Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 662 Die Namenlose Zone
Die Schlafenden Mächte von Arndt Ellmer
Mit der MJA...
7 downloads
402 Views
814KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 662 Die Namenlose Zone
Die Schlafenden Mächte von Arndt Ellmer
Mit der MJAILAM in die Ellerswiege
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti‐ES mit seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man den Juni 3808. Atlan, der in der Namenlosen Zone mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, konnte der SOL wieder Nachrichten zukommen lassen, die den High Sideryt bewegen, zwei Expeditionen loszuschicken. Eine dieser Expeditionen soll Atlan Hilfe bringen. Sie erreicht auch ihr Ziel – und der Arkonide seinerseits entdeckt DIE SCHLAFENDEN MÄCHTE …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide folgt mit seinem Team Chybrains Spur. Tomagog ‐ Ein Schöpfer, der vor seinen Geschöpfen flieht. Bleichfinger ‐ Der Erstgeschaffene hat Hunger. Wajsto Kölsch ‐ Der Stabsspezialist leitet die Hilfsaktion für Atlan.
1. Seine Haut knisterte spröde. Sie wölbte sich überall an seinem Körper und bildete Buckel und Wülste. Es knirschte, und die dünne Luftschicht, die sich dicht über dem Boden des Planetoiden hielt, gab die Geräusche verstärkt wieder. Ein Schatten, übermächtig groß, zog im diffusen Licht des weit entfernten Sterns dicht über ihn hinweg und glitt weiter, ohne ihn bemerkt zu haben. Er dankte dem Schicksal dafür. Er hatte sich aber auch gut versteckt, und sie konnten ihn nicht finden, bevor er nicht freiwillig aus seinem Unterschlupf hinausging, weil jener unselige Drang ihn trieb. Seine Haut bildete jetzt die ersten Risse. Es zischte und sprühte, und die Gasfunken der Unterhaut hüpften in die Höhe und hüllten ihn vorübergehend in einen matten Schein, der zwischen den Felsen hin und her zuckte. Die Haut löste sich auf. Sie fiel nicht einfach von ihm ab. Sie umfing ihn weiterhin, aber sie veränderte ihre Zustandsform. Sie wurde unsichtbar und nahm einen atomaren Zustand an. Er versank in Starre. Er durfte sich jetzt nicht bewegen, und es durfte kein Lufthauch aufkommen, der ihm die Haut davontrieb. Alles blieb ruhig, und die winzige Schwerkraft seines Körpers konzentrierte sich auf die verschwundene Haut und band sie an den Körper. Sie wurde von der Unterhaut aufgesogen, und das steigende Wohlbefinden sagte ihm, welche Fortschritte er bei seinem
Bemühen erzielte. Kurz darauf hatte er es geschafft. Er hatte die alte Haut voll in sich aufgenommen und besaß jetzt wieder einen vollkommenen Körper. Als habe die Natur des Planetoiden nur darauf gewartet, zog jetzt ein Brausen über sein Versteck hinweg. Der Wind entwickelte seine Kraft, und bald trieb er Staubwolken und kleinere Felsbrocken vor sich her. Es stürmte, und er schätzte sich glücklich, daß er in seinem Unterschlupf vor den Unbilden der Natur geschützt war. Die Unterhaut benötigte noch eine Weile, bis sie trocken und stabil war. Erst dann durfte er sich in gewohnter Weise um sein Reich kümmern. »Tomagog!« drang eine ferne Stimme an sein Ohr. »Es ist soweit. Schöpfer, hörst du mich?« Die Stimme kam aus dem diffusen Grau des Himmels. Sie nahm ihren Ursprung irgendwo in dem großen Planetoidenhaufen, und sie stammte ohne Zweifel von Bleichfinger. Er rief mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nach ihm, doch Tomagog blieb stumm. Bleichfinger hatte großen Hunger, wenn er nicht mehr wartete, sondern rief. Tomagog verkrampfte seine Hauptexternitäten und unterdrückte das Verlangen, seinem Lieblingsgeschöpf zu antworten. Es ging nicht. Er hatte keine Zeit und keine Möglichkeit. Er wußte, daß sie ihn suchten und überall auf ihn lauerten, um seinem Leben ein unrühmliches Ende zu bereiten. Er durfte sich nicht darauf einlassen. Die Gefahr war zu groß, und außerdem erwachte sein stärkster Drang in ihm wie immer, wenn er sich häutete oder ein besonders befriedigendes Erlebnis hatte. Tomagog, der Schöpfer. So nannten sie ihn. Sie alle waren seine Geschöpfe, und manchmal fragte er sich, warum er eigentlich vor ihnen davonlief. Die Antwort darauf war einfach. Sie wollten ihn töten. Sie waren böse Geschöpfe. Der Austrocknungsprozeß seiner zur Oberhaut gewordenen Unterhaut war abgeschlossen, und Tomagog bewegte sich. Er dehnte und bog alle seine Gliedmaßen. Er setzte sich in Bewegung
und wanderte ein wenig zwischen den scharfkantigen Felsen umher. Manche ritzten seine Haut, doch er achtete nicht darauf. Die Ritzen schlossen sich, kaum daß sie entstanden waren. Tomagog steuerte langsam aus seinem Versteck hinaus. Er hatte die Flugrichtung des Schattens bestimmt und hielt sich an sie. Wenn sie nach ihm suchten, dann hatten sie zwischenzeitlich die Richtung geändert. Die Felsen wichen. Sie gaben den Blick frei auf eine Ebene, deren Horizont stark gekrümmt und greifbar nahe war. Die Planetoiden von Ellerswiege waren nicht sehr groß, und sie hingen in ihrer Vielzahl über der dünnen Luftschicht. Tomagog dachte, daß die Anzahl seiner Geschöpfe die Zahl der Planetoiden längst überflügelt hatte. Ihre Schatten tauchten ab und zu auf den reflektierenden Oberflächen der Himmelskörper auf und teilten ihm mit, daß er ihnen aus dem Weg gehen sollte. Sie waren undankbar, und die Erkenntnis stimmte Tomagog traurig. Er wünschte sich, es wäre alles anders in Ellerswiege. Der Schöpfer verhielt sich mehrere Augenblicke lang unvorsichtig. Er trat auf einen Stein, und dieser bröckelte krachend auseinander. Tomagog zuckte zusammen und zog sich hastig zwischen die Felsen zurück. Es war zu spät. Sie hatten das Geräusch gehört und kamen auf seiner Spur. Sie ließen sich in der Ebene vor den Felsen nieder, und Tomagog erkannte den wurzeligen Warff, den eilenden Simrock und Hellerbatzen, der geradewegs aus dem Himmel fiel und mit einem schmatzenden Geräusch gegen den Untergrund prallte. »Wir wissen, wo du bist«, riefen sie im Chor. »Kommst du freiwillig, oder sollen wir dich holen?« Tomagog unterdrückte einen Aufschrei. Er zog sich weiter zwischen die scharfkantigen Steine zurück. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, aber das war nur seiner Oberhaut im Stadium der Häutung möglich. Der Schöpfer kämpfte mit sich. Der positive Drang der Kreativität
beseelte ihn. Er hielt nach einem Fluchtweg Ausschau, aber Vestibyll Zwei näherte sich ihm von hinten, indem er tapsend von einem Felsen auf den anderen sprang. Sie hatten ihn eingekreist. Tomagog zitterte ungewöhnlich stark. Er wußte selbst nicht, ob es sein Drang war, der ihn aufgeregt machte, oder ob es die Angst war, die ihn befiel. Er saß in der Falle und verwünschte sich, daß er ausgerechnet diesen unseligen Ort zwischen den Felsen für seine Häutung ausgesucht hatte. Eine der Kavernen auf Planetoid 4688 wäre eher in Frage gekommen. Nein, korrigierte er sich. 4688 war von den jüngsten Schöpfungen besetzt, die sich nicht mit den üblichen Äußerungen ihrer Bosheit begnügten. Sie gehörten zu einer neuen Generation, und Tomagog nannte sie bei sich die Generation der Zerstörer. Sie nahmen 4688 auseinander. Laut sagte er: »Ich komme. Ich stelle mich euch. Ich nehme den Kampf auf, aber er muß fair sein!« Er verließ seine Deckung und eilte wieder hinaus in die Ebene. Hinter ihm plumpste Vestibyll Zwei zu Boden und quiekte schrill: »Dein Tod ist gekommen, Tomagog!« Gemeinsam stürzten sie sich auf ihren Schöpfer und ließen ihm keine Chance zur Flucht. Tomagog rührte sich auch nicht. Starr ließ er den Angriff über sich ergehen. Ein letzter Blick hinauf gegen den Himmel belehrte ihn, daß dort oben noch alles in Ordnung war. Dann wurde die Luft von den Körpern seiner Geschöpfe verdunkelt, die sich auf ihn warfen. »Tomagog!« hörte er noch einmal die Stimme Bleichfingers aus der Ferne des Leerraums. »Schöpfer, ich bin hungrig!« * Nichts in Ellerswiege ließ erkennen, was sich soeben ereignet hatte.
Auf den Planetoiden hüpften die Geschöpfe auf und ab und bekriegten sich gegenseitig. Manche suchten, von Unrast erfüllt, den Leerraum außerhalb des Planetoidenhaufens auf. Sie blieben wie immer an der undurchdringlichen Barriere hängen und ließen ihre Wut daran aus, ohne dadurch eine Veränderung herbeiführen zu können. Es ist gut so, dachte Tomagog. Es war nicht auszudenken, was diese bösartigen Kreaturen hätten anrichten können, wenn es ihnen gelungen wäre, Ellerswiege zu verlassen. Falls es außerhalb noch so etwas wie ein Universum gab. »Es ist zu lange her«, murmelte Tomagog düster. »Wenn ich mich nur erinnern könnte!« Manchmal war er froh, daß sich sein Wissen über die Vergangenheit lediglich auf ein paar Bruchstücke beschränkte. Der Schöpfer zog die Überreste der vier getöteten Angreifer hinter sich her. Er hatte sie mit einem Gespinst aus Hauptexternitäten umhüllt und zerrte sie von der Oberfläche des Planetoiden fort. Kraftvoll hatte er sich abgestoßen, und die Eigenschaften seines Körpers verliehen ihm im luftleeren Raum nahezu uneingeschränkte Manövrierfähigkeit. Er steuerte einen der größten Planetoiden an, die es in seiner Welt gab, und schaffte die Überreste der vier in das Synthetikon. Er ließ sie aus dem Gespinst purzeln und rief einen Roboter mit einer Plattform herbei. Die Maschine lud die Körper auf und schaffte sie in das Labor, das im Innern des Planetoiden lag. Das Synthetikon funktionierte einwandfrei. Eine umfassende Robotmaschinerie sorgte dafür, daß Tomagog alles zur Verfügung stand, was er benötigte. Der Schöpfer begab sich in das Reservoir und suchte sich vier passende Muster nach seinem eigenen Geschmack aus. Er tat es fiebernd vor Begeisterung. Endlich hatte er wieder einmal Gelegenheit, seine Begabung voll zur Entfaltung zu bringen. Es war schon eine Weile her, daß er vier Wesen gleichzeitig geschaffen hatte. Es kam seinem inneren Bedürfnis entgegen, das durch den
Vorgang der Häutung noch verstärkt worden war. Tomagog ließ die Muster in das Synthetikon schaffen. Er aktivierte die Anlage und gab die Überreste der vier Geschöpfe sowie die neuen Muster ein. Er wartete, bis die Computer alles sorgsam analysiert und dezentralisiert hatten. Auf Bildschirmen las er die Zahl der einzelnen Nervenstränge und Knoten ab, ihre Maße und ihre Funktion. Als alle Arbeiten abgeschlossen waren, gab der Computer ein heiseres Piepsen von sich und ließ die Einzelteile auf langen Fließbändern in eine sterile Kammer transportieren. Diesem Augenblick hatte der Schöpfer entgegengefiebert. Jetzt kam er an die Reihe. Dies war seine Tätigkeit. Er glitt hastig in die Schleuse und ließ das Desinfizierbad ungeduldig über sich ergehen. Als sich die Innentür der Schleuse öffnete, stürmte er in die Kammer hinein und machte sich über die organischen Teile her. Leben schaffen! Das war der Sinn seines Lebens. Nichts besaß Tomagog außer ihm. Er war allein, ein Einsiedler inmitten einer kleinen, eingegrenzten Welt. Er war ihr Herr und war es doch nicht, denn er konnte seine Geschöpfe nicht kontrollieren. Er verscheuchte alle störenden Gedankenimpulse. Er richtete die vielen hundert Hauptexternitäten auf die Überreste und nahm auch etliche tausend Nebenexternitäten zu Hilfe. Mit einer Geschwindigkeit, die einem menschlichen Auge unheimlich vorgekommen wäre, fügte er die kleinsten Fasern und Strukturen zusammen und schuf ein neues Wesen. Es wuchs und wuchs, und der Planetoid drehte sich in dieser Zeit lediglich einmal um seine Achse. Als es fertig war, schob Tomagog es in den »Backofen«, in dem es die Wärme erhielt, die es brauchte. Auch seinen Lebensodem bekam es in dem Ofen, und in der Zwischenzeit schuf Tomagog das zweite Wesen. Auch es besaß keine Ähnlichkeit mehr mit einem seiner Vorgänger. Die Gestalt spielte keine Rolle. Sie entsprang der Phantasie des Gestalters, und die war bei Tomagog in reichlichem Maß vorhanden. Nach fünf Planetoidentagen kam das letzte der vier Wesen aus
dem »Backofen«. Es wurde von Maschinen geführt und zu dem Hypnotiseur gebracht, der ihm das geistige Grundwissen vermittelte, das es als Wesen von Ellerswiege benötigte. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten waren darin ebenso vorhanden wie das Wissen um den Schöpfer und die Hierarchie innerhalb des begrenzten Lebensraums. Die vier Neuwesen erhielten die Hypnoschulung. Sie wurden vorbereitet und erwachten gleichzeitig aus der Trance. Tomagog hatte den Vorgang mit bebendem Körper verfolgt. Er befand sich in einem Zustand erhöhter Euphorie. Die Roboter rührten sich nicht. Dafür kam in die Geschöpfe Leben. Sie erhoben sich aus den Liegemulden und formierten sich zu einer Front, die sich langsam näher schob. Noch sagten die Wesen nichts, aber ihre Bewegungen machten Tomagog stutzig Seine Stimmung ließ ein wenig nach, und er rief mit gedämpfter Begeisterung die alte Formel. »Seid gut! Bleibt gut! Der Schöpfer wird es euch danken!« Die Neuwesen reagierten nicht. Sie streckten alle Arten phantastischer Extremitäten von sich und bildeten Klauen und Greifhände. Sie zielten auf Tomagog, und der Schöpfer wich mit einem Aufschrei zurück. Jetzt kam Leben in die Wesen. Sie packten ein paar der vortretenden Roboter und zerrissen sie mit wenigen Griffen. Rauchwolken erhoben sich, und die Luft prasselte von Kurzschlüssen und Entladungen chemischer Art. Tomagog ergriff die Flucht. Seine Euphorie war weggewischt. Die Begeisterung, die er beim Schaffen dieser Wesen empfunden hatte, wich tiefer Traurigkeit. Er hörte die Explosionen und machte, daß er aus dem Synthetikon an die Oberfläche des Planetoiden kam. Rufe drangen bis zu ihm vor und zeigten ihm, daß die vier Wesen seiner Spur folgten. Nochmals klang eine Explosion auf, dann herrschte gefährliche Ruhe. Tomagog stieß sich ab und verließ seinen Planetoiden. Er zitterte
und war nicht fähig, einen geraden Kurs zwischen den Felswelten von Ellerswiege zu steuern. Er wurde zu einem sinnlos dahintreibenden Gegenstand, der von den Verfolgern nicht erkannt wurde. Sie ließen von ihm ab und eroberten den Raum für sich, den sie durch die Hypnoschulung bereits kannten. »Sie sind schlimmer als ihre Vorgänger«, gluckste Tomagog deprimiert. Er steuerte einen kleineren Felsbrocken an, in dem er einen sandgefüllten Krater entdeckt hatte. Er landete sanft und grub sich tief in den kühlen Sand ein. Bebenwellen durchliefen seinen Körper und ließen alle seine Externitäten erzittern. Der übermächtige Drang, Wesen zu schaffen, war wie weggewischt. Der Schöpfer fühlte sich elend und stellte sich immer wieder die eine Frage. Warum nur? Warum mußte das sein? Tomagog litt. In dem Raum, der ihm so vertraut war, war doch alles fremd, weil es nicht zu ihm und seinen Fähigkeiten paßte. Aus seinem Reich gab es keinen Weg in die Ferne. Seine anfänglichen Hoffnungen, die Kreaturen würden sich in der Ferne verlieren, hatten sich nie erfüllt. Und doch konnte er seinem Drang nicht entfliehen. Er mußte es tun, und er wünschte sich, er hätte nur einmal einen Erfolg damit errungen. Nur ein einziges Mal. Die neue Generation war viel schlimmer, und die Wesen scheuten sich nicht, selbst im Synthetikon Zerstörungen anzurichten. Das konnte nicht der Sinn ihrer Erschaffung sein, und Tomagog zweifelte an der Richtigkeit aller seiner Wahrnehmungen. Aus seiner Fiebrigkeit wurde Fieber, und er grub sich noch tiefer ein und wünschte sich, einfach tot zu sein und erlöst. Nicht mehr an all das Böse denken zu müssen, das ihn umgab, der sich für ein positives, aufrichtiges Wesen hielt. Tomagog spürte tief in seinem Innern, daß für Ellerswiege eine neue Zeit angebrochen war. Die Veränderungen nahmen gefährliche Ausmaße an. Es gab nur zwei Möglichkeiten, sagte ihm sein
Verstand. Entweder stellte er seine Schöpfungen ein, oder das Chaos folgte ihm auf dem Fuß. Tomagog mußte Wesen erschaffen, solange er lebte. Er konnte nicht gegen seinen Drang ankämpfen. Also blieb nur das Chaos. Tomagog wünschte sich, tot zu sein. Da aber erreichte ihn erneut ein Ruf. »Tomagog«, ließ Bleichfinger hören. »Ich habe starken Hunger. Ich sterbe bald!« Wie ein Blitz verließ der Schöpfer sein Versteck. »Bleichfinger!« antwortete er. »Lieber Bleichfinger! Gleich bin ich bei dir. Ich werde deine Fütterung vorbereiten!« Bleichfinger saß in der technischen Sektion und überwachte die Verhüttung und die Verschrottung. Er war eines der erstgeschaffenen Wesen und im Vergleich mit den neuesten Schöpfungen so gut wie harmlos. Noch nie hatte er einen Finger gegen seinen Schöpfer gerührt. Bleichfinger war zuverlässig und treu. Er war der letzte, der von den Erstgeschaffenen noch lebte. Tomagog brachte es nicht fertig, Bleichfinger zu töten und aus seiner Biomasse ein neues Wesen zu schaffen. Bleichfinger war so etwas wie ein Bindeglied an die Vergangenheit von der Tomagog so wenig wußte. Während er durch den luftleeren Raum zwischen den Planetoiden zu seinem Nahrungsdepot schoß, fragte er sich wieder einmal, warum das so war. 2. Die BRISBEE‐Kinder tobten draußen auf der Oberfläche der Basis herum. Sie spielten Versteck, und die mit vielen Buschgruppen und einem Wäldchen bedeckte künstliche Naturlandschaft kam diesem Spiel entgegen. Hin und wieder bezogen die kleinen Terraner ein paar herumlaufende Roboter darin ein, und die Maschinen machten bereitwillig mit.
Wir amüsierten uns über die Maschinen, die mit der Infrarotortung unseres Kreuzers deutlich zwischen den dichten Blättern des Buschwerks auszumachen waren. Wie reife Früchte hingen oder kauerten sie dort, und die Kinder machten sich einen Spaß, so zu tun, als hätten sie sie nicht gesehen. Wenn es allerdings zu langweilig wurde, weil sich die Maschinen totstellten, dann blieben die Kinder an dem Baum stehen, der der Zielpunkt war und schlugen mit den Handflächen gegen den Stamm, daß es klatschte. »Fetzer!« schrien sie. »Du bist angeschlagen. Komm aus deinem Busch hervor. Du sitzt in dem Gesträuch, das direkt neben dem Bach wächst. Wir sehen deinen Kopf blinken!« Fetzer, den Namen hatten sie einem besonders hastig schreitenden Roboter gegeben, zog den Kopf ein, und die Kinder ließen ein lautes Lachen erschallen. Schließlich zog die Maschine es vor, aus ihrem Versteck herauszukommen. Sie stakste auf den Baum zu, wo Kinder und Roboter versammelt waren. »Paß auf, wo du hintrittst!« mahnte der fünfzehnjährige Jauter. »Dort stehen Blumen. Weiche ihnen aus!« Der Roboter tat, wie ihm geheißen, aber er schüttelte in menschlicher Weise den Kopf und sagte: »Warum ist das wichtig, kleiner Mensch? Sie wachsen nach. Oder wir züchten neue. Die Möglichkeiten der Basis sind unerschöpflich!« Lara verzog ein wenig schmerzlich das Gesicht. Ich steuerte die fliegende Kamerasonde ganz nahe zu ihr hinab, bis ihr Gesicht groß auf dem Bildschirm zu sehen war. Ich entdeckte den Hauch der Wehmut darin. Die Nennung der Basis durch den Roboter erinnerte die BRISBEE‐Kinder daran, daß sie sich nicht mehr auf ihrer Heimatwelt Solist befanden. Die Naturoberfläche der wiederhergestellten Basis des Ersten Zählers bildete nicht mehr als ein Intermezzo. Wir konnten nicht ewig hier bleiben, und wie ich Atlan kannte, hielt er es auch nicht mehr lange aus. »Die Blumen sind so schön«, klang Menizzas Stimme auf. Sie trat neben die gleichaltrige Lara und streckte dem Roboter die Hand
entgegen. »Komm!« verlangte sie. »Ich führe dich in unser Schiff. Dort sind viele Bilder schöner Pflanzen und Blumen gespeichert, wie sie hier nicht wachsen!« Der Roboter machte Anstalten, der Aufforderung zu folgen. Mitten im Schritt hielt er jedoch inne. »Es ist keine Zeit dazu«, tönte er blechern. »Da kommt uns etwas dazwischen. Ich werde die Daten später direkt aus der MJAILAM in meine Positronik überspielen lassen!« Wie auf Kommando setzten sich alle Maschinen in Bewegung und verschwanden in einer Bodenluke in der Nähe. Die Kinder hörten das metallische Stampfen der Füße, bis sich die Schleuse schloß. Die Roboter waren in das Innere der Basis zurückgekehrt, und die Kinder beratschlagten, was sie weiter tun sollten. Ich wandte mich vom Bildschirm ab und sah Atlan an. Der Arkonide lächelte mir zu. Er nahm mich in den Arm, und seine Finger verirrten sich in meinem hüftlangen Haar und spielten mit den Locken. »Was haben die Roboter?« flüsterte ich. »Es sieht aus, als sei etwas vorgefallen!« Atlans Augen starrten auf die Funkanlage. Zwischen dem Kreuzer und der eigentlichen Steuerpositronik der Basis des Ersten Zählers bestand eine ständige Funkbrücke, und die Roboter setzten sich jedesmal sofort mit uns in Verbindung, wenn es irgendeine Unklarheit oder ein Vorkommnis gab. Auch diesmal würden sie nicht lange auf sich warten lassen. Die Roboter der Basis hatten uns anfangs Probleme bereitet. Sie hatten seit Jahren vergebens auf die Rückkehr ihres Herrn gewartet. Die Nachricht, daß es den Ersten Zähler nicht mehr gab, hatte sie verwirrt. Sie hatten die Basis zerstören wollen, aber Atlan war es gelungen, dies zu verhindern und die Anerkennung durch die Roboter zurückzugewinnen. Sie erinnerten sich an ihn, der vor rund zweihundert Jahren bereits einmal unter ihnen geweilt hatte. Atlan
selbst hatte mehrere Stunden im Innern der Basis verbracht, um die Speicher abzurufen, in denen das Wissen über jene Ereignisse steckte. Ihr Inhalt deckte sich exakt mit dem, was er selbst aus den Reinkarnationserlebnissen wußte. Ein paar zusätzliche Einzelheiten gab es, aber sie besaßen keinen Wert mehr außer dem der Dokumentation. »Wir warten noch«, entschied Atlan. Er wandte den Kopf und musterte die Zentrale. Außer zwei Solanern und einem Buhrlo hielt sich im Augenblick niemand in ihr auf. »Spätestens in zwölf Stunden jedoch verlassen wir diese gastliche Stätte!« Was wird aus den BRISBEE‐Kindern? dachte ich. Ich empfing ihre Gedanken, während sie ins Schiff zurückkehrten, und analysierte die Stimmung, die sich in ihnen spiegelte. Die Kinder waren entschlossen, sich nicht ewig in der MJAILAM aufzuhalten. Sie besaßen einen ausgeprägten Charakter, ein äußerst natürliches Verhalten und eine innere Bindung an die Natur selbst. Sie konnten sich mit der Sterilität eines Schiffes nicht abfinden. Lediglich ihre Erziehung, die sie von den Emulatoren auf Solist erhalten hatten, bewirkte, daß sie unserem Verhalten und unseren Absichten Verständnis entgegenbrachten. »Ein Zeichen brauchen wir«, fuhr Atlan fort. »Nur ein kleines Zeichen. Es hat keinen Sinn, ins Blaue hinein nach ihm zu suchen!« Er beugte sich über mich und küßte mich auf den Mund. Ich preßte meinen Körper an ihn und umfing seine stahlharten Muskeln mit meinen Armen. Was war ich gegen ihn, den Unsterblichen? Spürte ich nicht das Pochen seines Zellaktivators? Nein, es war nur mein eigenes Blut, das durch meine Schläfen rauschte und mich die Probleme unserer Expedition für ein paar Sekundenbruchteile vergessen ließ. Atlan sprach von Chybrain, der sich nicht mehr meldete. Auch das Relais war nirgends mehr aufgetaucht, und der Arkonide machte sich Sorgen um sein Kind. Er betrachtete Chybrain irgendwie noch immer als Kind, und die Reaktionen des Eis waren kindlich naiv
und unbekümmert. Auf der anderen Seite wirkte Chybrain zu allem entschlossen und nicht bereit, Kompromisse einzugehen. So etwas mochte es bei Kindern und Erwachsenen geben. Ein helles Blinken an der Funkanlage ließ mich aufschauen. Ich löste mich von Atlan und deutete hinüber. Augenblicklich setzte sich der Arkonide in Bewegung. Er eilte nach vorn und meldete sich. »Was gibt es?« fragte er. Mit einem Blick hatte er festgestellt, daß der Anruf aus dem Zentrum der Basis kam. »Wir haben seltsam diffuse Ortungsbilder empfangen«, teilte einer der Roboter mit. »Wir wissen nichts mit ihnen anzufangen, aber vielleicht interessieren sie euch. Ich überspiele die Aufzeichnung!« Atlan nickte, und die Kameras unserer Schiffspositronik reagierten und zeichneten die Überspielung auf und speicherten sie. Gleichzeitig war sie auf unseren Bildschirmen zu sehen. Zunächst ging ein Flirren über die Bildebenen. Es sah nach einer Störung aus, aber die Muster wiederholten sich rhythmisch. Wir konnten nichts mit ihnen anfangen. Dann tauchte plötzlich ein faustgroßer Lichtball auf, in dessen Nähe es zwei Reflexe gab. Eine Sonne mit zwei Planeten. Das Bild verschwand und machte anderen Platz. »Schockfronten!« murmelte er dumpf. Sie gehörten zu den Hindernissen der Namenlosen Zone. Sie verhinderten in den meisten Fällen, daß die bösen Bewohner eines Sonnensystems ihren Lebensbereich verlassen konnten. Wir hatten jedoch auch erlebt, daß in einer solchen Schockfront die Emulatoren als positive Kräfte gefangengehalten wurden. Jetzt überlagerten sich Eindrücke auf den Schirmen. Sonnen zerflossen zu matten Schleiern, und zwischendurch leuchtete etwas, was annähernd Eiform besaß. Es war nicht genau zu bestimmen, aber es tauchte mehrmals in den verwischenden Bildern auf. Ich dachte sofort an Chybrain. Auch Atlan tat dies, und ich sah, wie er sich ungeduldig bewegte.
Aus den Lautsprechern drang ein helles Sirren. Es hörte sich an wie das Geräusch eines Hornissenschwarms. Vier Sekunden etwa dauerte es, dann brach es ab. Die Überspielung war zu Ende, die Bildschirme wurden dunkel. »Danke!« sagte Atlan. Gleichzeitig meldete sich unsere Positronik. »Die Auswertung aller Impulse ist beendet«, teilte sie mit. »In der Sendung sind Koordinaten enthalten. Sie bezeichnen einen ganz bestimmten Punkt innerhalb der Namenlosen Zone!« Das war sie, unsere Spur. Wir sahen einander an und dachten dasselbe. »Chybrain«, sagte Atlan. »Er hat uns einen Hinweis geschickt. Endlich!« Er trat an den Interkom und rief alle Besatzungsmitglieder auf ihre Positionen. »Start in einer halben Stunde!« verkündete er. Die MJAILAM war wieder voll einsatzbereit, denn die Roboter der Basis hatten sie repariert. »Hage, bitte in die Zentrale!« Die Bildschirme zeigten wieder die Umgebung des Kreuzers, und wir beobachteten, wie sich ganz in der Nähe eine Öffnung im Boden bildete und das Scientologenteam buchstäblich ausspuckte. Zuerst tauchte der röhrenförmige Körper Blödels auf, dann folgte der Galakto‐Genetiker. Er hielt etwas in der Hand, was auf den ersten Blick wie ein zusammengeknüllter Putzlappen aussah. Nockemann schien ihn wegzuwerfen, und das Knäuel sauste den beiden voraus ins Schiff. Es war Wuschel, der die Gelegenheit benutzte, sich auszutoben. »Hoffentlich haben die Roboter der Basis keinen seelischen Knacks davongetragen«, meinte Atlan mit einem Augenzwinkern. »Ich traue Blödel alles zu!« Er winkte Uster Brick zu. Der Pilot kam herein. Jetzt tauchte Blödel unter dem Eingang auf und ergoß einen lautstarken Redeschwall über uns. »Die Roboter sind unzivilisiert!« krähte Blödel zum wiederholten
Mal. »Ich habe versucht, sie von der Schönheit eines behaarten Kopfes zu überzeugen, aber sie sind mir alle davongelaufen!« Er deutete auf die grünen Fäden, die so etwas wie einen Bart darstellten. Sie waren aus Plastik. Von Wuschel sahen wir nichts. Der Bakwer hatte sich offenbar in seine Wohnung im unteren Teil Blödels zurückgezogen. Nockemann tappte seufzend hinter seinem Roboter her. Gleichzeitig verkündete die MJAILAM‐Positronik: »Besatzung ist vollständig. Start erfolgt in sechzehn Minuten!« * Der Bordkalender zeigte die elfte Stunde des 19. Juni im Jahr 3808. Die MJAILAM durchdrang den Schutzschirm, der sich über der Basis wölbte. Die Oberfläche mit dem zerstörten Turm, dem Gästehaus und dem Dom der Lichtquelle blieb unter uns zurück. Atlan wies die Basis an, ihre Position innerhalb der Namenlosen Zone nicht zu verlassen und niemandem Zutritt zu gestatten. Der Arkonide war unruhig. Die vage Spur, die Chybrain gelegt hatte, ließ ihn zweifeln. Es war nicht sicher, daß sie von ihm stammte. Es war auch möglich, daß sie von unserem eigentlichen Gegner gelegt worden war, einem Volk, das seine Roboter und Raumschiffe nach dem Vorbild des eigenen Körpers baute. Dann flog die MJAILAM in eine Falle. Atlan wußte um das Dilemma, das in uns allen steckte. Er wies Uster Brick an, die Koordinaten nicht direkt anzufliegen, sondern einen Sicherheitsabstand von zwei Lichtjahren einzubauen. Der Zwilling orientierte sich kurz, dann führte er den Kreuzer in den Linearraum und brachte ihn an sein vorläufiges Ziel. Die Buhrlos nahmen ihre Arbeit auf. Gemäß dem Teppelhoff‐ Effekt versuchten sie, in der näheren Umgebung eine Schockfront auszumachen, eine der Barrieren. Nichts wies auf das
Vorhandensein eines eingesperrten Sonnensystems hin, und Uster flog weiter und führte eine zweite, kürzere Linearetappe durch. Wir befanden uns jetzt rund eine Lichtwoche vom eigentlichen Ziel entfernt, ohne daß die Buhrlos etwas erkennen konnten. Nach ihren übereinstimmenden Aussagen befand sich vor uns nur der Leerraum. Atlans Augen suchten meinen Blick. Er erhoffte sich von mir einen Hinweis, aber ich schüttelte den Kopf. »Näher heran«, sagte ich. »Dann ist es vielleicht möglich!« Uster konzentrierte sich erneut, und die MJAILAM näherte sich den Koordinaten bis auf wenige Lichtstunden. Noch immer war nichts zu erkennen, und der Pilot programmierte eine Kurzetappe mit Fluchtautomatik. »Tyari?« meldete Joscan Hellmut sich. Er stand drüben neben Nockemann. Ticker hatte sich auf seiner Schulter niedergelassen. Ich gab keine Antwort und schloß die Augen. Ich konzentrierte mich, so gut es ging, und senkte zustimmend den Kopf. Die Etappe kam und ging. Wir hielten uns noch immer nicht direkt an den Koordinaten auf. Die Buhrlos mußten jetzt etwas erkennen, wenn es etwas gab. Sie stellten nichts fest, und der Kreuzer blieb auf seinem Kurs und raste mit zwei Dritteln der Lichtgeschwindigkeit durch den Leerraum. Und dann schrien die Buhrlos plötzlich auf. Gleichzeitig empfand ich etwas wie Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, eine Aura, die von einem Lebewesen stammte und einen größeren Raum zu erfüllen schien. »Atlan«, sagte ich und öffnete die Augen. Erschrocken musterte ich die Blitze, die über die Bildschirme zuckten. Angriff! dachte ich, aber Nockemann erkannte besser, was sich abspielte. »Felsbrocken!« rief er aus. »Vorsicht! In Flugrichtung tauchen größere Massen auf!« Sie verglühten in unserem Schutzschirm. Uster Brick hatte bereits den Kurs geändert. Er flog eine Schleife und kehrte um. Er steuerte den Punkt an, an dem der Übergang
erfolgt war. Es war also doch eine Falle. Die Buhrlos hatten keine Schockfront festgestellt. Erst beim Durchdringen hatten sie sie erkannt. Wir befanden uns in einem Gebiet, über dessen Beschaffenheit wir noch keine Hinweise hatten. Zunächst ging es darum, daß wir uns den Rückweg freihielten. Wenn der Gegner uns ließ. »Du empfängst Gedanken«, erriet der Arkonide. Ich nickte und berichtete von meinen Eindrücken und der Traurigkeit, die ich empfand. Ich lauschte und merkte, daß die traurige Stimmung jenes Wesens sich langsam änderte und bald in einer Euphorie mündete. »Es muß mit uns zu tun haben«, meinte ich. »Unsere Ankunft ist von dem Wesen erkannt worden. Es freut sich!« Atlans Miene blieb verschlossen. Ich versuchte, seine Gedanken zu ergründen, aber er ließ sie mich nicht erkennen. Nur ganz kurz glaubte ich die lautlose Frage zu vernehmen: »Wie war das mit Schwammkartoffel?« Egal! wollte ich ausrufen. Ein Ruck ging durch die MJAILAM und ließ die Schiffszelle erdröhnen. Die Andruckabsorber sprangen ein und verhinderten, daß jemand stürzte und sich verletzte. »Wir kommen nicht durch!« rief Uster Brick laut. »Wir sind gefangen!« Es war also tatsächlich eine Falle, in die uns unser Gegner gelockt hatte. Die Buhrlos machten einen niedergeschlagenen Eindruck. Sie hatten die Schockfront erst im Augenblick des Durchdringens erkannt. Es handelte sich um eine der Barrieren, wie wir sie bereits mehrmals erlebt hatten. Diese da aber war wieder anders. Sie ließ das Positive hinein, aber nicht mehr hinaus. Wir waren gefangen wie die Emulatoren auf Solist. »Geschwindigkeit herabsetzen!« sagte Atlan. »Wir dringen langsam in den Raum vor uns ein und untersuchen ihn. Höchste Alarmbereitschaft! Wir müssen jederzeit damit rechnen, daß wir auf
einen Gegner treffen!« Die MJAILAM kehrte um und drang vorsichtig in den Gesteinshaufen ein, der sich nach allen Seiten hin erstreckte. Ab und zu drang diffuser Lichtschein zwischen den Felsen hindurch, der auf eine größere Lichtquelle schließen ließ. Die MJAILAM ortete, und langsam kristallisierte sich ein ungefähres Bild unserer Umgebung heraus. Der Kreuzer flog mitten in einem kugelförmigen Gebilde auf lauter Asteroiden und Planetoiden, das einen Hohlraum umgab, in dessen Mitte eine Sonne leuchtete. Anzeichen auf größere Himmelskörper wie Planeten gab es bisher nicht. Eine seltsame Umgebung war das, und ich wußte nicht, was ich von ihr halten sollte. Auch Atlan und die übrigen Mitglieder des Atlan‐Teams meldeten ihre Bedenken an. »In der Nähe sind Maschinen unterwegs«, rasselte Blödel, der mit der Schiffspositronik in Datenaustausch stand. »Sie sind in dem Gewirr der Felsen kaum wahrnehmbar und haben es leicht, an uns heranzukommen!« Sollten sie ruhig. Unser Schiff war wieder voll einsatzfähig, und wir würden kämpfen, wenn es um den Erhalt der Freiheit ging. »Wir umfliegen den Bereich, in dem sie sich aufhalten!« sagte Atlan. »Sie werden uns in die Höhle des Löwen führen!« Die MJAILAM bahnte sich einen Weg durch die Felsen. Gebannt starrten alle auf die Bildschirme und die Ortungsanlagen. Manchmal waren mechanische Teile erkennbar, die zwischen den Felsen hingen oder sich bewegten. Sie erinnerten an Einzelteile eines Erzsammlers, die ausgeschickt waren, um die Felsbrocken auf ihren Erzgehalt zu prüfen. Übergangslos wichen die Felsen. Wir ließen die Ansammlung der kleinen Brocken hinter uns und befanden uns in einem Bereich, in dem es lediglich Planetoiden zu geben schien. Der Raum zwischen diesen Miniaturplaneten war leer, wenn man von treibenden Wolken kosmischen und interplanetaren Staubs einmal absah.
Da war noch etwas. Außer der Euphorie eines fremden Wesens, die ich empfand, kristallisierten sich plötzlich klare Gedanken aus dem Nichts. Sie waren deutlich und intensiv, das Wesen mußte sich ganz in der Nähe aufhalten. »Vorsicht!« gellte meine Stimme durch die Zentrale. »Da ist etwas!« 3. Kleine Füße tappten die schmale Galerie aus leuchtend rotem Metall entlang. Sie umrundeten das Zentrum der Anlage zweimal, dann schritt das kleine Wesen mit seinem zierlichen Körper davon. Es hatte genug gesehen. Die Konverter arbeiteten zuverlässig, und die Phase der Komprimation wurde von jener der Materialisation abgelöst. Alles, was sich in seine Atome verwandelt hatte, wurde in neuer Form zurückgebildet und den Fertigungsanlagen zugeführt. Es war nicht viel, was in Ellerswiege an technischen Ersatzteilen benötigt wurde. Ab und zu spien die Anlagen einen neuen Energieerzeuger aus, das war auch alles. Es gab nichts, was hätte erneuert werden müssen. Die Verhüttungs‐ und Verschrottungsanlage befand sich in einem tadellosen Zustand. Dafür hatte er Lob verdient. Bleichfinger kehrte in das Steuerzentrum zurück. Das einen Meter und dreißig hohe Geschöpf mit den vier dünnen Armen und den zwei schmächtigen Beinen ließ sich in dem niedrigen Korb aus Metallgeflecht nieder, das ihm als Ruhesitz diente. Es stieß sich mit den Füßen am Boden ab, und der Korb schaukelte in seiner Aufhängung hin und her. Bleichfinger war mit sich und seiner Arbeit zufrieden. Die Sonden und Roboter, die sich draußen außerhalb der Anlage bewegten, hielten ihm die aufdringlichen Kreaturen fern, über die sich der
Erstgeschaffene erhaben fühlte. Sie waren in seinen Augen Fehlschöpfungen. Sie verwüsteten mehr als sie nützten, und er hätte ihnen nie erlaubt, seine Anlage zu betreten. Nur über seine Leiche hätte er ihnen den Zutritt gestattet. Es war noch nie vorgekommen, daß sie ihn belästigt hätten. War es Scheu oder gar Furcht, die sie abhielt? Bleichfinger war es egal. Er massierte mit den dünnen Fingern sein Gesicht, dessen Hautfalten schlaff nach unten hingen. Er bewegte die Noppen seiner Fingerspitzen und ließ der Haut alle nur erdenkliche Aufmerksamkeit zukommen. Es half nichts. Die erschlafften Muskeln erwachten nicht wieder zum Leben. Das Alter hatte sie endgültig müde werden lassen. Oftmals hatte Bleichfinger schon mit dem Gedanken gespielt, seinen Schöpfer zu bitten, ihm einen neuen Körper zu geben. Dann aber rief er sich jedesmal ins Gedächtnis, daß damit auch die Aufgabe der Seele verbunden war. Und Bleichfinger wollte nicht werden wie die, die draußen zwischen den Planetoiden ihr Unwesen trieben. Der Erstgeschaffene löste die Finger von seinem Gesicht und ließ sie über den Körper abwärts gleiten. Da war eine Wölbung nach innen, an der sie verharrten und ihre massierende Tätigkeit wieder aufnahmen. Der eingefallene Bauch zeigte ihm, daß es bald Zeit für die Nahrungsaufnahme war. Bleichfinger hob den eckigen Kopf und rief nach Tomagog. Der Schöpfer antwortete ihm nicht. Er hatte folglich zu tun, und Bleichfinger wartete eine Weile ab, bis er den Ruf wiederholte. Inzwischen hatte sich sein Hungergefühl gemeldet, und feine Krampfwellen durchliefen seinen Bauch. Er erhob sich aus dem Metallkorb und machte erneut einen Rundgang durch das Zentrum der Anlage. Vielleicht befand sich Tomagog in einer seiner Schaffensphasen und hatte keine Zeit für ihn. Einige Zeit später rief er zum dritten Mal nach seinem Schöpfer, und diesmal erhielt er Antwort. Die Freundlichkeit und Zuneigung,
die in den Worten Tomagogs mitschwang, ließ den Körper Bleichfingers erbeben. Er eilte zu seinem Korb und stieg glücklich hinein. Die Aufhängung zitterte ein wenig, dann setzte sich der Schlitten in Bewegung und lief über die eingestellte Weiche auf die Transportschiene vier, die hinaus in die Empfangshalle führte. Der Korb pendelte hin und her, und Bleichfinger schloß seine vier Augen und stellte sich im Geist vor, welche Köstlichkeiten der Schöpfer ihm diesmal wohl zur Fütterung vorwerfen würde. Nach einer Weile öffnete Bleichfinger die Augen. Die Bewegungen des Korbes hörten viel zu früh auf. Der Erstgeschaffene erschrak, als er dicht vor sich einen Bildschirm erblickte und die Stimme einer laufenden Maschine aufklang. »Ein großes, metallisches Objekt ganz in der Nähe«, teilte der Roboter mit. »Es besteht aus bisher unbekannten Legierungen. Eine Untersuchung und Verhüttung wird unbedingt empfohlen.« Bleichfinger sprang aus seinem Korb und starrte den Bildschirm an. Seine Augen traten ihm fast aus dem Kopf, als er das Gebilde sah und die Daten seiner Ausmaße ablas. Er vergaß sein Hungergefühl und hatte nur noch Gedanken für das Objekt. Es mußte von außerhalb der Barriere gekommen sein. Es konnte nicht aus Ellerswiege stammen, hier hätte Tomagog es längst entdeckt. Die Perspektive, die sich auftat, ließ Bleichfinger wohlig erschauern. Endlich ein Zeichen oder ein Signal! Ein bißchen wußte der Erstgeschaffene um die Sorgen und Fragen, die Tomagog immerfort quälten. Vage Bruchstücke der Erinnerung waren es, die sporadisch an die Oberfläche des Bewußtseins des Schöpfers drangen. Manchmal unterhielt er sich mit Bleichfinger darüber oder stellte unverständliche Fragen, die damit zusammenhingen. Zum Beispiel: »Was ist außerhalb der Barriere?« Jetzt schien es, als sollten alle Fragen in Kürze beantwortet werden. Bleichfinger öffnete schon den Mund und seine Gedanken, um nach seinem Schöpfer zu rufen. Er wollte ihm die Neuigkeit sofort
mitteilen. Das würde Tomagog zu größerer Eile bewegen. Er tat es dann doch nicht, weil er seinen Schöpfer kannte. Tomagog würde die Fütterung vergessen und nur noch Aufmerksamkeit für das fremde Gebilde aufbringen. »Macht alles bereit«, wies der Erstgeschaffene die Roboter an. »Wir fangen das Gebilde ein. Sobald wir es untersucht haben, werde ich Tomagog berichten!« Bis dahin mußte der Schöpfer auch mit der Nahrung eingetroffen sein. Bleichfinger würde ihn mit der Neuigkeit überraschen und ihn damit aufmuntern. Zwar befand sich der Schöpfer gerade in einem Stadium steigender Euphorie, aber sie würde bald tiefer Niedergeschlagenheit weichen, wenn Tomagog sich auf dem Weg befand und von seinen eigenen Geschöpfen verfolgt wurde. Bleichfinger steuerte seinen Korb in das Zentrum zurück. Er beobachtete die Vorbereitungen und lenkte die Sonden und Roboter, die in dichten Schwärmen zwischen den Felsen flogen und ihrer Arbeit nachgingen. Von einem Abschnitt der Asteroiden zog er sie ganz zurück, und kurz darauf setzte sich das riesige Gebilde dorthin in Bewegung. Es folgte dem Weg, den der Erstgeschaffene ihm ließ. Kurz darauf erhielt er auch die ersten brauchbaren Bilder von dem riesigen Ding. Es ließ sich überhaupt nicht mit dem winzigen, schrottreifen Schiff vergleichen, das Tomagog besaß, und mit dem dieser manchmal Ausflüge in die Nähe der Sonne oder der Barriere unternahm. Da Tomagog sich auf und zwischen den Planetoiden und im Leerraum darum herum frei bewegen konnte wie jedes seiner Geschöpfe, war das kleine Schiff überflüssig. Mehrmals hatte Bleichfinger den Schöpfer darauf angesprochen, den Schrotthaufen in die Anlage zu überführen. Tomagog hatte es abgelehnt und davon gesprochen, daß es ein Relikt sei. Es erinnerte ihn wohl an die Zeit davor. Das große Gebilde war auch ein Raumschiff. Es zog einen leuchtenden Schweif ionisierter Gase hinter sich her und hatte sich
in einen starken Kombinationsschirm gehüllt. Für herkömmliche Waffen war es ziemlich unangreifbar, aber Bleichfinger besaß andere Möglichkeiten. Er wartete den günstigsten Zeitpunkt ab, dann erteilte er den Befehl, das Netz auszuwerfen. Die Sonden und Roboter zwischen den Felsen erwachten zu hektischem Leben. Sie setzten dem Kugelschiff nach und umgaben es wie eine Schale ihre reife Frucht. In der Flugrichtung tauchten große, positronisch gesteuerte Felsen auf. Bleichfinger gab die Energie frei, die er für den Vorgang benötigte. Seine Gedanken waren jetzt besonders intensiv, und er verdrängte den aufsteigenden Hunger erneut. Viele tausend Traktorstrahlen griffen nach dem Schiff, das sich sofort wehrte. Seine Triebwerke spuckten höllisches Feuer aus, aber da war das gewebte Netz aus schwerer Energie bereits vollständig. Das Kugelschiff war gefangen, und Bleichfinger dirigierte seine Roboter zur Anlage zurück. Sie schleppten das Schiff mit sich, und die Positronik teilte dem Erstgeschaffenen mit, daß die Kugel versuchte, eine Funkverbindung herzustellen. Bleichfinger reagierte nicht darauf. Wozu sollte er eine Antwort geben. Es stellte sich früh genug heraus, ob Maschinen in seinem Innern waren oder lebende Wesen, an denen Tomagog seine helle Freude haben würde. Vorsichtig bugsierten die Sonden und Roboter das Schiff herbei. Der Erstgeschaffene öffnete einen Teil seiner Anlage, die zur Zeit unbenutzt war. Er ließ das gefangene Schiff in eine der Lagerhallen im Innern schaffen und schloß den Planetoiden über ihm. Dann erst schaltete er die Energie des Traktornetzes ab, und das schimmernde Gespinst erlosch. Augenblicklich dröhnten die Triebwerke des fremden Schiffes auf, glühte der Schutzschirm in Verderben bringender Energie. Bleichfinger lachte nur. Es war unmöglich, aus der Anlage auszubrechen. Das Schiff erkannte das auch. Die Triebwerke erloschen und kühlten rasch ab. Nur der Schutzschirm blieb
bestehen, aber auch dieser würde Bleichfinger auf Dauer keine Probleme bereiten. * Zwei Stunden warteten wir, ohne daß etwas geschah. Niemand ließ sich blicken, und die MJAILAM fuhr die Landestützen aus und sank dem Boden entgegen. Federnd kam sie zur Ruhe, und das Antigravfeld, das den Kreuzer bisher gehalten hatte, erlosch. Es war nicht viel, was wir über die seltsame Anlage herausgefunden hatten. Sie diente der Verhüttung von Erz, und es war möglich, daß sie auch als Reparaturwerft für Raumschiffe verwendet werden konnte. Daß es solche in dem System der kleinen Sonne gab, wagte ich jedoch zu bezweifeln. Insgesamt besaß das von der Schockfront eingehüllte Sonnensystem höchstens zehn Millionen Kilometer Durchmesser. Es war sogar möglich, daß die Traktorstrahlen unsere Meßgeräte beeinflußt hatten und es wesentlich weniger war. »Wir brechen auf!« sagte Atlan. Ich senkte zustimmend den Kopf und schloß den Kampfanzug. Nur den Helm ließ ich noch auf dem Rücken baumeln. Joscan Hellmut, der nicht mitging, warf den rechten Arm nach oben. Ticker flog auf und segelte majestätisch durch die Zentrale. Er kam zu mir herüber und ließ sich an meinem Rücken nieder. Das große adlerähnliche Geschöpf vom Arsenalplaneten war schwer und drückte mich regelrecht zu Boden. Ich regulierte den Mikrogravitator an meinem Gürtel. Die zusätzliche Belastung verschwand. »Hage, Blödel, alles klar?« fragte ich. Nockemann machte ein grimmiges Gesicht. Der kauzige Wissenschaftler machte in dem Kampfanzug überhaupt nicht den Eindruck eines Kämpfers, und sein Roboter wirkte weit gefährlicher. Ich sah mich um. Unter dem Eingang standen sechs Solaner und
Solanerinnen, die uns begleiten wollten. Atlan hatte sich ausbedungen, daß die Gruppe nicht mehr als zehn Personen haben sollte. Unsere Aufgabe bestand darin, zunächst die nähere Umgebung der Halle zu erkunden, in der wir steckten. Ein Ausbruchsversuch war von Anfang an sinnlos gewesen. Die MJAILAM kam nicht gegen Stahl und Fels an, der einen Kilometer dick war. Wir brachen auf. In die Individualschirme gehüllt, verließen wir den Kreuzer durch die Bodenschleuse. Ein Antigravfeld beförderte uns auf den Boden hinab. Wir hielten unsere Strahler schußbereit und sicherten nach allen Seiten. »Dort hinüber!« Atlan deutete in den Hintergrund der Halle, wo ein dunkler Fleck eine Tür vermuten ließ. Wir stürmten hinüber und zerstrahlten das Metallschott, da sich kein Öffnungsmechanismus erkennen ließ. »Helme schließen und Funk einschalten«, ordnete der Arkonide an. Wir folgten der Weisung augenblicklich. Keiner konnte sagen, was wir in dem Planetoiden antreffen würden. Es war schon verwunderlich genug, daß atembare Luft in die Halle gepumpt worden war und die umliegenden Sektoren ebenfalls kein Vakuum aufwiesen. Wir traten auf einen Korridor, der mit einer leichten Krümmung von unserem Gefängnis wegführte. Alles war still. Atlan hatte sich an unsere Spitze gesetzt. Er schritt den Korridor entlang, der an einer Tür endete, die ein Wärmeschloß besaß und nach der Berührung lautlos zur Seite glitt. Eine Art Steuerraum lag vor uns. Wir eilten hinein und verteilten uns an der Wand entlang. Der Raum war leer. Ein paar Lichter blinkten in dunklem Violett, das in den Augen schmerzte. Ich schaltete den UV‐Filter meiner Helmscheibe ein und riet meinen Gefährten, dasselbe zu tun. »Es sieht nicht aus, als sei dieser Raum benutzt«, sagte ich. »Was meint ihr?«
Blödel setzte sich in Bewegung. Er näherte sich den Schaltanlagen und musterte sie aus seinem einen Kameraauge, das mitten in seinem Kopf saß. Mit einem seiner Tentakel winkte er Nockemann zu sich. Die beiden flüsterten miteinander. Es war eine fremdartige Technik, und ich verglich sie mit der, die wir im Innern von Schwammkartoffel vorgefunden hatten. Auf Anhieb konnte ich keine Übereinstimmung feststellen, aber das besagte nichts. Die nächstliegende Möglichkeit, die ich einem aufdrängte, war jedoch die, daß eine einheimische Intelligenz für die Anlagen verantwortlich zeichnete. Ich konzentrierte mich erneut und lauschte auf Gedankenimpulse. Das Wesen, das ich gespürt hatte, schien sich entfernt zu haben. Oder es dachte nicht mehr so intensiv. Seine Gedanken wurden von der Stimmung überlagert, die ich seit dem Durchdringen der Schockfront empfand. Das verursachende Wesen befand sich in einer depressiven Phase, und ich bemitleidete es. »Was ist das dort hinten?« Einer der Solaner rief es aus. Er deutete in einen Winkel des Raumes, in dem ein Licht blinkte, das wir bisher nicht bemerkt hatten. Atlan ging hinüber und betastete einen Mechanismus, und sofort schwenkte die Wand zur Seite. Dahinter lag ein Schacht, und der Arkonide ließ seine Waffe in das Feld gleiten und verfolgte, wie sie gleichmäßig aufwärtsglitt. »Wir bleiben zusammen«, sagte er und betrat den Antigravschacht. Mir ging das alles viel zu reibungslos. Es paßte nicht zu dem Bild, das wir uns alle von der Gefährlichkeit unseres Gegners machten. Wir saßen in einer Falle und konnten die Schockfront nicht durchdringen. Man hatte uns in einen Planetoiden gesperrt, um uns unsere Bewegungsfreiheit zu rauben. Und jetzt schien man mit einemmal kein Interesse mehr an uns zu haben? Es machte doch den Eindruck, als bliebe unser Verlassen der Halle unbemerkt. Wir schwebten hinauf, bis der Schacht zu Ende war. Ich
beobachtete den Höhenmesser an meinem Gürtel. Er zeigte etwas über tausend Meter an. Nach meinem Dafürhalten mußten wir dicht unter der Oberfläche des Planetoiden sein. »Die Gedankenimpulse werden intensiver«, sagte ich zu Atlan, der seine Waffe an sich nahm. »Aber sie entfernen sich. Das Wesen denkt nur ans Essen. Es hat starken Hunger und ist ungehalten, daß wir seine Nahrungsaufnahme verzögert haben. Es freut sich aber auch, daß es seinem Schöpfer eine Überraschung bereiten kann.« »Überraschung?« dehnte Atlan. »Wir sind also eine Überraschung?« »Nicht direkt. Das Wesen weiß nicht, ob Lebewesen in dem Schiff sind oder nur Maschinen. Es hat wohl mehr an dem Schiff Interesse. Das erklärt zum Beispiel, warum wir auf kein Hindernis stoßen. Das Wichtigste aber ist, daß seine Gedanken positiv sind!« »Das ist wirklich eine Überraschung!« Das war Nockemanns Stimme. Ich konzentrierte mich, während ich hinter Atlan aus dem Schacht sprang und ein paar Schritte in den vor uns liegenden Korridor machte, um den Nachfolgenden das Aussteigen zu ermöglichen. »Die Überraschung besteht darin, daß wir von außen kommen«, sagte ich. »Von außerhalb der Barriere. Mehr kann ich nicht sagen. Das Wesen befindet sich jetzt in einem Bereich starker psionischer Interferenzen. Ich kann seine Gedanken nur verschwommen erkennen!« »Das habe ich nicht erwartet«, gestand der Arkonide. Niemand hatte es erwartet. »Es gibt also hier positive Wesen, die keinen Kontakt mit draußen haben. Gefangene? Tyari, kannst du erkennen, ob es sich bei dem Wesen um einen Emulator handelt?« Er dachte an unsere Erlebnisse auf Solist und fragte sich, ob es sich bei diesem Schockfronten‐System ebenfalls um ein Gefängnis handelte. Dann bedeutete es, daß der Gegner sich nicht unbedingt hier aufhielt, sondern sich damit begnügte, uns hierhergelockt zu haben.
»Eher ist sein Schöpfer der Emulator«, erwiderte ich, aber Atlan konnte damit nichts anfangen. Er machte sich von einem Emulator ganz bestimmte Vorstellungen. Ein Emulator war die Verkörperung des Positiven in einem negativen Volk. Von einem Volk hatten wir in dem Asteroidenhaufen noch nichts gemerkt, und ich vermißte die psionische Ausstrahlung, die die Individuen eines ganzen Volkes besaßen. »Es hat keinen Sinn, uns jetzt darüber Gedanken zu machen«, sagte ich. »Das Wesen nähert sich uns. Es sucht seinen Eßplatz auf und vermutet nicht im geringsten, daß wir seinen Weg kreuzen!« Atlan hob sofort die Hand. Wir blieben stehen, die Waffen im Anschlag. Wir hatten schon erlebt, daß selbst positive Wesen ungemein abweisend reagieren, wenn sich Fremde in ihrem Lebensraum blicken ließen. Ein Vertreter einer negativen Macht, wie wir sie erwarteten, war das hungrige Wesen auf keinen Fall. Und genau jene Macht suchten wir. Durch die Emulatoren und die Grenzwächter war uns klar geworden, daß hinter diesen eine Macht stand, die sich nicht zeigte. Ihr Ziel war es, die negativen Kräfte in der Namenlosen Zone zu erhalten und zu stärken. Die Grenzwächter hatten es nicht mehr ertragen, Befehlsempfänger negativer Wesen zu sein. Sie hatten kollektiven Selbstmord begangen. Die Grenzen waren jetzt unbewacht, und wir konnten nur hoffen, daß dadurch der Gegner einem Problem gegenüberstand, das ihn von einem harten Angriff gegen uns ablenkte. Wie es derzeit aussah, war das eine unberechtigte Hoffnung. Die Möglichkeit, daß er uns in die Falle gelockt hatte, war noch immer die wahrscheinlichste, wenn auch manche Anzeichen dafür sprachen, daß Chybrain uns den Tip gegeben hatte. Das leuchtende Ei war jedoch nirgends zu entdecken. Atlan war der Ansicht, daß Chybrain die Lage durch sein Verhalten nur komplizierte. Er wollte sich rehabilitieren und den Makel eines Bastards wegwischen. Er wollte den positiven Mächten
zeigen, daß er ein vollwertiges Mitglied in ihrem Kreis war. Die Gedanken des Wesens waren jetzt ganz nahe. Ich nickte auf Atlans fragenden Blick. Es befand sich hinter einer der Wände. Eine Tür öffnete sich. Das Wesen kam zum Vorschein. Es sah uns und blieb wie versteinert stehen. Seine Gedanken bildeten unverständliche Wirbel. Atlan sagte etwas, aber das Wesen schien ihn nicht zu hören. Seine vier Augen quollen auf, und die Arme zeigten anklagend auf uns. Dann stieß es in rascher Reihenfolge Lautfolgen aus. Der daumengroße Translator, der an einer Schleife an meinem linken Ohr hing und von den meisten Solanern als Schmuckstück angesehen wurde, nahm seine Arbeit auf. Noch hatte er zu wenige Anhaltspunkte für eine exakte Analyse. »Sprich mit ihm!« forderte ich Atlan auf, als das Wesen verstummte. Es warf sich zu Boden und bedeckte den Kopf mit zweien seiner Arme. Der Grund lag in Ticker. Der Vogel hatte sich von meinem Rücken gelöst und segelte dicht über dem Wesen den Korridor entlang. Er machte nach fünfzig Metern kehrt und landete unmittelbar hinter dem Wesen, das mir nur bis knapp über den Bauchnabel ging. Atlan versuchte alles, aber das Wesen blieb stumm. Reglos lag es auf dem Boden. Es hatte Angst, und ich beugte mich über es und hob es auf. Es war leicht wie Papier und zappelte, um sich loszureißen. Leider war es nicht telepathisch begabt, so daß ich zwar seine Gedanken empfangen konnte, es jedoch nicht beruhigen konnte. Nach langen Minuten des Wartens endlich begann es wieder zu reden. Die fremden Worte sprudelten wie ein Wasserfall aus seinem breiten Mund, hinter dem stumpfe Zahnstummel zu erkennen waren. Das Wesen zeterte und rief andauernd Tomagog um Hilfe. »Tomagog heißt sein Schöpfer!« sagte ich kurz darauf. »Und mein Translator ist soweit. Wir können anfangen!« »Sprich du mit ihm«, forderte Atlan mich auf.
»Hab keine Angst«, begann ich vorsichtig, und die Lautsprecher meines Anzugs übertrugen die Worte des Translators. Ich klappte zusätzlich meinen Helm zurück, damit das Wesen mich besser betrachten konnte. Es war nackt und von unbestimmbarem Geschlecht. Seine Haut schimmerte gelblich, und die Finger mit den Fingerspitzen waren weiß und teilweise durchsichtig. »Laßt mich gehen«, zeterte das Wesen. »Bleichfinger muß sonst verhungern!« Zwei seiner Hände deuteten auf einen Körperteil, der nach innen gewölbt war. Sollte das der Magen sein? »Wir wollen nicht, daß du verhungerst«, erwiderte ich. »Aber warum hast du uns gefangen? Wir haben dir nichts getan! Du mußt uns die Freiheit zurückgeben!« »Nein, nein«, pfiff Bleichfinger. »Tomagog wird euch Fragen stellen. Von euren Antworten wird es abhängen, was er mit euch tut. Er kann euch gut verwenden. Tomagog ist der Schöpfer! Ich bin nur einer der Erstgeschaffenen, der letzte von ihnen, der noch lebt. Laßt mich ziehen, damit ich nicht verhungere!« Ich ließ Bleichfinger los, und er zog sich hastig in den freien Raum zurück, der ihm zwischen Atlan und Ticker blieb. Ich las in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch. »Bleichfinger steuert die Verhüttungs‐ und Verschrottungsanlage«, sagte ich. »Er erhält sein Futter und wird zu diesem Zweck die Anlage verlassen!« »Auch wir wollen die Anlage verlassen«, nickte Atlan. »Es ist das beste für dich, Bleichfinger, wenn du unserem Schiff die Freiheit zurückgibst!« Das Wesen streckte sich. Es näherte sich Atlan, wendete aber plötzlich und rannte los. Es sprang über Ticker hinweg und war im nächsten Augenblick durch die Tür verschwunden, durch die es gekommen war. Ich verfolgte seine Gedanken und erkannte, daß Bleichfinger nicht gewillt war, uns freizugeben. Er dachte an den Steuerraum.
»Ich fürchte, wir müssen uns an Tomagog direkt wenden«, sagte Atlan. Nockemann brummte etwas vor sich hin, und Blödel wedelte mit einem Tentakel, dem er bis auf seine maximale Länge von zwei Metern ausgefahren hatte. »Hage!« rief ich aus. »Jetzt zeigt mal, was ihr beiden könnt. Wir suchen den Steuerraum auf. Wenn ich richtig verstanden habe, liegt er ganz in der Nähe!« Atlan hob die Augenbrauen, dann lächelte er. Er wußte, daß ich Bleichfingers Gedanken gründlich erforscht hatte. »Das wäre ja gelacht, wenn …«, ratterte Blödel, aber Nockemann schnitt ihm das Wort ab. * Wir folgten Bleichfinger durch die noch offene Tür. Wir gelangten in einen Parallelkorridor. Hinweise, in welche Richtung wir uns wenden sollten, gab es keine. Lediglich an der Decke verlief eine Schiene, die ich als Führung eines Beförderungsmittels interpretierte. Wir wandten uns nach links, wo wir das Steuerungszentrum vermuteten. Nach kurzem Suchen kamen wir an ein Tor, hinter dem eine Galerie lag, die rot leuchtete. Es war keine aufgetragene Farbe. Das fremdartige Metall, aus dem die Galerie gebaut war, besaß diesen Ton. Ich trat an die vorhandene Brüstung und blickte in die Tiefe hinab, wo eine Maschinerie zu erkennen war, die mit leisem Brummen ihre Arbeit verrichtete. Wir hatten uns nicht getäuscht. Das war das Zentrum der Anlage, und der Steuerraum mußte ganz in der Nähe sein. Nach kurzem Suchen fanden wir den Eingang. Der Raum ähnelte in weiten Teilen dem, den wir in der Tiefe des Planetoiden gefunden hatten. Es gab ein paar Maschinen und Terminals mehr, und zwischen ihnen standen Roboter, die sich bei unserem Anblick in
Bewegung setzten. Ich sah Atlan aufatmen. Ein kurzer Gedankenimpuls von ihm erreichte mich. Er hatte insgeheim erwartet, Roboter in Zeckenform vorzufinden. Die böse Macht in der Namenlosen Zone baute alle ihre Schiffe und künstlichen Geschöpfe in der Form ihrer eigenen Körper. Die Roboter, die auf uns zurollten, wiesen unterschiedliche Formen auf. Sie waren tonnen‐ und röhrenförmig, setzten sich aus mehreren Kugeln zusammen oder bestanden aus Quadern des rötlichen Metalls. Zeckenförmige waren keine darunter. Dicht vor uns hielten sie an. »Geschöpfe Tomagogs«, klang eine mechanische Stimme auf. Mein Ohrtranslator übersetzte sie für alle verständlich. »Ihr dürft hier nicht eintreten. Ihr seid im Bereich der Ruhe und des Friedens!« Atlan hob verwundert die Augenbrauen. Auch mich beschlich ein ungutes Gefühl. Alles war hier anders, als wir es erwarteten. Bleichfinger war friedlich, die Roboter verhielten sich nicht aggressiv, und jenes Wesen, das vielleicht mit Tomagog identisch war, machte abwechselnd Phasen der Euphorie und Depression durch. Das war nicht mit dem feindlichen Verhalten des Gegners zu vereinbaren, den wir erwarteten. Sollte vielleicht doch Chybrain …? »Wir gehen sofort wieder«, sagte Atlan jetzt. »Aber zuvor müssen wir den Planetoiden öffnen, damit unser Haus die Oberfläche erreichen kann!« »Haus«, knarrte der Roboter. »Die Metallkugel ist ein Haus!« »Ja«, fiel ich schnell ein. »Ist es dir nicht bekannt, daß manche Geschöpfe in Häusern wohnen?« »Nicht in Ellerswiege«, stellte die Maschine fest. »Nicht jetzt!« Mir kam ein Gedanke. Bleichfingers Aussagen brachten mich darauf. Ich wußte nicht, wie lange es her war, daß die meisten der Erstgeschaffenen gestorben waren. Ich beschloß, es frech zu wagen.
»Wir sind Zweitgeschaffene«, eröffnete ich dem Roboter. »Wir sind zurückgekehrt, weil wir eine Aufgabe abgeschlossen haben. Wir haben frohe Botschaft für Tomagog!« »Botschaft für Tomagog«, ratterte ein anderer Roboter. »Zweitgeschaffene. Dann hat Bleichfinger sich geirrt.« Die Roboter schwiegen. Dann kreisten sie uns ein, und ihr Sprecher sagte: »Wenn ihr nach Bleichfinger geschaffen worden seid, warum hat er euch nicht erkannt?« Ich erschrak. Das hatte ich nicht bedacht. Ich erkannte, daß in diesem Augenblick unser Schicksal an einem seidenen Faden hing. »Tomagog hat uns heimlich erschaffen und in die Ferne geschickt«, antwortete ich. »Vielleicht kann er sich nicht einmal selbst erinnern!« Es war ein Bluff, aber seltsamerweise meinte der Roboter: »Es ist lange her. Die Erinnerung des Schöpfers ist nicht die beste!« Sie ließen von uns ab und führten uns zu einem der Terminals. »Wir werden tun, was ihr verlangt«, meinte der Sprecher. »Euer Haus soll frei sein. Es kann Ellerswiege sowieso nicht verlassen. Geht zu Tomagog. Er soll entscheiden, was mit euch geschieht!« Bildschirme leuchteten auf und zeigten die Halle, in der die MJAILAM stand. Eine Funkverbindung mit Hellmut kam zustande, und Atlan bereitete den Solaner darauf vor, was die Vorgänge zu bedeuten hatten. »Fliegt hinaus und wartet dicht über dem Planetoiden auf uns«, sagte der Arkonide. »Wir kommen zu Fuß!« Joscan Hellmut bestätigte. Wir sahen, daß der Kreuzer ein wenig in die Luft stieg und die Landestützen einfuhr. Ein Rumoren setzte ein und drang bis zu uns in den Steuerraum. Ein zweiter Bildschirm zeigte die Decke der Halle. Sie öffnete sich langsam, die Luft war offensichtlich schon abgesaugt worden. Der Spalt wurde immer größer und bildete einen langen Schnitt. Die MJAILAM stieg aufwärts und verschwand darin. Kurz darauf
traf die Meldung ein, daß sie draußen war. »Zeigt uns eine Schleuse!« verlangte Atlan. Einer der Roboter begleitete uns, und kurz darauf hingen wir in der Beinahe‐ Schwerelosigkeit über dem Planetoiden und trieben auf die MJAILAM zu. Ticker hing flach an meinem Rücken unter dem Individualschirm. Es war komisch. Was wir erlebten, ließ sich nicht einordnen. Vergleiche mit Schwammkartoffel oder Solist waren plötzlich hinfällig, und die Nachdenklichkeit, mit der Atlan kurz darauf den Kreuzer betrat und die Zentrale aufsuchte, sprach Bände. »Chybrain«, sagte er nach einer Weile. Die MJAILAM driftete bereits davon, und niemand hinderte sie daran. »Vielleicht hat er uns doch absichtlich an diesen Ort gelockt. Aber warum?« Die nächstliegende Möglichkeit war, daß er selbst ein Gefangener dieses seltsamen Sonnensystems war, das die Roboter als Ellerswiege bezeichnet hatten. Dann war hier etwas Bedeutsames zu finden. Wir berichteten den Zurückgebliebenen, was wir erlebt hatten. Am Schluß sagte Atlan: »Wir müssen das System erkunden, bevor wir etwas unternehmen. Solange uns die Übersicht fehlt, sind wir benachteiligt!« Die MJAILAM nahm Fahrt auf und driftete von der Verhüttungsanlage hinweg. Sie ließ den äußeren Mantel aus vielen Millionen kleiner Felsbrocken und Asteroiden hinter sich und flog in Richtung des Zentralgestirns, das sich als kleine, weiße Sonne entpuppte. Der größte Teil des Leerraumes zwischen den Asteroiden und dem sonnennahen Raum wurde von Planetoiden ausgefüllt, Himmelskörpern mit geringer oder keiner Luftschicht und mit Durchmessern von dreihundert bis zweitausend Kilometern. Sie bewegten sich in Ringen um ihren Stern und waren energetisch tot bis auf einen einzigen. »Er muß das Schaltzentrum dieses Systems sein. Es gibt keine andere Möglichkeit«, meinte Nockemann. Er hatte Mühe, Blödel zu
beschwichtigen, der es nicht verwinden konnte, daß er im Innern der Verhüttungs‐ und Verschrottungsanlage nicht zum Zug gekommen war. »Ich empfange Gedankenimpulse«, stieß ich hervor. »Viele Impulse. Ich kann sie nicht zählen. Es sind mehr, als wir Himmelskörper sehen. Sie sind alle bösartig!« Atlan holte tief Luft. Sein Blick sagte: Ich habe es gewußt. Es ist doch eine Falle. Und im Schaltzentrum halten sie Chybrain gefangen! »Es sind negative Wesen, die ein gutes jagen!« rief ich. »Wir müssen helfen!« Der Emulator! Es konnte sich bei dem Gejagten nur um einen Emulator handeln! Alle dachten wir das und verhielten uns entsprechend. Uster Brick beschleunigte die MJAILAM und flog in die Richtung, die ich ihm wies. Er steuerte den Kreuzer zwischen den Planetoiden hindurch, als sei er hier zu Hause. »Ortung!« sagte der Kleine wenig später. »Eine Vielzahl von Wesen kommt auf uns zu!« Ich schrie auf. Die depressive Stimmung, die ich die ganze Zeit wie ein Hintergrundrauschen dieses Sonnensystems empfangen hatte, konzentrierte sich kegelförmig in Flugrichtung. Dort war die Quelle, und kurz darauf erkannte ich auch die Gedankenimpulse, die zu dieser Grundstimmung gehörten. Das Wesen flog in panischer Angst, es fürchtete um sein Leben und um seinen Drang, ohne daß ersichtlich war, um welche Art Drang es sich dabei handelte. Hage Nockemann beobachtete die Ortungsgeräte. Er kniff die Augen zusammen und fuhr sich mehrmals durch die langen, grauen Haare. Blödel assistierte ihm. »Keine energetische Aktivität«, schrillte der Roboter. »Keine Metallortung!« Die MJAILAM flog jetzt parallel zu den Körpern, deren
Wärmeechos deutlich auszumachen waren. Es handelte sich um den Verfolgten und eine Gruppe von über vierzig Verfolgern. Sie eilten durch den Leerraum, ohne ihre Geschwindigkeit sichtbar zu verändern. Ein leuchtendes Gespinst bildete die Spitze, von ihm kamen auch die panischen Gedanken. »Uster, beeile dich!« sagte ich. »Es bleibt wenig Zeit!« Uster Brick ließ den Pulk hereinkommen. Entsetzensrufe klangen auf. Die Optikortung bestätigte, was Blödel bereits ansatzweise erkannt hatte. Die Wesen, die dort kamen, benutzten keine Raumanzüge. Sie waren weltraumtauglich. Der Kreuzer glich seine Geschwindigkeit an und schob sich langsam zwischen Verfolger und Verfolgten. Eine Schleuse öffnete sich, und ein Traktorstrahl holte das Gespinst an Bord. Augenblicklich veränderten sich dessen Gedankenimpulse. Sie beruhigten sich und machten der Erleichterung Platz, ohne daß die depressive Stimmung gewichen wäre. Kurz darauf brachten sechs unbewaffnete Solaner das Wesen in die Zentrale. Ein Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden, und Joscan Hellmut flüsterte mir ins Ohr. »Ist es wirklich intelligent?« wollte er wissen. Ich nickte heftig. Atlan trat einen Schritt vor und begann zu sprechen. Der Translator übersetzte seine Worte in das Idiom, das wir von Bleichfinger kannten. Fasziniert betrachtete ich das fremdartige Wesen, das wir gerettet hatten. Sein Körper strahlte in goldenen Farbnuancen. Er bildete eine Art Zopf aus etlichen tausend Fäden, die miteinander verknotet waren. Darum herum hing ein Gespinst aus feinen Tentakeln, die im geringsten Lufthauch zitterten. Ein Kopf oder Sinnesorgan waren nicht erkennbar. Und doch dachte das Wesen, und ich entnahm seinen Gedanken, daß es auch sah und hörte. »Willkommen!« wiederholte Atlan jetzt. »Wer bist du? Warum verfolgen dich diese negativen Existenzen? Wie können wir dir helfen?«
Und Nockemann fügte hinzu: »Weißt du den Aufenthalt von Tomagog, dem Schöpfer?« Das Wesen zitterte stärker. Nichts war zu hören, und ich verfolgte die aufgeregten Gedanken. Angesichts der vielen Fremden und den Konsequenzen, die ihr Auftauchen mit sich brachte, verschlug es dem goldenen Gespinst die Sprache. Es erging ihm nicht viel besser als Bleichfinger. »Ja, er weiß den Aufenthalt, Hage«, sagte ich. »Du wirst kaum glauben, woher!« 4. Ein helles Singen drang an Tomagogs Ohren. Der Schöpfer hatte ein solches Geräusch noch nie zuvor vernommen. Nichts gab es in Ellerswiege, das so etwas verursachen konnte. Augenblicklich hielt der Herr über Ellerswiege an. Reglos blieb er zwischen den Planetoiden hängen. Da war es wieder. Es kam von 3377, von seinem Badeplatz. Der Planetoid 3377 gehörte zu den Felswelten, die den innersten Rand der Felsenringe bildeten. Sie lag unter dem Licht der weißen Sonne und wurde ständig und umfassend erwärmt. Hier zog sich Tomagog in die flachen Hochebenen zurück, wenn er ein Sonnenbad nehmen wollte. Die Energie des Sterns stärkte ihn und verlieh ihm in mancher Phase der Niedergeschlagenheit neuen Mut. Ein Ächzen kam auf. Tomagog fühlte Panik in sich aufsteigen. Er drehte seinen Körper und setzte den Weg durch den Leerraum mit erhöhtem Tempo fort. 3377. Sie machten etwas mit 3377. Das durfte nicht geschehen. Wie ein Pfeil glitt der Schöpfer zwischen den Felswelten hindurch und steuerte seinen Badeplatz an. Der Planetoid tauchte schräg unter ihm auf, und er leuchtete silbern im Sonnenlicht. Staub stieg von ihm auf, und das Ächzen stellte sich als Splittern heraus. Der
Planetoid bebte und schüttelte sich. »Hört auf!« schrie Tomagog, so laut er konnte. »Laßt ab. Ihr dürft das nicht!« Er hatte 3377 fast erreicht und umrundete ihn einmal. Überall sah er nur Staub und Steingeglitzer und die Schatten der Geschöpfe, die ihre Wut an dem Himmelskörper ausließen. Tomagog erblickte auch welche, die gegeneinander kämpften. Er beobachtete aufgeregt, wie mehrere der Kreaturen ihr Leben aushauchten und sich wertvoller synthetischer Lebenssaft in den Staub seines Badeplatzes ergoß. Der Schöpfer schüttelte sich. Niemals mehr würde er ihn benutzen können. Er ekelte sich vor dem, was sich abspielte. 3377 brach auseinander. Der Planetoid wurde von den Geschöpfen zerstört. Deutlich erkannte Tomagog die vier Wesen, die er erst vor kurzer Zeit aus dem Synthetikon entlassen hatte. Das Chaos! hämmerten seine Gedanken. Du kannst dein Reich nicht unter Kontrolle halten. Alles bricht auseinander. Ellerswiege wird untergehen! In panischer Angst und beinahe von Sinnen jagte Tomagog davon. Er wollte es nicht weiter mit ansehen, er ertrug es nicht. Ellerswiege, das ihm seine einzige Heimat war, sein einziger Halt, durfte nicht zerstört werden. Verzweifelt fragte sich der Schöpfer, was zu tun war. Er mußte die jüngsten Kreaturen beseitigen, um seine Welt zu retten. Er durfte keine neuen Lebewesen schaffen. Hinter ihm krachte und prasselte es. 3377 war endgültig verloren. Die Bruchstücke flogen nach allen Seiten davon. Sie verteilten sich bis hin zu den benachbarten Felswelten und schwenkten teilweise in Umlaufbahnen ein. Manche stürzten auch auf die Oberfläche hinab und rissen Kraterwunden. Die ganze Tragik von Ellerswiege war Tomagog jetzt gegenwärtig. Er hatte Bleichfinger und seine Fütterung längst wieder vergessen und dachte nur noch daran. Er wußte nicht, warum er ohne Unterlaß neue Geschöpfe erzeugte.
Der Drang kam tief aus seinem Innern. Er war ein Teil seines Lebens und seine einzige sinnvolle Aufgabe in seinem Reich. Er erinnerte sich, daß er kurz nach dem Anfang noch Befehle gegeben hatte, die von seinen Geschöpfen befolgt worden waren. Es war lange her, und inzwischen erwies sich die Situation als unhaltbar. »Warum schaffe ich?« dachte Tomagog für sich. »Hängt mein Leben davon ab? Hoffe ich noch immer, daß eines Tages doch einmal ein positives Wesen entsteht, das mir hilfreich ist?« Immer negativer wurden seine Geschöpfe, immer bösartiger. Von Mal zu Mal machten sie ihm mehr zu schaffen, und er litt unter der Erkenntnis. Und er sehnte sich nach der nächsten Phase, in der ihn sein innerer Drang so in Anspruch nahm, daß er sein Leid für kurze Zeit vergaß. Ohne diese Phasen hätte er das Leben in Ellerswiege nicht mehr ertragen können. Tomagog achtete nicht darauf, wohin ihn sein Kurs führte. Als er feststellte, daß er sich außerhalb des äußersten Felsenringes in unmittelbarer Nähe der Barriere befand, erschrak er und verlor fast sein Bewußtsein. Ziellos irrte er umher, bis er sich wieder gefangen hatte. Er zog sich zurück. Die Grenze war unüberwindlich. Niemand konnte hindurch, und doch war es Tomagog, als stimme diese Erkenntnis nicht. Von innen nach außen war sie undurchdringlich. Selbst die gefährlichsten seiner Geschöpfe bissen sich daran ihre synthetischen Zähne aus, mit denen sie Steine und anderes zermalmten. Der Schöpfer kehrte in das Innere seiner Welt zurück und eilte zwischen den Planetoiden entlang. Seine Depression ließ ein wenig nach, und er suchte rasch die Schluchten von 125 auf, um sich dort in Ruhe auf seine Aufgaben vorzubereiten. Er kannte die Anzeichen seines Dranges, und ihm wurde immer wohler. Kurzfristig änderte er den Kurs und steuerte die Überreste von 3377 an. Er suchte die Körper der toten Kreaturen zusammen und schleppte sie in einem Gespinst aus vielen tausend Externitäten mit sich.
Ein Bild entstand vor seinen Augen. Er stellte sich ein Riesenwesen vor, das positive Eigenschaften besaß und ihn vorbehaltlos unterstützte. Das Wesen sollte mindestens doppelt so groß sein wie er selbst. Vielleicht hatte er bisher in einem Irrglauben gelebt. Vielleicht konnten Wesen, die kleiner waren als der Schöpfer selbst, nur negativ sein. Warum hatte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht? Er wußte genau, daß er sich diese Frage schon tausendmal gestellt hatte. Immer wieder hatte er sie verworfen. Und jetzt? Etwas beflügelte Tomagog. Das Gespür, daß in Ellerswiege tatsächlich eine neue Zeit angebrochen war, verlieh ihm Sicherheit. Ja, er würde es tun. Der Schöpfer zog sich in die tiefste Schlucht von 125 zurück und versank in Meditation. Die Überreste der Kreaturen, die er vor sich liegen hatte, reichten aus, um seinen Plan zu verwirklichen. Tomagog tat etwas, was er noch nie getan hatte. Es befriedigte ihn mehr als jede Häutung. In der Erkenntnis seines Vorhabens breitete er alle Haupt‐ und Nebenexternitäten aus. Er streckte sie von sich und seufzte vor Wohlbehagen. Sollten sie das Synthetikon nur zerstören. Er war nicht darauf angewiesen. Er benötigte es fortan nicht mehr. Ein wahrer Schöpfer brauchte keine Maschinen und Roboter. Mit einem neuen Gefühl des Triumphs machte sich Tomagog über die Überreste her. * Das Wesen erhielt Kugelform. Es besaß damit eine Gestalt, die es nirgendwo in Ellerswiege gab. Tomagog wußte selbst nicht, warum er ausgerechnet diese Gestalt wählte. Sie hatte mit den
Flugeigenschaften im Leerraum nichts zu tun, denn Jedes Wesen, das er schuf, konnte sich frei zwischen den Planetoiden bewegen. Die Gegebenheiten in Ellerswiege ließen es zu. Nach zwei Umdrehungen des Planetoiden hatte der Schöpfer sein Werk beendet. Er begutachtete es. Es sah achtungsgebietend aus, und es bewegte sich mit sachten Bewegungen umher. Tomagog umfing es mit ein paar sehr langen Externitäten und schaffte es von 125 weg zum Synthetikon. Er empfand, als sei das neue Geschöpf vollkommener als alle vorherigen. Es ließ sich willig transportieren. Es gelingt! jubelte der Schöpfer. Es wird mir gehorchen! Er schaffte das Gebilde in den Hypnotiseur, in dem es sein Wissen erhielt. Dieser Vorgang war noch unvermeidlich, aber Tomagog war sich sicher, daß er in Zukunft eine Möglichkeit finden würde, seinen Geschöpfen das Wissen selbst zu vermitteln und auf die kleine Maschine zu verzichten. Die gelbrote Kugel kam aus dem Hypnotiseur. Sie verharrte auf der Stelle, und der Schöpfer sagte: »Sei gut! Bleib gut! Der Schöpfer wird es dir danken!« Die Kugel raste los. Sie überrannte Tomagog und prallte gegen die hinter ihm liegende Wand. Sofort kehrte sie ihre Bewegung um und rollte erneut auf den Schöpfer zu. Tomagog versuchte, sich aufzurichten, aber da war das Gebilde wieder heran und sprang mit einem Satz auf ihn. Wie ein Ball hüpfte es auf und ab, und jedesmal erhielt der Schöpfer einen Schlag auf seinen Körper, der ihn durchschüttelte. Jedes seiner Geschöpfe wäre von der Kugel erdrückt oder erschlagen worden. Dem Schöpfer selbst machte es nichts aus. Er streckte ein paar Externitäten aus und umschlang die Kugel, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Er zog und schob sie von seinem Körper weg und richtete sich auf. »Du wirst gehorchen!« schrillte er. Die Kugel lachte, daß es durch das Synthetikon dröhnte. »Ich bin dein Henker, Tomagog!« verkündete sie. »Ich werde dir sämtliche Knochen im Leib brechen!«
Tomagog schaltete für eine Weile seine Gedanken aus. Er ahnte, daß die Phase der Niedergeschlagenheit gefährlich für ihn sein könnte. Wenn es der Kugel gelang, den Schöpfer in einem Zustand der Apathie in den Dezentralisator zu schieben, war er verloren. So dachte er zumindest. Manchmal hatte er sich aber auch mit dem Gedanken abgefunden, daß er unsterblich war. Es war der Teufelskreis, aus dem er nicht ausbrechen konnte, und er fragte sich, warum das so war. Tomagog schaffte die Kugel bis an den Rand von Ellerswiege. Dort entließ er sie endgültig in die Freiheit, um dann voller Furcht zu erkennen, daß sie sofort mit der Zerstörung von Planetoiden begann. Entsetzt floh der Schöpfer und lockte eine ganze Reihe von Geschöpfen auf seine Spur. Mit lautem Geschrei jagten sie ihn durch den Leerraum, und er eilte völlig planlos dahin. Nur weg von hier! dachte er bestürzt. Lange wird es deine Seele nicht mehr aushalten. Wieder verdrängte er seine Gedanken. Er stellte nur fest, daß sie ihm nicht näherkamen, weil er die höchste Geschwindigkeit benutzte, die zwischen den Planetoiden möglich war. Er kapselte seine Sinne ab und gab der Müdigkeit nach, die ihn befiel. Tomagog dämmerte in einen seltsamen Schlaf hinein, der kein eigentlicher Schlaf war, weil er Schlaf nicht benötigte. Es war ein Traum, der als Wachtraum begann und in einem Alptraum endete. Er sah sich auf die Barriere zueilen und sie durchdringen. Seine Schöpfungen blieben in dem Gefängnis zurück. Sie konnten ihm nicht folgen, und er frohlockte und orientierte sich. Tomagog sah eine endlose Schwärze um sich herum, aber nach einiger Zeit entdeckte er eine Wärmespur, die wie ein Weg durch die leere Zone führte. Er folgte ihr und gelangte an eine andere Barriere. Auch sie durchdrang er, und er fand sich in einer Umgebung wieder, der nur wenige Welten aufwies. Aber sie waren viel größer als die Planetoiden von Ellerswiege, und sie waren von
intelligenten Wesen bewohnt. Der Schöpfer eilte auf die Planeten zu und drang in die Lufthülle des äußersten ein. Er sah Städte und Länder unter sich liegen, von denen er nie zu träumen gewagt hätte. Ellerswiege war ein Ort der Düsternis und Armut dagegen. Tomagog erblickte die Geschöpfe, die da lebten. Ihre Gestalt erinnerte ihn daran, daß er sie schon einmal gesehen hatte. Er bohrte in seiner Erinnerung, aber sie gab das Geheimnis nicht preis. Erinnerung? Ein stechender Schmerz durchflutete seinen Körper und lähmte seinen Geist für kurze Zeit. Fast bewußtlos stellte er fest, daß es auch seinen Verfolgern nicht besser ging. Sie waren allesamt mit ihm gegen die Barriere geprallt. Ihr Wehklagen hallte durch den Leerraum. Nur Tomagog blieb stumm. Er kämpfte in seinem Innern gegen etwas an, das sich entfernen wollte. Erinnerung! Ein erneuter Blitz durchzuckte ihn, gefolgt von einer Welle anhaltender Schmerzen. Plötzlich drängte es in sein Bewußtsein, und er erschrak vor der Konsequenz, die die Erkenntnis mit sich brachte. Du stammst nicht aus diesem Raum! sagte sie ihm. Nicht aus Ellerswiege! Du bist aus einer anderen Umgebung. Die Heimtücke deiner Gegner hat dich hierher verschlagen. Du lebst in der Verbannung, und Ellerswiege ist nicht mehr als ein Gefängnis! »Nein!« schrie er. »Nein!« Er raste davon, die Meute hinter ihm her. Es konnte nicht sein. Seine Erkenntnis war ein Trugschluß, den ihm sein gepeinigter Geist vorgaukelte. Es durfte nicht sein. Ellerswiege war seine Welt. Draußen gab es nichts für ihn oder von ihm. Er verließ den Bereich der kleinen Brocken und bewegte sich wieder in seiner gewohnten Umgebung. Er sah Trümmer, sie hatten
zu 125 gehört. Die Kugel! Sie hatte ihren Geburtsort zerstört! Und dann sah Tomagog plötzlich die Riesenkugel. Sie kam ihm entgegen, und der Schöpfer bewegte sich ungläubig. »Es kann nicht sein«, ächzte er. »Sie kann nicht so stark gewachsen sein!« Kurz darauf stellte er fest, daß die Riesenkugel aus Metall war. Sie war von einem feinen, energetischen Hauch eingehüllt, der kurz darauf erlosch. Ein Finger verließ sie und griff nach ihm. Er spürte die Kraft und brachte nicht den Willen auf, sich ihr zu widersetzen. Er ließ sich hineinziehen. »Sie ist nicht von hier!« erkannte er. »Sie kommt von außerhalb der Barriere!« Der Alptraum manifestierte sich in ihm. Hatte er eine Vision gehabt, die der Wirklichkeit angehörte? Es sah danach aus, und Tomagog glaubte daran. Die Hoffnung machte ihn trunken. Dann aber fragte er sich, ob die Kugel etwa zu dem Gegner gehörte, der ihn nach Ellerswiege verbannt hatte. 5. Der Junk‐Nabel war aus der Sicht des Normaluniversums nicht optisch zu erkennen, jedoch durch Energiemessungen exakt zu bestimmen. Er bildete ein Loch von rund drei Kilometern Durchmesser, das sich zwischen den Bahnen der drei Planeten und der Sonne Junk mit einer Umlaufzeit von 121 Tagen auf einer Bahn bewegte, die sich spiralig auf die Sonne zuwand. Berechnungen hatten ergeben, daß der Nabel hundert Tage benötigte, bis er vor Vollendung der ersten Sonnenumrundung in die Sonne stürzte und dann nicht mehr zu gebrauchen war. Bis dahin waren es noch vier Wochen. Für den Zuschauer war das
eine lange Zeit. Für denjenigen, der durch den Nabel in die Namenlose Zone eindrang, verrann sie wie im Flug. Vier Wochen waren zu wenig, wenn es darum ging, Atlan zu unterstützen und Chybrain zu finden und noch viele andere Dinge zu erledigen, die sich inzwischen in der Namenlosen Zone ergeben haben mochten. Wajsto Kölsch ließ die beiden Kreuzer in einer Entfernung von fünf Millionen Kilometern vom Junk‐Nabel entfernt abstoppen. Die SZ‐1‐1 mit dem Eigennamen EMRADDIN, vormals ICNUSA, und die SZ‐1‐50 mit dem Eigennamen DRONIA, vormals MAGMA PLUS, blieben nebeneinander im Raum stehen. Kölsch kommandierte die EMRADDIN und stand in ständiger Bildverbindung mit Tina St. Felix, einer einundfünfzigjährigen Buhrlofrau aus der bekannten Familie der St. Felix. Sie befehligte die DRONIA. »Catfish«, sagte Wajsto Kölsch und bewegte seinen massigen Körper ungeduldig. Er nannte Tina St. Felix bei ihrem Spitznamen. »Wir bleiben beisammen. Der Abstand zwischen den beiden Kreuzern darf sich nicht verändern. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt, wenn wir den Nabel durchquert haben. Gemeinsam sind wir stark!« Die Buhrlofrau nickte und lächelte ihn aus ihrem runden Gesicht an. Es glänzte, und Wajsto wußte, daß es die Glashaut war, die den Buhrlos den Aufenthalt im All ermöglichte. »Die Buhrlos halten sich bereit«, antwortete Catfish. Die beiden Kreuzer nahmen wieder Fahrt auf und drifteten dem Nabel entgegen. Sie berührten ihn und verschwanden. Es sah aus, als habe jemand sie mit einer Handbewegung aus dem Universum entfernt. Kölsch musterte verbissen die Anzeigen der Ortung. Jeden Augenblick mußten sie in den schwarzen Raum eintreten, der Namenlose Zone hieß und in dem eine Orientierung lediglich mit Unterstützung der Buhrlos möglich war. Diese erkannten die Schockfronten, von denen die einzelnen Sonnensysteme umgeben
waren. Nichts geschah. Es schien, als hinge die EMRADDIN in einem zähen, undurchdringlichen Brei. Die Fahrtanzeige sank auf Nullwert ab, obwohl die Triebwerke weiterhin arbeiteten. »Wajsto!« Die Stimme Catfishs klang erregt. »Vorsicht, wir kollidieren!« Der Stabsspezialist fuhr nach vorn. Über die Kontrollen gebeugt nahm er ein paar Einstellungen vor, die die Positronik ohne nennenswerten Zeitverlust umsetzte. Die Triebwerke liefen aus, und die Konverter führten ihre ganze Energie den Schutzschirmen zu. Blitze zuckten über die Bildschirme. Donnernde Entladungen hallten durch die Zentrale. Kölsch suchte instinktiv etwas, woran er sich festhalten konnte. Die Andruckabsorber schluckten jedoch den Schlag, mit dem sich die Energiesphären der beiden Schiffe berührten. Die EMRADDIN und die DRONIA drifteten wieder auseinander. Fast gleichzeitig heulten die Alarmsirenen auf. Einige Meßgeräte schlugen durch und gaben Gravitationsalarm. Die beiden Kreuzer wurden von unsichtbaren Fäusten gepackt und durchgerüttelt. Wie Bälle sprangen die beiden Kugeln hin und her, und der Alarm verstärkte sich zu einem schrillen Kreischen. Wajsto Kölsch preßte die Lippen aufeinander. Fast hätte er sich in die Zunge gebissen. Er warf einen Seitenblick auf die Mitglieder der Zentralebesatzung. Ihnen erging es nicht besser. Sie verkrampften sich in ihren Sesseln und warteten, daß es vorüberging. Die beiden Kreuzer befanden sich mitten in einem Energiesturm und konnten nichts dagegen unternehmen. Sie hofften nur, daß die Entladungen in ihren Schutzschirmen irgendwann aufhören würden, bevor die Schutzschirme wegen Überlastung zusammenbrachen. Reservesysteme nahmen ihre Arbeit auf. Die Positronik verglich die Vorgänge mit dem, was sie über den Junk‐Nabel wußte. Sie interpretierte und kam zu dem einzig möglichen Schluß.
»Der Nabel schließt sich!« plärrte die künstliche Stimme aus den Lautsprechern. »Höchste Gefahr! Achtung, der Nabel schließt sich!« Plötzlich erloschen die Funken draußen. Die Blitze blieben aus, und die Energiewerte pendelten sich auf ihre Normalwerte ein. Es kam so überraschend, daß Wajsto Kölsch ratlos aufblickte. »Beschleunigen!« schrillte eine Stimme. Sie gehörte zu Brons Thermeck. »Macht schnell!« Wajsto und der Pilot reagierten. Die Triebwerke erhielten wieder Energie. Die Schiffe rasten davon, in die Finsternis der Namenlosen Zone hinein. Auf den Heckbildschirmen erkannten die Solaner den stark strahlenden, diffusen Ring, als der sich der Nabel in der Namenlosen Zone präsentierte. Der Ring begann sich aufzulösen. Er waberte an manchen Stellen unruhig hin und her, an anderen wurde er durchsichtig. Dann verschwand er von einem Augenblick auf den anderen. Die Energieortungen erloschen. Nichts umgab die beiden Kreuzer außer dem Raum der Namenlosen Zone. Der Nabel war verschwunden, der Rückweg abgeschnitten. Panik wollte aufkommen, aber Wajsto Kölsch erstickte sie im Keim. Er befahl, Fahrt aufzunehmen und nach Atlan Ausschau zu halten. Die Funkanlagen der beiden Kreuzer nahmen ihre Tätigkeit auf und schickte eine Dauerbotschaft in die Dunkelheit, in der es nichts gab. Ein bisher unbekannter Faktor hatte den Junk‐Nabel zum Erlöschen gebracht. »Kann es an unserem Durchgang liegen?« wollte Tina St. Felix wissen. »Haben wir damit ausgelöst, daß der Nabel in die Sonne Junk stürzte?« Kölsch glaubte es nicht. Bisherige Durchgänge hatten nie eine Abweichung des Nabels von seiner Bahn mit sich gebracht. »Halten wir uns nicht mit Theorien auf«, sagte er. »Wir müssen Atlan finden!« Sie hatten Neuigkeiten für ihn. Das Problem um Zelenzo, den
Halbemulator, war gelöst worden. Brons Thermeck und Insider hatten mit der MJAI‐A und der MJAI‐B die SOL erreicht und Bericht erstattet. Insider hatte Atlans Auftrag überbracht, daß die Solaner unbedingt nach den Vulnurern suchen mußten. Die Lichtquelle spielte eine Rolle, die die Solaner von Atlans Berichten her kannten. Also würde man sich auf die Suche nach den sogenannten Bekehrern machen. Noch vorher aber waren die beiden Kreuzer aufgebrochen, um Atlan zu Hilfe zu kommen. Wajsto Kölsch ließ eine Raumboje ausschleusen, die die Stelle markierte, an der der Nabel zu finden war. Die Boje sendete ein dauerndes Peilsignal aus, so daß sie relativ einfach zu finden war, wenn die Kreuzer in diesen Bereich der Namenlosen Zone zurückkehrten. Der Versuch, einen Funkkontakt mit Atlan zu erhalten, schlug fehl. Weder auf der EMRADDIN noch auf der DRONIA kam das geringste Echo an. Atlan befand sich entweder an einem abgelegenen Ort, oder er konnte aus anderen Gründen nicht antworten. Weil er nicht mehr lebte oder gefangen war. Der Gedanke an das Letztere beflügelte die Tätigkeit des Stabsspezialisten. Rasch ließ er sich von den Buhrlos berichten, die in der bekannten Weise Sonnen feststellten und so einen ungefähren Überblick über einen Teil der Namenlosen Zone verschaffen. Es half jedoch nicht viel weiter. »Positronik, Datenauswertung Insider!« verlangte Kölsch. Insider hatte Daten über die Namenlose Zone mitgebracht. Sie waren nicht vollständig, und niemand wußte, ob sie noch zutrafen oder nicht. Die Ortung bezog sie jedoch in ihre Beobachtungen ein und hatte Erfolg. Es dauerte drei bis vier Stunden, aber immerhin kam er. In dem Gebiet, in dem sich laut Insiders Auskunft die Basis des Ersten Zählers aufhalten sollte, wurde ein Objekt festgestellt. Da die Buhrlos es nicht erkennen konnten, handelte es sich um keine Sonne. »Wir fliegen die Koordinaten an«, schlug Wajsto Catfish vor. »Was
meinst du?« Die Buhrlofrau war einverstanden, und die beiden Kreuzer bereiteten eine Synchron‐Linearetappe vor. Sie legten sie zurück und tauchten kurz vor dem georteten Objekt auf. Es war die Basis des Ersten Zählers. Es war eine große Raumstation mit einer als Naturlandschaft hergerichteten Oberfläche, über der sich ein stabiler Schutzschirm wölbte. Sie lag verlassen da. Von der MJAILAM gab es keine Spur. Hinter den Schutzschirmen sah man den Turm und das Gästehaus liegen, und zwischen ihnen befand sich die Quelle der Jenseitsmaterie, auch Lichtquelle genannt. Kölsch setzte sich über Funk mit der Basis in Verbindung, aber er erhielt keine Antwort. Nach ihm versuchte es Insider. Er war den Robotern ja bekannt, aber auch ihm antworteten sie nicht. Ratlos hingen die beiden Kreuzer über dem Gebilde. Wenn die Roboter keine Auskunft gaben, blieb ihnen nichts anderes übrig, als aufs Geratewohl zu suchen. Atlan hatte diesen Ort verlassen, und er mußte sich hinter einer Schockfront aufhalten, die keine Funksignale durchließ. Die Entscheidung war schwierig. Eine Rückkehr zur SOL war nicht möglich, und Atlan blieb unauffindbar. Sie hätten mit Gewalt in die Basis eindringen können, doch Kölsch war sich sicher, daß ihnen das nicht gelungen wäre. Die Roboter der Basis oder die zentrale Positronik nahm ihnen die Entscheidung ab. Sie schickte einen kurzen, gerafften Symbolspruch durch ihren Schirm. Er beinhaltete lediglich einen Koordinatensatz, der auf einen Punkt in etwa achtzehn Lichtjahre Entfernung hinwies. Dort war weder mit der Ortung noch durch die Buhrlos etwas festzustellen. »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesem Hinweis zu folgen«, meinte Catfish, als Kölsch sich mit ihr abstimmte. Der ehemalige Magnide war der gleichen Ansicht. Viele der Freiwilligen, die ihre Teilnahme an der Hilfsexpedition längst
bereuten, drängten darauf, daß etwas unternommen wurde. Vielleicht hielt Atlan den Schlüssel zur Rückkehr in den Normalraum in Händen. Wajsto Kölsch glaubte nicht daran. Ein deutliches Gefühl sagte ihm, daß der Arkonide in großen Schwierigkeiten steckte. Er war ein Gefangener jener finsteren Macht, die ihre Fäden durch die Namenlose Zone zog. »Programm läuft«, meldete die Positronik kurz darauf. Kölsch nickte grimmig. Im Augenblick war es ihm egal, wohin sie flogen. Hauptsache war, daß sie wenigstens eine Spur hatten, wenn auch die Roboter der Basis keine Erklärung lieferten. Daß deren Verhalten auf eine Anweisung Atlans zurückging, konnte der Stabsspezialist ja nicht wissen. »Also dann«, meinte Wajsto, als die Uhr anzeigte, daß die Linearetappe kurz bevorstand. »Wagen wir uns in die Höhle des Löwen!« Übergangslos verschwanden die beiden Kreuzer und tauchten in unmittelbarer Nähe der Zielkoordinaten auf. * »Dieses Wesen ist Tomagog, der Schöpfer!« verkündete ich. Atlans Blicke wanderten von mir zu dem Gespinst und wieder zurück. Joscan Hellmut klappte den Mund auf und zu, und Blödel verließ seinen Platz neben Nockemann und rannte auf seinen kurzen Beinen um das Wesen herum. »Tomagog!« echote der Arkonide. »Sei gegrüßt!« Noch immer gab der Schöpfer keine Antwort. Wir warteten und sahen zu, wie sich Tomagog ein wenig von uns zurückzog. Seine Stimmung befand sich auf einem Tiefpunkt, und ich beschloß, ihm zu helfen. »Denke an die vielen schönen Zeiten, die du durchlebt hast«, sagte
ich. »Du brauchst keine Angst vor den Verfolgern zu haben! Wir werden dich beschützen!« In den leuchtenden Zopf und das Gespinst feinster Tentakel kam Leben. Es ordnete sich zurecht. Eine milde Stimme mit einem starken Klangboden war zu hören. Tomagog sprach, ohne daß wir an seinem Körper eine Öffnung entdecken konnten. »Ich habe keine Angst«, kamen die Worte aus meinem Translator. »Meine Geschöpfe können mir nichts anhaben. Ich bin unsterblich. Noch nie hat jemand mich verletzt!« »Aber …«, begann ich, verstummte dann jedoch ratlos. Wenn Tomagog unverletztlich war, wieso floh er dann vor ihnen? »Wer seid ihr?« fragte der Schöpfer. »Warum seid ihr gekommen? Ihr gehört nicht zu Ellerswiege!« »Er weiß nicht, ob er uns als Feinde betrachten muß«, flüsterte ich Atlan zu. Der Arkonide sagte: »Wir sind Solaner und stammen aus einem Raum, der nicht zur Namenlosen Zone gehört, in der Ellerswiege liegt. Wir sind einer Spur gefolgt, die ein Freund hinterlassen hat. Deshalb sind wir hier. Wir können Ellerswiege, wie du dein Reich nennst, nicht mehr verlassen!« Tomagogs Gedanken lagen vor mir wie ein aufgeschlagenes Buch. Der Schöpfer verarbeitete die Informationen und zog seine Schlüsse daraus. Es wunderte mich nicht mehr, daß er ausschließlich in den Kategorien Gut und Böse dachte. Er selbst hielt sich für ein positives Wesen, wobei er den Gegensatz allein am immer schlimmer werdenden Verhalten seiner Geschöpfe maß. Die Tatsache, daß wir Ellerswiege nicht verlassen konnten, war kein Maßstab dafür, ob wir gute oder böse Wesen waren. Die Distanz in dem Schöpfer stieg. Für uns bedeuteten seine Gedanken, daß wir von anderen Voraussetzungen ausgehen mußten. Ich schaltete den Translator aus und trat zu Atlan und winkte die anwesenden Solaner herbei. »Ellerswiege läßt nichts nach draußen, weder positive noch negative Wesen«, erklärte ich. »Das ist wiederum etwas völlig
Neues für uns. Wenn wir davon ausgehen, daß Chybrain uns die Koordinaten zugespielt hat, dann haben wir hier ein Rätsel vor uns, das uns manches Kopfzerbrechen bereiten wird!« Ich schaltete den Translator wieder ein. »Hast du ein Wesen gesehen, das sich Chybrain nennt?« fragte ich den Schöpfer und beschrieb das Aussehen des Kindes. Tomagog dachte nach. »Wenn ich mich nur erinnern könnte«, erwiderte er nach einer Weile. Er forschte in seiner Vergangenheit, aber er kam über einen bestimmten Zeitpunkt nicht hinaus. So weit er sich zurückerinnern konnte, hatte er immer in Ellerswiege gelebt. Ein Wesen wie Chybrain war ihm nie begegnet. Wieder waren wir im Zweifel, wem wir unseren Aufenthalt in diesem Gefängnis zu verdanken hatten. »Sagt dir der Name ›Zyrtonier‹ etwas?« fragte Hage Nockemann. »Kennst du den Begriff ›Page‹?« Tomagog verneinte. Er kannte nur sein eigenes Reich. Mehr nicht. Aber er hatte immer geahnt, daß es außerhalb noch etwas gab. Wir kamen von draußen, und die Neugier besiegte schließlich sein Mißtrauen. Gleichzeitig befand er sich in einer Phase aufsteigender Zufriedenheit. Die Niedergeschlagenheit wich von ihm. Wir sahen, wie er seinen Körper drehte und offenbar in Richtung der Bildschirme blickte. Draußen zappelten die Verfolger im Raum. Sie hielten sich in respektvollem Abstand von unserem Schutzschirm, und Uster Brick flog ein paar Kapriolen zwischen den Planetoiden, um sie zu verwirren. »Sie haben keine Möglichkeit, dir in unser Schiff zu folgen«, brachte ich dem Schöpfer bei. Täuschte ich mich, oder veränderte sich sein Körper in der Mitte? Ich glaubte, daß es so etwas wie eine dankbare Geste war. »Bleichfinger!« stieß er plötzlich hervor. »Er ruft nicht nach mir. Ich muß sofort zu ihm!« Wir teilten ihm mit, daß wir bereits eine Begegnung mit
Bleichfinger gehabt hatten. Wir berichteten über das Verhalten des letzten Erstgeschaffenen, und Tomagog wirkte betroffen. »Der Hunger muß ihm den Verstand verwirrt haben«, glaubte er. »Könnt ihr mir helfen, die Nahrungsmittel zu seinem Fütterungsplatz zu bringen?« Ich senkte unmerklich den Kopf, und Atlan meinte: »Wir helfen dir. Es ist in unserem eigenen Interesse!« Seine Augen leuchteten entschlossen. Er wollte möglichst schnell wissen, was in Ellerswiege gespielt wurde. Wir alle wollten das wissen. Leider war Tomagog gerade kein übermäßig brauchbarer Helfer. Er hatte zuviel mit sich selbst zu tun. Sie nannten ihn den Schöpfer, und in seinen Gedanken spiegelte sich ab und zu ein Echo, daß er eng mit den Wesen verbunden war, die seine Geschöpfe waren. Eine seltsame Nomenklatur, aber Bleichfinger hatte Tomagog als seinen Schöpfer bezeichnet. Wenn es einen Anhaltspunkt für uns gab, dann war es das. Wenn Tomagog in der Lage war, aus eigener Kraft oder mit Hilfe von Maschinen künstliche Wesen zu schaffen, dann mußte das einen Grund haben. Lag hierin das Geheimnis von Ellerswiege? Ich schwieg, weil meine Vermutungen noch nicht spruchreif waren. Uster Brick ließ von den Kreaturen draußen ab, und die MJAILAM entfernte sich in jenen Bereich der Planetoiden, den Tomagog uns als das Ziel bezeichnete. Dort lag sein Nahrungsmitteldepot. Es war ein Felsbrocken, der ausgehöhlt war. Wo die Nahrungsmittel erzeugt wurden, die hier lagerten, erfuhren wir nicht. Vielleicht wußte es Tomagog selbst nicht. Wir luden soviel ein, wie er uns ließ, dann machten wir uns auf den Weg zur Verhüttungs‐ und Verschrottungsanlage. Wir steuerten einen der kleinen Asteroiden an, die unmittelbar über der Anlage hingen und bei unserer Flucht bereits bemerkt worden waren. Als wir das Ziel fast erreicht hatten, sahen wir, daß von dem Planetoiden ein Metallseil hinüberführte.
Ich sondierte Tomagogs Gedanken, aber sie befaßten sich ausschließlich mit Bleichfinger. Er rief nach ihm. Es war ein telepathisches Rufen, das er losließ. Bleichfinger antwortete noch immer nicht, und wir dockten an dem Asteroiden an, den der Schöpfer als Empfangshalle bezeichnete. Atlan und ich begleiteten den Schöpfer hinaus. Wir hatten die Helme unserer Einsatzanzüge geschlossen. Tomagog glitt neben uns her durch die Schleuse und über den Asteroiden, als halte er sich in der üblichen Sauerstoffatmosphäre auf. Aus etlichen seiner Tentakel hatte er einen Korb gebildet, in dem die Nahrungsmittel für Bleichfinger hingen. Im Halbdunkel, das von den Lampen unserer Helme ein wenig aufgehellt wurden, sahen wir den letzten Erstgeschaffenen liegen. Zwischen zwei Felsen eingeklemmt, rührte er sich nicht. Tomagog leerte hastig seinen Korb aus und streckte ein paar seiner Tentakel aus. Vorsichtig hob er den Körper Bleichfingers empor und zog ihn zu sich heran. Er legte ihn auf ein weiches Bett aus goldenen Fäden und fütterte ihn. Dabei unterhielt er sich unablässig mit ihm. Ich hörte seine Worte telepathisch, aber es war mir, als seien seine Wort auch akustisch zu vernehmen, obwohl der Asteroid ohne Lufthülle war. Tatsächlich zeigte mein Einsatzgürtel akustische Impulse an, die auf einem dünnen Hyperstrang zu laufen schienen. Ich ging um Tomagog herum und musterte ihn eingehend im Scheinwerferlicht. Ich konnte keine technische Apparatur an ihm erkennen und nahm daher an, daß sein Körper eine Möglichkeit besaß, akustische Äußerungen an ein höherdimensionales Transportmedium zu binden und sie damit durch den luftleeren Raum zu schicken. Nach einer Weile rührte sich Bleichfinger. Er bewegte prüfend die Arme, danach den Kopf. Er richtete sich auf, und Tomagog stützte ihn. »Bleichfinger«, sagte der Schöpfer. »Lieber Bleichfinger. Warum hast du es mir verheimlicht? Beinahe hätte es zu deinem Tod
geführt!« Das Geschöpf richtete sich auf und wandte uns den Kopf zu. Es sagte etwas, was weder von den Außenlautsprechern der Anzüge, noch von meinen Gedanken verstanden wurde. »Überraschung!« ächzte Bleichfinger dann. »Auch so gut!« Den Rest der Nahrungsmittel nahm er aus eigener Kraft ein. Er stand auf und ging ein paar Schritte umher, während von der Anlage ein Fahrsessel herüberschwankte und an dem Drahtseil hängend dicht über seinem Kopf zur Ruhe kam. Bleichfinger griff nach dem Einsteigbügel und sprang hinein. »Danke, Schöpfer!« pfiff er. Dann setzte sich der Korb nach rückwärts in Bewegung und verschwand kurz darauf in dem Planetoiden. Ich erinnerte mich an die Führungsschiene in der Decke. Sie paßte zu diesem Beförderungsmittel. Bleichfinger war auf dem Weg in den Steuerraum. Wir kehrten in die MJAILAM zurück. Tomagog folgte uns dicht auf. Seinen Gedanken entnahm ich, daß er unsere Hilfsbereitschaft als positives Zeichen einschätzte. Seine Gedanken drehten sich um ein Problem. Wieder in der Zentrale angelangt, redete er dann. »Ich danke euch, Fremdlinge«, verkündete er. »Ihr habt dazu beigetragen, die Ordnung in Ellerswiege aufrechtzuerhalten. Wollt ihr dies auch weiterhin tun?« Er näherte sich dem Höhepunkt einer Euphoriephase, und wir benutzten die Gelegenheit, ihm unsere Hilfsbereitschaft deutlich zu machen. »Sage uns, was wir tun müssen«, verlangte ich, obwohl ich es längst wußte. Tomagog wollte Ruhe vor seinen Geschöpfen. Er hatte es satt, sich immer wieder verstecken zu müssen. Die MJAILAM kam ihm wie gerufen. Der Schöpfer bat um Aufenthalt in unserem Schiff, und wir gewährten ihm die Bitte. Es war eine Gelegenheit, mehr über Ellerswiege zu erfahren. Tomagog ging jedoch nicht darauf ein.
»Berichtet mir aus eurem Universum!« verlangte er. »Wie sieht es aus? Ist es größer als Ellerswiege? Was für ein Raum ist jenseits der unüberwindlichen Barriere?« * Die erste Alarmmeldung ging in der Zentrale ein, eine Stunde, nachdem Tomagog sie verlassen hatte. Zwei Solaner hatten ihn begleitet, um ihm die Räume des Kreuzers zu zeigen und ihm die Technik zu erklären. Sie hatten zu diesem Zweck meinen Translator erhalten. Joscan Hellmut nahm die Meldung entgegen. Er zuckte zusammen. »Was?« rief er aus. »Ist der Kerl verrückt?« Er wandte sich um und ächzte: »Tomagog will Solaner entführen!« Ich rannte los, Atlan hinter mir her. Was war jetzt in den Schöpfer gefahren? Wir erwischten das Wesen in einem der Wohnbereiche. Solaner standen gestikulierend um Tomagog herum, und der Schöpfer bahnte sich mit seinen Tentakeln einen Weg. Manche ließ er wie Peitschen auf die überraschten Männer und Frauen herabsausen. Der Solaner mit dem Translator erblickte uns und rannte auf uns zu. »Er ist übergeschnappt«, berichtete er atemlos. »Er hört nicht auf uns!« Ich lauschte in mich hinein. Meine Vermutung bestätigte sich. »Es ist eine Art Rausch«, erklärte ich. »Der Drang ist wieder übermächtig geworden. Er kann sich nicht beherrschen!« Ich faßte Atlans Hand und zog ihn mit mir, bis wir vor Tomagog standen. Der Schöpfer beruhigte sich ein wenig, aber er sagte: »Laßt mich durch. Ich brauche das Altmaterial. Neue Wesen müssen geschaffen werden!« »Aber nicht mit Solanern!« donnerte Atlan neben mir. Er deutete
auf das Netz, das Tomagog hinter sich herschleppte. Fünf zappelnde Solaner waren darin gefangen. Tomagog schien erst jetzt zu bemerkten, daß seine Beute sich wehrte. Er zuckte zusammen, und mehrere Bebenwellen durchliefen seinen Körper. »Sie sind tot!« bekräftigte er. »Als ich sie mitgenommen habe, waren sie tot. Ich will aus totem Material neues Leben schaffen!« »Du siehst, daß sie leben«, rief Atlan empört aus. »Also laß sie in Ruhe! Such dir dein organisches Material woanders!« Ich spürte Traurigkeit, die Tomagog befiel. Zum ersten Mal erkannte ich, daß etwas in seinem Innern kämpfte. Er war kein ausgeglichenes Wesen, und ich hatte für kurze Zeit den Eindruck, als wohnten die Seelen zweier verschiedener Wesen in seiner Brust. War er auch ein Kunstgeschöpf? Gab es in Ellerswiege nur künstliche Wesen? »Was ist geschehen?« fragte ich, an die Männer und Frauen gewandt, die in dem netzähnlichen Gespinst gefangen waren. »Wir hatten Ruhezeit und haben geschlafen«, sagten sie übereinstimmend. »Als wir zu uns kamen, hatte uns das Ungetüm in diese Fäden eingesperrt!« Sie zerrten an den Tentakeln, doch Tomagog gab sie nicht frei. Ich sah, wie mehrere Solaner zu ihren Waffen griffen, aber ich wehrte ab. »Laßt ihn«, warnte ich. »Er weiß nicht, daß er etwas Falsches tut!« An die Adresse des Schöpfers fuhr ich fort: »Sie waren nicht tot. Sie haben geschlafen. Jetzt sind sie wieder wach, und sie haben in diesem Schiff ihre Aufgaben zu erfüllen. Also laß sie frei!« Tomagogs Entschluß kam ins Wanken. Er lockerte die Tentakel ein wenig und zog seinen geflochtenen Zopfkörper zusammen. »Was ist das, Schlaf?« fragte er. »Es gibt nur Leben und Tod. Diese Wesen waren tot, also können sie jetzt nicht leben!« Ich versuchte, es ihm begreiflich zu machen. Er konnte mit dem Zustand des Schlafes nichts anfangen. In seinem Leben gab es das nicht. Er kannte nur das Leben, das Verstecken und das Schaffen.
»Sie leben, also können sie vorher nicht tot gewesen sein«, argumentierte Atlan. Er beherrschte sich mühsam. Endlich gab Tomagog die fünf Solaner frei. Er zog sich ein wenig zurück und schwieg. Seine Gedanken gerieten durcheinander. Er dachte an Bleichfinger und an das Synthetikon und wünschte sich weg aus diesem Schiff. »Du kannst jederzeit kommen und gehen«, bot ich ihm an. Das tat er dann auch. Ein wenig verwirrt ließ er sich zur nächsten Schleuse bringen. Wir warteten ab, bis keine seiner Kreaturen in der Nähe war, dann ließen wir ihn heraus. Uster Brick flog ihm ein Stück hinterher, drehte aber dann ab. Es hatte keinen Sinn, ihm mit der MJAILAM zu folgen. Die kleinen Zweimann‐Gleiter waren da schon besser. »Wir brauchen nur zu warten«, sagte ich. »Er wird zurückkommen!« »Meinst du?« Vorlan Brick wollte es nicht glauben. »Sieh dich draußen um!« forderte ich ihn auf. »Überall sind diese Geschöpfe unterwegs. Aus allen Löchern und Ritzen der Planetoiden kommen sie. Es sind unvorstellbar viele. Es sieht aus, als warteten sie auf etwas. Tomagog wird froh sein, wenn er bei uns Zuflucht findet!« Ich zog mich mit Atlan in den Hintergrund der Zentrale zurück. Tomagog hatte von einem Synthetikon gesprochen. Vermutlich hing das mit seinem Drang zusammen, Wesen zu schaffen. »Vielleicht ist es nicht ganz ungeschickt, dennoch seine Spur zu verfolgen«, meinte er. »Das Synthetikon ist wohl die wichtiges Anlage dieses Sonnensystems. Wir müssen sie untersuchen!« »Du denkst wieder an die Raumzecken«, erkannte ich. Er nickte. »An sie und die Pagen!« 6.
Bleichfinger glaubte, seinen vier Augen nicht zu trauen. Er sprang auf und starrte die Bildschirme an. Er sah die schwachen Lichtpunkte und erkannte, daß es sich um Reflexe lebendiger Körper handelte. Ein ziemlich großer Fleck führte sie an. Es waren Geschöpfe Tomagogs. Ihren Bewegungen nach gehörten sie zu der übelsten Sorte. Er sah, wie sie kleinere Asteroiden aus ihren Bahnen warfen und ein paar größere in Einzelteile zersprengten. Staubwolken wirbelten auf, und Bleichfinger beugte sich nach vorn über die Kontrollanlagen und steuerte ein paar Beobachtungssonden in das Gebiet. Er tat es intuitiv. Nachträglich stellte es sich als Fehler heraus, aber daran konnte der Erstgeschaffene nichts mehr ändern. Jetzt beobachtete er noch, und die Kameras der Sonden lieferten ihm lichtverstärkte Bilder. Die Kreaturen bewegten sich aggressiv und flößten Bleichfinger auf der Stelle Furcht ein. Er sah ein paar wurzelige Warffs darunter, auch einen der Teufel mit den tausend Händen. Dieser umfaßte die ganze Gruppe und schob sie vorwärts. An der Spitze der Geschöpfe eilte eine Kugel. Ihre Gestalt irritierte Bleichfinger. Er hatte noch nie ein Geschöpf gesehen, das Kugelform besessen hatte. Einen Augenblick trug er sich mit dem Gedanken, daß die Fremden die Kugel mitgebracht hatten, um Tomagog und ihn zu verwirren. Dann aber rief er sich die Hilfsbereitschaft der Zweibeiner in Erinnerung. Nein, sie konnten sich nicht ohne Schutz zwischen den Planetoiden bewegen. Zudem verhielt sich die Kugel gerade so, als sei sie erst vor kurzem geschaffen worden. Tomagog! flehte Bleichfinger in düsterer Ahnung des Kommenden. Was hast du geschaffen, Schöpfer? Die Kreaturen hatten seine Sonden entdeckt. Es dauerte nicht einmal fünf Zeiteinheiten, da hatten sie sie auseinandergerissen und vollkommen zerstört. Weiter drangen sie vor, und Bleichfinger erkannte an der geringfügigen Kursänderung, die sie vornahmen,
wo ihr neues Ziel lag. Die Sonden waren ihm zum Verräter geworden. Tomagogs Geschöpfe kamen zu ihm, zur Verhüttungsanlage. Ein kleiner Funke Hoffnung blieb dem letzten der Erstgeschaffenen. Es war noch nie vorgekommen, daß sie ihn belästigt hatten. Eine unbegreifliche Scheu hatte sie davon abgehalten. Ein paarmal hatten die Sonden und Roboter ihm besonders aufdringliche Wesen ferngehalten. Jetzt sah es so aus, als gingen die Geschöpfe ohne Rücksichtnahme gegen alles vor, was ihnen in den Weg kam. »Tomagog!« rief Bleichfinger aus. Er wußte, daß ihn die Geschöpfe ebenfalls hörten, soweit ihr Hörsystem nicht defekt war. Ein Lachen kam als Antwort. Nur der Schöpfer meldete sich nicht. Bestimmt hielt er sich noch immer in der Metallkugel der Fremden auf, die durch die Dummheit der Roboter aus seiner Anlage entkommen war. Bleichfinger hatte eigenmächtig gehandelt, und Tomagog hatte ihn dafür getadelt. Der Erstgeschaffene getraute sich nicht, nochmals etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Deshalb rief er nach seinem Schöpfer. Er wollte wissen, was er zu tun hatte. Tomagog jedoch antwortete nicht und ließ Bleichfinger in Aufregung und Selbstzweifeln zurück. Die Horde der Geschöpfe war inzwischen der Anlage bedrohlich nähergekommen. Sie schwärmten aus und erweckten den Anschein, als wollten sie den Planetoiden einkreisen. Bleichfinger zog alle Sonden und Roboter aus dem Felsengewirr zu seiner Anlage zurück. Sie bildeten einen Verteidigungswall. Die Geschöpfe beachteten sie nicht. Sie ließen die Maschinen an ihren Positionen und warteten ab. »Was wollt ihr?« rief Bleichfinger ihnen entgegen. Hohngelächter war die Antwort. »Du wirst es sehen!« rief der Teufel mit den tausend Händen zurück. »Warte nur, bis die Zeit gekommen ist!«
Bleichfinger setzte sich erschöpft und nervlich zermürbt in seinen Flechtkorb. Er kommunizierte mit der Positronik und fragte die Möglichkeiten durch, die er zur Verteidigung hatte. Es waren nicht viele. Ein Energieschirm gehörte dazu, aber als er ihn einschaltete, lag er hinter dem Bereich, in dem die Kreaturen sich bewegten. Wieder klang Gelächter auf. Die Kreaturen verspotteten ihn. Es machte Bleichfinger rasend, doch es half ihm nichts. Er verriegelte alle Zugänge zu der Anlage und verließ sich ganz auf die Fähigkeiten seiner Roboter. Vielleicht half ein Hilferuf an die Fremden. Er versuchte, ihre Frequenz herauszufinden, aber es gelang ihm nicht. Ihre Technik war einfach zu fremd, als daß auf Anhieb eine Kommunikation hätte entstehen können. »Tomagog!« rief Bleichfinger erneut. »Schöpfer, hilf mir!« Tomagog schwieg weiter. Wahrscheinlich konnte er in der Metallkugel den Ruf nicht empfangen, oder er befand sich in einem Zustand, der ihn taub machte. Dann hörte er einfach nicht, was um ihn herum geschah. Hoffentlich ist es nur eine Häutung! dachte Bleichfinger bebend. Das dauert nicht so lange. Wenn er neue Wesen schafft, wird er nicht rechtzeitig hier sein, um mich zu schützen. Schutz! Das Wort hörte sich lächerlich an. Wovor konnte Tomagog ihn schützen? Er selbst war unsterblich, aber den Tod anderer konnte er nicht verhindern. Unruhe entstand in Ellerswiege. Bleichfinger spürte sie deutlich. Sie kam von überall her, und die wenigen Außenposten, die noch beobachteten, zeigten ihm, daß überall auf den Planetoiden die Wesen in Bewegung geraten waren. Sie verließen ihre Heimatstätten und Aufenthalte und bevölkerten den Leerraum zwischen den Felswelten. Sie bildeten aufgeregt umherstreifende Scharen, und Bleichfinger verspürte bei ihrem Anblick ein Unwohlsein im Magen. Obwohl er durch die Nahrungsaufnahme gestärkt war, kam er sich schwach und elend vor.
»Nur das nicht!« hauchte er. »Sie werden doch nicht alle auf die Anlage …« Er verstummte angesichts des schrecklichen Gedankens. Danach verfiel er in apathisches Schweigen, aus dem ihn erst das Schrillen der Alarmanlage riß. Er beugte seinen Kopf zur Seite, als wolle er nicht hören, was die Positronik zu verkünden hatte. »Von allen Seiten nähern sich Schwärme von Geschöpfen der Anlage. Ich verstärke jetzt den Schutzschirm, damit sie nicht bis zur Oberfläche vorstoßen können!« »Ja«, hauchte Bleichfinger nur. »Ja!« Er sah, wie der Schirm aufleuchtete. Er blieb jetzt solange erhalten, wie es jenen Geschöpfen, die bereits auf der Oberfläche des Planetoiden waren, nicht gelang, in den Steuerraum vorzudringen und die Positronik abzuschalten. Es war nicht viel mehr als eine Galgenfrist. »Tomagog! Tomagog!« Bleichfinger schrie sich fast die Seele aus dem Leib, aber der Schöpfer antwortete noch immer nicht. Es war, als sei er aus Ellerswiege verschwunden. Hatten die Fremden ihn mitgenommen nach draußen? Der Erstgeschaffene erkannte seine Verwirrung daran, da ihm vorübergehend entfallen war, daß die Fremden Tomagogs Reich nicht mehr verlassen konnten. Sie waren irgendwo in Ellerswiege und mußten helfen. Draußen gab es jetzt die ersten Explosionen. Roboter wurden zerfetzt, die Kreaturen zerrten an den Schleusenluken und suchten den leichtesten Eingang in die Anlage. Bleichfinger straffte sich. Sie würden Zutritt zum Steuerraum nur über seine Leiche erhalten. *
»Es gibt für mich keinen Zweifel«, sagte Atlan. »Wenn Tomagog tatsächlich in der Lage ist, negative Wesen zu schaffen, dann arbeitet er der Macht im Hintergrund in die Hände. Er erzeugt eine Streitmacht des Bösen, mit der er die Namenlose Zone überschwemmen kann, wenn es nötig ist. Ellerswiege ist eine Nachschubbasis für unseren Gegner. Stellt euch vor, was geschieht, wenn diese Kreaturen die Namenlose Zone überfluten!« Wir konnten es uns lebhaft vorstellen. Es gab ein Ungleichgewicht in der Namenlosen Zone, die ursprünglich ein Teil des normalen Universums gewesen war. Das Böse überwog. Zunächst hatten sich hier bösartige Völker einschließlich ihrer Planeten und Sonnen versammelt. Dabei gerieten diese Systeme in absolute »Mauern«, die wir als Schockfronten bezeichneten. Als eine große Anzahl solcher Systeme hinter ihren Schockfronten vorhanden war, riegelte sich das ganze Raumgebiet vom übrigen Universum ab. Der Mechanismus, der das bewirkte, war uns unbekannt. Vielleicht war es eine Variante, die die Natur selbst hervorgerufen hatte. In allen bösen Völkern, die auf diese Weise isoliert wurden, bildeten sich nach und nach Emulatoren. Das waren Wesen, die das restliche »Gute« dieser Völker in sich vereinigten. Emulatoren waren quasi‐unsterblich. Wenn das Ursprungsvolk einen neuen und besseren Emulator hervorgebracht hatte, starb der alte, der sein Leben aber auch aus eigenem Willen beenden konnte. Die Emulatoren stellten das einzige Positive in der Namenlosen Zone dar. Irgend jemand, und hier kam der Begriff der Pagen ins Spiel, hatte ein Interesse daran, daß sich die Emulatoren nicht auswirkten. Es hatte in der Vergangenheit Versuche gegeben, die Emulatoren umzufunktionieren. So waren die Zounts ehemalige Emulatoren gewesen, aber auch die Grenzwächter. Im Fall der Zounts konnte ein Einwirken der Hohen Mächte nicht ausgeschlossen werden. Bei den Grenzwächtern wußten wir noch nicht, wer dahintersteckte. Atlans Vermutung besaß einen Haken. Wenn in Ellerswiege böse
Kreaturen für die Namenlose Zone gezüchtet wurden, warum konnten diese die Barriere nicht durchdringen? Warum war ihr Schöpfer Tomagog ein positives Wesen? »Du hast recht«, meinte ich. »Aber nicht ganz. Tomagog steht nicht im Zusammenhang mit unserem Gegner. Er leidet darunter, daß seine Geschöpfe immer schlimmer werden. Er ist vielleicht ein Opfer und weiß nicht, warum er es tut. Suchen wir das Synthetikon, dann finden wir vielleicht die Antwort!« Die MJAILAM nahm Fahrt auf. Sie wählte einen Kurs, der parallel zu den einzelnen Ringen aus Planetoiden verlief, die sich um die kleine Sonne zogen. So waren die Chancen am größten, daß wir jene Anlage finden würden, die Synthetikon genannt wurde. Immer wieder begegneten wir Schwärmen der unterschiedlichsten Kreaturen. Sie griffen sofort an, ließen jedoch von uns ab, sobald sie sich dem Energieschirm näherten. Die Suche brachte kein Ergebnis. Es waren zu viele Planetoiden, und die Vorgänge rund um das Schiff ließen vermuten, daß es in Ellerswiege zu Entwicklungen kam, die gefährlich sein konnten. Übergangslos tauchte Tomagog wieder auf. Er erschien hinter einer der Felswelten und driftete auf den Kreuzer zu. Atlan wollte ihn aussperren, aber auf meine Bitte hin ließ er den Schutzschirm kurzzeitig abschalten. Eine Schleuse öffnete sich und nahm den Schöpfer auf. Tomagog führte mehrere reglose Leiber in seinem Gespinst mit sich. Er sprach kein Wort. Er suchte eine Halle auf, in der er ungestört war und nur von den Kameras beobachtet wurde. »Das muß ich aus der Nähe sehen!« rief Blödel aus und wandte sich zum Ausgang der Zentrale. Nockemann hielt ihn zurück. »Niemand stört ihn!« sagte der Galakto‐Genetiker. Ich beobachtete, wie der Schöpfer aus den Überresten einiger Kreaturen zwei neue Wesen schuf. Es geschah ziemlich rasch und dauerte kaum zwei Stunden. Längst waren rund um die Halle Roboter mit starken Schutzschirmprojektoren aufmarschiert. Sie
hielten sich bereit, um eine Gefährdung des Schiffes zu verhindern. Es geschah, wie wir vermutet hatten. Tomagog sprach längere Zeit mit seinen Geschöpfen. Er brachte ihnen Wissen über Ellerswiege und deren Verhältnisse bei. Plötzlich stürzten sich die beiden Wesen auf ihn und zerrissen ihn. Sie versuchten es zumindest. Sie rissen ihm ganze Bündel Tentakel aus, aber die wuchsen wie von Zauberhand wieder an. Tomagog versuchte, sich vor den beiden in Sicherheit zu bringen, aber sie griffen nur noch wütender an und beschädigten dabei einen Teil der Hallenwände. Jetzt schritten die Roboter ein. Sie legten die beiden Geschöpfe in Fesselfelder und transportierten sie zu einer der großen Schleusen. Sie stießen sie aus dem Schiff, während ein umgepolter Traktorstrahl dafür sorgte, daß sie nicht mehr zurückkehren konnten. Sie schossen davon. Außerhalb des Bereichs unseres Schutzschirms ließen wir sie frei und beobachteten, wie sie wütend in der Nähe blieben. Erst viel später schlossen sie sich einem Pulk ihrer Artgenossen an, der weit draußen vorbeitrieb. In der Zwischenzeit hatte Tomagog seine Tentakel geordnet. Er tauchte in der Zentrale auf. Die Euphorie, die ihn während des Schaffensaktes beherrscht hatte, war verflogen. Wieder litt der Schöpfer unter Depressionen. Er blieb mitten in der Zentrale stehen und ließ ein dumpfes Stöhnen hören. »Du bist erschöpft«, stellte ich fest. »Wie können wir dir helfen?« »Niemand kann mir helfen«, brummte Tomagog. »Am allerwenigsten ihr! Ihr behindert mich nur. Warum sind die beiden Kreaturen so böse? Ihr habt mich bei der Arbeit gestört!« Er wußte, daß das nicht stimmte, aber er suchte einen Grund, seine Enttäuschung sich selbst gegenüber zu rechtfertigen. »Warum hörst du nicht auf, solche Kreaturen zu erschaffen?« wollte Hage Nockemann wissen. »Wenn du doch weißt, was dabei herauskommt!« »Schweig«, herrschte ich den Galakto‐Genetiker an. Im
Augenblick kam er mir vor wie ein Elefant im Porzellanladen. Ich musterte Tomagog mitleidig, der nicht wußte, wo er war und warum er war. »Dein Drang«, sagte ich langsam, »er ist übermächtig. Du kannst ihn nicht bezähmen. Du weißt auch nicht, warum du es tust. Was meinst du, sollen wir dir dabei helfen, es herauszufinden?« Einen Augenblick leuchtete Hoffnung im Geist des Schöpfers auf. Der Funke erlosch gleich wieder. »Selbst wenn ihr von draußen kommt, hat es keinen Sinn«, murmelte er dumpf. »Ich muß mit dem Chaos leben! Hört ihr sie? Sie verlassen ihre Nester und brechen auf. Was mögen sie vorhaben?« »Laß es uns herausfinden«, schlug ich vor. »Wir helfen dir dabei. Führe uns nach dem Synthetikon. Es ist wichtig, daß wir dorthin gelangen. Vieles hängt davon ab!« »Ihr wollt das Synthetikon zerstören!« schrie Tomagog außer sich. »Aber nein. Bleichfinger ruft. Seine Anlage ist in Gefahr. Ich muß hinaus!« Er stürmte aus der Zentrale hinaus und öffnete eine Schleuse, ohne sich um die Sicherheitsvorschriften zu kümmern. Ein Teil der Luft des betroffenen Korridors entwich und riß ihn hinaus gegen den Schutzschirm. Uster Brick konnte ihn gerade noch rechtzeitig abschalten. Tomagog raste davon, und er hinterließ seinen Kreaturen eine deutlich sichtbare Spur. Hinter ihm flammte der Schirm wieder auf. »Was tun wir jetzt?« wollte Uster Brick wissen. »Wir fliegen zum Synthetikon«, erwiderte ich. »Es war gut, daß wir es erwähnten. Ich weiß jetzt, wo es liegt!« Uster Brick stierte mich von unten her an. Erst jetzt schien ihm aufzugehen, daß ich ja Telepathin war. »Es spricht nicht gerade für deine Intelligenz, was du da denkst«, lächelte ich. Ich wollte ihn auf den Arm nehmen, denn ich hatte seine Gedanken nicht ausspioniert. Er begriff es und antwortete:
»Stimmt. Ich habe nämlich gar nichts gedacht!« 7. Das Chaos war da. Er sah es. Er hörte es, und er erkannte Ellerswiege nicht wieder. Aus dem beschaulichen Raum voller Ausgeglichenheit war in kürzester Zeit ein Höllenhaus geworden. Tomagog versuchte vergebens, seine Gedanken zu ordnen. Es fiel ihm sogar schwer, an die eigene Realität zu glauben. Er bewegte sich, während er zwischen den Felswelten dahineilte, um wenigstens so ein klein wenig das Gefühl für seine Existenz aufrechtzuerhalten. Der Teufelskreis, er schloß sich. Der Drang, der ihn zu immer neuen Schöpfungen befähigte, ließ ihn nicht mehr los. Er wußte, daß er in absehbarer Zeit ein Monster schaffen würde. Nein! dachte er und flehte und seufzte. Ich darf es nicht. Ellerswiege wird vergehen. Mein Reich wird nicht mehr existieren. Die Fremden; die sich Solaner nannten, er dachte kaum noch an sie. Das, was sie ihm erzählt hatten, verdrängte er. Lediglich sein eigener Alptraum blieb ihm gegenwärtig. Du stammst nicht aus Ellerswiege! dröhnten seine Gedanken. Du bist durch die Heimtücke deiner Gegner hierher verschlagen worden. Du lebst in einem Gefängnis, sie haben dich verbannt! Nein! stammelte und schrie er innerlich. »Tomagog, hilf!« drang Bleichfingers Stimme zu ihm durch. Der Erstgeschaffene rief in höchster Not. »Ja, ja«, erwiderte er fahrig und wich einem Pulk seiner Geschöpfe aus, die sich sofort auf seine Spur hefteten und hinter ihm her jagten. Nur weg hier, weg aus der Gegenwart. Fort von der Vergangenheit, die eine einzige Lüge war. Es gab kein Draußen und
keine Fremden, die von draußen gekommen waren. Weg hier! Er sah eine gelbrote Kugel. Sie erwartete ihn. Er rammte sie und taumelte weiter, direkt auf einen Planetoiden zu, der in Bewegung geraten war. Die Kugel riß ihm ein paar seiner Nebenexternitäten aus, aber er holte sie zurück und fügte sie wieder in seinen Körper ein. Nein, so konnten sie ihm nicht beikommen. Tomagog war sich bewußt, daß seine Unsterblichkeit und Unverletzlichkeit sein größtes Kapital waren. Er mußte es voll einsetzen, wenn er wenigstens einen Teil von Ellerswiege retten wollte. Er trieb auf einen Planetoiden zu. Erst im letzten Augenblick erkannte er, daß es sich um die Verhüttungs‐ und Verschrottungsanlage handelte. Er bremste seine Fahrt ab und sank langsam den rauchenden Trümmern entgegen. Es war nicht viel von der Anlage übrig. Die Felstrümmer drifteten langsam auseinander, und Tomagog hörte tief im Innern der Felswelt das Rumoren und Schreien seiner Geschöpfe. Er achtete nicht darauf. Er drang in die äußeren Bezirke ein. Zwischen aufgerissenen Metallwänden und dicken Streben glitt er die Korridore entlang, bis er den Steuerraum fand. Die Decke fehlte, und die Anlagen samt der Positronik waren zerstört. In seinem Korb saß Bleichfinger. »Ich bin da!« rief Tomagog. Wenigstens Bleichfinger war noch an seiner Seite. Das einzige Geschöpf, das nicht bösartig war, hatte auf ihn gewartet. Er setzte vor dem Korb auf und räusperte sich. Da erkannte Tomagog, daß Bleichfinger tot war. Sie hatten seinen Körper teilweise zerstört und ihn dann achtlos in den Korb zurückgeworfen. Der Schock riß den Schöpfer übergangslos in einen tiefen Traum hinein. Zunächst glaubte er, er würde den Verstand verlieren. Dann erblickte er die Barriere von Ellerswiege, und er durchdrang sie auf seiner zweiten geistigen Reise. Er suchte wieder jenes
Planetensystem auf, in dem er bereits einmal gewesen war. Er fand die Intelligenzen, die dort wohnten, und er sah ihre Gestalt. Erinnerung! Du kommst von dort. Du bist einer von ihnen. Sie haben dich verbannt! Du bist bestraft worden, weil du nicht bist wie sie! Ein höllischer Schmerz wühlte in seinem Gehirn. Es riß seine Gedanken auseinander, und gleichzeitig meldete sich ein anderer Schmerz. Er holte ihn in die Wirklichkeit zurück, und er betrachtete seinen Körper und schrie: »Es ist nicht wahr!« Der Alp, er betrog ihn! Aber da war die leise Stimme ganz tief in seinem Innern, die flüsterte: »Es ist die Wahrheit. Begreife es endlich! Dein wirkliches Ich spricht zu dir! Vertraue ihm!« »Ich bin ich!« schrie Tomagog. Er stürzte zu Boden, und sein Körper wurde von heftigen Zuckungen durchlaufen. Der Drang schob ihn auf den Korb und Bleichfinger zu, und Tomagog riß die Überreste seines liebsten Geschöpfes an sich und fingerte in Trance an ihnen herum. Die Trümmer um ihn prasselten und bebten. Alles bäumte sich auf. Ellerswiege geriet aus den Fugen. Unübersehbare Scharen von Kreaturen hämmerten gegen die undurchdringliche Barriere. Sie bebte und schwankte, aber Tomagog achtete nicht darauf. In einer Zeit, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte, schuf er aus den Überresten Bleichfingers ein Wesen von spitzer Pyramidenform, mit Augen wie Feuer und krallenbewehrten Händen. Zehn solcher Hände gab er ihm, und seine Stimme klang haltlos, als er ihm das Wichtigste über Ellerswiege erzählte. Dann floh Tomagog in panischer Angst. Er raste zwischen die Planetoiden hinaus. Tatsächlich gelang es ihm, die wütende Pyramide abzuhängen. Aus sicherem Versteck beobachtete er, wie sie sich in den Raum an der Barriere begab und sofort in Streitereien mit anderen Geschöpfen verwickelt wurde.
Tomagog suchte die Felsen auf, zwischen denen er sich gehäutet hatte. Jetzt war er allein. Niemand half ihm bei seinem schweren Schicksal. Niemand tröstete ihn. Er war unsterblich und wünschte sich vergebens, daß jemand eine Möglichkeit fand, ihn zu töten. Ellerswiege zitterte. Der Leerraum rumorte, und die Planetoiden veränderten ihre Bahnen. Ein Teil von ihnen würde in absehbarer Zukunft in die Sonne stürzen. Ein anderer Teil trieb mit wachsender Geschwindigkeit auf die Barriere zu. »Barriere, Grenze!« flehte Tomagog. »Du bist mein einziger Freund. Verlaß mich nicht. Halte den Gewalten der Bösartigen stand!« Ein Schlag riß ihn um, und unter ihm öffnete sich der Boden. Ein gieriger Schlund drohte ihn zu verschlingen. Wieder floh der Schöpfer hinaus in die Finsternis, bis er das Leuchten der Metallkugel sah. Sie hing dicht über dem Synthetikon, und sie schickte sich an, es zu zerstören. Tomagog fiel es wie Schuppen von den Augen. Das war der eigentliche Feind. Seinetwegen wurde Ellerswiege zerstört. Die Wut verlieh dem Schöpfer übernatürliche Kräfte. Ohne Rücksicht auf den Schutzschirm raste er auf die Kugel zu. Er durchdrang die Energiegrenze, durchschlug die metallene Außenhaut und kam irgendwo auf einem Korridor zu stehen. »Rache!« krähte er. »Rache für Ellerswiege! Warum hilft mir keiner? Solaner, wo seid ihr?« Dann brach er haltlos zusammen. »Bleichfinger!« säuselte er. »Lieber Bleichfinger. Ich komme!« * Die Hölle hätte wirklich nicht schlimmer sein können. Ellerswiege
war wie leergefegt. Die Geschöpfe Tomagogs hatten sich rund um das System an der Barriere versammelt. Dort tobten sie herum. Es war seltsam. Die Kreaturen schienen sich untereinander zu vertragen. Sie konzentrierten sich auf die Barriere und schienen auf ein Signal zu warten. Wer gab es? Tomagog? Unsere Robotsonden, die wir zur Beobachtung ausschickten, blieben unbehelligt. Sie konnten bis nahe an die Barriere gesteuert werden. Wir hatten viel zu viel Zeit verloren. Die Phase der Beobachtung hatte zu lange gedauert. Eigentlich war es Tomagog gewesen, der uns von einer sinnvollen Aktivität abgehalten hatte. Unter uns lag das Synthetikon, der Mittelpunkt von Ellerswiege. Nichts rührte sich dort. Die energetische Aktivität blieb gering. »Es spielt sich eine Tragödie ab«, ließ Joscan Hellmut sich hören. »Und wir stecken mitten drin!« »Da, seht!« rief Uster Brick. Ein pyramidenförmiges Wesen tauchte zwischen den Felswelten auf und näherte sich der Barriere. Es glühte in düsterem Violett. Fast machte es den Eindruck, als handle es sich um eine Neuschöpfung. Die Massen der Kreaturen gerieten in Bewegung. Sie warfen sich gegen die Barriere und riefen ein schwaches Echo hervor. An verschiedenen Stellen geriet die unsichtbare Grenze ins Schwingen. »Die Pyramide, sie ist der Auslöser!« Nockemann verzog das Gesicht, als wundere er sich über seine eigene Feststellung. Er hatte recht. Die Pyramide war das jüngste Geschöpf Tomagogs. Sie gab den Ausschlag. »Wir sind zum richtigen Zeitpunkt gekommen«, meinte Atlan. »Aber was können wir noch ausrichten? Läßt sich der Vorgang abstoppen, wenn wir das Synthetikon zerstören?« Es war ungewiß, welche Reaktionen das hervorrufen würde. Eines schien allerdings festzustehen.
Tomagog hatte Wesen über Wesen geschaffen, und er mußte über eine große Menge an organischem Rohmaterial verfügt haben, als er begann. In letzter Zeit hatte er sich damit begnügt, neue Wesen aus den Körpern toter Geschöpfe zu bilden. Mit einemmal begriff ich das System. Ein klein wenig schien es den Schöpfer zu entlasten und seine positive Einstellung zu bestätigen. »Atlan«, sagte ich. »Ellerswiege verträgt nur eine bestimmte Menge an negativer Ausstrahlung. Sobald eine Übersättigung eintritt, muß es zur Katastrophe kommen!« Der Arkonide nickte. »Sie tritt bereits ein«, antwortete er. »Die Wesen werden die Barriere sprengen!« Es war kaum auszudenken. Wenn sich diese Ballung negativer Kreaturen über die Namenlose Zone ergoß, bedeutete das einen endgültigen Sieg aller bösen Mächte in diesem Gebiet. Dann half unsere Anwesenheit nicht, und auch Chybrains Absichten waren zum Untergang verurteilt. Atlan dachte ebenso wie ich. »Chybrain!« sagte er laut. »Wo mag er stecken? Mir ist jetzt klar, daß er uns hergelockt hat, damit wir das Problem Ellerswiege lösen. Aber wie? Was müssen wir tun?« Es konnte nicht mehr lange dauern, dann hatten die Geschöpfe den ersten Durchschlupf gefunden. Wir mußten einfach damit rechnen. Nach unseren Erfahrungen gab es überall Bruchstellen oder Übergänge, die einen durchließen, wenn man sie fand. Die Gyranter, ein Volk der Namenlosen Zone, war auf solche Art in Bars‐2‐Bars erschienen. Niemand garantierte, daß das Reich Tomagogs hermetisch von der Namenlosen Zone abgeriegelt war. Es lag auch nicht im Sinn des Reservoirs. Die Streitmacht unseres Gegners hatte ihre Sollstärke erreicht. Die Schwingungen an der Barriere hatten inzwischen zugenommen. Der Leerraum bebte ebenfalls, und die Planetoiden
schwankten gefährlich. Sie bäumten sich auf und schüttelten sich. Wenn wir jetzt das Synthetikon zerstörten, brach dann die Barriere zusammen? Der Schaden würde unüberschaubar sein. Wir orteten mehrere der Felswelten, die zusammenstießen und auseinanderbrachen. Ihre Trümmer jagten nach allen Seiten davon, prallten mit weiteren Planetoiden zusammen und lösten dort ebenfalls Zerstörungen aus. Der Ring aus kleinen Asteroiden und Felstrümmern, der die Planetoiden umgab und in unmittelbarer Nähe der Barriere begann, veränderte sich zusehends. Er verwandelte sich in ein unüberschaubares Heer schneller Geschosse, die alles zerrissen, was sich nicht durch starke Energieschirme schützen konnte. In weniger als einer Viertelstunde Standardzeit lag das Gebiet an der Barriere frei. Nur die Pulks der Geschöpfe wogten hin und her, und Hage Nockemann, der die Ortung beobachtete, glaubte, daß es bereits ein paar der Kreaturen gelungen war, Ellerswiege zu verlassen. Uster Brick beschleunigte die MJAILAM und raste in Richtung der kleinen Sonne davon. Hinter uns, an unserem bisherigen Standort, stiessen drei größere Felswelten zusammen und zerbarsten unter starkem Energieverlust. Zwei von ihnen besaßen sogar ein glutflüssiges Inneres, was für Welten dieser geringen Größe unerklärlich war. Weitere Planetoiden rasten auf uns zu, und es erweckte den Eindruck, daß sie absichtlich gesteuert wurden. Ich trat neben Nockemann. »Gibt es feststellbare Steuerimpulse?« fragte ich. »Von wo gehen sie aus?« Der Galakto‐Genetiker schüttelte den Kopf, und Blödel krähte: »Alles rein zufällig. Niemand lenkt diese Felsbrocken!« Erneut flog die MJAILAM ein Ausweichmanöver, dann bremste Uster Brick plötzlich ab. Gleichzeitig schrie Nockemann: »Vorsicht! Ausweichen!«
Es war zu spät. Ein golden leuchtendes Geschoß traf den Schutzschirm, durchdrang ihn und durchschlug die Außenhülle des Kreuzers. Es durchquerte einen leeren Hangar und beendete seine Reise in einem Korridor, der geradewegs zur Zentrale führte. Sirenen klangen auf. Sicherheitsschotte schlossen sich und verhinderten, daß sich die Atemluft verflüchtigte. »Er konnte nicht ausweichen«, rief ich. »Wir haben Besuch bekommen!« »Du meinst, das war …«, begann Joscan Hellmut. Atlan bestätigte es. »Tyari hat recht behalten«, sagte er. »Tomagog ist wieder zurückgekehrt!« * Der Gedanke, daß Tomagog ein Emulator sein könnte, also die positive Restessenz eines negativen Volkes, hatte sich längst zerschlagen. Emulatoren waren sich ihrer selbst bewußt. Tomagog dachte nicht daran, daß er so etwas Ähnliches sein könnte. Er war der Schöpfer, und die Bezeichnung klang absurd, wenn man bedachte, daß der Horizont dieses Wesens äußerst klein war. Tomagog kannte nur Ellerswiege, sonst nichts. Seine Erinnerung reichte nicht weiter zurück als bis zur Schaffung seiner ersten Kreaturen. Und selbst an jene Zeit war sie nur bruchstückhaft, so, als wehre sich sein Bewußtsein mit Absicht dagegen, daß er etwas davon behielt. Auf einer Antigravliege wurde der Körper des Schöpfers hereingebracht. Tomagog rührte sich nicht, und Blödel begab sich augenblicklich neben ihn, um ihn einer ausgiebigen Musterung zu unterziehen. »Medorobots«, verlangte Atlan, aber da rührte sich Tomagog. Ein paar hundert seiner feinen, fädenartigen Tentakel bewegten sich.
»Gebt euch keine Mühe«, rief der Schöpfer. »Ich bin nicht verletzt, nur unsagbar müde! Müde?« Er riß seinen Körper empor, und er fiel fast von der Liege. Blödel versuchte ihn zu stützen, aber seine Tentakel verwickelten sich in den Unmengen der Fäden, die Tomagog aufzuweisen hatte. Kreischend versuchte unser Ofenrohr, sich zu befreien. Es gelang ihm erst, als der Schöpfer nachhalf. Er wälzte sich zu Böden und stand vor uns, wie wir es von früheren Auftritten gewohnt waren. Blödel zog sich fluchtartig aus seiner Nähe zurück. »Warum bin ich müde?« fragte Tomagog sich. »Ich brauche doch keinen Schlaf! Was hat sich verändert?« Ich entnahm seinen Gedanken, daß er eine Vision gehabt hatte, die ihm das Geheimnis seiner Herkunft enthüllt hatte. Ich vermutete, daß unter dem Druck der Ereignisse ein Teil seiner Erinnerung zurückkehrte. Tomagogs Gedanken wandten sich jedoch der Realität zu, so daß ich nichts weiter erfuhr. »Haltet sie davon ab!« rief er mit sich überschlagender Stimme. »Sie dürfen Ellerswiege nicht verlassen! Greift sie an!« Atlans starre Miene hellte sich ein wenig auf. Genau das war es, was er auch beabsichtigte. Er hatte bereits einen entsprechenden Befehl geben wollen. Durch Tomagogs Erscheinen war er daran gehindert worden. »Gib uns Informationen«, verlangte der Arkonide. »Wo müssen wir ansetzen, damit wir eine möglichst große Wirkung entfalten. Welche der Kreaturen sind am gefährlichsten?« »Die Pyramide!« rief der Schöpfer bebend. »Ich habe sie aus Bleichfingers Überresten geschaffen. Sie ist die negativste und gefährlichste Kreatur in ganz Ellerswiege!« Nockemann an der Ortung zuckte mit den Schultern. Er ließ sich von Tomagog das genaue Aussehen geben und speiste es in den Ortungscomputer ein. In der Masse der vielen Geschöpfe war es aussichtslos, ausgerechnet ein pyramidenförmiges Wesen zu
entdecken. Zudem wußte der Schöpfer nicht, wieviele pyramidenförmige Kreaturen er im Lauf seiner Tätigkeit geschaffen hatte. »Wir greifen dort an, wo die stärksten Gravitationsstörungen entstehen«, sagte Atlan. Uster Brick vertiefte sich in seine Steuerkontrollen, und die MJAILAM zog in einer Kurve um die kleine Sonne herum und flog in einem Zickzackkurs zwischen den Planetoiden hindurch. Der Schutzschirm arbeitete auf Volllast. Es war kein einfaches Unterfangen, in diesem relativ kleinen Sektor zu fliegen, in dem es von Felsen nur so wimmelte. Die Gegebenheiten veränderten sich andauernd und in nicht vorhersehbarer Weise. Mehr als einmal entgingen wir nur knapp einer Kollision. Ich lauschte auf Tomagog. Der Schöpfer rührte sich kaum. Er überließ es den Fremden, was geschah. Keinen Augenblick lang dachte er an die Schaffung neuer Wesen. Er beschäftigte sich mit sich selbst, und er wartete auf etwas, das er »richtige Erinnerung« nannte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß er sein Lebensziel erreicht hatte, das vielleicht darin bestand, so viele negativen Geschöpfe zu erzeugen, bis sie von sich aus in der Lage waren, die Barriere zu durchbrechen und sich über die Namenlose Zone zu verteilen. Tomagog bebte. Es war ein Wunder, daß er in all der Zeit bei klarem Verstand geblieben war. Eine Depression nach der anderen, von kurzen Phasen des Wohlergehens abgesehen. Ein normales Wesen hätte das nie ausgehalten. Tomagog hielt es aus. Sein unsterblicher Körper verhinderte, daß er unter der Last zusammenbrach. Immer wieder raffte er sich auf. Die Tatsache, daß ihm die Erinnerung an ein früheres Leben fehlte, machte auch seinen Seelenzustand einigermaßen stabil. Aber stimmte das tatsächlich noch? Immer wieder waren da unbestimmte Gedanken an Visionen und
Erinnerungen. »Erzähle mir über deine Vergangenheit«, bat ich Tomagog. »Woran erinnerst du dich?« Er gab keine Antwort, und ich ließ ihn in Ruhe und widmete meine Aufmerksamkeit den Bildschirmen und der erdrückenden Flut negativer Bewußtseinsströmungen, die auf mich einstürmten, je näher wir der Barriere kamen. Ich blockte meinen Geist dagegen ab. Inzwischen bebte der gesamte Weltraum in Ellerswiege. Nichts blieb auf seiner Bahn, und auch die Sonne war bereits beeinträchtigt. Sie begann zu flackern und schleuderte Protuberanzen von sich, wie man sie in Ellerswiege bestimmt noch nie gesehen hatte. Die MJAILAM näherte sich einer Zone der Barriere, die besonders gefährdet war. Es war abzusehen, daß sie hier bald zusammenbrach, wenn die Wesen das Raumgefüge noch weiter erschütterten. Die Folgen für die kleine Sonne und die benachbarten Gebiete der Namenlosen Zone waren unabsehbar. »Alles einsetzen, was vertretbar ist!« ordnete Atlan an. »Lähmstrahler, Traktorfelder und Psychostrahler!« Die MJAILAM spie unsichtbare Felder und riesige Bündel streuender Strahlen aus, ohne daß eine sofortige Wirkung sichtbar war. Vereinzelt trieben Kreaturen ab, die sich bisher an anderen festgeklammert hatten. Sie wurden von den Traktorfeldern weggerissen. Die Lähmstrahler und Psychowaffen zeigten dagegen keinerlei Wirkung. Auch eine Erhöhung der Energie half nichts. Nach kurzer Zeit ließ Atlan die Strahler abschalten und alle verfügbaren Traktorfelder einschalten. »Du weißt gar nicht, was du da geschaffen hast«, sagte der Arkonide zu Tomagog. »Du hast ein Heer von Ungeheuern in die Welt gesetzt. Wenn sie Ellerswiege verlassen, ist in der Namenlosen Zone der Teufel los!« »Wenn ich mich nur erinnern könnte!« flüsterte der Schöpfer geistesabwesend. »Die ganze Erinnerung brauche ich. Warum fehlt sie mir? Ich darf nicht weiter ohne sie leben!«
Ein Alarmruf des Piloten lenkte mich ab. Scharen von Geschöpfen bewegten sich auf die MJAILAM zu. Sie kamen von hinten, wo keine Traktorfelder wirkten. Es waren Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende. Sie warfen sich gegen das Schiff und nahmen keine Rücksicht auf den Schutzschirm. Er machte ihnen nichts aus. Die MJAILAM begann zu schwanken. Die Triebwerke brüllten auf und schleuderten einen Teil der Angreifer davon. Glühende Punkte wiesen darauf hin, daß die Geschöpfe zerstört worden waren. Aber es waren zu viele. Die Lücke schloß sich augenblicklich. »Nochmal!« rief Tomagog aus. »Macht das nochmal. Tötet die Negativen!« Seine Gedanken jedoch rasten und schrien ständig: Warum laßt ihr meine Geschöpfte nicht in Frieden? Rund um die MJAILAM war der Teufel los. Da waren die Planetoiden, die auf ihren irrsinnigen Bahnen durch Ellerswiege schossen. Da waren die Kreaturen, die an dem Kreuzer herumrissen wie an der Barriere, und zu allem Unglück tauchte jetzt auch noch ein schwarzer Schatten hinter dem Schiff auf, der sich auf einer direkten Bahn heranschob. Ein Planetoid, der gelenkt wurde. »Tomagog, was ist das?« schrie ich. Der Schöpfer fuhr herum. Er hatte Mühe, sich zu orientieren. Erst nach etlichen Sekunden schien er das Gebilde auf dem Heckbildschirm zu sehen. Er brüllte auf. »Es verfolgt mich!« schrillte er. »Ich muß hinaus!« Er torkelte aus der Zentrale und verließ die MJAILAM, ehe wir ihn aufhalten konnten. Durch eine Strukturlücke im Schirm trudelte er davon, aber an seiner Stelle hatten wir plötzlich eine der Kreaturen innerhalb des Schirmbereichs. Sie stürzte sich auf den Kreuzer, und Uster Brick holte sie mit einem Traktorstrahl herein. Ein rasch aufgebautes Fesselfeld sorgte dafür, daß sie keinen Schaden anrichten konnte.
»Es bleibt keine Zeit, sich um das Geschöpf zu kümmern!« Atlan deutete auf den Heckschirm. »Es ist das Synthetikon!« Der Planetoid, vor dem Tomagog Reißaus nahm, war die Stätte seines Schaffens. Es gab keinen schlagenderen Beweis, daß der Schöpfer sich innerlich zu verändern begann. Ein Blitz zuckte uns entgegen und schlug in den Schirm ein. Entladungen breiteten sich aus und verpufften. Das Synthetikon griff an. Das war der Beweis. Wir hätten den Planetoiden gleich zu Anfang zerstören sollen. »Weißt du, woran ich jetzt denke?« fragte Atlan mich. Ich trat neben ihn und nickte. »Ja. Wir haben schon darüber gesprochen. Du glaubst zu wissen, wer in diesem Planetoiden sitzt und die Fäden zieht!« * Die »Höhle des Löwen« war das Nichts. Die EMRADDIN und die DRONIA hingen im leeren Raum, und die Buhrlos bemühten sich vergeblich, eine Schockfront auszumachen. Sie erkannten Sonnen in einer Entfernung von ein paar Lichtjahren. Aber hier, in unmittelbarer Nähe der Koordinaten, gab es nichts, was nennenswert gewesen wäre. »Was sagt die Ortung?« brummte Wajsto Kölsch. »He, Catfish, hörst du mit? Wie sieht es bei euch aus?« Auf dem leeren Monitorschirm tauchte der Kopf von Tina St. Felix auf. Die Buhrlofrau schüttelte den Kopf. »Auch Fehlanzeige!« meinte sie. »Hast du etwas anderes erwartet? Die Roboter haben uns genarrt, sonst nichts!« Stabsspezialist Kölsch schüttelte unwillig den Kopf. Er glaubte nicht daran, daß die Roboter sie an der Nase herumgeführt hatten. Es mußte eine Bewandtnis mit den Koordinaten haben.
»Abstand?« fragte er. »Zwei Lichtminuten zum Koordinatenpunkt«, gab die Positronik zur Antwort. »Soll ich näher herangehen?« erkundigte sich der Pilot. Kölsch verneinte. »Wartet mal«, sagte er. »Da ist etwas!« Tatsächlich erschienen mehrere Reflexe auf den Orterschirmen. Sie tauchten an verschiedenen Stellen auf. Insgesamt sechs waren es, und sie entfernten sich langsam. »Materialisation«, schnaufte Wajsto Kölsch erstaunt. »Keine Anzeichen von Rückkehr aus dem Linear‐ oder Überraum«, fügte Insider hinzu. Kölsch winkte mit der Hand, und der Pilot lenkte die EMRADDIN dorthin, wo sich die Reflexe bewegten. Immer näher kamen sie, und die Reflexe vereinigten sich zu einem einzigen Punkt und kamen dem Kreuzer entgegen. »Boten von Atlan?« Tina St. Felix stellte die Frage sehr zaghaft. Kölsch gab keine Antwort. Er wollte erst einmal abwarten, was die Nahbereichsortung ergab, sobald sie möglich war. Etliche Minuten vergingen. In dieser Zeit bremsten die beiden Kreuzer ihre Fahrt erheblich herunter. Scheinbar bewegungslos hingen sie in der Schwärze der Namenlosen Zone. Die Positronik meldete sich. »Es handelt sich um lebende Wesen. Sie bewegen sich!« »Einschleusung vorbereiten«, ordnete der Stabsspezialist an. Er kalkulierte ein, daß er es mit den Überlebenden einer Katastrophe zu tun hatte. Vielleicht waren es die letzten Überlebenden der MJAILAM. Die Wesen kamen näher. Wärme‐ und Restlichtverstärker zeigten das Unglaubliche. Die Kreaturen bewegten sich ohne Schutzanzüge im Raum. Sie besaßen unterschiedlichste Gestalt. Keines ähnelte dem anderen, aber in ihrem Ziel waren sie sich einig. Kurz vor den beiden Kreuzern teilten sie sich in zwei Gruppen auf. »Funk negativ«, sagte der Pilot. »Keine trägt ein Gerät bei sich!«
Kölsch hatte es nicht erwartet. »Einschleusen«, sagte er. »Aber mit der gebotenen Vorsicht!« Er ahnte nicht, was er sich da an Bord holte. Die Vorsichtsmaßnahmen entsprachen dann auch nur den üblichen Regeln. Eigentlich hätten die Solaner stutzig werden müssen, da sich die Kreaturen ohne Raumanzug bewegten, als seien sie für den Aufenthalt im Weltraum geschaffen. Kölsch und seine Begleiter gingen jedoch davon aus, daß in der Namenlosen Zone nichts den physikalischen Gegebenheiten des Normalraums entsprach. Er hätte das auf die moralischen Bedingungen übertragen müssen, aber das kam ihm viel zu spät in den Sinn. »Explosionen in den Triebwerksbereichen!« meldete die Positronik der EMRADDIN kurz darauf. Aus der DRONIA gingen ähnliche Meldungen ein. »Die Fremden zerstören die Anlagen!« . »Sofort festnehmen!« schrie Kölsch. »Roboter mit Fesselfeldern einsetzen!« Bange Minuten verstrichen. Solaner machten sich auf, die Kreaturen zu fangen. Sie hatten sich aufgeteilt. In allen Schiffsbereichen kam es zu Zwischenfällen mit Zerstörungen, und die Orte der Vorfälle näherten sich immer mehr den Schiffszentralen. Vier Stunden vergingen, bis die letzte der Gestalten dingfest gemacht war und zusammen mit den anderen in einer Halle in einem Fesselfeld zappelte. Kölsch begab sich persönlich dorthin. Ein paar Wissenschaftler versuchten, sich mit den Wesen zu verständigen, aber die Translatoren hatten Mühe, die Sprachfragmente auszuwerten. Der Stabsspezialist erschrak, als er die unterschiedlichen Wesen sah. Eines ähnelt einer Spirale, ein anderes glich einem in der Mitte aufgewölbten Pfannkuchen. Ein drittes besaß annähernd Würfelform. Die Bilder, die aus der DRONIA übertragen wurden, lieferten noch drei andere Gestalten. Endlich schien eine Kommunikation zustande zu kommen. Kölsch
trat an das Fesselfeld und ließ sich einen Translator geben. »Ihr dankt es uns schlecht, daß wir euch aufgenommen haben«, begann er. »Wer seid ihr und woher kommt ihr?« Die Wesen lauschten seinen Worten nach. Dann brach teuflisches Gelächter aus, und Kölsch zuckte unwillkürlich zurück. Ihm wurde klar, worauf sie sich eingelassen hatten. Die Wesen waren eine Bedrohung für sie. »Wir kommen aus dem Gefängnis. Wir sind jetzt frei«, erklärte der Pfannkuchen plötzlich. An seiner Wölbung hatte sich eine Öffnung gebildet, mit der er sprach. »Wir haben unser Ziel erreicht. Wir sind in der Namenlosen Zone und verbreiten das Böse. Wir haben uns auf den Weg gemacht. Unser erstes Ziel wird der Herkunftsort unseres Schöpfers sein.« »Wo ist dieses Gefängnis?« fragte Kölsch. Wieder erntete er nur Gelächter. »Du bist so dumm wie dieser Atlan«, meckerte der Pfannkuchen. »Er sitzt auch im Gefängnis, und unsere Artgenossen sind dabei, ihn zu vernichten. Er und sein Haus sind zu schwach, um unserer Macht zu widerstehen!« Kölsch zuckte zusammen. Er setzte den Translator ab und eilte zum Hallenausgang. »Verändert nichts«, schärfte er den Wissenschaftlern ein. »Ich muß schnellstens …« Dann war er draußen, und sie verstanden nicht mehr, was er sagte. Kölsch rannte in die Zentrale und kombinierte. »Wir fliegen den Koordinatenpunkt an!« rief er vom Eingang aus. »Achtung, Catfish! Atlan ist in Gefahr. Wir befinden uns vor einem Gefängnis. Es muß eine Art Schockfront sein, die wir nicht erkennen können. Wir versuchen, sie zu durchqueren. Volle Gefechtsbereitschaft an alle Stationen!« Nach und nach gingen die Klarmeldungen ein, während Kölsch sich in den Kommandantensessel setzte und dem Piloten bei seinem Flugmanöver half. Einer Eingebung folgend, stellte er eine
Verbindung zu den Wissenschaftlern in der Halle her. »Sagt diesen Kreaturen, daß ihr Fluchtversuch vergeblich war«, ließ er verlauten. »Wir kehren mit ihnen in das Gefängnis zurück!« Er horchte auf das Gelächter und Gemecker, das diese Wesen andauernd von sich gaben. Es verstummte. Ruhe kehrte in der Halle ein. »Koordinatenpunkt fast erreicht!« meldete die Positroniken der beiden Kreuzer. Fast gleichzeitig schlugen die Orter aus. Die EMRADDIN und die DRONIA hatten eine unsichtbare Grenze überschritten. Übergangslos befanden sie sich mitten im Chaos und hatten Mühe, sich zu orientieren. »Dort, die MJAILAM!« rief Tina St. Felix aus. »Sie ist in Not. Der Schutzschirm bricht zusammen!« 8. Es ging zu Ende. Er hatte in letzter Konsequenz begriffen, daß er auch nicht einen Teil von Ellerswiege retten konnte. Sein Reich stand kurz vor der Auflösung. Seine Unsterblichkeit konnte es nicht ändern, und wieder einmal wünschte sich Tomagog, endlich tot zu sein und erlöst. Erlösung war es, was er brauchte. Er empfand seine Existenz immer mehr als Zwang, von dem er sich nicht befreien konnte. Der Tod Bleichfingers hatte in ihm einen Faden zerrissen, und der Schöpfer fühlte sich unglücklich wie nie zuvor. Er war ein Verbannter, ein Bestrafter. Bei Ellerswiege, er war einer von ihnen, obwohl er völlig anders aussah als sie. Er war bestraft worden. Warum? Die Frage peinigte ihn. Warum und womit? Warum schuf er pausenlos negative Wesen? War das die Strafe? Was hatte er verbrochen?
Eine innere Stimme meldete sich bei ihm. Sie sagte ihm, daß er nichts verbrochen hatte. Nur aufgrund seiner Struktur war er in die Verbannung geschickt worden. Seine Artgenossen hatten damit zwei verschiedene Dinge mit einer einzigen Handlung erreicht. Die innere Stimme! Schon einmal hatte er gemeint, sie zu hören. Jetzt war sie stärker als zuvor. Der Wahnsinn kam zu ihm. Es gab zwei Stimmen in seinem Innern, die zu ihm sprachen. Eine hektische, sich überschlagende Gedankenstimme und ein ruhige, sanfte Stimme der Seele. »Ich werde verrückt!« schrie er, und Ellerswiege empfing seine Worte. Tobendes Gelächter antwortete ihm, während der Raum weiter und stärker bebte und von leuchtenden Fingern erhellt wurde. Es waren Strahlenschüsse, wußte er. Sie gingen vom Synthetikon aus. Tomagog sah das Ende kommen. Er wurde apathisch. Wie durch einen Zufall entdeckte er plötzlich den Asteroiden unter sich, in dessen Sandkuhle er sich einmal verkrochen hatte. Er ließ sich hinabsinken. Die Tatsache, daß ihn keine seiner Kreaturen verfolgte, machte ihn ruhig, und immer wieder war er sogar zu klaren Überlegungen fähig. Er war immer vor sich selbst geflohen. Die Verfolgung durch die Geschöpfe seiner eigenen Externitäten war immer eine Verfolgung durch sein böses Gewissen gewesen. Er selbst war immer positiv geblieben. Seine Geschöpfe, sie hatten nichts von seiner Seele in sich, wohl aber von seinem Leben. Er hatte sie geschaffen, und sie würden seinen Tod nicht verkraften können. Er ahnte und hoffte es. Deshalb war er unsterblich. Er durfte nicht sterblich sein, weil sonst alle seine Kreaturen starben. Tomagog sah den Widerspruch in sich und kämpfte nicht dagegen. Zum ersten Mal in dem Leben, an das er sich erinnerte, akzeptierte er ihn, ohne ihn zu verstehen. Er versuchte, ihn mit Hilfe seiner Visionen zu erklären, die er gehabt hatte. Er brachte es nicht fertig. So kehrte er zu den alten Fragen zurück, die ihn immer
wieder bewegt hatten. Wie hatte Ellerswiege früher geheißen? Woher nahm er überhaupt die Gewißheit, daß sein Reich zu Anfang einen anderen Namen getragen hatte? Was war gewesen, bevor die Erstgeschaffenen gelebt hatten? Du bist nicht von hier! sagte die Stimme in ihm. Er bewegte sich unruhig und versteckte sich tief im staubigen Sand. Seine Umgebung strahlte mehr Wärme ab als früher. Es hing mit dem Chaos zusammen, das um ihn herum herrschte. Die kleine Sonne sprühte und warf ihren Hitzemantel von sich. Wenn der Asteroid jetzt mit einem anderen zusammenstieß und platzte, war das endlich seine Erlösung? Starb er, der Unsterbliche? Die lange Phase der Niedergeschlagenheit wich endlich von ihm. Er verspürte ein wenig Hoffnung und Euphorie. Sie beflügelten ihn, und er kroch aus seinem Versteck an die Oberfläche und machte sich einen Sandhaufen zurecht. Er wartete auf eine Eingebung. Flüchtig dachte er an die Solaner. Er hatte ihr Schiff verlassen, als das Synthetikon angriff. Er hatte sich in letzter Zeit immer mehr von seiner eigentlichen Wirkungsstätte entfernt. Seit jenem Zeitpunkt eigentlich, an dem das Metallschiff in Ellerswiege erschienen war. Jetzt trieb es ihn nicht mehr dahin, obwohl er mehrmals von Atlans Angebot Gebrauch gemacht hatte, im Schutz des Schiffes zu leben. Ihm blieb lediglich dieser kleine Asteroid, an den er sich klammerte und auf dem er endlich sein richtiges Lebenswerk gestalten wollte. Etwas Positives. Seine Haupt‐ und Nebenexternitäten glitten über das Geröll und den Sand. Sie befeuchteten und formten, gestalteten und schufen. Tomagog war in dieser Phase glücklich wie noch nie in seinem Leben, und er pfiff auf die fehlende Erinnerung. Was um ihn herum in Ellerswiege vor sich ging, nahm er nicht mehr wahr. Er konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit und legte sein ganzes Können hinein. Und hinterher unterhielt er sich ausgesprochen
lange mit seinem Geschöpf und erzählte ihm über Ellerswiege und über sich. Endlich hatte er ein Geschöpf, mit dem er sich unterhalten konnte wie mit Bleichfinger. Die Erinnerung an den letzten Erstgeschaffenen, der gestorben war, weil er zu spät gekommen war, lüftete den Schleier der Selbsthypnose, der ihn gefangen hielt. Tomagog kehrte in die Wirklichkeit zurück und betrachtete das, was er geschaffen hatte. Zwei Erkenntnisse erschienen gleichzeitig in seinem Gehirn. Das Geschöpf rührte sich nicht und besaß die Form derer, die er sein Volk nannte und die nicht seine Form war. Und er hatte ein lebloses Etwas geschaffen, ein Gepappe aus Sand, Staub und Schleim. Eine Totgeburt. Tomagog begann zu schreien. Er schrie wie noch nie in seinem Leben, und die Planetoiden in seiner Nähe erzitterten. Der Sand unter ihm gab nach und rann in die sich rasch verbreiternden Risse hinein, die sein Schreien erzeugte. Tomagog lag auf nacktem Fels und war nicht viel mehr als ein wimmerndes Bündel. Der aufkommende Wahnsinn riß ihn an den Rand des Todes. Er sah schon die ewige Schwärze, die auf ihn zueilte. Sie öffnete ihren Rachen, um ihn zu verschlingen, und die sanfte Stimme der Seele in seinem Innern versiegte. Nichts hatte er mehr vor sich, aber die Unsterblichkeit hielt ihn noch immer in ihren Klauen und ließ ihn nicht los. In diesem Augenblick setzte die Erinnerung ein. Tomagog erinnerte sich. Nicht nur an den früheren Namen von Ellerswiege. Nein, an alles. An sein früheres Leben, an seine Kraft. Und an das, was sie mit ihm gemacht hatten. Die Erinnerung überwältigte ihn, und er fühlte sich hilflos. Wie ein Kind nach der Mutter rief er nach den Solanern und hoffte, daß sie ihn hörten und ihn retteten, bevor seine Kreaturen ihn zerfleischten. Tomagog erinnerte sich, daß er nicht immer unsterblich gewesen war. Mit seiner Erinnerung wurde etwas in ihm ausgelöst, und aus staunenden Augen beobachtete er, wie sich der liegende Körper
langsam zu verändern begann. Er nahm eine andere Form an, und sie würde mit der identisch sein, die die Totgeburt neben ihm hatte. Tomagog war es egal. Er opferte seine Unsterblichkeit gern. Für ihn zählte nur eines. Er hatte endlich seine Erinnerung wieder. * Die Übermacht war einfach zu groß. Es konnte nicht lange dauern, bis wir völlig manövrierunfähig waren. Der Planetoid griff mit starken Energiefeldern nach uns und lähmte unsere Beweglichkeit. Gleichzeitig wurde unser Schutzschirm von einem Bündel starker Strahlen getroffen. Er glühte auf, und die übermächtigen Kräfte zerrten an ihm. Die Anzeigen pendelten in den kritischen Bereich hinein, und Nockemann rief: »Nichts wie weg. Das geht keine zwanzig Sekunden mehr gut!« Er hatte recht. Der Schutzschirm begann zu flackern. Sein überlasteter Energiehaushalt deutete eine Katastrophe an. Noch immer schoß das Synthetikon auf uns, und Uster Brick suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, den Kreuzer in Sicherheit zu bringen. In einem Sprung rückwärts jagte er ihn zwischen die Kreaturen Tomagogs hinein, die die Kugel sofort völlig umhüllten. Aber es war zu spät. Der Schirm brach zusammen, und die Alarmsirenen nervten uns mit ihrem herzzerreißenden Wimmern. Die Positronik gab irgendwelche Ratschläge, ohne daß jemand sie beachtete. »In die Beiboote!« hörte ich einen Solaner rufen. Ich fragte mich, welche er meinte. Das Synthetikon feuerte noch immer. Die MJAILAM erhielt einen Treffer und wurde davongeschleudert. Es krachte, als sie mit einem kleineren Asteroiden kollidierte. Wir verloren den Boden unter den
Füßen und schlitterten kreuz und quer über den Fußboden. Einen Augenblick lang setzte die Schwerkraft aus. »Aus!« hörte ich Atlan sagen. »In die Raumanzüge, schnell!« Er hob verwundert den Kopf, weil keiner seiner Anweisung folgte. Gleichzeitig hörte der Beschuß durch den Planetoiden auf, und auf dem Bildschirm des eingeschalteten Funkgeräts zeichnete sich der Kopf eines Mannes ab. »Meditiert ihr?« schimpfte Wajsto Kölsch in gespieltem Ernst. »Und wir holen unterdessen die Kastanien für euch aus dem Feuer!« »Wajsto!« rief Atlan aus. »Dem Schicksal sei Dank. Ihr habt es geschafft!« »Bringt euch in Sicherheit!« sagte der Stabsspezialist. »Wir halten euch die feuerspuckende Station vom Leib! Wir, das sind die EMRADDIN und die DRONIA!« Endlich hatten wir Unterstützung, und mir war für die Zukunft nicht mehr bange. Atlan sah das Leuchten in meinen Augen und grinste. Er half mir beim Aufstehen. »Wajsto! Zerstört die Station!« erwiderte der Arkonide. »Und gebt acht. Sobald ihr etwas seht, das sich aus den Trümmern des Planetoiden heraus in Sicherheit bringen will, vernichtet es ebenfalls!« »In Ordnung. Das Gefängnis wird langsam durchlässig, da müssen wir uns beeilen!« »Heißt das, daß ihr …« »Es heißt, daß wir ein paar dieser Kreaturen an Bord haben!« unterbrach Kölsch ihn. »Also jetzt, weg mit euch, damit wir freie Schußbahn haben!« Uster Brick reagierte und beschleunigte die MJAILAM. In einem wahnwitzigen Manöver führte er sie durch Ellerswiege. »Tomagog ruft!« erkannte ich plötzlich. »Wir müssen ihm helfen. Er verändert sich. Er hat Angst, von seinen Kreaturen getötet zu werden!« »Das hat er immer«, meinte Joscan Hellmut, aber ich schüttelte
den Kopf. »Diesmal ist es anders. Er scheint seine Gestalt zu verlieren. Tomagog erinnert sich!« Atlan schaltete sofort. »Los!« rief er. »Wir müssen wissen, was mit ihm los ist und los war!« Er verstand, daß wir nur über Tomagog hinter das Geheimnis von Ellerswiege kommen würden. Unsere Vermutungen bedürfen einer Bestätigung. Nur der Schöpfer konnte sie uns geben. * Es dauerte eine Viertelstunde, bis wir Tomagog gefunden hatten. Er lag auf einem kleinen Asteroiden, der nur noch aus zwei lose zusammenhängenden Felsstücken bestand. In der Nähe der Bruchkante machten wir die müden Bewegungen des Schöpfers aus. »Tyari, Josc!« sagte Atlan. »Zieht euch an! Wir steigen aus und schweben hinüber!« Wir eilten zu den Schränken, in denen die Raumanzüge hingen. Es wäre sicherer gewesen, wenn wir sie nach unserem Abenteuer in der Verschrottungsanlage anbehalten hätten, aber in der Zentrale eines Kreuzers hatten wir uns eben sicher gefühlt. Die ganze Zeit über lauschte ich auf Tomagogs Gedanken. Sie waren teilweise unklar, teilweise überdeutlich. Ein Ereignis überlagerte sie zum größten Teil. Tomagog hatte eine Totgeburt geschaffen, ein Wesen aus Staub und Dreck. Die Erkenntnis hatte ihm einen solchen Schock versetzt, daß die Sperre tief in seinem Innern gebrochen war. Tomagog wußte jetzt, was vor Ellerswiege gewesen war. Er sah die MJAILAM und dachte etwas. Wir sollten ihm die Kreaturen vom Hals halten, die dem Kreuzer folgten. Ich sagte es Atlan, und der Arkonide trug Uster Brick auf, so nahe an den
Asteroiden heranzufliegen, daß dieser sich innerhalb des Schutzschirmes befand. Nach Abschluß dieses Manövers stiegen wir aus und glitten hinüber zu dem Felsen, auf dem der Schöpfer lag. Tomagog hatte sich verändert. Sein zopfähnlicher Körper war zu einem Klumpen geworden. Die vielen fadenähnlichen Tentakel klebten darauf und verschmolzen teilweise damit. Noch immer dauerte der Vorgang an, und Tomagog setzte ihm keinen Widerstand entgegen. »Eine Metamorphose«, sagte Atlan. »Nein, eine Rückverwandlung!« erwiderte ich. Ich empfing klar die Gedanken des Schöpfers, der froh war, bald kein Schöpfer mehr zu sein. Ich hielt den Mund, denn sie sollten die Wahrheit aus seinem eigenen Mund hören. »Seid ihr da?« ächzte Tomagog nach einer Weile. Atlan bestätigte es. »So hört, was ich euch zu sagen habe. Meine Erinnerung ist da. Ich weiß jetzt, wer ich bin und warum ich bestraft wurde. Ellerswiege ist mein Gefängnis. Nicht das meiner Geschöpfe. Sie sind so böse, daß sie die Möglichkeit haben, die Barriere zu durchdringen oder sie ganz zu sprengen. Ihr wollt wissen, warum es so gekommen ist? Einst war ich ein begabter Wissenschaftler im Volk der Zyrtonier. Ich beschäftigte mich mit den Grundlagen der Biogenetik. Ich wurde Projektleiter und erklomm die Leiter der Hierarchie bis ganz oben. Ich wurde 297‐Page. Ich war jedoch nicht mit dem Plan der Pagen einverstanden, ein gewaltiges Potential an bösen Kräften zu schaffen, mit dem die Zyrtonier das freie Universum überfallen wollen. Die Völker der Namenlosen Zone sollten nach dem Plan der Pagen ein Machtfaktor werden, dem niemand widerstehen konnte. Zusätzlich sollte ich ein Heer böser Kreaturen erstellen. Ich weigerte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben zeigte ich, wer ich war. Einer der wenigen positiven Ur‐Zyrtonier, die es zu der
damaligen Zeit noch gab. Fragt mich nicht, wo meine Heimat gewesen ist. Ich weiß es nicht mehr. Ich kann nur vermuten, daß ich in der Namenlosen Zone gelebt habe. Ich kenne nur meine zweite Heimat, das Gefängnis Ellerswiege. Die Pagen haben mich damals hierher verbannt. Sie errichteten eine verstärkte Schockfront, die unüberwindlich war. Sie haben mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen. Meine eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse versetzten sie in die Lage, mich durch eine physisch‐psychische Manipulation zu dem körperlich unsterblichen Schöpfer zu machen. Sie zwangen mich also, meine Fähigkeiten und mein Wissen für das böse Ziel einzusetzen. Aber sie waren gnädig. Sie raubten mir die Erinnerung und schickten mich hierher. Reservoir der Schlafenden Mächte! So nannten sie Ellerswiege damals. Vergebt mir, ich wußte nicht, was ich tat! Ich habe euch falsch beraten, als ich sagte, ihr solltet das Synthetikon zerstören. Ich war verwirrt. Erhaltet es! Sorgt dafür, daß die Barriere noch verstärkt wird. Meine Geschöpfe dürfen niemals die Möglichkeit erhalten …« Ein gewaltiger Energieblitz blendete uns. Automatisch fuhren die Blenden unserer Helme herab. »Tomagog«, sagte ich erschüttert. »Dazu ist es zu spät. Wir haben Unterstützung erhalten. Zwei weitere Metallkugeln sind gekommen. Sie haben das Synthetikon soeben zerstört!« Der Schöpfer lag jetzt in seiner ursprünglichen Gestalt vor uns. Er besaß das Aussehen einer zwei Meter großen Zecke. Sie war in ihrer Form identisch mit allen Robotern verschiedener Größen, die wir bisher kennengelernt hatten. Damit stand es endgültig fest. Die Pagen waren Zyrtonier. Sie waren der Gegner. Chybrain hatte uns eine Spur gelegt, die unmittelbar zu diesem Volk führte. Leider konnte Tomagog uns nicht sagen, wo das Volk der Zyrtonier jetzt zu suchen war.
»Das Synthetikon zerstört«, ächzte der Schöpfer. Sein Körper bewegte sich arhythmisch. »Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Ihr müßt alle Geschöpfe vernichten und mich mit ihnen!« Wir versuchten ihm klarzumachen, daß wir aufgrund unserer Mentalität nicht dafür geeignet waren, Massenabschlachtungen durchzuführen. In uns war die Hemmschwelle zu groß, obwohl wir uns der Konsequenz bewußt waren, die darin bestand, daß die bösartigen Geschöpfe der Namenlosen Zone und später einmal das übrige Universum überschwemmen würden. Tomagog dachte nach. Ich spürte, daß er etwas wußte oder ahnte, es uns jedoch verheimlichte. Ich kam nicht dahinter, und so nahm das Schicksal seinen Lauf. »Als Schöpfer war ich unsterblich!« Das war der einzige Hinweis, den er uns gab, »Jetzt laßt mich einen letzten Versuch unternehmen, zu meinen Geschöpfen zu sprechen!« »Es gibt kein Wiedersehen!« erkannte ich. »Leb wohl, Tomagog!« Der Schöpfer gab keine Antwort mehr. Die Scham verschloß ihm den Mund. Je mehr er über seine Erinnerung sprach, desto gewaltiger stürmten die Gewissensbisse über ihn herein. Tomagog war so positiv, daß er sich über das quälte, wofür er gar nichts konnte. Wir kehrten schweigend in die MJAI‐LAM zurück und entließen Tomagog und seinen Felsen aus dem Schutzschirm. Fast gleichzeitig stürzten sich seine Geschöpfe auf ihn. Ich erkannte augenblicklich, daß wir einen Fehler gemacht hatten. Tomagog hatte uns getäuscht. »Helft ihm!« würgte ich. »So helft ihm doch. Uster …!« Starr beobachteten wir, wie sie Tomagog töteten. Sie verfuhren mit ihm, wie sie es lange untereinander getan hatten. Sie zerfetzten den Körper des Zyrtoniers, und seine Schreie waren schrecklich. Ich wollte mein Bewußtsein dagegen abblocken, aber ich brachte es nicht fertig. »Er ist nicht mehr unsterblich«, kam es mir über die Lippen. »Jetzt
wissen wir, wie er es gemeint hat!« Tomagog starb. Sein Bewußtsein erlosch, und ich wandte mich traurig vom Bildschirm ab, auf dem ein mattes Echo des Asteroiden zu sehen war. Aber was war das? Was ging da draußen vor? Ich konnte es kaum glauben. Jetzt erst begriff ich den letzten Sinn von Tomagogs Worten. Seine Geschöpfe lösten sich auf! Sie wurden zu kleinen, strahlenden Energiebällchen, und innerhalb von zehn Minuten hatten sich alle Geschöpfe im Reservoir der Schlafenden Mächte in solche Bällchen verwandelt. Ellerswiege war mit einemmal hell erleuchtet. Dann sanken die Bällchen den Planetoiden und Asteroiden und ihren Trümmern entgegen. Sie vereinigten sich mit ihnen. Gleichzeitig erlosch die Flut der negativen Gedanken, die das kleine Sonnensystem erfüllt hatte. Ich fühlte mich leicht und beschwingt. Positive Gedankenimpulse kamen auf, und sie glichen denen von Neugeborenen. Fröhlich teilte ich Atlan und den Solanern meine Entdeckung mit. »Tomagog war mehr als nur ein begnadeter Biogenetiker«, hörte ich mich sagen. »Er ist durch seinen Tod nun doch noch der Schöpfer von etwas Positivem geworden!« Vielleicht erwuchs aus den beseelten Felstrümmern eine neue, positive Form des Lebens. Die Schlafenden Mächte existieren nicht mehr. Ein gewaltiger Herd des Bösen in der Namenlosen Zone ist beseitigt. Für uns stand endgültig fest, daß es wirklich Chybrain gewesen war, der uns nach Ellerswiege gelockt hatte. Er hatte von uns erwartet, daß wir diesen Hort des Bösen beseitigten. Wir hatten lange gezögert, ehe wir innerhalb der Barriere die Initiative ergriffen hatten. Im Nachhinein erwies es sich als richtig. Hätten wir das Synthetikon frühzeitig zerstört, wären alle Kreaturen in die Namenlose Zone entkommen. Vielleicht hätte auch Tomagogs Tod sie dann nicht aufhalten können, weil sie zu weit entfernt waren.
9. Sechs Stunden später brachen wir auf. Es gab nichts mehr zu erforschen in Ellerswiege. Wir bekamen noch mit, wie sich aus den Trümmern des Synthetikons eine Raumzecke von etwa hundertfünfzig Metern Länge löste. Sie war unbeschädigt und hatte sich in starke Abwehrschirme gehüllt. Sie verschwand schnell in der Ferne. Die Schockfront hatte sich aufgelöst, die Planetoiden und Trümmer waren jetzt weithin zu orten. Die Zyrtonier würden erfahren, was geschehen war. Ich war mir sicher, daß es bald zu einer direkten Konfrontation mit diesem Volk kommen würde. Und Chybrain? Wo war er? Wirkte er an anderer Stelle? Oder hatte er sich irgendwo übertölpeln lassen? Ich wollte Atlan nicht beunruhigen, deshalb behielt ich meine Gedanken für mich. Ich trat neben ihn und legte ihm einen Arm um die Hüfte. Ich mußte den Arm dazu schon etwas anheben. »Wajsto, wir kehren zur SOL zurück«, sagte Atlan. Kölsch schüttelte energisch den Kopf. Bisher war der Stabsspezialist nicht dazu gekommen, über seine eigenen Erlebnisse beim Flug in die Namenlose Zone zu berichten. Jetzt sagte er: »Der Nabel ist verriegelt. Kein Schiff kann mehr hindurch. Der leuchtende Ring ist erloschen. Nur unsere Raumboje zeigt den Standort an!« Ich sah es in Atlans Augen aufblitzen. Deutlich spürte ich, wie er sich in Gedanken bereits mit der Lösung dieses Problems befaßte. »Also gut«, entschied er. »Wir fliegen die Basis des Ersten Zählers an und machen dort Station!« Natürlich konnten nur die Zyrtonier für die Verriegelung des Nabels verantwortlich sein. Sie spannen ihre Fäden überall in der Namenlosen Zone und bis weit darüber hinaus.
Mir ging Tomagog nicht aus dem Sinn. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir das Schicksal eines Wesens miterlebt, das wesentlich älter war als die meisten von uns. Die Unsterblichkeit hatte es unglücklich gemacht. Der Tod mochte für es wie eine Erlösung gewesen sein, wie der Schritt in eine höhere, bessere Welt. Ich würde den Schöpfer nie vergessen, denn ich hatte mit ihm gelitten und seine Gedanken mitempfunden, ohne es ihm zu sagen, daß ich eine Telepathin war. »Meinst du, es gibt noch weitere positive Ur‐ Zyrtonier?« fragte ich Atlan. Er zuckte mit den Schultern und blickte mich an. Er sagte nichts, aber ich verstand ihn auch so. Es ging ihm wie mir. Er hoffte, daß die positiven Kräfte nicht am Aussterben waren. ENDE Für Atlan und seine Gefährten wird die Zeit knapp. Der Junk‐Nabel, der allein aus der Namenlosen Zone ins normale Universum hinausführt, wird wirksam verriegelt – und die endgültige Schließung des Nabels steht unmittelbar bevor. Damit sieht es aus, als sei Atlans Expedition gefangen im Kerker der Ewigkeit … KERKER DER EWIGKEIT – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐ Bandes. Der Roman wurde von Peter Terrid geschrieben.