, sehr gestört. Was real geschieht, wirkt irreal auf mich, als sei ich nicht betroffen. Varianten des damals Üblichen, pompöses Theater, hinter krassen Unwahrscheinlichkeiten verheerende Wahrheit: »Ich, Eisenhower, komme nicht als Befreier. Ich komme als Sieger.« So flatterte es bombenbegleitend vom Himmel, klebte wenig später an Mauern und Türen. Marie-Therese und ich kamen überein, dass sie nach Lorbach fahren sollte (gelang ihr auch, mit den allerletzten Zugverbindungen), ich hingegen sollte in Frankfurt bleiben, damit jemand in der Wohnung wäre. Um das Wohnrecht nicht zu verlieren. Unser Wohnrecht! Wir erwarten den Ausfall aller Sicherungen und hielten doch an einigen fest. Dabei genoss ich es, fast schwerelos, Beobachter eines Zusammenbruchs zu sein, rechnete mir gute Chancen aus, ihn zu überleben, allerdings auch höchst unsichere für das, was mich -108-
danach erwartete. Ich wusste einiges von der Vernichtung Dresdens, nichts Genaues, aber doch genug, um hinter kargen offiziellen Mitteilungen die Katastrophe zu ahnen. Durch einen zerfledderten Feldpostbrief, der, völlig unerklärlich, unzensiert die Zensur passiert hatte und, noch unerklärlicher, tatsächlich in die Hände der Adressatin gelangt war, der Mutter des Absenders, und von diesen Händen auch in die von MarieTherese, mit der Adressatin flüchtig bekannt, keine Ahnung mehr, wer das gewesen sein könnte – durch diesen Brief wusste ich auch vom Elend, vom Zugrundegehn zigtausender Flüchtlinge im Osten. Aber ich war mir geradezu blasphemisch sicher, dergleichen wäre hier im Westen nicht vorgesehn. Noch gelangten Lebensmittel in die Läden, wurden aus immer noch funktionierenden, wenn auch halb leeren Vorratslagern verteilt. Das von Deutschen ausgeplünderte Europa ernährte uns weiterhin, obwohl wirs nicht mehr unterm Stiefel hatten. Der Hunger kam später. Immerhin, und das eben war in diesen Märztagen meine Befürchtung, hielt ich eine Zwangsverpflichtung junger deutscher Männer zum Schuttaufräumen in Europa für möglich. Nicht gerade wahrscheinlich, dass mein bis zum 30.4.45 verlängertes »Zeitlich untauglich« Eisenhower beeindrucken würde. Also dachte ich über Fluchtwege nach, rannte nachts, mich sinnlos gefährdend, durch den finsteren Holzhausenpark, auf der Suche nach Erleuchtung. Aber so finster war der Park gar nicht. Ich konnte Umrisse erkennen, Gebüsch, Bäume. Und Schatten, die sich lautlos bewegten, ganz nah bei mir. Kein Mondlicht, wenn ichs richtig in Erinnerung habe, sondern zwischen schwarzen Ästen das Licht verschwommener Sterne jenseits langsam fallender Wolken. Ich hörte leises heftiges Atmen der Schatten neben mir, ging, neugierig und vorsichtig zugleich, einfach noch näher heran, und die Schatten nahmen Gestalt an. Eine Frau umarmte einen Baum, presste die Hände in die -109-
Rinde. Sie hatte den Rock hochgezogen. Hinter ihr drängte in gleichmäßigem ruhigem Rhythmus ein uniformierter Mann gegen sie. Schwach schimmernde Unteroffizierslitzen bewegten sich hin und her. Seine Hose hing halb auf den Stiefeln. Seine Hände ruhten, als hätten sie nichts mit ihm zu tun, auf der Hüfte der Frau. Er hob sein Gesicht, blickte flüchtig in meine Richtung, nahm offenbar an, dass er von einem Zivilisten nichts zu befürchten hätte (wieso eigentlich?) und vergrub das konturlose Gesicht wieder in den dichten Haaren der Frau, ließ sich nicht stören in seinen nun etwas schnelleren Bewegungen. Zugleich leuchtete eine abgedunkelte Taschenlampe mir das Gesicht ab, punktförmig über Mund, Wangen, Augen wandernd. Ich versuchte zu erkennen, wer plötzlich neben mir stand und mein Gesicht erforschte. Angst spürte ich nicht, nur wieder diese irreale Schwerelosigkeit, als ginge mich die sonderbare Situation, in die ich geraten war, nichts an. Die Taschenlampe erlosch. Sanfte Finger betasteten aus dem Dunkel meine Lippen, dann Kinn und Hals, verweilten kurz auf meinem reichlich großen Kehlkopf, suchten dann meine Hände, schoben sie auf Brüste unter dicker Jacke. Ein weißes von schwarzen Haaren umhülltes Gesicht mit tief verschatteten Augenhöhlen näherte sich. Weiche Lippen berührten meinen Mund, während die Finger sich wieder an mir zu schaffen machten, mich mit sich zerrten. Nicht einfach, küssend durchs Dunkel zu stolpern und dabei eine rückwärts gehende Frau im Arm zu behalten, auch wenn es sich nur um ein paar Schritte handelt. Die Frau lehnte sich gegen die freie Rückseite des Baums, an dem die andere Frau weiterhin mit dem Unteroffizier beschäftigt war, legte ihren Kopf auf eine der in die Rinde gekrallten Hände der Unteroffiziersfrau, als wollte sie die leichten Erschütterungen fühlen, die von den Bewegungen des Unteroffiziers ausgingen. Ich begriff, was von mir erwartet wurde. Meine werte Natur hatte es längst vor mir begriffen. Und so fügte ich eigne Erschütterungen den Erschütterungen des Unteroffiziers hinzu, -110-
wortlos, fast auch atemlos, in ohrenbetäubender Stille. Nach wenigen Minuten und vierstimmigem Aufseufzen lösten wir uns alle voneinander, verschwanden zweigeknisternd in der Nacht des Parks. Gedanken machte ich mir erst später, als ich vor dem Radio hockte und auf alliierte Nachrichten wartete. Wer waren diese beiden Frauen? Schwestern, vermute ich. Und ich hatte mit der älteren zu tun gehabt. Aber warum hatte sie die jüngere zu ihrem Rendezvous mit dem Unteroffizier begleitet? Sie konnte nicht damit rechnen, dass da einer wie ich vorbeistromerte und nur allzu bereit war, sich verführen zu lassen. Und wieso das alles im Park? Hatten sie keine Behausung? Und der Unteroffizier? Hatte er vielleicht Urlaub bis Mitternacht? War überhaupt denkbar, dass ein Soldat, nur wenige Kilometer entfernt vom vorrückenden Feind, noch Urlaub bekam? Und Eisenhower, wieso war er so still in dieser Nacht, so ohne Bomben, ohne fern rollendes Artilleriegedröhn? Ich schlief kurz ein und träumte, dass mich riesige spinnenartige Syphiliserreger und vielarmige Feldjäger gemeinsam verfolgten. Als ich wieder zu mir kam, waren die American-Forces-Network-Nachrichten fast vorbei. Ich hörte nur noch den Schluss. Der ging ungefähr so: Wir wiederholen unsere wichtige Durchsage von heute Abend für die Einwohner von Mannheim und Frankfurt. Die Einwohner sind dringend aufgefordert, die Städte zu verlassen, da in den nächsten Tagen schwerste Zerstörungen durch Bomben von bisher nicht bekannter Explosionskraft erfolgen werden. An das, was folgte, hab ich wieder keine genaue Erinnerung. Irgendwann am frühen Morgen saß ich auf einem angerosteten, doch gebrauchstüchtigen Fahrrad, das ich im Keller der Wohnung gefunden hatte, die unsere geworden war, und strampelte aus Frankfurt hinaus. Mit mir waren am Straßenrand eine Menge Leute unterwegs, eingemummelt, Koffer und -111-
Rucksäcke schleppend, vollbepackte Kinderwagen und Handkarren hinter sich her zerrend, auf überladenen Fahrrädern balancierend. Die hatten also alle, wie ich, AFN gehört. Irgendwelche Uniformierte versuchten, uns mit Geschrei und hektischem Armegefuchtel von der Straße abzudrängen, vergeblich. Wir wurden überholt von dreckigen Schützenpanzern der Wehrmacht. Uns entgegen rollten nicht weniger verdreckte Schützenpanzer der Waffen-SS. Beide Sorten Schützenpanzer kamen nur mit Mühe aneinander vorbei, versperrten sich gegenseitig den Weg, wurden von unseren Rädern, Schubkarren und Kinderwagen noch zusätzlich behindert. SS und Heer brüllten sich aus ihren offenen Blechkisten an, aber eher resigniert, pflichtgemäß. Zweimal wurde ich von Feldjägern aus dem Chaos gefischt, kontrolliert, widerwillig freigelassen. Ich fuhr dann über fast leere Nebenstraßen, durch ausgestorbene Dörfer, glaubte in der Ferne, über Frankfurt, Bombenexplosionen und schweres Artilleriefeuer zu hören, aber das kann, überreizt wie ich war, auch in meiner Einbildung stattgefunden haben. Dachte noch mal an die beiden Frauen und den Unteroffizier im Holzhausenpark. Vielleicht war das ein Abschied gewesen. Vielleicht hatten sie AFN schon vor mir gehört. Oder, auch möglich, sogar wahrscheinlicher, der Unteroffizier befolgte, gewiss etwas zu privat, einen Rückzugsbefehl. Der Gedanke gefiel mir. Denn dass die Wehrmacht Frankfurt verließ, war ja für alle, die mit mir über die Straße zogen, klar erkennbar gewesen. Unübersehbar allerdings auch, dass jetzt die WaffenSS dabei war, die Stadt zu besetzen. Was das Schlimmste befürchten ließ. Wie nach Kriegsende Gerüchte wissen wollten, die später durch Nachforschungen im Wesentlichen bestätigt wurden, hatte es zwischen Wehrmacht und Waffen-SS eine erbitterte Auseinandersetzung gegeben, Zweikampf auf hoher Ebene, Kommandant der Wehrmacht gegen SS-Kommandant. Der -112-
Kampf fand statt im gläsernen Dachpavillon der Allianz-Bank, Taunus-Anlage. Da oben hatte der Wehrmachtgeneral seinen Befehlsstand eingerichtet und, überzeugt, dass die Stadt nicht zu verteidigen war, den Rückzug der ihm verbliebenen Wehrmachtreste aus Frankfurt angeordnet. Doch Hitler in seinem Berliner Bunker befand, dass Frankfurt unter allen Umständen gehalten werden müsse, dirigierte die Reste einer Waffen-SS-Division um, schickte sie zur Verstärkung. Und der Waffen-SS-Kommandant erschien im Dachpavillon, um den Befehl zu übernehmen. Der General weigerte sich, ihn abzugeben. Während beide Resteverwerter sich noch befetzten, schlugen amerikanische Artilleriegranaten ein, zufällig oder gezielt, abgedroschenste Kriegsfilmdramaturgie, aber so wars, und der SS-Kommandant sofort tot, der General, schwer verletzt, bekräftigt, bevor er ebenfalls stirbt, ausdrücklich seinen Rückzugsbefehl. Die Waffen-SS musste umkehren. Und die angedrohten Bomben, Kriegslist der Amerikaner, um sämtliche Zugangsstraßen nach Frankfurt möglichst unpassierbar zu machen, fielen nicht. So ist Frankfurt vor totaler Vernichtung bewahrt worden. Aber noch wusste ich nichts davon. Noch strampelte ich, inzwischen alles andere als schwerelos, mechanisch vor mich hin. Es war schon dunkel, als ich, mit aufgescheuertem Hintern und Wadenkrämpfen, in Lorbach ankam. Marie-Therese, wenn auch erleichtert, mich zu sehn, war sehr besorgt wegen Malte, meinem vierzehnjährigen Bruder. Der hatte, Befehl eines durchgedrehten Parteibonzen, an diesem Tag frühmorgens mit Tagesproviant in Büdingen antreten müssen, um in einem Haufen von Hitler-Jungen aus den umliegenden Dörfern abzumarschieren Richtung Vogelsberg und weiter. Die deutsche Jugend, so der Bonze, solle nicht dem Feind in die Hände fallen. SS-Männer mit Maschinenpistolen und Hunden begleiteten die deutsche Jugend. Um sie zu beschützen, hieß es. Sehr -113-
einleuchtend, deutsche Schäferhunde gegen amerikanische Panzer. Hitlers Wunderwaffe, zumindest für den Vogelsberg. In Wahrheit sollten die SS-Hunde die deutsche Jugend bewachen und am Davonlaufen hindern. Malte und ein Freund entkamen ihnen trotzdem in einer der nächsten Nächte, während der Rast auf einem Bauernhof, verbargen sich unter dichten Fudern Heu zwischen Scheunenbalken ganz oben, wo die Hunde sie nicht aufstöbern konnten, schlichen dann, immer nur nachts, abseits von Straßen, über Wiesen, durch Wälder die Strecke zurück, die sie tagelang vorwärts marschiert waren. Die andern, die weitermarschierten, bis alles in Scherben fiel, irrten durch Thüringen und Sachsen, gerieten in amerikanische oder russische Gefangenschaft, kehrten erst nach Monaten zurück – wenn sie nicht, wie in einigen später bekannt gewordenen Fällen, als spurlos Vermisste gemeldet wurden. Malte hingegen tauchte vier Tage nach seinem Verschwinden wieder in Lorbach auf, halb verdurstet und verhungert, völlig erschöpft, trank einen Liter Milch, berichtete kurz, fiel ins Bett, schlief vierundzwanzig Stunden lang. Als er aufwachte, standen die Amerikaner vor der Tür. Wir hatten sie erwartet. Zwei Tage zuvor waren deutsche Armeeüberbleibsel an uns vorübergezogen, in beschlagnahmten verbeulten Privatautos, auf ramponierten Lastwagen, wahrhaft Geschlagene, Zerfetzte, elend Zugerichtete, mit kaum versorgten Verletzten und Waffen ohne Munition. Sie bekamen zu trinken, zu essen. Ein Leutnant schenkte mir, bevor die zermürbte Kolonne weiterrollte, gegen sechs geklaute Eier seinen Revolver mit noch zwei Schuss. Ich dachte, wer weiß, ob ich den nicht mal brauchen kann, packte ihn in einen Gasmaskenbehälter, vergrub ihn im Garten. Wenn er nicht ausgegraben wurde, liegt er da noch heute. Am folgenden Tag flog langsam und ziemlich niedrig ein kleines amerikanisches Aufklärungsflugzeug über die Dächer von Lorbach und Büdingen, zog Kreise, entfernte sich so -114-
unauffällig, wie es gekommen war. Dann lange Zeit nichts. Dann fernes Dröhnen und Rumoren, das allmählich lauter wurde. Wir standen alle an den Küchenfenstern, Gutsherr mit Frau und Töchtern, Marie-Therese mit jüngstem und ältestem Sohn, Malte schlief noch, dazu Verwandte der Lorbacher, Kantinenwirt aus dem Elsass samt Frau und Tochter, mit Lieferwagen voller Spirituosen vor den Franzosen geflohen, hart gesottene NaziSympathisanten, die fanden, man hätte Malte anzeigen müssen, weil er desertiert sei, vom Gutsherrn aber scharf zurechtgewiesen: Denunzianten dulde er nicht auf seinem Hof. Jetzt sahn wir stumm zu, wie amerikanische Panzer an uns vorbeirasselten, Jeeps, Mannschaftswagen, Lastwagen, alle Fahrzeuge genormt, technisch perfekt. Und ich begriff einen der Gründe, weshalb Hitler den Krieg verlor. Nicht nur, weil er nichts von Hühnern verstand. Auch, weil die Fahrzeuge der Wehrmacht aus zu vielen verschiedenen Fabrikaten bestanden. Ersatzteile des einen Fabrikats passten nicht für andere. Zu viel Zeit, Energie und Materialaufwand waren nötig, die Fahrzeuge einsatzbereit zu halten. Bei den Amerikanern passte vermutlich jede Schraube des einen Fahrzeugs auch für alle andern. So rollten die Sieger die Dorfstraße entlang in ihren offenen Wagen, Schwarze und Weiße, ruhig, aufmerksam, schussbereite Waffen in der Hand. Einer der Wagen hielt vor dem Hoftor. Uns wurde bedeutet, innerhalb von zwei Stunden den Hof zu verlassen. Zutritt und kurzer Aufenthalt nur für diejenigen, die das Vieh zu versorgen hatten. Marie-Therese schob Silberbesteck und Goldringe in den Tresor des Gutsherrn. Dann zogen wir mit Koffern und Bettwäsche zur Wohnung einer Freundin der Lorbacher kurz vor den leeren Kasernen, vorbei an denen, die in ihren bescheidenen Häusern bleiben durften, Knechten und Kleinbauern mit ihren Familien, und den Auszug des Gutsherrn nebst Anhang hinter Gardinen beobachteten. Vor dem Haus der Freundin patroullierten Amerikaner, ließen alle hinein – bis auf mich. -115-
Ich machte die erste Jeep-Fahrt meines Lebens, wurde in der Büdinger Gewerbeschule abgeliefert. Da sammelten sie in einem leer geräumten Klassenraum junge und nicht mehr ganz junge Männer. Wir warteten. Neben mir hockte einer auf dem Boden, den redeten welche, die ehrfurchtsvoll vor ihm kauerten, mit »Durchlaucht« an. Und Durchlaucht sprach seinen resignierten Gefolgsleuten Mut zu. Einen Moment war ich trotz der amerikanischen Uniformen um mich herum nicht sicher, in welchem Jahrhundert ich lebte. Später hörte ich, der Fürst von Büdingen sei Blutordensträger gewesen, also Mitglied der NaziPartei seit den zwanziger Jahren. Hätte ichs schon im Klassenraum erfahren, wär mir kein Zweifel an meinem Jahrhundert gekommen. Wie sich dann bei den Verhören herausstellte, suchten die Amerikaner nach untergetauchten deutschen Soldaten. Dank »Zeitlich untauglich« kam ich bald wieder frei. Ebenso wie der Fürst, hörte ich, den seine internationalen Verbindungen schützten. Viele der andern landeten in einem Lager bei Hanau. Im Wohnzimmer der Freundin, in der Küche, auf dem Vorplatz breiteten wir improvisierte Nachtlager aus. Schon am nächsten Tag durften wir zurück nach Lorbach. Ryszard und die andern Polen hatten für den Gutsherrn gesprochen. Sie seien nie wie Zwangsarbeiter behandelt worden. Das Haus war verwüstet. Die Amerikaner hatten die im Keller verstauten elsässischen Spirituosen gefunden. Überall lagen leere zerbrochene Flaschen herum zwischen zertrümmerten Stühlen, aufgeschlitzten Tapeten, zerrissenen Gardinen, eingeschlagenen Fensterscheiben, in zugekackten Betten und vollgepissten Waschkörben. Der Tresor war aufgebrochen, Marie-Thereses Silberbesteck samt Goldringen verschwunden. Tagelang räumten, putzten, reparierten wir. Irgendwann gabs auch wieder Strom, wir hörten AFN, gierig trank ich Jazz und amerikanische Schlager. Sonst keine Bilder mehr, wie wir den April zubrachten. Der Gutshof funktionierte -116-
wohl wieder, gelegentlich kamen Amerikaner vorgefahren, kontrollierten ich weiß nicht was, holten irgendwas, doch, das seh ich noch. Aber nichts weiter. Bis Anfang Mai. Da seh ich mich, wie ich Knöpfe dreh am Radio, auf Jazzsuche. Und plötzlich hab ich, weit weg, ganz schwach, dennoch sehr deutlich, einen deutschen Sender mit vermutlich letzten Nachrichten aus dem III. Reich. Und einer Ansprache von Großadmiral Dönitz. Ich erfuhr, dass der Führer und Reichskanzler, in vorderster Linie bei der Verteidigung der Reichshauptstadt kämpfend, am 30. April den Heldentod gefunden habe. Er, Dönitz, testamentarisch von Hitler zu seinem Nachfolger als Reichskanzler bestimmt, wende sich nun von Flensburg aus an das deutsche Volk. Der Krieg, so bitter es ihn auch ankomme, dies feststellen zu müssen, sei verloren. Damit aber der heldenhafte Kampf nicht vergebens gewesen sei, möge jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau darauf achten, dass uns die deutsche Sprache erhalten bleibe. Die deutsche Sprache! Also darum wars gegangen. Juden, Polen, Russen, Franzosen, Engländer, Amerikaner wollten uns die deutsche Sprache nehmen, und der Führer hat sie bis zum Tod verteidigt. Zynischer, verlogener und wehleidiger zugleich konnte sich der letzte Chef einer Bande von Massenmördern und Sprachverunstaltern wohl kaum vor der Öffentlichkeit präsentieren, vor Helfershelfern, betrogenen Gutgläubigen, überlebenden Opfern. Weder Himmler noch Göring hätten das so hingekriegt. Selbst Goebbels nicht. Wär mir damals schon bekannt gewesen, dass es ein Guinness-Buch der Rekorde gibt, ich hätte Dönitz vorgeschlagen. So musste ich mich mit einer wegen Dönitz-Ekel durchkotzten Nachtstunde begnügen. Und auf den jetzt ganz nahen Tag X warten. Den Tag, an dem der Untergang des III. Reichs in Chaos, Blut, Trümmern für immer dokumentiert sein würde.
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DIESER 8. MAI 1945, eine Woche vor meinem neunzehnten Geburtstag, machte mich zum Neugeborenen. Kein uniformierter Wahnsinn mehr, keine behördlich erfassten Untermenschen, Juden, Halbjuden, keine Mörder, Blutrichter und Folterer mehr. Die Todeswalze zu Schrott zermahlen. Dahin auch, welche Erleichterung, meine fixe Idee, zwangsverpflichtet zu werden. Ich durfte leben. Nie wieder, so meine Überzeugung, würden nationalsozialistische und faschistische Ideologien eine Chance haben, weil sie ein für alle Mal von der Geschichte widerlegt, aus der Geschichte geworfen wurden. Eine Zeit lang würden wir noch mit unentdeckt übrig gebliebenen Mördern und Folterern leben müssen, mit unbelehrbaren alten Nazis. Aber die würden aussterben. Wir andern wären stärker. Es würde gelingen, in diesem kaputten Land menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Zunächst mit Hilfe der Alliierten, versteht sich. Deshalb war ich dann später für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, ließ das Wort »Siegerjustiz« nicht gelten. Denn auch die Sieger, glaubte der Neugeborene, würden, wie überhaupt alle Völker auf dem Planeten, die historische Lektion dieser Jahre gelernt haben. Alle würden nach Herstellung von sozialer Gerechtigkeit streben. Keine Ausbeutung mehr, nirgendwo, keine Rassendiskriminierung, nirgendwo, keine Straflager, nirgendwo, keine Massenvernichtungswaffen mehr. Weiße, schwarze, rote, braune, gelbe Menschen, Sozialisten, Industrielle, Arbeiter, -118-
Intellektuelle, emotionale Querdenker und strenge Logiker, fromme Christen und Nichtchristen, Aufsässige und Konservative, fast schon resignierte Aufklärer und unbeirrbare Demokraten – sie alle würden künftig nur ein Ziel haben: Im friedlichen Wettbewerb der politischen und wirtschaftlichen Systeme den Planeten für Menschen bewohnbar zu erhalten. Ja, so dachte sich das der Neugeborene.
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SOBALD ES MÖGLICH war, wollte ich zurück nach Frankfurt. Die besoffenen GIs hatten beim Plündern das Fahrrad entdeckt, wohl ein paar Runden um den Misthaufen gedreht und es dann mit aufgeschlitzten Reifen zwischen die Himbeersträucher geschmissen. Die Reifen mussten geflickt werden. Wie das meinem Bruder und mir gelang, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wie ich durchkam nach Frankfurt. Nur dies Bild ist mir geblieben: Auf einer Straße endlose Kolonnen von amerikanischen Militärlastwagen, die mich überholen. Plötzlich versperren mir bärtige blasse Männer den Weg, reißen mich vom Rad, filzen mich flüchtig, reden hastiges Polnisch oder Ukrainisch, befreite Zwangsarbeiter, denk ich und rechne schon damit, dass sie mir das Rad klauen, die Jacke ausziehn. Aber meine Jacke war fast so schäbig wie ihre Klamotten, das Rad verrostet, und mein bisschen Geld trug ich im Strumpf unter der Fußsohle. Sie ließen mich weiterklappern, unter den teilnahmslosen Blicken der Amerikaner, die an uns vorüberrollten. Noch ein paar Durcheinanderbilder von den ersten Frankfurter Nachkriegsmonaten: Wieder den Handkarren vollpacken mit persönlichem Kram. Innerhalb weniger Stunden war ein von den Amerikanern beschlagnahmtes fast unzerstörtes Wohngebiet zwischen Dornbusch und Palmengarten zu räumen, in dessen Mitte der eindrucksvoll leicht geschwungene moderne Verwaltungspalast der IG-Farben lag, kaum beschädigt, nunmehr Sitz der amerikanischen Militärregierung. Hohe -120-
Drahtzäune wurden errichtet, Straßenbahnen umgeleitet, lange Umwege zu Fuß waren zu machen durch den rötlichen Trümmerstaub der Stadt. Die Mutter eines Schulfreundes nahm mich auf. Der kam erst im September aus der Gefangenschaft zurück. Sie, mit noch zwei jüngeren Kindern, schmächtig, willensstark, so hab ich sie in Erinnerung, war Witwe eines Majors, dem als Adjutanten des Hitler-Attentäters Stauffenberg SS-Offiziere einen Revolver auf den Tisch gelegt hatten mit der Bemerkung, wenn er sich jetzt erschieße, sei er für Führer, Volk und Vaterland gefallen und seine Familie bekomme die ihr zustehende Rente; andernfalls werde er im zu erwartenden Prozess als Hochverräter zum Tod verurteilt und die Familie erhalte nichts. Worauf der Major sich erschoss. Zwei, drei Wochen nach mir kam Marie-Therese, fand Unterkunft in der Wohnung der Freundin einer Freundin, einer niederländischen Geigerin, die zum Radio-SymphonieOrchester gehörte, dessen Gründung gerade vorbereitet wurde. Gekocht wurde mal hier, mal da, ich seh uns endlose Straßen an Brandruinen vorbeistolpern, auf der Suche nach Ämtern für Bescheinigungen, Wohnberechtigungsschein, Lebensmittelkarten, ich seh mich im zerschossenen Korridor des Wohnungsamtes inmitten vieler Menschen warten. Und seh mich plötzlich vor einem Jungen aus meiner Klasse, demjenigen, der Schwierigkeiten mit dem deutschen Gruß gehabt hatte und der nun, als Naziverfolgter, einer der stellvertretenden Leiter des Wohnungsamtes geworden war. Hier, sagt er und schiebt mir Papiere rüber, zwei Zimmer erster Stock mit Bad als Küche oder Küche als Bad, Klo extra, in Villa am Dornbusch, knapp außerhalb vom Sperrgebiet, hier der Schlüssel, macht schnell, Parterre hat schon ein Pianist samt Frau und Kindern. Ich seh uns zu viert in den beiden Zimmern, meine beiden Brüder im kleineren, Marie-Therese und ich im sehr großen mit -121-
Terrasse zum Garten, durch Vorhänge abgeteilte Schlafecken, Esstisch als Schreibtisch für mich, nachts, wenn die Brüder schlafen und Marie-Therese rotweinlos liest. Tagsüber hör ich den Pianisten üben, darf auch dabei sein, er freut sich über Publikum und donnert Tschaikowskijs b-mollKonzert durchs Haus, spielt gleichzeitig Solopart und Orchester auf dem Bechstein-Flügel, staunenswertes Kunststück, rennt zwischendurch klein, nackt, nur mit einem Handtuch um die Hüften, durch Wohnung und Garten, heißer Musik-Sommer, zum Missfallen von Marie-Therese, die an der Haustür keinem nackten Gnom begegnen will. Also bindet sich der Gnom eine Krawatte um den bloßen Hals, jetzt gentlemanlike, ja? Und sie kann nicht anders, sie lacht. Weitere Durcheinanderbilder der folgenden Durcheinanderjahre: Ich seh Mehlitz vor mir, dünner Mann Mitte fünfzig in schlottrigem Anzug, leidengezeichnetes Gesicht, schwach, zittrig, voller Energie, früher Geschäftsmann, Verleger wohl auch, dann KZ-Häftling. Ich sitze mit ihm und seiner Frau in einem kleinen Arbeitszimmer vor papierüberhäuften Tischen. Sie legt ihm vorsichtig kühle feuchte Tücher um den Kopf, während er leidenschaftlich redet. Im KZ hat ihm ein SSBewacher mit Gewehrkolbenschlägen den »verdammten jüdischen Schädel« eingedellt. Jetzt wird er immer wieder von plötzlichen Krämpfen überfallen. Manchmal ist er minutenlang bewusstlos. Aber er hat ein großes Projekt: eine dreisprachige europäische Jugendzeitschrift. Unermüdlich verhandelt er, erwirbt Lizenzen, sucht Geldquellen, Autoren in Frankreich, England, in allen Besatzungszonen Deutschlands. Nie wieder dürfe passieren, was passiert ist, nie wieder. Ein früherer Redakteur der neu gegründeten, bald wieder eingegangenen »Frankfurter Illustrierten« und ich sollen die Null-Nummer vorbereiten. Ich schreibe Probe-Artikel, lerne, was Umbruch ist, kriege manchmal auch ein bisschen Geld. Aber Mehlitz schaffts nicht. -122-
Die Krämpfe nehmen zu, Finanzierungsverpflichtungen werden nicht eingehalten, Verträge nicht unterschrieben. Eines Tages sind Mehlitz und seine Frau verschwunden. Er sei, erfährt der Redakteur, auf dem Weg nach Palästina gestorben. Sonst keine Nachricht, nichts. Auch von der Frau nie wieder was gehört. Manchmal stell ich mir vor, er war auf dem berühmten mit jüdischen Überlebenden überfüllten Dampfer »Exodus«, dem die britischen Mandatsbehörden für Palästina keine Landeerlaubnis geben wollten, und er sah wie Moses das Gelobte Land noch vor seinem Tod. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er mit dem Gelobten Land zurechtgekommen wäre. So, wie ich ihn kennen gelernt habe, vermute ich, er hätte niemals die Vertreibung von Arabern aus ihren Dörfern gutgeheißen, damit Platz geschaffen werde für jüdische Siedler. Offenbar konnte es für ihn keinen Ort geben zum Leben nach dem Überleben, weder hier noch dort. Ich seh mich im Kino. Die Amerikaner zeigten den Film »Die Todesmühlen«, KZ-Dokumentarbericht. Die ausgemergelten Leiber der übereinander geschichteten Ermordeten, die ausgemergelten Leiber der gerade noch Lebenden. Unvorstellbares Grauen. Anordnung der Militärregierung: Lebensmittelkarten erhält nur, wer Eintrittskarten für diesen Film vorweist. Neben mir sitzen Leute mit fest zugepressten Augen. Andere hör ich flüstern: Die Leichen sind doch alle von den Amis über den Atlantik rangeschafft worden, bloß um uns zu Verbrechern zu machen. Jahre später lese ich, diese Reaktion sei verständlich. Auch jedes andere Volk, nach verheerender Niederlage mühsam den Weg zum Weiterexistieren suchend, wäre in einem solchen Moment außerstande gewesen, die Erkenntnis ungeheurer Verbrechen zuzulassen, die in seinem Namen begangen wurden. Leuchtete mir ein. Zwei Jahrzehnte später traf es denn unsere demokratischen Lehrmeister. Nach der Niederlage in Vietnam hatten die -123-
Amerikaner große Schwierigkeiten, von ihnen während des Kriegs begangene Verbrechen zuzugeben. (Stichworte: My-Lai, chemische Entlaubung, Napalm.) Ich seh mich nachts meine erste große Erzählung schreiben: »Das dritte Ufer«, Liebesgeschichte zwischen einem russischen Mädchen und einem deutschen Soldaten. Der deutsche Soldat weiß, dass er auf Befehl von Verbrechern in einem mörderischen Raubkrieg zu töten und zu vernichten hat. Das russische Mädchen weiß, dass sein Vater von Stalins Henkern umgebracht wurde. Die deutsche Front wird hinter einen großen Fluss zurückgenommen. Der Soldat muss sich rechtfertigen wegen seiner Beziehung zu einer Russin, die im Verdacht steht, Nachrichten an Partisanen zu übermitteln. Die Russin muss sich verbergen, weil sie als Kollaborateurin der Deutschen gilt. Eines Nachts entschließt sich der Soldat, über den Fluss zu seinem Mädchen zu schwimmen und auf Seiten der Russen zu kämpfen. Zugleich entschließt sich das Mädchen, zum Soldaten zu schwimmen. In der Mitte des Flusses begegnen sie sich. Von beiden Seiten wird hinter ihnen hergeschossen. Das dritte Ufer: der Tod für beide. Auch an eine Traumsequenz erinnere ich mich, weiß nur nicht mehr, wer da geträumt hat. Und welche Funktion dieser Traum in der Geschichte hatte. Da war ein Turm, und im Keller von dem Turm wird gefoltert. Zugleich foltern in einem der oberen Stockwerke die Gefolterten die Folterer. Und so weiter mit unaufhörlichem gegenseitigen Foltern durch alle Stockwerke bis unter die Wolken. Ich war nicht sicher, ob meine Geschichte was taugte, schickte das Manuskript unter dem Pseudonym Edgar Lasanne an die Büchergilde Gutenberg nach Stuttgart, erhielt auch eine freundliche Antwort, man sei interessiert, wolle bei Gelegenheit mit Edgar Lasanne reden. Aber das vergrößerte mein Unbehagen. Ich fand, dass ich ein möglicherweise wichtiges Thema verfehlt hatte. Von Russland keine Ahnung, noch weniger von einem russischen Mädchen. -124-
Ich nahm mir vor, künftig genau zu recherchieren, bevor ich mich auf anspruchsvolle Abenteuer einließ, teilte den Gutenbergern mit, mein Vetter Edgar Lasanne sei leider jäh verstorben, und bat, seinen letzten Wunsch zu erfüllen, nämlich das Manuskript zu vernichten. Doch hatte ich, natürlich, noch einen Durchschlag. Den zeigte ich der Tante eines Schulfreundes, weiß nicht mehr, wo und wie sie kennen gelernt, nur dass ich scharf war auf die fast doppelt so alte sehr ansehnliche Frau und auch mir ein Ansehn geben wollte bei ihr. »Das dritte Ufer« war mir gerade noch gut genug als Anlass, von ihr verführt zu werden. Junger Dichter! Erfahrene Frau! So etwa. Ob sie die Geschichte gelesen hat? Wir waren nur eine Nacht zusammen. Danach hab ich weder sie noch meine Geschichte wiedergesehn. Kann damit zusammenhängen, dass ihr Ehemann, Funktionär der Frankfurter KPD, während wir nackt auf dem Sofa lagen, vorsichtig ins Zimmer kam, sich für die Störung entschuldigte, Unterlagen suchte für eine Besprechung mit Genossen in der Küche, die Unterlagen fand und sich Papiere schwenkend leise entfernte, nicht ohne mich zu einer Parteiveranstaltung der kommenden Woche einzuladen. Um mich sicherer zu machen, schrieb ich eine Reihe kleiner Geschichten, für die ich keine Recherchen brauchte, die ich einfach in mir drin hatte. Einige wurden später in Radio Frankfurt vorgelesen. Die erste las ich selber vor, in der Zimmergalerie Frank. Herr Frank, Bankangestellter und Kunstliebhaber, zeigte in seiner Wohnung in der Böhmerstraße Bilder von in der Nazizeit verfemten Malern, auch von jüngeren, die jetzt anfingen. Und lud zu literarischen Soireen ein. Ihm verdanke ich Anregungen und Ermutigung. Meine Premiere als Schriftsteller vor Publikum! Anschließend vergaß ich die erste von mir veröffentlichte Geschichte über denen, die ich danach schrieb, vergaß und verkramte auch die, es gab Wichtigeres für mich in -125-
jenen Jahren, zum Beispiel per Schwarzhandel Tauchsieder gegen Sektflaschen tauschen, Theaterstücke schreiben, in der wieder eröffneten Uni mit Studieren anfangen, fand dann immerhin die erste Geschichte zufällig Jahrzehnte später wieder und las sie zum zweiten Mal vor, nach fünfzig Jahren, im SFB: MITTEN IM KONZERT Mitten im Konzert begann ein Mann plötzlich zu lachen. Er lachte dröhnend und herzlich und unbekümmert um die empörten Blicke der Nachbarn; er konnte sich nicht beruhigen. Der Dirigent hatte gerade, nach den letzten Trillern einer Flötenkadenz, den Taktstock zum Tutti-Einsatz gehoben. Er wartete nun, wendete sich halb um, runzelte die Stirn. Der Mann lachte immer unmäßiger. Im Saal entstand Unruhe. Unerhört! und Psst! wurde gerufen. Der Mann lachte, dass seine Augen beinah hinter den Falten verschwanden, in die er das freundliche gut genährte Gesicht verzog. Er war, wie sich später herausstellte, Molkereibesitzer. Empört knallte der Dirigent den Taktstock auf die Partitur und verließ den Saal. Der Taktstock zerbrach in zwei Teile. Ein Teil fiel zu Boden mitsamt Partitur und Notenständer, der andere sprang dem dritten Cellisten ins Auge, der ganz hinten vor dem schweren Blech saß. Der Mann lachte. Man packte ihn an den Armen, schüttelte ihn. Er lachte. Überwältigt vom plötzlichen Schmerz warf der dritte Cellist sein Instrument von sich und presste die Hände vor das getroffene Auge. Der Kopf des Violoncellos schlug dem schräg hinter ihm sitzenden Musiker, der gerade nachdenklich in der Nase zu bohren begann, die Basstuba aus dem Arm, welche sogleich gegen die Saalwand krachte und unglücklicherweise genau die Stelle traf, an der sich der Kasten mit den Saalsicherungen befand. Es war ein primitiver, ein durchaus behelfsmäßiger Saal unserer Zeit, in dem das Konzert stattfand. Die schwere Basstuba verbeulte den -126-
Kasten denn auch beträchtlich, zertrümmerte einige Sicherungen und bewirkte augenblicklichen Kurzschluss. Es wurde pechfinster. Das Publikum brach in lärmendes Durcheinanderrufen aus: Licht! Betrug! Die Leute glauben sich ja sofort betrogen, wenn etwas schief zu gehen scheint. Und die Musiker knipsten mit Feuerzeugen und Streichhölzchen. Immerhin wurden von draußen die Türen geöffnet, aber es war Nacht, Neumond und Stromsperre für Straßenbeleuchtung, es gab absolut nichts zu sehen. Der Mann lachte noch, nicht mehr laut und rücksichtslos, sondern selig vor sich hin, ganz in sich versunken, versuchte nur zwischendurch, mit Tirili-tirili die Flöte zu imitieren. Es kümmerte ihn nicht, dass einige sehr magere Leute ihn stießen, traten und dauernd versuchten, ihm den Mund zuzuhalten. Nunmehr gab es auch Licht. Der Sicherungskasten begann zu glühen, an der Täfelung züngelte es hoch, zuckte lodernd durch den Saal. Feuer! heulte das Publikum auf, Hilfe! Feuer! Und die Musiker ergriffen ihre Instrumente, eilten zu den Ausgängen. Der Mann lachte weiterhin. Seine erbitterten Gegner zerrten ihn hinaus, schlugen ihm dabei auf Mund und Nase. Hinter ihnen strauchelte ein Bassgeiger. Sein umfangreiches Instrument verstopfte sofort den Ausgang, flüchtende Bratschisten, Trompeter und Konzertbesucher fielen darüber, verwickelten sich in ausgerissene Saiten, Resonanzböden splitterten, Wehrufe erschallten, Blech schepperte. Mit Feuerwehr und Polizei kam endlich auch ein Arzt. Der eigentliche Konzertarzt war auf dem umgekippten Gong ausgeglitten, hatte sich ein Bein gebrochen und die Hand am Glockenspiel verletzt. Die Feuerwehr spritzte Wasser, die Polizei sortierte und registrierte Musiker und Konzertbesucher, befreite sie von den Resten der Instrumente, mit denen sie behaftet waren, nahm auch dem einen oder anderen ein fremdes Ohr aus der verkrampften Hand oder ein Haarbüschel, und der -127-
Arzt hüpfte schwitzend umher, verband und tupfte, verband und nähte. Der Mann lachte selbst noch, als der Arzt sich mit seiner eingeschlagenen Nase und den zugeschwollenen Augen beschäftigte. Die Gegner des Mannes, nunmehr erschöpft und eher ratlos, berichteten dem Arzt das Vorgefallene, und der sprach sogleich von der Macht gewisser Intervalle, die eine Schockwirkung auf den Organismus ausüben könnten und dann notwendigerweise als Lösung des Schocks einen Tränenstrom oder eben heilloses Gelächter hervorriefen. Dies sei der Wissenschaft längst bekannt, wenn auch ein Fall von solcher Intensität in der Literatur noch nicht aufgeführt stünde. Ringsum wurde es still, als der Arzt den Mann anschließend fragte, ob er denn nicht selber sagen könne, warum er gelacht habe. Allmählich erloschen die Flammen unter dem Wasser der Feuerwehr. Verkohlte Wände warfen im Licht einiger Autoscheinwerfer strenge Schatten. Immer noch rannten Musiker jammernd und die Namen ihrer demolierten Instrumente wie die von Geliebten rufend zwischen Verstörten und Verwundeten umher, unter einem herabgestürzten Emporenteil saß ein bleicher Jüngling und hielt seine Braut, in deren rechter Wade ein Oboenmundstück steckte, tröstend umschlungen, der Hof füllte sich mit fassungslosen Angehörigen der Konzertbesucher, denn sehr schnell hatte sich die Nachricht von der Katastrophe durch die Stadt verbreitet. Vergebens versuchte ein Reporter, den Dirigenten zu interviewen. Der stand stumm neben einer umgestürzten Säule, hatte die Hand vor der gestärkten Hemdbrust in den Frack geschoben und starrte in die Nacht. Wie begann es? dachte er, und wer ist schuld? Der lachende Mann? Ich? Der Flötist? Der Komponist? Und der Nachtwind wehte durch seine schweißverklebten Haare. Der Arzt musste seine Frage wiederholen. Da hörte der Mann auf zu lachen. Er sah den Arzt an und schien endlich zu -128-
begreifen, was er angerichtet hatte. »Es war doch«, stammelte er und spuckte unter erstauntem, verängstigtem Kopfschütteln zwei Zähne aus, die der Arzt sofort ergriff und sorgfältig verwahrte, »es war doch so lustig«, und schon lachte der Mann wieder, blinzelte scheu aus mühsam geöffneten Augen auf die ihn schweigend und drohend Umstehenden, »es war doch so lustig, das Flötengetriller. Darf man im Konzert nicht lachen, wenn die Musik fröhlich ist? Darf man das wirklich nicht?« Und die Erinnerung verklärte sein verunstaltetes Gesicht, während er wieder vor sich hin kicherte.
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DIE UNIVERSITÄT WAR großzügig. Nach einem Gespräch mit dem zuständigen Dekan durfte ich mich fürs erste Semester einschreiben, obwohl mein Marienberger Abitur ja für ungültig erklärt worden war. Vielleicht half da Erinnerung an meinen Vater mit. Zwiespältige Empfindung. Einen eventuellen Vatervorteil mochte ich nicht. Aber ich gedachte ihn auszunutzen. Ich möge, sagte man mir allerdings bei Aushändigung des Studentenausweises, nun doch bitte möglichst bald ein gültiges Abitur nachreichen. Darin sah ich keine Schwierigkeit. Ich wusste, meine Mitmarienberger saßen seit zwei, drei Monaten zwischen Schülern eines neuen Abiturjahrgangs und würden in vier Wochen mit denen zusammen noch mal Abitur machen. Als Zwanzigjähriger wieder die Schulbank zu drücken passte mir nicht. Außerdem war ich, im Gegensatz zu den andern, ja schon Student, fing an, mich in den hehren Gefilden der Germanistik, der Philosophie, der Musik, der Geschichte zu bewegen. Ein paar Tage vor dem Abitur erschien ich im GagernGymnasium, das damals auch die Schüler des zerstörten LessingGymnasiums beherbergte, lächelte herablassend, beantwortete höflich einige Fragen, schrieb irgendwas, betrachtete die Prüfung als rein formale Angelegenheit, die nun mal erledigt werden musste, und erlebte zu meiner Überraschung, dass ich durchfiel. Die prüfenden Lehrer waren nicht etwa besonders unfair gewesen. Sie hatten sich nur nach dem Wissensstand erkundigt, der in den letzten Monaten vorbereitet worden war. -130-
Schumann schrieb Marie-Therese einen tröstenden Brief, sie möge »den bodenlosen Leichtsinn ihres Ältesten« und dessen Folgen nicht allzu ernst nehmen; er sei sicher, wenn ich mich jetzt »auf den Hosenboden setze« (oh Schulmeister!) werde ich das Versäumte in drei Monaten nachholen. So geschah es. Drei Monate mühsam selbstdisziplinierter Spätschüler und halbanarchischer Früherwachsener zugleich, dann hockte ich am Katheder einsam vor der Klasse des nächsten Jahrgangs, die meine Abiturarbeiten als Klassenarbeiten mitschrieb, lieferte bei nicht gerade strenger Beaufsichtigung zweimal Konzepte für den Deutschaufsatz an Notleidende der Klasse, erhielt als Gegengabe Hilfe zur Lösung mathematischer Probleme aufs Katheder gereicht und hatte am Ende mein drittes Abitur haarsträubend seriös bestanden, mit der Note »gut« wie das erste. Nun also, endlich, legaler Student. Doch was dem Illegalen zuvor als hehres Gefilde erschienen war, erwies sich jetzt als dürr und öde, unbrauchbar für meine Wissensgier. In Germanistik las ein betagter Professor über deutsche Romantik. Aber ich suchte nach Informationen über die von den Nazis verbotene Literatur, über Exil-Schriftsteller. Als ich einmal in der ersten Reihe dicht vor dem Professor saß, stellte ich außerdem fest, dass verstaubte Abschnitte über Heine und Borne, die er zwölf Jahre lang aus dem Manuskript ausgeklammert hatte, wieder von ihm eingefügt worden waren, kommentarlos, als hätte es die zwölf Jahre nicht gegeben. Ich verließ den Professor. In Musikgeschichte wurden Troubadourlieder des zwölften Jahrhunderts behandelt. Sehr schön, aber ich wollte Musik hören, die in der Nazizeit verboten war, mehr über Komponisten erfahren, die ich nur dem Namen nach kannte. Ich verließ den Dozenten. In Geschichte war Karl der Große dran, nicht das III. Reich. Ich verließ den Professor. Was in Philosophie geboten wurde, -131-
weiß ich nicht mehr, jedenfalls nicht Marx, nicht Sartre. Ich verließ auch diesen Professor. Damit war meine Studentenzeit beendet. Bornemann kam zu Hilfe. Er kannte die Redakteurin des Frauenfunks von Radio Frankfurt. Die brachte mich mit jenem Literaturredakteur zusammen, der in der Folgezeit einige meiner Geschichten vorlesen ließ. Und erreichte, dass die wichtigsten Männer der Kulturabteilung eine halbe Stunde Zeit für mich hatten: Hans Mayer, Stephan Hermlin, beide aus dem Exil zurückgekehrt, von den Amerikanern zum Funk geholt, dazu Golo Mann in amerikanischer Uniform. Die drei saßen im Halbkreis um mich herum, betrachteten mich, stellten Fragen, hörten zu. Ich war aufgeregt und befangen, wirkte wohl nicht gerade überzeugend. Dabei beeindruckte mich Mayer. Hätte er, als er Professor in Leipzig wurde, gefragt, ob ich einer seiner Studenten sein wolle, ich wäre, da bin ich sicher, nach Leipzig übergesiedelt. Zum Glück fragte er mich nicht. Ich fürchte, ich hätte jede Menge Schwierigkeiten in der DDR bekommen. Wie er ja schließlich auch. Golo Mann mochte ich. Aber er war mir fern. Noch ferner war mir Hermlin. Ich kam nicht zurecht mit seinem von mir als klassizistisch empfundenen Schreibstil (»Der Leutnant Yorck von Wartenburg«). Die Schönheit seiner Sprache berührte mich erst sehr viel später (»Abendlicht«). Aber auch da, sozusagen, aus der Ferne. Ähnlich gings mir mit seinen Gedichten. (Die von Brecht, sowie ich sie kennen lernte, trafen mich, faszinierten mich sofort.) Immerhin war es Hermlin, der mir damals zu Honoraren verhalf. Im Jugendfunk sprach ich über aktuelle Bücher und Zeitschriften, weiß nicht mehr, um welche es sich gehandelt hat. Wenig später war Hermlin schon in Ostberlin, Mayer in Leipzig und Golo Mann zurückgekehrt in die USA. Durch meine Jugendfunkkommentare bekam ich Kontakt zum Schulfunk. Mit den beiden Redakteuren, idealistischen -132-
Kommunisten (kein Widerspruch bei denen), verstand ich mich gut. Sie hatten Probleme. Ein Autor hatte sie versetzt. Produktions- und Sendetermin standen fest. Frage an mich: Kannst du uns innerhalb von drei Tagen eine spannende Halbstundensendung über die Saalburg schreiben? Die Saalburg, restauriertes römisches Kastell im Taunus, kannte ich. Als Rolf noch lebte, haben wir sie an einem Sonntagnachmittag besichtigt. Und tatsächlich gelang mir, nachts schreibend, tagsüber Maschine hackend, Marie-Therese und die Brüder strapazierend, meine erste größere Funkarbeit. Leider verlor einer der Redakteure nicht lange darauf sein Leben, als er in einer Kurve vom Trittbrett einer überfüllten Straßenbahn fiel. Der andere verlor wenig später seine Stellung in einer politischen Kurve. Gleich nach Kriegsende nämlich hatten die Amerikaner mit Vorliebe Kommunisten in Funkhäusern und Zeitungsredaktionen untergebracht, weil sie auf diese Weise sicher sein konnten, nicht aus Unkenntnis Nazis aufzusitzen. Je intensiver sich dann der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA entwickelte, um so entschiedener bekämpften die Amerikaner einst gehätschelte Kommunisten in den eigenen Reihen. So soll, zunächst glaubhaftes Gerücht, dann bestätigt von einer Sekretärin, der neu ernannte deutsche Intendant von Radio Frankfurt, des späteren Hessischen Rundfunks, dem Schulfunkredakteur bei der Kündigung gesagt haben: »Mein Lieber, Sie haben hier hervorragende Arbeit geleistet. Wenn die Verhältnisse sich ändern, werde ich ein gutes Wort für Sie einlegen.« Worauf der Redakteur geantwortet haben soll: »Verehrter Herr Intendant, wenn die Verhältnisse sich ändern, werde ich es sein, der ein gutes Wort für Sie einlegt.« Ich seh mich in einem kleinen Hörsaal der Universität. Eine Pianistin spielte Ludus tonalis von Paul Hindemith vor nicht eben zahlreichem Publikum, Zumutung für untrainierte Ohren -133-
und aufregend zugleich. Sie erklärte, erläuterte, wiederholte einzelne Partien. Und ich seh mich als Zuhörer eines der ersten Nachkriegskonzerte, keine Ahnung mehr, welches Orchester, welcher Dirigent, welcher Solist. Aber diese Musik! Das Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel! Ich war hingerissen. Seh mich auch im halb zerstörten Café Laumer oder schon im Jazzkeller, Jazz hörend, in mich saugend. Hindemith, Ravel, Jazz – drei zufällig für mich geöffnete Tore zum unermesslichen Fundus bisher versäumter Musik. Ich seh mich mit Vera, die von irgendwoher wieder aufgetaucht ist, bei den Schwestern Anagnostópoulos. Die beiden Griechinnen, schwarzhaarig, üppig, undefinierbaren Alters jenseits der vierzig, hatten in der Hochstraße, nicht weit vom Eschenheimer Turm, mitten in den Trümmern ein kleines Lokal eröffnet. Auf geheimnisvolle Weise brachten sies fertig, dass es auch in strengster Winterkälte bei ihnen immer warm war, wenn wir zu Hause bibbernd vor dem hinfälligen Kanonenofen im großen Zimmer saßen, lesend, schreibend, dünne Volksküchensuppe rührend, dass sie immer griechischen Rotwein hatten und auch immer was zu essen. Da tranken nun Vera und ich ein letztes Glas Wein. Sie arbeitete bei den Amerikanern, hatte mir auch Zigaretten mitgebracht, wollte demnächst einen Sergeant heiraten, schon alle Papiere zusammen, und ihm auf eine japanische Insel folgen. Wir umarmten uns lange, innig, kein Vater mehr mit der Uhr auf dem Balkon, ahnten, dass wir uns nie wiedersehn würden. Ich seh mich mit Marion im Zimmer von Jo. Jo, Schulfreund und Schwarzhandelvirtuose, im Gegensatz zu mir immer erfolgreich, richtete uns nach einigen Whiskeys seine Couch her zum Übernachten, schlief ruhig atmend im Bett gegenüber, ließ sich durch unser Flüstern und unsere Bewegungen nicht stören. Auch Marion würde bald heiraten, der Freund, ihr nun wieder sehr nahe und verlobt mit ihr, drängte darauf. -134-
Am Morgen brachte Jos Wirtin diskret Frühstück für drei ins Zimmer, richtigen Kaffee, richtige Milch, richtige Butter, richtigen Honig, richtiges Weißbrot. Honigkleckernd redeten wir heiter dahin, als gäbs weder Abschied noch Hochzeitsglocken. Jo ließ anschließend Stokowski die Fünfte von Tschaikowskij auf Schellack dirigieren. Beim dauernden Plattenwechsel hatte Marion dann doch eine Träne im Auge, sang plötzlich leise dazwischen: »You are my sunshine, my little sunshine«, und der Neugeborene fühlte sich jäh gealtert.
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IRGENDWANN LERNTEN SICH mein Tauchsiederpartner und mein Sektpartner zufällig kennen. Da brauchten sie keinen Zwischenhändler mehr. Zugleich verlor ich fast mein gesamtes bisher verdientes Geld an einem Fass Butter, das keine Butter enthielt, sondern Kartoffelbrei. Ich war mir sehr ausgepicht vorgekommen, als ich mit einer Stricknadel oben und unten ins hölzerne Fass stieß. Tatsächlich zog ich Butterspuren mit der Stricknadel heraus. Aber Butter gabs im Fass oben und unten nur in einem schmalen trichterförmigen Streifen. Mehr als neunzig Prozent des Fassinhalts waren Püree. Fehlschläge verhelfen, gelegentlich, zu moralischen Entscheidungen. Ich beschloss, wegen mehrfach erwiesener Unfähigkeit niemals mehr Schwarzhandel zu betreiben. Und fasste diesen Entschluss, als ich mit einem wegen Tauchsiederund Sektflaschenmangel unnütz gewordenen leeren Pappkoffer vorn in der Straßenbahnlinie 3 stand und die Bäume der Bockenheimer Landstraße an mir vorüberrumpeln sah. Fast hätte ich nicht auf die Stimme geachtet, aus der Tür zum Wageninnern an die Leute vorn gerichtet: »Kann mir jemand sagen, wo ich aussteigen muss, wenn ich zur Friedrichstraße will?« Aber dann blickte ich auf, sah eine schmale dunkelhaarige Frau vor mir, herb geschnittenes waches Gesicht, träumerischer Ausdruck, leuchtend roter Mund, und reagierte sofort, von wegen Schüchternheit, erklärte, bevor jemand anders antworten konnte, ich müsse auch zur Friedrichstraße, stieg mit ihr aus, vergaß den Pappkoffer, vergaß alle krummen und -136-
geraden Dinger meines bisherigen Lebens, wollte nur noch ihre Nähe. Sie nahm, belustigt, wie mir schien, meine Begleitung hin. Und so, mit jedem Schritt, begann für mich das Abenteuer eines komplizierten Zusammenlebens mit der Geliebten samt allem, was folgte, Heirat, Bedrückung und Trennung, Leben und Tod der Tochter, Tod schließlich auch der Frau, die jetzt leichtfüßig neben mir zur Friedrichstraße eilte, während ich, ganz altmodisch von ihr bezaubert, dauernd stolperte und sie, wie sie später sagte, mir schon zugetan war, berührt wie kaum je zuvor. Dabei hatte bisher nicht mal mein Pullover ihre Jacke gestreift. Juliane, auch sie sechs Jahre älter als ich, war aus Berlin hierher verschlagen worden mit Mutter, Nichte und Bruder Joachim, dem Vater des kleinen Mädchens, dessen Maman, Französin, von ihrem »deutschen Soldatenkind« seit Kriegsende nichts mehr wissen wollte, aus Berlin verschwand und als verschollen galt. Sie alle lebten zur Untermiete in weit voneinander entfernten Stadtteilen. Joachim hockte in regenfeuchter Bude unterm Dach einer notdürftig geflickten Hausruine unweit der Universität, wo er seine wirtschaftswissenschaftliche Doktorarbeit zu Ende schrieb, zugleich um die Adoption der Tochter Anne kämpfend, weil er nur dadurch den Nachforschungen französischer Behörden entgehen konnte, die, auch mit Unterstützung von Amerikanern und Briten, überall auf dem von ihnen kontrollierten Gebiet des ehemaligen Reichs nach unehelichen Kindern französischer Staatsangehöriger suchten, um sie nach Frankreich zu bringen. So lebte die vierjährige Anne unter dem Namen der Großmutter mit der Großmutter fast schon in Eschersheim, in einem erhalten gebliebenen Neubau, wo die Bewohner nicht so sehr aufeinander achteten. Manchmal versammelte sich die versprengte Familie bei Juliane zum Essen, weil ihr von den Vermietern großzügige Küchenbenutzung eingeräumt worden war. Ich erfuhr das alles nach und nach, auch, dass Juliane als -137-
Cutterin und Trickfilmspezialistin in der Ufa gearbeitet hatte. Und dass sie jetzt dabei war, ein Weihnachtsstück für amerikanische und deutsche Kinder im Little Theater vorzubereiten, Geld von den Amerikanern, Text, Regie, Bühnenbild von ihr. Aber zunächst sah ich sie nicht wieder. Wir hatten uns Ende Oktober kennen gelernt. Und ich sollte bald Nachricht bekommen, wann sie Zeit für uns hätte. Erst Anfang Dezember kam die Nachricht. Sie kam aus einem Sanatorium in Königstein/Taunus. Da lag Juliane schon ein paar Wochen. Weihnachtsstück dahin, Geld dahin, Herz und Kreislauf hatten die Anstrengungen nicht ausgehalten. Ihre Freunde, Sängerin mit Manager-Ehemann, der ihr den Job im Little Theater verschafft hatten, konnten nicht einspringen, waren mit eigenen Programmvorbereitungen beschäftigt. Joachims Freund Ronald, Kfz-Meister, der, was Joachim theoretisch analysierte, in Praxis umsetzte, indem er frisierte Autos quer durch die Besatzungszonen verschob, bezahlte die Sanatoriumskosten, hoffte wohl, dass Juliane ihn irgendwann heiraten werde. Aber auch als ziemlich bald feststand, dass Juliane ihren neuen Lover nicht aufgeben wollte, blieb er beiden ein zuverlässiger Freund, der immer wieder mit Geld aushalf. Zweimal die Woche kämpfte ich mich auf röchelnder Kleinbahn durch Eis und Schnee von Frankfurt über Höchst nach Königstein, saß stundenlang an Julianes Bett, ging brav Hand in Hand mit ihr durch schneeverwehte Parkwege. Und wir spiegelten uns in Poesie. Jean Arps Blumen schwarz vor Freude, wir pflückten sie, bekränzten uns mit ihnen, fütterten Brechts Kraniche, flogen Seite an Seite mit ihnen, stiegen in Rimbauds trunkenes Schiff, glitten mit ihm die unbewegten Flüsse hinunter zum tobenden Ozean, ließen in Préverts Zirkus der Lüge das rote Pferd ihres Lächelns kreisen, und ich warf die traurige Peitsche der wirklichen Welt weit von mir. Genitivbilder sind selten meine Sache, aber die von Prévert -138-
gefielen mir, schienen zu leuchten. Doch was sie beleuchteten, war eine gelegentlich ziemlich umdüsterte Frau, die das rote Pferd ihres Lächelns kaum noch zum Traben brachte. Um sie zu erheitern, komponierte ich drei Gedichte von ihr, machte Musik aus uns. Meine letzte, fällt mir ein. So eine zwischen Fallgruben der Spätromantik und Abstürzen bei unvorsichtiger Zwölftonakrobatik. Immerhin, sie machte sich nicht schlecht, als ich sie am Sanatoriumsflügel stotternd vortrug. Ich und singen! Wir hatten was zu lachen, das rote Pferd trabte neu belebt. In Wahrheit waren wir ein aussichtsloses Paar. Ich: noch nirgendwo angekommen. Sie: gescheitert, krank. Also beschlossen wir, uns Aussichten zu verschaffen. Zwar dauerte es noch einige Zeit, bis Juliane, nach Frankfurt zurückgekehrt, die Treppen zu ihrem Zimmer, dritter Stock unbeschädigter Altbau, ohne Herzrasen schaffte. Aber dann saß sie oben an der Kommode oder kauerte auf der Couch, schrieb Briefe, entwarf Grafiken. Zum Beispiel, aber das war schon später, ein Logo für das »aki«, aktuelles Kino, das damals fast in jedem Großstadtbahnhof der westlichen Besatzungszonen Nachrichten, Reportagen, Kurzfilme brachte. Zwischendurch, nach langem Sträuben und beharrlichem Zureden von Bruder, Mutter und Liebhaber, willigte sie ein, für einen Metzgermeister an die Wand seines Ladens ein Alpenglühen zu malen. Der Metzger war verrückt danach, bezahlte mit Geld und monatelanger Fleisch- und Wurstversorgung. Ich schrieb meine Geschichten fürs Radio und arbeitete an zwei Theaterstücken, meistens bei ihr, versuchte außerdem herauszufinden, was aus Jörgen, dem Herzspezialisten, geworden war. Auf Umwegen erfuhr ich, die Amerikaner hatten ihn, hochrangiger Nazi, der er für sie zunächst sein musste, erst mal festgenommen, wenige Tage später aber in allen Ehren entlassen. Jetzt sei er irgendwo in Hessen oder Bayern Leiter eines Kreiskrankenhauses. Genaueres konnte mir niemand -139-
sagen. Ich hätte Jörgen gern wiedergesehn, nicht nur wegen des Herzrasens von Juliane, auch meinetwegen. Doch wie das so geht, wenn der Sog der Gegenwart immer stärker wird, erst nach Jahrzehnten, lange nach dem Tod von Juliane, traf ich ihn – in Königstein, wo er in seiner Praxis Herzkranke aus aller Welt behandelte. Zu seinen Patienten hatte auch Leonid Breschnew gehört. So war Jörgen gelegentlich nach Moskau gerufen worden. Da verhielt er sich wie in der Nazizeit. »Du kannst«, erklärte er mir, »in einer Welt, die von Dummköpfen und Verbrechern beherrscht wird, auch diese Diktatur nicht als Einzelner von außen bekämpfen. Du musst hinein ins Gewinde, sie von innen her angehn, ihre Erpressermethoden auf sie selbst anwenden. Nur dadurch schaffst du Räume für Menschlichkeit.« Er habe, fügte er hinzu, immer eine Liste von politisch Inhaftierten bei sich gehabt, Ärzte, Lehrer, Studenten, Journalisten, deren Freilassung er anstelle eines Honorars forderte. Er wisse, was er da eventuell erreicht habe, sei wenig. Doch er sei sicher, es gebe in der Sowjetunion noch viele andere Einzelne, die dächten wie er. Und so habe er eben, indem er dazu beitrug, das Leben des Chefs zu verlängern, Opfern des Chefs zur Freiheit verholfen. Andererseits, gerade dadurch, dass er den Chef halbwegs am Leben hielt, machte ers dem Chef möglich, weiterhin Opfer einsperren zu lassen. Auch das sei ihm klar. Dialektik des Hippokrates-Eids. Wenigstens Peter traf ich damals wieder. Auch er offenbar ohne Kontakt zu Jörgen, aber verheiratet mit einem schönen reichen Mädchen, kein Arzt mehr, sondern Redakteur bei den »Frankfurter Heften«. Er verschaffte mir den Auftrag, für die Zeitschrift ein Resümee der ersten Nachkriegsspielzeit der Frankfurter Bühnen zu verfassen. Ich lieferte das, bekam auch ein Honorar samt anerkennendem Schreiben der Chefredaktion (Dirks? Kogon?), aber aus irgendwelchen internen Gründen wurde mein Text nicht veröffentlicht. -140-
Von Peter erschien in dieser Zeit ein Roman, »Salz der Erde«, ziemlich katholisch. Ich konnte nichts damit anfangen, sagte ihm das unglücklicherweise auch. Und er: Das Buch enthalte ihn ganz und gar. Wer das Buch ablehne, könne nicht sein Freund bleiben. Er fing ein neues Studium an, wurde dann an der Kölner Universität Geschichtsprofessor. Ich habe ihn nie mehr gesehn. Abende bei Juliane. Ich seh sie hingestreckt auf dicken Couchkissen, im langen schwarzen Samtrock mit roter Bluse und Lammfelljacke, die Haare als Zopf über einer Schulter bis auf die Brüste oder lose ums blasse Gesicht, das rote Pferd in der Mitte, eine Hand vielleicht auf meinem Knie, die andere zopfzwirbelnd, dazu eine ängstliche, leise, klare oder entschiedene, rauchige Stimme, nie kam ich dahinter, welche Sorte Stimme gerade dran war. Und ob es ein Kompliment war oder was sonst, als sie mich mal streichelte und dazu summte: »Ach du bist ein Findeltier, machst mir aber doch Pläsier.« Manchmal war auch Joachim dabei, mager und grau wie ich. Wir lasen uns zu dritt gegenseitig aus dem Buch eines finnischen Autors vor, was der über die »Philosophie der Ästhetik« geschrieben hatte. Keine Ahnung mehr, wie wir auf ihn gekommen sind, was seine Philosophie war. Ich weiß nur noch, dass er uns dazu brachte, über Hegel, Marx, Husserl, Sartre zu diskutieren, auch über Rousseau, Diderot, Voltaire, und uns, soweit möglich, entsprechende Textauszüge zu verschaffen oder sie in den gerade wieder mühsam geordneten Bänden einer Stadtbücherei nachzulesen. Später kamen russische Autoren dazu, Dostojewski, Turgenjew, Gontscharow, auch Ilja Ehrenburg. Und besonders die amerikanischen Autoren in den ersten rororo-Heften, Hemingway, Faulkner, Steinbeck. Außerdem hielt uns Joachim Vorträge über Röpkes »Die Lehre von der Wirtschaft«. So funktionierte die julianische Durcheinander-Universität eine Zeit lang recht gut. Wenn Joachim dann nachts zurück in -141-
sein Regenloch ging, blieb ich meistens noch. Anfangs war das ohne weiteres möglich. Hofbergers, bei denen Juliane wohnte, hatten mich als Freund von Juliane akzeptiert und fanden normal, dass sie mir morgens auf dem Weg zum Klo begegneten. Sie waren bayrischer Herkunft, älteres Ehepaar, weltoffene Kleinbürger, eine wohl nur in Bayern mögliche Mischung. Sehr zu ihrem Ärger sahn sie sich von einem bestimmten Zeitpunkt an gezwungen, darauf zu achten, dass ich nachts die Wohnung verließ. Da war nämlich, noch vor der Währungsreform oder kurz danach, in den westlichen Besatzungszonen ein altes deutsches Gesetz wieder ausgekramt worden und in Kraft getreten, das diejenigen mit Gefängnisstrafe bedrohte, welche den Beischlaf unverheirateter Personen in ihrer Wohnung dulden oder gar ermöglichen. Dieses Gesetz galt dann auch in der später konstituierten Bundesrepublik bis 1973. Es hat mich so wütend gemacht, dass ich es noch in einem Theaterstück von 1955 heftig angriff. Damals blieb nichts anderes übrig als der Bitte der Hofbergers zu folgen, den Schein zu wahren, um nicht von Mitbewohnern des Hauses denunziert zu werden. So verabschiedete ich mich abends mit lauten Abschiedsworten an der Wohnungstür, die Tür wurde vernehmlich geschlossen, ich stakste polternd eine paar Stufen die Treppe hinunter, huschte dann leise wieder hinauf zur lautlos geöffneten Wohnungstür. Dasselbe umgekehrt morgens, ich leise raus, deutliches Klingeln, dann laut rein. Denn der Gesetzgeber nahm offenbar an, dass, was er Geschlechtsverkehr nannte, nur nachts stattfand. Hatten Hofbergers Gäste, ein Verwandter, ein befreundetes Ehepaar, die über Nacht blieben, pisste ich aus Julianes Fenster in die Regenrinne, mit Blick zum grell beleuchteten amerikanischen Absperrzaun auf der andern Straßenseite. Geweckt wurden wir morgens um sechs mit Glinkas Ouvertüre zu »Ruslan und Ludmilla«, Programmbeginn von -142-
Radio Frankfurt. Glinka kam aus Hofbergers Wohnzimmer durch die teppichverhängte Doppeltür in Julianes Zimmer. Herr Hofberger trank seine erste Tasse Ersatzkaffee dazu. Anders konnte er den Tag nicht anfangen. Und wir mussten ihm wohl oder übel folgen. Falls es uns nicht gelang, noch ein, zwei Stunden Nachglinka-Schlaf zu finden. Ein Brief der »camera«-Filmproduktion, Hamburg, kündigte ein mögliches Ende von julianischer Uni und Glinkas Morgenmusik für mich an. Der Brief war von Helmut Käutner, Antwort auf ein Schreiben von Juliane an ihn. Wir hatten seinen Film »In jenen Tagen« gesehn. Ich war beeindruckt, wenn ich auch ein Auto als Erzähler nicht mochte. Auch seine früheren Filme kannte ich. Und Juliane kannte ihn aus ihrer Ufa-Zeit persönlich. In einer gefährlichen Situation hatte er ihr geholfen, hatte wohl den UfaChef Liebeneiner bewogen, nichts gegen sie zu unternehmen. Da war nämlich, als sie an einem Haifisch-Film von Hans Hass arbeitete, ein SS-Arzt im Schneideraum erschienen und hatte, bevor sie begriff, was er wollte, angefangen ihren Schädelumfang zu messen. Um festzustellen, wie er erklärte, ob ihr Gehirnvolumen dem eines arischen Menschen entspreche. Worauf sie ihm eine schwere Filmrolle ins Gesicht schlug. Was ein unvoreingenommener Beobachter durchaus als Beweis für die Kampfkraft eines arischen Gehirns hätte werten können, ihr aber zunächst Verhöre und eine Verwarnung einbrachte. Doch dann durfte sie sich wieder den Haien zuwenden. Nun also hatte sie Käutner geschrieben, sie würde ihm gern einen talentierten jungen Mann schicken, der möglicherweise als Regie-Assistent infrage komme. Und Käutner hatte ihr geantwortet, dass er sich den jungen Mann ja mal ansehn könne. Aber viel wichtiger sei ihm, dass jetzt, da er endlich seine eigene Firma habe, eine hervorragende Cutterin wie Juliane künftig für ihn und mit ihm arbeite. Trotz so viel Honig lehnte sie ab. Vielleicht, weil sie dem Funktionieren von Herz und Kreislauf -143-
noch nicht traute. Vielleicht aus andern Gründen, die ich nicht kenne. Heute denke ich, sie wollte einfach nicht zurück in ihr früheres Leben. Sie wollte ein anderes Leben. Mit mir, wie sie versicherte. Auch wenn das, falls Käutner mich akzeptierte, vorübergehende Trennung bedeuten könnte. Ach ja, ich sollte wohl erwachsen werden. Natürlich nicht zu sehr erwachsen. Aber doch ein bisschen mehr als bisher. Ich hatte den Verdacht, dass da von Juliane über mich verfügt wurde. Aber es geschah ja mit meinem Einverständnis. Also nicht zu sehr verfügt. Und eigentlich, fand ich, war ich, wenn schon nicht als Dirigent, dann doch als Filmregisseur denkbar. Fast alles was ich bisher geschrieben hatte, waren Bilder. Jetzt wollte ich lernen, meinen geschriebenen Bildern das Laufen beizubringen.
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DREIZEHNSTÜNDIGE FAHRT DURCH die Nacht im überfüllten DZug von Frankfurt nach Hamburg, eingequetscht zwischen dösend hockenden Menschen und quer gestapelten Gepäckstücken auf dem kaum beleuchteten dreckigen Gang vor stinkendem Klo und vermieftem Zehnpersonenabteil mit schlafenden, quengelnden Kindern in den Gepäcknetzen, aber niemand klagte, alle waren glücklich, dass der Zug fuhr, qualmend, rüttelnd, quietschend, weichenrasselnd weiterfuhr, man teilte, was man zu essen, zu trinken bei sich hatte, tauschte Erfahrungen aus, groteske Leidensgeschichten, Grauenhaftes, Aberwitziges, und alle waren sich einig, fühlten sich als unschuldige Opfer von unerforschlichen Schicksalsmächten. Im unzerstörten »camera«-Haus, Heimhuderstraße, ließ man mich am nächsten Morgen zunächst nicht durch. Vergeblich mein Winken mit Käutners Brief an Juliane. Ich schlief dann, bilde ich mir ein, auf einer kalten Aprilbank an der Außenalster, bin aber nicht sicher, obs da noch oder schon wieder eine Bank gab. Mittags hatte ich Glück. Ich wurde vorgelassen. Käutner nahm sich Zeit, obwohl dauernd das Telefon schepperte oder jemand reinkam, der irgendwas wissen wollte. Er fragte, hörte zu, überlegte, sagte dann zu meiner Überraschung, er wolle es mit mir versuchen. Im Sommer werde der nächste Film produziert. Regisseur sei nicht er (was mich enttäuschte), sondern sein früherer Assistent Jugert. Mit dem werde er sprechen. Ich bekäme dann Nachricht. -145-
»Aber pass auf«, sagte er noch, »wenn du Regie-Assistent wirst. Bist du schlecht, fliegst du sofort. Bist du zu gut, bleibst dus dein Leben lang.« Die nächsten Tage, Wochen, Monate wartete ich auf die Nachricht. Ich dachte schon, war alles nur hohles Gerede, da kam ein Telegramm: Drehbeginn der Außenaufnahmen für den »Film ohne Titel« nächste Woche am soundsovielten in Dannenberg, Elbe. Wie mein Abschied von Juliane war, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wie ich den Drehort erreicht habe. Kaum noch, wie er aussah. Unscharfe Bilder in gleißender Sommerhitze. Die Mitwirkenden, Regisseur, Kameramann, Tonmeister, Assistenten, Beleuchter, auch die Darsteller samt Maskenbildnerinnen, alle waren in alten Eisenbahnwaggons untergebracht, die in verrosteten Gleisen auf elbnaher Wiese zwischen Bäumen und Gesträuch standen, nicht weit von den Trümmern der gesprengten Brücke über den Fluss. Das Thema des Films, nämlich einen Film zu drehen über die Unmöglichkeit, einen Film zu drehen, fand ich erstaunlich witzlos, armselig. Die eigentliche Handlung hab ich vergessen, weiß nur noch, dass ich sie dünn konstruiert fand. Allein auf meiner Bahnfahrt von Frankfurt nach Hamburg zu Käutner hatte ich mindestens ein halbes Dutzend Geschichten gehört, aus denen Filme zu machen gewesen wären. Aber Hauptsache, ich war dabei. In den Papieren wurde ich als Regie-Volontär geführt, ich selbst fühlte mich, wenn auch vorerst ohne jede Ahnung von Filmarbeit, als zweiter Regie-Assistent, und meine wichtigste Aufgabe war, als Schlattenschammes jeden Morgen eine Tasse Kaffee zum Abteil von Hildegard Knef zu tragen. Doch bald gewann ich die Zuneigung der ersten Regie-Assistentin und des Kamera-Assistenten, die geduldig meine Fragen beantworteten, sah und hörte ja auch, wie der Regisseur mit den Schauspielern arbeitete, und hatte so, am Ende der Außenaufnahmen, schon -146-
einiges gelernt. Zum Beispiel, wie ich als Regisseur Schauspieler nie reden lassen würde, welche superbrillanten Ufa-Lichteffekte (Sonne plus Scheinwerfer!) ich als Kameramann eines Nach-Ufa – ja erklärtermaßen Anti-UfaFilms unbedingt vermeiden würde. Aber eben auch Positives: welche Kameraeinstellungen und welche Objektive für welche Situationen am besten geeignet wären. Die Innenaufnahmen sollten in den Studios von Geiselgasteig in München stattfinden. Zwischendurch hatte ich ein paar Tage frei. Nichts wollte ich jetzt lieber, als Julianes Arme fühlen, mit ihr reden, das rote Pferd traben sehn. Aber Juliane war in BadenBaden bei einer sterbenden Tante. So machte ich einen Umweg über Hagen. Dort lebten Breuers, Dr. Fritz, Chirurg, und Maria, älteste Freundin von Marie-Therese aus Kölner BibliothekarinnenVorzeit, weltoffene, gastfreundliche Leute, die ich schon zwei, drei Mal von Marienberg aus besucht hatte, Kunstliebhaber und -kenner, leidenschaftlich und mühelos sich bewegend zwischen Philosophien, Skulpturen, diesseitiger Metaphysik, mit (wenn irgend möglich) gutem Essen, guten Getränken, Gesprächen voller Geist und Scharfsinn, Abgründe nicht scheuend. Nichts wurde ausgeklammert, nichts beschönigt, die ganze Nazi-Zeit hindurch, Breuer war Parteigenosse, »damit die Banausen mich in Ruhe lassen«, und ich seh uns noch, wie wir 1944 nachts vor einem alten Grammophon hockten und auf wabernder leiser Schallplatte Ernst Busch zuhörten, sentimentale Bürger, sicher, aber auch wissend, dass die Bürger ihre Kultur, oder was davon nach dem Ersten Weltkrieg noch übrig war, 1933 an die Nazis verraten hatten, dennoch voller unbestimmter Hoffnung mitsummend: »Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist.« Und mich beeindruckte das Kunststück des Komponisten, diesem Text eine derart zündende Melodie zu verpassen. So ist mein Gehirn trainiert worden in Breuers Haus, an -147-
dessen Wänden später Bilder von Baumeister hingen und vom Hagener Nachbarn Emil Schumacher, wo kleine Plastiken von Henry Moore auf Kommoden und Tischen standen, wo die Regale gefüllt waren mit seltenen Büchern, verschollenen Erstausgaben, Weltliteratur quer durch Jahrhunderte und Kontinente. Breuer sah aus wie ein Franzose, immer mit Baskenmütze, auch wenn er keine aufhatte, lehnte um Mitternacht in der Küche am Eisschrank, Cognac in Mengen trinkend, redete über Picasso und Seurat und schnitt morgens um acht einem Unfallopfer ein Stück Gartenzaun aus der Brust. Der Sohn, ein paar Jahre jünger als ich, beneidet von mir um solche Eltern (die aber gewiss nicht immer leicht zu ertragen waren), erklärte, er wolle Physik und Kunstgeschichte parallel studieren, und schon diesen Vorsatz fand ich imponierend. Nichts schien mir geeigneter, die Welt zu fassen. Als ich eintraf, war bereits ein anderer Gast da, Joseph Caspar Witsch, seit langem Freund der Breuers, mit einem Rucksack voller Dokumente aus der sowjetisch besetzten Zone geflohen, nachts durch Wald und Fluss, und jetzt dabei, den Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln zu gründen, mit Papierlieferanten, Agenten, Rechtsanwälten und Kreditgebern verhandelnd. Abends kam Pater Düllmann dazu, Jesuit und Physiker, und später auch ein Major von der britischen Stadtkommandantur, der seine schöne Dolmetscherin zu Breuers begleitete, weil sie da ihr Zimmer hatte. Zu vorgerückter Stunde, nach viel Wein und noch mehr Whiskey, zitierte der Major Churchill: Der britische Premierminister Attlee sei ein Schaf im Schafspelz, und Witsch stellte sich auf die Treppe im Vorplatz, hielt eine beschwörende Funktionärsrede: Wenn jeder Genosse Schriftsteller jeden Tag auch nur siebzehn Komma fünf Zeilen mehr schriebe und damit sein Plansoll übererfülle, werde der Klassenfeind keine Lücke mehr finden, sich in fortschrittlich bedrucktes Papier zu schleichen. Worauf Pater Düllmann sich -148-
ebenfalls zur Treppe begab und von oben herab als Abrahama Santa Clara donnerte: »Oh meine Brüder und Schwestern im Herrn, stellt euch vor ein riesiges unermesslich hohes Gebirge aus lauter Zucker, und stellt euch vor einen riesigen unermesslich tiefen Ozean aus purem Zuckerwasser! Und wenn ihr euch nun noch vorstellt, dass jenes riesige unermesslich hohe Zuckergebirge in den riesigen unermesslich tiefen Zuckerwasserozean stürzt, so ist dennoch diese unermessliche Menge von Süßigkeit nichts als eitel bitter Galle gegen die Süße des Herzens Jesu!« Danach zwei Tage weiche Arme, rotes Pferd. Dann München. Ich hatte einen Band Baudelaire-Gedichte mitgenommen und eine Studienpartitur der 8. Symphonie von Bruckner. Die lagen nun in der kleinen Garderobe, die mir als Schlaf- und Wohnraum zugewiesen war, auf dem Tisch. Mit Befremden bemerkten es die Kollegen Aufnahmeleiter. Ich wollte demonstrieren, dass ich keinesfalls beabsichtigte, mein Leben lang Regie-Assistent zu bleiben. Auch sollten mir Bruckner und Baudelaire gegen die Befangenheit in der neuen Umgebung helfen. Als ich die Befangenheit abgeschüttelt hatte und mich halbwegs zurechtfand zwischen Ateliers, Garderoben, Schneideräumen, war ich länger im Schneideraum bei der Cutterin als im Atelier. Doch eines Morgens, zu Beginn der Dreharbeiten, sah ich, einer der Schauspieler, Hans Söhnker wars wohl, hatte den falschen Pullover an. Der Anschluss an die gestern gedrehte Szene wäre verpatzt gewesen. Weder Regisseur noch Kameramann noch Script-Girl noch Kostümbildnerin noch Regie-Assistentin hatten das bemerkt. Nur ich! Die RegieAssistentin war so fair, laut darauf hinzuweisen, dass ich der Produktion dreißigtausend Mark an zusätzlichen Kosten erspart hätte. Damit war meine Stellung gefestigt. Vom geduldeten -149-
spinnerten Außenseiter war ich zum anerkannten Mitarbeiter geworden. Käutner, der in einem großen Wohnwagen auf dem Filmgelände hauste und seinen nächsten Film vorbereitete, versprach daraufhin, mein Theaterstück zu lesen, das ich mitgebracht hatte, um zwischendurch daran zu arbeiten. Nachts las ich das dann selbst nochmal, mit seinen Augen, also mit den Augen eines Regisseurs, der auf der Bühne zeigen soll, wie sich Faust und Don Juan im brasilianischen Urwald treffen. Kleiner hatte ichs damals nicht. Und war angeekelt, fand das Stück misslungen, hoffte nur, dass Käutner es nicht lesen würde. Er seinerseits ließ mich, sozusagen als Gegengabe, sein Drehbuch zu »Der Apfel ist ab« lesen. Diese Adam-und-EvaVariante gefiel mir überhaupt nicht, war gekrampftes Kabarett für mich. Im Folgenden schwiegen wir uns höflich über unsere Produkte aus. Ich hätte schon gern gehabt, dass er sagt: Schmeiß dein Stück weg, schreib ein neues für mich, für die Hamburger Kammerspiele. Er sagte es nicht. Wir kamen uns nicht näher, ich blieb außen vor. Aber er beeindruckte mich weiterhin. Irgendwann zeigte er für die Leute von Geiselgasteig seinen letzten Ufa-Film »Unter den Brücken«, meiner Überzeugung nach der beste Film, den er je gemacht hat, nicht nur filmisches Meisterwerk, sondern auch Dokument der Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit, dessen Kopien nach Schweden geschmuggelt worden waren, damit sie weder Goebbels noch alliierten Bomben zum Opfer fielen. Vom Regisseur dieses Films hätte ich gern mehr gelernt. Einmal, doch, wars so weit. Jugert lag grippekrank im Bett und Käutner vertrat ihn für zwei Drehtage. In diesen beiden Tagen hab ich mehr über Filmregie erfahren als jemals zuvor oder danach. Und auch Jahrzehnte später, als ich eins meiner Hörspiele inszenierte, ein politisch wie technisch anspruchsvolles Stück, und er zu meiner Freude zugestimmt hatte, die schwierige Hauptrolle zu übernehmen, da lernte ich, nun sein Regisseur, noch von ihm, der nun mein Sprecher war. -150-
Damals, im Nachkriegsmünchen und doch nicht in München, weil weit außerhalb, sah ich wenig von der kaputten Stadt, verließ kaum Geiselgasteig, traf mich nur gelegentlich mit andern jungen Leuten in deren Zimmern in Trümmerstraßen, Schauspielschülerinnen und Schauspielschüler, kennen gelernt als Komparsen, die wie ich begierig waren zu lernen und wie ich schon genau wussten, was sie alles anders machen wollten. Eine sehr junge Frau mit kastanienfarbenen Haaren mochte ich gern, auch ihren genialischen, leider fortwährend Stefan George zitierenden Freund, doch wichtiger war mir die erfahrene Cutterin, der ich zum Dank für alles, was ich im Schneideraum von ihr lernte, nach Drehschluss auf dem Flügel im Musikstudio Phantasien im romantischen Stil vorspielte, weil sie solche Musik liebte. Mehr war nicht, weder hier noch dort, außer leichtem Flirten, und ich suchte auch nicht für mich einzunehmen, oder nur ganz wenig, spielerisch nebenher, nicht richtig bei der Sache. Was mich selber überraschte. Stattdessen, zwischen Trümmerstraße und Flügelakkorden, schrieb ich lange Briefe an Juliane, fühlte mich frei und unfrei zugleich, erleuchtet und von Düsternis bedroht, mochte mein augenblickliches Leben mal wieder weniger und wusste doch kein anderes. Insofern ein ganz normaler Zustand für einen, der auszog, das Fürchten zu verlernen.
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DAS ANDERE LEBEN kam bald, zumindest äußerlich. Nach Abschluss der Arbeiten am »Film ohne Titel« hieß es, selbstverständlich solle ich auch bei der nächsten Produktion dabei sein. Aber schon »Der Apfel ist ab« wurde ohne meine kritische Teilnahme gedreht. Und am Tag nach der Währungsreform erfuhr ich dann, dass ich aus finanziellen Gründen leider nicht wieder beschäftigt werden könne. Wovon Juliane und ich in dieser Zeit lebten, weiß ich nicht mehr. Einnahmen waren weniger als spärlich. Nur, dass ich vorübergehend jenen Mann beneidete, Finanzjongleur ohnegleichen, der am Wochenende der Währungsreform in der Vorhalle des Frankfurter Hauptbahnhofs stand und zum halben DM-Preis Fahrkarten verkaufte, die er zuvor für Tausende von Schwarzhandels-Reichsmark erworben hatte. Und alles ganz legal, kein Gesetz verbietet einem Bürger, Fahrkarten zum halben Preis weiterzuverkaufen. Da viele Leute irgendwohin wollten, war er am Ende vermutlich der bargeldreichste Mann der Stadt. Während wir uns einstweilen mit dem kargen Umtausch-Kopfgeld begnügen mussten, sechzig D-Mark. Und ja auch keine Tausende von Reichsmark angehäuft hatten. Wir häuften, so unser magerer Trost, eben anderes an. Ich seh uns Stummfilme anschaun bei Sauerländer. Der hatte eine reichhaltige Sammlung davon durch den Krieg gerettet, lud einmal die Woche Freunde ein, ließ bei schnarrendem Uraltprojektor zu »Das Kabinett des Dr. Caligari« auf schnell runtergerollter Leinwand per Schallplatte Bachs Toccata und -152-
Fuge d-Moll hören, unterlegte Murnau mit Bartók, Griffith mit Mussorgski. Falscher, im konventionellen Sinn, konnte keine Musikauswahl sein. Sie war daher absolut überzeugend. Ich seh mich als Redakteur einer »Zeitschrift für Bürgerrechte« und nach sechs Wochen gefeuert, weil ich statt Fotos von langweiligen Juristenköpfen von einem Freund extra angefertigte Zeichnungen eben dieser Köpfe publizierte, damit sie weniger leblos wirkten. Ich seh uns in amerikanischen Clubs oder im Café Laumer oder im Jazzkeller Carlo Boländers Jazztrompete zuhören, seh uns in Konzerten und Ausstellungen, Picasso in Mainz zum Beispiel, seh uns Tage und Nächte mit Freunden trinken, diskutieren, seh mich schreiben, fürs Radio, und Juliane zeichnen, Skizzen für Bilder eines Films, den ein dickwanstiger Großschieber, der mit ihr ins Bett wollte, zu finanzieren versprochen hatte. Den wir beide dann zu realisieren hätten. Basis: Tagebuch einer Ferienreise der sechzehnjährigen Juliane durch Dänemark, ihre Freundschaft mit einem jungen dänischen Juden im Jahr 1936, bedrohte Idylle. Und ich seh uns schließlich in einer richtigen Wohnung. Joachim nämlich, kaum ökonomischer Doktor geworden, hatte einen Wohnberechtigungsschein erworben für sich samt Mutter, Tochter und Schwester. Aber nicht lange lebte die Familie in der kleinen Vierzimmerwohnung über einer Schlosserei in der Humboldtstraße, mit mir als häufigstem Gast. Joachim folgte einem Angebot der Amerikaner in Westberlin, Arbeitsbeschaffungsprogramme zu entwerfen, zog mit Mutter und Tochter nach Berlin-Nikolassee. So hatten Juliane und ich zwei Zimmer für uns, in den beiden andern brachten wir wechselnde und wechselnd zahlende Untermieter unter. Einer der Untermieter wurde dann literarischer Redakteur am Badener Südwestfunk. Durch ihn bekam ich meinen ersten Auftrag für eine halbstündige -153-
literarische Sendung, Vorschlag von mir, über den Roman von Joyce Cary, »The horse's mouth«, »Des Pudels Kern« in der Übersetzung von Hans Erich Nossack, später verfilmt mit Alec Guinness in der Hauptrolle des exzentrischen Malers. Weder Buch noch Film kamen hier richtig an. Der Film zu schwach, der wunderbare tragikomische Roman wohl für viele Leser damals zu abseits, zu verrückt. Wie fast schon zu erwarten, wurde aus unserm eigenen Film nichts. Der Dickwanst war mehr an Juliane interessiert als an ihren und meinen Ideen. An meinen schon gar nicht. Aber das rote Pferd trabte nicht für ihn. So hielten wir uns aneinander fest zwischen schwachen Aussichten und immer wieder scheiternden Hoffnungen, zwischen Metallgeräuschen aus der Schlosserei und Bartóks Streichquartetten aus dem Radio, zwischen Jitterbug und ersten Streiknachrichten, Berlin-Blockade und Jam Session. Immerhin gabs wieder Gelegenheit für meine Geschichten. Ein neu gegründeter literarischer Verein veranstaltete öffentliche Lesungen, gewann auch für die Abende im Keller der Ruine des Karmeliter-Klosters als Vorleser einen bekannten Rundfunksprecher, Kurt Glass. Kurt und seine Frau Genia wurden unsere Freunde. Was die beiden während der Nazi-Zeit zu überstehn hatten, ließ mir meine Geschichten unwesentlich erscheinen. Vielleicht gingen sie mir auch deshalb verloren. Kurt gefielen sie. Für ihn enthielten sie Phantasie, Witz, Ausdruck von Widerstand in einer Welt voller alter und neuer Schrecknisse. Mir kamen sie jetzt wie das Gegenteil vor: Flucht aus der Welt der Schrecknisse. Für Kurt und Genia hatte diese Welt 1934 begonnen. Kennen gelernt haben sie sich in Königsberg, beide dort engagiert am Theater, Genia schon mit Vertrag für Hilperts Deutsches Theater in Berlin, aber sie wusste, sie würde dort nie auftreten dürfen. Weil sie Jüdin war, noch dazu Jüdin aus Polen. Kurt erklärte, er -154-
lasse sich von Hitler nicht vorschreiben, wen er als »arischer Deutscher« zu lieben habe und wen nicht, war dann unbeirrbar in seiner Konsequenz, verließ mit Genia Deutschland, heimlich, über die Grenze nach Frankreich, schon das ein Unternehmen auf Leben und Tod, und auch was folgte, war eine Liebesgeschichte fast immer am Tod vorbei, mit wenig Idylle. Zum Beispiel Kurt als Gärtner in einem Altenheim bei Marseille, zwei Kinder, aber dann Kampieren in Scheunen und Höhlen nach Kriegsausbruch und Besetzung Frankreichs, mit ständiger Angst vor Deutschen, Angst vor französischer Miliz, weil ihre Namen ohne Zweifel auf den Fahndungslisten standen, der Platz für Genia in einer Gaskammer längst reserviert, für Kurt, den Fahnenflüchtigen, das Erschießungskommando bereits angetreten. Nach der Besetzung auch Südfrankreichs Flucht mit gefälschten Ausweisen, die sie zu einer französischen Familie machten, über die Berge Richtung Pyrenäen, Spanien, von einem protestantischen Dorfpfarrer zum nächsten, denn den Katholiken war nicht zu trauen, so ihre Erfahrung, und in ständiger Furcht, dass die Kinder aus Versehen deutsch redeten, was sie unter keinen Umständen tun durften. Erst als Eltern und Kinder am Tag der deutschen Kapitulation ihr Versteck verließen, wagten sies, wieder deutsche Wörter zu gebrauchen. Worauf sie von den Dorfbewohnern, die geholfen hatten sie zu verbergen, als »Boches!« angeschrien und mit Steinen beworfen wurden. Oft saßen wir zusammen. Genia hätte wohl wieder eine Chance als Schauspielerin gehabt. Aber sie mochte nicht. Ich denke, elf Jahre Verstellung, um mit Mann und Kindern am Leben zu bleiben, genügten ihr. Auch Kurt sah sich nicht mehr auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, blieb gern Rundfunksprecher. Die Welt, das waren eben nicht solche für ihn allzu morsch gewordenen Bretter, sondern Bäume, Tiere, Wiesen, Flüsse. Und wirkliche, nicht dargestellte Menschen. -155-
Also entwarfen wir eines Abends einen rotweingetränkten Dringlichkeitsantrag für die Vereinten Nationen. Die UNO möge beschließen: Kriege dürfen künftig nur auf dem Mond geführt werden. Politiker, Feldherrn und die dazugehörenden Haufen von ewig unerschrockenen Soldaten, die trotz aller vergangenen Erfahrungen noch oder wieder kriegerisch handeln zu müssen glauben, werden in zu entwickelnden Raumschiffen samt Kanonen, Kampfflugzeugen, Panzern und Atombomben zum Mond geschossen. Mit diesem Antrag waren wir unserer Zeit weit voraus. Leider haben wir ihn nicht abgeschickt. Wäre er damals akzeptiert worden, hätten wir heute Bush und Saddam Hussein auf dem Mond, und die Bewohner der Erde lebten mit einer Sorge weniger. Jetzt, während ich das hier schreibe, im zunehmenden religiösen und wirtschaftlichen Wahnsinn des Jahrs 2002, bei seuchenhaft ausgedehnter Demenz in Politikerhirnen, fällt mir ein Satz ein, den Joyce Cary seinen Maler zitieren lässt. Der Satz sei, so der Maler, von William Blake. Aber vielleicht hat Cary ihn ja auch erfunden, er passt zu gut in den Roman. Ob nun erfunden oder nicht (unmöglich, das Riesenwerk des mir ohnehin fernen Dichters danach zu durchstöbern) –, der Satz gefiel mir: »Geh hin und liebe, helfen wird dir keine Hand.« Das kommt, zugegeben, pathetisch daher, macht auf edle Einsamkeit. Dabei hat William, soviel ich weiß, 45 Jahre lang als Gehilfin und Geliebte seine Ehefrau gehabt. Aber beschreibt der Satz nicht doch genau, was Kurt gewagt hat? Ich will ihn nicht glorifizieren. Mag er in der Königsberger Zeit gewesen sein wie andere auch, beruflich erfolgreich, guter Liebhaber, jemand der gern lebt – durch seinen Entschluss, Genia nicht aufzugeben, wurde er groß. Und dadurch, dass Genia ihm vertraute. Zwar gabs für beide denn doch bisweilen die eine oder andere hilfreiche Hand. Aber im Grunde waren sie allem, allein mit den unter erbärmlichen Umständen und gegen alle erbärmlichen -156-
Umstände geborenen Kindern. Hätten nur hunderttausend, ach was: zehntausend Deutsche sich verhalten wie Genia und Kurt, Hitler hätte keine Macht mehr über die Deutschen gehabt, hätte wieder Postkarten bemalen müssen. Kurt starb, als hätte er sich den für ihn passenden Tod bestellt, Anfang der achtziger Jahre während eines Urlaubs in Frankreich. Wie immer hatte er seinen Abendspaziergang vors Dorf gemacht, war aber bei Einbruch der Dunkelheit nicht zurückgekehrt, wurde vergeblich von Genia in der Umgebung gesucht. In der Nacht tobten Gewitter und Wolkenbrüche. Als man ihn morgens fand, lag er entspannt, wie schlafend, im Gras auf einer Böschung, zu seinen Füßen ein neu entstandener Bach, das regennasse heitere Gesicht im Schatten von Sträuchern. Er hatte sich wohl nur kurz ausruhn wollen. So hat mirs Genia erzählt, so seh ich ihn vor mir, letztes Bild des Freundes.
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1949, GENAUES DATUM vergessen, sollte die erste Nummer der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erscheinen. Ich las oder hörte davon, ging hin, irrte durch Redaktionen in Chaos und Improvisation, erreichte schließlich einen Feuilleton-Redakteur und fragte, ob man nicht einen Musikkritiker brauche. Eigentlich war meine Zeitung die »Frankfurter Rundschau«. Aber ich wusste, die hatten da keine Arbeit für mich. Zu meiner Überraschung war man bei der FAZ interessiert, nahm mich nach flüchtiger Prüfung als dritten Musikkritiker. Der erste war ein gebildeter älterer Herr, die zweite Stelle gehörte einer jungen Frau, beide mit Doktortitel, und ich, doktorlos, klein bei zu, wie die Hamburger sagen, wurde nach Zeilen bezahlt. War mir recht. So trug ich monatlich wenigstens zwischen achtzig Mark zehn und siebenundneunzig Mark dreißig nach Hause. Gelegentlich wars etwas mehr, wenn nämlich eine meiner harmlosen Geschichten abgedruckt wurde. Oder auch ein längerer Aufsatz mit dem Titel: »Jazz ist Musik«. Als Überschrift, heute gelesen, so einfältig wie »Schimmel sind weiß«. Aber damals wirkte das samt Artikel geradezu revolutionär. 48 neue Abonnenten bestellten die Zeitung gleich wieder ab. So was mochten sie nicht lesen. Sorgenvoll nahm es der Feuilleton-Chef zur Kenntnis. Und mit ihm ich, der ich gehofft hatte, mein Ansehn (und meine Einnahmen) durch solche Artikel zu steigern. In dieser Zeit, da die meisten Deutschen wieder genug zu essen hatten, lebten Juliane und ich vor allem von Haferflocken -158-
und Milch, mit einer garantierten warmen Mahlzeit pro Woche, als Gäste von Genia und Kurt. Manchmal gabs auch eine zweite warme Mahlzeit bei Marie-Therese. Die hatte inzwischen eine eigene kleine Wohnung für sich und meine Brüder, zwar in einer strapazierten Reihenhaussiedlung über einer Trambahnhaltestelle, aber egal, die Möbelreste waren aus Hünfeld zurückgeholt worden, alles verlief wieder halbwegs geordnet. Nur ich verlief nicht geordnet. Marie-Therese machte sich Gedanken, was aus mir und Juliane wohl werden würde. Auch wir machten uns Gedanken. Sie zu vertreiben gelang nur selten. Dabei, fand ich, hatte ich durchaus brauchbare Ideen. Bloß brachten sie im Moment kein Geld. Zum Beispiel ein OpernLibretto, das ich für Heinz schrieb, meinen Kritikerkollegen von der FR. Der war damals Komponist im Aufbruch, ein ruhiger, über seinen Abgründen lächelnder Mann, der Musik machte, die mich fesselte, die er später dann aber nicht weiterentwickelte, sondern Musikredakteur im Hessischen Rundfunk wurde, wo er sich für die Musik von anderen einsetzte. Als wir uns kennen lernten, diskutierten wir in Konzertpausen nicht nur, was wir gerade gehört hatten, sondern Musikprobleme überhaupt und welche Verbindungen von Wörtern und Tönen noch oder wieder möglich sein könnten. Leicht wollten wir daherkommen, mit Swing. Alter Magier Wagner, sagten wir uns, zwar hast du mit Tristan und Isolde die moderne Musik entbunden, aber jetzt fahr zur Hölle, zu deinen vom Krieg krumm gebleichten Germanengebeinen zwischen Wartburg und Walhalla, wir kommen ohne dich aus. Wenn nur Sankt Amadeus uns beisteht! Doch Mozart schwebt unerreichbar über uns, strahlend zwischen falschen Engeln. Edler von Schönberg, bitte um eine kleine Zwölftongabe. Hat er nicht für uns. Aber du, Jacques Offenbach, du hast was für uns! Nein, dem sind wir, was Operette anlangt, nicht fin-de-siècle-seriös genug. Wir glaubten, dem Ende, einstweilen, entronnen zu sein, Offenbach -159-
wusste, es kommt erst noch. Dabei liefen alle unsere Überlegungen auf eine Art Musical hinaus. Bloß war uns damals der Begriff noch nicht geläufig. Wir nannten, was uns vorschwebte, ganz altmodisch opera buffa, komische Oper. Und so schrieb ich denn in relativ kurzer Zeit: »Der Mann, der x-beliebig war.« Da gebietet ein mächtiger Manager, Alexander Schwamm, über ein riesiges Wirtschaftsimperium, erobert und saugt auf, was ihm vor Augen kommt. Aber, sagt ihm jemand (Freund oder Frau, weiß ich nicht mehr), das Reich der Kunst bleibe seinen Methoden verschlossen. Er setzt dagegen, wettet, dass er mit seinem Propaganda-Apparat jeden x-beliebigen Menschen zum Star machen könne, zum gefeierten Dichter, Maler, Musiker, Sänger, ganz nach Wunsch. Er tritt ans Fenster, winkt einen jungen Mann, der gerade zufällig über die Straße geht, zu sich herauf. Aber in Wirklichkeit geht der junge Mann in diesem Moment eben nicht zufällig über die Straße, sondern auf Verabredung mit Schwamms Tochter Luzie. Keine Ahnung mehr, wie ich das dramaturgisch hingekriegt und glaubhaft gemacht habe. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Schwamm astrologiegläubig, macht wichtige geschäftliche Entscheidungen vom Stand der Gestirne abhängig. So auch den Beginn der Wette. Das gibt Luzie genügend Zeit. Vielleicht hilft sie beim Stand der Sterne auch nach. Denn sie liebt heimlich diesen Jungen, vergessen wie er hieß, der Jazz-Trompeter ist und seit Monaten mit andern Jungs in einem feuchten Kellerloch übt, gänzlich unbekannt doch selbstverständlich hochbegabt. Den schiebt Luzie also ihrem Vater, der Jazz verabscheut, in die Wette, lässt auch zwei (falsche) Musikpädagogen kommen und einen (ebenso falschen) Hals-Nasen-Ohrenarzt, nah dran an Rossini alle drei, keine Frage, und die drei stellen fest, dass der junge Mann sehr geeignet ist, Trompete zu blasen. Schwamm ist es recht. Der junge Mann muss nur lernen, das Instrument richtig zu halten und wenigstens einen schönen Ton hervorzubringen. Alles andere wird Schwamm mit Playback regeln. -160-
Folgt jede Menge von Verwirrungen und Komplikationen. Auch wächst die Gefahr, dass Luzies Plan auffliegt, weil ihr Liebhaber, obwohl anfangs mit Vergnügen dabei, plötzlich angeekelt wieder aussteigen will. Am Ende hat Schwamm ein Theater gemietet (nämlich das, in dem die Aufführung gerade stattfindet), ein Orchester und einen Dirigenten bezahlt, dazu samt Choreograph eine Ballettgruppe, die zu einem der klassischen Konzerte für Trompete und Orchester tanzen soll. Wir sehen, was geschieht, sozusagen von hinten, blicken auf die Rückseiten der Versatzstücke, während das imaginäre Publikum der Aufführung jenseits der Bühne zu denken ist. Orchester, Ballett und getarnte Playback-Apparatur funktionieren, der junge Mann hält sein Instrument richtig, Luzie, verborgen hinter den Versatzstücken des Bühnenbilds, streichelt ihn zwischendurch, küsst ihn. Aber dann bläst er plötzlich realen Jazz gegen das klassische Stück, trompetet gegen den PlaybackTrompeter, bezieht die Orchestermusik in den Jazz ein, zugleich kommen seine Freunde auf die Bühne mit ihren Instrumenten, Guitarre, Bass, auch Schlagzeug wird hereingeschoben. Chaos, dann gemeinsames Musizieren von Orchester und Jazzband, Dirigent, singend, und Musiker, auch als Chor, steigen enthusiastisch ein, Ballett improvisiert, Publikum rast, Schwamm, der vergeblich versucht hat, das Spektakel zu unterbrechen, Vorhang runter, Buh von Publikum, Vorhang hoch, Schwamm gibt sich geschlagen, Luzie und ihr Liebster triumphieren. So ungefähr. Mir kommen jetzt Zweifel, ob das alles schon fertig war, ob vieles nicht Entwurf geblieben ist. Denn bald schon hatte Heinz Schwierigkeiten mit dem Komponieren. Das einzige fertig komponierte Stück war die große dissonante cmoll-Doppelfuge des Schlusschors der Kritiker. Die einen: »Sehr bedeutend! Wirklich sehr bedeutend!« Die andern, zugleich: »Unbedeutend! Gänzlich unbedeutend!« Hätten wirs geschafft, das Stück wär noch aktuell. Vielleicht -161-
heute mehr als damals. Statt Jazztrompeter müsste der Junge eben Rock- oder Popsänger sein. Damals wär ich gern ein Lorenzo Da Ponte für einen Mozart geworden. Aber auch mit meinem nächsten Libretto, später, Mitte der sechziger Jahre, diesmal für eine Science-FictionOper, hatte ich kein Glück. Der Komponist, zunächst sehr angetan von der Idee, erwies sich als zu akademisch. »Die Reise ans Ende der Welt und fast zurück« fand ohne ihn statt, bis auf ein paar Takte zu Beginn der »Komödie für Sänger«. Per Zufall fand ich sie kürzlich unter einem Haufen von altem Papierkram, den ich endlich wegschmeißen wollte. Jahrzehntelang hatte ich sie vergessen. Nun, beim Wiederlesen, kommt sie mir neu und fremd vor, als sei sie von einem andern. Und mir scheint, dieser andere hat was Interessantes zustande gebracht. Schade, dass er sich weder damals noch später um einen neuen Komponisten bemühen mochte. Da erfindet 1525, in einer von aufständischen Bauern belagerten württembergischen Stadt, ein berühmter Gelehrter, Veit Angersperg, Freund von Leonardo da Vinci, die Zeitmaschine. Auf der entflieht Clemens, sein Assistent, mit Mathilde, der Grafentochter. Wir brauchen, sagt Clemens, eine Zeit, wo keine Willkür ist, kein Vorurteil, wo wir frei sind, unabhängig, unbeobachtet und unbefohlen. Für Mathilde kann diese Zeit, das sagenhafte goldene Zeitalter, von dem weise alte Männer berichten, nur in der Vergangenheit zu suchen sein, für Clemens nur in der Zukunft. Da müsse es eine lichte heile Zeit geben, eine Zeit für Liebe und Glück, oder die Menschen haben umsonst gelebt. So geraten sie mit der ungeschickt gesteuerten Maschine in die Römerzeit und in eine Bombennacht des zweiten Weltkriegs, in eine fernste Zukunft, in der es kein Leben mehr auf dem Planeten Erde gibt und Jupiter zur zweiten Sonne geworden ist, durchqueren die Hölle der zweiten Dimension als Schattenrisse, -162-
kehren resigniert zurück in die eigene Zeit, wollen auf der Seite der Bauern kämpfen und sterben, da es nirgendwo sonst einen Platz für die Liebe zu geben scheint, treffen den Direktor des Museums für Zeitmaschinen (darunter natürlich auch die von H. G. Wells) aus dem Jahr 3000 als Anführer der aufständischen Bauern wieder, hören dann, dass Angersperg die von ihm vorausgesehene Flucht des heimlichen Liebespaars längst zum Test der Maschine in seine Forschung einbezogen hat, werden gezwungen, ihre eigene Zeit wieder zu verlassen, und durch einen Unfall um Jahrhunderte getrennt, müssen vorübergehend Veränderungen an Gestalt und Geschlecht erdulden, doch geben sie nun nicht mehr auf, trotz aller Widrigkeiten die Zeit für ihre Liebe zu suchen, und stranden schließlich im Foyer des Theaters, in dem die Aufführung stattfindet. Dort glaubt man ihnen ihre Geschichte nicht, Theaterärztin und eilig herbeigerufene Experten vermuten, dass sie entweder gefährlich krank oder Agenten sind, entschließen sich aber, aus Sicherheitsgründen vorerst so zu tun, als nehme man sie ernst, heißen sie »herzlich willkommen in unserer Zeit! Sie sehen, alles ist anders bei uns, wir wagen zu sagen, besser, die Gräuel des sechzehnten Jahrhunderts sind uns fern.« Worauf Clemens und Mathilde antworten (ohne zu bemerken, dass zugleich ein Polizist auf einen ins Theater eingedrungenen Demonstranten einschlägt): »Wir sind froh, dass wir keine Wahl mehr haben, sind glücklich, dass wir jetzt hier bleiben müssen. Unsere Flucht durch die Zeiten ist zu Ende, jetzt fangen wir an zu leben.« Als mir klar wurde, dass aus dem Projekt nichts werden würde, versuchte ich Freunde und Kollegen mit Verbindungen zu Zeitschriften zu bewegen, mir zu einem Abdruck von ein paar Szenen des Librettos zu verhelfen. Aber die mochten nicht. Unter feinsinnigen revolutionär gestimmten Literaten galt noch in den Sechzigern Science-Fiction als ebenso vulgär wie Groschen- oder Kriminalromane. (Dabei hatte schon Marx unter anderm auch Science-Fiction geschrieben: Die Herrschaft von -163-
Menschen über Menschen werde ein Ende nehmen.) Zurück zum »Mann, der x-beliebig war«. Ich gab ihn endgültig auf, als ich, einer Einladung des Frankfurter JugendSymphonie-Orchesters folgend, das Orchester zehn Tage während einer Reise durch die Schweiz begleitete. Mit der FAZ hatte ich verabredet, einen Reisebericht zu schreiben. Aber wie ich den nach meiner Rückkehr vorlegte, bedeutete man mir, man wolle künftig meine Mitarbeit als Musikkritiker nicht mehr in Anspruch nehmen. Schlimm für mich. Doch sagte ich mir, die haben gar nicht mal so Unrecht. Die suchen jetzt, da die Zeitung sich durchsetzt, qualifiziertere Leute, solche mit solider Ausbildung. Ich war, auch hier, immer mehr oder weniger außen vor gewesen, bunter Vogel, bisschen grau gestreift, trotz vieler meiner Meinung nach gut geschriebener Rezensionen. Immerhin, den Reisebericht hätten sie noch abdrucken können. Vor dem Jugend-Orchester, das sich durch den Reisebericht Werbung versprochen hatte, stand ich jetzt schlecht da. An die Reise selbst hab ich heute erstaunlich wenig Erinnerungen. Meine erste Fahrt ins Ausland! Aber ich seh mich nur in Kirchen, wo die Konzerte stattfanden (Mozart, Vivaldi, Bach, Telemann, jeden Tag zweimal, ziemlich anstrengend), ich seh mich mit den andern in Lokalen, seh fast nichts von Luzern, Zürich, Basel, keine Alpen, keine Seen, keine Kühe, keinen Senn, nicht mal Sprüngli in der Zürcher Bahnhofstraße, seh mich an schön gedeckten Tischen meiner Gastgeber (wir alle waren bei Schweizer Familien privat untergebracht), seh mich auf Pressekonferenzen mit dem Dirigenten, der auch nicht viel älter war als die achtzehn- bis zwanzigjährigen Musiker, vielleicht Mitte zwanzig, seh mich diskutieren mit dem jüdischen Fabrikanten in einem kleinen Ort am Bodensee, in dessen Haus, mit dessen Familie ich zwei Tage lebte, der Skepsis und Hoffnung zugleich hatte, was das Nachkriegsdeutschland betraf, und mich, das merkte ich wohl, -164-
unauffällig prüfte, ob ich mehr zu seiner Skepsis beitrug oder zu seiner Hoffnung. Wir redeten auch über den Film von Leopold Lindtberg »Die letzte Chance«, in dem gezeigt wird, wie die Schweiz vor den Nazis geflüchtete Juden an der Grenze stoppt. Ich kannte den Film nicht. Mein Gastgeber versicherte, wenn auch im Film ein Grenzoffizier sich menschlich zeige und entgegen dem Befehl »von oben« eine Gruppe von jüdischen Frauen, Männern, Kindern schließlich doch ins Land lasse – Tatsache bleibe, dass es viele Fälle gegeben habe, wo arme Juden zurückgeschickt wurden, zurück in den Tod. Während wohlhabende Juden willkommen waren. Der Film sei heftig diskutiert und der Regisseur auch beschimpft worden. Aber vielleicht trage der Film dazu bei, dass sich die Schweiz nicht auf einen allzu hohen Richterstuhl über Deutschland setze. Es gab auch Amüsantes zu hören in diesen Reisetagen. Offenbar fanden Schweizer Frauen und Mädchen Gefallen an den hungrigen jungen Wilden aus dem blutgetränkten deutschen Dschungel, teilten nicht nur reichliche Speisen mit ihnen, sondern auch Sofa und, falls Ehemann nicht vorhanden, Bett. Ein Hornist berichtete, Mutter und Tochter hätten ihn gemeinsam ausgezogen und in die Badewanne gesteckt, wohl überzeugt, dass Deutsche durch Krieg und Nachkrieg völlig verdreckt sein müssten, und gemeinsam hätten sie ihn eingeseift und schön massiert, oh ja.
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WEITERE EREIGNISSE NACH meiner Rückkehr aus der Schweiz: Besuch einer jungen Berliner Bühnenverlegerin, Heiratsantrag von Juliane. Die Verlegerin hatte ursprünglich zu Witschs neu gegründetem Kiepenheuer-Imperium gehört, weshalb Witsch auch meine an ihn geschickten Theaterstücke nach Berlin weitergeleitet hatte. Inzwischen aber war es ihr gelungen, sich freizukaufen, sich selbstständig zu machen. Ebenso entschieden wie freundlich machte sie mir klar, dass meine Theaterstücke im Ganzen wenig taugten, aber einige gute bis sehr gute Szenen enthielten. Ich sollte umziehn nach Berlin, da hätte einer wie ich Chancen bei Hörspiel und Feature, sie werde mir die Verbindungen machen, in Frankfurt könne nichts aus mir werden. Sie überzeugte mich. Auch Juliane wars recht, wieder in ihre Stadt zurückzukehren, zu Mutter, Bruder und Nichte. Aber vorher, meinte sie, könnten wir doch heiraten. Nein, sie sagte es anders: »Ich möchte mal mit dir verheiratet gewesen sein.« Das sollte meine von ihr vermutete Reserve vor diesem Schritt mildern. Aber es war mehr als Reserve. Es war schon so was wie Angst. Gleichzeitig fand ichs albern, Angst zu empfinden. Was änderte denn ein gestempeltes Papier an dem, was uns beide verband. Ich seh sie ruhig auf dem jüngst getrödelten Pseudobiedermeiersofa liegen, hör ihre leise Stimme: »Du, dem ich angehöre, lass, wenn ich gestorben / was von mir übrig, meine Asche, bei dir sein / und deine Hand, um die mein Leben einst geworben / tauch in den Staub, der einst dein Fleisch war, -166-
ein.« Was blieb mir als sie zu umarmen. Das sei, setzte sie sachlich hinzu, der Anfang eines Gedichts von Ricarda Huch, gefunden in einem schmalen Inselband mit weiteren Liebesgedichten von Ricarda bei Marie-Therese. Diesen Band, Insel-Bücherei Nr. 22, also wohl aus den frühen zwanziger Jahren, hatte Marie-Therese durch Jahrzehnte hindurch und vor Nazis, Feuer, Bomben, Verwüstungen behütet wie ein wichtiges Dokument. Nie hatte ich ihn bei ihr entdeckt. Ich sah ihn zum ersten Mal, als sie ihn Juliane zur Hochzeit schenkte. Da hatte die Frau mit dem verschütteten Temperament die Leidenschaft formuliert gefunden, zu der sie selbst gern fähig gewesen wäre. Und nun sollten die Gedichte einer unverschüttet Liebenden gehören. Aber noch war es nicht so weit. Der erste Standesamtstermin musste abgesagt werden, weil ich eine Zwischenrippennervenenden-Entzündung bekam. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, dass ein solches sehr schmerzhaftes Wortungeheuer sich in meinem Brustkorb einnisten könnte. Jetzt hieß es: Tabletten schlucken und abwarten. In der Zeit vor dem nächsten Termin erfuhr ich, dass Juliane schwanger war, vermutlich als Folge des Ricarda-HuchGedichts. Da hatten wir nicht, wie sonst, Acht gegeben. Mag sein, dass sie mir unfruchtbare Tage vorgegaukelt hatte, weil sie eben ein Kind wollte, mag sein, dass ich sie in diesem Moment gegen Asche und Tod zu sehr begehrt, zu blind geliebt habe. Allerdings, mit 25 Jahren werdender Familienvater – dem fühlte ich mich kaum gewachsen. Doch weitere Nervenenden zum Entzünden fanden sich nicht. So heirateten wir kurz vor Weihnachten 51 und saßen in der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember im Zug nach Berlin. Alfred Andersch, damals Leiter des Abendstudios des Hessischen Rundfunks, hatte mir einen Vorschuss auf eine 60Minuten-Sendung gegeben, die ich in Berlin schreiben wollte: »Sappho und der Frühling des griechischen Geistes«, und -167-
betuchte Eltern eines Freundes hatten mir zusätzlich Geld geliehen. So für den Anfang gesichert, rollten wir übernächtig, hungrig, koffer- und kartonüberladen, am frühen Morgen an kahlen Grunewaldbäumen, Trümmern und renovierten Fassaden entlang in Berlin ein. Berlin wurde meine Stadt, blieb es auch, trotz späterer mehrjähriger Seitensprünge nach Hamburg und Wuppertal. Und obwohl ich mich inzwischen, als Fremder, ebenso in Ligurien zu Hause fühle. Aus einigen meiner Veröffentlichungen ist das zu ersehen. Aber was heißt schon: meine Stadt, zu Hause. Das gilt immer nur einstweilen. Was mir bleibt, egal wo, ist der berühmte unwiederbringliche Augenblick, der nicht verweilt, so schön er auch sein mag, ist Trauer über Asche und Staub geliebter Menschen, sind Wunden, welche die Zeit nicht heilt, sind schüttere Einsichten, Verführbarkeit und neue Anfänge mit alten Hoffnungen. Aber Hoffnung, sagt Heiner Müller, ist Mangel an Information. So ist es. Und doch verschaffe ich mir immer von neuem Informationen, um meine Hoffnung zu nähren. So ist es auch. Nichts anderes spiegeln meine Erinnerungen: sogar bodenlose Hoffnung, die sich die benötigten Informationen selbst macht, den Boden aufschüttet, wo keiner ist. Wie in meinem dritten unkomponierten Libretto von 1999. (Vorarbeiten hierfür schon früher, Jahre her, in einem Roman veröffentlicht.) Da habe ich mir für ein Radio-Oratorium ausgedacht, was wohl geschehen würde, erschiene heute, jetzt! vor den Toren Jerusalems, vor Al Kuds, ein weiblicher Messias. Titel: »Wenn der Messias eine Frau ist – darf sie zum Abendessen bleiben?« (Weil nämlich zum Sabbatmahl fromme Juden ein zusätzliches Gedeck auf den Tisch stellen, damit der Messias, käme er denn, sich erst mal stärken könnte, bevor er an die Arbeit ginge.) Kein Sender mochte das produzieren. Infolgedessen konnte ich auch keinem Komponisten zumuten, da einzusteigen. Er hätte, da bin ich -168-
sicher, reichlich Gelegenheit gefunden für aufregende Musik, für effektvolle Chöre von Juden, Muslimen, Christen. Diese Frau nämlich, ich nenne sie Leila, zur Erinnerung an Lilith, aber vorübergehend ist sie auch androgyn, Mann und Frau zugleich, sie nimmt vorweg, woran ich mich nach dem 11. September 2001 erinnert habe. Nur redet sie eindringlicher, weil in gebundener Rede und in Erwartung von begleitender Musik. Sie erklärt diejenigen zu Gotteslästerern, die im Namen Allahs töten, die im Namen Jahwes töten, die im Namen des Herrgotts töten, und fordert, nur scheinbar im Gegensatz dazu, sich zu lösen von diesen alten Göttern Jahwe, Allah, Herrgott, die zu ihrer Zeit gelegentlich nützlich gewesen seien gegen die Bedrohungen des damaligen Diesseits, nun aber unfähig, uns zu lehren, wie mit unserm jetzigen Diesseits umzugehn sei. Deshalb, so Leila, müssen wir uns von ihnen trennen, weil sie zu schwach geworden sind, zu klein für die ungeheuren Probleme des heutigen Menschen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, zwischen tödlichen Viren und tödlichen Strahlen aus der Eiseskälte des Weltraums, zwischen Hungerkatastrophen, Gen-Experimenten und Trinkwasserknappheit, weil sie, die eifersüchtig auf ihren alten Wahrheiten bestehen, keine Wahrheit mehr haben für unser Überleben. Da schreien die Chöre auf, wollen Leila gemeinsam töten, steinigen, sind sich einig wie nie zuvor. Aber Frauen hindern sie, eilen herbei, die Frauen der orthodoxen Juden, die Frauen der fundamentalistischen Araber, die israelischen und palästinensischen Frauen, alle kommen sie, Hausfrauen aus der Küche und Matronen und Mütter mit Babys und junge Mädchen, nehmen ihren Vätern, Ehemännern, Brüdern, Söhnen und den christlichen Mönchen einfach die Steine aus den Händen, umgeben die Frau, schützen sie, und wenn die Männer sich wehren, wenn Soldaten heranfahren, da fangen die Frauen an zu singen, zu schreien, nein, nicht zu schreien, es ist ein hoher getragener Ton, der von ihnen kommt, ein gewaltiger Ton -169-
voller Süße und Schärfe, und immer mehr Frauen singen ihn, halten ihn an, lange, und ist eine erschöpft, hat sie zu kochen, Windeln zu wechseln, am Computer zu arbeiten, Brot zu kaufen, zu vögeln, zu beten, zu trösten, zu schlafen, dann singt die Nachbarin weiter, so halten sie den Ton, halten ihn in ganz Jerusalem, halten ihn in Hebron, in Tel Aviv, und die Männer sind machtlos, der Schrei der Frauen, der Gesang der Frauen kommt über die Männer in den Straßen und Häusern, kommt mit Radio und Fernsehn über die Welt, und Frauen in Uniform, die Waffen halten, singen ihn und lassen die Waffen fallen, und die Männer können nicht mehr schießen und in die Luft sprengen in Israel, in Palästina, im Libanon, die Frauen singen in Damaskus, in Lahore, Kairo, Marrakesch, Delhi, sogar in Teheran, sie singen im Vatikan und in Nordirland, in Südamerika, im Weißen Haus von Washington, und all die neidischen, vertratschten, verbohrten, bigotten, grausamen Weiber, alle singen den Ton mit, und die Schönen singen den Ton, und die Unscheinbaren singen ihn, die Geliebten und die Verlassenen, die Jähzornigen und die Resignierten, die geprügelten Frauen und die Prügelnden, die in angenehmen Verhältnissen leben und die im trostlosesten Elend vegetieren, die Hungernden und die Satten, Lehrerinnen auf Neuguinea, Fischerfrauen in Hammerfest, Buschfrauen in Südafrika, Programmiererinnen in Bombay, Schuhverkäuferinnen in Los Angeles, Managerinnen in Ottawa, Pastorinnen in Norddeutschland, Huren in Macao, überall singen die Frauen, gelbe, weiße, schwarze, braune, rote, und immer mehr Kinder singen den Ton mit, misshandelte, vergewaltigte, hungernde Kinder auf allen Kontinenten, in Afrika, in Moskau, in Thailand, in London, in Berlin, in China, Afghanistan, Kambodscha, sogar in Nordkorea, alle singen diesen gewaltigen Ton. Ein Planet, der singt. Und was singt er? Leben vermutlich, singt Leben, singt es mit der Stimme von mehr als drei Milliarden Frauen und Kindern –
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– und vielleicht irgendwann auch mit der Stimme von Männern.
Geschrieben zwischen Juli 2001 und Juli 2002
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