Scan by: der_leser
K: tigger
Juni 2004: V.1.0
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
WILBUR SMITH
DIE
SCHWI...
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Scan by: der_leser
K: tigger
Juni 2004: V.1.0
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
WILBUR SMITH
DIE
SCHWINGEN
DES HORUS
Roman
Aus dem Englischen
von Hans-Jürgen Baron Koskull
WELTBILD
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Seventh Scroll« bei Macmillan, London
Genehmigte Lizenzausgabe
für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg 2003
Copyright © der Originalausgabe 1995 by Wilbur Smith
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
1997 beim Blanvalet Verlag
in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, München
Übersetzung: Hans-Jürgen Baron Koskull
Umschlaggestaltung: DYADEsign, Düsseldorf
Umschlagmotiv: Mauritius, Mittenwald;
Illustration: Thomas Jarzina, Düsseldorf
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8289-6790-6
Auch dieses Buch widme ich meiner Frau Danielle.
Nach all den von gegenseitiger Liebe
erfüllten Jahren hoffe ich, daß uns noch eine lange Zeit
gemeinsamen Wirkens beschieden sein wird.
Die purpurfarbenen Schatten der Abenddämmerung, die aus der Wüste heranzog, legten sich über die Dünen. Mit ihnen erstarben alle Geräusche, und der Abend versank in Schwei gen. Sie standen auf dem Kamm der Düne und schauten hinunter auf die Oase und die sie umgebenden kleinen Dörfer. Die weißgetünchten Gebäude hatten flache Dächer und wurden nur von den Dattelpalmen überragt. Allein die Moschee und die koptische christliche Kirche überragten sie. Diese Bastionen des Glaubens standen einander an beiden Seeufern gegenüber. Über der dunklen Oberfläche des Sees näherte sich eine Schar Enten, die bei der Landung vor dem Schilfgürtel das Wasser weiß aufspritzen ließen. Der Mann und die Frau waren ein ungleiches Paar. Er war hochgewachsen, aber schon ein wenig gebeugt. Sein silberfar benes Haar leuchtete in den letzten Sonnenstrahlen. Sie war jung, Anfang Dreißig, wachsam und lebendig. Sie hatte dich tes, krauses Haar, das im Nacken von einem Lederriemen zu sammengehalten wurde. »Es wird Zeit, hinunterzugehen. Alia wird schon auf uns warten.« Er blickte sie mit freundlichem Lächeln an. Sie war seine zweite Frau. Beim Tode der ersten hatte er gedacht, mit ihr sei auch die Sonne für immer hinter dem Horizont versun ken. Er hatte nicht geglaubt, noch einmal ein solches Glück erleben zu dürfen. Jetzt waren diese junge Frau und seine Ar beit der Inhalt seines Lebens. Er war glücklich und zufrieden. Plötzlich sprang sie davon, löste den Riemen, der das Haar zusammengehalten hatte, ließ sich die dichte, dunkle Mähne um den Kopf wehen und lachte. Es war ein fröhliches Lachen. Dann lief sie den steilen Hang der Düne hinunter, und ihr lan ger Rock flatterte um die wohlgeformten braunen Schenkel.
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Auf der Mitte des Hangs stolperte sie und rutschte aus. Er war stehengeblieben und lächelte wohlwollend. Manch mal war sie noch ein richtiges Kind. Aber sie konnte auch ernst und würdevoll wirken. Er war sich nicht sicher, wie sie ihm besser gefiel, aber seine Liebe zu ihr war immer die gleiche. Am unteren Rand der Düne angekommen, setzte sie sich auf, lachte und schüttelte sich den Sand aus dem Haar. »Jetzt bist du an der Reihe!« rief sie zu ihm hinauf. Mit vor sichtigen Schritten und seinem Alter entsprechend etwas steif, folgte er ihr und wahrte das Gleichgewicht, bis er unten ange kommen war. Er half ihr beim Aufstehen, küßte sie aber nicht, obwohl er es gern getan hätte. Für einen Araber schickt es sich nicht, seine Zuneigung offen zu zeigen, nicht einmal seiner geliebten Frau. Bevor sie sich auf den Weg zum Dorf machten, zog sie sich Rock und Bluse zurecht und band den Haarschopf wieder im Nacken zusammen. Der Weg führte sie vorbei an den dichten Schilfbeständen und auf wackeligen Brücken über die Bewäs serungskanäle. Die Bauern, die ihnen auf dem Heimweg von den Feldern begegneten, grüßten sie ehrerbietig. »Salaam aleikum, Doktari! Friede sei mit dir, Doktor.« Sie begegneten allen Gebildeten mit großem Respekt, besonders aber diesem Mann, der sie und ihre Familien im Verlauf vieler Jahre stets besonders freundlich behandelt hatte. Viele von ih nen hatten schon für seinen Vater gearbeitet. Dabei hatte es keine besondere Bedeutung, daß sie Muslime waren und er sich zum christlichen Glauben bekannte. In ihrer Villa begrüßte sie die alte Haushälterin Alia mit vorwurfsvoller Miene und murmelte: »Sie kommen zu spät. Ständig verspäten Sie sich. Warum können Sie nicht pünktlich sein wie jeder anständige Mensch? Schließlich sind wir doch jemand.« »Mein altes Mütterchen, du hast immer recht«, neckte er sie.
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»Was würden wir tun, wenn du nicht für uns sorgtest?« Damit schickte er sie fort, und während sie zur Tür ging, sah sie sich noch einmal mit enttäuschtem Gesicht nach ihm um und ver suchte, dahinter die Liebe und Fürsorge zu verbergen, die sie für ihn empfand. Auf der Terrasse nahmen die beiden das einfache Abendes sen ein, Datteln und Oliven, ungesäuertes Brot und Ziegenkäse. Inzwischen war es dunkel geworden, nur die Sterne über der nächtlichen Wüste leuchteten wie Kerzen. »Royan, Blüte meines Lebens.« Er beugte sich über den Tisch und berührte zart ihre Hand. »Es wird Zeit, die Arbeit ruft.« Er stand auf und ging durch die offene Terrassentür ins Arbeitszimmer. Royan Al Simma folgte ihm, ging zum großen stählernen Tresor an der Rückwand des Zimmers und stellte die richtige Zahlenkombination ein. Der Tresor paßte eigentlich nicht in diesen Raum mit den alten Büchern und Schriftrollen, den Sta tuen, Artefakten und Grabbeigaben, die er in einem langen Le ben zusammengetragen hatte. Als sich die schwere Stahltür öffnete, blieb Royan einen Au genblick stehen und schaute hinein. Jedesmal, wenn sie dieses ehrwürdige Zeugnis aus längst vergangener Zeit vor sich liegen sah, verspürte sie, auch wenn seit dem letzten Mal nur wenige Stunden vergangen waren, diesen eigenartigen Schauer der Ehrfurcht. »Die siebente Schriftrolle«, flüsterte sie und wagte kaum, sie zu berühren. Sie war fast viertausend Jahre alt. Ihr Verfasser war ein Genie gewesen, wie es die Menschheitsgeschichte nur selten hervorbringt, ein Mann, dessen Körper in diesen Jahrtau senden zu Staub zerfallen war, den sie jedoch inzwischen so gut kannte und achtete wie ihren eigenen Ehemann. Seine Wor te waren Ausdruck ewiger Wahrheit, und sie sprachen zu ihr aus einem paradiesischen Bereich jenseits des Grabes über die
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Gegenwart der großen Trinität Osiris, Isis und Horus, an die er mit der gleichen tiefen Frömmigkeit geglaubt hatte, mit der auch sie an eine andere göttliche Dreifaltigkeit aus einer späte ren Periode glaubte. Sie trug die Schriftrolle zu dem langen Tisch, an dem ihr Mann Duraid bereits arbeitete. Er blickte auf, als sie die Rolle vor ihn auf den Tisch legte, und einen Augen blick lang sah sie in seinen Augen die gleiche geheimnisvolle Ergriffenheit, die sie selbst spürte. Er wollte die Schriftrolle stets vor sich liegen sehen, obwohl es eigentlich nicht notwen dig gewesen wäre, er könnte ebensogut mit den Fotos und dem Mikrofilm arbeiten. Es war so, als brauche er die unsichtbare Gegenwart des Verfassers, wenn er sich mit den Texten be schäftigte. Doch schon nach wenigen Augenblicken war er wieder der leidenschaftslose Wissenschaftler und sagte: »Deine Augen sind besser als meine, mein Schatz. Was hältst du von diesem Schriftzeichen?« Sie lehnte sich über seine Schulter und betrachtete die Hie roglyphe auf dem Foto der Schriftrolle, die er ihr zeigte. Sie überlegte kurz, nahm Duraid das Vergrößerungsglas aus der Hand und sah sie sich noch einmal genauer an. »Es sieht so aus, als habe Taita ein eigenes Kryptogramm er funden, um uns auf die Folter zu spannen.« Sie sprach von dem alten Verfasser so, als sei er ein lieber und auch heute noch lebender Freund, der manchmal versuchte, sie ein wenig zu verwirren und hinters Licht zu führen. »Nun, wir werden trotzdem versuchen festzustellen, was er damit gemeint hat«, erklärte Duraid mit sichtlichem Vergnü gen. Der Umgang mit den alten Texten war sein Lebensinhalt. Die beiden arbeiteten weiter in der Kühle des Abends. Das war die Zeit, in der sie am besten vorankamen. Manchmal sprachen sie arabisch und manchmal englisch. Sie beherrschten beide Sprachen, als wäre es eine. Ihre dritte gemeinsame Spra
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che, das Französische, verwendeten sie weniger oft. Beide hat ten sie Universitäten in England und den Vereinigten Staaten besucht, weit entfernt von diesem ihnen vertrauten, wahren Ägypten. Royan liebte den Ausdruck »dieses wahre Ägypten«, den auch Taita so oft in seinen Schriftrollen verwendete. Sie fühlte sich in mancherlei Beziehung besonders eng mit diesem alten Ägypten verbunden. Schließlich stammte sie in direkter Linie von den alten Ägyptern ab. Sie gehörte der kop tischen christlichen Kirche an, und ihre Vorfahren waren keine Araber, denn diese hatten Ägypten erst vor eintausendvierhun dert Jahren erobert. In ihrem wahren Ägypten waren die Araber Fremde, während sie selbst ihre Herkunft bis in die Zeit der Pharaonen und der großen Pyramiden zurückverfolgen konnte. Um zehn Uhr brühte Royan den Kaffee auf dem Holzkoh lenofen auf, den Alia angeheizt hatte, bevor sie für die Nacht zu ihrer Familie im Dorf zurückgegangen war. Sie tranken den süßen, starken Kaffee aus kleinen Mokkatassen, die zur Hälfte mit dem dunklen Kaffeesud gefüllt waren. Dabei unterhielten sie sich wie alte Freunde. Es waren auch die freundschaftlichen Beziehungen, durch die sich Royan mit Duraid verbunden fühlte. Sie kannte ihn aus der Zeit, in der sie nach ihrer Promotion in Archäologie aus England zurückgekommen war und eine Anstellung bei der Staatlichen Behörde für Altertümer fand, deren Direktor er war. Sie war seine Assistentin gewesen, als er im Tal der Könige das Grabmal der Königin Lostris aus der Zeit um 1780 v. Chr. geöffnet hatte. Sie waren beide enttäuscht gewesen, als sie feststellen muß ten, daß Grabräuber schon vor langer Zeit das Grabgewölbe ausgeplündert hatten und nichts übriggeblieben war als die wunderbaren Wand- und Deckengemälde im Inneren der Grabkammer.
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Es war Royan selbst gewesen, die an der Wand hinter dem Sockel, auf dem der Sarkophag gestanden hatte, arbeitete und die Wandgemälde fotografierte, als ein Teil des Verputzes sich löste und in der Nische dahinter zehn Alabastervasen sichtbar wurden. Jede dieser Vasen enthielt eine Papyrusrolle mit schriftlichen Aufzeichnungen des Sklaven der Königin, Taita, der die Vasen offensichtlich dort hingestellt hatte. Seither betrachteten Duraid und sie die Entzifferung dieser Schriftrollen als ihre Lebensaufgabe. Obwohl die Schriftrollen geringfügige Schäden aufwiesen, befanden sie sich nach vier tausend Jahren immer noch in einem erstaunlich guten Zu stand. Der faszinierende Bericht, den sie enthielten, erzählte von einer Nation, die von einem überlegenen Gegner angegriffen wurde, der über Pferde und Streitwagen verfügte, wie sie den Ägyptern jener Zeit noch unbekannt waren. Vor dem Ansturm der Hyksos-Horden hatte das am Nil beheimatete Volk fliehen müssen. Unter der Führung ihrer Königin Lostris, die später in diesem Grabgewölbe beigesetzt worden war, folgten die Ägyp ter dem großen Fluß nach Süden fast bis zu einer Quelle im rauhen Hochland Äthiopiens. Hier hatte Lostris den mumifi zierten Leichnam ihres Gatten, des Pharao Mamose, beisetzen lassen, der im Kampf gegen die Hyksos gefallen war. Sehr viel später hatte die Königin Lostris ihr Volk wieder in nördlicher Richtung in das wahre Ägypten zurückgeführt. Jetzt hatte auch sie ihre in der afrikanischen Wildnis abgehärteten Krieger mit Pferden und Streitwagen ausgerüstet und stürmte mit ihnen über die Katarakte des großen Flusses hinunter, um sich noch einmal den Hyksos-Eindringlingen zu stellen, schließlich über sie zu triumphieren und ihnen die doppelte Krone von Ober- und Unterägypten zu entreißen. Diese Geschichte beeindruckte Royan zutiefst, während sie und Duraid sich darum bemühten, die Hieroglyphen zu entzif
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fern, mit denen der alte Sklave die Papyrusrollen bedeckt hatte. In den vergangenen Jahren hatten sie allabendlich in ihrer Villa in der Oase daran gearbeitet, wenn sie von ihrem norma len Arbeitsplatz im Museum von Kairo nach Hause zurückge kehrt waren. Schließlich war es ihnen gelungen, die zehn Schriftrollen zu entziffern – bis auf die siebente. Der Inhalt der siebenten Schriftrolle blieb ihnen lange Zeit ein Rätsel, denn der Verfasser hatte sich einer esoterischen Kurzschrift bedient, die zu entschlüsseln nach so langer Zeit fast unmöglich er schien. Einige der von ihm verwendeten Symbole waren ihnen in den Tausenden von Texten, an denen sie gemeinsam gear beitet hatten, bisher noch nie begegnet. Nach ihrer Überzeu gung hatte Taita vermeiden wollen, daß, außer ihm und seiner geliebten Königin, irgend jemand die Schriftrollen zu Gesicht bekam. Sie waren sein letztes Geschenk, das er ihr ins Grab mitgegeben hatte. Es hatte sie ihr ganzes Können, all ihre Phantasie und Vor stellungskraft gekostet, aber schließlich näherten sie sich der Vollendung ihrer Aufgabe. Immer noch gab es Lücken in der Übersetzung, und an manchen Stellen konnten sie nicht genau sagen, ob sie die wirkliche Bedeutung der Worte erfaßt hatten, aber doch lag nun das Gerippe des Manuskripts so geordnet vor ihnen, daß sie die Kontur des Wesens, das es darstellte, erken nen konnten. Duraid trank einen kleinen Schluck Kaffee, schüttelte den Kopf, wie er es schon so oft getan hatte, und sagte: »Ich fürchte die Verantwortung. Was sollen wir mit dem Wissen anfangen, das wir hier zusammengetragen haben? Wenn es in die fal schen Hände gerät…« Er trank noch einen Schluck und seufz te, bevor er weitersprach. »Selbst wenn wir mit den richtigen Leuten darüber sprechen, werden sie an dieses fast viertausend Jahre alte Material glauben?« »Warum müssen wir es anderen mitteilen?« fragte Royan
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etwas gereizt. »Warum können wir nicht nur das tun, was getan werden muß?« Bei solchen Gelegenheiten zeigten sich die Un terschiede zwischen den beiden sehr deutlich: bei Duraid die Zurückhaltung des Alters und bei Royan die Ungeduld der fu gend. »Du verstehst das nicht«, sagte er. Es ärgerte sie jedesmal, wenn er das sagte und sie so behandelte, wie die Araber in ih rer Männerwelt die Frauen behandeln. Sie hatte auch jene an dere Welt kennengelernt, wo die Frauen sich mit ihrer Forde rung nach Gleichberechtigung durchsetzten. Sie führte ein Le ben zwischen diesen beiden Welten, der westlichen und der arabischen. Royans Mutter war Engländerin und arbeitete in den unruhi gen Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg an der Britischen Bot schaft in Kairo. Dort lernte sie Royans Vater, einen jungen ägyptischen Offizier im Stab von Oberst Nasser, kennen und heiratete ihn. Diese etwas ungewöhnliche Ehe scheiterte, als Royan noch ein Kind war. Ihre Mutter hatte verlangt, zu Royans Geburt nach England in ihre Heimatstadt York zurückzukehren. Das Kind sollte die britische Staatsangehörigkeit haben. Nach der Scheidung ihrer Eltern wurde Royan, wieder auf Verlangen ihrer Mutter, nach England geschickt, um dort zur Schule zu gehen, aber ihre Fe rien verbrachte sie in Kairo bei ihrem Vater. Ihr Vater war be ruflich außerordentlich erfolgreich und gehörte schließlich als Minister der Regierung Mubarak an. Die engen Beziehungen zu ihrem Vater hatten zur Folge, daß Royan sich eher für eine Ägypterin als für eine Engländerin hielt. Ihr Vater arrangierte auch die Ehe mit Duraid Al Simma. Das geschah kurz vor seinem Tod. Sie wußte, daß er bald ster ben würde, und brachte es nicht übers Herz, sich ihm zu wider setzen. Sie war in unserer modernen Welt aufgewachsen und lehnte deshalb instinktiv die alte koptische Tradition der arran
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gierten Heirat ab, aber ihre Herkunft, ihre Familie und ihre Kirche hatten sie dazu gezwungen, und sie hatte sich dem Un vermeidlichen gefügt. Es zeigte sich, daß die Ehe mit Duraid nicht so unerträglich war, wie sie gefürchtet hatte. Sie wäre vielleicht sogar durch aus harmonisch und befriedigend gewesen, wenn sie nicht schon erlebt hätte, was eine romantische Liebesbeziehung be deuten kann. Doch sie erinnerte sich noch sehr gut an ihre Stu dienzeit und die Verbindung mit David. Damals hatte er sie in seiner ungestümen Art in einen rauschhaften Zustand versetzt, dem ein fast unerträglicher Liebeskummer folgte, als er sie verließ, um eine blonde englische Schönheit zu heiraten, die seine Eltern für die richtige Schwiegertochter hielten. Sie achtete und mochte Duraid, aber manchmal hatte sie nachts die glühende Sehnsucht danach, einen männlichen Kör per in den Armen zu halten, der ebenso kräftig und jung war wie ihr eigener. Duraid redete immer noch, aber sie hatte nicht darauf geach tet, was er sagte. Nun hörte sie ihm wieder zu. »Ich habe noch einmal mit dem Minister gesprochen, aber ich nehme nicht an, daß er mir glaubt. Vielleicht hatte Nahoot ihn davon überzeugt, daß ich ein wenig verrückt bin.« Er lächelte betrübt. Nahoot Guddabi war sein ehrgeiziger Stellvertreter, der gute Bezie hungen zu einflußreichen Leuten unterhielt. »Jedenfalls sagt der Minister, der Regierung stünden dafür keine Geldmittel zur Verfügung, und ich müßte versuchen, die Sache anders zu fi nanzieren. Deshalb habe ich mich nach möglichen Sponsoren umgesehen, und das sind wahrscheinlich nur vier. Der eine ist natürlich das Getty Museum, aber wie du weißt, arbeite ich nicht gerne für eine große unpersönliche Institution. Die Zu sammenarbeit mit einer Einzelperson ist mir lieber, denn dabei kommt man leichter zu einer Entscheidung.« Das war ihr alles nicht neu, aber trotzdem hörte sie pflichtschuldigst zu.
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»Ich habe auch an Herrn von Schiller gedacht. Er hat das notwendige Geld und interessiert sich für dieses Thema, ich kenne ihn aber nicht gut genug, um ihm restlos zu vertrauen.« Er machte eine Pause, und Royan kannte seine Überlegungen so gut, daß sie schon im voraus wußte, was er sagen würde. »Wie wäre es mit dem Amerikaner? Er ist ein berühmter Sammler«, warf sie ein. »Die Zusammenarbeit mit Peter Walsh wird schwierig sein. In seiner Sammelleidenschaft ist er mir zu skrupellos. Deshalb habe ich gewisse Bedenken.« »Und wer bleibt dann übrig?« fragte sie. Er antwortete nicht, denn sie kannten beide die Antwort auf diese Frage. Er konzentrierte sich wieder auf das Material auf seinem Arbeitstisch. »Es sieht so unschuldig, so alltäglich aus. Eine alte PapyrusSchriftrolle, einige Fotos und Notizbücher, ein Computeraus druck. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie gefährlich das alles sein könnte, wenn es in die falschen Hände geriete.« Er seufzte. »Man könnte fast sagen, hier besteht eine tödliche Ge fahr.« Dann lachte er. »Offenbar geht die Phantasie mit mir durch. Vielleicht ist es die späte Stunde. Sollen wir weiterarbeiten? Um alles andere können wir uns kümmern, sobald wir die Rät sel gelöst haben, die dieser alte Schelm Taita uns aufgibt, und die Übersetzung fertig ist.« Er nahm das oberste der vor ihm liegenden Fotos in die Hand. Es war eine Aufnahme vom mittleren Teil der Schriftrol le. »Zu schade, daß der Papyrus gerade an dieser Stelle beschä digt ist.« Er setzte seine Lesebrille auf und las die Übersetzung laut vor: »Man muß viele Stufen auf der Treppe hinaufsteigen, die zur Wohnung des Hapi führt. Mit großer Mühe erreichten wir die zweite Stufe und kamen nicht weiter voran, denn es war hier, wo der Prinz die göttliche Offenbarung erfuhr. In einem
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Traum erschien ihm sein Vater, der verstorbene göttliche Pha rao, und verkündete ihm, ›ich habe eine weite Reise hinter mir und bin erschöpft. Hier werde ich ruhen für alle Ewigkeit‹.« Duraid nahm die Brille ab und sah Royan an. »›Die zweite Stu fe.‹ Das ist zunächst einmal eine sehr präzise Beschreibung. Hier versucht Taita nicht, uns wie schon so oft hinters Licht zu führen.« »Laß uns noch einmal die Satellitenfotos anschauen«, sagte Royan und legte das auf Glanzpapier abgezogene Foto vor sich auf den Tisch. Duraid kam zu ihr und stellte sich hinter sie. »Es erscheint mir logisch, daß das natürliche Hindernis, auf das sie in der Schlucht gestoßen waren, eine Stromschnelle oder ein Wasserfall gewesen ist. Wenn es der zweite Wasser fall war, dann müßte es hier gewesen sein –« Royan legte den Finger auf eine Stelle auf dem Satellitenfoto, wo sich der Fluß in engen Kurven durch das dunkle Bergmassiv wand. In diesem Augenblick wurde sie abgelenkt und hob den Kopf. »Hörst du das?« Ihre Stimme klang besorgt. Auch Duraid blickte auf. »Was ist das?« »Der Hund«, antwortete sie. »Dieser verdammte Köter«, schimpfte er. »Er stört uns jede Nacht mit seinem gräßlichen Gebell. Ich habe mir schon vor genommen, ihn loszuwerden.« In diesem Augenblick ging das elektrische Licht aus. Die plötzlich eingetretene Dunkelheit beunruhigte sie. Das dumpfe Motorengeräusch des alten Dieselgenerators im Schuppen hinter dem Palmenhain war verstummt. Sie hatten sich so sehr daran gewöhnt, daß es ihnen erst bewußt wurde, als es aufhörte. Allmählich paßten sich ihre Augen dem schwachen Sternen licht an, das durch die Terrassentür drang. Duraid ging durch das Zimmer und nahm die Öllampe von dem Regal neben der Tür, wo sie für solche Fälle bereitstand. Er zündete sie an,
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blickte zu Royan hinüber und sagte mit resigniertem Lächeln: »Ich werde hinuntergehen müssen –« »Duraid«, unterbrach sie ihn, »der Hund!« Er lauschte einen Augenblick in die Nacht und bekam ein besorgtes Gesicht, denn der Hund hatte aufgehört zu bellen. »Ich bin sicher, wir haben keinen Grund zur Besorgnis.« Er ging zur Tür, und unvermittelt rief sie ihm nach: »Duraid, sei vorsichtig!« Er zuckte die Schultern und trat hinaus auf die Terrasse. Zunächst glaubte sie, es sei der Schatten einer Ranke am Spalier, die sich in einem nächtlichen Luftzug bewegte, aber es war eine windstille Nacht. Dann erkannte sie die menschliche Silhouette, die Duraid geräuschlos und schnell über die Fliesen folgte, als er am Rand des Fischteichs über die gepflasterte Terrasse weiterging. »Duraid!« schrie sie laut, er drehte sich um und hielt die Lampe in die Höhe. »Wer sind Sie?« rief er. »Was wollen Sie hier?« Der Eindringling hatte ihn lautlos eingeholt. Das traditionelle lange Gewand, die dishdasha, wirbelte um seine Beine, und die weiße ghutrah bedeckte seinen Kopf. Im Licht der Taschen lampe sah Duraid, daß er das Kopftuch über das Gesicht herun tergezogen hatte, um es vor ihm zu verbergen. Der Eindringling hatte ihr den Rücken zugekehrt, so daß Royan das Messer in seiner rechten Hand nicht sehen konnte, sie sah aber sehr deutlich, wie er Duraid mit einer scharfen Aufwärtsbewegung in den Magen stieß. Duraid stöhnte vor Schmerzen, krümmte sich, der Angreifer zog die Klinge heraus und stieß ein zweites Mal zu, aber diesmal ließ Duraid die Ta schenlampe fallen und ergriff den Arm des Mannes. Die Flamme der zu Boden gefallenen Öllampe flackerte. Die beiden Männer rangen miteinander, und Royan sah, wie sich ein dunkler Fleck auf dem weißen Hemd ihres Mannes ausbrei
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tete. »Lauf schnell!« rief er ihr zu. »Hol Hilfe! Ich kann ihn nicht länger festhalten!« Sie wußte, daß Duraid – ein freundlicher, sanfter Gelehrter – seinem Angreifer körperlich unterlegen war. »Bitte geh! Bring dich in Sicherheit, mein Schatz!« Seine Stimme wurde schwächer, aber er bemühte sich immer noch verzweifelt, den Arm des Mannes festzuhalten. In den ersten, wichtigen Sekunden war sie von dem Schock wie gelähmt und konnte sich nicht entscheiden, aber jetzt ent schloß sie sich und lief zur Tür. Sie hatte den ersten Schreck überwunden und dachte nur noch daran, daß sie Duraid helfen mußte. So lief sie geschickt wie eine Katze über die Terrasse, während er den Eindringling daran hinderte, sich ihr in den Weg zu stellen. Über die niedrige Steinmauer sprang sie in das Gebüsch und geriet dabei fast in die Arme des zweiten Mannes. Sie schrie auf und wich ihm aus, während seine ausgestreckten Finger ihr über das Gesicht fuhren. Fast wäre es ihr gelungen, ihm zu ent kommen, aber er hielt sie an ihrer dünnen Baumwollbluse fest. Nun sah sie auch das Messer in seiner Hand. Im schwachen Licht der Sterne blitzte es silbrig auf, und sie versuchte sich loszureißen. Die Bluse zerriß, und sie war frei, aber nicht schnell genug, um der Klinge zu entgehen. Sie spürte den Stich im Oberarm und stieß in ihrer Angst und mit der ganzen Kraft ihres starken jungen Körpers mit dem Fuß nach ihm und traf ihn im Unterleib. Er schrie auf und fiel auf die Knie. Endlich war sie frei und rannte durch den Palmenhain. Zu nächst wußte sie nicht, in welche Richtung sie laufen sollte. Es kam nur darauf an, so schnell und so weit zu laufen, wie ihre Füße sie tragen konnten. Doch allmählich gelang es ihr, ihre Angst zu überwinden. Sie blieb stehen und blickte zurück. Niemand schien ihr zu folgen. Am Seeufer angekommen, ver
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langsamte sie ihre Schritte, um Kräfte zu sparen, und sie be merkte, daß Blut an ihrem Arm hinunterlief und von den Fin gerspitzen zu Boden tropfte. Sie blieb stehen und lehnte sich mit dem Rücken an den rau hen Stamm einer Palme. Dann riß sie einen Stoffstreifen von der Bluse ab und verband in aller Eile den verletzten Arm. Der Schock und die Anstrengung ließen sie so stark zittern, daß sie kaum die verletzte rechte Hand gebrauchen konnte. Nachdem sie den Notverband mit der linken Hand und ihren Zähnen ver knotet hatte, hörte die Blutung allmählich auf. Sie wußte nicht so recht, in welche Richtung sie sich wenden sollte, als sie jenseits des nächsten Entwässerungsgrabens das schwache Licht im Fenster von Alias Hütte erkannte. Sie lief in diese Richtung, aber sie war noch keine hundert Schritt gegan gen, als sie hinter sich im Palmenhain eine Stimme hörte, die auf arabisch rief: »Yusuf, ist dir die Frau begegnet?« Unmittelbar darauf leuchtete in der Dunkelheit vor ihr eine elektrische Taschenlampe auf, und eine zweite Stimme antwor tete: »Nein, ich habe sie nicht gesehen.« In den nächsten Sekunden wäre Royan diesem Mann in die Arme gelaufen. Sie duckte sich und blickte sich verzweifelt um. Hinter ihr im Palmenhain leuchtete eine zweite Taschen lampe auf und näherte sich auf dem Weg, den sie gekommen war. Es mußte der Mann sein, dem sie den Stoß versetzt hatte, doch daran, wie sich die Taschenlampe bewegte, erkannte sie, daß er sich erholt hatte und sich rasch näherte. Die Gefahr kam jetzt von beiden Seiten, also kehrte sie um und schlich am Seeufer entlang zurück in Richtung auf die Straße. Vielleicht würde ihr dort ein Fahrzeug begegnen. Sie stolperte auf dem unebenen Boden, fiel hin, verletzte sich dabei das Knie, stand wieder auf und eilte weiter. Als sie zum zwei ten Mal stolperte, stützte sie sich mit der linken Hand auf dem Boden ab und landete dabei auf einem runden, glatten Stein,
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der etwa so groß war wie eine Orange. Beim Weitergehen be hielt sie den Stein in der Hand, um ihn notfalls als Waffe be nutzen zu können. Der verletzte Arm fing an zu schmerzen, aber ihre Sorge um Duraid trieb sie weiter. Sie wußte, daß er schwer verletzt war, denn sie hatte gesehen, in welche Richtung und mit welcher Kraft der Angreifer zugestoßen hatte. Sie mußte jemanden fin den, der ihm helfen konnte. Die beiden Männer, die ihr mit den Taschenlampen folgten, kamen rasch näher und würden sie bald eingeholt haben. Sie hörte sie miteinander sprechen. Endlich erreichte sie die Straße, und mit einem leisen Seuf zer der Erleichterung kletterte sie aus dem Bewässerungsgra ben auf den hellen Kiesweg. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, ging aber mutig in Richtung auf das Dorf weiter. Noch vor der ersten Kurve sah sie zwischen den Palmen zwei Autoscheinwerfer langsam auf sich zukommen. Auf der Mitte der Straße lief sie dem Wagen entgegen. »Helfen Sie mir!« rief sie auf arabisch. »Bitte helfen Sie mir!« Als der Wagen durch die Kurve fuhr und bevor die Schein werfer sie blenden konnten, sah sie, daß es ein kleiner, dunkel farbiger Fiat war. Im Licht der Scheinwerfer stand sie nun da wie auf einer Theaterbühne und winkte dem Fahrer mit beiden Armen zu, in der Hoffnung, mitgenommen zu werden. Der Fiat hielt vor ihr, sie lief um den Wagen herum zur Tür neben dem Fahrer und zog am Türgriff. »Bitte, Sie müssen mir helfen –« Die Tür wurde von innen geöffnet und dann mit solcher Kraft wieder zugeschlagen, daß sie taumelte. Der Fahrer sprang heraus auf die Straße, packte sie am Handgelenk des verletzten Armes, zerrte sie zum Fiat und öffnete die hintere Wagentür.
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»Yusuf, Bacheet«, rief er, »ich habe sie.« Sie hörte die Ant wort der beiden und sah, wie sie ihre Taschenlampen auf das Fahrzeug richteten. Der Fahrer drückte Royan den Kopf nach unten und versuchte sie auf den Rücksitz zu drängen, aber sie hatte immer noch den Stein in ihrer unverletzten Hand. Sie drehte sich ein wenig zur Seite, nahm alle Kraft zusammen und schlug ihm mit dem Stein gegen die Stirn. Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel er auf den Kiesweg und blieb bewegungslos liegen. Royan warf den Stein fort und lief im grellen Licht der Scheinwerfer die Straße hinunter. Die beiden Männer im Pal menwald riefen dem Fahrer etwas zu und verfolgten sie, fast Schulter an Schulter. Als sie zurückblickte stellte sie fest, daß ihre Verfolger schneller waren als sie. Ihr blieb nur noch die Möglichkeit, die Straße zu verlassen und in der Dunkelheit zu verschwinden. Sie sprang das Steilufer hinunter in das hüfttiefe Wasser des Sees. Sie war so verwirrt, daß sie sich in der Dunkelheit nicht mehr zurechtfand. Sie hatte nicht daran gedacht, daß die Straße an dieser Stelle unmittelbar oberhalb des Steilufers verlief. Royan hatte keine Zeit mehr, den Hang hinaufzusteigen und die Straße zu erreichen, sie hoffte, daß sie sich vielleicht in dem vor ihr liegenden, dichten Schilf und Papyrus verstecken konnte. Sie watete in den See hinein, bis der Boden unter ihren Fü ßen steil abfiel und sie zu schwimmen gezwungen war. Ihr Rock und der verletzte Arm behinderten sie, aber sie schwamm so ruhig, daß sich ihre Bewegungen nicht auf die Wasserober fläche übertrugen. Und bevor die Männer auf der Straße die Stelle erreicht hatten, an der sie über das Steilufer in den See gerutscht war, verschwand sie im Schilf. Wo es am dichtesten war, ließ sie sich tief ins Wasser sin ken, und spürte den weichen Schlamm am Boden des Sees un
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ter den Füßen. Mit vom Ufer abgewendetem Gesicht blieb sie stehen, so daß über der Wasserfläche nur ihr Hinterkopf sicht bar war. Sie wußte, ihr dunkles Haar würde den Lichtstrahl der Taschenlampe nicht reflektieren. Obwohl ihr das Wasser bis über die Ohren reichte, hörte sie die erregten Stimmen der Männer auf der Straße, die mit den Taschenlampen in das Schilf leuchteten und sie suchten. Einen Augenblick streifte das Licht ihren Kopf, und sie atmete tief, um notfalls untertauchen zu können, aber der Lichtstrahl be wegte sich weiter, und erleichtert stellte sie fest, daß die Män ner sie nicht gesehen hatten. Das ermutigte sie, den Kopf leicht zu heben, bis sie mit ei nem freien Ohr die Männer hören konnte. Sie sprachen arabisch, und Royan erkannte die Stimme des Mannes mit dem Namen Bacheet. Er war offensichtlich der Anführer, denn er gab die Befehle. »Geh hinein, Yusuf, und hol die Hure heraus.« Sie hörte, wie Yusuf das Steilufer herunterglitt und ins Was ser platschte. »Weiter draußen«, rief ihm Bacheet zu. »Dort im Schilf, wo ich mit der Taschenlampe hinleuchte.« »Es ist zu tief. Du weißt doch, ich kann nicht schwimmen. Da geht mir das Wasser über den Kopf.« »Dort! Direkt vor dir. Dort im Schilf. Ich kann ihren Kopf sehen«, ermutigte ihn Bacheet. Royan fürchtete, die Kerle hät ten sie entdeckt, und duckte sich, so tief sie konnte. Yusuf platschte im Wasser herum und kam ihr immer näher, als plötzlich im Schilf eine starke Bewegung entstand, die Yu suf so erschreckte, daß er laut schrie: »Djinns! Gott schütze mich!« Ein Schwarm Wildenten hatte den Rand des Schilfgür tels erreicht und erhob sich nun mit pfeifenden Flügelschlägen in die Dunkelheit. Yusuf kehrte um, und Bacheet konnte ihn nicht dazu bewe
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gen, die Suche fortzusetzen. »Die Frau ist nicht so wichtig wie die Schriftrolle«, prote stierte er und kletterte den Hang zur Straße hinauf. »Ohne die Schriftrolle gibt es kein Geld. Später werden wir sie sicher noch finden.« Royan wendete vorsichtig den Kopf und sah, wie sich das Licht der Taschenlampen die Straße hinunter zum geparkten Fiat bewegte, dessen Scheinwerfer noch brannten. Sie hörte das Zuschlagen der Wagentüren und den Anlasser und sah, wie der Fiat sich in Richtung auf die Villa in Bewegung setzte. Sie wagte es nicht, ihr Versteck schon jetzt zu verlassen, denn sie fürchtete, einer der drei Männer könnte auf der Straße noch auf sie warten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und nun reichte ihr das Wasser noch bis zum Mund. Sie zitterte vor Erregung und war entschlossen, den Sonnenaufgang abzuwar ten und erst bei Tageslicht ihr Versteck zu verlassen. Es war sehr viel später, als sie den Widerschein des Feuers und das Züngeln der Flammen zwischen den Palmen bemerkte. Ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken, kletterte sie den Steilhang hinauf auf die Straße. Völlig erschöpft und außer Atem, ge schwächt durch den Blutverlust und vor Angst zitternd, kniete sie im Schlamm am Seeufer und blickte durch den Schleier ihrer nassen Haare hinüber zu den Flammen. »Die Villa!« flüsterte sie. »Duraid! Lieber Gott, nein! Nein!« Mit Mühe zwang sie sich auf die Füße und torkelte auf das brennende Haus zu. Bacheet schaltete die Scheinwerfer und den Motor des Fiat aus, bevor sie an die Einfahrt zum Villengrundstück kamen. Von hier aus ließ er den Wagen geräuschlos weiterrollen und hielt unterhalb der Terrasse an. Die drei Männer stiegen aus und gingen die Steintreppe zur
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Terrasse hinauf. Duraid lag noch immer neben dem Fischteich, wo Bacheet ihn zurückgelassen hatte. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, gingen sie weiter in das dunkle Arbeitszimmer. Bacheet hatte einen billigen Plastikbeutel mitgebracht, den er jetzt auf den Tisch legte. »Wir haben schon zu viel Zeit verschwendet. Jetzt müssen wir uns beeilen.« »Daran ist Yusuf schuld«, brummte der Fahrer des Fiat. »Er hat die Frau entkommen lassen.« »Und du hättest sie auf der Straße abfangen können«, knurrte Yusuf, »und hast es auch nicht getan.« »Genug!« fuhr sie Bacheet an. »Wenn ihr bezahlt werden wollt, macht keine Fehler mehr.« Im Schein seiner Stablampe sah Bacheet die Schriftrolle auf dem Tisch liegen. »Das ist sie.« Er war sich seiner Sache si cher, denn man hatte ihm ein Foto von der Schriftrolle gezeigt, um jeden Irrtum auszuschließen. »Unsere Auftraggeber brau chen alles – die Karten und die Fotos. Ebenso die Bücher und Papiere, alles, was auf dem Tisch liegt und die beiden bei ihrer Arbeit benutzt haben. Laßt nichts davon liegen.« In aller Eile steckten sie die Unterlagen in den Beutel, und Bacheet verschnürte ihn. »Jetzt ist der Doktari an der Reihe. Bringt ihn her.« Yusuf und der Fahrer gingen hinaus auf die Terrasse und beugten sich über Duraid. Sie packten ihn an den Füßen und zerrten ihn über die Terrasse in das Arbeitszimmer. Dabei schlug Duraid mit dem Hinterkopf auf der Türschwelle auf und hinterließ eine lange Blutspur auf der Terrasse, die im Licht der Stablampe schimmerte. »Hol die Lampe!« sagte Bacheet, und Yusuf ging zurück auf die Terrasse. Die Lampe lag noch dort, wo Duraid sie fallenge lassen hatte. Sie brannte nicht mehr, und Bacheet hielt sie sich ans Ohr und schüttelte sie.
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»Voll«, sagte er befriedigt und schraubte den Verschluß am Einfüllstutzen ab. »Alles in Ordnung«, sagte er zu den anderen, »bringt den Beutel zum Wagen.« Sie gingen hinaus, und Bacheet bespritzte Duraids Hemd und Hosen mit dem Lampenöl. Dann ging er an die Regale und verteilte den Rest des Öls über die Bücher und Manuskripte. Er stellte die leere Lampe auf den Boden und holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Innentasche seines Gewands. Dann hielt er ein brennendes Streichholz an die vom Bücherre gal heruntertropfende Ölspur. Sie fing sofort Feuer, das sich nach oben ausbreitete und die Manuskripte erfaßte. Ein zweites brennendes Streichholz warf er auf das blut- und ölgetränkte Hemd von Duraid. Blaue Flämmchen hüllten Duraids Brust ein. Doch als die Flammen die Baumwolle und Duraids Fleisch erfaßten, verän derte sich ihre Farbe. Sie wurden orangefarben, und über ihnen kräuselte sich schwarzer Rauch. Bacheet lief zur Tür, überquerte die Terrasse und sprang die Stufen hinunter. Er setzte sich auf den Rücksitz des Fiat, der Fahrer startete den Motor, und sie fuhren hinaus auf die Straße. Die Schmerzen weckten Duraid aus seiner Ohnmacht, die so tief gewesen waren, daß sie ihn aus jenem fernen Land am Rande des Todes in die irdische Wirklichkeit zurückholten. Er stöhnte. Seine erste Wahrnehmung war der Geruch ver brannten Fleisches, was ihm seine verzweifelte Lage bewußt machte. Er bebte am ganzen Körper, öffnete die Augen und sah an sich hinunter. Seine Kleider schwelten und verkohlten, in seinem ganzen Leben hatte er noch nie solche Schmerzen verspürt. Nun wurde ihm auch bewußt, daß sich das Feuer im Zimmer ausbreitete. Der Rauch und die Hitze strömten in Wellen über ihn hinweg,
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so daß er kaum die offene Terrassentür erkennen konnte. Die entsetzlichen Schmerzen quälten ihn so sehr, daß er ster ben wollte. Doch dann dachte er an Royan. Er versuchte, mit seinen verbrannten Lippen ihren Namen zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Nur der Gedanke an sie gab ihm die Kraft, sich zu bewegen. Er wälzte sich auf die andere Seite und spürte die Hitze jetzt auch im Rücken. Er stöhnte laut und kroch auf die Terrassentür zu. Jede Bewegung erforderte eine gewaltige Anstrengung und erhöhte die Schmerzen, und als er wieder auf dem Rücken lag, stellte er fest, daß durch die offene Tür die frische Luft von der Hitze angesogen wurde und das Feuer anfachte. Mit einem tiefen Atemzug saugte er die frische Wüstenluft in seine Lun gen, und das gab ihm Kraft genug, über die Türschwelle auf die kühlen Steine der Terrasse zu rutschen. Seine Kleider und sein Körper brannten immer noch. Mit den vom Feuer geschwärzten Händen versuchte er, die Flam men auf seiner Brust zu löschen. Dann erinnerte er sich an den Fischteich. Der Gedanke, sei nen gemarterten Körper im Wasser abkühlen zu können, trieb ihn zu einer letzten verzweifelten Anstrengung. Wie eine Schlange mit gebrochenem Rückgrat wand er sich über die Steinplatten der Terrasse, an denen Fetzen seiner verbrannten Haut kleben blieben, und ließ sich dann ins Wasser gleiten, das hörbar zischte. Bei der Berührung mit dem kalten Wasser ver stärkten sich die Schmerzen der Brandwunden so sehr, daß er erneut bewußtlos wurde. Als er wieder zu sich kam und die dunklen Wolken vor sei nen Augen sich auflösten, hob er den Kopf und sah eine menschliche Gestalt, die die Terrassenstufen hinaufwankte. Zuerst hielt er sie für eine Wahnvorstellung, doch im Licht des Feuers in der brennenden Villa erkannte er Royan. Das nasse Haar hing ihr wirr ins Gesicht, und an ihrem zerrissenen
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und mit Schlamm bespritzten Kleid klebten grüne Algen. Ihr rechter Arm war mit schmutzigen Stoffstreifen verbunden, durch die hellrotes Blut drang. Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Sie war mitten auf der Ter rasse stehengeblieben und starrte auf das brennende Haus. War Duraid noch darin? Sie ging ein paar Schritte auf die Flammen zu, aber die Hitze verwehrte ihr den Zugang. In diesem Augen blick stürzte das Dach ein, und eine gewaltige, aus Funken und Flammen bestehende Feuersäule erhob sich hoch in den Nacht himmel. Sie trat zurück und legte schützend einen Arm vor das Gesicht. Duraid versuchte sie zu rufen, aber aus seiner von der Hitze ausgedörrten Kehle drang kein Laut. Royan wandte sich ab und ging zur Treppe. Es war ihm klar, daß sie Hilfe holen wollte. Unter großen Anstrengungen gelang es ihm endlich, zwischen seinen verbrannten und geschwollenen Lippen einen krächzen den Laut auszustoßen. Royan fuhr herum, starrte ihn an und schrie vor Schreck auf. Was sie sah, war nicht mehr der Kopf eines Menschen. Der haarlose Schädel war rauchgeschwärzt, und an Kinn und Wan gen hing die Haut in Fetzen herab. Das Gesicht war eine schwarzverkrustete Maske, auf der sich an einigen Stellen das rohe Fleisch zeigte. Sie wich vor ihm zurück wie vor einem ekelerregenden Ungeheuer. »Royan«, krächzte er mit kaum hörbarer Stimme. Dann hob er eine Hand, um sie heranzuwinken, und sie lief zum Teich und ergriff die ausgestreckte Hand. »Im Namen der Jungfrau, was haben sie dir angetan?« schluchzte sie, aber als sie versuchte, ihn aus dem Teich he rauszuziehen, löste sich die Haut von seiner Hand und gab eine blutige, nackte Klaue frei. Royan fiel am Rand des Teichs auf die Knie und beugte sich über ihn, um ihn in die Arme zu nehmen. Sie wußte, daß sie
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nicht die Kraft hatte, ihn herauszuziehen, ohne ihm weitere Schmerzen zuzufügen. Es war ihr klar, daß er sterben würde – kein Mensch konnte so fürchterliche Verletzungen überleben. »Bald wird jemand kommen und uns helfen«, flüsterte sie auf arabisch. »Irgend jemand muß das Feuer gesehen haben. Sei tapfer, mein geliebter Mann, sehr bald wird die Hilfe da sein.« In seiner Qual und in seinem Bemühen, sich verständlich zu machen, wand er sich in ihren Armen. »Die Schriftrolle?« Seine Worte waren kaum zu verstehen. Sie blickte zurück auf das brennende Haus und schüttelte den Kopf. »Sie ist fort«, sagte sie. »Verbrannt oder gestohlen.« »Nicht aufgeben«, flüsterte er. »Unsere ganze Arbeit –« »Sie ist fort«, wiederholte sie. »Niemand wird uns glauben ohne –« »Nein!« Seine Stimme war schwach, aber entschieden. »Für mich, meine letzte –« »Das darfst du nicht sagen«, flehte sie ihn an. »Du wirst wieder gesund werden.« »Versprich es mir«, verlangte er. »Versprich es mir jetzt!« »Wir haben keinen Sponsor. Ich bin allein, und allein schaffe ich es nicht.« »Harper!« sagte er. Royan beugte sich zu ihm hinunter. »Harper«, wiederholte er. »Ein starker, harter, intelligenter Mann –« Sie wußte, was er meinte. Natürlich Harper. Er war der vierte und letzte auf ihrer Liste möglicher Sponsoren. Trotzdem wußte sie, daß Nicholas Quenton-Harper der Mann war, dem Duraid am meisten vertraute. Er hatte oft mit Ach tung und Wärme von ihm gesprochen, manchmal sogar mit Ehrfurcht. »Aber was soll ich ihm sagen? Er kennt mich nicht. Wie kann ich ihn überzeugen? Die siebente Schriftrolle ist fort.«
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»Vertraue ihm«, flüsterte er. »Ein guter Mann. Vertraue ihm –« Er wollte sie unbedingt überzeugen: »Versprich es mir!« Sie erinnerte sich an das Notizbuch in ihrer Wohnung in Gi zeh, einem Vorort von Kairo, und an den Bericht von Taita über den strapaziösen Marsch nach Süden, den sie in ihrem Computer gespeichert hatte. Alles Material war also nicht ver loren. »Ja«, stimmte sie ihm zu, »ich verspreche es dir, mein geliebter Mann, ich verspreche es dir.« Zwar konnte sein verstümmeltes Gesicht keinen menschli chen Ausdruck mehr zeigen, aber sie glaubte dem Ton seiner Stimme eine gewisse Befriedigung entnehmen zu können, als er flüsterte: »Meine geliebte Blume!« Sein Kopf sank zurück, und er starb in ihren Armen. Als die Bauern aus dem Dorf erschienen, kniete Royan noch immer neben dem Teich und flüsterte ihrem Mann tröstende Worte ins Ohr. Inzwischen war das Feuer in sich zusammenge sunken, und das erste Licht der Morgendämmerung war stärker als das der allmählich verlöschenden Glut. Alle höheren Beamten des Museums und des Ministeriums für Altertümer nahmen an der Totenfeier in der Kirche der Oase teil. Sogar Duraids Vorgesetzter, der Minister für Kultur und Tourismus Atalan Abou Sin, war in seinem Dienstwagen, ei nem schwarzen Mercedes mit Klimaanlage, aus Kairo gekom men. Er stand hinter Royan, und obwohl er Moslem war, stimmte er in den Gesang der christlichen Liturgie ein. Nahoot Guddabi stand neben seinem Onkel. Nahoots Mutter war die jüngste Schwester des Ministers, und das war, wie Duraid einmal sar kastisch gesagt hatte, ein Ausgleich für die völlige Ahnungslo sigkeit des Neffen auf dem Gebiet der Archäologie und seine Unfähigkeit als Verwaltungsbeamter.
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Es war ein glühendheißer Tag. Die Außentemperatur lag bei über dreißig Grad Celsius, und selbst in der koptischen Kirche war es schwül. Die dichten Weihrauchwolken und die eintöni ge Stimme des schwarzgekleideten Priesters, der die altehr würdige Trauerliturgie intonierte, wirkten bedrückend auf Royan und nahmen ihr den Atem. Die Wundnaht an ihrem rechten Arm schmerzte, und jedesmal, wenn sie auf den schwarzen Sarg vor dem vergoldeten Altar blickte, sah sie vor ihrem geistigen Auge Duraids kahlen und versengten Schädel, und es wurde ihr so schwindlig, daß sie sich festhalten mußte, um nicht umzufallen. Endlich war die Feier vorüber, und sie konnte draußen in der frischen Luft aufatmen. Ihre Pflichten waren damit aber noch nicht zu Ende. Als Witwe des Verstorbenen war ihr Platz auf dem Wege zum Friedhof, wo Duraids Verwandte am Famili engrab auf ihn warteten, unmittelbar hinter dem Sarg. Bevor er nach Kairo zurückkehrte, schüttelte Atalan Abou Sin ihr die Hand und sprach ihr mit wenigen Worten sein Bei leid aus. »Wie fürchterlich das alles ist, Royan. Ich habe per sönlich mit dem Innenminister gesprochen. Glauben Sie mir, man wird die Bestien finden, die Ihnen das angetan haben. Las sen Sie sich bitte so viel Zeit, wie Sie brauchen, bevor Sie in das Museum zurückkehren«, sagte er. »Ich werde am Montag wieder in meinem Büro sein«, ant wortete sie. Er zog ein Notizbuch aus der Brusttasche seines dunklen zweireihigen Anzugs, schlug es auf, machte sich eine Notiz und sah sie dann wieder an. »Dann kommen Sie bitte am Nachmittag um vier Uhr zu mir ins Ministerium.« Damit ging er zu dem wartenden Mercedes, während Nahoot Guddabi ihr die Hand schüttelte. Mit seinem blassen Gesicht und den kaffeefarbenen Ringen unter den dunklen Augen wirkte dieser hochgewachsene Mann mit dem dichten welligen Haar und strahlendweißen Zähnen durchaus
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elegant. Er trug einen gutsitzenden Maßanzug und roch nach einem teuren Herrenparfüm. Er sah sie mit einem, dem Anlaß entsprechenden, ernsten Gesicht an. »Er war ein guter Mann. Ich habe Duraid hoch geschätzt«, sagte er, und Royan nickte, ohne etwas auf diese offensichtli che Unwahrheit zu antworten. Duraid hatte seinen Stellvertre ter nicht besonders geschätzt, und er hatte Nahoot nicht an der Arbeit mit den Taita-Schriftrollen beteiligt. Insbesondere hatte er ihm nie erlaubt, die siebente Schriftrolle anzusehen, und aus diesem Grund war es zu heftigen Auseinandersetzungen zwi schen den beiden Männern gekommen. »Ich hoffe, Sie werden sich um den Direktorenposten bemü hen, Royan«, sagte er. »Sie sind bestens dafür geeignet.« »Vielen Dank, Nahoot, Sie sind sehr freundlich. Ich habe bisher noch keine Zeit gehabt, an die Zukunft zu denken, aber werden Sie sich nicht darum bewerben?« »Natürlich«, nickte er. »Das heißt aber nicht, daß ich der einzige Bewerber sein muß. Vielleicht werden Sie mir die Stel le vor der Nase wegschnappen.« Er lächelte selbstzufrieden. Sie war eine Frau in einer arabischen Welt, und er war der Nef fe des Ministers, und Nahoot wußte genau, daß er die besseren Chancen hatte. »Freundschaftliche Rivalität?« fragte er. Royan lächelte betrübt. »Wenigstens sollten wir Freunde bleiben. Ich werde künftig jeden Freund brauchen, den ich fin den kann.« »Sie wissen, Sie haben viele Freunde. Alle Angehörigen des Ministeriums haben Sie gern, Royan.« Soweit sie wußte, hatte er damit wahrscheinlich recht. Mit sanfter Stimme fuhr er fort: »Darf ich Sie in meinem Wagen nach Kairo mitnehmen? Mein Onkel wird sicher nichts dagegen haben.« »Vielen Dank, Nahoot, aber draußen steht mein eigener Wa gen, und ich muß über Nacht in der Oase bleiben, um noch einiges für Duraid zu erledigen.« Das stimmte nicht. Royan
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hatte vor, noch am gleichen Abend zu ihrer Wohnung in Gizeh zurückzufahren, doch ohne genau zu wissen, weshalb, wollte sie Nahoot nicht in ihre Pläne einweihen. »Dann sehen wir uns also am Montag im Museum.« Royan verließ die Oase, sobald sie sich von den Verwandten, Freunden und Bauern verabschiedet hatte, von denen so viele den größten Teil ihres Lebens für Duraids Familie gearbeitet hatten. Sie fühlte sich alleingelassen und völlig auf sich selbst gestellt, und alle diese Beileidsbezeugungen und das fromme Zureden waren bedeutungslos und konnten sie nicht trösten. Selbst zu dieser späten Stunde herrschte auf der Teerstraße durch die Wüste starker Verkehr in beiden Richtungen, denn morgen war Freitag, ein moslemischer Feiertag. Sie zog den rechten Arm aus der Schlinge, da er sie nicht beim Fahren be hinderte. Sie kam verhältnismäßig rasch vorwärts, doch es war bereits nach siebzehn Uhr, als sich jenseits der braungelben Einöde der Wüste der schmale, grüne Streifen bewässerten und kultivierten Bodens am Nil zeigte, der großen Lebensader Ägyptens. Wie immer wurde der Verkehr dichter, je mehr sie sich der Hauptstadt näherte, und es war schon fast ganz dunkel, als sie den Wohnblock in Gizeh erreichte, von dem aus man den Fluß und jene großen, steinernen Monumente überblicken konnte, die sich hoch und massiv vor dem Abendhimmel abhoben und die für Royan die Seele und die Geschichte ihres Landes ver körperten. Sie ließ Duraids alten grünen Renault in der Tiefgarage des Gebäudes stehen und fuhr mit dem Aufzug hinauf in den ober sten Stock. Als sie die Wohnungstür öffnete, blieb sie starr vor Schrek ken stehen. Einbrecher hatten das ganze Wohnzimmer verwü stet. Sogar der Teppichboden war aufgerissen, und die Bilder, die an den Wänden gehangen hatten, lagen zertrümmert im
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Zimmer herum. Völlig verstört ging sie ins Schlafzimmer, und auch hier zeigte sich ihr ein Bild der Verwüstung. Die Schrank türen standen offen, und ihre und Duraids Kleider lagen am Boden. Eine Schranktür war aus den Angeln gerissen. Das Bett war umgeworfen, und Laken und Kissen herausgezerrt. Es roch nach Kosmetika und Parfüm aus den zerschlagenen Gefäßen und Flaschen im Badezimmer, aber sie scheute sich, hineinzugehen, denn sie konnte sich vorstellen, wie es dort aussah. Statt dessen lief sie den Gang hinunter in das geräumi ge Arbeitszimmer. In dem dort herrschenden Chaos fiel ihr als erstes das antike Schachspiel auf, das Duraid ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Das aus schwarzem Marmor und Elfenbein zusammengesetzte Schachbrett war zerbrochen, und die Figuren waren in sinnlo ser, zerstörerischer Wut im Zimmer herumgeworfen worden. Sie bückte sich und hob die weiße Königin auf, deren Kopf abgebrochen war. Mit der Königin in der Hand ging sie wie eine Schlafwandle rin zu ihrem Schreibtisch vor dem Fenster. Ihr Computer war zerschlagen. Man hatte den Bildschirm und das ganze Gerät offenbar mit einer Axt zertrümmert. Schon auf den ersten Blick sah sie, daß die gespeicherten Daten ein für allemal verloren waren. Am Boden lag die Schublade, in der sie ihre Disketten auf bewahrt hatte. Diese und alle anderen Schubladen waren he rausgezogen und auf den Boden geworfen worden. Sie waren leer, und alle Disketten, Notizbücher und Fotos fehlten. Von dem Material über die siebente Schriftrolle war nichts mehr übrig. Nach drei Jahren Arbeit ließ sich nicht mehr nachwei sen, daß diese Schriftrolle überhaupt existiert hatte. Vollkommen erschöpft setzte sie sich auf den Fußboden. Ihr Arm fing wieder an zu schmerzen, und sie fühlte sich so ein sam und verwundbar wie noch nie in ihrem Leben. Sie hätte
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nie geglaubt, daß Duraid ihr jemals so fehlen würde. Ihre Schultern zuckten, und sie fühlte, wie aus ihrem Inneren die Tränen aufstiegen. Sie versuchte, sie zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht. So saß sie da, inmitten der Trümmer ihres bisherigen Lebens, und weinte, bis alles im Meer ihrer Tränen versank. Dann rollte sie sich auf dem Teppich zusammen und versank in einen Schlaf der Erschöpfung und Verzweiflung. Am Montag morgen hatte sie ihr Leben wieder einigermaßen im Griff. Die Polizei war gekommen und hatte ihre Aussage protokolliert. Dann hatte sie die Wohnung weitgehend aufge räumt und sogar den Kopf der weißen Königin angeklebt. Als sie die Treppe hinunterging und in der Tiefgarage in den grü nen Renault stieg, hatten die Schmerzen im Arm schon nachge lassen. Zwar war sie nicht gerade bester Stimmung, sah aber doch schon sehr viel optimistischer in die Zukunft und wußte genau, was sie zu tun hatte. Im Museum ging sie zuerst in Duraids Büro und ärgerte sich darüber, daß Nahoot schon vor ihr gekommen war und nun zwei Leute vom Sicherheitsdienst beaufsichtigte, die Duraids persönliche Sachen zusammenräumten. »Sie hätten darauf Rücksicht nehmen sollen, daß dies meine Aufgabe gewesen wäre«, sagte sie kühl, aber er reagierte nur mit einem besonders freundlichen Lächeln. »Es tut mir leid, Royan. Ich habe Ihnen helfen wollen.« Er rauchte eine seiner dicken, türkischen Zigaretten, deren schwe ren, süßlichen Moschusgeruch sie nicht ausstehen konnte. Sie ging hinüber zu Duraids Schreibtisch und öffnete die rechte obere Schublade. »Hier lag immer das Tagebuch meines Mannes. Es ist nicht mehr da. Haben Sie es gesehen?« »Nein, die Schublade war leer.« Nahoot sah zu den beiden Männern hinüber und wartete auf ihre Bestätigung, aber sie
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schüttelten nur die Köpfe. Royan hielt die Angelegenheit aller dings nicht für besonders wichtig, denn das Tagebuch enthielt nichts Wesentliches. Duraid hatte sich stets darauf verlassen, daß sie alle wichtigen Daten aufzeichnete und sie in ihrem Computer speicherte. »Vielen Dank, Nahoot«, sagte sie. »Jetzt werde ich alles er ledigen, was noch geschehen muß. Ich möchte Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.« »Wenn Sie Hilfe brauchen, Royan, bitte lassen Sie es mich wissen.« Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete er sich von ihr. Im Büro von Duraid gab es nicht mehr viel zu tun. Sie bat die beiden Männer vom Sicherheitsdienst, die Kartons mit den Privatsachen von Duraid in ihr Büro am anderen Ende des Kor ridors zu bringen und dort an die Wand zu stellen. In der Mit tagspause erledigte sie einige liegengebliebene Arbeiten, und als sie fertig war, blieb ihr bis zu ihrer Verabredung mit Atalan Abou Sin noch eine Stunde Zeit. Wenn sie alles tun wollte, was sie Duraid versprochen hatte, würde sie in den nächsten Tagen nicht zurückkommen können. Sie wollte sich von ihren liebsten Ausstellungsstücken im Mu seum verabschieden und ging hinunter in den öffentlich zu gänglichen Teil des großen Gebäudes. Am Montag war hier viel Betrieb, und in den Ausstellungs sälen drängten sich Touristen, die den Fremdenführern wie Schafe ihrem Schäfer folgten. Vor den bekanntesten Ausstel lungsstücken standen Gruppen von Besuchern, und geduldig lauschten sie den in allen nur denkbaren Sprachen auswendig gelernten, hohlen Phrasen. In den Räumen im ersten Stock, wo die Schätze des Tut ench-Amun ausgestellt waren, drängten sich so viele Men schen, daß sich Royan nur kurze Zeit dort aufhielt. Mit einiger Mühe gelang es ihr, bis vor die Vitrine mit der großartigen gol
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denen Totenmaske des kindlichen Pharao zu kommen. Wie jedes Mal, wenn sie vor diesem Kunstwerk stand, wurde sie von seiner Pracht und Schönheit ergriffen, und ihr Atem und Herzschlag beschleunigten sich. Und doch kam ihr, als sie nun eingezwängt zwischen zwei vollbusigen, schwitzenden älteren Frauen davorstand, der gleiche Gedanke wie schon so oft: Wenn ein so unbedeutender, schwacher König mit einer so kostbaren goldenen Maske über seinem Gesicht beigesetzt worden war, wie mußten dann die großen Pharaonen mit dem Namen Ramses in ihren Mausoleen zur Ruhe gebettet sein? Ramses II., der bedeutendste von ihnen, hatte siebenundsechzig Jahre regiert und in den Jahrzehnten seiner Regierungszeit die Möglichkeit gehabt, die Schätze, die man ihm ins Grab mitge ben sollte, aus den von ihm eroberten Gebieten zusammenzu tragen. Anschließend machte Royan auch diesem alten Monarchen ihre Aufwartung. Nach dreißig Jahrhunderten ruhte Ramses II. mit einem entrückten und heiteren Ausdruck auf dem hageren Gesicht im Grabe. Seine Haut hatte eine helle, marmorne Tö nung. Die spärlichen Haare waren blond und mit Henna ge färbt. Seine ebenso gefärbten Hände waren lang, schmal und elegant. Er war jedoch nur in ein altes Leinentuch eingehüllt. Die Grabräuber hatten sogar die Bandagen entfernt, in welche die Mumie eingewickelt war, um an die darunterliegenden Amulette und Skarabäen zu kommen, und ihn dann fast nackt zurückgelassen. Als man seine sterblichen Überreste 1881 im Versteck der königlichen Mumien in der Felsenhöhle von Deir El Bahari gefunden hatte, lag auf seiner Brust nur noch ein Papyrus mit dem Nachweis seiner Abstammung. Das hatte, wie sie meinte, seine moralische Berechtigung, aber als sie vor diesem sie tief beeindruckenden Zeugen der Vergangenheit stand, fragte sie sich erneut, wie sie und Duraid es schon so oft getan hatten, ob der Schreiber Taita die Wahr
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heit gesagt hatte und ob irgendwo in den fernen wilden afrika nischen Bergen noch ein anderer großer Pharao in einem bis jetzt noch nicht entdeckten Grab mit all seinen Schätzen unge stört ruhte. Der bloße Gedanke daran ließ sie erschauern, und die feinen dunklen Härchen in ihrem Nacken sträubten sich. »Ich habe es dir versprochen, mein geliebter Mann«, flüster te sie auf arabisch. »Ich werde es für dich und zu deinem An denken tun, denn du hast mir den Weg gewiesen.« Sie ging die Haupttreppe hinunter und schaute auf ihre Arm banduhr. Sie hatte noch fünfzehn Minuten Zeit bis zur Verab redung mit dem Minister, und sie wußte genau, was sie bis da hin tun mußte. Sie wollte noch einen, nur selten geöffneten Ausstellungsraum besuchen. Die Fremdenführer brachten die Touristen nur manchmal dorthin, um ihnen kurz die Statue von Amenhotep zu zeigen. Royan blieb vor der vom Boden bis zur Decke reichenden, hohen Glasvitrine stehen. Hier waren zahlreiche kleinere Ge brauchsgegenstände, Werkzeuge und Waffen, Amulette und Gefäße ausgestellt. Die jüngsten stammten aus der Zeit der zwanzigsten Dynastie des Neuen Königreichs um 1100 v. Chr., während sich die ältesten auf die graue Vorzeit des Alten Kö nigreichs vor fast fünftausend Jahren datieren ließen. Es gab noch kein vollständiges Verzeichnis dieser Gegenstände, und einzelne von ihnen waren noch nirgends beschrieben. Auf dem untersten Regal lagen verschiedene Juwelen, Fin gerringe und Siegel, und neben jedem Siegel lag ein damit her gestellter Wachsabdruck. Royan kniete sich hin, um sich eines dieser Siegel genauer anzusehen – ein wunderschön geschnittenes Siegel aus blauem Lapislazuli. Für die alten Ägypter war der Lapis ein seltenes und kostbares Material, für das es im ganzen ägyptischen Reich keine natürlichen Fundstätten gab. Der Wachsabdruck zeigte einen Falken mit gebrochenem Flügel, und die Inschrift darun
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ter war für Royan leicht zu lesen: »TAITA DER SCHREIBER DER GROSSEN KÖNIGIN«. Sie wußte, daß es derselbe Mann war, denn er hatte auch die Schriftrollen mit dem Symbol des verletzten Falkens gekennzeichnet. Sie fragte sich nur, von wem und wo dieses Siegel gefunden worden war. Vielleicht hatte irgendein Bauer das heute nicht mehr auffindbare Grab des alten Sklaven und Schreibers ausgeplündert, aber das ließ sich jetzt nicht mehr feststellen. Willst du mich necken, Taita? Ist das alles nur ein geschick tes Täuschungsmanöver? Lachst du mich auch jetzt noch aus, während du in deinem verborgenen Grabe liegst? Sie beugte sich noch weiter vor, bis sie mit der Stirn das kühle Glas be rührte. Bist du mein Freund, Taita, oder bist du mein unver söhnlicher Gegner? Sie stand auf und klopfte den Staub von ihrem Rock. Wir werden sehen. Ich gehe auf das Glücksspiel mit dir ein, und wir werden erleben, wer wen überlistet. Royan mußte im Vorzimmer des Ministers nur wenige Mi nuten warten, bis er sie durch seinen Sekretär zu sich bitten ließ. Atalan Abou Sin saß in einem dunklen, glänzenden Sei denanzug an seinem Schreibtisch, obwohl er sehr viel lieber in einem bequemeren Gewand auf einem Kissen auf dem Boden saß. Er bemerkte ihren erstaunten Blick und lächelte entschul digend. »Ich erwarte heute nachmittag noch einen Amerikaner zu einer Besprechung.« Royan hatte diesen Mann gern. Er war immer freundlich zu ihr gewesen, und sie verdankte ihm die Anstellung am Muse um. Die meisten anderen Männer in seiner Position hätten Du raids Bitte um eine Assistentin abgeschlagen, besonders da es seine Ehefrau war. Er erkundigte sich nach ihrer Gesundheit, und sie zeigte ihm den verbundenen Arm. »In zehn Tagen werden die Fäden ge
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zogen.« Zunächst führten sie ein freundliches Gespräch über belang lose Dinge. Nur ein Besucher aus den westlichen Ländern hätte die Taktlosigkeit besessen, sofort den eigentlichen Zweck des Besuches anzusprechen. Doch um ihm jede Peinlichkeit zu ersparen, ergriff Royan die erste Gelegenheit, die er ihr bot, und sagte: »Ich denke, ich brauche noch eine gewisse Zeit für mich. Ich muß mich von meinem Verlust erholen und entschei den, was ich nun als Witwe mit meinem Leben anfangen soll. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen unbezahlten Ur laub von wenigstens sechs Monaten gewähren könnten. Ich möchte gern meine Mutter in England besuchen.« Atalan zeigte aufrichtiges Verständnis und bat sie: »Bitte lassen Sie uns nicht zu lange allein. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet und sollten uns helfen, dort fortzufahren, wo Duraid aufgehört hat.« Es gelang ihm jedoch nicht ganz zu verbergen, wie erleichtert er war. Sie wußte, daß er mit ihrer Bewerbung um den Posten des Direktors gerechnet hatte. Wahrscheinlich hatte er schon mit seinem Neffen darüber ge sprochen. Er war jedoch ein zu weichherziger Mensch, um es zu genießen, ihr eine solche Bitte abschlagen zu müssen. Das Leben in Ägypten hatte sich in mancherlei Hinsicht geändert, das betraf besonders die Stellung der Frau, und diese Entwick lung war noch lange nicht abgeschlossen. Sie wußten beide, daß Nahoot Guddabi der nächste Direktor sein würde. Atalan begleitete sie bis zur Tür seines Büros, reichte ihr zum Abschied die Hand, und als sie den Aufzug betrat, um nach unten zu fahren, fühlte sie sich erleichtert und befreit. Sie hatte den Renault auf dem Parkplatz des Ministeriums in der Sonne stehen lassen. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr die heiße Luft entgegen. Sie öffnete alle Fenster, aber der Fahrer sitz war noch glühendheiß, als sie sich ans Lenkrad setzte. Nachdem sie die Ausfahrt auf die Straße hinter sich gelassen
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hatte, geriet sie sofort in den dichten Kairoer Verkehr. Im Schrittempo mußte sie hinter einem vollbesetzten Bus herfah ren, dessen Dieselmotor den Renault in eine dichte, blaue Rauchwolke hüllte. Der Straßenverkehr in der Kairoer Innen stadt schien ein unlösbares Problem zu sein. Es standen so we nige Parkplätze zur Verfügung, daß sich die Fahrzeuge am Straßenrand in Dreier- oder Viererreihen stauten und der Ver kehr in der Stadtmitte kaum noch im Schrittempo vorankam. Als der Bus vor ihr bremste und sie zum Halten zwang, lä chelte Royan, denn sie erinnerte sich an den alten Witz, daß einige Fahrer, die am Straßenrand geparkt hatten, von nun an auf ihre Wagen verzichten mußten, weil es ihnen nie wieder gelang, sie aus diesem Gewirr herauszuholen. Vielleicht war das in einigen Fällen wirklich so, denn sie stellte fest, daß ein zelne Fahrzeuge schon seit Wochen an derselben Stelle stan den. Ihre Frontscheiben waren mit Staub bedeckt, und oft wa ren alle vier Reifen platt. Sie blickte in den Rückspiegel. Nur wenige Zentimeter hin ter ihr stand ein Taxi, und dahinter war der gesamte Verkehr zum Stillstand gekommen. Nur die Motorradfahrer konnten noch durchkommen. Wie sie im Spiegel sehen konnte, näherte sich einer mit selbstmörderischer Rücksichtslosigkeit. Er fuhr eine völlig verdreckte, rote Honda 200, deren Farbe sich kaum noch erkennen ließ. Auf dem Sozius saß ein zweiter Mann, und er und der Fahrer hatten die untere Hälfte ihrer Gesichter mit Tüchern zum Schutz gegen den Staub bedeckt. Die Honda überholte die Fahrzeuge vor ihr auf der falschen Seite und schaffte es gerade noch, durch die Lücke zwischen dem Taxi und den an der Seite geparkten Fahrzeugen zu kom men. Der Taxifahrer machte eine obszöne Geste mit Daumen und Zeigefinger und rief Allah zum Zeugen dafür an, daß der Fahrer verrückt und töricht sei. Die Honda bremste neben dem Renault von Royan, und der Mann auf dem Soziussitz beugte
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sich herüber, ließ durch das offene Fenster etwas auf den Bei fahrersitz neben ihr fallen, beschleunigte sofort so stark, daß das Vorderrad der Honda vom Boden abhob. Dann fuhr er nach rechts in eine schmale Nebenstraße, die in die große Durch gangsstraße mündete, und überfuhr fast eine alte Frau am Stra ßenrand. Als der Mann auf dem Soziussitz sich nach ihr umwendete, wehte der Wind den weißen Stoffzipfel von seinem Gesicht, und zu ihrem Schreck erkannte Royan den Mann, den sie zum letzten Mal im Scheinwerferlicht des Fiat auf der Straße neben der Oase gesehen hatte. »Yusuf!« Als die Honda verschwunden war, sah sie sich den Gegenstand an, den er auf den Beifahrersitz geworfen hatte. Er war eiförmig und olivfarben, und seine metallische Oberfläche bestand aus kleinen Würfeln. Royan erkannte es als eine Hand granate, wie sie sie schon oft in alten Kriegsfilmen gesehen hatte, und stellte fest, daß der Abzug abgerissen war und das Ding wahrscheinlich schon in den nächsten Augenblicken ex plodieren würde. Ohne weiter nachzudenken, packte sie den Türgriff neben sich, stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür und ließ sich auf die Straße fallen. Ihr Fuß glitt vom Kupp lungshebel, und der Renault machte einen Sprung nach vorn und krachte gegen den stehengebliebenen Bus. Als Royan vor dem Taxi auf der Straße lag, detonierte die Handgranate. Feuer, Rauch und Glassplitter wurden aus der offenen Fahrertür geschleudert. Das rückwärtige Fenster zer barst und überschüttete sie mit kleinen Glassplittern, während die Detonation schmerzhaft in ihren Ohren dröhnte. Dem Schock der Detonation folgte ein sekundenlanges ent setztes Schweigen, und man hörte nur das Klirren der zu Boden fallenden Glasscherben, und dann ertönte ein Durcheinander von Stöhnen und Schreien. Royan setzte sich auf und drückte
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den verletzten Arm gegen die Brust. Sie war ausgerechnet auf diesen Arm gefallen, und nun hatte sie heftige Schmerzen an der Wundnaht. Der Renault hatte Totalschaden, aber nicht weit von ihr ent fernt lag ihre lederne Umhängetasche auf der Straße, die durch die Explosion aus dem Wagen geschleudert worden war. Mit einiger Mühe stand sie auf und humpelte hinüber, um sie auf zuheben. Um sie herum herrschte ein furchtbares Durcheinan der. Einige Fahrgäste im Bus waren verletzt, und ein vom Wa gen abgerissenes Stück Blech hatte ein kleines Mädchen auf dem Bürgersteig getroffen. Die Mutter des Mädchens schrie laut und wischte dem Kind mit ihrem Kopftuch das Blut aus dem Gesicht, obwohl es sich jämmerlich wimmernd dagegen wehrte. Niemand kümmerte sich um Royan, aber sie wußte, daß schon nach wenigen Minuten die Polizei erscheinen würde, die stets alarmbereit war, um sofort auf die Angriffe fundamentali stischer Terroristen reagieren zu können. Wenn die Polizisten sie hier fanden, würde sie tagelangen Verhören ausgesetzt sein. Also hängte sie sich die Ledertasche über die Schulter und ging – so rasch es das verletzte Bein erlaubte – die Nebenstraße hin unter, auf der die Honda davongefahren war. Am Ende der Straße befand sich eine öffentliche Toilette. Royan schloß sich in eine der kleinen Kabinen ein, lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Tür und versuchte, sich von dem Schock zu erholen und ihre Gedanken zu ordnen. In ihrer Verzweiflung nach der Ermordung von Duraid hatte sie bis jetzt nicht an ihre eigene Sicherheit gedacht, aber nun hatte es sich nur allzu deutlich gezeigt, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie erinnerte sich an die Worte, die sie von einem der Mörder in der Dunkelheit auf der Straße neben der Oase gehört hatte: »Wir werden sie später auch noch finden.« Der Anschlag auf ihr Leben war nur um Haaresbreite miß
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glückt. Sie war überzeugt, daß sehr bald der nächste folgen würde. Royan konnte es nicht wagen, in ihre Wohnung zurückzu kehren, denn dort würden die Attentäter wahrscheinlich auf sie warten. Trotz der stickigen Luft, blieb sie noch länger als eine Stun de in der verschlossenen Toilette und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Schließlich ging sie hinaus in den Wasch raum und wusch sich an einem der schmutzigen Waschbecken das Gesicht. Vor dem Spiegel kämmte sie sich das Haar, brach te ihr Make-up in Ordnung und säuberte, soweit das möglich war, ihre Kleidung. Auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war, lief sie ein paar Häuserblocks weiter, sah sich dabei immer wieder nach möglichen Verfolgern um und winkte dann ein Taxi heran. Sie ließ den Fahrer auf der Straße hinter ihrer Bank halten und ging zu Fuß bis zum Eingang. Es war nur wenige Minuten vor Geschäftsschluß, als man sie in das Büro eines Kassierers führte. Hier hob sie alles Geld von ihrem Konto ab, etwas we niger als fünftausend ägyptische Pfund. Das war nicht viel, aber sie verfügte noch über ein Guthaben bei der Lloyds Bank in York, und dann hatte sie ja auch noch ihre Kreditkarte. »Sie hätten uns rechtzeitig mitteilen müssen, daß wir Ihnen etwas aus Ihrem Schließfach aushändigen sollen«, sagte der Bankbeamte streng. Doch sie entschuldigte sich in einem so bescheidenen Ton und spielte so überzeugend die hilflose jun ge Frau, daß er schließlich nachgab. Er händigte ihr den Um schlag aus, in dem sich ihr britischer Paß und ihre Kontoauszü ge von der Lloyds Bank befanden. Duraid hatte eine ganze Reihe von Verwandten und Freun den, die sie gerne aufgenommen hätten, aber sie wollte sich in den Stadtvierteln, in denen sie sich bisher aufgehalten hatte, nicht mehr sehen lassen. Sie entschied sich für ein abseits des
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Nil gelegenes Zweisternehotel für Touristen, wo sie hoffte, nicht erkannt zu werden. In diesen Hotels verbrachten die Gä ste meist nur wenige Nächte, bevor sie nach Luxor und Assuan weiterreisten, um die historischen Monumente zu besichtigen. Von ihrem Hotelzimmer aus rief sie das Büro von British Airways an. Die nächste Maschine nach Heathrow sollte am folgenden Morgen um zehn Uhr starten. Unter Angabe der Nummer ihrer Kreditkarte buchte sie einen einfachen Flug in der Touristenklasse. Inzwischen war es schon nach achtzehn Uhr, aber der Zeit unterschied zwischen Ägypten und England bedeutete, daß die Geschäfte in England um diese Zeit noch nicht geschlossen hatten. Sie fand die Telefonnummer der Leeds University, wo sie ihre Studien beendet hatte, in ihrem Notizbuch. Beim drit ten Läuten meldete sich eine typisch englische, spröde Stimme: »Archäologische Abteilung. Professor Dixons Büro.« »Sind Sie das, Miss Higgins?« »Ja, ich bin am Apparat, mit wem spreche ich?« »Hier spricht Royan. Royan Al Simma, damals Royan Said.« »Royan! Wir haben seit einer Ewigkeit nichts mehr von Ih nen gehört. Wie geht es Ihnen?« Royan wußte, wie teuer ein solches Ferngespräch sein wür de, und fragte deshalb: »Ist der Professor zu sprechen?« Professor Percival Dixon war über siebzig Jahre alt und hätte schon seit Jahren pensioniert sein können. »Royan, sind sie es wirklich? Meine Lieblingsstudentin?« Sie lächelte. Selbst in seinem hohen Alter war er noch der alte Schwerenöter, und alle hübschen jungen Mädchen waren seine Lieblingsstudentinnen. »Ich rufe Sie aus Ägypten an, Herr Professor. Ich wollte nur fragen, ob Ihr Angebot noch gilt.« »Meine Güte, soweit ich mich erinnere, konnten Sie sich damals nicht freimachen, nicht wahr?« »Inzwischen hat sich einiges geändert. Ich werde Ihnen dar
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über berichten, wenn ich Sie wiedersehe und Sie Zeit für mich haben.« »Aber natürlich, wir würden uns freuen, Sie hier zu begrü ßen und mit Ihnen zu sprechen. Wann werden Sie abreisen können?« »Ich werde morgen in England sein.« »Meine Güte, das ist etwas plötzlich. Ich weiß nicht, ob wir es bis dahin arrangieren können.« »Ich werde bei meiner Mutter in der Nähe von York zu er reichen sein. Verbinden Sie mich bitte noch einmal mit Miss Higgins, dann kann ich ihr unsere Telefonnummer geben.« Der Professor war ein hochintelligenter Mann, aber vielleicht wür de es ihm schwerfallen, die Telefonnummer zu behalten und aufzuschreiben. »Ich werde Sie in den nächsten Tagen anru fen.« Royan legte den Hörer auf und blieb noch eine Weile auf dem Bett liegen. Sie war erschöpft, und der Arm schmerzte immer noch. Sie versuchte, in aller Ruhe über alles nachzuden ken und sich eine möglichst klare Vorstellung davon zu ma chen, was in nächster Zukunft geschehen mußte. Vor zwei Monaten hatte Professor Dixon sie eingeladen, vor seinen Studenten Vorlesungen über die Entdeckung und Aus grabung der Grabstätte der Königin Lostris und die Entdeckung der Schriftrollen zu halten. Das Buch zu diesem Thema und besonders die Fußnote am Ende des Buches hatten sein Interes se geweckt. Ägyptologen aus der ganzen Welt, Liebhaber ebenso wie Berufswissenschaftler, sogar aus Tokio und Nairo bi, hatten sich nach der Authentizität des Romans und dem zugrundeliegenden Tatsachenmaterial erkundigt. Damals hatte sie sich dagegen ausgesprochen, einem Ro manschriftsteller die Übertragungen von den ägyptischen Schriftrollen zur Verfügung zu stellen, vor allem deshalb, weil sie noch unvollständig waren. Sie hatte das Gefühl, aus einer
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bedeutenden und ernstzunehmenden, akademischen Untersu chung könnte ein Unternehmen werden, das nur noch der Un terhaltung einer breiten Öffentlichkeit diente, etwa das gleiche, was Spielberg der Paläontologie mit seinem Park voller Dino saurier angetan hatte. Doch sie war überstimmt worden. Sogar Duraid hatte sich gegen sie gestellt. Natürlich war es das Geld gewesen, denn dem Ministerium fehlte es ständig an den notwendigen Mitteln für die Finanzierung weniger aufsehenerregender Vorhaben. Als jedoch die ganze Tempelanlage von Abu Simbel an eine Stelle oberhalb des Assuandamms verlegt wurde, war dieses Unternehmen von Ländern aus der ganzen Welt mit vielen Mil lionen Dollar unterstützt worden. Doch für die Erledigung der täglich anfallenden, normalen Aufgaben des Ministeriums standen solche Summen nicht zur Verfügung. Mit der Hälfte der Honorare für River God, denn das war der Titel des Buches, waren die Forschungsarbeiten während eines Jahres finanziert worden, aber das war nicht genug, um Royans persönliche Bedenken zu zerstreuen. Der Verfasser hatte sich zu viele Freiheiten im Hinblick auf die in den Schriftrollen enthaltenen Tatsachen herausgenommen und den historischen Persönlichkeiten Charaktereigenschaften angedichtet, auf die es in den Schriftrollen keine Hinweise gab. Besonders ärgerte es sie, daß er den altehrwürdigen Schreiber Taita als einen Aufschneider und großsprecherischen Wichtigtuer dargestellt hatte. Doch fairerweise mußte sie zugeben, daß der Verfasser die Ereignisse so darstellen mußte, daß eine breite Leserschaft an gesprochen wurde, und so schwer es ihr auch fiel, gab sie zu, daß ihm das gelungen war. Da sie es jedoch gewöhnt war, wis senschaftlich zu arbeiten, sträubte sie sich gegen eine solche Popularisierung dieser einzigartigen und erstaunlichen Er eignisse.
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Seufzend versuchte Royan, diese Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Der Schaden ließ sich nicht mehr gutmachen, und der Gedanke daran irritierte sie nur. Deshalb wendete sie sich dringenderen Problemen zu. Wenn sie der Einladung des Professors folgen und die Vorlesungen halten wollte, brauchte sie ihre Dias, und die lagen immer noch in ihrem Büro im Museum. Während sie nun angekleidet auf dem Bett lag und überlegte, wie sie am besten an diese wichti gen Unterlagen herankommen könnte, ohne sie selbst holen zu müssen, schlief sie vor Erschöpfung ein. Schließlich ließ sich ihr Problem ohne die geringsten Schwierigkeiten lösen. Sie rief die Museumsverwaltung an und bat, die Schachtel mit den Dias aus ihrem Büro holen zu lassen und einen Sekretär zu beauftragen, sie ihr mit einem Taxi zum Flughafen zu bringen. Als der Sekretär ihr die Dias am Schalter der British Airways übergab, sagte er: »Heute morgen zur Öffnungszeit kam die Polizei ins Museum. Die Männer wollten Sie sprechen, Frau Doktor.« Offenbar hatte man mit dem polizeilichen Kennzeichen des verunglückten Wagens dessen Besitzer ermitteln können. Nun freute sie sich, daß sie sich mit ihrem britischen Paß ausweisen konnte. Wenn sie versucht hätte, das Land mit ihren ägypti schen Ausweispapieren zu verlassen, hätte sich ihre Abreise verzögern können. Wahrscheinlich hatte die Polizei eine Fahn dung eingeleitet und die Paßkontrollstellen angewiesen, sie festzuhalten. So allerdings konnte sie den Checkpoint ungehin dert passieren. Im Warteraum ging sie an einen Zeitungskiosk und warf einen Blick auf die dort ausliegenden Tageszeitun gen. Alle Lokalzeitungen brachten Berichte über das Bomben
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attentat auf ihren Wagen, und die meisten erinnerten an die Ermordung von Duraid und verknüpften beide Vorfälle mitein ander. Eine von ihnen verdächtigte religiöse Fundamentalisten. El Arab brachte auf der Titelseite ein Foto von ihr und Duraid, das vor einem Monat bei einem Empfang für französische Fremdenführer aufgenommen worden war. Es berührte sie schmerzlich, auf dem Foto zu sehen, wie sie am Arm ihres gutaussehenden und vornehm wirkenden Man nes mit einem glücklichen Lächeln zu ihm aufblickte. Sie kauf te all diese Zeitungen und nahm sie mit an Bord der Maschine der British Airways. Auf dem Flug nach England versuchte sie, sich an alles zu erinnern, was Duraid ihr über den Mann erzählt hatte, den sie nun aufsuchen wollte, und trug es in ihr Notizbuch ein. An den oberen Rand der Seite schrieb sie: »Sir Nicholas QuentonHarper (Bart).« Duraid hatte ihr erzählt, daß dem Urgroßvater von Nicholas für seine Verdienste als Berufsoffizier in der bri tischen Kolonialarmee der Titel eines Baronet verliehen wor den war. Über drei Generationen hatte die Familie enge Bezie hungen zu Afrika unterhalten, vor allem zu den britischen Ko lonien und Einflußsphären in Nordafrika; Ägypten und dem Sudan, Uganda und Kenia. Duraid hatte ihr gesagt, Sir Nicholas selbst habe als Offizier der britischen Armee in Afrika und in den Golfstaaten gedient. Er sprach fließend Arabisch und Suaheli und interessierte sich besonders für Archäologie und Zoologie. Ebenso wie sein Va ter, sein Großvater und sein Urgroßvater hatte er mehrere Ex peditionen nach Nordafrika unternommen, um seine Sammlung dort vorkommender Tier- und Pflanzenspezies zu erweitern und abgelegene Gebiete zu erforschen. Er hatte Artikel für ei nige wissenschaftliche Zeitschriften geschrieben und sogar Vorträge an der Royal Geographic Society gehalten. Als sein älterer Bruder kinderlos starb, erbte Sir Nicholas
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den Titel und den Familienbesitz von Quenton Park. Er war aus der Armee ausgeschieden, um den Besitz zu verwalten, beson ders aber weil er sich um das Familienmuseum kümmern woll te, das 1885 von seinem Urgroßvater, dem ersten Baronet, ge gründet worden war. Es enthielt eine der größten privaten Sammlungen aus der afrikanischen Fauna, ebenso bekannt war aber auch die Sammlung von Kunstgegenständen aus dem alten Ägypten und dem Mittleren Osten. Den Erzählungen von Duraid entnahm sie aber auch, daß Sir Nicholas ein ungewöhnlich abenteuerlustiger Mann war, der sich nicht gescheut hatte, wenn notwendig gegen die geltenden Gesetze zu verstoßen und sich großen Gefahren auszusetzen, um seine Sammlung in Quenton Park zu vervollständigen. Duraid hatte ihn vor einigen Jahren kennengelernt, als Sir Nicholas ihn gebeten hatte, ihm bei der Vorbereitung einer unzulässigen Expedition zu helfen, bei der er eine Reihe puni scher Bronzearbeiten aus Libyen holen wollte. Sir Nicholas hatte einige dieser Stücke verkauft, um die Kosten der Expedi tion zu decken, hatte jedoch die besten für seine Privatsamm lung behalten. Bei einem weiteren Unternehmen in neuerer Zeit ging es darum, unbemerkt über die Grenzen in den Irak zu kommen und zwei antike steinerne Flachrelief-Friese zu holen. Duraid hatte ihr erzählt, daß Sir Nicholas eines der beiden für angeb lich fünf Millionen Dollar verkauft hatte. Dieses Geld habe er für den Unterhalt des Museums verwendet. Das zweite und wertvollere Relief befände sich jedoch immer noch im Besitz von Sir Nicholas. An beiden Expeditionen beteiligte sich Duraid, bevor er Royan kennengelernt hatte, aber immer noch konnte sie nicht recht verstehen, was ihn veranlaßt hatte, sich diesem engli schen Abenteurer anzuvertrauen. Offenbar wirkte Sir Nicholas besonders vertrauenswürdig, denn wenn die örtlichen Behör
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den sie auf frischer Tat ertappt hätten, hätte sie das sicherlich das Leben gekostet. Duraid hatte ihr erklärt, daß es jedesmal nur die Findigkeit von Sir Nicholas und seiner zahlreichen Freunde und Bewun derer im Mittleren Osten und Nordafrika gewesen sei, auf de ren Hilfe er sich verlassen konnte und die ihnen das Gelingen dieser Unternehmungen ermöglichte. »Er ist ein kleiner Teufel«, hatte Duraid kopfschüttelnd ge sagt und sich dabei offensichtlich mit einer gewissen nostalgi schen Wehmut an diese Zeit erinnert, »aber wenn es hart auf hart ging, konnte man sich auf diesen Mann verlassen. Es war eine sehr aufregende Zeit, aber im Rückblick schaudert es mich noch immer, an die Gefahren zu denken, denen wir uns ausge setzt haben.« Sie hatte sich schon selbst oft darüber gewundert, welche Ri siken jemand auf sich zu nehmen bereit war, wenn es darum ging, seine Sammlerleidenschaft zu befriedigen. Die Risiken standen in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Gewinn, wenn eine Sammlung vervollständigt werden sollte. Doch nun mußte sie über ihre eigenen frommen Bedenken lächeln. Das Unternehmen, an dem sie Sir Nicholas hoffte beteiligen zu können, war durchaus nicht gefahrlos, und jeder Jurist hätte sofort erkannt, daß es rechtlich nicht zu vertreten war. Immer noch lächelnd, schlief sie ein, denn die Belastungen der vergangenen Tage hatten sie an den Rand dessen gebracht, was sie ertragen konnte. Die Stewardeß weckte sie mit der Aufforderung, den Sicherheitsgurt für die Landung in Heath row anzulegen. Vom Flughafen aus rief Royan ihre Mutter an. »Hello, Mummy. Ich bin angekommen.« »Ja, das höre ich. Wo bist du, mein Liebling?« Ihre Mutter
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klang so nüchtern wie immer. »In Heathrow. Ich würde gern eine Zeitlang bei dir bleiben. Paßt es dir?« »Lumley sucht Lumley«, sagte ihre Mutter und lachte. »Ich bin schon unterwegs, dein Bett herzurichten. Mit welchem Zug kommst du an?« »Ich habe mir den Fahrplan angesehen. Ein Zug, der von King’s Cross abfährt, wird um neunzehn Uhr in York sein.« »Ich werde dich am Bahnhof abholen. Was ist passiert? Hat es einen Streit mit Duraid gegeben? Er könnte dein Vater sein. Ich habe doch gleich gesagt, daraus würde nichts werden.« Royan schwieg einen Augenblick, denn in einem kurzen Te lefongespräch ließ sich das Geschehene nicht erklären. »Ich werde dir alles erzählen, wenn wir uns heute abend sehen.« Georgina Lumley, ihre Mutter, wartete an diesem düsteren und kalten Novemberabend auf dem Bahnsteig. Royan ent deckte schon von weitem ihre kräftige, gedrungene Gestalt in dem alten grünen Lodenmantel und daneben den gehorsamen Cockerspaniel Magic, ein unzertrennliches Paar, auch wenn sie bei Hundeausstellungen keine Preise hätten gewinnen können. Für Royan boten sie ein tröstliches, vertrautes Bild des engli schen Teils ihrer Familie. Georgina gab Royan einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Sie verabscheute, wie sie selbst immer wieder sagte, alle diese dummen Sentimentalitäten. Sie nahm Royan einen der beiden Koffer ab und ging voraus zu dem auf dem Parkplatz stehen den, alten, mit Schlamm bespritzten Landrover. Magic beschnupperte Royans Hand und wedelte zur Begrü ßung mit dem Schwanz. Dann erlaubte er ihr würdevoll und gnädig, ihm den Kopf zu streicheln, aber wie seine Herrin war er kein Freund von Sentimentalitäten. Zu Beginn der Fahrt saßen sie eine Zeitlang schweigend ne beneinander. Dann zündete sich Georgina eine Zigarette an.
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»Also was ist mit Duraid geschehen?« Nach einer weiteren Minute des Schweigens konnte Royan nicht mehr an sich halten, und die Schleusentore, hinter denen sich ihre Verzweiflung angestaut hatte, öffneten sich. Die Fahrt von York nach Norden zu dem kleinen Dorf Bransbury dauerte zwanzig Minuten, und Royan erzählte ununterbrochen die gan ze Zeit. Von ihrer Mutter hörte sie nur ein paar beruhigende und tröstende Laute, und als Royan bei der Schilderung der Einzelheiten von Duraids Tod und Beerdigung zu weinen an fing, streichelte Georgina die Hand ihrer Tochter. Als sie am Landhaus ihrer Mutter ankamen, war alles gesagt. Royan hatte sich ausgeweint, und als sie beim Abendessen sa ßen, das die Mutter schon vor ihrer Abfahrt zubereitet und in die Wärmeröhre gestellt hatte, konnte die Tochter wieder ruhig nachdenken und über ihre Zukunftspläne sprechen. Royan konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal ein engli sches Steak und kidney pie gegessen hatte. »Was also wirst du jetzt tun?« fragte Georgina und goß sich den letzten Rest Guinness aus der schwarzen Flasche in ihr Glas. »Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht.« Während sie das sagte, fragte sich Royan im stillen, weshalb so viele Men schen eine Lüge ausgerechnet mit diesen Worten beginnen. »Ich habe mich von der Museumsverwaltung für sechs Monate beurlauben lassen, und Professor Dixon hat mir angeboten, an der Universität eine Vorlesungsreihe zu halten. Für den Au genblick ist das alles.« »Nun gut«, sagte Georgina und stand auf. »Ich habe dir eine Wärmflasche ins Bett gelegt, und dein Zimmer steht dir so lan ge zur Verfügung, wie du bleiben willst.« Für sie war dieses Angebot Ausdruck einer leidenschaftlichen, mütterlichen Lie beserklärung. In den nächsten Tagen ordnete Royan ihre Dias und Notizen
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für die Vorlesungen und begleitete jeden Nachmittag Georgina und Magic auf ihren langen Spaziergängen durch die ländliche Umgebung. »Kennst du Quenton Park?« fragte sie ihre Mutter auf einem dieser Ausflüge. »Aber natürlich«, erwiderte Georgina begeistert. »Magic und ich fahren vier- oder fünfmal in jeder Jagdzeit dorthin. Es sind die besten Jagden auf Fasane und Waldschnepfen in Yorkshire. Die Fasane fliegen hier so hoch, daß die besten Schützen in England sie kaum treffen können.« »Kennst du den Besitzer, Sir Nicholas Quenton-Harper?« fragte Royan. »Ich habe ihn auf den Jagden gesehen, persönlich kenne ich ihn nicht. Er ist allerdings ein guter Schütze«, erwiderte Geor gina. »Damals, vor langer Zeit, bevor ich deinen Vater heirate te, habe ich seinen Vater recht gut gekannt.« Ihr vielsagendes Lächeln machte Royan stutzig. »Ein guter Tänzer. Wir haben manchen Gigue zusammen getanzt, und nicht nur auf dem Par kett.« »Mummy, du bist unmöglich!« lachte Royan. »Das war ich früher«, stimmte ihr Georgina bereitwillig zu. »Heute hat man kaum noch die Gelegenheit dazu.« »Wann werden du und Meggy wieder nach Quenton Park fahren?« »In zwei Wochen.« »Darf ich dich begleiten?« »Aber natürlich – der Jagdaufseher braucht ständig neue Treiber. Pro Tag gibt es zwanzig Pfund und ein Mittagessen mit einer Flasche Bier.« Sie sah ihre Tochter fragend an. »Und was interessiert dich dort?« »Ich habe gehört, es gibt dort ein privates Museum, eine weltbekannte ägyptische Sammlung. Die hätte ich mir gern angesehen.«
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»Dazu brauchst du eine persönliche Einladung. Sir Nicholas ist ein eigenartiger Bursche, ein typischer Eigenbrötler.« »Könntest du nicht eine Einladung für mich bekommen?« fragte Royan, aber Georgina schüttelte den Kopf. »Wende dich doch an Professor Dixon. Er kommt oft zu den Fasanenjagden nach Quenton Park und ist ein guter Freund von Quenton-Harper.« Royan mußte zehn Tage warten, bis Professor Dixon Zeit für sie hatte. Sie lieh sich den Landrover von ihrer Mutter und fuhr nach Leeds. Der Professor umarmte sie und drückte sie an sei ne Brust wie ein alter Bär. Dann lud er sie zu einer Tasse Tee in sein Büro ein. Angesichts all der in diesem Zimmer zusammengetragenen Bücher, Papiere und Antiquitäten, erinnerte sie sich mit einer gewissen Wehmut an ihre Studienzeit. Royan erzählte ihm, wie Duraid ermordet worden war, und Dixon war erschüttert. Doch sehr bald wechselte sie das Thema und zeigte ihm die Dias, die sie zur Illustration ihrer Vorlesungen mitgebracht hatte. Und was Professor Dixon zu sehen bekam, faszinierte ihn. Erst kurz bevor sie gehen mußte, ergab sich die Gelegenheit, das Museum in Quenton Park zu erwähnen, aber er reagierte sofort. »Es wundert mich, daß Sie es nicht schon während Ihrer Studienzeit besucht haben. Es ist eine beachtliche Sammlung. Die Familie hat sie in mehr als hundert Jahren zusammengetra gen. Im übrigen werde ich dort am folgenden Donnerstag an einer Fasanenjagd teilnehmen. Dann werde ich mit Nicholas sprechen. Doch gegenwärtig ist der arme Kerl in einer sehr schlechten Verfassung, denn im vergangenen Jahr hat er eine schreckliche persönliche Tragödie erlebt. Bei einem Autounfall auf der M 1 verlor er seine Frau und zwei kleine Töchter.« Er
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schüttelte den Kopf. »Eine schreckliche Geschichte. Nicholas saß selbst am Lenkrad des Wagens, und nun glaubt er, schuld an diesem Unfall zu sein.« Der Professor begleitete sie bis zu ihrem Landrover. »Wir werden Sie also am dreiundzwanzigsten sehen«, sagte er, als er Royan zum Abschied die Hand reichte. »Sie werden wahr scheinlich mehr als hundert Zuhörer haben. Mich hat bereits ein Reporter von der Yorkshire Post darauf angesprochen. Die Leute haben von den bevorstehenden Vorlesungen gehört und würden Sie gern interviewen, und das wäre natürlich eine gute Werbung für unsere Fakultät. Sie haben doch sicher nichts da gegen! Könnten Sie schon zwei Stunden vor Beginn da sein, um mit den Leuten zu sprechen?« »Wahrscheinlich werde ich Sie schon vor dem dreiundzwan zigsten wiedersehen«, erwiderte sie. »Meine Mutter und ihr Hund werden sich am Donnerstag als Treiber an der Jagd in Quenton Park beteiligen, und dazu hat sie auch mich angemel det.« »Ich werde mich nach Ihnen umsehen«, versprach er und winkte ihr zu, als sich ihr Wagen in Bewegung setzte und in einer Rauchwolke aus dem Auspuff verschwand. Ein eiskalter Wind wehte von Norden und trieb die schweren blaugrauen Wolken so dicht über die Erde, daß sie die Gipfel der Hügel einhüllten. Royan hatte sich unter der alten grünen Lodenjacke ihrer Mutter drei Garnituren Unterwäsche angezogen, aber sie frö stelte trotzdem, als sie sich unterhalb des Berghangs der Reihe der Treiber näherte. In der Hitze des Niltals hatte sich ihr Blut verdünnt. Selbst zwei Paar dicke Wollsocken genügten nicht, ihre klammen Zehen zu erwärmen. Für diesen letzten Trieb des Tages hatte der Jagdaufseher
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Georgina aus ihrer üblichen Position unmittelbar hinter der Schützenreihe, wo sie und Magic die angeschossenen Fasane aufnehmen sollten, bis zu den Treibern zurückgenommen. Der letzte und bei den Schützen beliebteste Trieb waren die »hohen Lärchen«. Hier brauchte der Jagdaufseher alle verfüg baren Männer und Frauen, um die Fasane von der Anhöhe den Hang hinunterzutreiben und sie hoch über das Tal fliegen zu lassen, wo die Schützen an ihren Standplätzen auf sie warteten. Es erschien Royan im höchsten Maße unlogisch, die Fasane zuerst aufzuziehen und sie dann, wenn sie ausgewachsen wa ren, unter möglichst schwierigen Umständen abschießen zu lassen. Doch Georgina hatte ihr erklärte, daß es den Schützen die größte Freude bereitete, die hoch über sie hinwegfliegenden Vögel zu treffen, und daß sie bereit seien, für dieses Vergnügen viel Geld zu bezahlen. »Du wirst es nicht glauben, was die Leute für einen Tag Fa senenjagd zahlen«, sagte Georgina. »Heute werden es insge samt fast vierzehntausend Pfund sein. In dieser Jagdsaison wird an zwanzig Tagen gejagt werden. Rechne das zusammen, und du wirst sehen, daß es einen wesentlichen Teil der Einkünfte dieses Besitzes ausmacht. Im übrigen haben wir nicht nur unse ren Spaß daran, sondern das Geld, das wir dabei verdienen, ist für viele von uns eine sehr angenehme Beigabe.« Für Royan war es kein besonderes Vergnügen gewesen, die Fasane in dem dichten Brombeergebüsch aufzuspüren, und sie war auch mehr als einmal ausgerutscht und hingefallen und hatte sich dabei Knie und Ellbogen mit Schlamm beschmutzt. Der vor ihr verlaufende Graben war halb mit Wasser gefüllt, auf dem sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte. Sie näherte sich ihm vorsichtig und versuchte, mit ihrem Stock das Gleich gewicht zu halten. Fünf anstrengende Treiben lagen bereits hinter ihr, und sie war ziemlich erschöpft. Sie blickte zu ihrer Mutter hinüber und wunderte sich, daß sie so viel Freude an
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dieser Quälerei hatte. Georgina ging unermüdlich weiter und lenkte den Hund mit ihrer Trillerpfeife und Handzeichen. Lachend rief sie Royan zu: »Es ist das letzte Stück, mein Liebling. Wir sind fast am Ziel.« Es war Royan peinlich, daß ihre Mutter erkannt hatte, wie erschöpft sie war. Nun versuchte sie mit Hilfe ihres Stocks über den Graben zu springen, verschätzte sich jedoch und lan dete noch vor dem anderen Ufer knietief in dem eiskalten Was ser, das ihr in die Stiefel drang. Immer noch lachend, hielt ihr Georgina ihren eigenen Stock hin, um sie damit aus dem glitschigen Schlamm zu ziehen. Als Royan endlich wieder auf festem Boden stand, hatte sie keine Zeit mehr, die Stiefel auszuziehen und das Wasser auszuschüt ten, denn die Treiber mußten möglichst rasch vorankommen. So ging sie weiter, und bei jedem Schritt hörte man deutlich das Glucksen des Wassers. »Links stehenbleiben!« tönte die Stimme des Jagdaufsehers aus dem Funksprechgerät, und die Reihe der Treiber folgte gehorsam dieser Anweisung. Es war die Aufgabe des Jagdaufsehers, dafür zu sorgen, daß die Fasane nicht alle auf einmal aus dem dichten Unterbewuchs aufflogen, sondern einzeln oder paarweise, und die Schützen die Gelegenheit hatten – wenn die beiden Läufe ihrer Schrot flinte abgefeuert waren –, mit der zweiten Flinte, die ihnen der hinter ihnen stehende Flintenspanner reichte, auf einen weite ren abstreichenden Fasan zu schießen. Die Höhe des Trink geldes, mit dem der Jagdaufseher rechnen konnte, und sein persönlicher Ruf hingen davon ab, wieweit es ihm gelang, die einzelnen Fasane schußgerecht an den Schützen vorbeifliegen zu lassen. Inzwischen war Royan wieder zu Atem gekommen und hatte Zeit, sich umzusehen. Durch eine Lichtung zwischen den Lär chen, die diesem Teil des Reviers den Namen gegeben hatten,
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konnte sie in das vor ihr liegende Tal hinunterblicken. Am Fuß der Hügelkette dehnte sich eine von schmutziggrau en Schneeflecken – den Überbleibseln des Schneefalls der letz ten Woche unterbrochene, grüne Grasfläche aus, und hier hatte der Jagdaufseher eine Reihe numerierter Holzpfähle einschla gen lassen. Vor Beginn des letzten Treibens waren sie unter den Schützen ausgelost worden, die jeweils an dem ihnen zuge teilten Stand an der Jagd teilnehmen sollten. Jetzt stand jeder an seinem Pfahl, und hinter ihm war der Flintenspanner mit der zweiten Flinte. Sie alle blickten erwar tungsvoll zum Abhang hinauf, wo die Fasane auffliegen wür den. »Wo steht Sir Nicholas?« rief Royan ihrer Mutter zu, und Georgina deutete auf den letzten in der Reihe der Schützen stehenden Mann. »Es ist der große Mann da drüben«, sagte sie, und in diesem Augenblick hörte man die Stimme des Jagdaufsehers aus dem Funksprechgerät: »Auf der linken Seite langsam voran. Wieder auf den Boden schlagen!« Gehorsam rückten die Treiber vor, aber ohne das vorsichtige Vorgehen mit lauten Rufen zu be gleiten. »Langsam weiter und stehenbleiben, wenn Sie die Vögel laufen hören.« Schritt für Schritt bewegte sich die Reihe der Treiber weiter, und vor ihnen im Brombeergebüsch und zwischen dem Farn kraut hörte Royan, wie einige Fasane davonliefen, die nicht auffliegen wollten. Auf dem Weg nach unten mußte ein weiterer Graben über quert werden. Er lag in einem fast undurchdringlichen Brom beergebüsch. Einige der größeren Hunde wie die Labradors wollten nicht in das Dornengestrüpp hinein. Georgina blies in ihre Trillerpfeife, und Magic spitzte die Ohren. Er war patsch naß, und in seinem mit Schlamm bedeckten Fell steckten dor
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nige Zweige. Die rosafarbene Zungenspitze hing ihm seitlich aus dem Maul, und er wedelte fröhlich mit seinem durchnäßten Stummelschwanz. In diesem Augenblick war er der glücklich ste Hund in ganz England, denn jetzt durfte er die Arbeit lei sten, für die er gezüchtet worden war. »Weiter, Magic«, rief ihm Georgina zu. »Hinein und stöber sie auf!« Mit einem Satz verschwand Magic im Gebüsch, wo es am dichtesten und dornigsten war. Man hörte ihn in der Tiefe des Grabens schnüffeln und suchen, und dann ein lautes Gackern und Flügelschlagen. Zwei Fasane stiegen auf und strichen ab. Die Henne flog voraus, ein unscheinbarer Vogel, etwa so groß wie ein Haus huhn. Aber der Hahn, der ihr folgte, war ein prächtiges Tier. Er hatte einen glänzenden, blaugrünen Kopf mit scharlachroten Wangen und Kehllappen. Der schwarzgestreifte, zimtfarbene Stoß war fast so lang wie sein Körper, und das übrige Gefieder war lebhaft bräunlich und schwarz gesprenkelt. Vor dem grauen Himmel stieg er auf wie ein kostbares, von fürstlicher Hand in die Luft geworfenes Juwel. Beim Anblick dieses herrlichen Bildes verschlug es Royan den Atem. »Sieh dir das an!« rief Georgina mit vor Erregung bebender Stimme. »Was sind das für prächtige Vögel! Die schönsten, die wir heute zu Gesicht bekommen haben. Ich wette, kein Schütze wird sie treffen.« In weiten Kreisen stiegen sie immer höher, die Henne vor aus, gefolgt von dem Hahn, doch dann wurden sie plötzlich von einem Windstoß erfaßt, der sie quer über das Tal zur Seite wehte. Die Treiber genossen diesen Augenblick, denn dafür hatten sie hart gearbeitet. Die Rufe, mit denen sie die Fasane antrei ben wollten, waren in dem stärker werdenden Wind kaum noch zu hören. Für sie war es ein besonderes Vergnügen, zu sehen, wie ein Fasan so hoch und schnell über die Schützenkette hin
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wegflog, daß er kaum noch getroffen werden konnte. »Vorwärts!« jubelten sie, »hinüber!«, und die Treiber blie ben unwillkürlich stehen, um die vom starken Wind davonge tragenen Fasane mit den Blicken zu verfolgen. Unten im Tal waren die Gesichter der Schützen, die man als helle Flecken vor dem grünen Wiesengrund erkennen konnte, alle nach oben gerichtet. Die Anspannung war fast körperlich spürbar, mit der sie beobachteten, wie die Fasane ihre Höchst geschwindigkeit erreichten und nicht mehr mit den Flügeln schlugen, sondern im Gleitflug hinunter ins Tal schwebten. In keinem Augenblick war es schwieriger, sie zu treffen, als in dieser Phase ihres Fluges, wenn sie vom starken Wind be schleunigt dazu ansetzten, die Schützenlinie zu überfliegen. Für die Männer, die dort standen, kam es darauf an, die Ge schwindigkeit und Richtung des Fasans und der Geschoßgarbe richtig zu berechnen. Die besten Schützen konnten vielleicht hoffen, einen von ihnen zu treffen, aber keiner würde denken, beide erlegen zu können. Georgina rief den Treibern zu: »Ein Pfund darauf, daß beide durchkommen«, aber niemand wollte die Wette annehmen. Der Wind drückte die Fasane immer weiter zur Seite. Zu nächst waren sie auf die Mitte der Schützenlinie zugeflogen, aber nun hatte sich ihre Flugrichtung geändert, und sie steuer ten auf den am weitesten links stehenden Schützen zu. Royan konnte sehen, wie sich die Männer an den einzelnen Ständen schußbereit machten, solange sie damit rechnen konnten, daß die Fasane auf sie zuflogen, aber die Flinten wieder senkten, wenn der Wind sie weitertrieb. Sie waren offensichtlich er leichtert, die Herausforderung eines so schwierigen Schusses vor den Augen aller Jagdgenossen nicht annehmen zu müssen. Am äußersten Ende der Schützenreihe stand in der Flugrich tung nur noch die aufrechte Gestalt eines Mannes. »Sie gehören Ihnen, Sir«, rief einer der anderen Schützen
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spöttisch, und Royan spürte, wie sie erwartungsvoll den Atem anhielt. Nicholas Quenton-Harper schien die auf ihn zufliegenden Fasane noch gar nicht bemerkt zu haben. Er stand völlig ent spannt da, hatte sich leicht nach vorn gebeugt und hielt die Flinte mit der Mündung nach unten unter dem Arm. Erst als die vorausfliegende Henne bei etwa sechzig Grad über dem Hori zont in seinem Schußfeld erschien, bewegte er sich zum ersten Mal. Mit elegantem Schwung führte er die Flinte in einem Bo gen nach oben, und als der Kolben seine Wange und Schulter berührte, feuerte er, unterbrach die Bewegung aber nicht, son dern vollendete sie, bis die Mündung wieder auf den Boden gerichtet war. Die Entfernung zum Schützen war so groß, daß Royan den Schuß erst nach einer gewissen Verzögerung hören konnte. Sie sah, wie die Flintenläufe mit dem Rückstoß zurückzuckten und aus der Mündung ein kleines Rauchwölkchen ausgestoßen wurde. Dann senkte Sir Nicholas das Gewehr, die Fasanenhen ne warf plötzlich den Kopf zurück und legte die Flügel an. Der Schuß riß ihr jedoch keine Federn aus, da ein tödliches Schrot korn ihren Kopf getroffen hatte. Als sie wie ein Stein zu Boden stürzte, hörte Royan den dumpfen Knall des Schusses. Inzwischen war auch der Hahn hoch über Sir Nicholas ange kommen. Diesmal beugte er sich, während er dem Fasanen hahn mit der Mündung der Flinte im Halbkreis folgte, wie ein gespannter Bogen zurück, und wieder konnte man den Rück stoß der Waffe deutlich erkennen, als sich der Schuß im Schei telpunkt des Halbkreises löste. Er hat vorbeigeschossen! dachte Royan. Einerseits freute es sie, daß der Fasan unverletzt davongekommen war, anderer seits tat es ihr leid, denn irgendwie hatte sie gehofft, daß der Mann dort unten auch diesmal seine Überlegenheit beweisen würde. Doch allmählich änderte sich das Profil des Vogels, der
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nun die Flügel anlegte und sich im Fluge überschlug. Royan wußte nicht, daß sein Herz durchschossen worden war, bis er nach wenigen Augenblicken mitten in der Luft starb und die Flügel hängen ließ. Als der Hahn zu Boden taumelte, hörte man trotz des eisigen Nordwinds die begeisterten Beifallsrufe der Treiber, und sogar die anderen Schützen stimmten in den Beifall ein und riefen: »Ein guter Schuß, Sir!« Royan beobachtete schweigend die Szene, und in diesem Augenblick waren Müdigkeit und Kälte vergessen. Zwar konn te sie die Leistungen eines guten Schützen nicht fachmännisch beurteilen, aber sie war beeindruckt und hatte das Gefühl, daß dieser Mann ihren Respekt verdiente. Schon auf den ersten Blick entsprach er den Vorstellungen, die durch die Erzählun gen von Duraid in ihr entstanden waren. Am Schluß des letzten Treibens war es schon fast dunkel. Ein alter Militärlastwagen kam den Waldweg entlang, wo die erschöpften Treiber und ihre Hunde schon warteten. Er hielt an, und sie kletterten hinauf auf die Ladefläche. Royan ließ sich von Georgina helfen, die ihr mit Magic folgte. Dankbar ließen sie sich auf einer der langen und harten Bänke nieder, Georgina zündete sich eine Zigarette an und beteiligte sich an der lebhaften Unterhaltung der Jagdgehilfen und Treiber. Royan saß schweigend am Ende der Bank und war froh, die sen anstrengenden Tag glücklich überstanden zu haben. Sie war müde, aber irgendwie zufrieden. Einen ganzen Tag hatte sie weder an die gestohlene Schriftrolle noch an die Ermordung von Duraid und den unbekannten Feind gedacht, der gedroht hatte, sie umzubringen. Der Lastwagen rollte den Hang hinunter, verlangsamte das Tempo, als er unten angekommen war, und fuhr an den Stra ßenrand, um einen grünen Rangerover vorbeizulassen. Als bei de Fahrzeuge auf gleicher Höhe waren, drehte Royan den Kopf
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und schaute durch das offene Fenster des teuren Geländewa gens in die Augen von Nicholas Quenton-Harper, der am Lenk rad saß. Zum ersten Mal war sie ihm so nah, daß sie sich sein Gesicht genauer ansehen konnte. Es überraschte sie, daß er so jung war. Sie hatte geglaubt, er sei etwa so alt wie Duraid. Nun erkannte sie, daß er nicht älter sein konnte als vierzig, denn in seinem dichten zerzausten Haar zeigten sich an den Schläfen erste we nige silbergraue Strähnen. Sein gebräuntes, wetterhartes Ge sicht war das eines Mannes, der den größten Teil seiner Zeit im Freien zubringt. Seine grünen Augen unter den dunklen Brauen blickten sie durchdringend an. Er hatte einen ausdrucksvollen Mund und lächelte über eine Bemerkung, die ihm der Fahrer des Lastwagens in seinem typischen Yorkshire-Akzent zurief. Und doch glaubte Royan, in seinem Blick eine gewisse Trau rigkeit zu erkennen. Sie erinnerte sich an die Tragödie, die er hatte erleben müssen, und ihr Herz öffnete sich ihm, denn sie war mit ihrem Verlust und ihrer Trauer nicht mehr allein. Er sah ihr direkt in die Augen, und plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Sie war eine attraktive Frau, und sie konnte sehen, wann ein Mann das erkannte. Sie hatte ihn be eindruckt, doch das freute sie nicht, denn der Tod von Duraid stand ihr noch zu deutlich vor Augen und schmerzte noch zu sehr. Sie wendete sich ab, und der Rangerover fuhr weiter. Die Vorlesung an der Universität war ein voller Erfolg. Roy an verstand es, ihre Zuhörer zu fesseln, und verfügte zudem über hervorragende Sachkenntnisse. Besonders spannend war ihr Bericht über die Öffnung des Mausoleums der Königin Lo stris und die Entdeckung der Schriftrollen. Viele Zuhörer hat ten das Buch gelesen, und in der anschließenden Fragestunde wollten sie wissen, wieviel davon der Wahrheit entspräche.
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Hier mußte sie sehr vorsichtig sein und auf den guten Ruf des Verfassers Rücksicht nehmen. Anschließend lud Professor Dixon Royan und Georgina zum Abendessen ein. Er war entzückt von dem Vortrag und bestell te zur Feier des Tages eine Flasche des besten roten Bordeaux. Es verwirrte ihn allerdings, als Royan es ablehnte, ein Glas zu trinken. »Meine Güte, ich habe ganz vergessen, daß Sie Mohamme danerin sind«, entschuldigte er sich. »Ich bin Koptin«, erwiderte sie, »und es hat keine religiösen Gründe, daß ich nicht trinke. Der Wein schmeckt mir nicht.« »Seien Sie unbesorgt«, beruhigte ihn Georgina, »ich habe keine so masochistischen Vorbehalte wie meine Tochter. Sie hat das wahrscheinlich von ihrem Vater. Ich werde Ihnen gerne helfen, die Flasche zu leeren.« Unter dem Einfluß des Rotweins löste sich die Zunge des Professors, und er berichtete ausführlich über seine Beteiligung an archäologischen Ausgrabungen während der vergangenen Jahrzehnte. Erst beim Kaffee nach dem Essen wendete er sich wieder Royan zu. »Meine Güte, ich habe fast vergessen, es Ihnen zu erzählen. Ich habe Sie zu einem Beusch des Museums in Quenton Park angemeldet. Wenn es Ihnen paßt, wird man Sie dort noch diese Woche an jedem beliebigen Nachmittag empfangen. Rufen Sie nur einen Tag davor Mrs. Street an. Sie wird Sie erwarten. Mrs. Street ist die persönliche Assistentin von Sir Nicholas.« Da Royan mit ihrer Mutter bei der Fasenenjagd bereits nach Quenton Park gefahren war, kannte sie den Weg, doch nun saß sie allein in ihrem Landrover. Das schwere schmiedeeiserne Tor an der Einfahrt stand offen. Sehr bald gabelte sich der Weg, und einige Wegweiser zeigten die Richtung zu den ein
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zelnen Gebäuden: »Quenton Hall, privat«, »Verwaltungs gebäude« und »Museum«. Der Weg zum Museum schlängelte sich durch das Wildgat ter, wo ganze Rudel von Damhirschen unter den entlaubten Eichen ästen. Durch den leichten Nebel entdeckte sie in einiger Entfernung das große Wohnhaus. Dem Reiseführer, den der Professor ihr mitgegeben hatte, konnte sie entnehmen, daß Sir Christopher Wren das Haus 1693 entworfen und der bekannte Landschaftsgärtner, Capability Brown, sechs Jahre später den Park gestaltet hatte. Es war eine wunderschöne Anlage. Das Museum lag etwa achthundert Meter hinter dem Wohn haus in einem Blutbuchenhain. Es war ein geräumiges Gebäude, das offenbar im Laufe der Jahre mehrfach erweitert worden war. Mrs. Street wartete am Seiteneingang, stellte sich vor und bat Royan hinein. Sie war eine ältere, grauhaarige und selbstsicher auftretende Frau. »Ich habe Ihre Vorlesung am Montag abend gehört. Faszinierend! Ich gebe Ihnen einen Katalog, in dem alle hier ausgestellten Gegenstände verzeichnet und genau beschrie ben sind. Ich habe fast zwanzig Jahre daran gearbeitet. Heute erwarte ich außer Ihnen keine Besucher mehr, also haben Sie Zeit, sich alles genau anzusehen. Ich werde bis siebzehn Uhr dableiben, und so steht Ihnen der ganze Nachmittag zur Verfü gung. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, zögern Sie bitte nicht, mich in meinem Büro am Ende des Korridors aufzusu chen.« Als erstes sah sich Royan die in mehreren Räumen unterge brachte Ausstellung der afrikanischen Tierwelt an und war be geistert. In dem Primatenzimmer befand sich eine vollständige Sammlung aller auf dem afrikanischen Kontinent vorkommen den Menschenaffen und kleineren Affen, vom großen »Silber rücken«, dem männlichen Gorilla, bis zum feingliedrigen Co lobus mit dem langhaarigen, schwarz-weißen Fell. Einige dieser Ausstellungsstücke waren mehr als hundert
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Jahre alt, aber trotzdem in einem hervorragenden Zustand. Sie waren vor sorgfältig gemalten, plastisch wirkenden Schaubil dern ihrer natürlichen Umwelt plaziert. Offenbar beschäftigte das Museum eine Reihe hervorragender Künstler und Tierprä paratoren, was mit Sicherheit hohe Kosten verursachte. Royan dachte an die fünf Millionen Dollar, die Sir Nicholas für das Basrelief aus dem Irak bekommen hatte, und fand, daß das Geld hier gut angelegt worden war. Sie ging hinüber in den Raum, in dem die Antilopen ausge stellt waren, und bewunderte diese großartigen Tiere. Vor dem Diorama mit einer Familie der riesigen, heute ausgestorbenen angolanischen Säbelantilope, Hippotragus niger variant, blieb sie stehen. Zwar bewunderte sie die Schönheit des tiefschwar zen männlichen Tiers mit der schneeweißen Brust und dem langen, nach rückwärts gebogenen Gehörn, bedauerte es je doch, daß ein Mitglied der Familie Quenton-Harper für seinen Tod verantwortlich war. Doch dann dachte sie daran, daß ohne die Sammlerleidenschaft des Jägers, der ihn geschossen hatte, künftige Generationen nicht erfahren würden, wie dieses herr liche Tier ausgesehen hat. Der nächste Saal war dem afrikanischen Elefanten gewid met. In der Mitte des Raumes blieb Royan vor zwei riesigen Stoßzähnen stehen und konnte sich kaum vorstellen, daß ein lebendes Tier sie getragen hatte. Sie wirkten wie zwei Marmor säulen vor einem Tempel der griechischen Göttin der Jagd, Diana. Auf einer darunter befestigten Karte las sie: Stoßzähne des afrikanischen Elefanten, Loxodonta africana. Geschossen 1899 in der Lado Enklave von Sir Jonathan Quen ton-Harper. Der linke Stoßzahn 289 lb., der rechte Stoßzahn 301 lb. Der größere Stoßzahn ist 5,81 Meter lang, sein Umfang 81 Zentimeter. Die größten, jemals von einem europäischen Jäger erbeuteten Stoßzähne.
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Sie waren mehr als doppelt so groß wie Royan selbst und fast so dick wie ihre Taille. Als sie in den Raum mit den ägyp tischen Ausstellungsstücken hinüberging, versuchte sie, sich die Größe und Stärke des Elefanten vorzustellen, der diese ge waltigen Stoßzähne getragen hatte. Sie stutzte, als ihr Blick auf die Figur in der Mitte des Raumes fiel. Es war eine fünf Meter hohe Statue von Ramses II. als Gott Osiris in poliertem rotem Granit. Der Gottkönig stand auf mus kulösen Beinen, den einen Fuß nach vorn gesetzt, er trug Sanda len und war nur mit einem kurzen Lendenschurz bekleidet. In der linken Hand hielt er die Reste eines Bogens, dessen beide Enden abgebrochen waren. Das war die einzige Beschädigung, die die Statue in den Tausenden von Jahren erlitten hatte. Im übrigen war sie vollkommen intakt. Am Sockel konnte man so gar noch die Spuren des Meißels erkennen, den der Bildhauer benutzt hatte. In der rechten Faust hielt der Pharao ein Siegel mit der Hieroglyphe seines königlichen Namens, und auf dem maje stätischen Haupt trug er die hohe doppelte Krone des Oberen und des Unteren Königreichs. Sein Gesicht strahlte Ruhe aus und zeigte ein rätselhaftes Lächeln. Royan erkannte die Statue sofort wieder, denn ihr Gegen stück stand im großen Saal des Kairoer Museums. Und auf dem Weg zu ihrem Büro war sie jeden Tag daran vorüberge gangen. Der Anblick machte sie zornig. Diese Statue war eine der bedeutendsten Kunstschätze ihrer ägyptischen Heimat. Sie war ihrem Land geraubt und hierhergebracht worden, wo sie nicht hingehörte. Sie gehörte an die Ufer des mächtigen Nil. Royan bebte vor Erregung, als sie nähertrat, um sich die Statue genauer anzusehen und die Hieroglyphen an dem Sockel zu lesen. Das königliche Siegel war eingerahmt von der Inschrift: »Ich bin der göttliche Ramses, Herr der zehntausend Streitwagen. Fürchtet mich, ihr Feinde Ägyptens.«
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Royan hatte die Übersetzung dieses Textes nicht laut gelesen und erschrak, als sie die tiefe, sanfte Stimme hinter sich hörte. Sie hatte nicht bemerkt, daß jemand hereingekommen war, und als sie sich umdrehte, stand dieser Mann so nah vor ihr, daß sie ihn hätte berühren können. Er hatte die Hände in die Taschen einer lockersitzenden blauen Wolljacke gesteckt, die an einem Ellbogen ein Loch hatte. Dazu trug er verblichene Jeans und abgetragene Haus schuhe aus Samt, auf die ein Monogramm gestickt war. Es war diese gewisse Nachlässigkeit, die man bei manchen vornehmen Engländern antrifft und mit der sie zum Ausdruck bringen wol len, daß es auf die äußere Erscheinung nicht ankommt. »Es tut mir leid. Ich habe Sie nicht erschrecken wollen.« Er lächelte entschuldigend und zeigte dabei seine weißen, aber unregelmäßigen Zähne. Und in diesem Augenblick erkannte er sie wieder, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Oh, Sie sind es also.« Es hätte ihr schmeicheln können, daß er sich nach einer so kurzen Begegnung an sie erinnerte, aber im Aufblitzen seiner Augen lag etwas, das sie störte. Und doch konnte sie die Hand nicht zurückweisen, die er ihr reichte, als er sich vorstellte: »Nick Quenton-Harper. Sie müssen die ehe malige Studentin von Percival Dixon sein. Habe ich Sie nicht schon am Donnerstag auf der Jagd bei den Treibern gesehen?« Seine freundliche, offenherzige Art besänftigte sie, und sie erwiderte: »Ja, ich bin Royan Al Simma. Ich nehme an, Sie kannten meinen Mann, Duraid Al Simma.« »Duraid! Natürlich kenne ich ihn. Ein großartiger alter Bur sche. Wir haben gemeinsam viel Zeit in der Wüste zugebracht. Er ist einer der Allerbesten. Wie geht es ihm?« »Er ist tot.« Das hatte nicht so kalt und herzlos klingen sol len, aber sie wußte nicht, wie sie seine Frage anders beantwor ten sollte. »Es tut mir schrecklich leid, das habe ich nicht gewußt.
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Wann und wo ist es geschehen?« »Vor drei Wochen. Er wurde ermordet.« »O mein Gott.« Sie sah das Mitgefühl in seinem Blick und mußte daran denken, daß auch er einen tragischen Verlust erlit ten hatte. »Ich habe ihn noch vor weniger als vier Monaten in Kairo angerufen. Weiß man, wer es getan hat?« Sie schüttelte den Kopf und wendete den Blick ab, um ihn nicht sehen zu lassen, daß ihr die Tränen in den Augen standen. »Sie haben hier eine außergewöhnliche Sammlung.« Er ging sofort auf den Themenwechsel ein. »Das habe ich vor allem meinem Großvater zu verdanken. Er gehörte zum Stabe von Evelyn Baring – Over Bearing, wie seine zahlrei chen Feinde ihn nannten. Er war der Vertreter Großbritanniens in Kairo…« Sie unterbrach ihn. »Ja, ich habe von Evelyn Baring gehört, dem ersten Earl of Cromer. Er war von 1883 bis 1907 briti scher Generalkonsul in Ägypten, und mit seinen Vollmachten war er in all diesen Jahren der absolute Diktator meines Lan des. Wie Sie schon sagten, hatte er viele Feinde.« Sir Nicholas sah sie mit leicht zusammengekniffenen Augen an. »Percival hat mich schon gewarnt und mir gesagt, Sie seien eine seiner besten Studentinnen gewesen. Er hat mir aber nichts über Ihre nationalistische Einstellung erzählt. Im übrigen sehe ich, daß ich Ihnen die Inschrift auf der Ramsesstatue nicht übersetzen muß.« »Mein Vater gehörte dem Stab von Gamal Abdel Nasser an«, sagte sie leise. Nasser hatte seinerzeit den Marionettenkö nig Farouk gestürzt und die britische Vorherrschaft in Ägypten beendet. Als Präsident hatte er den Suezkanal trotz aller briti schen Proteste verstaatlicht. »Ha!« lachte er, »wir waren also politische Gegner. Aber in zwischen hat sich vieles verändert. Ich hoffe, wir müssen uns nicht mehr als Feinde betrachten.«
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»Keineswegs«, stimmte sie ihm zu. »Duraid hatte eine hohe Meinung von Ihnen.« »Auch ich habe ihn sehr geschätzt.« Wieder wechselte er das Thema. »Besonders stolz sind wir auf unsere Sammlung von Grabbeigaben aus den Pharaonengräbern. Wir haben einzelne Stücke aus den Mausoleen aller Pharaonen – vom Alten Reich bis zu den letzten Ptolemäern. Erlauben Sie mir, sie Ihnen zu zeigen.« Sie folgte ihm zu dem großen Glasschrank, der eine ganze Wand des Saales einnahm. Auf allen Regalen befanden sich kleine Figuren, die den verstorbenen Pharaonen als Diener und Sklaven in der Schattenwelt mit ins Grab gegeben worden waren. Mit seinem eigenen Schlüssel öffnete Sir Nicholas die Glas türen und nahm die interessantesten Ausstellungsstücke heraus. »Dies ist das Abbild von Maya, der drei Pharaonen gedient hat: Tut-ench-Amun, Ay und Horemheb. Es stammt aus dem Grab des 1343 v. Chr. verstorbenen Pharao Ay.« Er gab ihr die Statuette in die Hand, und sie las ihm die drei tausend Jahre alten Hieroglyphen so flüssig vor, als seien es die Schlagzeilen der Morgenzeitung. »Ich bin Maya, der Kämme rer der zwei Königreiche. Ich werde für den göttlichen Pharao Ay sprechen. Möge er ewig leben!« Sie übersetzte den Text ins Arabische, um ihn auf die Probe zu stellen, und er antwortete mit absoluter Selbstverständlichkeit in der gleichen Sprache. »Percival Dixon hatte offenbar recht. Sie müssen eine her vorragende Studentin gewesen sein.« Sie sprachen abwech selnd arabisch und englisch und waren so sehr mit ihren ge meinsamen Interessen beschäftigt, daß der zunächst zwischen ihnen bestehende Antagonismus nicht mehr zu spüren war. Langsam gingen sie durch den Saal und blieben vor jedem Glasschrank stehen, um sich alle Ausstellungsstücke genau anzusehen. Es war so, als wären sie um Jahrtausende zurückversetzt.
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Stunden und Tage schienen angesichts dieser gewaltigen Zeit räume keine Bedeutung mehr zu haben, und so erschraken bei de, als Mrs. Street erschien und sie bei ihrem Rundgang unter brach. »Ich muß jetzt gehen, Sir Nicholas. Würden Sie es überneh men, die Türen zu schließen und den Alarm einzustellen? Die Wachen haben ihren Dienst schon angetreten.« »Wie spät ist es?« Sir Nicholas beantwortete sich seine Fra ge selbst mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Schon fünf Uhr vierzig. Wie schnell ist dieser Tag vergangen!« Er seufzte tief. »Bitte gehen Sie nur, Mrs. Street. Es tut mir leid, daß ich Sie so lange habe warten lassen.« »Vergessen Sie nicht, den Alarm einzuschalten«, ermahnte sie ihn und wandte sich dann an Royan. »Er kann alles verges sen, wenn er eines seiner Steckenpferde reitet.« Ihre Beziehung zu ihrem Arbeitgeber war offenbar die einer liebevollen und nachsichtigen Tante. »Für heute haben Sie mir genug befohlen. Gehen Sie unbe sorgt nach Hause«, grinste Sir Nicholas und wandte sich wie der an Royan. »Ich darf Sie nicht gehen lassen, ohne Ihnen zu zeigen, was Duraid und ich gemeinsam entdeckt haben. Kön nen Sie noch ein paar Minuten bleiben?« Sie nickte, und er trat einen Schritt auf sie zu, als wollte er ihr seinen Arm anbieten, ließ ihn dann aber sinken. In der arabischen Welt ist es eine Beleidigung, eine Frau zu berühren, und zwar auch in einer so unschuldigen Situation. Sie war sich seiner Höflichkeit bewußt. Seine guten Manieren und sein rücksichtsvolles Verhalten ge fielen ihr. Durch eine Tür mit der Aufschrift »Privat« führte er sie aus dem Ausstellungssaal und über einen langen Korridor zu dem am anderen Ende liegenden Zimmer. »Mein privates Arbeitszimmer«, sagte er und bat sie hinein. »Entschuldigen Sie die Unordnung. Irgendwann im Lauf der
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kommenden Jahre werde ich hier Ordnung schaffen müssen. Meine Frau hat immer gesagt –« er unterbrach sich und blickte hinüber zu einem Familienfoto im silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch. Es zeigte ihn, eine schöne dunkelhaarige Frau und zwei kleine Mädchen auf einer Decke unter den ausladen den Ästen einer Eiche. Beide Kinder waren ihrer Mutter sehr ähnlich. Die jüngste Tochter saß bei Nicholas auf dem Schoß, und die ältere stand hinter ihnen und hatte die Zügel ihres Shettlandponys in der Hand. Royan blickte zu ihm hinüber und war erschüttert von dem verzweifelten Ausdruck in seinen Au gen. Um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, sah sie sich im Zimmer um. Es war der typische Arbeitsraum eines vielseitig interessierten Menschen. Das Zimmer war geräumig und be quem, aber irgendwie zeigte es die Widersprüche im Charakter des Mannes, der es benutzte – des hochgebildeten Gelehrten und des Mannes der Tat. Zwischen Büchern und Statuetten lagen die verschiedensten Angelgeräte und eine starke Lachs rute von Hardy. An einer Reihe in die Wand eingelassener Kleiderhaken hingen eine olivgrüne Jacke, ein Flintenfutteral und eine lederne Patronentasche mit den Initialen N. Q.-H. Sie erkannte einige der an der Wand hängenden, gerahmten Bilder. Es waren Originalaquarelle aus dem 19. Jahrhundert von dem schottischen Weltreisenden David Roberts und von Vivant Denon, der Napoleons L’armee de l’orient nach Ägyp ten begleitet hatte. Es waren faszinierende Ansichten ägypti scher Monumente, die sie so zeigten, wie sie ausgesehen hat ten, bevor die moderne Archäologie anfing, sie auszugraben und zu restaurieren. Nicholas ging zum Kamin und legte ein Scheit Holz auf die schwächer werdende Glut. Dann stocherte er darin herum, bis das Feuer richtig brannte, und forderte Royan auf, sich vor ei nen von der Decke bis zum Boden reichenden Vorhang zu stel
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len, der die eine Hälfte der Wand bedeckte. Er zog an der Qua ste einer Schnur, der Vorhang öffnete sich zur Hälfte, und er rief befriedigt aus: »Was sagen Sie dazu?« Sie sah sich das prächtige Flachrelief genau an, ließ sich aber zunächst nicht anmerken, wie schön sie es fand. Statt dessen erklärte sie ganz sachlich: »Das ist der sechste Pharao der Amoritendynastie, Hammu rabi, um 1780 v. Chr.«, und tat so, als betrachte sie die Ge sichtszüge des altehrwürdigen Monarchen, bevor sie fortfuhr: »Ja, wahrscheinlich aus der Gegend seines Palastes südwestlich des Stufenturms von Ashur. Es muß zwei dieser Reliefs gege ben haben. Jedes ist etwa fünf Millionen amerikanische Dollar wert. Ich nehme an, sie wurden dem frommen Beherrscher des heutigen Mesopotamien, Saddam Hussein, von zwei verant wortungslosen Gaunern gestohlen. Soweit ich gehört habe, befindet sich das zweite Relief gegenwärtig in der Sammlung eines gewissen Mr. Peter Walsh in Texas.« Er starrte sie verwundert an und brach dann in lautes Geläch ter aus. »Verdammt! Ich habe Duraid zur Geheimhaltung ver pflichtet, aber er muß Ihnen von unserer ungehörigen kleinen Eskapade erzählt haben.« Es war das erste Mal, daß sie ihn richtig lachen hörte, und dieses Lachen klang herzlich und alles andere als affektiert, und es gefiel ihr. »Was den gegenwärtigen Besitzer des zweiten Reliefs be trifft, so haben Sie recht«, sagte er, immer noch lachend. »Aber der Preis war nicht fünf, sondern sechs Millionen.« »Duraid hat mir auch von Ihrer Expedition zum Tibestimas siv im Tschad und ins südliche Libyen erzählt«, fuhr sie fort, und er konnte nur noch den Kopf schütteln. »Anscheinend habe ich vor Ihnen keine Geheimnisse.« Dann ging er hinüber zu einem hohen Schrank vor der gegenüberlie genden Wand, eine unvergleichlich schöne, wahrscheinlich französische Intarsienarbeit aus dem 17. Jahrhundert. Er öffne
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te die Doppeltür und sagte: »Das haben Duraid und ich aus Libyen mitgebracht, und zwar ohne Oberst Moamar al Gaddaf fi um Erlaubnis gebeten zu haben.« Er nahm eine exquisite kleine Bronzestatuette heraus und gab sie ihr. Es war eine ihr Kind stillende Mutter, auf der sich im Lauf vieler Jahre eine grüne Patinaschicht gebildet hatte. »Hannibal, Sohn des Hamilkar Barka«, sagte er, »um 203 v. Chr. Diese Statuetten wurden von einer Gruppe Tuaregs am Fluß Bagradas in Nordafrika gefunden, wo ein Feldlager Han nibals gelegen hatte. Hannibal muß sie dort vor seiner Nieder lage im Krieg gegen den römischen Feldherrn Scipio versteckt haben. Im ganzen waren es mehr als zweihundert Bronzen, und ich habe noch fünfzig der besten in meinem Besitz.« »Haben Sie die anderen verkauft?« fragte sie, während sie die Statuette bewunderte, und in einem etwas kritischen Ton fuhr sie fort: »Wie konnten sie es nur ertragen, sich von etwas so Schönem trennen zu müssen?« Er seufzte schwermütig. »Leider mußte ich es tun. Sehr schade, aber die Expedition nach Libyen hatte mich ein Ver mögen gekostet, und um das auszugleichen, mußte ich einige Statuetten verkaufen.« Er ging an seinen Schreibtisch und holte aus der untersten Schublade eine Flasche Laphroaig Maltwhisky, stellte sie auf den Schreibtisch und holte zwei Gläser. »Darf ich Sie in Ver suchung führen?« fragte er, aber sie schüttelte den Kopf. »Das nehme ich Ihnen nicht übel. Selbst die Schotten geben zu, daß man dieses Getränk nur im Winter bei Frost und stür mischem Wetter im Gebirge zu sich nehmen darf, nachdem man einen kapitalen Hirsch geschossen hat. Aber vielleicht darf ich Ihnen etwas anderes anbieten?« »Haben Sie eine Coke?« fragte sie. »Ja, aber die wird Ihnen nicht bekommen. Mit all dem Zuk ker ist sie noch schädlicher als Whisky, reines Gift.«
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Sie nahm das Glas, das er ihr brachte, und stieß mit ihm an. »Auf das Leben!« sagte sie und fuhr fort: »Sie haben recht. Duraid hat mir von diesen Bronzen erzählt.« Sie stellte die pu nische Statuette wieder in den Schrank und kam zurück an den Schreibtisch. »Es war auch Duraid, der mich zu Ihnen ge schickt hat. Es war seine letzte Bitte, bevor er starb.« »Es ist also kein Zufall! Augenscheinlich bin ich nur eine ahnungslose Marionette in einer geheimnisvollen Verschwö rung!« Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich und erzählen Sie!« Er selbst setzte sich mit dem Whiskyglas in der rechten Hand unmittelbar vor sie auf die Ecke des Schreibtisches und ließ das eine Bein lässig baumeln. Zwar lächelte er ein wenig spöttisch, aber der durchdringende Blick seiner grünen Augen war un verwandt auf jede Regung ihres Gesichts gerichtet. Sie hielt es kaum für möglich, diesen Mann zu belügen. Sie holte tief Atem und fragte: »Haben Sie von einer alten ägyptischen Königin mit Namen Lostris gehört? Sie lebte zur Zeit der ersten Hyksos-Invasionen im Zweiten Zwischenreich.« Wieder klang sein Lachen etwas spöttisch, als er aufstand und sagte: »Oh! Nun sprechen wir von dem Buch Das Grab mal des Pharao nicht wahr?« Er ging zum Bücherschrank und holte ein Exemplar heraus. Zwar war es schon recht abgegrif fen, aber der Schutzumschlag war noch intakt. Er zeigte eine surrealistische, in grünen und rosa-violetten Pastellfarben ge haltene Ansicht der Pyramiden über einer Wasserfläche. Er legte das Buch vor sie auf den Schreibtisch. »Haben Sie es gelesen?« fragte sie. »Ja«, nickte er. »Ich habe die meisten Bücher von Wilbur Smith gelesen. Er ist sehr unterhaltsam. Ich habe ihn schon ein paarmal zu meinen Fasanenjagden eingeladen.« »Offenbar mögen Sie Bücher über Sex und Gewalt?« Sie machte ein angewidertes Gesicht. »Und was halten Sie von
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diesem Buch?« »Ich muß zugeben, zuerst habe ich mich täuschen lassen. Als ich es las, hoffte ich, es sei ein Tatsachenbericht. Um mich zu vergewissern, rief ich Duraid an.« Sir Nicholas nahm das Buch noch einmal in die Hand und schlug eine der letzten Seiten auf. »Die Anmerkung des Verfassers klang überzeugend, was mich jedoch am meisten beeindruckte, war der letzte Satz.« Er las ihn laut vor. »›Irgendwo in den Bergen Abessiniens, nicht weit von der Quelle des blauen Nil, liegt immer noch die Mumie des Tanus im unberührten Mausoleum des Pharao Mamose.‹« Fast ärgerlich warf Nicholas das Buch zurück auf den Schreibtisch. »Mein Gott! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mir gewünscht habe, daß es wahr ist, und was ich dar um gegeben hätte, mich auf die Suche nach dem Grab des Pha rao Mamose zu machen. Deshalb mußte ich mit Duraid spre chen. Als er mir versicherte, daß alles nur Humbug sei, fühlte ich mich betrogen. Ich hatte so sicher damit gerechnet, und nun war meine Enttäuschung groß.« »Es ist kein Humbug«, widersprach sie, korrigierte sich aber sofort und sagte, »nun, wenigstens nicht alles.« »Ich verstehe. Duraid hat mich belogen, nicht wahr?« »Nicht belogen«, verteidigte sie ihn leidenschaftlich. »Er hat Ihnen nur nicht gleich die Wahrheit sagen wollen. Er konnte Ihnen noch nicht die ganze Geschichte erzählen und alle Fra gen beantworten, die Sie, wie er wußte, an ihn richten würden. Er wollte sich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald er sich seiner Sache sicher war. Ihr Name stand auf seiner Liste der Sponsoren an oberster Stelle.« »Duraid konnte mir meine Fragen nicht beantworten, aber ich nehme an, Sie können es.« Er lächelte skeptisch. »Ich bin einmal in diese Falle geraten und habe nicht die Absicht, mich ein zweites Mal täuschen zu lassen.« »Die Schriftrollen sind da. Neun von ihnen liegen noch im
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Tresor des Museums in Kairo. Ich habe sie selbst im Grab der Königin Lostris gefunden.« Royan öffnete ihre lederne Handta sche und zog einen Umschlag mit einigen Farbfotos heraus. Sie gab ihm eines und sagte: »Das ist die Aufnahme der Rückwand der Grabkammer. Sie erkennen darauf die Alabastervasen in der Nische. Die Aufnahme wurde gemacht, bevor wir sie he rausnahmen.« »Ein hübsches Foto, aber man hätte es überall aufnehmen können.« Sie überhörte diese Bemerkung und zeigte ihm ein zweites Foto. »Die zehn Schriftrollen in Duraids Arbeitszimmer im Museum. Erkennen Sie die beiden Männer hinter der Bank?« Er nickte. »Duraid und Wilbur Smith.« Er schien immer noch Zweifel zu haben. »Was, zum Teufel, wollen Sie mir da mit sagen?« »Zum Teufel, was ich Ihnen damit sagen will, ist, daß der Verfasser sich zwar einige dichterische Freiheiten erlaubt hat, daß jedoch alles, was er in diesem Buch schreibt, etwas mit der Wahrheit zu tun hat. Doch die Schriftrolle, die uns am meisten interessierte, ist die siebente, und sie wurde von den Männern gestohlen, die meinen Mann ermordet haben.« Sir Nicholas stand auf, ging zum Kamin, legte ein Scheit Holz auf die Glut und stocherte wie wild darin herum, um seine Erregung abzureagieren. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Welche besondere Bedeutung hat denn diese Schriftrolle im Gegensatz zu den anderen neun?« »Sie enthielt einen Bericht über die Beisetzung des Pharao Mamose und, wie wir glauben, auch Hinweise, die es uns er möglichen könnten, die Stelle zu finden, an der er begraben wurde.« »Sie glauben es, aber Sie wissen es nicht genau?« Er wandte sich zu ihr um und hielt dabei den Feuerhaken in der Hand wie eine Waffe. In dieser aggressiven Haltung wirkte er furchterre
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gend. Er hatte die Lippen fest zusammengepreßt, und seine Augen blitzten. »Der Text der siebenten Schriftrolle ist zum großen Teil in einer Art Geheimschrift abgefaßt, in einer Reihe von rätselhaf ten Versen. Duraid und ich waren damit beschäftigt, sie zu ent schlüsseln, als –« Sie zögerte einen Moment und fuhr nach einem tiefen Atemzug fort, »als er ermordet wurde.« »Von etwas so Wertvollem müssen Sie doch eine Kopie ha ben?« Diese Art Verhör irritierte sie, und sie schüttelte den Kopf. »Alle Mikrofilme und Notizen wurden zusammen mit der Schriftrolle gestohlen. Dann drangen die Mörder von Duraid in unsere Kairoer Wohnung ein und zerschlugen den Computer, in dem ich alle Forschungsergebnisse gespeichert hatte.« Er warf den Schürhaken in den Kohlenkasten und kam zum Schreibtisch zurück. »Sie haben also keine Beweise mehr? Keinen Nachweis dafür, daß Ihre Behauptungen der Wahrheit entsprechen?« »Nichts«, sagte sie, »mit Ausnahme dessen, was ich hier ha be.« Mit ihrem schlanken Zeigefinger tippte sie sich auf die Stirn. »Ich habe ein gutes Gedächtnis.« Er runzelte die Stirn und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes krauses Haar. »Und weshalb sind Sie zu mir ge kommen?« »Ich bin gekommen, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, das Mausoleum des Pharao Mamose zu finden«, erwiderte sie schlicht. »Interessiert Sie das?« Seine Stimmung änderte sich schlagartig. Er grinste wie ein bei einer Ungezogenheit ertappter Schuljunge. »In diesem Au genblick kann ich mir nichts vorstellen, was ich lieber tun wür de.« »Dann sollten wir beide eine Vereinbarung treffen«, sagte sie und beugte sich erwartungsvoll vor. »Zuerst lassen Sie mich
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sagen, was ich verlange, und dann können Sie das gleiche tun.« Es wurden harte Verhandlungen, und gegen Morgen mußte Royan zugeben, daß sie erschöpft war. »Ich kann nicht mehr klar denken. Vielleicht sollten wir unser Gespräch morgen vormittag fortsetzen.« Sie hatten sich noch nicht einigen kön nen. »Es ist schon morgen vormittag«, erwiderte er. »Aber Sie haben recht. Ich habe nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Sie hier übernachten können. Schließlich stehen uns hier sieben undzwanzig Schlafzimmer zur Verfügung.« »Nein danke.« Sie stand auf. »Ich werde nach Hause fah ren.« »Die Straße wird vereist sein«, warnte er sie. Doch dann sah er ihr entschlossenes Gesicht, hob die Hände und versuchte nicht mehr, sie zu überreden. »In Ordnung, ich werde Sie nicht drängen. Wann haben Sie morgen Zeit? Ich habe mich um zehn Uhr mit meinen Anwälten verabredet, aber die Besprechung wird wahrscheinlich um die Mittagszeit zu Ende sein. Können wir uns nicht hier zu einem Arbeitsessen treffen? Dann kann ich Ihnen den ganzen Nachmittag und Abend zur Verfügung stehen.« Die Besprechung mit den Anwälten fand am Vormittag in der Bibliothek von Quenton Park statt. Sie war schwierig und unerfreulich, aber das überraschte ihn nicht. Im vergangenen Jahr war die Welt, in der er bis dahin gelebt hatte, in sich zu sammengestürzt. Er knirschte mit den Zähnen, als er daran dachte, wie das Jahr mit jenem schicksalsschweren Augenblick begonnen hatte, als er müde und unaufmerksam mitten in der Nacht auf der eisglatten Straße fuhr und das blendende Scheinwerferlicht des Lastwagens auf ihn zugekommen war. Er hatte sich noch nicht von den Folgen dieses tragischen
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Unfalls erholt, als ihn der nächste grausame Schlag traf: Der Geschäftsbericht der Versicherungsgesellschaft Lloyd’s, an der Sir Nicholas ebenso beteiligt war wie sein Vater und Großvater vor ihm. Ein halbes Jahrhundert lang hatte die Familie bei den regelmäßigen Gewinnausschüttungen beträchtliche Summen eingenommen. Natürlich war sich Sir Nicholas der Tatsache bewußt gewesen, daß er auch uneingeschränkt an den Verlu sten der Versicherungsgesellschaft beteiligt sein würde. Man hatte jedoch die Gefahr, die mit einer solchen persönlichen Haftung verbunden war, nie sehr ernst genommen, denn seit fünfzig Jahren waren niemals irgendwelche erheblichen Verlu ste eingetreten bis auf das jüngst vergangene Jahr. Durch das Erdbeben in Kalifornien und wegen Ersatzansprü chen aufgrund bestimmter Umweltschäden eines bedeutenden Unternehmens der chemischen Industrie hatte die Versiche rungsgesellschaft Verluste in Höhe von mehr als sechsund zwanzig Millionen Pfund Sterling hinnehmen müssen. Nun wurde Sir Nicholas an diesen Verlusten mit einem Anteil von zweieinhalb Millionen Pfund belastet, die allerdings zum Teil ausgeglichen werden konnten, aber der Rest wurde nach etwas mehr als acht Monaten fällig – zusammen mit anderen unange nehmen Überraschungen, die sich im Lauf dieses Jahres noch ergeben könnten. Etwa um die gleiche Zeit wurde seine gesamte Zuckerrüben ernte auf einer Ackerfläche von fast vier Hektar durch die Pflanzenkrankheit rhizomania vernichtet. »Wir werden wenigstens zweieinhalb Millionen aufbringen müssen«, sagte einer der Anwälte. »Das dürfte keine Schwie rigkeiten machen, denn hier im Saal stehen eine Menge wert voller Gegenstände. Und wie ist es mit dem Museum? Was würde der Verkauf einiger Ausstellungsstücke uns bringen?« Für Sir Nicholas war es ein unerträglicher Gedanke, die Ramses-Statue, die Bronzen, das Hammurabi-Relief oder ande
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re wertvolle Gegenstände aus seiner Sammlung zu verkaufen. Er gab zu, daß der Erlös ausreichen würde, die Schulden zu bezahlen, konnte sich aber nicht vorstellen, wie er ohne seine geliebte Sammlung weiterleben sollte. Jedes andere Opfer würde ihm leichterfallen. »Zum Teufel, nein«, sagte er, und der Anwalt nahm die Ab lehnung ungerührt zur Kenntnis. »Nun, dann müssen wir uns nach anderen Möglichkeiten umsehen«, sagte er. »Da ist noch Ihr Bestand an Milchvieh.« »Dafür bekommen wir, wenn wir Glück haben, vielleicht Hunderttausend«, brummte Nicholas, »und es fehlten dann noch zweieinhalb Millionen.« »Und Ihr Rennstall«, mischte sich der Buchhalter ein. »Ich habe nur sechs Pferde in der Ausbildung. Sie sind Zweihunderttausend wert.« Sir Nicholas lächelte mißvergnügt. »Damit bleiben noch etwa zwei Millionen. Wir kommen unse rem Ziel nur sehr langsam näher.« »Die Jacht«, schlug der jüngste Anwalt vor. »Sie ist älter als ich«, erwiderte Nicholas und schüttelte den Kopf. »Sie hat schon meinem Vater gehört, Um Himmels wil len, niemand würde sie auch nur geschenkt nehmen. Sie hat lediglich einen ideellen Wert. Meine Jagdgewehre würden vermutlich mehr bringen.« Beide Anwälte beugten sich über ihre Listen, und der eine sagte: »Ach ja! Hier haben wir noch ein paar guterhaltene Ern temaschinen, geschätzter Wert Vierzigtausend.« »Ich habe auch noch ein paar getragene Socken und Unter hosen«, sagte Sir Nicholas. »Warum nehmen Sie die nicht auch in Ihre Liste auf?« Aber die Anwälte ließen sich nicht beirren. »Schließlich ha ben Sie auch noch das Haus in London«, fuhr der ältere fort, der es gewöhnt war, anderen Menschen unangenehme Dinge sagen zu müssen. »Es liegt in einer guten Gegend und ist etwa
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anderthalb Millionen wert.« »Diesen Preis werden Sie heute nicht erzielen können«, wi dersprach Sir Nicholas. »Eine Million entspricht eher dem ge genwärtigen Verkauf s wert.« Der Anwalt machte sich eine Notiz am Rande seiner Liste und fuhr dann fort: »Natürlich wollen wir es, wenn irgend möglich, vermeiden, ihren ganzen Besitz zum Verkauf anzubieten.« Es war eine schwierige und unerfreuliche Besprechung, und sie endete, ohne daß Endgültiges entschieden worden war. Sir Nicholas war verärgert und enttäuscht. Er verabschiedete sich von den Anwälten und ging dann hin auf in seine Privatwohnung, um zu duschen und das Hemd zu wechseln. Ohne daß es wirklich notwendig gewesen wäre, ra sierte er sich und betupfte die Wangen mit einem wohlriechen den Rasierwasser. Dann fuhr er durch den Park und stellte den Rangerover auf dem Parkplatz vor dem Museum ab. Eben hatte es noch ge schneit, aber nun verwandelte sich der Schnee in Regen, und auf dem Weg vom Parkplatz zum Museum durchnäßten die eiskalten Tropfen sein Haar. Royan wartete im Büro von Mrs. Street. Die beiden Frauen schienen gut miteinander auszukommen, bereits auf dem Gang hörte er ihr Gelächter, und seine Laune besserte sich zuse hends. Die Köchin hatte eine warme Mahlzeit aus dem Wohnhaus herübergeschickt, denn sie glaubte offenbar, ein kräftiges Es sen sei bei diesem Wetter das richtige. Es war eine nahrhafte Gemüsesuppe und ein Lancashire-Hammelragout mit einer halben Flasche rotem Burgunder für ihn und einer Karaffe mit frisch ausgepreßtem Orangensaft für sie. Sie aßen vor dem Kamin, während die dicken Regentropfen gegen die Fenster scheiben prasselten. Auf seine Bitte hin erzählte sie ihm während des Essens in
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allen Einzelheiten, wie es zur Ermordung Duraids gekommen war. Dabei ließ sie nichts aus, auch nicht ihre eigenen Verlet zungen, und streifte den Ärmel hoch, um ihm den Verband zu zeigen. Er hörte aufmerksam zu, als sie ihm von dem zweiten Mordversuch auf der Straße in Kairo berichtete. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wer dafür verantwort lich sein könnte?« Sie schüttelte den Kopf. »Keinerlei Vorwarnung«, antworte te sie. Schweigend beendeten sie die Mahlzeit und überließen sich dabei ihren eigenen Gedanken. Beim Kaffee fragte er noch einmal: »Nun gut, wie steht es jetzt mit unserer Vereinba rung?« Es verging fast eine Stunde, ohne daß sie sich einigen konn ten. »Es fällt mir schwer, zu sagen, welchen Anteil an der Beute Sie bekommen würden, wenn ich nicht weiß, welchen Beitrag Sie zu unserem Unternehmen leisten werden«, sagte Sir Nicho las, während er die Kaffeetassen auffüllte. »Schließlich werde ich unser Unternehmen finanzieren und die Expedition leiten müssen –« »Sie müssen einfach darauf vertrauen, daß mein Beitrag es wert sein wird, denn sonst wird es keine Beute geben, wie Sie das nennen. Aber ich werde Ihnen nichts mehr sagen, bevor wir die Vereinbarung getroffen und sie mit einem Handschlag be siegelt haben.« »Ist das nicht etwas hart?« fragte er, aber sie lächelte ver stohlen. »Wenn Ihnen meine Bedingungen nicht gefallen, dann gibt es auf Duraids Liste noch drei andere Namen möglicher Spon soren«, drohte sie ihm. »Nun gut«, lenkte er ein und gab sich geschlagen, »ich bin mit Ihrem Vorschlag einverstanden. Aber wie können wir verhindern, daß wir uns gegenseitig übervortei
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len?« »Der erste archäologisch interessante Gegenstand, den wir finden, soll mir gehören, der nächste Ihnen und so weiter, im mer abwechselnd.« »Und wer hat die erste Wahl?« Er sah sie erwartungsvoll an. »Wir könnten ein Münzorakel befragen«, schlug sie vor, und er holte eine Münze aus der Tasche. »Kopf oder Adler!« Er warf die Münze in die Luft, und sie rief: »Kopf!« »Verdammt!« murmelte er, als er die Münze aufhob und in die Tasche steckte. »Sie können also als erste entscheiden, welches Beutestück Ihnen gehören soll, wenn wir überhaupt etwas finden.« Damit streckte er ihr die Hand entgegen. »Sie werden damit tun können, was Sie wollen. Sie können es sogar dem Museum in Kairo schenken, wenn Sie auf eine so abwegi ge Idee kommen sollten. Abgemacht?« fragte er, und sie ergriff seine Hand. »Abgemacht, Partner!« stimmte sie ihm zu. »Nun zur Sache. Von nun an gibt es keine Geheimnisse mehr zwischen uns. Sagen Sie mir in allen Einzelheiten, was Sie mir bisher verschwiegen haben.« »Geben Sie mir das Buch.« Sie deutete auf das Exemplar von Das Grabmal des Pharao, während er es holte, schob sie das Geschirr beiseite. »Zunächst sollten wir uns einmal den Teil des Buches ansehen, den Duraid redigiert hat.« Sie schlug eine der letzten Seiten auf. »Hier an dieser Stelle beginnt die Verwirrung Duraids.« »Gut gesagt«, lächele Nicholas, »aber lassen Sie uns die Sa che vorbehaltlos betrachten. Sie haben mich schon genug ver wirrt.« Sie lächelte nicht einmal. »Sie kennen die Geschichte bis hierher. Die Königin Lostris und ihr Volk werden von den Hyksos mit ihren überlegenen Streitwagen aus Ägypten ver
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trieben. Ihr Weg führt sie nilaufwärts bis zum Zusammenfluß des Weißen und Blauen Nils. Mit anderen Worten dorthin, wo heute die Stadt Khartum liegt. Das alles entspricht einigerma ßen dem Inhalt der Schriftrollen.« »Ich erinnere mich. Und weiter?« »Im Inneren ihrer Galeeren führen sie die Mumie des Gatten der Königin Lostris, Pharao Mamose VIII., mit. Als er vor zwölf Jahren, getroffen von einem Pfeil der Hyksos, im Ster ben lag, hatte sie ihm gelobt, sie werde ihn mit all seinen Schätzen in einem besonderen Mausoleum beisetzen. An der Flußgabelung angekommen, beschließt sie, ihr Versprechen einzulösen. Sie beauftragt ihren Sohn, den vierzehnjährigen Prinzen Memnon, mit einer Abteilung Streitwagen eine geeig nete Stelle zu suchen. Memnon wird von seinem Mentor, dem Erzähler dieser Geschichte, dem unermüdlichen Taita, beglei tet.« »Gut, ich erinnere mich an diesen Teil der Geschichte. Memnon und Taita erkundigen sich bei den gefangenen schwarzen Sklaven vom Stamm der Schilluk, und auf deren Rat hin beschließen sie, der linken Abzweigung des Flusses zu folgen, dem heutigen Blauen Nil.« Royan nickte und fuhr fort: »Sie marschierten nach Osten und stießen auf ein mächtiges Gebirge. Es war so hoch, daß sie es als einen blauen Festungswall bezeichneten. Bis dahin ent spricht das, was Sie in dem Buch lesen, fast genau dem Text der Schriftrollen, aber hier«, und sie tippte mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite, »kommen wir an die Stelle, wo Du raid Schwierigkeiten hatte, den Text zu interpretieren. In seiner Beschreibung der Vorgebirge –« Bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach sie Sir Nicho las: »Als ich diese Beschreibung las, fiel mir auf, daß die Stel le, an der der Blaue Nil die ägyptische Hochebene erreicht, nicht zutreffend beschrieben wird. Dort gibt es kein Vorgebir
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ge, sondern nur die steile westliche Felswand des Gebirgsmas sivs. Der Fluß tritt aus dem Felsen heraus wie eine Schlange aus ihrem Loch. Wer das geschrieben hat, kannte den Verlauf des Blauen Nil nicht.« »Kennen Sie dieses Gebiet?« fragte Royan. Er lachte und nickte zustimmend. »Als ich jünger und noch törichter war als heute, faßte ich den grandiosen Plan, die enge Felsschlucht des Abbay vom Tanasee bis hinunter zu dem Damm bei Roseires im Sudan mit einem Boot zu befahren. Abbay ist der äthiopische Name für den Blauen Nil.« »Warum wollten Sie das tun?« »Weil es bis dahin noch niemand getan hatte. Der britische Konsul Major Cheesman hatte 1932 den Versuch unternom men und wäre dabei fast ertrunken. Ich glaubte, ich könnte das Unternehmen filmen und ein Buch darüber schreiben und da mit ein Vermögen verdienen. Ich überredete meinen Vater, die Expedition zu finanzieren, und es war ein Abenteuer ganz nach seinem Geschmack. Er wollte sich sogar selbst daran beteili gen. Ich sah mir den Verlauf des Blauen Nil nicht nur auf der Karte an, sondern ich kaufte eine alte Cessna 180 und flog die achthundert Kilometer vom Tanasee bis zum Damm die Schlucht entlang. Wie gesagt, ich war erst einundzwanzig Jahre alt und hatte viele verrückte Ideen.« »Und was geschah?« Sie war fasziniert. Duraid hatte ihr nie etwas davon erzählt, aber es war ein Abenteuer, wie sie es ei nem Mann wie Sir Nicholas zutraute. »Ich konnte acht meiner Freunde aus Sandhurst für die Teil nahme an der Expedition gewinnen, und wir beschlossen, unse ren Weihnachtsurlaub für diesen Versuch zu verwenden. Es wurde ein Fiasko, denn wir konnten uns nur zwei Tage auf diesem wilden Wasser halten. Diese Schlucht ist die menschen feindlichste Gegend, die ich auf dieser Erde kenne. Sie ist fast
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zweimal so tief und mindestens ebenso zerklüftet wie das Grand Canyon des Colorado in Arizona. Unsere Kajaks wur den in den Stromschnellen zertrümmert, bevor wir dreißig von den achthundert Kilometern zurückgelegt hatten. Wir verloren unsere ganze Ausrüstung und mußten mühsam die steilen Wände hinaufklettern, um dann nach unendlichen Strapazen die ersten menschlichen Siedlungen zu erreichen.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe dabei zwei Freunde verloren. Bobby Palmer ertrank, und Tim Marshall stürzte von den Klippen in die Tiefe. Es gelang uns nicht, ihre Leichen zu bergen. Noch heute liegen sie irgendwo da unten. Ich mußte ihre Eltern benachrichtigen –« Die schmerzliche Erinnerung verbot es ihm, weiter darüber zu sprechen. »Ist es seither irgend jemandem gelungen, die Schlucht auf dem Wasserweg zu bezwingen?« fragte sie, um ihn abzulen ken. »Ja. Nach ein paar Jahren habe ich mich an diesem Unter nehmen beteiligt, diesmal aber nicht als Führer, sondern als Mitglied einer offiziellen Expedition der britischen Streitkräfte. Nur in der Zusammenarbeit der Armee, der Flotte und der Luftstreitkräfte war es möglich, die Schlucht zu durchfahren.« Dieser Mann beeindruckte sie. Er hatte es geschafft, die ge fährlichen Stromschnellen des Blauen Nil zu durchfahren; und nun hatte ein gütiges Schicksal sie mit ihm zusammengeführt. Duraid hatte recht gehabt. Wahrscheinlich gab es auf der gan zen Welt niemanden, der besser geeignet war, ihr bei ihrem Vorhaben zur Seite zu stehen. »Sie wissen also über die Gegebenheiten in der Schlucht mehr als irgend jemand sonst. Ich werde daher versuchen, Ih nen eine Vorstellung davon zu geben, was Taita in der sieben ten Schriftrolle zum Ausdruck gebracht hat. Leider war dieser Teil der Schriftrolle beschädigt, so daß Duraid und ich das Feh lende mit Hilfe anderer Teile des Textes ergänzen mußten.
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Jetzt müssen Sie mir sagen, wie weit unsere Übersetzung dem entspricht, was Sie über dieses Gebiet wissen.« »Ich höre«, sagte er. »Taita beschreibt den Steilhang ganz ähnlich wie Sie als schroffe Felswand, aus der sich der Fluß in die Hochebene er gießt. Seine Truppe mußte die Streitwagen an dieser Stelle zu rücklassen, denn sie wären auf den steilen und unebenen Pfa den im Canyon nicht weitergekommen, das Vorwärtskommen war auch für die Packpferde so schwierig, daß einige von ihnen abstürzten und in den tief unter ihnen liegenden Fluß fielen. Doch das konnte sie nicht aufhalten, sie drangen immer tiefer ins Gebirge vor.« »Ich kann es mir sehr gut vorstellen«, sagte er. »Es ist mit Sicherheit ein außerordentlich gefährliches Unternehmen ge wesen.« »Dann beschreibt Taita, wie sie auf eine Reihe von Hinder nissen stießen, die er als ›Stufen‹ bezeichnet. Duraid und ich konnten nicht sagen, was damit gemeint war. Wir glaubten jedoch, es könnten Wasserfälle gewesen sein.« »Das ist durchaus möglich, denn es gibt dort eine große Zahl von Wasserfällen«, nickte Sir Nicholas. »Dies ist der für uns wichtigste Teil des Berichts. Taita schreibt, daß sie nach einem zwanzig Tage dauernden Marsch durch die Schlucht die ›zweite Stufe‹ erreichten. Hier erhielt der Prinz im Traum eine Botschaft seines verstorbenen Vaters, der ihm sagte, daß an dieser Stelle sein Mausoleum errichtet werden sollte. Nach dem Bericht von Taita wurde der Marsch nicht weiter fortgesetzt, und wenn es uns gelingt, festzustellen, was sie damals aufgehalten hat, dann können wir sagen, wie weit sie in die Schlucht vorgedrungen sind.« »Jetzt brauchen wir zunächst einmal Karten und Satellitenfo tos von diesem Gebirge, und ich werde mir die Notizen und Tagebuchaufzeichnungen von meiner Expedition ansehen«,
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sagte Sir Nicholas. »Ich versuche, meine Unterlagen nach Möglichkeit auf dem laufenden zu halten, und daher sollten wir die Satellitenfotos und die neuesten Karten hier in der Muse umsbibliothek haben. Wenn das richtig ist, wird Mrs. Street uns helfen können, sie zu finden.« Er stand auf und streckte sich. »Heute abend werde ich mei ne Tagebücher heraussuchen und durchsehen. Mein Urgroßva ter hat im vergangenen Jahrhundert auch in Äthiopien gejagt und Altertümer gesammelt. Ich weiß, daß er in den Jahren um 1890 den Blauen Nil bei Debra Markos überquert hat. Ich wer de auch seine Notizen zu Rate ziehen. Vielleicht können uns die Aufzeichnungen des alten Herrn weiterhelfen.« Er begleitete sie zu dem alten grünen Landrover auf dem Parkplatz, und als sie den Motor startete, sagte er durch das offene Fenster: »Ich glaube immer noch, daß es besser wäre, sie würden hier übernachten. Die Fahrt nach Brandsbury dauert etwa anderthalb Stunden – hin und zurück sind das drei Stun den täglich. Und wir haben noch viel zu tun, bevor wir daran denken können, nach Afrika aufzubrechen.« »Was würden die Leute denken?« fragte sie, während sie auf die Kupplung trat. »Es schert mich einen Dreck, was die Leute denken«, rief er ihr nach. »Wann sehe ich Sie morgen?« »Ich muß morgen noch zum Arzt nach York, um mir die Fä den aus der Narbe im Arm ziehen zu lassen. Vor elf Uhr werde ich nicht zurück sein«, rief sie ihm zu. Dabei hatte sie den Kopf aus dem Fenster gesteckt, und der Fahrtwind wehte ihr das dunkle Haar ins Gesicht. Er hatte schon immer eine besondere Vorliebe für dunkelhaarige Frauen gehabt, auch Rosalind hatte dieses geheimnisvolle östliche Flair gehabt. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn er die beiden Frauen miteinander verglich, aber es fiel ihm schwer, jetzt nicht an Royan zu denken.
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Sie war die erste Frau, für die er sich seit dem Tod von Rosa lind interessierte. Was sie für ihn so anziehend machte, war die Mischung östlicher und westlicher Kultur, die sich in ihr ver körperte. Sie war exotisch genug, um seine Vorliebe für alles Orientalische anzusprechen, aber auch englisch genug, um sei ne Sprache zu beherrschen und den englischen Humor zu ver stehen. Sie war gebildet und verfügte über ein umfassendes Wissen auf Gebieten, die ihn interessierten, und er bewunderte ihre Energie. Im Osten werden die meisten Frauen dazu erzo gen, zurückhaltend und fügsam zu sein. Aber sie war ganz an ders. Georgina hatte sich schon telefonisch bei dem Arzt in York angemeldet und ihm gesagt, daß sie Royan mitbringen würde, um die Fäden an ihrem Arm ziehen zu lassen. Nach dem Früh stück verließen sie Brandsbury. Georgina fuhr selbst, und Ma gic saß zwischen ihr und Royan auf der vorderen Sitzbank. Als sie auf die Dorfstraße einbogen, sah Royan einen großen MAN-Lastwagen vor dem Postgebäude stehen, dachte dann aber nicht mehr daran. Unterwegs gerieten sie immer wieder in dichten Nebel, der die Sichtweite bis auf etwa dreißig Meter reduzierte, aber Ge orgina kümmerte sich nicht um das Wetter, sondern ließ den Landrover mit Höchstgeschwindigkeit die Straße entlangrat tern. Zu ihrer Erleichterung stellte Royan fest, daß es nicht mehr als fünfundneunzig Stundenkilometer waren. Als sie sich umblickte, bemerkte sie, daß der MANLastwagen ihnen folgte. Nur das Fahrerhaus ragte aus dem dichten Bodennebel heraus wie der Turm eines U-Boots. Doch dann verschwand auch er im immer dichter werdenden Nebel. Nun mußte sie sich eine politische Lektion ihrer Mutter an hören. »Diese Regierung ist doch nur eine Bande von Nichts
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könnern und Einfaltspinseln.« Georgina mußte blinzeln, denn der Rauch der Zigarette, die ihr zwischen den Lippen hing, stieg ihr in die Augen. Sie lenk te das Fahrzeug mit einer Hand und streichelte mit der anderen das seidige Fell am Ohr von Magic. »Die Dämlichkeit unserer Minister macht mir nichts aus, aber es ärgert mich, wenn sie meine Pension kürzen.« Die Pension, die ihre Mutter vom Auswärtigen Amt bezog, war ihr einziges Einkommen, und das war nicht viel. »Sei doch ehrlich, Mummy, du wirst dir doch keine Labour regierung wünschen?« neckte Royan sie. Sie wußte, daß ihre Mutter seit jeher eine überzeugte Anhängerin der konservati ven Partei gewesen war. Georgina wollte sich zu dieser Frage nicht äußern, meinte aber: »Ich kann nur sagen, daß Maggie wieder die Regierungs geschäfte übernehmen sollte.« Royan schaute zurück und sah durch den Nebel und die blaue Rauchwolke, die wie der Kondensstreifen eines Flug zeugs aus dem Auspuff des Landrover strömte, daß der Last wagen ihnen immer noch folgte. Bisher war er ein Stück zu rückgeblieben, aber plötzlich beschleunigte er und kam näher. »Ich glaube, er will dich überholen«, sagte sie vorsichtig. Die massive Motorhaube des Lastwagens war nur noch sie ben Meter hinter ihnen. Auf dem Kühler glänzten die Chrom buchstaben MAN, und er überragte den Landrover so weit, daß sie das Gesicht des Fahrers von ihrem Sitz aus nicht sehen konnte. »Jeder will mich überholen«, beklagte sich Georgina. »Das ist die Geschichte meines Lebens.« Sie fuhr unbeirrt auf der Mitte der schmalen Straße weiter. »Mach ihm doch Platz. Ich glaube, er meint es ernst.« »Laß ihn warten«, brummte Georgina, ohne den Zigaretten stummel aus dem Mund zu nehmen. »Geduld ist eine Tugend.
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Außerdem kann ich ihn an dieser Stelle gar nicht vorbeilassen. Gleich kommen wir an eine enge Steinbrücke. Ich kenne die Straße hier so gut wie den Weg von meinem Schlafzimmer ins Badezimmer.« In diesem Augenblick hupte der Lastwagenfahrer so laut, daß der Hund aufsprang und wütend zu bellen anfing. »Blöder Idiot«, schimpfte Georgina. »Was nimmt er sich heraus? Schreibe die Nummer seines Kennzeichens auf. Ich werde ihn bei der Polizei in York anzeigen.« »Sein Kennzeichen ist so verdreckt, daß man es nicht lesen kann. Aber anscheinend ist es ein europäisches Kennzeichen, wahrscheinlich ein deutsches.« Als hätte der Fahrer ihren Protest gehört, verlangsamte er das Tempo, und der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen ver größerte sich. Royan hatte sich mit dem Rücken zur Fahrtrich tung auf den Sitz gesetzt, um den Lastwagen beobachten zu können. »Das ist besser«, sagte Georgina selbstgefällig. »Der ver dammte Hunne scheint etwas gelernt zu haben.« Sie schaute aufmerksam nach vorn durch den Nebel. »Da ist die Brücke –« Jetzt konnte Royan zum ersten Mal den Fahrer erkennen. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze, die den ganzen Kopf be deckte und nur Öffnungen für Augen und Nase hatte. Das ver lieh ihm ein finsteres und bedrohliches Aussehen. »Vorsicht!« schrie Royan plötzlich. »Er will uns rammen!« Der Motor des Lastwagens heulte auf, und Royan sah nur noch, wie seine Stoßstange von hinten in den Landrover krachte. Sie wurde vom Sitz geschleudert, zog sich aber wieder in die Höhe, als der Lastwagen ihr Fahrzeug auf den Kühler genom men hatte wie ein Fuchs, der einen Vogel in den Fängen da vonträgt. Er schob den Landrover mit der starken Stoßstange weiter, die den chromglänzenden Kühlergrill schützte. Georgina versuchte verzweifelt, aber vergeblich, ihrem Wa
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gen eine andere Richtung zu geben. »Es geht nicht. Die Brük ke! Versuche hinauszuspringen –« Royan löste den Sicherheitsgurt und packte den Türgriff. Sie rasten auf das steinerne Brückengeländer zu, und der Landro ver rutschte völlig außer Kontrolle geraten über die Straße. Royan hatte die Tür geöffnet, es gelang ihr aber nicht, sie ganz aufzustoßen, bevor der Landrover gegen die steinernen Pfosten vor der Brücke geschleudert wurde. Beim Aufprall schrien beide Frauen auf und wurden nach vorn geworfen. Die Frontscheibe zersplitterte, und der Landrover stürzte, sich überschlagend, über das steinerne Brückengeländer das Steil ufer hinunter. Royan wurde durch die offene Tür hinausgeschleudert, rutschte den schrägen Abhang hinunter in das eisige Wasser unter der Brücke. Noch bevor sie ganz untertauchte, konnte sie die Brücke über sich und auch den Lastwagen sehen, der da vonbrauste. Die Anhänger waren höher als das Brückengelän der. Ihre grünen Nylonplanen waren mit Stricken festgezurrt und an den Metallösen der Karosserie befestigt. Sie hatte keine Zeit mehr, sich den mit roten Buchstaben auf den Planen sicht baren Firmennamen zu merken, bevor sie untertauchte und der Schock und die Kälte ihr die Luft aus den Lungen preßten. Mit äußerster Energie kämpfte sie sich zur Oberfläche durch und stellte fest, daß sie ein ganzes Stück abgetrieben worden war. Es fiel ihr schwer, mit der durchnäßten Kleidung ans Ufer zu kommen, aber schließlich konnte sie sich doch an einem Ast herausziehen. Sie kniete im Uferschlamm, hustete das Wasser aus, das sie geschluckt hatte, und versuchte festzustellen, ob sie sich bei dem Unfall verletzt hatte. Doch die Sorge um ihren eigenen Zustand war sofort vergessen, als sie das furchtbare Stöhnen ihrer Mutter aus dem auf dem Dach liegenden Wrack des Landrovers hörte.
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So schnell sie konnte, raffte sie sich auf und stolperte durch das nasse Gras zu dem unten am Hang liegenden Landrover. Die Karosserie war völlig zerbeult und aufgerissen, und wo der dun kelgrüne Anstrich abgeblättert war, zeigte sich das silberfarbene Aluminiumblech. Der Motor lief nicht mehr, nur die Vorder räder drehten sich noch, als sie an das Fahrzeug herantrat. »Mummy! Wo bist du?« rief sie, aber das Stöhnen hörte nicht auf. Sie hielt sich an der Karosserie fest und zog sich vol ler Angst vor dem, was sie dort finden könnte, zu der Stelle hin, von der das Stöhnen kam. Georgina saß mit dem Rücken gegen den umgestürzten Wa gen gelehnt auf der Erde. Sie hatte die Beine gerade ausge streckt. Das linke war so zur Seite verdreht, daß die Stiefelspit ze in einem unnatürlichen Winkel in den Schlamm gedrückt war. Offenbar hatte sie sich das Bein am Knie oder dicht dar unter gebrochen. Aber das war nicht die Ursache ihres Kummers. Sie hielt Magic auf dem Schoß und beugte sich unaufhörlich wimmernd über ihn. Die Brust des Spaniels war zwischen der Karosserie und dem Boden zerquetscht worden. Die Zunge hing seitlich aus dem Maul heraus, das Blut tropfte von der rosafarbenen Zungenspitze, und Georgina wischte es mit ihrem Halstuch ab. Royan setzte sich neben ihre Mutter und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie hatte ihre Mutter noch nie weinen sehen. Nun drückte sie Georgina fest an sich, um sie zu trösten, aber sie hörte nicht auf zu wimmern. Sie hatte nicht darauf geachtet, wie lange sie schon so neben ihrer Mutter saß, aber schließlich veranlaßten sie der Anblick des gebrochenen Beins und die Furcht, der Lastwagen könnte zurückkommen, um ihnen den Rest zu geben, dazu aufzuste hen. Sie kletterte den Hang hinauf und stellte sich mitten auf die Straße, um das nächste Fahrzeug anzuhalten.
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Erst als sich Royan um zwei Stunden verspätet hatte, fing Sir Nicholas an, sich Sorgen zu machen, und rief die Polizei in York an. Zum Glück erinnerte er sich an das polizeiliche Kennzeichen des Landrover. Es ließ sich leicht merken, denn es bestand aus den Initialen seiner Mutter und der Unglücks zahl 13. Er mußte eine Weile warten, bis die Polizeibeamtin ihren Computer befragt hatte. Dann sagte sie. »Leider muß ich Ihnen sagen, Sir, daß dieser Landrover heute vormittag in einen Un fall verwickelt war.« »Sind die Insassen verletzt?« wollte Sir Nicholas wissen. »Fahrerin und eine Beifahrerin sind in das York Minster Hospital gebracht worden.« »Wie geht es ihnen?« »Es tut mir leid, Sir. Darüber kann ich Ihnen nichts sagen.« Nach vierzig Minuten war Sir Nicholas im Krankenhaus, und dort dauerte es fast ebensolang, Royan zu finden. Sie war in der chirurgischen Abteilung und saß am Bett ihrer Mutter. Georgina war noch nicht aus der Narkose aufgewacht. Sie blickte auf, als Nicholas vor ihr stand. »Wie geht es Ih nen? Was, zum Teufel, ist geschehen?« »Meine Mutter – sie hat sich das Bein schwer verletzt. Der Oberschenkelknochen mußte genagelt werden.« »Aber was ist mit Ihnen?« »Ein paar blaue Flecken und Abschürfungen. Nichts Ern stes.« »Und wie kam es dazu?« »Ein Lastwagen – er schob uns von der Straße.« »Doch nicht absichtlich?« Nicholas hatte ein unangenehmes Gefühl, denn er mußte an einen anderen Lastwagen denken, der ihm nachts auf einer anderen Straße begegnet war. »Das nehme ich an. Der Fahrer war maskiert. Er hatte eine Wollmütze mit Sehschlitzen über den Kopf gezogen. Er fuhr
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von hinten auf den Landrover auf, und er muß es absichtlich getan haben.« »Haben Sie es der Polizei gemeldet?« Sie nickte. »Offensichtlich wurde der Lastwagen schon am Morgen lange vor dem Unfall als gestohlen gemeldet, während der Fahrer in einem dieser kleine Cafés aufgehalten wurde. Es ist ein Deutscher, und er spricht kein Englisch.« »Das war das dritte Mal, daß man versucht hat, Sie umzu bringen«, sagte Sir Nicholas grimmig. »Deshalb übernehme ich jetzt die Verantwortung.« Er ging hinaus ins Wartezimmer, um zu telefonieren. Mit dem Polizeidirektor der Grafschaft war er ebenso befreundet wie mit dem Verwaltungsdirektor des Krankenhauses. Als er zurückkam, war Georgina aus der Narkose aufge wacht. Sie war zwar noch leicht benebelt, fühlte sich aber ganz wohl, als man sie in die Privatstation hinüberfuhr, wo Nicholas ein Zimmer für sie bestellt hatte. Nach ein paar Minuten er schien der Orthopäde, der sie operiert hatte. »Hallo Nick, was machen Sie denn hier?« begrüßte er Ni cholas, und Royan wunderte sich darüber, wie viele Menschen ihn kannten. Dann wendete sich der Arzt an Georgina. »Wie fühlen Sie sich? Wir hatten da einen ganz netten kleinen Splitterbruch. Es war ein ziemliches Durcheinander in Ihrem Oberschenkel. Wir haben alles wieder zusammengefügt, aber Sie werden minde stens noch zehn Tage bei uns bleiben müssen.« »Nun ist alles wieder in Ordnung, meine Verehrte«, wandte sich Nicholas an Royan, als sie das Krankenzimmer verließen, nachdem Georgina eingeschlafen war. »Was brauchen Sie noch mehr, um sich davon zu überzeugen? Meine Haushälterin in Quenton Hall hat ein Zimmer für Sie eingerichtet. Ich werde Sie jetzt nicht mehr allein herumfahren lassen, denn sonst ha ben die Leute, die Sie aus dem Weg räumen wollen, das näch
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ste Mal vielleicht mehr Glück.« Sie war noch zu mitgenommen von alledem, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, als daß sie ihm hätte widersprechen können. So kletterte sie gehorsam in den Rangerover und ließ sich von ihm zuerst zum Arzt fahren, der ihr die Fäden zog, und dann zurück nach Quenton Park. Dort schickte er sie sofort in ihr Schlafzimmer. »Die Köchin wird Ihnen das Abendessen nach oben bringen lassen. Vergessen Sie nicht, die Schlaftablette einzunehmen, die der Doktor Ihnen gegeben hat. Wenn Sie Mrs. Street den Schlüssel zum Haus Ihrer Mutter geben, wird sie Ihre persönli chen Sachen aus Brandsbury holen lassen. Bis dahin hat meine Haushälterin Ihnen die notwendige Nachtwäsche und eine Zahnbürste ins Zimmer gelegt. Und nun möchte ich bis morgen früh nichts mehr von Ihnen hören.« Sie genoß es, von ihm umsorgt zu werden. Zum ersten Mal seit jener fürchterlichen Nacht in der Oase hatte sie das Gefühl, sicher aufgehoben zu sein und sich um nichts mehr kümmern zu müssen. Doch um sich zu beweisen, daß sie auch noch einen eigenen Willen hatte, warf sie die Schlaftablette in die Toilette und spülte sie hinunter. Auf ihrem Kopfkissen lag ein langes reinseidenes Nacht hemd mit Waliser Spitzen an den Ärmelaufschlägen und am Kragen. Noch nie hatte sie ein so luxuriöses Nachthemd getra gen, das sich so angenehm an die Haut anschmiegte. Offenbar hatte es seiner Frau gehört, und dieser Gedanke weckte ge mischte Gefühle in ihr. Erschöpft legte sie sich in das von vier Pfosten gehaltene Bett, aber auch die breite und allzuweiche Matratze und die ungewohnte Umgebung hinderten sie nicht daran, sehr bald einzuschlafen.
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Am Morgen wurde sie mit der neuesten Ausgabe von The Times und einer Kanne Earl Grey Tee von einem jungen Stu benmädchen geweckt, das wenige Minuten später mit ihrer Reisetasche zurückkam. »Sir Nicholas würde sich freuen, wenn Sie um acht Uhr dreißig im Speisezimmer mit ihm frühstücken würden.« Als sie unter der Dusche stand, betrachtete Royan ihren nackten Körper in dem hohen Spiegel an der gegenüberliegen den Wand des Badezimmers. Neben der immer noch nicht ganz ausgeheilten Wunde am Arm, hatte sie blaue Flecken an der Hüfte und am Gesäß auf der linken Seite von dem Zusammen stoß mit dem Lastwagen. Außerdem hatte sie eine Schürfwun de an einem Schienbein. Vorsichtig zog sie ihre lange Hose darüber, die die Wunde nun verdeckte. Sie hinkte noch ein we nig, als sie die Haupttreppe zum Speisezimmer hinunterging. »Bitte bedienen Sie sich.« Sir Nicholas blickte von seiner Zeitung auf, um sie zu begrüßen, als sie in der Tür stehenblieb. Er zeigte auf die Anrichte, wo die verschiedenen Speisen stan den. Als sie sich etwas von dem Rührei auf den Teller legte, stellte sie fest, daß die Landschaft an der Wand vor ihr ein Constable war. »Haben Sie gut geschlafen?« Ohne auf ihre Antwort zu war ten, fuhr er fort: »Ich habe mit der Polizei gesprochen. Man hat den verlassenen MAN-Lastwagen auf einem Abstellplatz bei Harrogate gefunden. Die Polizei untersucht ihn, glaubt aber nicht, etwas finden zu können. Offenbar haben wir es mit Leu ten zu tun, die genau wissen, worauf es ihnen ankommt.« »Ich muß das Krankenhaus anrufen«, sagte sie. »Das habe ich schon getan. Ihre Mutter hat eine gute Nacht gehabt. Ich habe ihr ausrichten lassen, daß Sie sie heute abend besuchen werden.« »Erst heute abend?« Sie sah ihn verständnislos an. »Warum so spät?«
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»Bis dahin haben wir noch einiges zu erledigen.« Als sie an den Tisch kam, stand er auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Seine Höflichkeit irritierte sie ein wenig, aber sie äußerte sich nicht dazu. »Der erste Mordanschlag auf Sie und Duraid in Ihrer Villa in der Oase – wir können daraus nichts anderes schließen, als daß die Mörder genau wußten, was sie suchten und wo sie es finden könnten.« Der plötzliche Themenwechsel verwirrte sie. »Doch was sagt uns der zweite Mordanschlag in Kairo? Die Handgra nate. Wer wußte, daß sie an jenem Nachmittag zum Ministeri um fahren wollten – außer dem Minister selbst?« Während sie von dem Rührei aß, überlegte sie. »Ich kann es nicht genau sagen. Ich glaube, ich habe es dem Sekretär von Duraid gesagt, aber vielleicht auch einem der Forschungsassistenten.« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »So wußte also jeder zweite Mitarbeiter im Museum etwas von dieser Verab redung?« »Es tut mir leid, aber so ist es wahrscheinlich.« Er dachte einen Augenblick nach. »Nun gut. Und wer wußte, daß Sie Kairo verlassen würden? Wer wußte, daß sie Ihre Mut ter in deren Landhaus besuchen würden?« »Ein Mann von der Verwaltung brachte mir meine Dias zum Flughafen.« »Haben Sie ihm gesagt, mit welcher Maschine Sie fliegen würden?« »Nein, bestimmt nicht.« »Haben Sie es überhaupt irgend jemandem gesagt?« »Nein. Das heißt –« Sie zögerte. »Ja?« »Ich habe es dem Minister gesagt, als ich ihn bat, mir einen längeren Urlaub zu gewähren. Aber er kann es doch nicht sein?« Ihr Gesichtsausdruck zeigte, wie sehr sie dieser Gedan ke erschreckte.
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Sir Nicholas zuckte die Schultern. »Es geschehen die selt samsten Dinge. Natürlich wußte der Minister sehr genau über Ihre und Duraids Arbeit an der siebenten Schriftrolle Be scheid?« »Nicht in allen Einzelheiten, aber – ja – im allgemeinen wußte er, was wir vorhatten.« »In Ordnung. Nächste Frage, Tee oder Kaffee?« Er goß ihr eine Tasse Kaffee ein und fuhr dann fort: »Sie sagten, Duraid habe eine Liste möglicher Sponsoren für eine Expedition ge habt. Unter diesen Leuten ließe sich vielleicht auch dieser oder jener Verdächtige finden.« »Das Getty Museum«, sagte sie, und er lächelte. »Das können wir streichen. Diese Leute laufen nicht mit Handgranaten durch die Straßen von Kairo, um sie jemandem ins Auto zu werfen. Aber wer steht sonst noch auf dieser Li ste?« »Gotthold Ernst von Schiller.« »Hamburg. Schwerindustrie. Metallverarbeitung. Minerali en.« Nicholas nickte. »Und der dritte Name auf der Liste?« »Peter Walsh«, sagte sie, »der Texaner.« »Der ist es«, nickte er. »Er lebt in Fort Worth. Beliefert Schnellrestaurants und betreibt ein Versandgeschäft.« Es gab nur sehr wenige Sammler, die über die Mittel verfügten, mit den großen Institutionen beim Erwerb von wertvollen Antiqui täten zu konkurrieren oder archäologische Forschungsvorhaben zu finanzieren. Sir Nicholas kannte sie alle, denn es war ein aus nicht mehr als zwei Dutzend Personen bestehender Kreis von Leuten, die einander zu übertrumpfen suchten. Er war schon jedem einzelnen von ihnen auf irgendeiner Auktion bei Sothe by’s und Christie’s begegnet und auch bei anderen Gelegenhei ten, wo unter Ausschluß der Öffentlichkeit »neue« Antiquitäten verkauft wurden. »Neu« bedeutete in diesem Zusammenhang »neu ausgegraben«.
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»Das sind die beiden scharfäugigen Banditen. Sie würden wahrscheinlich ihre eigenen Kinder fressen, wenn sie Appetit darauf hätten. Was würden sie wohl tun, wenn sie glaubten, Sie seien ein Hindernis auf dem Wege zum Grabmal des Mamose? Wissen Sie, ob sich einer von ihnen mit Duraid in Verbindung gesetzt hat, nachdem das Buch Das Grabmal des Pharao veröf fentlicht worden war, so wie ich es getan habe?« »Ich weiß es nicht, aber es ist möglich.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer dieser prächtigen Kerle nicht auf diese Idee gekommen wäre. Wir müssen davon ausgehen, daß sie beide etwas von Duraids Plänen wußten. Jedenfalls gehören ihre Namen auf unsere Liste der Verdächti gen.« Dann sah er, daß ihr Teller leer war. »Genug? Noch ein Löffel, Rührei? Nein? Nun gut, gehen wir hinunter zum Muse um und stellen fest, ob Mrs. Street etwas gefunden hat, das uns weiterbringt.« Als sie in sein Arbeitszimmer kamen, war sie beeindruckt davon, was er in dieser kurzen Zeit organisiert hatte. Offenbar hatte er die ganze Nacht damit zugebracht, das Zimmer in eine Art Hauptquartier zu verwandeln. In der Mitte stand auf einem Gestell eine große Tafel, auf der eine Reihe von Satellitenfotos angeheftet waren. Zuerst sah sie sich diese Fotos an, und dann die anderen an der Tafel befestigten Papiere. Neben einer Generalstabskarte des gleichen Gebiets im süd westlichen Äthiopien, das auch die Satellitenfotos zeigten, wa ren hier Listen von Namen und Adressen, von Ausrüstungsge genständen und Vorräten, die er auf früheren afrikanischen Expeditionen mitgenommen hatte, sowie Berechnungen von Entfernungen und vorläufige Kostenvoranschläge für eine sol che Expedition angeheftet. Auf dem oberen Teil der Tafel hin gen mit der Maschine geschriebene Blätter mit der Überschrift »Äthiopien – allgemeine Informationen«. Es waren auf Durch schlagspapier engbeschriebene Seiten, die sie jetzt nicht alle
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durchlesen konnte, aber sie war beeindruckt von der Gründ lichkeit, mit der er alles vorbereitet hatte. Royan wollte sich dieses Material bei nächster Gelegenheit genauer ansehen, setzte sich aber jetzt auf einen der beiden Stühle, die er an einen Tisch vor der Tafel gestellt hatte. Er stellte sich an die Tafel und nahm einen Zeigestock mit silber nem Griff in die Hand wie ein Lehrer, der seiner Klasse etwas erklären will. »Also aufgepaßt«, sagte er und klopfte mit dem Zeigestock an die Tafel. »Zuerst müssen Sie sich davon überzeugen, daß es uns gelingen wird, die Spur von Taita zu finden, nachdem sie sich einige tausend Jahre abgekühlt hat. Sehen wir uns dazu die geographischen Gegebenheiten der Abbay-Schlucht an.« Nicholas folgte dem Verlauf des Flusses auf dem Satelliten foto mit dem Zeigestock. »In diesem Abschnitt hat sich der Fluß auf dem Wege durch das Basaltplateau in das Gestein eingeschnitten. An einigen Stellen haben sich auf beiden Seiten des Flußlaufs einhundertdreißig bis einhundertfünfzig Meter hohe Steilwände gebildet. Wo das Wasser auf härtere Schich ten gestoßen ist, hat es das Gestein nicht auswaschen können. So sind eine Reihe riesiger Stufen entstanden. Ich glaube, Sie haben recht mit der Annahme, daß Taitas ›Stufen‹ in Wirklich keit Wasserfälle sind.« Er nahm aus den zahlreichen Papieren auf dem Tisch ein Fo to. »Ich habe diese Aufnahme 1976 bei der Expedition der Streitkräfte in der Schlucht gemacht. Sie wird Ihnen eine Vor stellung davon vermitteln, wie einige dieser Wasserfälle ausse hen.« Er reichte ihr ein Schwarzweißfoto, auf dem zwischen zwei hohen Felswänden ein gewaltiger Wasserfall vom Himmel her abzustürzen schien, vor dem die winzigen Figuren halbnackter Männer und kleiner Boote im Vordergrund geradezu zwergen haft wirkten.
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»Ich hatte keine Ahnung, wie das in Wirklichkeit aussieht.« Sie war tief beeindruckt. »Es zeigt aber noch nicht die wunderbare Abgeschiedenheit in der Tiefe dieser Schlucht«, sagte er. »Für den Fotografen gibt es hier keine Stelle, von der aus eine Aufnahme gelingen könnte, die den Gesamteindruck vermittelt. Doch wenigstens kann man sehen, daß dieser Wasserfall eine Gruppe von Ägyp tern, die zu Fuß oder vielleicht mit Packpferden bis hierherge kommen waren, aufgehalten haben muß. Gewöhnlich führt ein schmaler Pfad an den Wasserfällen vorbei, der im Lauf von Jahrtausenden entstanden ist, als sich wilde Elefanten und an dere Wildtiere einen Weg flußaufwärts suchten. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, Wasserfälle wie diesen zu umgehen oder den hohen Klippen auszuweichen.« Sie nickte, und er fuhr fort: »Als wir mit unserer Expedition die Schlucht stromabwärts herunterkamen, mußten wir die Boote und unsere gesamte Ausrüstung nach jedem dieser Was serfälle an Seilen hinunterlassen, und das war nicht einfach.« »Wir dürfen also annehmen, daß es ein Wasserfall gewesen ist, der die von Taita geführte Gruppe am Weiterkommen ge hindert hat, und zwar war es der zweite Wasserfall auf dem Weg von Westen nach Osten«, stimmte sie zu. Nicholas nahm wieder den Zeigestock in die Hand und ver folgte mit ihm den Verlauf des Flusses gegen den Strom, von dem sich dunkel abzeichnenden Roseires-Damm im mittleren Sudan. »Die steile Felswand erhebt sich jenseits der äthiopi schen Grenze, und dort beginnt auch die Schlucht. In den Ber gen gibt es weder Straßen noch Siedlungen, und weiter strom aufwärts führen nur zwei Brücken über den Fluß. Auf einer Strecke von achthundert Kilometern gibt es nichts als das wild dahinströmende Nilwasser und den zerklüfteten Basalt.« Er schwieg ein paar Augenblicke, um Royan die Möglichkeit zu geben, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was er zu
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schildern versuchte. »Es ist eines der letzten, noch unberührten Gebiete auf dieser Erde, und man sagt, es lebten dort nur gefährliche Raubtiere und noch wildere Menschen. Ich habe die größten Wasserfälle im Verlauf der Schlucht hier auf dem Satellitenfoto gekenn zeichnet.« Er wies auf die mit roter Tinte umrandeten Stellen. »Hier ist der zweite Wasserfall, etwa einhundertneunzig Ki lometer stromaufwärts von der sudanesischen Grenze entfernt. Wir müssen jedoch bestimmte Faktoren berücksichtigen, vor allem auch die Tatsache, daß der Fluß während der vergange nen viertausend Jahre, seit unser Freund Taita in die Schlucht eindrang, seinen Lauf verändert haben könnte.« »Man kann sich aber kaum vorstellen, daß der Nil eine fast tausend Meter tiefe Schlucht hätte verlassen können«, wider sprach sie. »Selbst dieser Fluß muß sich nach den natürlichen Gegebenheiten richten.« »Ja, aber das Flußbett als solches hat mit Sicherheit gewisse Veränderungen erfahren. Zur Regenzeit nehmen die Wasser menge und die Gewalt, mit der diese Wassermassen sich durch die Schlucht ergießen, in einem Ausmaß zu, das ich nicht be schreiben kann. Zwischen den Steilwänden erhöht sich der Wasserstand um zwanzig Meter und strömt mit einer Ge schwindigkeit von zehn Knoten oder mehr hindurch.« »Und Sie haben diesen Strom mit einem Boot befahren?« fragte sie. »Nicht zur Regenzeit. Das würde niemand überleben.« Sie sahen sich noch einmal das Foto an und versuchten sich vorzustellen, mit welch furchterregender Gewalt diese Was sermassen durch die enge Schlucht strömen könnten. Dann sagte sie: »Vergessen Sie nicht den zweiten Wasser fall!« »Hier ist er, wo einer der Nebenflüsse in den Hauptstrom des Blauen Nil mündet. Der Nebenfluß ist der Dandera. Er ent
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springt in einer Höhe von tausenddreihundert Metern unterhalb des Gipfels des Sancai-Berges im Choke-Höhenzug, hier etwa einhundertsechzig Kilometer nördlich der Schlucht.« »Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie die Stelle er reichten, an der dieser Nebenfluß in den Blauen Nil mündet?« »Das war vor mehr als zwanzig Jahren, und wir befanden uns zu jener Zeit schon fast einen Monat in der Schlucht. Das Ganze war ein einziger Alptraum gewesen. In der Erinnerung blieben nur die immer gleichen, zerklüfteten Felswände und der dichte Dschungel an den Hängen zurück, und unsere Sinne waren abgestumpft durch die Hitze, die Insekten, das Rauschen des Wassers und das kräftezehrende Rudern. Doch seltsamer weise erinnere ich mich aus zwei Gründen noch an den Zu sammenfluß des Dandera und des Blauen Nil.« »Ja?« Sie lauschte erwartungsvoll, aber er schüttelte den Kopf. »Wir haben dort einen unserer Männer verloren. Es war der einzige Verlust während dieser zweiten Expedition. Das Halte seil riß, er stürzte dreißig Meter in die Tiefe und landete mit dem Rücken auf einem Felsvorsprung.« »Verzeihen Sie, aber was war der zweite Grund dafür, daß Sie sich noch an diese Stelle erinnern?« »Dort befindet sich ein koptisches Kloster, und zwar in den Felshöhlen etwa dreißig Meter über dem Flußlauf.« »Dort unten in den Tiefen der Schlucht?« Sie konnte es kaum glauben. »Warum hat man ausgerechnet dort ein Kloster gebaut?« »Äthiopien ist eines der ältesten christlichen Länder dieser Welt, und es gibt dort mehr als neuntausend Kirchen und Klö ster, viele von ihnen an ähnlich abgelegenen und schwer zu gänglichen Stellen im Gebirge. Hier, wo der Fluß Dandera in den Blauen Nil mündet, ist angeblich der heilige Frumentius begraben, der Anfang des dritten Jahrhunderts den christlichen
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Glauben von Byzanz nach Äthiopien gebracht hat. Nach der Legende strandete sein Schiff nach einem Sturm an der Küste des Roten Meeres, und von hier gelangte er nach Aksum, wo er den Kaiser Ezana zum Christentum bekehrte.« »Haben Sie das Kloster besucht?« »Um Himmels willen, nein!« lachte er. »Für uns kam es dar auf an, am Leben zu bleiben und die gefährlichen Stromschnel len zu überwinden, und da blieb uns keine Zeit für die Besich tigung irgendwelcher Sehenswürdigkeiten. Sobald wir die Wasserfälle hinter uns gelassen hatten, fuhren wir möglichst rasch weiter stromabwärts. Ich erinnere mich nur noch an die Höhlen hoch über der Lagune, in denen das Kloster unterge bracht ist, und an seine Bewohner in ihren weißen Gewändern, die an den Brüstungen standen und uns ungerührt nachschau ten. Einige von uns winkten ihnen zu und wunderten sich, daß die Mönche ihren Gruß nicht erwiderten.« »Wie werden wir je diese Stelle erreichen können, ohne eine ganze Expedition auszurüsten?« fragte sie mit trauriger Stimme und sah sich noch einmal die Tafel an. »Haben Sie bereits den Mut verloren?« Er lächelte und fuhr fort: »Warten Sie nur, bis Sie in die Mückenschwärme geraten, die es dort gibt. Bevor Sie aufgefressen werden, werden die Mücken mit Ihnen davonfliegen.« »Nein, im Ernst, wie kommen wir dort hinunter?« »Die Mönche werden von den Bergbauern, deren Höfe in der Nähe liegen, mit Lebensmitteln versorgt. Offenbar gibt es ei nen Ziegenpfad, der zum Kloster hinunterführt. Diese Bauern haben uns erzählt, daß sie vom Bergkamm bis zum Kloster drei Tage unterwegs sind.« »Könnten Sie allein diesen Weg finden?« »Nein, aber ich habe mir dazu schon einiges überlegt. Doch dazu kommen wir später. Zuerst müssen wir uns darüber klar werden, was wir nach viertausend Jahren dort erwarten dür
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fen.« Er sah sie aufmerksam an. »Jetzt sind Sie an der Reihe. Überzeugen Sie mich von der Richtigkeit Ihrer Ansicht.« Er gab ihr den Zeigestock und lehnte sich in seinem Sessel zu rück. »Dazu müssen wir zunächst zu unserem Buch zurückkeh ren.« Sie nahm das Exemplar von Das Grabmahl des Pharao in die Hand und fuhr fort. »Sie erinnern sich an die Gestalt des Tanus aus dieser Geschichte?« »Natürlich. Er war unter Königin Lostris der Befehlshaber der ägyptischen Armeen mit dem Titel Großer Löwe von Ägypten. Er führte sie, als sie von den Hyksos aus Ägypten vertrieben wurden.« »Er war auch der heimliche Geliebte der Königin und, wenn wir Taita glauben sollen, der Vater ihres ältesten Sohnes, des Prinzen Memnon«, stimmte sie ihm zu. »Tanus starb während einer Strafexpedition gegen den äthiopischen Häuptling Akoun in den Bergen, und seine Leiche wurde mumifiziert und von Taita der Königin zurückgebracht«, ergänzte Sir Nicholas. »So war es«, nickte sie. »Damit kommen wir zu dem näch sten Hinweis, auf den Duraid und ich gestoßen sind.« »Aus der siebenten Schriftrolle?« fragte er und richtete sich auf. »Nein, nicht aus den Schriftrollen, sondern aus einer In schrift im Mausoleum der Königin Lostris.« Sie griff in ihre Tasche und holte ein weiteres Foto heraus. »Das ist die Ver größerung eines Teils der Wandgemälde in der Grabkammer, der sich löste, als wir die Alabastervasen entdeckten, und dann verlorenging. Duraid und ich waren überzeugt, daß die Tatsa che, daß Taita diese Inschrift an einen Ehrenplatz über den da hinter verborgenen Schriftrollen gesetzt hatte, von besonderer Bedeutung war.« Sie gab ihm das Foto, und er nahm ein Ver größerungsglas vom Schreibtisch und betrachtete es.
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Während er versuchte, die Hieroglyphen zu entziffern, fuhr Royan fort: »Sie wissen aus dem Buch, daß Taita eine beson dere Vorliebe für Rätsel und Wortspiele hatte und sich damit brüstete, der beste Baospieler zu sein?« Sir Nicholas blickte auf und sagte: »Ich erinnere mich. Ich teile auch die Auffassung, daß das Baospiel ein Vorläufer des Schachspiels ist. In meiner Sammlung im Museum habe ich etwa ein Dutzend solcher Spielbretter aus Ägypten und aus weiter südlich gelegenen Teilen Afrikas.« »Ja, auch ich würde dieser Theorie zustimmen. Beide Spiele haben ganz ähnliche Regeln, aber das Baospiel ist einfacher als Schach. Es wird nicht mit Figuren, sondern mit farbigen Stei nen gespielt, von denen jeder einen besonderen Rang hat. Nun, ich glaube, Taita hat der Versuchung nicht widerstehen kön nen, der Nachwelt ein Zeugnis seiner Intelligenz und seiner Fähigkeit, Rätsel zu erfinden, zu hinterlassen. Ich glaube, er war so eitel, daß er absichtlich Hinweise auf die Stelle, an der sich das Pharaonengrab befand, in den Schriftrollen und auf den Wandgemälden in der Grabkammer seiner geliebten Köni gin gegeben hat, von denen er behauptet, sie eigenständig ge malt zu haben.« »Und Sie glauben, daß dies einer dieser Hinweise ist?« Sir Nicholas klopfte mit dem Vergrößerungsglas auf das Foto. »›Der Vater des Prinzen, der nicht der Vater ist, der Geber des Blauen, das ihn tötete‹,« übersetzte er stockend, »›bewacht bis in alle Ewigkeit Hand in Hand mit Hapi das steinerne Te stament des Pfades zum Vater des Prinzen, der nicht der Vater ist, dem Geber des Blutes und der Asche‹.« Sir Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein, das ergibt keinen Sinn«, sagte er. »Wahrscheinlich habe ich es falsch übersetzt.« »Geben Sie nicht auf. Sie machen hier zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Taita, dem hervorragenden Baospieler, der so gerne in Rätseln spricht. Duraid und ich haben uns wochen
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lang um die richtige Übersetzung bemüht«, ermutigte sie ihn. »Um des Rätsels Lösung zu finden, wollen wir uns noch ein mal das Buch ansehen. Tanus war dem Namen nach nicht der Vater des Prinzen Memnon, sondern als Geliebter der Königin sein biologischer Vater. Auf dem Totenbett gab er Memnon das blaue Schwert, das ihm im Kampf mit dem äthiopischen Häuptling die tödliche Wunde beigebracht hatte. Im Buch fin den wir eine genaue Beschreibung dieses Gefechts.« »Ja, als ich das zum ersten Mal las, dachte ich, das blaue Schwert sei wahrscheinlich eine der ersten eisernen Waffen, und im Bronzezeitalter wäre das für jeden Waffenschmied ein Meisterstück gewesen, das richtige Geschenk für einen Prin zen«, sagte Nicholas und fuhr fort, »so ist ›der Vater des Prin zen, der nicht der Vater ist‹, Tanus?« Er seufzte resigniert. »Deshalb akzeptiere ich zunächst Ihre Interpretation.« »Vielen Dank für Ihr Vertrauen«, erwiderte sie sarkastisch. »Doch was das Rätsel Taitas betrifft – der Pharao Mamose war nur dem Namen nach Memnons Vater, aber nicht in Wirklich keit. So haben wir hier wieder den Vater, der nicht der Vater war. Mamose vererbte dem Prinzen die zweifache Krone Ägyptens, die rote Krone des oberen und die weiße des unteren Königreichs – das Blut und die Asche.« »Das will ich schon eher glauben. Aber wie deuten sie den Rest der Inschrift?« Diese Frage interessierte auch Sir Nicho las. »Der Ausdruck ›Hand in Hand‹ konnte im alten Ägypten manches bedeuten, etwa ›sehr nah‹ oder ›in Sichtweite‹ von irgend etwas.« »Fahren Sie fort. Ich höre aufmerksam zu«, ermutigte Nicho las sie. »Hapi ist der hermaphroditische Gott des Nil und tritt je nach den Umständen entweder in seiner männlichen oder in seiner weiblichen Form auf. In den Schriftrollen verwendet Taita das
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Wort Hapi immer wieder als Namen für den Fluß.« »Wenn wir nun sowohl die siebente Schriftrolle als auch die Inschrift berücksichtigen, was wäre dann die Interpretation?« wollte er wissen. »Das ist ganz einfach: Tanus wurde in Sichtweite oder ganz in der Nähe des Flusses am zweiten Wasserfall beigesetzt. In seiner Grabkammer oder in deren unmittelbarer Nähe gibt es auf einem steinernen Monument oder in einer Inschrift einen Hinweis darauf, wo das Grabmal des Pharao liegt.« Er seufzte und sagte: »Alle diese voreiligen Schlüsse befrie digen mich nicht. Haben Sie noch irgendwelche anderen Hin weise?« »Das ist alles«, sagte sie, aber das genügte ihm nicht. »Das ist alles? Nichts weiter?« wollte er wissen. Sie schüttel te den Kopf. »Nehmen wir an, was Sie gesagt haben, sei richtig. Nehmen wir weiter an, daß der Flußlauf im wesentlichen der gleiche geblieben ist wie vor fast viertausend Jahren und daß Taita uns tatsächlich zum zweiten Wasserfall an die Stelle führen will, wo der Nebenfluß Dandera in den Blauen Nil mündet. Wonach müssen wir dort suchen? Wenn es eine Inschrift auf der Fels wand gegeben hat – wird sie noch lesbar sein, oder ist sie im Lauf der Zeit durch Witterungseinflüsse und das vorbeifließen de Wasser ausgewaschen?« »Howard Carter hatte seinerzeit auch nur ganz wenige Hin weise auf die Grabkammer des Tut-ench-Amun«, entgegnete sie. »Es war ein einziger Papyrus, dessen Echtheit man bezwei feln konnte.« »Howard Carter wußte, daß das Grab im Tal der Könige lag, und er hat zehn Jahre gebraucht, es zu finden«, erwiderte er. »Sie haben mich auf ganz Äthiopien angesetzt, ein Land, das doppelt so groß ist wie Frankreich. Wie lange, glauben sie, werden wir suchen müssen?«
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Sie stand verärgert auf. »Sie müssen mich jetzt entschuldi gen. Ich glaube, ich sollte meine Mutter im Krankenhaus besu chen. Hier verschwende ich offenbar nur meine Zeit.« »Die Besuchszeit hat noch nicht angefangen«, sagte er. »Sie liegt in einem Privatzimmer.« Royan ging zur Tür. »Ich werde sie zum Krankenhaus fahren«, sagte er. »Bemühen Sie sich nicht. Ich werde ein Taxi kommen las sen«, antwortete sie kühl. »Es wird eine Stunde dauern, bis das Taxi hier ist«, erwider te er. Schließlich gab sie nach und ließ sich von ihm zum Ran gerover begleiten. Die ersten fünfzehn Minuten der Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander, dann sagte er zu ihr: »Es fällt mir schwer, mich zu entschuldigen. Ich habe nicht oft die Gelegenheit dazu. Aber ich muß Sie um Verzeihung bitten. Ich war unhöflich, und das war nicht meine Absicht. Ich habe mich hinreißen lassen.« Sie antwortete nicht, und nach einer Minute sagte er: »Sie werden schon mit mir sprechen müssen, wenn wir nicht dazu übergehen wollen, uns nur schriftlich zu verständigen. Unten in der Schlucht des Blauen Nil wird das nicht so einfach sein.« »Ich hatte den Eindruck, daß Sie kein Interesse mehr an die sem Unternehmen hätten«, erwiderte sie schließlich und starrte ungerührt geradeaus. »Ich bin ein Untier«, suchte er sie zu besänftigen. Sie sah ihn von der Seite an und mußte sich geschlagen geben. Sein breites Lächeln war unwiderstehlich, und sie lachte. »Ich nehme an, ich werde mich damit abfinden müssen. Sie sind ein Untier.« »Und sind wir noch Partner?« fragt er. »Im Augenblick sind Sie das einzige Untier, das ich habe. Ich bin auf Sie angewiesen.« Er setzte sie am Haupteingang des Krankenhauses ab. »Um drei Uhr werde ich Sie hier abholen,« sagte er und fuhr zurück
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in die Stadt. Seit seiner Studienzeit stand ihm eine kleine Wohnung in ei ner der engen Nebenstraßen hinter der Kathedrale von York zur Verfügung. Im Grundbuch war die Cayman Island Compa ny als Eigentümer des Gebäudes eingetragen, und das Telefon in der Wohnung war nicht an das allgemeine Telefonnetz ange schlossen. Daß er selbst der Eigentümer war, ließ sich bei kei ner Behörde feststellen. Bevor er Rosalind kennenlernte, hatte diese Wohnung in seinem Privatleben eine wichtige Rolle ge spielt. Doch gegenwärtig benutzte Sir Nicholas sie nur für ver trauliche Besprechungen über Unternehmungen, die nicht in der Öffentlichkeit bekannt werden sollten. Die Expeditionen nach Libyen und in den Irak waren hier vorbereitet und organi siert worden. In der Wohnung war es kalt, feucht und ungemütlich, denn er war schon seit Monaten nicht mehr hier gewesen. Er zündete den Gasherd an und stellte einen Kessel Wasser aufs Feuer. Mit einer Kanne heißen Tee setzte er sich ans Telefon und meldete ein Gespräch bei einer Bank in Jersey und anschlie ßend bei einer zweiten Bank auf den Cayman Inseln an. »Eine kluge Ratte hat mehr als einen Ausgang aus ihrem Versteck.« Das war schon seit Generationen ein in seiner Fami lie befolgter Grundsatz. Deshalb gab es auch immer eine ge wisse Reserve für den Notfall. Für die geplante Expedition würde er Geld brauchen, und die Anwälte hatten alle übrigen Guthaben bereits aufgeteilt. Er nannte den Bankdirektoren das jeweilige Kennwort und die Kontonummern und wies sie an, ihm bestimmte Summen zu überweisen. Es erstaunte ihn jedesmal, wie leicht sich Dinge erledigen ließen, wenn man über das notwendige Geld verfüg te. Er sah auf die Uhr. In Florida war es noch früher Morgen, aber Alison nahm den Hörer schon beim zweiten Läuten ab.
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Alison war die tüchtige Blondine, die die Firma Global Safaris leitete, ein Unternehmen, das Reisen in abgelegene Gegenden überall auf der Welt für Jäger und Fischer organisierte. »Hallo, Nick. Wir haben seit mehr als einem Jahr nichts mehr von Ihnen gehört. Wir glaubten schon, Sie liebten uns nicht mehr.« »Ich habe eine Zeitlang anderes zu tun gehabt«, erwiderte er. Wie könnte man in einer solchen Situation jemandem sagen, daß die eigene Frau und zwei Töchter bei einem Unfall ums Leben gekommen waren? »Äthiopien?« Das schien sie nicht zu überraschen. »Wann soll die Reise beginnen?« »Wäre es schon nächste Woche möglich?« »Das muß ein Scherz sein. Wir arbeiten dort nur mit einem einzigen Berufsjäger. Das ist Nassous Roussos, und er ist zwei Jahre im voraus ausgebucht.« »Gibt es dort sonst niemanden?« drängte er sie. »Ich muß noch vor dem großen Regen wieder zurück sein.« »Was wollen Sie schießen? Bergantilopen? Buschböcke?« »Ich habe vor, mich am Blauen Nil nach Antiquitäten für mein Museum umzusehen.« Mehr wollte er ihr nicht sagen. Nach einem letzten Versuch, den Termin hinauszuzögern, sagte sie schließlich: »Ich kann Ihnen jemanden nennen, aber nicht ausdrücklich empfehlen. Ich hoffe, Sie haben mich richtig verstanden. Es gibt nur einen Jäger, der sich Ihnen vielleicht sofort zur Verfügung stellen wird, ich weiß aber nicht einmal, ob er ein Camp am Blauen Nil hat. Es ist ein Russe, und es gibt Leute, die behaupten, er sei Mitglied des KGB gewesen und habe zu der Bande von Halsabschneidern um Mengistu ge hört.« Mengistu war der »schwarze Stalin«, der den alten Kaiser Haile Selassie gestürzt und dann ermordet hatte, und als marxi stischer Despot hatte er Äthiopien in sechzehn Jahren auf die
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Knie gezwungen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, die ihn politisch unterstützt hatte, war Mengistu entmachtet worden und geflohen. »Mir ist mein Vorhaben wichtig genug, daß ich sogar mit dem Teufel zu Bett gehen würde«, sagt er. »Ich verspreche Ihnen, ich werde mich bei meiner Rückkehr über nichts be schweren.« »Okay, ich verlasse mich darauf.« Sie gab ihm einen Namen und eine Telefonnummer in Adis Abeba. »Ich liebe Sie, Alison, mein Schatz«, sagte Nicholas. »Das wünsche ich mir«, erwiderte sie und legte den Hörer auf. Er rechnete nicht damit, daß es leicht sein würde, nach Adis Abeba durchzukommen, und hatte recht. Aber schließlich ge lang es ihm doch. Eine Frau mit einem süßlich lispelnden, äthiopischen Akzent meldete sich, und als er nach Boris Brusi low fragte, erwiderte sie in fließendem Englisch: »Er ist draußen auf Safari. Ich bin Woizero Tessay, seine Frau.« In Äthiopien nimmt die Ehefrau nicht den Namen ihres Mannes an. Sir Nicholas beherrschte die äthiopische Sprache so weit, daß er diesen Namen ins Englische übersetzen konnte. Er bedeutete »Frau Sonne«, ein hübscher Name. »Aber wenn es sich um eine Safari handelt, dann kann auch ich Ihnen helfen«, sagte Frau Sonne. Sir Nicholas holte Royan am Haupteingang des Krankenhau ses ab. »Wie geht es Ihrer Mutter?« »Das Bein scheint gut zu verheilen, aber sie ist immer noch verzweifelt über den Verlust ihres Hundes Magic.« »Sie werden ihr einen Welpen schenken müssen. Einer mei ner Jagdaufseher züchtet erstklassige Springerspaniels. Ich
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könnte Ihnen einen besorgen.« Doch dann wechselte er das Thema und fragte vorsichtig: »Werden Sie Ihre Mutter jetzt alleinlassen können? Ich meine, wenn wir nach Afrika gehen?« »Ich habe das schon mit ihr besprochen. Eine Frau aus ihrer Kirchengemeinde würde bei ihr bleiben, bis sie sich so weit erholt hat, daß sie selbst für sich sorgen kann.« Royan wandte sich ihm zu und sah ihm ins Gesicht. »Seit unserem letzten Zusammensein führen Sie irgend etwas im Schilde«, sagte sie. »Ich sehe es in Ihrem Gesicht.« Er machte das arabische Zeichen gegen den bösen Blick: »Allah bewahre mich vor Hexen!« »Hören Sie doch auf!« Er konnte sie so leicht zum Lachen bringen, und sie wußte nicht, ob das gut war oder nicht. »Sagen Sie mir, was Sie vorhaben.« »Warten Sie, bis wir im Museum sind.« Er ließ sich nicht erweichen, und sie mußte ihre Ungeduld zügeln. Dort angekommen führte er sie durch die ägyptische Aus stellung in den Saal mit den afrikanischen Säugetieren und blieb vor einem Diorama mit ausgestopften Antilopen stehen. Das waren kleinere und mittelgroße Tiere – ein Impala, eine Thompsongazelle, eine Grantgazelle und ein Gerenuk. Er wies auf ein Tier in einer Ecke des Schaukastens. »Har pers dik-dik, das sogenannte gestreifte dik-dik.« Es war ein seltsames kleines Tier, nicht viel größer als ein ausgewachsener Hase. Das braune Fell zeigte schokoladenfar bene Streifen über den Schultern und über dem Rücken, und es hatte eine zu einem Rüssel verlängerte Nase. »Etwas unscheinbar«, sagte sie vorsichtig, um ihn nicht zu kränken, denn er schien besonders stolz auf dieses Exemplar zu sein. »Ist etwas Besonderes daran?« »Etwas Besonderes?« fragte er erstaunt. »Diese Frau fragt mich, ob es etwas Besonderes sei.« Er machte ein entsetztes Gesicht, und sie mußte über seine gutgespielte Empörung la
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chen. »Soweit man weiß, ist es das einzige Exemplar dieser Art. Es ist eines der seltensten Tiere der Welt. Wahrscheinlich ist diese Spezies mittlerweile ausgestorben. Viele Zoologen glauben sogar, es sei apokryph und habe in Wirklichkeit nie existiert. Sie verdächtigen meinen seligen Urgroßvater, nach dem es benannt ist, es erfunden zu haben. Ein Fachmann ver mutet sogar, er habe einem gewöhnlichen dik-dik das Fell eines gestreiften Mungo übergezogen. Kann man sich eine häßliche re Verleumdung vorstellen?« »Ich bin empört über diese Ungerechtigkeit«, lachte sie. »Und Sie haben recht damit. Wir werden nämlich nach Afri ka gehen und dort nach einem weiteren Exemplar des Mado qua harperii suchen, um die Ehre unserer Familie zu retten.« »Das verstehe ich nicht.« »Kommen Sie mit, ich werde Ihnen alles erklären.« Er ging mit ihr in sein Arbeitszimmer und nahm ein in rotes Saffianle der gebundenes Notizbuch in die Hand. Der Einband zeigte Wasserflecken und war von der tropischen Sonne ausgebleicht, und auch die Ecken und der Rücken waren beschädigt. »Es ist das Jagdtagebuch des alten Sir Jonathan«, erklärte er und schlug es auf. Zwischen den vergilbten Seiten lagen ge trocknete wilde Blumen und Blätter, die wahrscheinlich schon fast hundert Jahre alt waren. Außer dem Text enthielt es einfa che Zeichnungen von Menschen, Tieren und wilden Landschaf ten in verblaßter gelber Tinte. Sir Nicholas las das Datum über einer Seite. 2. Februar 1902. Im Camp am Abbay-Fluß. Den ganzen Tag der Fährte zwei großer Elefantenbullen gefolgt. Konnte sie nicht einholen. Sehr große Hitze. Meine Männer gaben auf und kehrten ins Camp zurück. Auf dem Weg dorthin sah ich eine kleine Antilope am Flußufer grasen. Ich erlegte sie mit einem Schuß der kleinen Rigbybüchse. Eine genaue Untersuchung
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ergab, daß sie zur Gattung Madoqa gehört. Es war jedoch eine Spezies, die ich noch nie gesehen habe; größer als das gewöhnliche dik-dik, und mit einem gestreiften Fell. Ich glaube, diese Spezies ist der Wissenschaft noch nicht bekannt. Er blickte auf und sagte: »Mein alter Urgroßvater Jonathan gibt uns damit eine glaubwürdige Rechtfertigung für die Expe dition in die Schlucht des Blauen Nil.« Er legte das Tagebuch wieder auf den Tisch und fuhr fort: »Wie Sie schon gesagt ha ben, müßten wir – abgesehen von den Kosten unserer Expedi tion – monatelang im voraus planen und organisieren. Das würde bedeuten, daß wir die Zustimmung und Genehmigung der ägyptischen Regierung einholen müßten. In Afrika kann so etwas Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern.« »Ich glaube nicht, daß die ägyptische Regierung ohne weite res bereit sein würde, uns zu helfen, wenn sie eine Ahnung von unseren wirklichen Absichten hätte«, stimmte sie ihm zu. »Andererseits gibt es einige mit Genehmigung der Regie rung arbeitende Unternehmen, die im ganzen Land Jagdsafaris veranstalten. Sie haben alle notwendigen Genehmigungen, Kontakte mit Regierungsstellen, Fahrzeuge, Campingausrü stung und logistische Unterstützung, die man braucht, um in die entlegensten Landesteile zu reisen und dort zu bleiben. Die Behörden sind es gewöhnt, daß sich ausländische Jäger an die se Unternehmen wenden und von ihnen betreut werden, wäh rend Leute, die versuchen, so etwas auf eigene Faust zu tun, sofort das Militär und die Polizei auf dem Hals hätten und von ihnen verfolgt würden wie von einer wildgewordenen Herde Büffel.« »Wir werden uns also als ein paar dik-dik-Jäger auf den Weg machen?« »Ich habe unser Unternehmen schon bei einem Safariausrü ster in der äthiopischen Hauptstadt Adis Abeba gebucht. Nach
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meinem Plan sollte unser Vorhaben in drei aufeinanderfolgen den, getrennten Phasen ablaufen. Die erste Phase wird diese Erkundung sein. Wenn wir die Hinweise finden, auf die wir hoffen, werden wir mit unseren eigenen Leuten und unserer eigenen Ausrüstung zurückkehren. Das wird die zweite Phase sein. In der dritten Phase werden wir unsere Beute aus Äthiopi en herausbringen müssen, und ich kann Ihnen aus meiner eige nen Erfahrung versichern, das wird nicht der einfachste Teil des Unternehmens sein.« »Wie werden Sie dabei vorgehen –«, wollte sie wissen, aber er hob die Hände. »Fragen Sie mich nicht, heute habe auch ich noch keine Vor stellung davon, wie uns das gelingen könnte. Eines nach dem anderen!« »Wann brechen wir auf?« »Bevor ich Ihnen das sage, noch eine Frage. Haben Sie Ihre Interpretation des Rätsels von Taita auch in den Notizen erläu tert, die man Ihnen in der Oase gestohlen hat?« »Ja, es tut mir wirklich leid, aber das alles stand entweder in den Notizen oder war auf dem Mikrofilm festgehalten.« »So verfügen diese Schweinehunde über alle Erklärungen und Erläuterungen, die sie mir gegeben haben.« »Ich fürchte, ja.« »Dann kann ich Ihnen auf Ihre Frage nach dem Termin unse rer Abreise nur sagen, sofort und je eher desto besser. Wir müssen in der Schlucht sein, bevor unsere Konkurrenten uns eingeholt haben, denn sie verfügen schon seit fast einem Monat über die notwendigen Informationen. Vermutlich sind sie längst unterwegs.« »Also wann?« fragte sie ungeduldig. »Ich habe zwei Plätze in der Maschine der British Airways gebucht, die am Samstag nach Nairobi fliegt, das heißt, in zwei Tagen. Dort haben wir Anschluß an eine Maschine von Air
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Kenya nach Adis Abeba, wo wir am Montag um die Mittags zeit eintreffen werden. Heute abend fahren wir nach London in mein Haus. Sind Sie gegen Gelbfieber und Hepatitis geimpft?« »Ja. Aber ich habe kaum etwas anzuziehen. Ich mußte Kairo in ziemlicher Eile verlassen.« »Das können wir alles in London erledigen. Das Schlimme ist, daß es in den äthiopischen Bergen so kalt ist, daß sogar ein Eisbär erfrieren würde, während es in der Schlucht so heiß ist wie in einer Sauna.« Sie gingen hinüber zur Wandtafel und überprüften die Liste der noch zu erledigenden Dinge. »Wir werden sofort mit der Malariaprophylaxe beginnen. In dem Gebiet, das wir besuchen werden, gibt es die chloroquinresistente Mücke P. faldparum. Deshalb werde ich Sie auf Mefloquin setzen –«. Er ging rasch die ganze Liste durch. »Ihre Reisedokumente sind natürlich alle in Ordnung, sonst wären Sie nicht hier. Wir beide brauchen aber Visa für Äthio pien. Ich kenne jemanden, der sie uns innerhalb von vierund zwanzig Studen besorgen kann.« Nachdem er sich alles notiert hatte, schickte er sie nach oben in ihr Zimmer und bat sie, die wenigen persönlichen Dinge, die sie aus Kairo mitgebracht hatte, zusammenzupacken. Als sie Quenton Hall verließen, war es draußen schon dun kel, er ließ ihr aber noch eine Stunde Zeit, um sich im York Minster Hospital von ihrer Mutter zu verabschieden. Er wartete im Red Lion Pub auf der anderen Straßenseite, und als sie sich in den Rangerover neben ihn setzte, roch er nach Theakston’s Old Peculier. Es war ein angenehmer Hefegeruch, und sie fühl te sich in seiner Gegenwart so sicher und entspannt, daß sie sich zurücklehnte und einschlief.
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Sein Haus in London lag in Knightsbridge, doch obwohl es eine vornehme Gegend war, war es weniger aufwendig einge richtet als Quenton Hall, und Royan fühlte sich dort schnell wie zu Hause, auch wenn sie nur zwei Tage bleiben wollten. Während dieser Zeit ließ sich Nicholas nur selten sehen, da er viel mit den letzten Vorbereitungen zu tun hatte, und dazu ge hörten auch einige Besuche bei Regierungsbehörden in White hall. Er brachte einen ganzen Packen Empfehlungsschreiben hoher Beamter an britische Botschaften und Hochkommissare in ganz Ostafrika mit. Sie lächelte und dachte: Jeder Engländer würde behaupten, heute gebe es keine Privilegien mehr für die Angehörigen der Oberklasse und auch nicht mehr das Beziehungsnetz zwischen den einflußreichen ›alten Knaben‹, die bestimmen, was gespielt wird. In seiner Abwesenheit machte sie die Besorgungen, die auf seiner Liste standen. Doch selbst auf den Straßen der sichersten Hauptstadt der Welt hatte sie das Gefühl, sich ständig umsehen zu müssen, um festzustellen, ob irgend jemand sie verfolgte; auch beim Betreten von Damentoiletten und in U-Bahn stationen war sie äußerst vorsichtig. Ich benehme mich wie ein ängstliches Kind ohne seinen Daddy, warf sie sich vor. Doch jedesmal, wenn sie hörte, wie er abends die Tür des leerstehenden Hauses aufschloß, in dem sie auf ihn wartete, war sie unendlich erleichtert und wäre am liebsten die Treppe hinuntergelaufen, um ihn zu begrüßen. Als das Taxi sie am Samstag morgen an der Abflughalle Vier am Flughafen von Heathrow absetzte, stellte Nicholas mit Befriedigung fest, daß sie beide nur das notwendigste Gepäck mitgenommen hatten. Das ihre bestand aus einer Segeltuch
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reisetasche, die nicht größer war als seine, und einer Schulter tasche. Sein Jagdgewehr steckte in einem abgenutzten Leder futteral mit seinen Initialen auf dem Deckel. Die Munition, es waren hundert Patronen, war in einer Patronentasche verpackt. Dazu hatte er eine lederne Aktentasche mitgenommen, die aus sah wie ein Andenken aus Viktorianischer Zeit. »Mit leichtem Gepäck zu reisen, ist eine der großen Tugen den. Der Herr bewahre uns vor Frauen mit ganzen Bergen von Gepäck«, sagte er. Er nahm keinen Gepäckträger, sondern legte alles auf einen Gepäckwagen, den er selbst zur Abfertigung schob. Sie mußte sich anstrengen, mit ihm Schritt zu halten, als er ihr durch das Gedränge in der Abfertigungshalle vorausging. Sonderbarerweise machten die Menschen ihm sofort Platz. Er zog die Krempe seines Panamahuts über das eine Auge und lächelte das junge Mädchen bei der Abfertigung freundlich an, die sofort dienstbereit auf ihn zukam. Im Flugzeug war es das gleiche. Die beiden Stewardessen kicherten bei allem, was er sagte, boten ihm Champagner an und bemühten sich so auffallend um ihn, daß es die anderen Passagiere, aber auch Royan irritierte. Aber sie kümmerte sich nicht um ihn und die Mitreisenden, sondern genoß den unge wohnten Luxus des bequemen Sitzes in der ersten Klasse und den kleinen Bildschirm vor sich. Zunächst versuchte sie, sich auf den Film mit Richard Gere zu konzentrieren, aber schon sehr bald tauchten vor ihrem geistigen Auge ganz andere Bil der von zerklüfteten Canyons und antiken steinernen Schriftta feln auf. Erst als Nicholas sie am Arm berührte, sah sie ihn etwas hochmütig an. Er hatte ein kleines Reiseschach auf die Arm lehne zwischen ihnen gelegt und neigte auffordernd den Kopf zur Seite. Als sie auf dem Jomo-Kenyatta-Flughafen in Kenia landeten,
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waren sie immer noch vom Schachspiel gefesselt. Sie hatten beide eine Partie gewonnen, aber bei der dritten, entscheiden den, hatte Royan einen Läufer und zwei Bauern mehr und war durchaus zufrieden mit ihrer Leistung. Im Norfolk-Hotel in Nairobi hatte er zwei Gartenbungalows gebucht. Zehn Minuten, nachdem sie sich auf ihr Bett gelegt hatte, rief er sie über das Haustelefon an. »Der britische Hochkommissar hat uns zum Abendessen eingeladen. Er ist ein alter Freund von mir. Keine Abendtoilet te! Ziehen Sie sich ganz normal an. Können Sie um acht Uhr fertig sein?« Sie dachte, wenn man mit diesem Mann eine Weltreise un ternimmt, muß man sich keinen Zwang antun. Es war ein verhältnismäßig kurzer Flug von Nairobi nach Adis Abeba, und die Landschaft zog unter ihnen in stets wech selnden, faszinierenden Formen vorüber, die sie so sehr fessel ten, daß sie wie gebannt aus dem Fenster der Maschine der Air Kenya nach unten blickte. Der silbern schimmernde Gipfel des Mount Kenya war, was nur selten vorkam, frei von Wolken, und die beiden schneebedeckten Bergspitzen leuchteten im Licht der hochstehenden Sonne. Die eintönige braune Wüste des nördlichen Grenzbezirks wurde nur unterbrochen durch die grünen Hügel, die die Oase von Marsabit umschlossen, und weit draußen an der Backbord seite sah man die glitzernde Wasserfläche des Turkana-Sees, der zur Kolonialzeit Rudolfsee hieß. Schließlich wich die Wü ste der Hochebene des großen zentralen Plateaus im altehrwür digen Äthiopien. »In Afrika läßt sich nur die ägyptische Zivilisation weiter zu rückverfolgen als die Äthiopiens«, sagte Nicholas, während sie beide hinausblickten. »Die Äthiopier waren schon ein Kultur
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volk, als die Völker im Norden sich noch in ungegerbte Felle kleideten und in Höhlen lebten. Als die Europäer noch Heiden waren und ihre alten Götter Pan und Diana verehrten, waren sie schon Christen.« »Sie waren bereits ein Kulturvolk, als Taita vor fast viertau send Jahren hierherkam«, stimmte sie ihm zu. »In seinen Schriftrollen erkennt er sie fast als kulturell ebenbürdig an, und das hat er nur selten getan. Alle anderen Nationen der alten Welt waren nach seiner Auffassung den Kulturvölkern am Nil in jeder Weise unterlegen.« Aus der Luft sah Adis Abeba aus wie viele andere afrikani sche Städte, eine Mischung aus Altem und Neuem, aus tradi tionellen und exotischen Baustilen, strohgedeckte Dächer ne ben Wellblech und Ziegeln. Die runden Wände der alten, aus Schlamm und Flechtwerk gebauten Lehmhütten bildeten einen scharfen Gegensatz zu den rechtwinkligen Formen und geome trischen Grundrissen der aus roten Ziegeln errichteten, mehr stöckigen Gebäude, zu den großen Wohnblocks und den Villen der Wohlhabenden, den Regierungsgebäuden und dem großar tigen, flaggengeschmückten Hauptquartier der Organisation der Afrikanischen Einheit. Die Landschaft in der Umgebung der Stadt war gekenn zeichnet von den hohen Eukalyptusbäumen und den überall wachsenden Affenbrotbäumen, die das Feuerholz lieferten. Das war das einzige Brennmaterial, das vielen Menschen in diesem armen und von Kriegen heimgesuchten Land zur Verfügung stand. Nach Nairobi war die Luft in diesem höhergelegenen Gebiet kühl und angenehm, als Royan und Nicholas aus dem Flugzeug stiegen und über die Rollbahn zum Flughafengebäude gingen. Als sie es betraten, rief ihn jemand beim Namen, und zwar noch bevor sie zu den wartenden Zollbeamten und Grenzpoli zisten kamen.
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»Sir Nicholas!« Sie drehten sich um, und eine hochgewach sene junge Frau kam auf sie zu, mit den eleganten Bewegungen einer Tänzerin. Sie hatte ein zartes dunkles Gesicht und be grüßte sie mit einem gewinnenden Lächeln. Sie trug das hier übliche, bis zu den Knöcheln reichende, lange Gewand, das den Reiz ihrer Bewegungen noch erhöhte. »Willkommen in meiner Heimat Äthiopien. Ich bin Woizero Tessay.« Dann blickte sie Royan aufmerksam an und sagte: »Und Sie müssen Woizero Royan sein.« Sie reichte ihr die Hand, und Nicholas sah auf den ersten Blick, daß die beiden Frauen einander sympathisch waren. »Wenn Sie mir Ihre Pässe geben, dann werde ich die Forma litäten erledigen, während Sie es sich im Warteraum erster Klasse bequem machen. Dort wartet auch ein Herr von Ihrer britischen Botschaft auf Sie, Sir Nicholas, der Sie begrüßen will. Ich weiß nicht, wie er erfahren hat, daß Sie heute hier an kommen werden.« Hier erwartete sie allerdings nur ein Mann. Er trug einen gutgeschnittenen Tropenanzug mit einer gelb und blau diago nal gestreiften, alten Sandhurstkrawatte. Er stand auf und kam auf Nicholas zu. »Nicky, wie geht es Ihnen? Schön, Sie wie derzusehen. Seit unserem letzten Zusammensein sind wohl schon zwölf Jahre vergangen, habe ich recht?« »Hello, Geoffrey. Ich hatte keine Ahnung, daß man Sie hier herverbannt hat.« »Militärattaché. Seine Exzellenz hat mich zu Ihnen ge schickt, als er hörte, daß wir zur gleichen Zeit in Sandhurst gewesen sind.« Geoffrey sah interessiert zu Royan hinüber, und Nicholas machte sie miteinander bekannt, aber nicht, ohne sie zu warnen. »Geoffrey Tennant. Sehen Sie sich vor. Der größte Frauen held nördlich des Äquators. Keine junge Frau ist sicher vor ihm.«
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»Nur nicht übertreiben«, wehrte sich Geoffrey, fühlte sich im Grunde aber doch geschmeichelt. »Bitte glauben Sie ihm kein Wort, Dr. Al Simma. Dieser Mann ist ein notorischer Schwind ler.« Geoffrey nahm Nicholas beiseite, um ihn in aller Kürze über die gegenwärtigen Verhältnisse in Äthiopien zu unterrichten, besonders in den abgelegenen Gebieten. »Er macht sich Sor gen. Es will ihm nicht gefallen, daß Sie in dieser Gegend allein umherstreifen wollen. Es gibt dort eine Menge Gauner, vor denen man sich in acht nehmen muß. Ich habe ihm gesagt, daß Sie durchaus in der Lage sind, mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden.« Nach erstaunlich kurzer Zeit kam Woizero Tessay zurück und meldete stolz: »Ich habe Ihr Gepäck durch alle Kontrollen gebracht, auch Ihr Gewehr und die Munition. Dies ist Ihre vor läufige Aufenthaltsgenehmigung. Sie müssen Sie, solange Sie in Äthiopien sind, ständig bei sich haben. Hier sind auch Ihre Pässe. Die Visa sind eingetragen, abgestempelt und in Ord nung. Die Maschine zum Tana-See startet in einer Stunde. Wir haben also reichlich Zeit, uns anzumelden.« »Wann immer Sie einen Job suchen, melden Sie sich bei mir«, sagte Nicholas anerkennend. Geoffrey Tennant begleitete sie bis an die Sperre und verab schiedete sich: »Selbstverständlich stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. ›Diene, wenn du führen willst‹, Nicky.« »›Diene, wenn du führen willst‹?« fragte Royan, als sie über die Rollbahn zum Flugzeug gingen. »Das ist das Motto von Sandhurst, unserer KöniglichBritischen Militärakademie«, erklärte er. »Wie hübsch, Nicky«, sagte sie leise. »Nennen Sie mich lieber Nicholas«, erwiderte er. »Ja, aber Nicky ist so nett.«
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In der dünnen Luft neigte sich die Maschine vom Typ Twin Otter zur Seite und nahm, getragen von dem aufsteigenden Aufwind der Berge, Kurs nach Norden zu ihrem endgültigen Reiseziel. Trotz der Flughöhe von etwa fünftausend Metern über dem Meeresspiegel konnten sie die unter ihnen liegenden Dörfer und die landwirtschaftlich genutzten Flächen in deren Umkreis deutlich erkennen. Auf diesem kargen Boden hat sich im Lauf der Jahrhunderte nur eine sehr primitive Acker- und Weide wirtschaft entwickeln können. Neben den wenigen Äckern und den von Schaf- und Ziegenherden genutzten Weideflächen gibt die dünne Schicht roter Erde an vielen Stellen den felsigen Un tergrund frei. Unmittelbar vor ihnen öffnete sich die Hochebene, die sie überflogen, zu einer gewaltigen Schlucht. Man hatte den Ein druck, hier sei die Erde mit einem mächtigen Schwertstreich bis tief in ihr Inneres gespalten worden. »Der Fluß Abbay!« Tessay beugte sich nach vorn und tippte Royan auf die Schulter. Der Rand der Schlucht war deutlich zu erkennen. Von dort fiel der Abhang in einem Winkel von mehr als dreißig Grad in die Tiefe. Die offene Hochebene reichte bis unmittelbar an die dicht bewaldeten Hänge heran, die zur Schlucht hinaufführten. Sie konnten deutlich die schirmförmigen Umrisse der riesigen Euphorbien erkennen, die sich über dem dichten Dschungel erhoben. An einigen Stellen waren die Steilwände zusammen gestürzt und von losem Geröll bedeckt, an anderen hatten sich die Gesteinsbrocken zu hohen Türmen und spitzen Zacken auf getürmt, aus denen die Erosion abenteuerliche Gestalten ge schaffen hatte, die zum Teil aussahen wie steinerne menschli che oder tierische Ungeheuer. Während die Maschine die Schlucht überflog, konnten sie bis in eine Tiefe von mehr als tausendsechshundert Metern
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hineinsehen, bis auf die das Licht des Himmels wiederspie gelnde Oberfläche des Flusses. Der trichterförmige obere Teil des Abhangs bildete an der Stelle einen zweiten Rand, wo die Felswand begann, die über etwa einhundertdreißig Meter senk recht bis zum Fluß hinunterreichte. Dort unten zwischen den unzugänglichen Klippen bildete der Blaue Nil dunkle, unbe wegte Tümpel und lange glitzernde Stromschnellen, die durch den roten Sandstein glitten. Stellenweise war die Schlucht vierundsechzig Kilometer breit, an anderen Stellen verengte sie sich bis auf tausendsechshundert Meter, aber auf ihrer ganzen Länge war sie ein überwältigendes, in seiner Verlassenheit und Wildheit mit nichts anderem zu vergleichendes Stück Natur. Der Mensch hatte hier keine Spuren hinterlassen. »Bald werden Sie dort unten sein«, sagte Tessay mit leiser Stimme, und dann schwiegen sie beide, denn bei einem solchen Anblick ist es nicht mehr möglich, das, was man angesichts dieser ungebändigten Natur empfindet, mit Worten zum Aus druck zu bringen. Fast erleichtert stellten sie fest, daß die Felswand im Norden, der sie sich jetzt näherten, immer steiler wurde, und die Gipfel der Bergkette vor ihnen sich höher vor dem blauen afrikani schen Himmel abzeichneten als die Flugbahn ihrer kleinen zer brechlichen Maschine. Während das Flugzeug zur Landung ansetzte, zeigte Tessay nach rechts über die Tragfläche und sagte. »Der Tana-See.« Es war eine weite, malerisch gelegene und mehr als achtzig Kilometer lange Wasserfläche mit zahlreichen Inseln, und auf jeder dieser Inseln erkannte man ein Kloster oder eine alte Kir che. Während sie sich dem Landeplatz im Tiefflug über dem Wasser näherten, sahen sie einen Priester in weißer Robe, der sein kleines Boot aus Papyrusbündeln auf eine dieser Inseln zusteuerte.
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Die Otter landete auf dem unbefestigten Landestreifen neben dem See und wirbelte beim Ausrollen eine große Staubwolke auf. Sie drehte bei, und der Pilot schaltete die Motoren aus, als er die Maschine vor dem verwahrlosten, strohgedeckten Flug hafengebäude abstellte. Die Sonne schien so hell, daß Nicholas eine Sonnenbrille aus der Brusttasche seiner Khakijacke nahm und sie aufsetzte, während er noch in der offenen Tür der Maschine stand. Auf den schmutzigweißen Wänden des Flughafengebäudes sah er deutlich die Spuren der Einschläge von Infanteriegeschossen und Granatsplittern, und im Gras am Rand der Startbahn stand ein ausgebrannter russischer C-35-Panzer. Das Geschützrohr in seinem Turm war auf die Erde gerichtet, und zwischen den verrosteten Ketten wuchs das Gras. Hinter Nicholas warteten die anderen Passagiere ungeduldig und laut schwatzend darauf, ihre Freunde und Verwandten be grüßen zu können, die sich zu ihrem Empfang im Schatten der Eukalyptusbäume neben dem Flughafengebäude versammelt hatten. Dort parkte nur ein einziges Fahrzeug, ein sandfarbener Toyota Land Cruiser. Eine runde Scheibe auf der Fahrertüre zeigte den Kopf einer Berggazelle mit langen korkenzieherarti gen Hörnern, und darunter standen die Worte »Wild Chase Safaris«. Hinter dem Lenkrad hatte es sich ein weißer Mann bequem gemacht. Als Nicholas hinter den beiden Frauen aus dem Flugzeug stieg, kam ihnen der Mann entgegen. Er trug einen verbliche nen Khakijagdanzug. Er war schlank und hochgewachsen und zog beim Gehen das eine Bein ein wenig nach. Er hatte einen ergrauten Bart, und Nicholas schätzte ihn auf Mitte Vierzig. Ein rücksichtsloser Bursche, dachte Nicholas. Er hatte rötliches, kurzgeschnittenes Haar, und die blaßblauen Augen verstärkten den ersten Eindruck, den Nicholas von ihm hatte. Eine weiße Narbe über der einen Wange hatte die Nase
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nach einer Seite verschoben. Tessay machte ihn zuerst mit Royan bekannt, der er mit ei ner kurzen Verbeugung die Hand schüttelte. »Enchanté«, sagte er mit einem scheußlichen französischen Akzent und wendete sich dann Nicholas zu. »Das ist mein Mann, Alto Boris«, stellte Tessay ihn vor. »Boris, das ist Alto Nicholas.« »Mein Englisch ist schlecht«, sagte Boris, »mein Franzö sisch ist besser.« Wir können uns also nur für eine dieser beiden Sprachen ent scheiden, dachte Nicholas, wendete sich mit freundlichem Lä cheln an den Russen und sagte: »Dann werden wir französisch sprechen. Bonjour Monsieur Brusilow. Es freut mich, Ihre Be kanntschaft zu machen.« Damit reichte er ihm die Hand. Boris ergriff sie und drückte sie kräftig – zu kräftig. Er woll te Nicholas auf die Probe stellen, aber dieser hatte schon damit gerechnet. Er kannte diesen Typ und hatte deshalb die Hand des Russen so fest umschlossen, daß er ihm nicht die Finger zerquetschen konnte. Sein freundliches Lächeln ließ nicht er kennen, daß er sich dabei anstrengen mußte. Schließlich gab Boris als erster die Hand des anderen Mannes frei, und in sei nen blaßblauen Augen zeigte sich ein Schimmer von Respekt. »Sie sind also gekommen, um einen dik-dik zu schießen?« fragte er in leicht spöttischem Ton. »Die meisten meiner Kun den haben es auf Elefanten oder zumindest auf Bergantilopen abgesehen.« »Die Jagd auf Großwild ist für mich zu nervenaufreibend«, grinste Nicholas, »ein dik-dik ist für mich gerade das richtige.« »Sind Sie schon einmal dort unten in dieser Schlucht gewe sen?« wollte Boris wissen. Sein stark russisch gefärbtes Fran zösisch war schwer zu verstehen. »Sir Nicholas gehörte zu den Führern der Expedition zur Er kundung des Flußlaufs im Jahr 1976«, sagte Royan, und es
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überraschte Nicholas, daß sie ihm unaufgefordert zu Hilfe kam. Sie hatte sofort den unausgesprochenen Antagonismus zwi schen den beiden Männern bemerkt. Boris brummte etwas in seinen Bart und wandte sich an sei ne Frau. »Hast du alle Vorräte besorgt, die wir für das Unter nehmen brauchen?« fragte er. »Ja, Boris«, erwiderte sie leise. »Sie sind noch an Bord des Flugzeugs.« Sie hat Angst vor ihm, dachte Nicholas, und ver mutlich mit gutem Grund. »Dann müssen wir sie jetzt umladen. Vor uns liegt eine lan ge Fahrt.« Die beiden Männer nahmen auf den vorderen Sitzen des Toyota Platz, und die Frauen setzten sich hinter sie zwischen die dort verstauten Ausrüstungsgegenstände und den Proviant. Das übliche afrikanische Verfahren dachte Nicholas; die Män ner zuerst, die Frauen müssen selbst für sich sorgen. »Sie wollen doch wohl nicht etwa die Touristenstrecke neh men?« fragte Boris, und es klang wie eine Warnung. »Die Touristenstrecke?« »Sie führt vom Abfluß des Sees über das Elektrizitätswerk zur Portugiesenbrücke«, erklärte er, »und dann weiter über die Schlucht bis zu dem Punkt, an dem der Blaue Nil beginnt.« Doch bevor Sie sich entscheiden konnten, fügte er warnend hinzu: »Wenn wir diesen Weg nehmen, werden wir erst nach Einbruch der Dunkelheit im Camp sein.« »Vielen Dank für den Vorschlag«, erwiderte Nicholas höf lich, »aber ich habe das alles schon gesehen.« »Gut.« Boris war einverstanden. »Brechen wir auf.« Die Straße zog sich in weitem Bogen nach Westen und un terhalb der hohen Berge entlang. Dies war der Gojam, das Land der eigenständigen Bergbauern. Es war dicht besiedelt, und unterwegs begegneten dem Lastwagen viele hochgewach sene, schlanke Männer mit gekreuzten Stangen über den Schul
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tern, die ihre Ziegen- und Schafherden die Straße entlangtrie ben. Männer und Frauen trugen sogenannte shammas, wollene Umhänge, und dazu weite, weiße Hosen. Die nackten Füße steckten in leichten Sandalen. Die stolzen, wohlgeformten Gesichter waren von einem dichten, buschigen Haarkranz eingerahmt, und sie blickten sie scharf an. Einige der jungen Frauen, die ihnen in den Dörfern begegneten, waren ausgesprochen schön. Die meisten Männer waren schwerbewaffnet. Sie trugen zweischneidige Säbel in ziselierten silbernen Scheiden und AK-47-Sturmgewehre. »Damit fühlen sie ich wie Helden«, lachte Boris. »Sehr tap fer, sehr macho.« Die Dörfer bestanden aus runden, strohgedeckten Lehmhüt ten und waren von Eukalyptus- und Sisalpflanzungen umge ben. Über den hohen Berggipfeln des Choke hatten sich purpur farbene Gewitterwolken zusammengezogen, aus denen sich hin und wieder ein Regenschauer ergoß. Wie Silbermünzen pras selten die dicken Tropfen gegen die Windschutzscheibe des Land Cruiser und verwandelten die Straße unter seinen Rädern in einen schlammigen Bach. Die Straße war in einem erbärmlichen Zustand. An manchen Stellen waren die Schlaglöcher so tief, daß selbst der vierrad angetriebene Toyota nicht weiterkam und Boris sich gezwun gen sah, seitwärts über das steinige Gelände auszuweichen. Oft kamen sie nur im Schrittempo voran, wurden aber trotzdem kräftig durchgerüttelt, wenn das Fahrzeug über diese Uneben heiten fuhr. »Diese verdammten Schwarzen denken nicht daran, die Straßen in Ordnung zu halten«, brummte Boris. »Offenbar ge fällt es ihnen, zu leben wie die Tiere.« Niemand äußerte sich dazu, aber Nicholas blickte in den Rückspiegel, um zu sehen, wie die Frauen darauf reagierten. Sie hatten verschlossene Ge
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sichter, und wenn sie die Bemerkung von Boris gekränkt hatte, dann ließen sie es sich nicht anmerken. Allmählich wurde der Zustand der Straße immer schlechter, denn ein starker Lastwagenverkehr hatte tiefe Rillen hinterlas sen. »Militärfahrzeuge?« fragte Nicholas mit lauter Stimme, um das Prasseln des Regens zu übertönen, und Boris brummte: »Zum Teil. Im Gebiet der Schlucht gibt es Banditen, gegen die das Militär vorgeht. Aber die meisten hier verkehrenden Fahr zeuge gehören Firmen, die nach bestimmten Mineralien su chen. Ein großes Unternehmen hat die Konzession, diese Res sourcen auszubeuten, und sie hat kürzlich mit ihren Bohrungen angefangen.« »Bisher sind uns noch keine Zivilfahrzeuge begegnet«, sagte Royan, »nicht einmal Busse für den zivilen Nahverkehr.« »Hinter uns liegt eine schreckliche Zeit in unserer langen, von vielen Unruhen gekennzeichneten Geschichte«, erklärte Tessay. »Unser Volk hat schon immer von der Landwirtschaft gelebt. Es hat eine Zeit gegeben, in der wir die Kornkammer Afrikas waren, aber als Mengistu an die Macht kam, hat er uns ins Elend getrieben. Für ihn war der Hunger eine politische Waffe, und wir leiden heute immer noch darunter. Nur sehr wenige unserer Landsleute können sich den Luxus eines eige nen Autos leisten. Die meisten wissen kaum, wie sie ihre Kin der satt kriegen sollen.« »Tessay hat an der Universität von Adis Abeba Wirtschafts wissenschaften studiert und einen akademischen Grad erwor ben«, lachte Boris. »Sie ist sehr klug. Sie weiß alles. Fragen Sie, sie kennt die Antwort. Geschichte, Religion, Wirtschafts wissenschaften – sie weiß Bescheid.« Tessay ließ die Zurecht weisung schweigend über sich ergehen. Am Nachmittag ließ der Regen nach, und die ersten Sonnen strahlen drangen durch die Wolken. In einer verlassenen Ge
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gend hielt Boris den Wagen an. »Pinkelpause«, verkündete er. »Zeit, Pipi zu machen.« Die beiden Frauen stiegen aus und verschwanden zwischen den Felsblöcken. Als sie zurückkamen, hatten sie sich umgezo gen. Beide trugen jetzt die landesüblichen wollenen Umschlag tücher und weite Hosen. »Tessay hat mir diese abessinische Tracht geschenkt«, sagte Royan und drehte eine Pirouette. »Das sieht gut aus«, sagte Nicholas, »und außerdem werden Sie sich in diesen Hosen sehr viel wohler fühlen.« Die Sonne näherte sich schon dem Horizont, als die Straße in ein Felstal hinunterführte, durch das ein Fluß mit steilen, aus gewaschenen Ufern floß. Über dem Fluß erhob sich eine runde, weißgetünchte Kirche mit einem hölzernen koptischen Kreuz auf dem schilfgedeckten Dach. Rings um die Kirche drängten sich die Lehmhütten eines Dorfes. »Das ist Debra Maryam«, sagte Boris und übersetzte stolz, »der Berg der Jungfrau Maria, und der Fluß ist der Dandera. Ich habe meine Männer in einem großen Lastwagen vorausge schickt. Sie werden das Lager inzwischen schon eingerichtet haben und auf uns warten. Heute übernachten wir hier, und morgen werden wir dem Flußlauf stromabwärts bis an den Rand der Schlucht folgen.« Seine Leute hatten die Zelte in einem Eukalyptushain auf der anderen Seite des Dorfes aufgeschlagen. »Das zweite Zelt ist Ihres«, sagte Boris. »Es eignet sich sehr gut für Royan«, sagte Nicholas. »Ich brauche ein eigenes Zelt.« »Dik-dik und getrennte Zelte«, Boris starrte ihn ungläubig an. »Sie sind schon ein Mordskerl. Sie imponieren mir.« Er ließ das Zelt für Nicholas dicht neben dem anderen auf stellen, so daß sich die Wände beinahe berührten. »Vielleicht werden Sie heute nacht mehr Mut zeigen«, grin
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ste er. »Dann haben Sie wenigstens nicht so weit zu gehen.« Die Dusche, unter der sie sich waschen konnten, war ein am Ast eines blauen Gummibaums aufgehängtes Wasserfaß, um geben von nach oben offenen Zeltbahnen. Royan benutzte sie als erste und kam fröhlich und erfrischt, mit einem um die Haa re gewickelten, feuchten Handtuch wieder heraus. »Sie sind an der Reihe, Nicky!« rief sie Nicholas zu, als sie an seinem Zelt vorbei kam. »Das Wasser ist schön warm.« Bis er sich gewaschen und umgezogen hatte, war es bereits dunkel geworden. Er ging hinüber zum Küchenzelt, vor dem sich die übrige Gesellschaft bereits auf Feldstühlen um ein of fenes Feuer versammelt hatte. Die beiden Frauen saßen etwas abseits und unterhielten sich, während Boris die Füße auf den niedrigen Tisch gelegt hatte und sich mit einem Glas in der Hand in seinem Stuhl zurücklehnte. Als Nicholas in den vom Feuer erleuchteten Kreis trat, zeigte er auf die Wodkaflasche. »Trinken Sie einen Schnaps! Das Eis ist im Eimer.« »Ich würde lieber ein Bier trinken«, sagte Nicholas. »Die Fahrt hat mich durstig gemacht.« Boris zuckte die Schultern und befahl dem Mann, der für die Getränke verantwortlich war, aus dem mit Gas betriebenen, tragbaren Kühlschrank eine braune Flasche zu holen. »Ich habe ein kleines Geheimnis für Sie«, wandte er sich an Nicholas und goß sich ein Glas Wodka ein. »Jetzt gibt es hier kein Tier mehr, das man als gestreiften dik-dik bezeichnen könnte, wenn es das überhaupt jemals gegeben hat. Sie ver schwenden nur Ihre Zeit und Ihr Geld.« »Sehr gut«, sagte Nicholas freundlich, »aber es ist meine Zeit und mein Geld.« »Daß irgendein alter Furz vor undenklichen Zeiten so ein Tier geschossen hat, bedeutet noch nicht, daß Sie jetzt eines finden werden. Statt dessen sollten wir zur Teepflanzung hi
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naufgehen, wo Sie einen Elefanten schießen könnten. Erst vor zehn Tagen habe ich dort drei kapitale Bullen gesehen. Sie ha ben Stoßzähne, die jeweils mehr als hundert Pfund wiegen.« Inzwischen hatte Boris die Wodkaflasche zur Hälfte ausge trunken. Als Tessay ihnen sagte, daß das Essen fertig sei, nahm Boris die Flasche mit. Auf dem Weg zum Tisch schwankte und stolperte er. Am Tischgespräch beteiligte er sich nicht, sondern knurrte nur verärgert: »Tessay, das Lammfleisch ist roh. War um sorgst du nicht dafür, daß der Koch uns keinen solchen Fraß vorsetzt? Man muß diese verdammten Affen bei allem beaufsichtigen, was sie tun.« »Ist Ihr Lammfleisch zu wenig durchgebraten, Alto Nicho las?« fragte Tessay, ohne ihren Mann anzusehen. »Ich kann es noch einmal aufs Feuer legen lassen.« »Es ist ausgezeichnet«, versicherte er. »Mir schmeckt es am besten, wenn es nicht ganz durchgebraten ist.« Als der Tisch abgeräumt wurde, war die Wodkaflasche leer, und Boris hatte ein rotes, aufgedunsenes Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und verschwand in Richtung seines Zeltes in der Dunkelheit. Dabei schwankte er hin und her und konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten. »Ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte Tessay leise. »Das ist nur abends so. Tagsüber ist er ganz in Ordnung. Es ist eine russische Gewohnheit, dieser Wodka.« Sie verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln, aber ihre Augen hatten einen traurigen Ausdruck. »Es ist ein so schöner Abend und noch zu früh, zu Bett zu gehen. Wollen Sie sich nicht die Kirche ansehen? Sie ist sehr alt und sehr schön. Einer unserer Leute wird uns eine Laterne bringen, damit Sie sich die Wandgemälde ansehen können.« Der Mann mit der Laterne ging voraus, und ein alter Priester wartete am Portal des Rundbaus, um sie zu begrüßen. Es war ein hagerer Mann, und nur seine weißen Zähne leuchteten im
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Halbdunkel. Er trug ein prächtiges koptisches Kreuz aus mas sivem Silber, in das Karneole und andere Halbedelsteine einge legt waren. Royan und Tessay knieten vor ihm nieder und baten um sei nen Segen. Er berührte ihre Wangen mit dem Kreuz, beugte das Knie vor ihnen und murmelte seinen Segen in amharischer Sprache. Dann führte er sie in das Innere der Kirche. Die Wände waren mit wunderschönen Gemälden in leuch tenden Primärfarben bedeckt. Im Licht der Laterne schimmer ten sie wie Edelsteine. Die Gemälde zeigten den typisch byzan tinischen Stil: Die Heiligen hatten große, schräggestellte Augen und goldene Heiligenscheine über den Köpfen. Über dem Altar mit seinem vergoldeten Rankenwerk hielt die heilige Jungfrau ihr Kind in den Armen, und vor ihr knieten anbetend die drei Weisen aus dem Morgenland und eine ganze Schar Engel. Ni cholas nahm seine Polaroidkamera aus der Tasche und stellte den Blitz ein. Dann machte er Aufnahmen von den Wandge mälden, während Tessay und Royan nebeneinander vor dem Altar knieten. Nachdem er alles aufgenommen hatte, was ihn interessierte, setzte er sich still auf eine der handgeschnitzten Kirchenbänke und blickte hinüber auf die andächtig betenden Frauen, auf deren Gesichtern das Kerzenlicht goldfarbene Reflexe warf. Die Schönheit dieses Augenblicks berührte ihn zutiefst. Ich wünschte, ich hätte solchen Glauben, dachte er wie schon so oft. In schweren Zeiten muß das ein großer Trost sein. Wenn ich doch für Rosalind und die kleinen Mädchen auch so beten könnte. Er stand auf, ging hinaus, setzte sich auf die Stu fen vor dem Kirchenportal und betrachtete den nächtlichen Sternenhimmel. In dieser dünnen, reinen Höhenluft war der Glanz der Sterne so intensiv, daß es schwer war, die einzelnen Sternbilder von einander zu unterscheiden, und allmählich ließ sein Kummer
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nach. Es war gut, wieder in Afrika zu sein. Als die beiden Frauen aus dem Dunkel der Kirche heraustra ten, gab Nicholas dem alten Priester hundert Birr und ein Pola roidfoto von ihm selbst, das den alten Mann offensichtlich mehr erfreute als das Geld. Dann gingen die drei in schweigendem Einverständnis den Berghang hinunter. »Nicky!« Royan rüttelte ihn aus dem Schlaf. Er setzte sich auf, schaltete die Taschenlampe an und sah, daß sie ein leichtes Wolltuch über die gestreiften Pyjamahosen gewickelt hatte, bevor sie in sein Zelt gekommen war. »Was ist los?« fragte er, aber bevor sie antworten konnte, hörte er eine rauhe, zornige Stimme unflätig fluchen und dann das unverkennbare Klatschen einer Hand auf einen menschli chen Körper. »Er schlägt sie.« Royan konnte vor Erregung kaum sprechen. »Sie müssen etwas dagegen unternehmen.« Nach dem Schlag hörte er einen Aufschrei und lautes Schluchzen. Nicholas zögerte. Nur ein Narr mischt sich ein, wenn zwei Eheleute sich streiten, denn häufig wenden sie sich dann ge meinsam gegen ihn. »Sie müssen etwas tun. Bitte, Nicky.« Nur ungern setzte er sich auf den Bettrand und stand dann auf. Zum Schlafen hatte er sich nur Shorts angezogen. Er machte sich nicht erst die Mühe, nach seinen Schuhen zu su chen. Auch Royan folgte ihm barfuß durch den Eukalyptushain zum Zelt von Boris, das hinter dem Küchenzelt stand. In dem Zelt brannte eine Laterne, und an den Zeltwänden er kannte man menschliche Schatten. Er sah, daß Boris seine Frau an den Haaren über den Boden schleifte, und hörte, daß er sie auf Russisch anbrüllte.
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»Boris!« Nicholas mußte ihn dreimal beim Namen rufen, bis er reagierte. Dann erkannte er an den Schatten, daß er Tessay losließ, an die Zeltöffnung kam und die Leinwand zurück schlug. Er hatte nur Unterhosen an. Sein Oberkörper war schlank und muskulös, die Brust flach, kräftig und von kupferfarbenem lockigen Haar bedeckt. Auf dem Boden hinter ihm lag Tessay, hielt sich die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Sie war nackt. Ihr Körper war schlank wie der eines Panthers. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte Nicholas. Erst jetzt, als er diese anmutige, sanfte Frau so gedemütigt und ver zweifelt am Boden liegen sah, wurde er wirklich zornig. »Ich erteile dieser schwarzen Hure eine Lektion in guten Manieren«, sagte Boris hämisch. Er war immer noch betrun ken, und sein wütendes Gesicht war gerötet und aufgedunsen. »Es geht dich einen Dreck an, Engländer, wenn du nicht bereit bist, für dieses Stück Schweinefleisch etwas zu bezahlen.« Er lachte gemein. »Sind sie in Ordnung, Woizero Tessay?« Nicholas sah Boris direkt ins Gesicht, denn er wollte der Frau die Demütigung ersparen, in ihrer Nacktheit den Blicken eines fremden Mannes ausgesetzt zu sein. Tessay setzte sich auf, zog die Knie an die Brust und um schlang sie mit den Armen, um ihren Körper vor ihm zu ver bergen. »Es ist schon gut, Alto Nicholas. Bitte gehen Sie, bevor es wirklich schlimm wird.« Aus der Nase rann ihr das Blut in den Mund und färbte ihre Zähne rot. »Du hast gehört, was meine Frau dir gesagt hat, englischer Bastard. Verschwinde! Kümmere dich um deine eigenen Ange legenheiten. Hau ab, bevor ich auch dir Manieren beibringe.« Boris torkelte auf Nicholas zu und stieß ihn mit der offenen Hand gegen die Brust. Geschickt und mühelos, so wie ein Ma
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tador auf den ersten wütenden Angriff des Kampfstiers rea giert, wich Nicholas ihm aus. Er beugte sich zur Seite, und Bo ris wurde durch den eigenen Schwung in die Richtung weiter getrieben, in die er seinen Angriff begonnen hatte. Völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte der Russe aus dem Zelt, stieß draußen gegen einen Gartenstuhl und stürzte zu Boden. »Royan, bringen Sie Tessay in Ihr Zelt!« sagte Nicholas ru hig. Royan holte ein Laken aus dem Zelt, legte es Tessay über die Schulter und half ihr aufzustehen. »Bitte tun Sie das nicht«, schluchzte Tessay. »Sie wissen nicht, wozu er in diesem Zustand fähig ist. Er wird Sie gefähr lich verletzen.« Royan zog sie, obwohl sie sich dagegen wehrte und weinte, aus dem Zelt, aber inzwischen war Boris aufgestanden. Er brüllte vor Wut, hob den Gartenstuhl auf, über den er gestolpert war, brach mit einem einzigen Ruck ein Stuhlbein ab und nahm es in die Faust. »Willst du dieses Spiel mit mir spielen, Engländer? Gut. Laß uns anfangen!« Er stürmte auf Nicholas zu und ließ das Stuhl bein über seinem Kopfkreisen, um es dann mit aller Kraft ge gen den Schädel von Nicholas zu schleudern. Doch Nicholas duckte sich, und Boris richtete den zweiten Schlag gegen seine Brust und den erhobenen Arm. Er hätte den Brustkorb zwi schen den Rippen aufgerissen, wenn Nicholas ihm nicht erneut ausgewichen wäre. Vorsichtig umkreisten sie einander, und dann griff Boris sei nen Gegner von neuem an. Hätte der Wodka die Reaktionsfä higkeit des Russen nicht so stark beeinträchtigt, dann hätte Ni cholas im Kampf gegen diesen körperlich überlegenen Mann kaum eine Chance gehabt, aber Boris hatte die Körperbeherr schung so weit verloren, daß es Nicholas immer wieder gelang, dem Stuhlbein auszuweichen. Nun richtete er sich auf und stieß Boris mit aller Kraft die Faust unmittelbar unter dem Brustbein
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in die Magengrube. Dem Russen stockte der Atem, und er konnte nur noch laut stöhnen. Er ließ das Stuhlbein fallen, krümmte sich zusammen und stürzte zu Boden. Er legte schützend die Hand auf den Magen, rang nach Atem und blieb schließlich bewegungslos im Staub liegen. Nicholas beugte sich über ihn und sagte ihm ganz ruhig und auf Englisch »Das war wirklich kein gutes Beneh men, alter Junge. Wir vergehen uns nicht an wehrlosen Frauen. Tun sie das nicht noch einmal.« Er richtete sich auf und wandte sich an Royan: »Bringen Sie sie in Ihr Zelt und behalten Sie Tessay dort.« Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und fuhr fort: »Und wenn Sie nichts dagegen haben, sollten wir jetzt ein wenig schlafen?« In den frühen Morgenstunden fing es wieder an zu regnen. Die schweren Tropfen prasselten auf die Zeltbahnen, und der Blitz ließ das Innere der Zelte in einem unheimlichen Licht aufleuchten. Als Nicholas jedoch etwas später zum Küchenzelt ging, um zu frühstücken, hatten sich die Wolken verzogen, und die Sonne stand schon hoch am Himmel. Die frische Gebirgs luft roch nach Erde und Pilzen. Boris begrüßte Nicholas in freundschaftlichem Ton. »Guten Morgen, Engländer. Gestern abend haben wir allerhand Spaß gehabt. Ich muß immer noch lachen, wenn ich daran denke. Wir haben uns sehr gut amüsiert. Demnächst werden wir wie der eine Flasche Wodka trinken und unseren Spaß haben.« Dann rief er zum Küchenzelt hinüber: »Hey Madam Sonne, bringen Sie Ihrem neuen Liebhaber etwas zu essen. Seine sportlichen Leistungen von gestern abend haben ihn hungrig gemacht.« Tessay sagte kaum ein Wort, während sie das Küchenperso nal beaufsichtigte. Ein Auge war fast zugeschwollen, und ihre
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Lippe hatte einen Riß. Während des Essens vermied sie es, Nicholas anzusehen. Boris war augenscheinlich bester Laune und erklärte beim Kaffee: »Wir werden heute weiterfahren. Meine Leute werden das Camp abbrechen und uns mit dem großen Lastwagen folgen. Wenn wir Glück haben, werden wir noch heute abend am obe ren Rand der Schlucht campieren und morgen mit dem Abstieg beginnen.« Als der Lastwagen beladen wurde, nutzte Tessay die Gele genheit, kurz mit Nicholas zu sprechen, ohne daß Boris es merkte. »Vielen Dank, Alto Nicholas, aber es war nicht klug. Sie kennen ihn nicht. Sie müssen sich jetzt in acht nehmen. Er vergißt nichts, und er vergibt auch nichts.« Nachdem sie das Dorf Debra Maryam hinter sich gelassen hatten, bog Boris in eine Nebenstraße ein, die parallel zum Fluß Dandera direkt nach Süden führte. Die Straße, die sie ge stern vom Tana-See hierher benutzt hatten, war nach der Karte eine Hauptverkehrsstraße. Schon sie war sehr schlecht gewe sen, aber der Weg, auf dem sie heute weiterfuhren, wurde als Straße zweiter Ordnung bezeichnet, die »nicht bei jedem Wet ter zu befahren ist«. Zudem hatte es den Anschein, daß die Lastwagen, die die Hauptstraße mit ihren tiefen Fahrrinnen aufgewühlt hatten, nun auch diese Nebenstraße benutzten. Sehr bald kam das Fahrzeug von Boris an eine Stelle, an der einige Lastwagen in dem vom Regen aufgeweichten Boden stecken geblieben waren und bei dem Versuch, sich zu befreien, Lö cher aufgerissen hatten, die den Bombenkratern von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Flandern glichen. Zweimal blieb der Toyota an diesem Tag in dem aufge weichten Boden stecken. Jedesmal wenn das geschah, kam der große Lastwagen, der ihm folgte, heran, und die Leute, die ne ben den Ausrüstungsgegenständen auf der Ladefläche saßen,
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sprangen ab, um den Toyota herauszuschieben. Sogar Nicholas hatte das Hemd ausgezogen und kam ihnen zu Hilfe. »Wenn Sie meinem Rat gefolgt wären«, brummte Boris, »wären wir nicht hier. Dort, wo Sie hinfahren wollen, gibt es kein Wild und auch keine Straßen, die man als solche bezeich nen könnte.« Am frühen Nachmittag machten sie am Flußufer eine Mit tagspause. Nicholas ging den Hang neben der Straße hinunter, um sich in einer Gumpe zu waschen. Als er geholfen hatte, die Fahrzeuge flottzumachen, war er von oben bis unten mit Schlamm bespritzt worden. Royan folgte ihm und setzte sich auf einen Felsblock über der Gumpe, während er das Hemd auszog und sich mit dem kühlenden erfrischenden Wasser ab spülte. Der Fluß selbst war nach dem Platzregen angeschwol len und führte gelbes, schlammiges Wasser. »Ich glaube nicht, daß Boris Ihnen die Geschichte mit dem gestreiften dik-dik glaubt«, warnte sie ihn. »Tessay hat mir gesagt, er traue uns nicht und glaube, wir hätten ganz andere Absichten.« Sie beobachtete aufmerksam, wie er sich Brust und Oberarme abspülte. Seine Haut war dort, wo sie dem Son nenlicht nicht ausgesetzt worden war, weiß und makellos, und seine Brust war dicht behaart. Der Körper dieses Mannes gefiel ihr. »Er ist der Typ, der sich nicht scheuen würde, unser Gepäck zu durchsuchen, wenn er die Möglichkeit hätte«, stimmte Ni cholas ihr zu. »Sie haben doch nichts mitgenommen, was ihm irgendwelche Hinweise geben könnte? Keine Papiere oder No tizen?« »Nur das Satellitenfoto, und meine Notizbücher sind alle in meiner persönlichen Kurzschrift verfaßt, die er nicht entziffern könnte.« »Seien Sie sehr vorsichtig, wenn Sie mit Tessay sprechen.« »Sie ist ein reizendes Geschöpf, und sie ist bestimmt ein auf
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richtiger Mensch«, verteidigte Royan ihre neue Freundin. »Sie mag durchaus in Ordnung sein, aber sie ist mit meinem Freund Boris verheiratet. Ihm fühlt sie sich in erster Linie ver pflichtet. So sehr sie Tessay auch schätzen mögen, vertrauen Sie den beiden nicht.« Er hatte sich inzwischen abgetrocknet, zog sein Hemd an und knöpfte es zu. »Wollen wir gehen und uns etwas zu essen besorgen.« Als sie zu dem parkenden Lastwagen zurückkamen, entkork te Boris gerade eine Flasche südafrikanischen Weißwein. Er goß Nicholas ein Glas ein, und der kühle Wein, den er eine Zeitlang in das kalte Flußwasser gestellt hatte, schmeckte frisch und fruchtig. Tessay brachte ein kaltes gebratenes Hähn chen und die landesüblichen ungesäuerten injera-Brote, die aus in Steinmörsern gemahlenem Weizen gebacken wurden. Die Mühen und Anstrengungen des Vormittags waren vergessen, als Royan sich neben Nicholas ins Gras legte und sie einen mit ausgebreiteten Flügeln dahinschwebenden Bartgeier beobach teten. Offenbar hatte der Vogel sie erspäht, denn er drehte den Kopf und schaute zu ihnen herunter. Seine Augen schauten sie aus dem schwarzen Gefieder an wie die eines Straßenräubers, und die Federn des sich deutlich abzeichnenden, keilförmigen Stoßes flatterten im Wind. Als es Zeit war, aufzubrechen, reichte ihr Nicholas die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Es war einer jener seltenen Augenblicke des körperlichen Kontakts mit ihr, und es dauerte ein paar Sekunden länger als unbedingt notwendig, bis sie den Griff lockerte und die Hand freigab. Auf dem Weg zum Rand der Schlucht besserte sich der Stra ßenzustand nicht, und es vergingen Stunden, bis sie endlich ankamen. Der Pfad verlief in Schlangenlinien über eine Anhö he, und auf der anderen Seite ging es in Serpentinen hinunter. Auf halbem Wege schimpfte Boris auf Russisch, als sie an eine Haarnadelkurve kamen und unmittelbar vor ihnen ein Lastwa
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gen im Schlamm steckte und fast die Durchfahrt blockierte. Zwar waren sie schon die ganze Zeit den Spuren der voraus fahrenden Kolonne gefolgt, aber dieses plötzlich vor ihnen aufgetauchte Hindernis überraschte Boris. Er trat mit solcher Kraft auf die Bremse, daß es die Passagiere von den Sitzen riß, aber der Wagen rutschte im weichen Schlamm noch ein Stück weiter, und Boris sah sich gezwungen, einen niedrigeren Gang einzuschalten und das Fahrzeug durch die schmale Lücke zwi schen dem Lastwagen und der Böschung zu steuern. Royan, die auf dem Rücksitz des Toyota saß, erkannte an der Seitenwand des Lastwagens die Firmenaufschrift und das rote Emblem auf grünem Grund. Sie hatte das Gefühl, dieses Markenzeichen schon irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber zunächst nicht daran erin nern, wann und wo es gewesen war. Es war ihr nur klar, daß sie sich unbedingt daran erinnern sollte. Im Vorbeifahren stieß der Toyota an die Metallwand des Lastwagens, und Boris lehnte sich aus dem Fenster und drohte dem Fahrer mit der Faust. Es war ein Einheimischer, den der Besitzer des Lastwagens wahrscheinlich schon in Adis Abeba mit seinem Fahrzeug auf die Reise geschickte hatte. Er grinste, lehnte sich aus dem Fah rerhaus und erwiderte die Drohgebärde der geballten Faust mit der obszönen Geste des ausgestreckten Mittelfingers. »Mistfresser!« brüllte Boris wütend, weil der Mann ihn bei diesem Austausch von Freundlichkeiten mit seiner Schlagfer tigkeit übertroffen hatte, aber er hielt nicht an. »Es hat keinen Zweck, mit diesen schwarzen Affen zu sprechen. Sie verstehen sowieso nichts.« Bis zum Ende dieser ermüdenden Fahrt saß Royan schwei gend da und versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, wo sie das Emblem mit dem roten geflügelten Pferd und dem mit großen Buchstaben geschriebenen Firmennamen PEGASUS
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EXPLORATION schon gesehen hatte. Gegen Ende der Fahrt kamen sie an einem Hinweisschild vorüber. Die Stangen, an denen es befestigt war, waren fest einbetoniert, und das Schild selbst war offenbar die Arbeit ei nes Fachmannes. Am oberen Rand zeigte ein Pfeil in die Rich tung eines im rechten Winkel von der Hauptstraße abbiegenden Zufahrtsweges. Die Inschrift darunter lautete: PEGASUS EXPLORATION BASE CAMP – ONE KILOMETRE PRIVATE ROAD NO ENTRY TO UNAUTHORIZED TRAFFIC In der Mitte der Tafel stand das rote geflügelte Pferd auf den Hinterbeinen, als wolle es sich in die Luft erheben. Plötzlich erinnerte sich Royan an die verzweifelte Situation, als sie das rote, geflügelte Pferd zum ersten Mal gesehen hatte. »Das ist es!« hätte sie fast gerufen, beherrschte sich aber und sagte nichts. Erneut durchfuhr sie der bekannte Schreck, sie atmete schwer und spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunig te, als sei sie eine längere Strecke schnell gelaufen. Das kann kein Zufall sein, sagte sie sich, und ich irre mich nicht. Es ist dieselbe Firma, Pegasus Exploration. Royan saß schweigend und in sich gekehrt auf ihrem Platz, bis der Weg, dem sie folgten, nach wenigen Kilometern am Rande der senkrecht in die Tiefe abstürzenden, glatten Fels wand endete. Hier stellte Boris den Wagen auf dem Grasstrei fen neben dem Weg ab und schaltete den Motor aus. »Wir lassen die Fahrzeuge jetzt stehen und übernachten hier. Mein großer Lastwagen wird uns bald eingeholt haben. Wenn er da ist, werden wir die Zelte aufstellen. Morgen geht es zu Fuß hinunter in die Schlucht.« Als sie ausstiegen, zupfte Royan Nicholas am Ärmel. »Ich
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muß mit Ihnen sprechen«, flüsterte sie erregt und folgte ihm ein Stück am Flußufer entlang. Sie setzten sich nebeneinander an den Rand des Steilhangs und ließen die Beine nach unten hängen. Der reißende gelbe Fluß neben ihnen schien zu spüren, was vor ihm lag. Das kalte Gebirgswasser beschleunigte seinen Lauf, wirbelte gegen die Felsen und sammelte sich für den Absturz aus schwindelnder Höhe in den leeren Raum. Die steile Felswand fiel fast drei hundert Meter in die Tiefe. Sie war so hoch, daß der darunter liegende Abgrund im Abendlicht zu einem dunklen, geheim nisvollen Raum wurde, dessen Boden im Schatten und der Gischt des Wasserfalls verborgen blieb. Als Royan hinunter schaute, wurde ihr schwindlig. Sie rutschte ein Stück vom Rand des Abgrunds zurück und lehnte sich haltsuchend instink tiv an Nicholas’ Schulter. Erst als sie ihn berührte, wurde ihr bewußt, was sie tat, und sie rückte wieder von ihm ab. Das schlammige Wasser des Dandera-Flusses stürzte über den Rand und wurde wie durch ein Wunder in einen Vorhang aus duftigen Spitzen verwandelt, der wie das Hochzeitskleid einer tanzenden Braut durch die Luft wirbelte und in dem alle Farben des Regenbogens aufleuchteten, als sei dieses Gewand mit Perlen bestickt. Der Wasserfall nahm im Hinabstürzen im mer neue Formen an, bis die Gischt auf den schwarzglänzen den Felsblöcken zerstäubte und neue weiße Wolken bildete, die den dunklen Abgrund unter einem schillernden Schleier verbargen. Nur mit Mühe gelang es Royan, sich von diesem faszinie renden Schauspiel zu lösen und in die rauhe Wirklichkeit mit all ihren Problemen zurückzukehren. »Nicki, erinnern Sie sich noch daran, was ich Ihnen von dem Lastwagen erzählt habe, der meine Mutter und mich in unse rem Landrover an jener Brücke das steile Flußufer hinunter schob?«
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»Natürlich.« Er sah sie verwundert an. »Sie sind erregt. Was beunruhigt Sie, Royan?« »An der Seitenwand des Anhängers dieses Lastwagens sah ich ein Firmenzeichen.« »Ja, das haben sie mir erzählt. Grün und rot. Sie sagten, es sei alles so schnell gegangen, daß Sie die Aufschrift nicht hät ten lesen können.« »Es war das gleiche wie an dem Lastwagen, an dem wir heu te nachmittag vorbeigefahren sind. Ich habe es aus dem glei chen Winkel gesehen wie damals und mich nun daran erinnert. Es war der rote Pegasus, das geflügelte Pferd.« Er sah sie aufmerksam an und fragte: »Sind Sie absolut si cher?« »Absolut!« erwiderte sie und nickte. Nicholas richtete seinen Blick noch einmal auf das großarti ge Panorama der Schlucht, die sich unter ihnen ausbreitete. Bis zur gegenüberliegenden Steilwand der Schlucht waren es vier undsechzig Kilometer, aber in der klaren, vom Regen reinge waschenen Luft schien sie so nah zu sein, daß man sie fast hät te berühren können. »Ein Zufall?« fragte er schließlich. »Halten Sie das für möglich? Das wäre ein sehr seltsamer Zufall; Pegasus gleichzeitig in Yorkshire und in Abessinien? Das muß doch einen Grund haben.« »Das ist schwer zu verstehen. Der Lastwagen, der mit Ihnen zusammengestoßen ist, war gestohlen –« »War er das?« erwiderte sie. »Läßt sich das beweisen?« »Wenn es nicht so war, dann sagen Sie mir, wie Sie sich das alles erklären.« »Wenn Sie jemanden umbringen wollten, würden sie darauf warten, daß sich die Gelegenheit ergibt, einen Lastwagen zu stehlen, den Sie dazu brauchen?« Er schüttelte den Kopf. »Und weiter?«
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»Nehmen wir an, sie haben Ihren eigenen Lastwagen dafür bereitstellen lassen und Ihren Fahrer angewiesen, ihn als ge stohlen zu melden, sobald Sie den notwendigen Vorsprung vor der Polizei haben.« »Das ist möglich«, gab er zu. »Der Mörder von Duraid, der auch zweimal versucht hat, mich umzubringen, verfügt offenbar über erhebliche Mittel. Er kann sogar gleichzeitig in Ägypten und England tätig werden. Darüber hinaus befindet sich die siebente Schriftrolle in seinen Händen. Er hat alle unsere Aufzeichnungen und Übersetzun gen, die ihn auf diese Stelle am Blauen Nil hinweisen. Nehmen wir an, er verfügt über eine Firma wie Pegasus. Was spricht dagegen, daß er jetzt, ebenso wie wir, hier in Äthiopien ist?« Nicholas äußerte sich nicht dazu, sondern nahm einen Stein vom Boden auf und warf ihn in die Schlucht hinunter. Beide sahen ihm nach, wie er immer kleiner wurde und schließlich in den Gischtwolken unter ihnen verschwand. Unvermittelt stand er auf, faßte Royan bei der Hand und half ihr auf die Füße. »Kommen Sie mit.« »Wohin?« »Zum Stützpunkt von Pegasus. Dort können wir uns mit dem Aufseher unterhalten.« Als Nicholas und Royan in den Toyota stiegen und er den Motor startete, rief Boris ihm ärgerlich zu: »Was, zum Teufel, haben Sie vor?« »Ein kleiner Ausflug«, sagte Nicholas und nahm den Fuß von der Kupplung. »In einer Stunde sind wir zurück.« »Hey, Engländer, mein Wagen!« Boris lief ihm nach und versuchte ihn einzuholen, aber Nicholas gab Gas, sah sich noch einmal nach ihm um und rief: »Stellen Sie mir die Fahrt in Rechnung!« Am Hinweisschild bogen sie von der Straße ab und folgten dem Zufahrtsweg über die Anhöhe. Der Stützpunkt von Pega
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sus lag jenseits der Anhöhe. Oben hielt Nicholas den Wagen an und schaute zum Pegasus-Camp hinüber. Unter ihnen lag eine etwa vier Hektar große, glattgewalzte ebene Fläche, umgeben von einem Stacheldrahtzaun mit nur einer Einfahrt. Hinter dem Stacheldrahtzaun standen vier große Diesellastwagen, an deren Seitenwänden das grünrote Firmen zeichen zu erkennen war. Daneben standen eine Reihe kleine rer Fahrzeuge, eine große fahrbare Bohrmaschine und über sichtlich angeordnet ganze Stapel von Geräten für die Schürf arbeiten wie Gesteinsbohrer, Holzkisten mit Ersatzteilen und einige hundert, jeweils einhundertfünfzig Liter fassende Kani ster mit Dieselöl, Schmieröl und Bohrschlamm. Es überraschte Nicholas, in dieser Wildnis ein so ordentlich eingerichtetes Lager zu finden. Unmittelbar neben der geschlossenen Zufahrt standen zwölf, mit militärischer Präzision in einer geraden Li nie ausgerichtete Wellblechhütten – die Unterkünfte des Perso nals. »Offenbar ein großer und straff organisierter Verein«, sagte Nicholas. »Lassen Sie uns feststellen, wer hier die Aufsicht hat.« An der Einfahrt standen zwei bewaffnete Posten in der Tarn uniform der äthiopischen Armee. Das plötzliche Auftauchen eines fremden Land Cruisers überraschte sie offenbar, und als Nicholas auf die Hupe drückte, kam einer von ihnen mit dem AK-47-Sturmgewehr im Anschlag näher und sah sich das Fahrzeug mißtrauisch an. »Ich möchte mit dem Manager sprechen«, sagte Nicolas auf Arabisch, und zwar in einem so arroganten Befehlston, daß der Posten nicht recht wußte, wie er reagieren sollte. Der Soldat räusperte sich, ging zurück zu seinem Kollegen, besprach sich mit ihm, nahm sein Funksprechgerät in die Hand und meldete den Vorfall. Nach etwa fünf Minuten öffnete sich die Tür einer Wellblechhütte, und ein weißer Mann kam her
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aus. Er trug einen khakifarbenen Arbeitsanzug und eine Feldmüt ze aus dem gleichen Stoff. Seine Augen verbargen sich hinter einer Sonnenbrille aus Spiegelglas, und er hatte ein sonnenge bräuntes, wetterhartes Gesicht. Er war untersetzt und breit schultrig und hatte die Ärmel über den muskulösen, stark be haarten Armen aufgekrempelt. Nachdem er ein paar Worte mit der Wache gesprochen hatte, kam er aus dem Tor und stellte sich neben den Toyota. »Yeah? Was suchen sie hier?« fragte er mit dem unverkenn bar schleppenden Akzent des Texaners, ohne dabei seinen kal ten Zigarrenstummel aus dem Mund zu nehmen. »Mein Name ist Quenton Harper.« Nicholas stieg aus dem Wagen und reichte ihm die Hand. »Nicholas Quenton Harper. Seien Sie gegrüßt!« Der Amerikaner ergriff die Hand erst nach einigem Zögern, als habe man ihn aufgefordert, einen Zitteraal anzufassen. »Helm«, sagte er. »Jake Helm aus Abilene, Texas. Ich bin hier der Aufseher.« Er hatte die schwielige, verarbeitete Hand eines Mechanikers, mit vernarbten Knöcheln und schwarzge ränderten Fingernägeln. »Es tut mir furchtbar leid, Sie belästigen zu müssen. Mein Wagen scheint nicht ganz in Ordnung zu sein. Da habe ich mir gedacht, sie hätten vielleicht einen Mechaniker, der den Scha den beheben kann«, sagte Nicholas mit gewinnendem Lächeln, aber der Mann ging nicht auf seine Bitte ein. »Mit so etwas geben wir uns nicht ab«, erwiderte er kopf schüttelnd. »Ich bin bereit, Ihnen das zu bezahlen –« »Hören Sie, mein Freund, ich habe nein gesagt.« Jake nahm den Zigarrenstummel aus dem Mund und sah Nicholas genau an. »Ihr Unternehmen – Pegasus. Können Sie mir den Sitz der
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Firmenleitung nennen? Wer ist der leitende Direktor?« »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, und Sie vergeuden nur meine Zeit.« Helm steckte den Zigarrenstummel wieder in den Mund und wendete sich ab. »Ich werde in den nächsten Wochen in diesem Gebiet auf die Jagd gehen. Ich möchte keinen Ihrer Leute mit einer verirrten Kugel gefährden. Können Sie mir sagen, wo Sie arbeiten wer den?« »Wir machen hier Probebohrungen, Mister, und ich gebe keine Interviews über dieses Vorhaben. Verschwinden Sie!« Er ging zurück zur Einfahrt, gab den Wachen seine Anweisungen und verschwand in seiner Wellblechbaracke. »Scheibenantennen für den Satellitenempfang auf dem Dach«, stellte Nicholas fest. »Wer weiß, mit wem unser Freund Jake in diesem Augenblick spricht.« »Vielleicht mit irgend jemandem in Texas?« vermutete Roy an. »Nicht unbedingt«, widersprach Nicholas. »Pegasus ist wahrscheinlich ein multinationales Unternehmen. Nur weil Jake Texaner ist, muß sein Chef nicht auch aus Texas stam men. Das war leider kein sehr aufschlußreiches Gespräch.« Er startete den Motor und wendete den Toyota. »Aber wenn ir gend jemand bei dem Untenehmen Pegasus der Strolch ist, der mit dieser Sache etwas zu tun hat, dann kennt er auch meinen Namen. Jetzt wissen sie zumindest, daß wir hier sind. Wir wer den sehen, ob wir schlafende Hunde geweckt haben.« Als sie an die Stelle zurückkamen, an der sich der Fluß Dan dera mit einem Wasserfall in die Schlucht ergießt, war der Lastwagen von Boris angekommen, die Zelte waren aufge stellt, und der Koch hatte ihnen eine Kanne Tee aufgebrüht. Boris war immer noch schlechter Laune und sagte kein Wort,
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als Nicholas versuchte, ihn zu besänftigen und sich dafür zu entschuldigen, daß er ohne seine Erlaubnis den Toyota benutzt hatte. Abends nach dem ersten Wodka besserte sich seine Stimmung, und er sagte: »Eigentlich hätten die Maultiere schon auf uns warten sollen. Die Zeit hat für diese Leute keinerlei Bedeutung. Aber wir können den Abstieg in die Schlucht nicht ohne die Maultiere beginnen.« »Nun, solange wir warten, kann ich noch das Zielfernrohr an meiner Büchse justieren«, sagte Nicholas resigniert. »In Afrika darf man nichts übereilen, wenn man seine Nerven schonen will.« Als die Maultiere am nächsten Morgen nach einem gemütli chen Frühstück immer noch nicht erschienen waren, holte Ni cholas seine Büchse. Als er sie aus der grünen Schutzhülle herausholte, nahm Bo ris sie in die Hand und sah sie sich sehr genau an. »Ein altes Gewehr?« »Aus dem Jahr 1926«, nickte Nicholas. »Mein Großvater hat diese Waffe für sich bauen lassen.« »Damals verstanden die Büchsenmacher noch etwas von ih rem Handwerk. Keine schlampige Massenproduktion wie heu te.« Boris spitzte verächtlich die Lippen. »Eine kurze Mauser Oberndorf mit einem doppelten Spezialverschluß, wunder schön! Aber die Büchse hat einen neuen Lauf, nicht wahr?« »Der erste Lauf war ausgeschossen. Ich habe ihn mit einem Shilenlauf desselben Kalibers austauschen lassen. Sie können damit einer Mücke aus hundert Schritt einen Flügel abschie ßen.« »Kaliber siebenmal siebenundfünfzig, nicht wahr?« fragte Boris. »Zwo sieben fünf Rigby«, korrigierte Nicholas ihn, aber Bo ris schnaubte verächtlich.
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»Das ist genau die gleiche Patrone, aber Sie mit Ihrem ver dammten englischen Eigensinn müssen natürlich eine andere Bezeichnung dafür finden.« Er grinste. »Ein Geschoß mit sie benundneunzig Gramm Gewicht verläßt die Mündung mit ei ner Anfangsgeschwindigkeit von achthundertvierundfünfzig Metern in der Sekunde. Es ist ein gutes Gewehr, eines der be sten.« »Mein lieber Freund, Sie glauben gar nicht, was mir dieses Lob bedeutet«, murmelte Nicholas auf Englisch, und Boris lachte, als er ihm die Büchse zurückgab. »Ein englischer Witz. Ich liebe Ihre englischen Witze!« Als Nicholas das Camp mit dem kleinen Jagdgewehr in der grünen Schutzhülle verließ, folgte ihm Royan bis zum Fluß und half ihm, zwei Leinensäckchen mit weißem Flußsand zu füllen. Er legte die beiden Säckchen auf einen großen Stein, wo sie eine feste, aber doch bewegliche Unterlage für das Gewehr bildeten. Er schritt zweihundert Meter ab und stellte an dieser Stelle eine Pappschachtel mit einer selbstgezeichneten Zielscheibe auf. Dann ging er zurück zu dem Felsblock, wo Royan schon auf ihn wartete. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß der erste Schuß aus die ser fast weiblich wirkenden, eleganten Waffe so laut knallen würde. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, und es summte ihr in den Ohren. »Was ist das für ein schreckliches, hinterhältiges Ding!« rief sie aus. »Wie bringen Sie es fertig, mit einer solchen Hochlei stungswaffe schöne Tiere umzubringen?« »Es ist ein Jagdgewehr«, korrigierte er sie und sah sich die Scheibe durch das Fernglas an, um festzustellen, an welcher Stelle das Geschoß getroffen hatte. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich ein weniger leistungsfähiges Gewehr benutzen oder das Wild mit einem Knüppel totschlagen würde?«
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Der Schuß saß drei Zoll rechts von der Mitte der Scheibe und zwei Zoll darunter. Während er das Zielfernrohr justierte, erklärte er: »Ein Jäger tötet das Wild so rasch und schmerzlos wie möglich, und das heißt, er pirscht sich so nahe wie möglich an das Wild heran und benutzt eine Waffe, die diesen Anforde rungen entspricht.« Der nächste Schuß traf die Scheibe genau einen Zoll über der Mitte. Auf diese Entfernung sollten es eigentlich drei Zoll sein, und deshalb stellte er das Zielfernrohr entsprechend ein. »Ob es nun ein Gewehr oder eine Büchse ist, ich kann nicht begreifen, weshalb Sie ein von Gott geschaffenes Lebewesen töten müssen.« »Das werde ich Ihnen nie erklären können«, sagte er. Wieder zielte er und drückte ab. Obwohl das Zielfernrohr nicht sehr stark vergrößerte, konnte er sehen, daß dieser letzte Schuß ge nau drei Zoll über der Mitte der Scheibe lag. »Es hat etwas mit einem atavistischen Instinkt zu tun, den nur wenige Männer, mögen sie sich für noch so kultiviert und gebildet halten, ganz unterdrücken können.« Er feuerte ein zweites Mal. »Bei manchen zeigte er sich an der Börse, bei anderen an einem Lachsfluß, in der Tiefe des Ozeans oder auf der Jagd.« Mit dem dritten Schuß bestätigte er das Ergebnis der beiden ersten und sagte dann: »Was nun die Geschöpfe Gottes betrifft, so hat Er sie uns anvertraut. Als fromme Christin kennen Sie doch sicher die Bibel und wissen, was in der Apostelgeschichte zehn, Vers zwölf und dreizehn steht.« »Leider nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie es mir.« »›… darin waren allerlei vierfüßige Tiere der Erde und wil de Tiere und Gewürm und Vögel des Himmels. Und es sprach eine Stimme zu ihm: Stehe auf, Petrus, schlachte und iß!‹« »Sie hätten Rechtsanwalt werden sollen«, gab sie sich ge schlagen.
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»Oder Pfarrer«, erwiderte er und holte die Scheibe. Die drei letzten Einschüsse lagen drei Zoll über dem Schwarzen und bildeten, einander berührend, eine kleine symmetrische Roset te. Er streichelte den Schaft des kleinen Gewehrs und sagte: »Das ist meine geliebte Lucrecia Borgia.« Er hatte das Gewehr wegen seiner Schönheit und wegen seines mörderischen Poten tials so genannt. Er steckte das Gewehr in das Lederfutteral, und sie gingen zurück zum Camp. Als sie es vor sich liegen sahen, blieb Nicholas stehen. »Wir haben Besuch«, sagte er und schaute durch das Fern glas. »Offenbar interessiert man sich für uns. Da steht ein Pe gasus-Lastwagen, und wenn ich mich nicht irre, ist einer der Gäste der reizende Bursche aus Abilene. Lassen Sie uns hinun tergehen und nachsehen, was es Neues gibt.« Als sie näherkamen, sahen sie mehr als ein Dutzend schwer bewaffneter, uniformierter Soldaten um den rotgrünen Pega sus-Lastwagen herumstehen, Jake Helm und ein äthiopischer Offizier saßen unter dem Vordach des Küchenzelts und führten offenbar ein intensives und ernstes Gespräch mit Boris. Als Nicholas an das Zelt herantrat, stellte ihm Boris den be brillten äthiopischen Offizier vor. »Das ist Oberst Tuma Nogo, der Militärkommandant des südlichen Gojam-Bezirks.« »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Nicholas höflich, aber der Oberst erwiderte den Gruß nicht: »Zeigen Sie mir Ihren Paß und Ihren Waffenschein«, ver langte er in arrogantem Ton, während Jake Helm zufrieden an seinem kalten, übelriechenden Zigarrenstummel kaute. »Aber natürlich«, erwiderte Nicholas, ging zu seinem Zelt und holte seine Aktentasche. Er legte sie auf den Tisch und lächelte den Offizier an. »Sicher wollen Sie auch mein Emp fehlungsschreiben vom britischen Außenminister in London und das des britischen Botschafters in Adis Abeba sehen. Und
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hier ist auch noch ein Schreiben des äthiopischen Botschafters am Hof von St. James. Und das hier ist ein Schreiben Ihres Verteidigungsministers, des Generals Siye Abraha.« Der Oberst starrte verduzt auf dieses ganze Durcheinander aus offi ziellen Briefköpfen und rotbebänderten Siegeln. Unsicher und verwirrt sah er Nicholas durch seine Goldrandbrille an. »Sir!« Er sprang auf und grüßte militärisch. »Sie sind ein Freund von General Abraha? Das habe ich nicht gewußt. Nie mand hat es mir gesagt. Verzeihen Sie bitte meine Aufdring lichkeit.« Er grüßte noch einmal, und man merkte ihm an, wie peinlich ihm das Ganze war. »Ich habe Sie nur warnen wollen, denn die Pegasus Company nimmt hier Bohrungen und Sprengungen vor, und das könnte gefährlich sein. Seien Sie bitte vorsichtig. Zudem gibt es in dieser Gegend zahlreiche Straßenräuber und Banditen, sogenannte shufta.« Oberst Nogo konnte in seiner Erregung kaum zusammen hängend sprechen. Er atmete tief ein und fuhr dann fort: »Se hen Sie, ich habe den Befehl, der Pegasus Company ein Be gleitkommando zur Verfügung zu stellen. Sollten Sie hier ir gendwelche Schwierigkeiten haben oder Hilfe brauchen, dann wenden Sie sich bitte an mich, Sir.« »Das ist sehr freundlich, Herr Oberst.« »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten, Sir.« Er grüßte zum drittenmal und ging zusammen mit dem Aufseher aus Texas zu dem Lastwagen. Jake Helm hatte seit dem Erscheinen von Ni cholas kein Wort gesagt und ging jetzt auch fort, ohne sich zu verabschieden. Oberst Nogo hatte sich in sein Fahrzeug ge setzt, und bevor er abfuhr, grüßte er zum viertenmal durch das Fenster. »Hol ihn der Teufel!« sagte Nicholas und winkte dem abfah renden Offizier freundlich nach. »Ich glaube, diesmal haben wir gewonnen. Zumindest wissen wir, daß Mr. Pegasus nichts
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mit uns zu tun haben will. Wahrscheinlich werden wir seine Reaktion sehr bald zu spüren bekommen.« Sie gingen zurück zum Küchenzelt, setzten sich zu Boris, der dort auf sie wartete, und Nicholas sagte: »Jetzt brauchen wir nur noch die Maultiere.« »Ich habe drei meiner Männer ins Dorf geschickt, um sie zu holen. Sie hätten schon gestern hier sein sollen.« Die Maultiere trafen am nächsten Morgen in aller Frühe ein, sechs große, kräftige Tiere, jedes begleitet von einem Maultier treiber in den landesüblichen weiten Pumphosen und dem wol lenen Umhang. Noch am Vormittag wurden sie beladen und standen bereit zum Abstieg in die Schlucht. Am Beginn des Pfades, der nach unten führte, blieb Boris stehen und blickte über das Tal. Selbst er schien beeindruckt von der gewaltigen Tiefe und der wilden Schönheit der Schlucht. »Sie betreten jetzt ein anderes Land und werden dabei in ei ne andere Zeit versetzt«, sagte er für ihn untypisch, philoso phisch. »Man erzählt sich, daß es diesen Gebirgspfad schon vor zweitausend Jahren zur Zeit Christi gegeben hat.« Dabei breite te er die Arme aus, als würde er es bezweifeln. »Der alte schwarze Priester in der Kirche von Debra Maryam wird Ihnen sagen, daß die Jungfrau Maria auf ihrer Flucht aus Israel nach der Kreuzigung hier entlanggekommen sei.« Er schüttelte den Kopf. »Aber den Leuten hier kann man alles weismachen.« Damit begann er den Abstieg. Der an der Felswand hinunterführende Pfad war so steil, daß man bei jedem Schritt von einer Stufe zur nächsten Muskeln und Sehnen bis aufs äußerste dehnen mußte und daß alle Ge lenke ebenso wie der Rücken bis zum letzten angespannt wur den. Wo der Abstieg besonders steil war, mußte man die Hände
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zu Hilfe nehmen, als stiege man eine Leiter hinunter. Es schien unmöglich, daß die Maultiere mit ihren schweren Lasten ihnen folgen könnten. Die beherzten Tiere landeten je desmal, wenn sie eine Felsstufe überwanden, mit ihrem ganzen Gewicht auf den Vorderbeinen und mußten sich dann auf die Überwindung der nächsten Stufe vorbereiten. Der Pfad war so schmal, daß sich die Lasten auf der einen Seite an der Fels wand rieben, während auf der anderen Seite der Absturz in die schwindelnde Tiefe drohte. An vielen Stellen, an denen der Pfad die Richtung änderte, konnten die Maultiere die Kehre nicht beim ersten Versuch bewältigen. Sie mußten meist ein paar Schritte zurücktreten, um dann vorsichtig und vor Angst schwitzend, mit weitaufge rissenen Augen, die Ecke zu umrunden. Die Männer trieben sie mit wilden Schreien und Peitschenhieben vorwärts. An einigen Stellen führte der Pfad direkt in den Berg hinein, vorbei an turmartigen Gebilden und Felsnadeln, die durch Wind- und Wassererosion im Lauf der Jahrhunderte aus der Felswand herausgewaschen worden waren. Diese Durchgänge waren so eng, daß man den Maultieren ihre Lasten abnehmen und sie auf der anderen Seite wieder damit beladen mußte. »Schauen Sie nur!« rief Royan überrascht und deutete hinun ter in die Tiefe. Ein schwarzer Geier schwebte mit ausgebreite ten Flügeln aus der Schlucht nach oben, flog auf Armeslänge an ihnen vorüber, drehte den häßlichen, mit rosa Hautlappen behängten Kopf nach ihnen um und sah sie mit seinen scharf blickenden schwarzen Augen an, bevor er weitersegelte. »Er nutzt die aus der Tiefe aufsteigende Warmluftströmung und läßt sich von ihr nach oben tragen«, erklärte Nicholas. Dann deutete er auf eine überhängende Klippe in etwa gleicher Höhe. »Dort sehen Sie einen ihrer Horste.« Es war ein Haufen trockener Zweige auf einem unzugänglichen Felsvorsprung. Die Exkremente der Vögel, die diesen Horst schon seit langer
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Zeit bewohnten, hatten die Felswand darunter mit leuchtend weißen Streifen bemalt, und selbst auf diese Entfernung konnte man den Geruch der Geierlosung und des verwesenden Flei sches ihrer Beute wahrnehmen. Der Abstieg über diesen gefährlichen und steilen Teil des Pfades dauerte den ganzen Tag. Am Spätnachmittag hatten sie erst die Hälfte der Strecke hinter sich. Dann machte der Pfad noch einmal eine Spitzkehre, und nun hörten sie auch das ferne Rauschen des Wasserfalls. Hinter einem weiteren Felsvor sprung wurde es zu einem donnernden Getöse, und nun konn ten sie auch das in die Tiefe stürzende Wasser sehen. Der Luftzug, der von dem Wasserfall erzeugt wurde, war so stark, daß sie sich mit den Händen festhalten mußten. Der Gischt hüllte sie ein und benetzte ihre Gesichter, aber der äthiopische Führer ging immer weiter, und sie fürchteten, in den einige hundert Meter tiefen Abgrund gespült zu werden. Dann teilte sich der Wasservorhang wie durch ein Wunder, und dahinter öffnete sich eine tiefe Nische in der moosbewach senen, nassen Felswand, die im Lauf der Jahrtausende durch die Gewalt des Wassers ausgewaschen worden war. Diese Ni sche wurde nur durch das schwache Licht beleuchtet, das durch den Wasservorhang drang, grün und geheimnisvoll wie in einer Unterwasserhöhle. »Hier werden wir übernachten«, verkündete Boris und genoß sichtlich das allgemeine Erstaunen. Er zeigte auf die Bündel Feuerholz im rückwärtigen Teil der Höhle und auf die rauchge schwärzte Felswand über der Feuerstelle. »Die Maultiertreiber, die die Mönche in dem Kloster mit Lebensmitteln und Proviant versorgen, haben hier seit Jahrhunderten Rast gemacht.« In der Tiefe der Höhle wurde das Rauschen des Wasserfalls zu einem fernen Grollen, und der steinerne Boden war trocken. Nachdem die Leute von Boris das Feuer angezündet hatten, wurde die Höhle zu einer warmen, gemütlichen – um nicht zu
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sagen, romantischen – Unterkunft. Mit dem geübten Augen des alten Soldaten für den besten Platz legte Nicholas seinen Schlafsack in eine Ecke an der Rückwand der Höhle, und als sei es eine Selbstverständlich keit, legte Royan den ihren daneben. Der anstrengende Abstieg hatte sie beide erschöpft, und nach dem Abendessen legten sie sich schweigend in ihre Schlafsäcke und beobachteten, wie das Licht des Herdfeuers an der Decke spielte. »Denken Sie nur!« flüsterte Royan. »Morgen werden wir die Spuren des alten Taita verfolgen.« »Gar nicht zu reden von der Jungfrau Maria«, lächelte Ni cholas. »Sie sind ein schrecklicher alter Zyniker«, seufzte sie. »Und außerdem schnarchen Sie wahrscheinlich.« »Das werden Sie gleich feststellen können«, sagte er. Aber sie war schon vor ihm eingeschlafen. Sie atmete tief und gleichmäßig, und ihre Atemzüge übertönten sogar das leise Rauschen des Wasserfalls. Es war schon lange her, seit er zum letzten Mal neben einer schönen jungen Frau gelegen hatte. Als er überzeugt war, daß sie wirklich im Tiefschlaf lag, beugte er sich über sie und streichelte leicht ihre Wange. »Träume süß, meine Kleine«, flüsterte er zärtlich. »Du hast einen anstrengenden Tag gehabt.« Mit diesen Worten hatte er oft seine jüngste Tochter zu Bett gebracht. Die Maultiere wurden schon lange vor Tagesanbruch ver sorgt, und als es hell genug war, den Pfad zu erkennen, setzte die Gruppe den Abstieg fort. Als die ersten Sonnenstrahlen den oberen Teil der Felswand beleuchteten, befanden sie sich noch so hoch über dem Boden der Schlucht, daß sie das vor ihnen liegende Gelände gut überblicken konnten. Nicholas und Roy an traten zur Seite und ließen die Karawane an sich vorüber
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ziehen. An einer geeigneten Stelle setzten sie sich auf den Boden und breiteten das Satellitenfoto zwischen sich aus. Sie orien tierten sich an den höchsten Erhebungen und auffallendsten Geländeformationen und versuchten, auf diese Weise Ordnung in die wilde und unübersichtliche Landschaft zu bringen. »Wir können den Abbay-Fluß von hier aus nicht sehen«, sagte Nicholas. »Er verbirgt sich vor uns in den Tiefen der Schlucht. Wahrscheinlich werden wir ihn erst erkennen kön nen, wenn wir unmittelbar darüber sind.« »Wenn wir unseren gegenwärtigen Standpunkt richtig be stimmt haben, dann macht der Fluß eine U-förmige Schleife um die Klippe dort drüben.« »Ja, und die Einmündung des Dandera in den Abbay liegt dort unter jenen Klippen.« Er legte den Daumen auf das Satel litenfoto und schätzte grob die Entfernung ab. »Von hier aus sind es noch etwa vierundzwanzig Kilometer.« »Es sieht so aus, als habe der Dandera im Lauf der Jahrhun derte seinen Lauf oft gewechselt. Ich sehe mindestens zwei tief eingeschnittene Furchen, die alte Flußbetten sein könnten.« Sie deutete hinunter: »Dort und da. Heute sind sie von dichtem Buschwerk über wachsen.« Sie machte ein verzagtes Gesicht. »Nicholas, es ist ein so riesiges und unübersichtliches Gebiet. Wie sollen wir hier je mals ein verborgenes Grab finden?« »Ein Grab? Was für ein Grab ist das?« wollte Boris wissen. Er war zurückgekommen, um sie zu holen, aber sie hatten ihn nicht gehört. Nun stand er hinter ihnen. »Von welchem Grab reden Sie?« »Nun, natürlich vom Grab des heiligen Frumentius«, erwi derte Nicholas, ohne sich anmerken zu lassen, daß ihn die Fra ge von Boris überrascht hatte.
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»Ist das Kloster nicht dem Heiligen geweiht?« fragte Royan ebenso ruhig und rollte das Satellitenfoto zusammen. »Ja.« Er nickte so enttäuscht, als habe er eine interessantere Antwort erwartet. »Ja, der heilige Frumentius. Aber man wird Ihnen nicht erlauben, sein Grab zu besuchen. Außer den Mön chen darf niemand das Kloster betreten.« Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich den Kopf. Seine Fingernägel fuhren über die kurzen, harten Stoppeln wie über eine Drahtbürste. »Diese Woche wird das Fest Timkat gefeiert. Das wird eine aufregende und bestimmt sehr interessante Sache werden. Sie werden jedoch nicht bis zum Grab des Heiligen vorgelassen werden. Ich kenne keinen Weißen, der es gesehen hat.« Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er ins Sonnen licht und sagte: »Wir müssen uns beeilen. Es sieht ganz nah aus, aber bis zum Fluß hinunter werden wir noch zwei Tage brauchen. Es ist ein schwieriger Abstieg und ein langer Weg, sogar für einen berühmten dik-dik-Jäger.« Er lachte laut über seinen eigenen Witz und ging als erster den Pfad hinunter. Je tiefer sie kamen, desto mehr flachte das Gefälle ab, die einzelnen Stufen wurden niedriger und lagen weiter auseinan der. So kamen sie zwar rascher voran, aber es wurde immer wärmer. Dies war nicht mehr die kühle und erfrischende Berg luft, sondern die heiße, stickige Luft des Äquators mit dem Geruch und Geschmack des immer dichter werdenden Pflan zenwuchses. »Heiß!« sagte Royan und ließ sich den wollenen Schal von den Schultern gleiten. »Wenigstens um zehn Grad wärmer«, stimmte ihr Nicholas zu. Er zog sich seinen alten Wollpullover über den Kopf und zerzauste dabei seine dunklen Haare. »Und es wird noch heißer werden, bevor wir den Flußlauf erreicht haben. Bis dahin sind es noch mindestens eintausend Meter.« Der Pfad folgte jetzt
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eine Zeitlang dem Flußlauf des Dandera. An manchen Stellen befanden sie sich mehr als hundert Me ter darüber, aber sehr bald mußten sie eine Furt durchqueren und sich dabei an den Tragkörben der Maultiere festhalten, um nicht von den Stromschnellen fortgerissen zu werden. Im weiteren Verlauf des Abstiegs hatte sich der Dandera so tief in den Fels eingeschnitten, daß sie ihm nicht mehr folgen konnten. Die steilen Felswände reichten bis hinunter in tiefe, dunkle Lagunen. Deshalb verließen sie den Fluß und folgten dem Pfad, der sich wie eine sterbende Schlange zwischen ero dierten Anhöhen und hohen Klippen aus rotem Gestein den Weg suchte. Anderthalb oder zwei Kilometer stromabwärts trafen sie wieder auf den Fluß, der nun friedlich durch dichten Wald da hinströmte. Die Lianen hingen bis auf die Wasserfläche herun ter, und immer wieder berührten sie mit den Köpfen die be moosten Äste. Ihre Haare waren jetzt so zerzaust wie der Bart des alten Priesters in der Debra Maryam. Aus den Baumkronen schauten Meerkatzen mit weitaufgerissenen Augen auf die Menschen hinunter, die es gewagt hatten, bis in diese Einsam keit vorzudringen und sie in ihrer Ruhe zu stören. Doch plötz lich hörte man, wie ein großes Tier durch das Unterholz davon stürmte, und Nicholas blickte fragend zu Boris hinüber. Der Russe schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, Engländer, kein dik-dik. Nur ein Kudu.« Auf dem gegenüberliegenden Hang blieb der Kudu stehen und schaute sich um. Es war ein starker Bock mit einem weit nach hinten und korkenzieherartig gedrehten Gehörn, ein prächtiges Tier mit einer langen Mähne und gespitzten Ohren, die aussahen wie Trompeten. Der Bock sah sie mit großen er schreckten Augen an. Boris pfiff leise und war offensichtlich beeindruckt. »Diese Hörner sind mindestens fünfzig Zoll lang. Die Tro
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phäe würde sicher als eine der besten im Rowland Ward aufge nommen werden.« Das war das Register der kapitalen Groß wildtrophäen. »Wollen Sie ihn nicht schießen, Engländer?« Er lief zum nächsten Maultier, zog das Rigbygewehr aus dem Fut teral und bot es Nicholas an. »Lassen wir ihn am Leben.« Nicholas schüttelte den Kopf. »Mich interessiert nur das dik-dik.« Mit wenigen Sprüngen war der Bock über der nächsten Anhöhe verschwunden. Boris war empört und spuckte verächtlich in den Fluß. »Warum wollte er unbedingt, daß Sie ihn schießen?« fragte Royan, als sie weitergingen. »Das Foto eines solchen kapitalen Gehörns in einer Werbe schrift für seine Firma würde zahlungskräftige Kunden anlok ken.« Den ganzen Tag folgten sie dem gewundenen Pfad und schlugen am Spätnachmittag auf einer Lichtung oberhalb des Flusses das Lager auf, wo offensichtlich schon viele andere Karawanen vor ihnen übernachtet hatten. Dieser Pfad ließ sich vom oberen Rand der Schlucht über den Wasserfällen bis zum Kloster in drei Abschnitte aufteilen, für deren Überwindung man jeweils einen Tag brauchte, und die Karawanen, die ihn benutzten, übernachteten alle an den gleichen Stellen. »Es tut mir leid, daß wir hier keine Dusche haben«, sagte Boris. »Wenn Sie sich waschen wollen, dann können Sie es in einer stillen Lagune hinter der ersten Wegbiegung stromauf wärts tun.« Royan hatte das dringende Bedürfnis, sich zu erfrischen, und wandte sich an Nicholas: »Mir ist heiß, und ich bin ver schwitzt. Könnten Sie nicht bitte mitkommen und in Rufweite aufpassen, falls ich Ihre Hilfe brauche?« Also legte er sich unmittelbar unterhalb des Felsvorsprungs an einer Stelle auf den moosbewachsenen Boden, wo er sie nicht sehen, aber doch hören konnte, wie sie in dem kühlen
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Wasser herumplanschte. Nach einiger Zeit stellte er fest, daß sie offenbar ein Stück abgetrieben worden war, denn durch die Bäume sah er ihren nackten Rücken und das wohlgeformte Gesäß. Schuldbewußt wendete er den Blick wieder ab, erschrak jedoch über die Intensität seiner Gefühle beim Anblick der nackten Haut. Leise singend kam sie stromabwärts am Flußufer entlang auf ihn zu, trocknete sich mit einem Handtuch das nasse Haar ab und rief: »Jetzt sind Sie an der Reihe. Soll ich nun aufpassen?« »Ich bin doch schon ein großer Junge«, sagte er und schüttel te den Kopf. Aber als sie an ihm vorüberging, warf sie ihm einen übermütigen Blick zu, und er fragte sich, ob sie sich klar darüber war, wie weit stromabwärts sie sich hatte treiben lassen und was er von ihr gesehen haben könnte. Der Gedanke erregte ihn. Dann ging er allein stromaufwärts bis zu der Lagune, und als er sich auszog und an sich herunterblickte, mußte er sich schuldbewußt eingestehen, daß ihre körperlichen Reize stärker auf ihn wirkten, als er es für möglich gehalten hatte. Seit Rosa lind hatte keine Frau ihn so beeindrucken können. Ein Sprung ins kalte Wasser wird dir nicht schaden, alter Junge, und er warf seine Jeans über einen Busch und sprang in die Lagune. Nach dem Abendessen saßen sie alle noch beim Lagerfeuer zusammen, als Nicholas plötzlich aufhorchte. »Höre ich etwas, oder bilde ich es mir nur ein?« fragte er. »Nein«, lachte Tessay. »Sie haben den Gesang der Mönche gehört, die kommen, uns zu begrüßen.« Jetzt sahen sie die Fackeln, die in einer langen Prozession den Hang heraufkamen und zwischen den Bäumen aufleuchte ten, während sie sich dem Camp näherten. Die Maultiertreiber
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und das Dienstpersonal standen auf, gingen den Mönchen ent gegen, sangen und klatschten rhythmisch in die Hände, um die Abordnung aus dem Kloster zu begrüßen. Die tiefen Bässe schwollen an und wurden dann immer lei ser, bis es fast nur noch ein Flüstern war. Dann verstärkte sich der mehrstimmige Chor wieder, und das schöne, melodische Lied der afrikanischen Nacht ergriff alle, die es hörten. Auch Nicholas spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief, und er erschauerte. Man sah die weißen Roben der Mönche im Licht der Fackeln aufleuchten, als sie sich über den gewundenen Pfad dem Camp näherten. Das abessinische Dienstpersonal und die Maultier treiber fielen auf die Knie, als der erste der heiligen Männer in den Lichtschein des Lagerfeuers trat. Den Anfang der Prozes sion bildeten die jungen barhäuptigen und barfüßigen Akoly ten. Es folgten die Mönche in ihren langen Roben und mit ho hen Turbanen auf den Köpfen. Sie bildeten eine Gasse als Eh rengarde für die Phalanx der Diakone und geweihten Priester in ihren reichbestickten Roben und Feiertagsgewändern. Jeder von ihnen trug ein schweres silbernes, fein ziseliertes, koptisches Kreuz auf einem langen Stab. Immer noch singend, bildeten sie schließlich zwei Reihen, durch die vier kräftige junge Akolyten eine gedeckte Sänfte trugen und in der Mitte des Camps auf den Boden stellten. Die scharlachroten und gel ben Seidenvorhänge leuchteten im Licht der Laternen und der Fackeln der Prozession. »Wir müssen hingehen und den Abt begrüßen«, flüsterte Bo ris Nicholas zu. »Sein Name ist Jali Hora.« Als sie an die Sänf te herantraten, öffneten sich die Vorhänge, und eine hochge wachsene Gestalt kam heraus und stand aufrecht vor ihnen. Tessay und Royan knieten ehrfurchtsvoll vor ihm nieder und falteten die Hände. Nicholas und Boris blieben jedoch stehen, und Nicholas sah den Abt interessiert an.
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Der alte Jali Jora bestand nur noch aus Haut und Knochen. Die unter der Robe sichtbaren, pechschwarzen Beine waren krumm mit dürren Sehnen und Muskeln. Die grüne Robe war mit Goldfäden bestickt, die im Licht der Fackel glänzten. Auf dem Kopf trug er die hohe, oben abgeflachte, zylindrische Mütze des koptischen Geistlichen. Auch sie war bestickt mit goldenen Kreuzen und Sternen. Das Gesicht des Abts war kohlschwarz, die Haut runzelig mit den tiefen Falten eines alten Mannes. Hinter seinen schma len Lippen waren nur noch wenige gelbe und schiefsitzende Zähne zu erkennen. Den hageren Unterkiefer bedeckte ein auf fallend schneeweißer, dichter Bart. Das eine Auge war als Fol ge einer tropischen Ophthalmia glanzlos und erblindet, doch das andere strahlte wie das eines Jagdleoparden. Er begann mit einer hohen, unsicheren Stimme zu sprechen. »Ein Segen«, sagte Boris, und Nicholas und er verneigten sich ehrfurchtsvoll. Jedesmal, wenn der alte Mann eine Pause mach te, stimmten die versammelten Mönche ein liturgisches Re sponsorium an. Als er den Segen gesprochen hatte, machte Jali Hora das Zeichen des Kreuzes in die vier Himmelsrichtungen. Dabei drehte er sich langsam einmal um die eigene Achse, während zwei junge Meßdiener ihre silbernen Weihrauchfässer hin- und herschwenkten und der Weihrauch seinen intensiven Duft nach allen Seiten hin ausbreitete. Nach dem Segen knieten sich die beiden Frauen vor den Abt, der sich über sie beugte, mit seinem silbernen Kreuz ihre Wan gen berührte und ihnen mit hoher Stimme seinen Segen zu sprach. »Man sagt, der alte Mann sei mehr als hundert Jahre alt«, flüsterte Boris Nicholas zu. Inzwischen hatten zwei Mönche in weißen Roben einen wunderschönen geschnitzten Sessel aus afrikanischem Eben
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holz geholt, den Nicholas sehr interessiert betrachtete. Er schätzte sein Alter auf mehrere Jahrhunderte und hätte ihn gern für sein Museum erworben. Die beiden Mönche faßten Jali Hora an den Ellbogen und halfen ihm sanft auf den Sessel. Die ganze Versammlung setzte sich nun auf den Boden um den Abt, und die Gläubigen wendeten ihm aufmerksam ihre Ge sichter zu. Tessay saß zu seinen Füßen und übersetzte alles, was ihr Mann sagte, ins Amharische. »Es ist ein großes Vergnügen und eine Ehre für mich, Sie wieder zu begrüßen, Heiliger Vater.« Der alte Mann nickte, und Boris fuhr fort: »Ich habe einen englischen Edelmann königlichen Blutes hergebracht, der das Kloster des heiligen Frumentius besuchen will.« »Nur nicht übertreiben, mein Freund«, protestierte Nicholas, aber die Anwesenden sahen ihn erwartungsvoll an. »Und was soll ich jetzt tun?« fragte er Boris leise. »Weshalb, glauben Sie, hat er sich die Mühe gemacht, her zukommen?« Boris grinste hämisch. »Er erwartet ein Ge schenk, ein Geldgeschenk.« »Maria-Theresia-Taler?« fragte Nicholas. Das war seit mehr als zwei Jahrhunderten das traditionelle Zahlungsmittel in Äthiopien. »Nicht unbedingt. Die Zeiten haben sich geändert. Jali Hora wird sich auch über amerikanische Greenbacks freuen.« »Wieviel?« »Sie sind ein Edelmann von königlichem Geblüt. Sie wollen in seinem Gebirgstal jagen. Also mindestens fünfhundert Dol lar.« Nicholas zuckte zusammen, holte dann aber seine Aktenta sche aus dem Tragekorb eines der Maultiere. Er verbeugte sich vor dem Abt und überreichte ihm mit einer Verbeugung einen Packen Geldscheine. Jali Hora lächelte, entblößte dabei seine gelben Zahnstummel und sagte ein paar Worte.
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Tessay übersetzte es. »Er sagt, ›seien Sie willkommen im Kloster des heiligen Frumentius und zur Feier des TimkatFestes.‹ Er wünscht Ihnen viel Erfolg bei der Jagd an den Ufern des Abbay-Flusses.« Die Versammlung reagierte mit fröhlichem Lachen, und der Abt warf Boris einen fragenden Blick zu. »Der heilige Abt sagt, der Marsch hierher habe ihn durstig gemacht«, übersetzte Tessay. »Der alte Teufel freut sich schon auf einen guten Brandy«, erklärte Boris und rief nach seinem Diener. Mit feierlicher Miene stellte er eine Flasche Brandy auf den Tisch vor den Abt und daneben eine Flasche Wodka. Dann brachte er einen Trinkspruch aus, und beide leerten ihre Gläser. Der Abt hatte einen so großen Schluck genommen, daß ihm die Tränen aus seinem gesunden Auge liefen. Er wandte sich an Royan und fragte sie etwas. »Er fragt Sie, Woizero Royan, woher kommst du, meine Tochter, denn du folgst dem wahren Weg Christi, unseres Erlö sers?« »Ich stamme aus Ägypten und bekenne mich zu unserer alten Religion«, erwiderte Royan. Der Abt und die Mönche nick ten und lächelten zufrieden. »Wir sind alle Brüder und Schwestern in Christus, die Ägyp ter und die Äthiopier«, sagte der Abt. »Sogar das Wort Kopte kommt aus dem Griechischen und bedeutet Ägypter. Über ei nen Zeitraum von mehr als sechzehnhundert Jahren wurde der Abuna, der Bischof von Äthiopien, von dem Patriarchen in Kairo ernannt. Erst Kaiser Haile Selassie hat das 1959 geän dert, aber wir folgen immer noch dem wahren Weg zu Chri stus. Du bist uns willkommen, meine Tochter.« Einer der Mönche goß dem alten Mann noch ein Glas Bran dy ein, und er stürzte es in einem Schluck hinunter. Das schien sogar Boris zu beeindrucken. »Wo läßt diese dürre alte schwar
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ze Schildkröte das nur?« sagte er laut. Tessay übersetzte es nicht, aber sie senkte den Blick, und man sah es ihrem madon nenhaften Gesicht an, wie sehr es sie schmerzte, daß Boris so respektlos von dem heiligen Mann sprach. Jali Hora wendete sich an Nicholas. »Er möchte wissen, welche Tiere Sie in seinem Gebirgstal jagen wollen«, sagte Tessay. Nicholas überlegte sich, wie er dem Abt sein Vorhaben er klären sollte, und zunächst wollte dieser es nicht recht glauben und lächelte dann zufrieden, aber bei den Mönchen löste die Erklärung von Nicholas nur lautes Gelächter und ungläubige Zwischenrufe aus. »Sie wollen ein dik-dik schießen! Aber ein so kleines Tier hat doch gar kein Fleisch.« Nicholas wartete, bis sie sich beruhigt hatten, und legte dann ein Foto des ausgestopften Moquoda harperii aus dem Muse um vor Jali Hora auf den Tisch. »Dies ist kein gewöhnliches dik-dik. Es ist ein heiliges dik dik«, sagte er und bat Tessay, zu übersetzen. »Ich möchte Ih nen eine Legende erzählen.« Damit hatte er sie zum Schweigen gebracht, denn nun erwarteten sie, eine spannende Geschichte zu hören. Selbst der Abt stellte das gefüllte Brandyglas, das er eben hatte austrinken wollen, wieder zurück auf den Tisch. Dann richtete er sein gesundes Auge, mit dem er das Foto be trachtet hatte, auf das Gesicht von Nicholas. »Als Johannes der Täufer in der Wüste fast verhungert wä re«, begann Nicholas, und einige Mönche bekreuzigten sich, als sie den Namen des Heiligen hörten, »dreißig Tage und dreißig Nächte war keine Speise über seine Lippen gekommen –« und Nicholas schmückte seine Erzählung mit einer genauen Schilderung des quälenden Hungers aus, an dem der Heilige litt, was seine Zuhörer besonders genossen, denn es gefiel ih nen, wenn ihre Heiligen im Namen der göttlichen Gerechtig
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keit leiden mußten. »Schließlich erbarmte sich der Herr seines Dieners und schickte ihm eine kleine Antilope, die sich in den Dornen eines Akaziengestrüpps verfing. Er sagte zu dem Heiligen: ›Ich habe dir eine Mahlzeit bereitet, damit du nicht sterben mußt. Nimm von diesem Fleisch und iß es.‹ An den Stellen, an denen Jo hannes der Täufer das kleine Tier berührte, hinterließen sein Daumen und seine Finger für alle Zeiten und alle künftigen Generationen diese dunklen Streifen.« Alle schwiegen beein druckt. Nicholas reichte dem Abt das Foto. »Sehen Sie die Abdrücke der Finger des Heiligen.« Der alte Mann betrachtete das Foto ganz genau, hielt es vor das gesunde Auge und rief schließlich aus: »Es ist wahr. Die Spuren der Finger des Heiligen sind deutlich zu erkennen.« Er reichte die Aufnahme seinen Diakonen, und ermutigt durch das positive Urteil des Abtes, äußerten auch sie sich be geistert über das gelungene Abbild des unscheinbaren Tiers mit dem gestreiften Fell. »Hat jemals irgendeiner von Ihren Männern eines dieser Tie re zu Gesicht bekommen?« fragte Nicholas, aber sie alle schüt telten die Köpfe. Nun gaben die Diakone das Foto an die am Boden hockenden Akolyten weiter. Plötzlich sprang einer von ihnen auf, schwenkte das Bild in der Luft und schrie aufgeregt: »Ich habe dieses heilige Geschöpf gesehen! Mit meinen ei genen Augen habe ich es gesehen.« Es war ein junger, noch nicht ganz erwachsener Bursche. Die anderen lachten ihn aus und wollten es nicht glauben. Einer von ihnen riß dem jungen Mann die Aufnahme aus der Hand und versteckte sie vor ihm. »Das Kind ist nicht ganz richtig im Kopf und wird oft von Dämonen und epileptischen Anfällen heimgesucht«, erklärte
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Jali Hora betrübt. »Kümmern Sie sich nicht um den armen Tamre!« Mit wildaufgerissenen Augen lief Tamre von einem Akoly ten zum anderen und versuchte verzweifelt, das Foto wieder an sich zu bringen. Aber sie gaben es immer wieder von einem zum anderen weiter, neckten ihn und verspotteten seine ver geblichen Bemühungen. Nicholas stand auf, um dem Jungen zu helfen. Er konnte es nicht länger mitansehen, wie dieses schwächliche Kerlchen von seinen Kameraden zur Verzweiflung getrieben wurde. Doch in diesem Augenblick verlor der Junge das Bewußtsein und stürz te zu Boden, als sei er von einem Knüppel niedergeschlagen worden. Sein Rücken krümmte sich, seine Glieder zuckten, und er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und Schaum bildete sich zwischen vor seinen krampfhaft zu rückgezogenen Lippen. Bevor Nicholas ihn erreichen konnte, hoben vier seiner Ka meraden ihn auf und trugen ihn fort. Ihr Gelächter verhallte im Dunkel der Nacht. Die anderen taten so, als sei nichts Außer gewöhnliches geschehen, und Jali Hora nickte dem ihn bedie nenden Mönch zu, ihm noch ein Glas Brandy einzugießen. Es war schon spät, als sich der Abt schließlich verabschiede te und von seinen Diakonen in die Sänfte helfen ließ. Er hielt die halbleere Brandyflasche fest in der einen Hand, während er mit der anderen den Segen spendete. »Sie haben einen guten Eindruck gemacht, englischer Mi lord«, sagte Boris. »Ihre Geschichte von Johannes dem Täufer hat ihm gefallen, aber Ihr Geld hat ihn noch mehr gefreut.« Am nächsten Morgen folgte die Karawane zuerst dem Fluß lauf, aber nach etwa anderthalb Kilometern wurde das Gefälle stärker, und das Wasser rauschte mit hoher Geschwindigkeit
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durch eine schmale Öffnung zwischen hohen roten Klippen und stürzte dann in einem neuen Wasserfall in die Tiefe. Nicholas verließ den ausgetretenen Pfad und ging hinunter bis an den Felsrand, an dem der Wasserfall begann. Er blickte in den etwa neunzig Meter tiefen Felsspalt, durch den sich der wildschäumende Fluß zwängen mußte. Von seinem Standpunkt aus hätte er einen Stein über den Spalt werfen können. Doch hier gab es keine Möglichkeit, dem Flußlauf unmittelbar neben dem Wasserfall zu folgen. Deshalb schloß er sich wieder der Karawane an, die das Flußtal verlassen und einen Umweg durch ein anderes, dichtbewaldetes Tal machen mußte. »Dies ist wahrscheinlich das ursprüngliche Flußbett des Dandera, bevor er sich das neue durch die Klamm gesucht hat.« Royan deutete auf die hohen Felsen beiderseits des Pfa des und dann auf die vom Wasser geglätteten Gesteinsbrocken auf dem Pfad. »Ich glaube, Sie haben recht«, stimmte Nicholas ihr zu. »Diese Klippen scheinen ein Intrusivgestein aus Kalkstein im Basalt und Sandstein zu sein. Dieses ganze Gebiet ist durch Erosion und den ständig veränderten Flußlauf erheblich ver worfen und zerschnitten worden. Mit Sicherheit sind diese Kalksteinschübe durchlöchert von Höhlen und Quellen.« Der Pfad fiel nun sehr rasch zum Blauen Nil ab und verlor auf den letzten Kilometern fast fünfhundert Meter an Höhe. Die Hänge beiderseits des Tals waren dicht bewaldet, und vie lerorts entsprangen aus dem Kalkstein kleine Quellen, die in das alte Flußbett flossen. Je tiefer sie kamen, desto heißer wurde es, und bald zeigten sich auf Royans Khakihemd dunkle Schweißflecken zwischen den Schulterblättern. An einer Stelle sprudelte klares Wasser aus dem dichten Ge büsch am Steilhang und ließ das Rinnsal zu einem Bach an schwellen. Nach einer Wegbiegung stellten sie fest, daß sich
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der Bach in den Dandera-Fluß ergoß. Wenn sie zurückschau ten, konnten sie sehen, wie der Fluß durch eine schmale Fels spalte strömte. Das Gestein beiderseits dieser Spalte hatte eine rötliche Farbe, und die Spalte glich mit ihrer glatten Oberfläche einem halbgeöffneten Mund. Die ungewöhnliche Farbe und Form dieser Felsen fiel ihnen beiden auf. Sie sahen sich diese Stelle genauer an, während die Maultiere an ihnen vorüberzo gen und das Echo ihrer Tritte und der menschlichen Stimmen von diesen seltsamen Gebilden widerhallte. »Es sieht aus wie ein riesiger Wasserspeier, dessen Mund ein gewaltiger Strahl entströmt«, flüsterte Royan und sah sich noch einmal diese einzigartige Formation an. »Ich kann mir vorstel len, wie die alten Ägypter unter der Führung von Taita und des Prinzen Memnon beeindruckt gewesen sein müßten, wenn sie bis hierher vorgedrungen wären. Welche mystische Bedeutung hätten sie in diesem natürlichen Phänomen gesehen!« Nicholas äußerte sich nicht dazu, sondern betrachtete nur ihr Gesicht. Mit ehrfürchtigem Staunen richteten sich ihre dunklen Augen auf dieses unvergleichliche Bild. Vor diesem Hinter grund erinnerte sie ihn an ein Porträt in seiner Sammlung in Quenton Park. Es war das Fragment eines Freskos aus dem Tal der Könige und zeigte eine Prinzessin aus der Familie der Rammessiden. »Warum sollte dich das überraschen?« fragte er sich. »In ih ren Adern fließt das gleiche Blut.« Sie wendete sich ihm zu. »Nehmen Sie mir nicht jede Hoff nung, Nicky. Sagen Sie mir, daß ich das alles nicht geträumt habe. Sagen Sie mir, daß wir finden werden, was wir suchen, und daß es uns gelingen wird, Duraids Tod zu rächen.« Sie blickte zu ihm auf, und ihr Gesicht zeigte die Entschlos senheit, mit der sie ihr Ziel verfolgte. Er spürte das fast unwi derstehliche Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und diese feuchten, leicht geöffneten Lippen zu küssen, doch er be
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herrschte sich und setzte den Weg fort. Er wagte nicht, sich nach ihr umzusehen, solange dieses Gefühl anhielt. Dann hörte er ihre raschen, leichten Schritte auf den Steinen hinter ihm. Sie gingen schweigend weiter, und er war so in Gedanken versunken, daß ihn die grandiose Landschaft überraschte, die sich plötzlich vor ihnen auftat. Sie standen am oberen Rand des Riffs über der engen Schlucht, durch die der Blaue Nil floß. Einhundertfünfzig Me ter unter ihnen lag der riesige Kessel aus rotem Fels. Der le gendäre Strom ergoß sich als grüner Sturzbach in die schattige Tiefe, die von keinem Sonnenstrahl mehr erreicht werden konnte. Daneben bildete der Dandera-Fluß einen weiniger star ken Wasserfall, und die weiße Gischt wurde wie die Feder ei nes Silberreihers durch den Luftzug hin und her geweht. Unten vermischten sich die beiden Gewässer in hochaufschäumende Wirbel und warfen sich in wildem Tosen übereinander, um dann durch die enge Kluft mit unwiderstehlicher Gewalt und Kraft weiterzuströmen. »Und Sie haben diese Stromschnellen mit einem Boot befah ren?« fragte Royan. Der Ton ihrer Stimme verriet ihm, daß sie ihn bewunderte. »Wir waren damals jung und unerfahren«, erwiderte Nicho las mit melancholischem Lächeln. Die Zeit des unbeschwerten jugendlichen Draufgängertums war längst vorbei. Nachdem sie lange schweigend weitergegangen waren, sagte Royan leise: »Man kann erkennen, wie dieses Hindernis Taita und seinen Prinzen auf dem Wege stromaufwärts aufgehalten hat.« Sie sah sich um und deutete dann in westlicher Richtung in die Tiefe der Schlucht. »Von dort unten hätten sie niemals hier heraufkommen können. Sie müssen einem Pfad über die Klippen gefolgt sein, und zwar bis zu der Stelle, an der wir jetzt stehen.« Diese Vorstellung schien sie zu erregen. »Es sei denn, sie sind auf der anderen Seite des Flusses bis
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hierhergekommen«, widersprach Nicholas, um sie zu necken, und sie machte ein enttäuschtes Gesicht. »Daran habe ich nicht gedacht. Natürlich ist das möglich. Aber wie wollen wir dort hinüberkommen, wenn wir auf dieser Seite keinen Hinweis finden?« »Wir werden diese Möglichkeit dann überlegen, wenn es unbedingt notwendig ist. Bis dahin haben wir reichlich zu tun, ohne uns noch weitere Strapazen zumuten zu müssen.« Wieder gingen sie eine Zeitlang schweigend weiter und überlegten beide, was für eine gewaltige Aufgabe sie sich ge stellt hatten, ohne zu wissen, ob sie zu bewältigen war. Doch dann kehrte Royan in die Realität zurück und fragte: »Wo liegt eigentlich das Kloster? Ich habe nichts davon entdecken kön nen.« »Es ist in der Felswand unter uns.« »Werden wir dort übernachten?« »Ich glaube kaum. Aber wir können Boris fragen, was er vorhat.« Sie folgten dem Pfad am oberen Rand des Kessels und hol ten die Maultierkarawane an einer Weggabelung ein. Hier bog der Pfad auf der einen Seite vom Fluß ab und führte in eine bewaldete Senke, während er auf der anderen Seite weiter dem Felsrand folgte. Boris wartete schon auf sie und zeigte auf den abzweigenden Pfad. »Dort unter den Bäumen ist ein guter Lagerplatz, wo ich auch mit meiner letzten Jagdgesellschaft übernachtet habe.« Einige hohe wilde Feigenbäume warfen ihre Schatten über die Lichtung, und an ihrem oberen Rand entsprang eine Quelle. Um die Tiere nicht zu überladen, hatte Boris die Zelte nicht in die Schlucht mitgenommen. Deshalb ließ er als Unterkünfte drei kleine, mit Gras gedeckte Hütten bauen. Nicholas machte Royan und Tessay den Vorschlag, die Zeit bis zur Fertigstellung des Camps zu einem Besuch des Klosters
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zu nutzen. An der Weggabelung führte Tessay sie auf den Pfad am oberen Rand der Klippe bis zu einer breiten steinernen Treppe, die die Steilwand hinunterführte. Hier kam ihnen eine Gruppe von Mönchen in weißen Ge wändern entgegen, und Tessay blieb stehen, um kurz mit ihnen zu reden. Dann sagte sie Nicholas und Royan: »Heute ist Kate ra, der Vorabend des Timkat-Festes, das morgen beginnt. Die Mönche freuen sich schon darauf. Es ist eines der wichtigsten Ereignisse im Kirchenjahr.« »Was wird bei diesem Fest gefeiert?« fragte Royan. »In Ägypten kennen wir dieses Fest nicht.« »Es ist das äthiopische Epiphanien-Fest zum Gedenken an die Taufe Christi«, erklärte Tessay. »Dabei wird das Taberna kel in feierlicher Prozession zum Fluß hinuntergetragen und dort von neuem geweiht. Zugleich empfangen die Akolyten die Taufe, wie Jesus Christus sie von Johannes dem Täufer emp fangen hat.« Sie stiegen die Treppe hinunter, deren Stufen im Lauf der Jahrhunderte durch unzählige Füße geglättet worden waren. In dem mehr als hundert Meter unter ihnen liegenden Felskessel schäumte und brodelte der Blaue Nil. Plötzlich lag eine von Menschenhand aus dem Gestein ge hauene, breite Terrasse vor ihnen. Sie wurde überdacht von einem roten Felsvorsprung, der von steinernen Pfeilern gehal ten wurde, die bei dem Bau des Klosters stehengelassen wor den waren. An der Wand hinter der Terrasse lagen die Eingän ge zu den ausgehauenen Katakomben. Im Lauf der Jahrhunder te waren hier die Säle und Zellen, die Vestibüle, Kirchen und Kapellen der mönchischen Gemeinschaft entstanden, die sie nun schon seit mehr als tausend Jahren bewohnte. Auf der Terrasse saßen kleine Gruppen von Mönchen. Eini ge von ihnen hörten andächtig zu, wie ein Diakon ihnen aus einer illuminierten Bibel vorlas.
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»Viele von ihnen sind Analphabeten«, seufzte Tessay. »Die Bibel muß sogar den Mönchen vorgelesen und ausgelegt wer den, denn die meisten können sie nicht selbst lesen.« »So war es auch in der Kirche Konstantins, der Kirche von Byzanz«, erklärte Nicholas. »Es ist auch heute noch die Kirche des Kreuzes und der Heiligen Schrift, eines reichen und präch tigen Rituals in einer Welt, in der die meisten Menschen weder lesen noch schreiben können.« Beim Gang durch das Kloster kamen sie an anderen Gruppen vorüber, die unter der Leitung eines Vorsängers die amhari schen Psalmen und Hymnen sangen. Aus dem Inneren der Zel len und Höhlen hörte man das Murmeln der Gebete und Anru fungen, und die Luft war erfüllt von den Gerüchen, die die menschlichen Bewohner im Lauf von Jahrhunderten in diesen Räumen hinterlassen hatten. Es roch nach Holzrauch und Weihrauch, menschlicher Nah rung und Exkrementen, Schweiß und Frömmigkeit, Leiden und Krankheit. Neben den Mönchen sah man auch Pilger, die nach einem langen Fußmarsch diese Schlucht erreicht hatten oder von ihren Verwandten hergetragen worden waren, um dem Heiligen ein Anliegen vorzutragen oder von ihm die Heilung von ihrer Krankheit und ihrem Leiden zu erflehen. Unter ihnen waren blinde Kinder, die sich weinend an ihre Mütter klammerten, Leprakranke mit tiefen offenen Wunden und andere, im Koma der Schlafkrankheit liegende oder an anderen Tropenkrankheiten leidende Menschen. Ihr Jammern und Stöhnen vermischte sich mit dem Gesang der Mönche und dem fernen Rauschen des tosenden Nilwassers. Schließlich kamen sie an den Eingang zur Höhlenkathedrale des heiligen Frumentius. Es war eine halbkreisförmige Öffnung wie ein Fischmaul, und der Rand des Portals war bemalt mit Sternen, Kreuzen und Gesichtern von Heiligen, primitive Por traits in weichen Ockertönen, die den Betrachter gerade wegen
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ihrer Schlichtheit beeindruckten. Die sanft und gütig blicken den Augen waren groß und mit Kohlestift gezeichnet. Ein Diakon in einer schmutziggrünen Sammetrobe bewachte den Eingang, aber als Tessay in ansprach, lächelte er, nickte und forderte sie mit einer freundlichen Geste auf, hereinzu kommen. Die Tür war so niedrig, daß Nicholas sich bücken mußte, aber als er die Kathedrale betreten hatte, sich aufrichte te und umblickte, überraschte ihn ihre Größe und Pracht. Die Decke war so hoch, daß man sie im Dämmerlicht nicht mehr sehen konnte. Die Wandgemälde zeigten Scharen von Engeln und Erzengeln, deren Farben im Licht der Kerzen und Öllampen leuchteten. Zum Teil waren sie von tief herabhän genden, von Weihrauch verrußten und an den Unterkanten ausgefransten Wandteppichen bedeckt. Einer von ihnen zeigte das Bild des heiligen Michael auf einem sich aufbäumenden Schimmel, auf einem anderen kniete die heilige Jungfrau am Fuß des Kreuzes, an dem der bleiche Körper Christi aus der Seitenwunde blutete, die ihm ein römischer Speer zugefügt hatte. Das war das Hauptschiff der Kirche. An der gegenüberliegenden Wand hinter zwei offenstehen den schweren Holztüren lag ein weiterer Raum. Nicholas und die beiden Frauen suchten sich ihren Weg vorbei an den zer lumpten knienden Pilgern, die hier in religiöser Ekstase um die Linderung ihrer seelischen und körperlichen Leiden beteten. Im schwachen Licht der Lampen und des blauen Dunstes des Weihrauchs wirkten sie wie verlorene Seelen, die in der ewigen Düsternis der Vorhölle schmachten. Die Besucher erreichten nun die drei steinernen Stufen, die zu den inneren Türen hinaufführten, wurden jedoch von zwei an der Schwelle stehenden Diakonen in langen Gewändern mit flachen, zylindrischen Hüten auf den Köpfen aufgehalten. Ei ner von ihnen sprach in ernstem Ton mit Tessay. »Sie erlauben uns nicht, das Mittelschiff zu betreten«, sagte
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Tessay traurig. »Dahinter liegt das Allerheiligste.« Durch das Halbdunkel des Mittelschiffs konnten sie gerade noch die Tür erkennen, die zum Allerheiligsten führte. »Nur die geweihten Priester dürfen das Allerheiligste betre ten, denn hier befindet sich das Tabernakel und der Eingang zur Grabkammer des Heiligen.« Enttäuscht und betrübt verlie ßen sie die Kathedrale und kehrten über die Terrasse zum Camp zurück. Unter einem klaren Sternenhimmel aßen sie zu Abend. Es war immer noch drückend heiß, und summende Mücken schwärme stürzten sich nur deshalb nicht auf sie, weil sie sich alle mit einer Salbe eingerieben hatten, deren Geruch sie ver trieb. »Und nun, Engländer, habe ich Sie in das Revier gebracht, in dem Sie jagen wollten. Was gedenken Sie zu unternehmen, um das Tier zu finden, das Ihre Beute sein soll, für die Sie diese weite Reise unternommen haben?« Der Wodka hatte die An griffslust von Boris geweckt. »Ich möchte Sie bitten, Ihre Spurensucher bei Tagesanbruch loszuschicken und das Gelände stromabwärts durchkämmen zu lassen«, sagte Nicholas. »Die dik-dik sind gewöhnlich am frü hen Morgen und dann wieder am Spätnachmittag aktiv.« »Sie wollen Ihrem Großvater beibringen, wie man eine Kat ze abhäutet«, sagte Boris und goß sich ein neues Glas Wodka ein. »Sagen Sie Ihnen, sie sollten auf Spuren achten.« Nicholas wies ihn absichtlich auf solche Einzelheiten hin. »Ich glaube, die Spuren des gestreiften dik-dik werden denen einer gewöhn lichen Zwergantilope sehr ähnlich sein. Wenn sie solche Spu ren finden, dann müssen sie ohne sich zu rühren – am Rande des Dickichts sitzen bleiben, wo es am dichtesten ist, und dar
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auf warten, daß sich das Tier bewegt. Dik-diks sind sehr stand orttreue Tiere und verlassen den engen Bereich nicht, in dem sie leben.« »Da! Da! Ich werde es ihnen sagen. Aber was werden Sie machen? Werden Sie tagsüber bei den Damen im Camp blei ben, Engländer?« Er grinste hinterhältig. »Wenn Sie Glück haben, werden Sie sehr bald keine eigene Hütte mehr brau chen.« Er lachte schallend über seinen Witz, und Tessay war sein Verhalten so peinlich, daß sie aufstand und sich damit entschuldigte, daß sie noch etwas mit dem Koch zu besprechen habe. Nicholas beachtete Boris’ Flegeleien nicht, sondern sagte: »Royan und ich werden uns im Unterholz neben dem Flußufer des Dandera umsehen. Es sieht so aus, als könnte man dort einen dik-dik aufspüren. Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie sich vorn Fluß fernhalten sollen. Ich möchte nicht, daß sie das Wild verjagen.« Sie verließen das Camp am nächsten Tag schon im Morgen grauen. Nicholas nahm sein Rigbygewehr und einen leichten Rucksack mit und führte Royan an das Ufer des Dandera. Sie gingen langsam weiter und blieben immer wieder stehen, um sich die Gegend genau anzusehen und zu lauschen. Im Dickicht hörte man die Bewegungen kleiner Säugetiere und die Vogel stimmen. »Die Äthiopier sind keine Jäger, und wahrscheinlich stören die Mönche niemals die wildlebenden Tiere in dieser Schlucht.« Er zeigte ihr die Spuren einer kleinen Antilope in der feuchten Erde am Flußufer. »Das war ein Buschbock«, sag te er. »Meneliks Buschbock. Er kommt nur in diesem Teil Afrikas vor. Eine sehr begehrte Trophäe.« »Glauben Sie wirklich, daß wir hier auf den dik-dik Ihres Urgroßvaters stoßen werden?« fragte sie. »Sie klangen so überzeugend, als Sie mit Boris darüber sprachen.«
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»Natürlich nicht«, grinste er. »Ich glaube, der alte Herr hat sich diese Geschichte nur ausgedacht. Man hätte das Tier Har pers Chimäre nennen sollen. Wahrscheinlich hat er dem ausge stopften dik-dik das Fell eines gestreiften Mungo übergezogen. Wir Harpers haben es nicht nur deshalb zu etwas gebracht; weil wir uns immer strikt an die Wahrheit gehalten haben.« Sie blieben stehen, um einen Honigsauger zu beobachten, ei nen mit dem Kolibri verwandten Vogel, der über den gelben Blüten einer Schlingpflanze hoch oben in den Baumkronen flatterte. Die Federn des winzigen Vogels glänzten im Sonnen licht wie Saphire in einer Königskrone. »Und doch bietet uns dieser kleine Betrug einen wunderba ren Vorwand dafür, in diesen Büschen herumzustöbern.« Er sah sich noch einmal um, um sicher zu sein, daß sie sich weit genug vom Camp entfernt hatten, und forderte sie dann auf, sich neben ihn auf den Stamm eines umgefallenen Baumes zu setzen. »Wir müssen uns also darüber klarwerden, was wir hier suchen. Sagen Sie es mir.« »Wir suchen nach den Resten eines Mausoleums oder den Ruinen der Nekropolis, in der die Arbeiter lebten, als sie die Grabkammer des Pharao Mamose ausschachteten.« »Das könnten also jede Art von Mauern oder von Menschen bearbeitete Steine sein«, stimmte er ihr zu, »besonders irgend welche Säulen oder Monumente.« »Taitas steinernes Testament«, nickte sie. »Die Hierogly phen könnten irgendwo im Stein eingemeißelt oder eingraviert sein. Wahrscheinlich sind sie schon stark verwittert und Hegen versteckt im dichten Gestrüpp. Ich weiß es nicht. Alles ist mög lich. Wir fischen blind in einem dunklen Gewässer.« »Nun, was sitzen wir hier noch herum? Fangen wir an zu fi schen!« Am späten Vormittag fand Nicholas am Flußufer die Fährte eines dik-dik. Sie setzten sich mit den Rücken an einen dicken
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Baumstamm in den Schatten des Waldes und warteten eine ganze Weile, bis sie schließlich eines dieser kleinen Tiere zu Gesicht bekamen. Es trippelte auf seinen kleinen Hufen ganz nahe an ihnen vorbei, pflückte mit seiner rüsselähnlichen Schnauze ein Blatt von einem niedrighängenden Zweig und kaute schmatzend darauf herum. Aber es hatte nur ein schlich tes, graues Fell und und keinerlei Streifen. Als es im Unterholz verschwand, stand Nicholas auf. »Kein Glück. Eine gewöhnliche Zwergantilope«, flüsterte er. »Gehen wir weiter.« Am frühen Nachmittag kamen sie an die Stelle, wo der Dan dera sich aus einer engen Spalte in den rosafarbenen Klippen in die Tiefe ergoß. Sie kamen aber nicht mehr sehr viel weiter, denn die glatte, senkrechte Felswand reichte hinunter bis an die Wasseroberfläche und versperrte ihnen den Weg. So gingen sie stromabwärts wieder zurück und erreichten das andere Ufer über eine Hängebrücke aus Lianen und grobge flochtenen Seilen, die, wie Nicholas glaubte, wahrscheinlich von den Mönchen des Klosters hergestellt worden war. Erneut versuchten sie, stromaufwärts weiterzukommen, und Nicholas wollte sogar den ersten rosafarbenen Felsblock, der sich ihnen in den Weg stellte, im Wasser umgehen, aber die Strömung war zu stark und drohte ihn fortzureißen. Deshalb mußte er den Versuch aufgeben. »Wenn wir hier nicht durchkommen, dann wird es wahr scheinlich Taita und seinen Leuten auch nicht gelungen sein.« Sie gingen bis zur Hängebrücke zurück und setzten sich an einen schattigen Platz, um zu essen, was Tessay ihnen einge packt hatte. Die mittägliche Hitze war fast unerträglich. Royan tauchte ihr baumwollenes Halstuch ins Wasser und benetzte sich damit ihr Gesicht, während sie neben Nicholas im Gras lag. Auch er hatte sich ausgestreckt und betrachtete durch sein
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Fernglas ganz genau die rosafarbene Felswand, da er feststellen wollte, ob es in der glatten Oberfläche irgendwo einen Spalt oder eine Öffnung gäbe. Ohne das Fernglas abzusetzen, sagte er: »Dem Buch Das Grabmal des Pharao können wir entnehmen, daß Taita sich hat helfen lassen, als er die einbalsamierten Körper von Tanus, dem großen Löwen Ägyptens, und des Pharao vertauschte.« Er setzte das Fernglas ab und sah Royan an. »Mir fällt es schwer, das zu glauben, denn zu jener Zeit und angesichts der damals herrschenden religiösen Vorstellungen wäre das etwas ganz Unerhörtes gewesen. Stützt sich der Verfasser dabei auf eine korrekte Übersetzung der Schriftrollen? Hat Taita tatsächlich die beiden Mumien miteinander vertauscht?« Sie lachte und wandte sich ihm zu. »Ihr alter Freund Wilbur hat eine zu blühende Phantasie. Er stützt sich hier auf eine ein zige Zeile in den Schriftrollen. ›Für mich war er königlicher, als es der Pharao je gewesen ist.‹« Sie legte sich wieder auf den Rücken. »Das ist eine der Stellen, auf die sich meine Vor behalte gegen das Buch gründen, Er macht aus Fantasie und Tatsachen ein unentwirrbares Gemisch. Soweit ich es beurtei len kann, ruhen beide, Tanus und der Pharao, in ihrer jeweils eigenen Grabkammer.« »Schade!« seufzte Nicholas und steckte das Buch wieder in seinen Rucksack. »Diese nette romantische Idee hat mir gefal len.« Er sah auf seine Armbanduhr und stand auf. »Gehen wir. Ich möchte mir jetzt nur noch eine bestimmte Stelle ansehen, dir mir gestern auf dem Weg hierher aufgefallen ist. Sie liegt jenseits der Weggabelung, an der wir vorbeigekommen sind.« Erst am späten Nachmittag waren sie wieder im Camp, und Tessay kam ihnen aus der Küche entgegen, um sie zu begrü ßen. »Ich habe schon auf Sie gewartet. Wir haben eine interessan te Einladung des Abtes Jali Hora. Er bittet uns, an einem
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Abendessen im Kloster zur Feier des Katera, des Vorabends des Timkat, teilzunehmen. Sie haben gerade noch Zeit, sich zu waschen und umzuziehen, bevor wir uns auf den Weg ma chen.« Der Abt hatte ihnen eine Gruppe junger Akolyten entgegen geschickt, die sie zum Festsaal führen sollten. Die jungen Männer tauchten nur kurz im afrikanischen Zwielicht auf und hatten Fackeln mitgebracht, um ihnen den Weg zu beleuchten. Royan erkannte unter ihnen auch den epileptischen Tamre. Als sie ihn freundlich anlächelte, kam er schüchtern auf sie zu und gab ihr einen Strauß wildwachsender Blumen, die er un terwegs gepflückt hatte. Überrascht von dieser Höflichkeit, bedankte sie sich auf Arabisch. »Shukran.« »Taffadali«, erwiderte der Junge grammatikalisch korrekt und in einem Akzent, der ihr sagte, daß er diese Sprache be herrschte. »Wie kommt es, daß du so gut Arabisch sprichst?« fragte sie interessiert. Der Junge blickte scheu zu Boden und murmelte: »Meine Mutter stammt aus Massawa am Roten Meer. Es ist die Spra che meiner Kindheit.« Auf dem Weg zum Kloster folgte der junge Mönch Royan wie ein Hündchen. Wieder stiegen sie die Stufen neben der Felswand hinunter und betraten die von Fackeln erleuchtete Terrasse. In den en gen Räumen des Klosters drängten sich die Menschen, und als die Akolyten ihnen den Weg freimachten, wurden sie auf Am harisch begrüßt und Hände streckten sich ihnen entgegen, um sie zu berühren. Wieder betraten sie das Hauptschiff der Kathedrale gebückt
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durch die niedrige Tür. Aber diesmal war es von Öllampen und Fackeln hell beleuchtet, deren flimmerndes Licht die Engel und Heiligen auf den Wandgemälden lebendig erscheinen ließ. Der Steinfußboden war bedeckt mit einem Teppich aus frischge schnittenem Riedgras und Binsen, deren süßlicher Duft sich mit dem Weihrauchgeruch vermischte. Offenbar hatte sich hier die ganze mönchische Bruderschaft versammelt und saß nun mit gekreuzten Beinen auf diesem weichen Teppich. Die Mön che begrüßten die kleine Gruppe von Fremden mit lauten Zuru fen und Segenswünschen. Neben jedem von ihnen stand eine Flasche tej, der landesübliche Honigwein. Die fröhlichen, schwitzenden Gesichter zeigten deutlich, daß er bereits seine Wirkung getan hatte. Nun wurden die Gäste an einen für sie reservierten Platz unmittelbar vor den Holztüren geführt, hinter denen das Mittel schiff lag. Ihre Begleiter nötigten sie, sich zu setzen und es sich bequem zu machen. Als das geschehen war, erschien eine neue Gruppe Akolyten, die vor jeden der Gäste eine Keramikflasche mit tej stellten. Tessay, die neben Nicholas saß, flüsterte ihm zu: »Lassen Sie mich das Gebräu probieren, bevor Sie etwas davon trinken. Alkoholgehalt, Farbe und Geschmack können sehr verschieden sein, und mancherorts ist das tej ungenießbar.« Sie nahm den ersten Schluck, stellte die Flasche wieder neben sich auf den Boden und sagte lächelnd: »Das ist ein gutes Getränk. Wenn Sie vorsichtig sind, werden Sie es vertragen.« Die Mönche forderten die Gäste auf zu trinken, und Nicholas hob seine Flasche hoch. Die Mönche klatschten in die Hände und lachten, als er den Honigwein probierte. Er war leicht und lieblich und schmeckte nach wildem Honig. »Nicht schlecht«, sagte er, aber Tessay warnte ihn. »Später wird man Ihnen höchstwahrscheinlich katikala anbieten. Dann ist Vorsicht ge boten, denn das ist ein aus fermentiertem Getreide destillierter
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Schnaps, der Ihnen den Kopf von den Schultern reißen wird.« Nun konzentrierten sich die Mönche auf Royan. Es hatte sie beeindruckt, daß sie sich als koptische Christin zum wahren Glauben bekannte. Auch ihre Schönheit war diesen heiligen und der Keuschheit verpflichteten Männer offenbar nicht ent gangen. Nicholas neigte sich zu ihr hinüber und flüsterte: »Sie wer den so tun müssen, als würden sie etwas davon trinken, sonst werden sie Sie nicht in Frieden lassen.« Als sie die Flasche an den Mund setzte, jubelten die Mönche, hoben ihre Flaschen und tranken ihr zu. Nachdem sie einen Schluck probiert hatte, flüsterte sie Nicholas ins Ohr: »Es schmeckt nach Honig.« »Sie haben Ihr Gelübde der Enthaltsamkeit gebrochen!« warf er ihr lachend vor. »Das stimmt doch?« »Nur einen Tropfen«, gab sie zu, »und übrigens habe ich niemals irgendein Gelübde abgelegt.« Nun reichten einige jungen Akolyten jedem Gast kniend eine Schüssel mit heißem Wasser, um sich darin vor dem Essen die rechte Hand zu waschen. Plötzlich ertönte von Trommeln begleitete Musik, und durch die offenen Türen des Mittelschiffs kam eine Reihe von Musi kern, die sich an den Wänden des Hauptschiffs aufstellten, während alle Anwesenden erwartungsvoll in das Innere des Mittelschiffs blickten. Nun erschien der alte Abt und blieb auf der obersten Stufe der Steintreppe, die in das Hauptschiff hinunterführte, stehen. Er trug eine bis zum Boden reichende Robe aus rotem Satin und eine goldbestickte Stola um die Schultern. Auf dem Kopf hatte er eine schwere, goldglänzende Krone. Aber Nicholas erkannte, daß es kein echtes Gold war, sondern nur poliertes Messing, und die vielfarbigen Steine daran waren mit Sicher heit nur Imitationen aus Glas.
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Jali Hora hob seinen Bischofsstab mit dem schweren silber nen Kreuz, und alles verstummte ehrfurchtsvoll. »Jetzt wird er den Segen sprechen«, sagte Tessay und neigte den Kopf. Der Segensspruch klang inbrünstig und dauerte lang, denn die hohe Stimme des Abtes wurde immer wieder vom feierli chen Responsorium der Mönche unterbrochen. Dann halfen zwei Geistliche in prächtigen Roben dem Abt die Stufen hinun ter und setzten ihn auf seinen reichgeschnitzten Ebenholzsessel in der Mitte des Kreises der höchstrangigen Diakone und Prie ster. Der religiöse Ernst der Mönchsversammlung verwandelte sich in ausgelassene Freude, als eine Reihe von Akolyten von der Terrasse her den Raum betraten, die auf ihren Köpfen fla che, aus Stroh geflochtene Körbe trugen, so groß wie Wagen räder. In die Mitte eines jeden Kreises der Gäste stellten sie einen dieser Körbe. Auf ein Zeichen von Jali Hora nahmen sie gleichzeitig die Deckel von den Körben. Die Mönche reagierten mit lautem Beifall, denn in jedem Korb stand eine flache Messingschale, die bis zum Rand mit den runden Scheiben des grauen unge säuerten injera-Brotes gefüllt war. Daraufhin trugen zwei weitere Akolyten einen dampfenden Messingkessel herein, der so schwer war, daß sie ihn kaum über die Schwelle heben konnten. Er war gefüllt mit geschmor tem, stark gewürztem Hammelfleisch, dem sogenannten wat. Über jede Brotschüssel kippten sie eine große Portion des rot braunen, fettglänzenden wat. Gierig stürzten sich alle auf die Mahlzeit. Das Hammel fleisch wurde nun in abgerissene Stücke Brotfladen eingewik kelt und in die offenen Münder gesteckt, die auch beim Kauen offen blieben. Dann wurde das Ganze mit großen Schlucken Honigwein hinuntergespült, bevor der nächste Bissen an die
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Reihe kam. Bald hatte sich jeder bis an die Ellbogen mit Fett beschmiert, und ein Teil der Mahlzeit klebte an den Gesichtern. Doch während des ganzen Essens nahm das ausgelassene Re den und Lachen kein Ende. Nun legten die dienenden Akolyten neben jeden Gast einige Brotlaibe einer anderen Art. Dieses Brot war härter und schmeckte weniger stark nach Hefe als das erste. Es ließ sich auch leichter brechen und zerkrümeln als die gummiartigen grauen Fladen, die zum Hammelfleisch gereicht worden waren. Nicholas und Royan versuchten ihren Gastgebern zu zeigen, daß sie die Mahlzeit genossen, auch wenn sie es vermieden, sich so mit Fett zu beschmieren wie die meisten anderen. Trotz seines unappetitlichen Aussehens schmeckte das wat sehr gut, und das trockene gelbe Brot half dabei, das Fett aufzusaugen. Das Hammelragout wurde in erstaunlich kurzer Zeit vertilgt. Nur noch ein Gemisch aus Brot und Fett war am Boden der Kessel zurückgeblieben, als die Akolyten mit neuen schweren Kesseln hereinkamen, die diesmal bis zum Rand mit einem stark gewürzten Hühnerfrikassee gefüllt waren. Es wurde ein fach in die Kessel mit den Resten des Hammelragouts geschüt tet, und wieder machten sich die Mönche daran, es zu vertil gen. Während sie das Hühnerfleisch verschlangen, wurden die tej-Flaschen neu gefüllt, und die Stimmung der Mönche er reichte neue Höhepunkte. »Ich glaube nicht, daß ich das noch lange ertragen kann«, sagte Royan, denn sie hatte bereits mit einer leichten Übelkeit zu kämpfen. »Schließen Sie die Augen und denken Sie an England«, er widerte Nicholas. »Sie sind der Star des Abends. Diese Leute werden Ihnen nicht erlauben, sich den damit verbundenen Pflichten zu entziehen.« Nachdem das Frikassee aufgegessen war, wurden neue Kes
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sel gebracht, diesmal mit einem scharfgewürzten Rindsgulasch, das auf die Reste des Hammelragouts und des Hühnerfrikas sees gekippt wurde. Der Mönch in dem Kreis gegenüber von Royan leerte seine Flasche, und als ein Akolyt versuchte, sie wieder zu füllen, winkte er ab und rief laut: »Katikala!« Der Ruf wurde von den anderen Mönchen aufgenommen, und nun brüllte alles: »Katikala! Katikala!« Die Akolyten liefen hinaus und kamen mit Dutzenden von Flaschen des glasklaren alkoholischen Getränks und teetassen großen Messingbechern zurück. »Das ist das Zeug, vor dem man sich in acht nehmen muß«, sagte Tessay. Nicholas und Royan gelang es immer wieder, den Inhalt ihrer Becher hinter der Schilfmatte verschwinden zu lassen, auf der sie saßen, aber die Mönche konnten nicht genug von diesem Schnaps bekommen. »Auch Boris bekommt seinen Anteil«, sagte Nicholas zu Royan. Der Russe hatte ein aufgedunsenes, schwitzendes Ge sicht, grinste wie ein Idiot und trank gerade einen ganzen Be cher aus. Angeregt durch den katikala, begannen die Mönche mit ei nem Spiel. Einer von ihnen wickelte eine Portion Rindsgulasch in ein Stück Fladenbrot, und während ihm das Fett von der rechten Hand tropfte, wendete er sich an seinen Nachbarn. Das Opfer riß den Mund weit auf und ließ sich dieses Paket hinein stopfen. Es war so groß, daß es die ganze Mundhöhle ausfüllte, und wer es nicht schlucken konnte, riskierte, daran zu erstik ken. Die Spielregeln erlaubten es offenbar nicht, den großen Bis sen mit den eigenen Händen in den Mund zu stopfen. Auch sollte der so Gefütterte weder seine eigene Robe bekleckern, noch die neben ihm Sitzenden mit Soße bespritzen. Seine krampfhaften Bemühungen, den Bissen hinunterzuschlucken,
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wobei er verzweifelt das Gesicht verzerrte und nach Atem rang, erregten die ungehemmte Heiterkeit der Zuschauer. Hatte er den Bissen schließlich geschluckt, wurde ihm zur Belohnung ein Messingbecher mit katikala an den Mund gehalten, dessen Inhalt dort verschwinden sollte, wo auch der Bissen geblieben war. Gestärkt durch den Genuß von tej und katikala, erhob sich Jali Hora mit einem dampfenden Fladenbrot in der rechten Hand. Als er mit der schiefsitzenden Krone auf dem Kopf durch den Raum wankte, wußte zunächst niemand, was er vor hatte. Alles beobachtete ihn aufmerksam. Doch plötzlich erstarrte Royan und flüsterte zutiefst er schreckt: »Nein! Bitte nicht. Retten Sie mich, Nicky. Lassen Sie das nicht zu!« »Das ist der Preis, den Sie dafür bezahlen müssen, daß Sie der Star des Abends sind«, sagte er. Inzwischen war Jali Hora immer näher gekommen. Die Fettsoße aus dem Päckchen, das er ihr bringen wollte, lief an seinem Unterarm entlang bis zum Ellbogen und tropfte auf den Boden. Die an der Längswand aufgestellten Musiker intonierten eine flotte Melodie, und als der Abt schwankend wie ein alter Ein spänner vor Royan stehenblieb, steigerten sie ihr Spiel mit Trommeln, Pfeifen und Streichinstrumenten zu einem gewalti gen Tusch. Der Abt hielt ihr seine Gabe vors Gesicht, und mit einem letzten verzweifelten Blick auf Nicholas fügte sich Royan in das Unvermeidliche. Sie schloß die Augen und öffnete den Mund. Begleitet von ermutigenden Zurufen und dem Klang von Trommeln und Pfeifen, kaute und schluckte sie. Ihr Gesicht rötete sich, und ihre Augen tränten. Nicholas glaubte schon, sie würde sich geschlagen geben müssen und alles auf den Schilf teppich spucken. Aber langsam und energisch zwang sie
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schließlich das Ganze hinunter und sank erschöpft zusammen. Ihr Publikum klatschte begeistert Beifall, und der Abt sank vor ihr in die Knie und umarmte sie, wobei er fast seine Krone verlor. Dann setzte er sich, ohne sie freizugeben, neben sie auf die Matte. »Es sieht so aus, als hätten Sie eine neue Eroberung ge macht«, sagte Nicholas trocken. »Wenn Sie sich nicht rechtzei tig davonmachen, wird er im nächsten Augenblick auf Ihrem Schoß sitzen.« Royan reagierte geistesgegenwärtig. Sie ergriff eine Flasche katikala und einen Becher, den sie bis zum Rand mit Schnaps füllte. »Trink das aus, Pope«, sagte sie und hielt ihm den Becher an den Mund. Jali Hora nahm die Herausforderung an, mußte sie aber loslassen, bevor sie ihm das Getränk einflößen konnte. Plötzlich durchzuckte es Royan so heftig, daß sie den Rest des Getränks auf die Robe des alten Mannes verschüttete. Sie erbleichte und fing an zu zittern wie in einem Fieberanfall, während sie auf Jali Horas Krone starrte, die ihm über die Au gen gerutscht war. »Was ist geschehen?« fragte Nicholas ruhig und ergriff ihren Arm, um sie zu stützen. Außer ihm hatte niemand etwas von ihrer Erregung bemerkt, aber Nicholas kannte sie inzwischen so gut, daß er sofort spürte, wenn sich ihre Stimmung änderte. Immer noch starrte sie mit bleichem Gesicht auf die Krone, ließ den Becher fallen und faßte Nicholas- am Handgelenk. Sie packte ihn so fest, daß ihre Nägel ihn verletzten. »Schauen Sie auf die Krone! Das Siegel! Das blaue Siegel!« flüsterte sie. Nun erkannte er zwischen den buntfarbigen Halbedelsteinen und Bergkristallen ein blaues, kreisrundes Keramiksiegel in der Größe eines Silberdollars. In der Mitte sah man die Umrisse eines ägyptischen Streitwagens und darüber die unverkennbare
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äußere Form eines Falken mit gebrochenem Flügel. Am äuße ren Rand war eine Hieroglyphenschrift eingekerbt, die er über setzte: ICH BEFEHLIGE ZEHNTAUSEND STREITWAGEN. ICH BIN TAITA, DER MEISTER DES KÖNIGLICHEN PFERDS. Royan konnte die Atmosphäre in dieser engen Höhle kaum noch ertragen. Der Bissen, den der Abt ihr aufgezwungen hatte, und der damit vermischte Honigwein verursachten ihr eine Übelkeit, die noch durch die Gerüche der kaltgewordenen Speisereste und des katikala verstärkt wurde. Einige Mönche waren so betrunken, daß sie erbrochen hatten, und der Gestank des Erbrochenen zusammen mit dem Weihrauch steigerte ihr Unwohlsein ins Unerträgliche. Doch der Abt hatte sein Interesse an ihr noch nicht verloren. Er saß neben ihr, streichelte ihre bloßen Arme und rezitierte unzusammenhängende Stellen aus den amharischen heiligen Schriften. Tessay hatte es längst aufgegeben, ihr seine Worte zu übersetzen. Royan schaute erwartungsvoll zu Nicholas hin über, aber er saß nur schweigend da und nahm seine Umge bung augenscheinlich gar nicht mehr wahr. Sie wußte, daß er über das Keramiksiegel in der Krone des Abts nachdachte, denn sein Blick richtete sich immer wieder darauf. Sie wollte mit ihm über diese ungewöhnliche Entdeckung sprechen, aber dazu mußten sie allein sein. Ihre Erregung war stärker als die Beschwerden, die ihr überfüllter Magen verur sachte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Jedesmal wenn sie die Krone des alten Mannes betrachtete, beschleunig te sich ihr Herzschlag, und sie mußte sich beherrschen, nicht nach dem leuchtendblauen Siegel zu greifen und es aus der Krone herauszubrechen, um es genauer betrachten zu können.
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Sie wußte, wie töricht es wäre, irgend jemanden auf die Be deutung des blauen Medaillons aufmerksam zu machen, aber als sie sich im näheren Umkreis umsah, stellte sie fest, daß Bo ris sich für nichts anderes mehr interessierte als den Becher katikala in seiner Hand. Und schließlich war es Boris, der mit seinem Verhalten dafür sorgte, daß ihr Wunsch in Erfüllung ging und sie die Versammlung verlassen konnte, ohne jeman den zu kränken. Er versuchte, aufzustehen, aber seine Beine knickten zusammen, und er fiel vornüber mit dem Gesicht in den Kessel mit dem fettgetränkten injera-Brot. Dort lag er nun laut schnarchend, und Tessay fragte verzweifelt Nicholas: »Alto Nicholas, was soll ich jetzt tun?« Nicholas betrachtete angewidert das unappetitliche Bild des gestürzten Jägers. In seinen kurzgeschnittenen roten Haaren hingen Brotkrümel und Fleischstückchen wie Konfetti. »Ich würde sagen, dem reizenden Kerlchen reicht es für heu te abend«, murmelte er. Er stand auf, faßte Boris am Handgelenk, zog ihn mit einem Ruck nach oben in eine sitzende Stellung, hob ihn dann auf und nahm ihn auf die Schulter. »Gute Nacht allerseits!« rief er den Mönchen zu, aber nur wenige waren noch in der Lage, seinen Gruß zu erwidern. Dann trug er Boris, der mit hängenden Beinen und Kopf über auf seinen Schultern lag, hinaus. Die beiden Frauen hatten Mü he, mit Nicholas Schritt zu halten, als er die Terrasse hinunter ging und, ohne eine Pause einzulegen, die Steintreppe hinauf stieg. »Ich wußte gar nicht, das Alto Nicholas so stark ist«, keuchte Tessay, denn die Steintreppe war steil, und sie hatte kaum mit Nicholas Schritt halten können. »Ich habe es auch nicht gewußt«, erwiderte Royan. Irgendwie kam es ihr lächerlich vor, daß sie angesichts dieser Lei stung eine Art Besitzerstolz empfand, und als sie sich dem
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Camp im Dunklen näherten, sagte sie sich: Sei nicht so töricht. Er ist nicht dein Eigentum, mit dem du dich brüsten könntest. In der Strohhütte von Boris angekommen, warf Nicholas den Betrunkenen auf das Bett. Dann richtete er sich auf, atmete schwer, und die Schweißtropfen liefen ihm die Wangen hinun ter. »Das ist das beste Rezept für einen Herzanfall«, keuchte er. Boris stöhnte, wälzte sich herum und kotzte Kissen und Bett laken voll. »Zu dieser wohlklingenden Begleitmusik wünsche ich Ihnen eine gute Nacht und schöne Träume«, sagte Nicholas zu Tessay und ging hinaus in die warme Nacht. Erleichtert atmete er die frische Waldluft ein und sagte dann zu Royan, die ihn am Arm gefaßt hatte: »Haben Sie gesehen –«, rief sie erregt, aber er legte ihr die Finger auf den Mund, deutete mit einem Blick zur Hütte von Boris an, daß sie vorsichtig sein müsse, und führte sie in ihre eigene Hütte. »Haben Sie das gesehen?« fragte sie noch einmal, denn sie mußte wissen, ob auch ihm das Medaillon an der Krone des Abtes aufgefallen war. »Haben Sie es lesen können?« »›Ich befehlige zehntausend Streitwagen‹«, erwidert er. »›Ich bin Taita, der Meister des königlichen Pferdes‹«, fuhr sie fort. »Er ist hier gewesen. O Nicky! Er war hier. Taita war hier. Das ist der Beweis dafür. Jetzt wissen wir, daß wir unsere Zeit nicht verschwendet haben.« Sie setzte sich auf ihr Bett. »Glauben Sie, der Abt wird uns erlauben, das Siegel näher zu untersuchen?« Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Die Krone gehört zu den wertvollsten Schätzen des Klosters. So sehr er Sie auch verehren mag, ich glaube nicht, daß er dies tun würde. Im übrigen wäre es unklug, ein zu großes Interesse dafür zu zeigen. Jali Hora hat offenbar keine Ahnung von der Bedeu
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tung dieses Siegels. Außerdem darf Boris nichts davon erfah ren.« »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Sie rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Setzen Sie sich.« Er setzte sich neben sie, und sie fragte: »Woher, glauben Sie, kommt dieses Siegel? Wer hat es gefunden? Wo und wann?« »Nicht so hastig, meine Liebe. Das sind vier Fragen auf ein mal, und ich kann keine davon beantworten.« »Aber was vermuten Sie? Lassen Sie sich etwas einfallen!« »Nun gut«, sagte er. »Das Medaillon wurde in Hong Kong hergestellt. Dort gibt es eine kleine Fabrik, die Tausende sol cher Medaillons herstellt. Jali Hora hat es in einem Souvenirla den in Luxor gekauft, als er vor einem Monat in Ägypten Ur laub machte.« Sie schlug ihm mit der geballten Faust auf den Arm. »Reden Sie keinen Unsinn.« »Lassen Sie hören, ob Sie eine bessere Idee haben«, forderte er sie auf und rieb sich den Arm. »Gut. Ich vermute folgendes. Taita hat das Siegel hier in der Schlucht verloren, als er am Bau der Grabkammer des Pharao arbeitete. Dreitausend Jahre später hat ein alter Mönch, einer der ersten Bewohner dieses Klosters, es gefunden. Natürlich konnte er die Hieroglyphen nicht lesen. Er brachte es dem Abt, der behauptete, es sei eine Reliquie des heiligen Frumentius, und ließ es an der Krone befestigen.« »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, sagte Nicholas befriedigend. »Gar nicht schlecht.« »Hat meine Erklärung irgendwelche Lücken?« fragte sie, und er schüttelte den Kopf. »Dann sind auch Sie der Meinung, daß wir den Beweis dafür haben, daß Taita wirklich hier war und daß unsere Theorien richtig sind?« »Beweis ist ein zu starkes Wort. Wir sollten lieber sagen, es ist ein Hinweis.«
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Sie drehte sich zu ihm hin und sah ihn an. »O Nicky, ich bin so aufgeregt. Ich schwöre Ihnen, ich werde heute nacht kein Auge zutun. Ich kann es kaum erwarten, daß wir morgen wie der hinausgehen und unsere Suche fortsetzen.« Ihre Augen glänzten, und ihre Wangen hatten sich gerötet. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und zwischen ihnen sah er ihre rosafarbene Zungenspitze. Er beugte sich ganz langsam vor, streichelte sie zärtlich und überließ es ihr, sich von ihm abzuwenden. Aber sie bewegte sich nicht, und ihr Blick sagte ihm, daß sie auf ihn wartete. Als seine Lippen nur einen Zoll vor den ihren waren, verharrte Nicholas, und sie war es, die ihm entgegenkam. Nun berührten sich ihre Lippen. Zunächst war es nur eine sanfte, zärtliche Berührung, aber dann wurde der Kuß immer leidenschaftlicher. Während eines langen, beglückenden Augenblicks küßten sie einander mit glühender Begierde, und ihr Mund schmeckte zart und süß wie eine reife Frucht. Doch plötzlich riß sie sich mit einem leise klagenden Ton von ihm los und befreite sich aus seiner Umar mung. Erschüttert und verwirrt starrten sie einander an. »Nein«, flüsterte sie. »Bitte, Nicky, noch nicht. Ich bin noch nicht soweit.« Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände, küßte ihre Finger spitzen und genoß den Duft und Geschmack ihrer Haut. »Morgen früh sehen wir uns wieder.« Er ließ ihre Hand los und stand auf. »Sehr früh. Halte dich bereit!« sagte er und ging hinaus. Als er sich am frühen Morgen anzog, hörte Nicholas, wie Royan schon in ihrer Hütte herumging, und als er leise vor ih rer Tür pfiff, kam sie sofort heraus, denn sie wollte so bald wie möglich aufbrechen. »Boris schläft noch«, sagte Tessay, als sie ihnen das Früh
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stück brachte. »Das überrascht mich aber sehr«, erwiderte Nicholas, ohne von seinem Teller aufzusehen. Er und Royan wußten noch nicht recht, wie sie nach dem, was am Abend zuvor geschehen war, miteinander umgehen sollten. Doch als Nicholas ihr mit umgehängtem Gewehr und Rucksack vorausging, änderte sich ihre Stimmung, und sie wartete gespannt darauf, was dieser Tag ihnen bringen würde. Sie waren schon etwa eine Stunde unterwegs, als Nicholas sich umdrehte und leise sagte: »Irgend jemand folgt uns.« Er faßte sie am Handgelenk und zog sie hinter eine vorsprin gende Sandsteinklippe, drückte sich eng an die Steinwand und forderte sie mit einer Handbewegung auf, das gleiche zu tun. Dann duckte er sich, sprang auf den Pfad hinaus und stürzte sich auf eine schlanke Gestalt in einem schmutzigweißen Ge wand, die ihnen nachgeschlichen war. Mit einem Aufschrei fiel der Verfolger auf die Knie und fing aufgeregt an zu plappern. Nicholas zog ihn auf die Füße und sagte auf Arabisch: »Tamre! Warum schleichst du hinter uns her? Wer hat dich geschickt?« Der Junge warf Royan einen verzweifelten Blick zu. »Nein, bitte, effendi, tun Sie mir nichts. Ich wollte Ihnen keinen Ärger machen.« »Lassen Sie das Kind, Nicky, sonst bekommt er womöglich einen epileptischen Anfall«, schaltete sich Royan ein. Tamre ergriff ihre Hand und suchte hinter ihrem Rücken Schutz. An ihrer Schulter vorbei schaute er so ängstlich zu Nicholas her über, als müsse er um sein Leben fürchten. »Keine Angst, Tamre«, beruhigte Nicholas ihn. »Ich werde dir nichts tun, wenn du mich nicht belügst. Aber wenn du das tust, werde ich dich so lange schlagen, bis du keine Haut mehr auf dem Rücken hast. Wer hat dir gesagt, daß du uns folgen sollst?«
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»Ich bin allein gekommen. Niemand hat mich geschickt«, stotterte der Junge. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu zeigen, wo ich das heilige Tier mit den Fingerspuren des Täufers auf dem Rücken gesehen habe.« Nicholas starrte ihn einen Augenblick an, bevor er anfing, leise zu lachen. »Ich will verdammt sein, wenn der Junge nicht wirklich glaubt, den dik-dik meines Urgroßvaters gesehen zu haben.« Dann sagte er in strengem Ton: »Vergiß nicht, was mit dir geschehen wird, wenn du lügst.« »Es ist wirklich wahr, effendi«, schluchzte Tamre, und Roy an kam ihm zu Hilfe. »Ängstigen Sie ihn doch nicht. Er ist harmlos. Lassen Sie das arme Kind in Frieden.« »Nun gut, Tamre. Ich gebe dir eine Chance. Führe uns an die Stelle, wo du das heilige Tier gesehen hast.« Tamre wollte Royans Hand nicht mehr loslassen. Er hielt sich noch daran fest, als er neben ihr herhüpfte und ihr den Weg zeigte. Aber nach hundert Metern war seine Angst verflo gen, und er lächelte und kicherte verschämt. Eine Stunde lang führte er sie vom Dandera-Fluß weg in ein mit dichtem Buschwerk bewachsenes Gebiet bis an eine Stelle, wo schroffe, verwitterte Kalksteinfelsen den oberen Rand eines Höhenrückens bildeten. Die dornigen Zweige der Büsche wa ren so eng miteinander verflochten und wuchsen so nah am Boden, daß es keine Möglichkeit zu geben schien, hindurchzu kommen. Doch Tamre führte sie auf einen schmalen, sich durch das Gelände windenden Pfad, der gerade so breit war, daß sie nicht an den rötlichen dornigen Widerhaken zu beiden Seiten des Pfades hängenblieben. Dann blieb er plötzlich ste hen, ließ auch Royan keinen Schritt mehr tun und zeigte den Steilhang hinunter, der unmittelbar vor seinen Füßen in die Tiefe führte. »Der Fluß!« erklärte er mit ernstem Gesicht. Auch Nicholas
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kam heran, blieb stehen und pfiff leise, denn was er jetzt sah, überraschte ihn. Tamre hatte sie in einem weiten Kreis zu nächst nach Westen und dann zurück an den Dandera-Fluß geführt, wo sich das Flußbett durch eine tiefe Schlucht zog. Jetzt standen sie unmittelbar am Rand dieser Kluft, und Ni cholas sah, daß der obere Teil der Schlucht nur etwa dreißig Meter breit war und sie sich danach verbreiterte. Von der Was seroberfläche tief unten bis hierher bildete die Felswand eine starke Höhlung wie das Innere der Schnapsflaschen aus ge branntem Ton. Bis zu der Stelle, an der sie nun standen, ver engte sich die Schlucht wieder. »Ich habe das heilige Tier dort drüben gesehen.« Tamre zeigte auf die andere Seite der Schlucht, wo ein kleines Rinnsal durch die Büsche floß. Streifen aus leuchtendgrünem Moos, das sich vom Wasser des Rinnsals ernährte, hingen über die konkave Felswand, und das Wasser lief an ihnen hinunter und tropfte in den sechzig Meter tiefer gelegenen Fluß. »Wenn du das Tier dort gesehen hast, warum hast du uns an diese Seite des Flusses geführt?« wollte er wissen. Tamre sah aus, als würde er im nächsten Augenblick anfan gen zu weinen. »Auf dieser Seite ist es leichter. Auf der ande ren Seite führt kein Pfad durch den Busch. Die Dornen würden Woizero Royan verletzen.« »Seien Sie nicht so hart mit ihm«, sagte Royan und legte dem Jungen den Arm um die Schultern. Nicholas schüttelte den Kopf und sagte: »Es sieht so aus, als hättet ihr beide euch gegen mich verbündet. Nun, da wir einmal hier sind, können wir uns eine Weile hinsetzen und sehen, ob uns Urgroßvaters dik-dik mit seinem Besuch beehrt.« Er entschied sich für eine Stelle im Schatten eines der ver krüppelten Bäume am oberen Rand der Schlucht und fegte mit seinem Hut die auf den Boden gefallenen Dornen fort. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an den Baum und legte sich das
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Rigbygewehr in den Schoß. Es war inzwischen schon nach zwölf Uhr mittags und drük kend heiß. Er reichte Royan seine Wasserflasche, und während sie trank, schaute er zu Tamre hinüber und sagte ihr auf Eng lisch: »Jetzt haben wir vielleicht die beste Möglichkeit, festzu stellen, was dieser Bursche über das Taita-Medaillon in der Krone weiß. Er ist vernarrt in Sie und wird Ihnen alles erzäh len, was Sie wissen wollen. Fragen Sie ihn.« Sie begann ruhig und freundlich mit ihm zu sprechen, strei chelte ihm den Kopf und den Rücken wie einem kleinen Hund. Sie unterhielt sich mit ihm über das Fest am gestrigen Abend, über die Schönheit der Höhlenkirche, das Alter der Wandge mälde und Gobelins und erwähnte zuletzt auch die Krone des Abtes. »Ja, ja. Das ist der Stein des Heiligen«, sagte er bereitwillig. »Der blaue Stein des heiligen Frumentius.« »Wo kommt er her?« fragte sie. »Weißt du das?« Diese Frage schien den Jungen zu verunsichern. »Ich weiß es nicht. Er ist sehr alt, vielleicht sogar so alt wie Christus der Erlöser. Das sagen die Mönche.« »Weißt du, wo man ihn gefunden hat?« Er schüttelte den Kopf, aber um sie nicht zu enttäuschen, meinte er schließlich: »Vielleicht ist er vom Himmel gefallen.« »Vielleicht.« Royan schaute zu Nicholas hinüber, der zuerst zum Himmel aufblickte und sich dann den Hut ins Gesicht zog. »Vielleicht hat der heilige Frumentius, als er starb, ihn dem Abt geschenkt.« Auch Tamre suchte jetzt nach der richtigen Antwort auf diese Frage. »Oder vielleicht lag der Stein in sei nem Sarg, als er in seine Grabkammer gestellt wurde.« »Das alles ist möglich, Tamre«, stimmte ihm Royan zu. »Hast du die Grabkammer des heiligen Frumentius gesehen?« Er sah sich schuldbewußt um. »Nur die geweihten Priester dürfen das Allerheiligste betreten«, flüsterte er und ließ den
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Kopf hängen. »Du hast die Grabkammer also gesehen, Tamre«, sagte sie lächelnd und streichelte ihn. Das Schuldbewußtsein des Jungen rührte sie. »Du kannst es mir ruhig sagen. Die Priester werden es nicht erfahren.« »Nur einmal«, gab er zu. »Die anderen Jungen haben mich hineingeschickt und mir gesagt, ich sollte den heiligen Stein berühren. Sie hätten mich geschlagen, wenn ich es nicht getan hätte. Sie zwingen alle jungen Akolyten, es zu tun.« Noch im mer fürchtete er sich, wenn er sich an die schwere Prüfung des Einweihungsritus erinnerte. »Ich war allein und hatte fürchter liche Angst. Es war nach Mitternacht, und die Priester schlie fen schon. Es war dunkel. Im Allerheiligsten kann einem der Geist des Heiligen erscheinen. Sie haben mir gesagt, wenn ich unwürdig sei, würde mich der Heilige mit einem Blitz erschla gen.« Nicholas nahm den Hut von seinem Gesicht und richtete sich langsam auf. »Ich bin überzeugt, das Kind sagt die Wahrheit«, sagte er leise. »Der Junge ist im Allerheiligsten gewesen.« Dann sah er Royan an. »Fragen Sie ihn weiter. Vielleicht kann er uns noch etwas Wichtiges mitteilen. Fragen Sie ihn nach der Grabkammer des heiligen Frumentius.« »Hast du die Grabkammer des Heiligen gesehen?« fragte sie, und der Junge nickte zustimmend. »Bist du in die Grabkammer hineingegangen?« Und nun schüttelte er den Kopf. »Nein. Der Eingang ist durch ein Gitter versperrt. Nur der Abt darf die Grabkammer am Geburtstag des Heiligen betre ten.« »Hast du durch die Gitterstäbe hineinsehen können?« »Ja, aber es ist sehr dunkel. Ich habe den Sarg des Heiligen gesehen. Er ist aus Holz und bemalt – mit dem Gesicht des Heiligen.« »Ist der Heilige ein schwarzer Mann?«
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»Nein – ein weißer Mann mit einem roten Bart. Das Bild ist sehr alt, und die Farben sind schon verblaßt. Das Holz des Sar ges ist schon stark beschädigt.« »Steht der Sarg auf dem Boden der Grabkammer?« Tamre verzog das Gesicht und versuchte sich zu erinnern. Nachdem er sich die Sache gründlich überlegt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein, er steht auf einem steinernen Sockel in der Wand.« »Erinnerst du dich noch an irgend etwas anderes, das du in der Grabkammer des Heiligen gesehen hast?« »Es war sehr dunkel, und die Zwischenräume zwischen den Gitterstäben sind sehr eng«, entschuldigte er sich. »Das macht nichts. Liegt die Grabkammer an der Rückwand des geschlossenen Raumes?« »Ja, hinter dem Altar und dem Tabernakelstein.« »Woraus ist der Altar, aus Stein?« »Nein, er ist aus Holz, aus Zedernholz. Dort sind auch Ker zen, ein großes Kreuz, die vielen Kronen des Abtes, der Kelch und der Stab.« »Ist der Altar bemalt?« »Nein, es sind geschnitzte Bilder darauf. Aber es sind andere Bilder als die in der Grabkammer des Heiligen.« »Was ist anders daran? Sag es mir, Tamre.« »Ich weiß nicht. Sie haben komische Gesichter. Sie tragen andere Kleider. Und sie haben Pferde.« Es fiel ihm schwer, genauer zu beschreiben, was er gesehen hatte. »Sie sind ein fach anders.« Royan bemühte sich noch eine ganze Weile, mehr über das Innere des Allerheiligsten von ihm zu erfahren, aber je mehr sie ihn drängte, desto verworrener und widersprüchlicher wur de das, was er sagte. Und so wechselte sie das Thema. »Was kannst du mir über das Tabernakel erzählen?« fragte sie, aber Nicholas unterbrach sie.
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»Nein, erzählen Sie mir etwas über das Tabernakel«, bat er sie. »Ist es ähnlich wie das jüdische Tabernakel?« »Ja, wenigstens in der ägyptischen Kirche. Es wird gewöhn lich in einem mit Edelsteinen besetzten Kasten aufbewahrt und in ein golddurchwirktes Tuch eingewickelt. Der einzige Unter schied ist, daß auf dem jüdischen Tabernakel die Zehn Gebote zu lesen sind, aber in unserer Kirche sind es die Worte, mit denen die betreffende Kirche eingeweiht wurde. Das Taberna kel ist das lebendige Herz dieser Kirche.« »Was ist der Tabernakelstein?« Nicholas runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Ich weiß es nicht«, mußte sie zugeben. »In unserer Kirche gibt es keinen Tabernakelstein.« »Fragen Sie ihn danach!« »Sage mir, wie der Tabernakelstein aussieht, Tamre.« »Er ist so hoch und so breit.« Er zeigte, daß der Stein etwas höher war als seine Schultern und demonstrierte die Breite mit seitwärts ausgestreckten Armen und Händen. »Und das Tabernakel steht auf diesem Stein?« fragte Royan. Tamre nickte. »Warum haben sie dir gesagt, daß du den Stein, aber nicht das Tabernakel selbst anfassen solltest?« fragte Nicholas, aber Royan schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich mit ihm reden. Sie sind zu grob mit dem Jungen.« Dann wandte sie sich an Tamre. »Warum der Stein und nicht das darauf stehende Tabernakel?« Tamre wußte nicht, was er sagen sollte, und zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie haben es einfach so gesagt.« »Wie sieht der Stein aus? Ist er auch bemalt?« »Das weiß ich nicht.« Er war ganz unglücklich, sie enttäu schen zu müssen, und hätte ihr doch so gern jeden Wunsch erfüllt. »Ich weiß es nicht. Der Stein ist mit einem Tuch zuge deckt.« Nicholas und Royan sahen sich überrascht an. Dann
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wandte sich Royan wieder dem Jungen zu. »Zugedeckt?« Royan rückte näher an ihn heran. »Der Stein ist zugedeckt?« »Sie sagen, daß der Abt das Tuch nur am Geburtstag des hei ligen Frumentius fortnimmt.« Wieder sahen Nicholas und Royan einander verständnisvoll an. Dann lächelte er und sagte: »Zu gerne würde ich mir die Grabkammer des Heiligen ansehen, aber auch den Stein, auf dem das Tabernakel steht – wenn er nicht zugedeckt ist.« »Dazu müßten Sie bis zum Geburtstag des Heiligen warten«, sagte sie, »und Sie müßten sich zum Priester weihen lassen. Nur die geweihten Priester –« Sie hielt inne und starrte ihn wieder an. »Sie denken doch nicht etwa daran – nein, das wür den Sie nicht tun, oder?« »Wer, ich?« Er mußte lachen. »Was für ein abwegiger Ge danke!« »Wenn man Sie im Allerheiligsten erwischte, würden Sie in Stücke gerissen werden.« »Das heißt also, ich darf mich nicht erwischen lassen.« »Wenn Sie gehen, werde ich Sie begleiten. Aber wie sollen wir das anfangen?« »Nicht so eilig, meine Liebe. Der Gedanke ist mir erst vor zehn Sekunden gekommen, aber selbst in meinen besten Tagen brauchte ich mindestens zehn Minuten dafür, mir einen ver nünftigen Aktionsplan auszudenken.« Beide blickten gedankenverloren hinüber auf die andere Sei te der Schlucht. Dann flüsterte Royan: »Der zugedeckte Stein. Taitas steinernes Testament?« »Sagen Sie es nicht laut«, beschwor er sie und machte das Zeichen gegen den bösen Blick. »Sie dürfen nicht einmal laut denken. Der Teufel hört zu.« Wieder überlegten sie schweigend, was zu tun sei. Dann sag
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te Royan: »Nicky, wie wäre es denn, wenn –« Sie unterbrach sich. »Nein, das ist unmöglich.« Wieder verfiel sie in grübleri sches Schweigen. Tamre unterbrach die Stille mit einem lauten Aufschrei. »Da ist es. Sehen Sie doch!« Die plötzliche Unterbrechung ließ sie auffahren. »Was hast du gesehen?« fragte Royan. Tamre ergriff ihren Arm und schüttelte ihn. Er zitterte vor Erregung. »Da ist es. Ich habe es Ihnen doch gesagt.« Mit der anderen Hand zeigte er auf die gegenüberliegende Seite der engen Schlucht. »Dort am Rand des Dornengebüsches. Können Sie es nicht sehen?« »Was ist es? Was kannst du sehen?« »Das Tier Johannes des Täufers. Das Geschöpf mit den hei ligen Merkmalen.« In der Richtung seines ausgestreckten Arms sah sie, wie sich im Dornengestrüpp auf der anderen Seite etwas Braunes be wegte. »Ich weiß nicht. Es ist zu weit –« Nicholas nahm sein Fernglas aus dem Rucksack und schaute hinüber. Dann lachte er leise. »Halleluja! Die Ehre des Urgroßvaters ist gerettet.« Er reich te Royan das Fernglas. Nun konnte auch sie das kleine Wesen vor den Büschen sehen. Selbst auf die Entfernung von fast dreihundert Metern ließ die zehnfache Vergrößerung des Gla ses jede Einzelheit erkennen. Das Tier war nur halb so groß wie der gewöhnliche dik-dik, den sie am Tage zuvor gesehen hatten, aber sein Fell war nicht grau, sondern rotbraun. Am auffälligsten waren jedoch die deutlich erkennbaren, schokoladenfarbenen Streifen auf Schul tern und Rücken – fünf im gleichen Abstand voneinander ver laufende Markierungen, die aussahen wie die Abdrücke von vier Fingern und einem Daumen.
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»Das ist er, Madoqua harperii«, flüsterte Nicholas ihr zu. »Vergib mir meine Zweifel, Urgroßvater.« Der dik-dik stand halb im Schatten, hatte den Kopf nach oben gerichtet und prüfte mit der rüsselartigen Nase mißtrau isch die Luft. Die leichte Brise, die von ihnen zur gegenüber liegenden Seite der Schlucht hinüberwehte, ließ das Tier die ungewohnte und vielleicht gefährliche Witterung des Men schen wahrnehmen. Royan hörte, wie Nicholas den Verschluß betätigte, die Pa trone in die Kammer einführte und mit einem klickenden Ge räusch den Abzug spannte. Sie nahm das Glas von den Augen und schaute ihn an. »Sie werden es doch nicht erschießen?« sagte sie empört. »Nein, nicht auf diese Entfernung. Es sind etwa dreihundert Meter, und es ist ein kleines Ziel. Ich werde warten, bis das Tier näher kommt.« »Wie können Sie das nur fertigbringen?« »Wieso nicht? Dazu sind wir – unter anderem – hergekom men.« »Aber es ist ein so schönes Tier.« »Dürfte man es denn töten, wenn es häßlich wäre?« Sie beantwortete seine Frage nicht, sondern schaute wieder durch das Fernglas. Wahrscheinlich hatte sich der Wind ge dreht, denn der dik-dik fing an, an einem braunen Grasbüschel zu knabbern. Dann hob er erneut den Kopf und kam mit vor sichtigen Schritten durch eine Lücke im Dornengebüsch lang sam näher, wobei er immer wieder stehenblieb, um ein paar Grashalme zu fressen. Geh zurück! Sie wollte das Tier mit ihren Gedanken zwin gen, sich in Sicherheit zu bringen, aber es ließ sich nicht auf halten und war nun schon dicht an den oberen Rand der steil in die Schlucht abfallenden Felswand gekommen. Nicholas legte sich hinter die Baumwurzel und faltete seinen
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Hut als weiche Unterlage für das Gewehr zusammen. »Zweihundert Meter«, sagte er leise. »Das ist die richtige Entfernung. Weiter dürfte es nicht sein.« Nachdem er das Ge wehr auf die Wurzel mit der weichen Unterlage gelegt hatte, sah er noch einmal durch das Zielfernrohr. Dann hob er den Kopf und wartete darauf, daß die kleine Antilope so nahe he rankam, daß er einen sicheren Treffer landen konnte. Unvermittelt blieb der dik-dik stehen, hob den Kopf und zit terte vor Erregung. »Irgend etwas gefällt ihm nicht. Verdammt, der Wind muß sich gedreht haben«, brummte Nicholas. Im gleichen Augen blick sprang die kleine Antilope ab, überquerte die Lichtung und war in wenigen Augenblicken im Dornengestrüpp ver schwunden. »Lauf, dik-dik, lauf!« rief Royan fröhlich, und Nicholas setz te sich auf und brummte ärgerlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn so erschreckt hat.« Dann hob er den Kopf. Man hörte in der Luft ein Geräusch, das mit jeder Sekunde lauter wurde, ein durchdringendes Knattern und schrilles Pfeifen. »Ein Hubschrauber! Was soll das, zum Teufel!« Nicholas hatte sofort erkannt, was es war. Er ließ sich von Royan das Fernglas geben und suchte den wolkenlosen blauen Himmel über den gezackten Felsspitzen am oberen Rand des Steilhangs ab. »Da ist er«, sagte er grimmig, »ein Bell Jet Ranger.« Er hatte die Maschine an ihrem Profil erkannt. »Es sieht so aus, als kä me er auf uns zu. Es wird besser sein, wenn wir uns nicht zu erkennen geben. Gehen wir in Deckung.« Royan und der Junge setzten sich unter die weitausladenden Zweige des dornigen Baumes. »Rührt euch nicht«, sagte er. »Hier werden sie uns nicht sehen können.« Er beobachtete den näherkommenden Hubschrauber durch das Fernglas. »Wahr
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scheinlich von der äthiopischen Luftwaffe«, sagte er leise. »Ich nehme an, sie suchen nach irgendwelchen Banditen oder Stra ßenräubern. Boris und Oberst Nogo haben uns ja gewarnt und gesagt, wir müßten damit rechnen, hier solchen Strauchdieben zu begegnen.« Doch dann unterbrach er sich plötzlich. »Nein. Ich habe mich geirrt. Das ist kein Militärhubschrauber. Er hat einen grünroten Rumpf, und ich sehe das rote geflügelte Pferd. Das sind Ihre alten Freunde von der Firma Pegasus Explorati on.« Das Brummen der Rotoren wurde immer lauter, und jetzt konnte auch Royan mit bloßem Auge das geflügelte Pferd auf dem Rumpf des Hubschraubers erkennen, als er in einer Ent fernung von etwa achthundert Metern im Tiefflug an ihnen vorbeikam und in Richtung auf den Blauen Nil weiterflog. Sie hatten Tamre nicht weiter beachtet, der angsterfüllt hin ter Royan hockte und die Augen weit aufgerissen hatte. »Es sieht so aus, als habe unser Freund Jake Helm einen be sonders wichtigen Auftrag zu erfüllen. Wenn Pagasus irgend etwas mit der Ermordung von Duraid und den Mordanschlägen auf Sie zu tun hat, dann müssen wir damit rechnen, daß diese Leute uns von nun an nicht mehr aus den Augen lassen werden. Und mit dem Hubschrauber wird ihnen das nicht schwerfal len.« Nicholas verfolgte den Flug des Hubschraubers immer noch durch das Fernglas. »Wenn der Feind über einem in der Luft ist, hat man das Ge fühl, ihm hilflos ausgeliefert zu sein«, sagte Royan und rückte instinktiv näher an Nicholas heran. Die grünrote Maschine ver schwand hinter einer Bergkuppe und nahm Kurs auf das Klo ster. »Wenn er nicht nur zu seinem Vergnügen in der Gegend he rumfliegt, sucht er wahrscheinlich unser Camp«, sagte Nicho las, »und sicher auf Befehl seines Chefs, der uns nicht aus dem Auge verlieren will.«
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»Er wird es ohne weiteres finden können. Boris hat nicht versucht, die Hütten irgendwie zu tarnen«, sagte Royan be sorgt. »Am besten, wir verschwinden jetzt.« Sie stand auf. »Eine gute Idee.« Nicholas wollte ihr schon folgen, als er sie plötzlich bei der Hand faßte und zurückzog. »Halt, sie kommen wieder hierher.« Das Motorengeräusch wurde lauter, und sehr bald sahen sie durch das Blätterdach über sich den Hubschrauber. »Jetzt folgt er dem Flußlauf. Offenbar sucht er nach irgend etwas.« »Nach uns?« fragte Royan nervös. »Wenn ihr Chef es ihnen befohlen hat, wäre das möglich«, stimmte Nicholas ihr zu. Die Maschine war jetzt nah herange kommen, und das Heulen der Rotoren war ohrenbetäubend. In diesem Augenblick verlor Tamre die Nerven. Angsterfüllt schrie er auf: »Es ist der Teufel, er ist gekommen, um mich zu holen. Hilf mir, mein Erlöser Jesus Christus, rette mich!« Nicholas wollte ihn festhalten, war aber nicht schnell genug. Tamre riß sich los und sprang auf die Füße. In seiner Furcht vor dem höllischen Feuer lief er heulend davon, den Pfad hin unter in das Dornengestrüpp. Sein langes Gewand wirbelte um seine mageren Beine, und sein schweißglänzendes schwarzes Gesicht hob sich dem näherkommenden Hubschrauber entge gen. Der Pilot bemerkte ihn sofort, der Hubschrauber kippte ab und flog im Tiefflug auf sie zu. Als er sich dem Rand des Ab grundes näherte, drosselte er die Fluggeschwindigkeit. Durch die Frontscheibe konnten sie die Köpfe der Männer in der vor deren Kabine sehen. Der Hubschrauber drosselte die Ge schwindigkeit so weit, daß er schließlich auf der Stelle über dem Fluß schwebte, während Royan und Nicholas versuchten, im dichten Gestrüpp unentdeckt zu bleiben. »Das ist der Amerikaner von der Firma, die hier angeblich
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nach Öl und Mineralien suchen will.« Royan erkannte Jake Helm trotz seiner großen Kopfhörer und der dunklen, spiegelnden Sonnenbrille. Er und der Pilot sahen sich nach allen Seiten um, offenbar um festzustellen, ob sich irgendwo an den Fluß ufern etwas entdecken ließ. »Noch haben sie uns nicht gesehen –« Aber noch während Nicholas das sagte, schaute Jake Helm durch eine Öffnung im Blätterdach direkt auf sie hinunter. Dann klopfte er dem Piloten leicht auf die Schulter und deutete auf Nicholas und Royan. Der Pilot ließ den Hubschrauber bis in die Höhe der Schlucht absinken und unmittelbar vor ihnen über dem Abgrund schwe ben. Nicholas sah, daß es keinen Sinn mehr hatte, sich zu ver stecken, lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm, zog die Krempe des Panamahuts vor das eine Auge und winkte Jake Helm zu. Der Aufseher erwiderte den Gruß nicht. Er starrte mit einem gelangweilten und verächtlichen Blick zu Nicholas herüber, brannte ein Streichholz an und hielt die Flamme unter das Ende des kalten Zigarrenstummels zwischen seinen Lippen. Dann warf er das Streichholz fort und blies den Rauch in die Rich tung von Nicholas. Mit dem gleichen sturen Gesichtsausdruck rief er dem Piloten etwas zu. Sofort stieg der Hubschrauber senkrecht in die Höhe und flog nach Norden in die Richtung auf den Steilhang und das Basislager davon. »Auftrag erledigt. Er hat gefunden, was er suchte.« Royan setzte sich auf. »Und das waren wir!« »Und er muß auch das Camp entdeckt haben. Jetzt weiß er, wo er uns finden kann«, sagte Nicholas. Royan erschauderte, und sie umschlang sich selbst mit bei den Armen. »Es überlief mich kalt, als ich ihn sah. Er sieht aus wie eine Kröte.« »Ach, beruhigen Sie sich doch!« sagte Nicholas. »Was ha
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ben Sie gegen Kröten?« Er stand auf. »Ich glaube nicht, daß wir Urgroßvaters dik-dik heute noch einmal zu Gesicht be kommen werden. Der Hubschrauber hat ihn verjagt. Morgen werde ich es noch einmal versuchen.« »Wir sollten uns nach Tanire umsehen. Wahrscheinlich hat der arme kleine Kerl wieder einen epileptischen Anfall ge habt.« Aber sie irrte sich. Sie fanden den Jungen neben dem Pfad. Er zitterte und weinte immer noch, einen Anfall hatte er aber nicht gehabt. Es gelang Royan sehr bald, ihn zu beruhigen, und er folgte ihnen auf dem Weg zum Camp. Doch bevor sie die Baumgruppe erreichten, lief er in Richtung auf das Kloster davon. Am Abend machten sich Nicholas und Royan vor dem Ein bruch der Dunkelheit noch einmal auf den Weg zum Kloster. »Ich glaube, diese kriminelle Bruderschaft bezeichnet ein solches Aufklärungsunternehmen als casing the joint – das illegale Sammeln von geheimen Informationen«, sagte er, als sie das Hauptschiff der Felsenkathedrale betraten, in dem sich die Gläubigen drängten. »Aus dem, was Tamre sagt, können wir entnehmen, daß die Novizen darauf warten, daß bestimmte Priester die Wache übernehmen, von denen sie wissen, daß sie leicht einschlafen«, sagte Royan leise, als sie stehenblieben, um durch die geöffne ten Türen in den Altarraum zu schauen. »Aber als Außenseiter verfügen wir nicht über solche Infor mationen«, erwiderte Nicholas. Sie konnten beobachten, daß ständig irgendwelche Priester in beiden Richtungen durch diese Türen gingen. »Hier gibt es offenbar keine festen Regeln«, bemerkte Ni cholas.
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»Kein Losungswort und kein besonderes Ritual, das sie be achten müssen, um hineinzukommen.« »Andererseits werden die Wachen an den Türen von jedem, der hineingeht, begrüßt und beim Namen genannt. Es ist nur eine kleine Gemeinschaft, und sie kennen einander genau.« »Ich glaube nicht, daß es mir gelingen würde, als Mönch verkleidet hineingelassen zu werden«, stimmte Nicholas ihr zu. »Ich frage mich nur, was sie mit jemandem tun würden, der in die heiligen Bereiche eindringt.« »Wahrscheinlich werfen sie ihn als Futter für die Krokodile die Terrasse hinunter in die große Lagune«, antwortete sie bos haft. »Jedenfalls werden Sie nicht ohne mich hineingehen.« Er hielt es für sinnlos, sich in dieser Situation mit solchen theoretischen Erwägungen zu beschäftigen. Statt dessen ver suchte er, durch die offenen Türen möglichst viel zu sehen. Das Mittelschiff war offenbar viel kleiner als das Hauptschiff, in dem sie standen. Nur mit Mühe konnte er die im Schatten lie genden Wandgemälde an den Teilen der Innenwände erkennen, die er sehen konnte. In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein zweiter Durchgang. Nach Tamres Beschreibung mußte das der Eingang zum Allerheiligsten sein. Die Öffnung wurde versperrt durch ein schweres hölzernes Gittertor aus dunklen Stangen, die dort, wo sie einander kreuzten, von handge schmiedeten Eisenklammern zusammengehalten wurden. An beiden Seiten der Öffnung hingen von der Decke bis zum Boden reichende, lange bestickte Gobelins, die Szenen aus dem Leben des heiligen Frumentius zeigten. In einer Szene predigte er mit der Bibel in der linken Hand einer knienden Gemeinde und hatte dabei die rechte Hand zum Segen erhoben. Auf dem anderen Gobelin taufte er einen Fürsten. Dieser König trug eine hohe goldene Krone, die der des Abtes Jali Hora glich. Das Haupt des Heiligen war von einem Heiligenschein umgeben. Er selbst hatte ein weißes Gesicht, der König ein schwarzes.
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»Ist das politisch vertretbar?« fragte Nicholas und lächelte. »Haben Sie überlegt, wie wir dort hineinkommen könnten?« erkundigte sich Royan. »Nein, ich dachte an unser Abendessen. Gehen wir!« Beim Essen merkte man Boris von den Folgen der Freßorgie des vergangenen Abends nichts mehr an. Tagsüber war er mit seiner Schrotflinte unterwegs gewesen und hatte ein paar Tau ben geschossen. Tessay hatte sie mariniert und über den glü henden Kohlen gegrillt. »Sagen Sie mir, Engländer, wie war es heute auf der Jagd? Hat der gefährliche gestreifte dik-dik Sie angegriffen? Hey?« Er lachte brüllend. »Haben Ihre Spurensucher Erfolg gehabt?« fragte Nicholas freundlich. »Da! Da! Sie haben Kudu, Buschbock und Büffel aufge spürt. Sie haben sogar ein dik-dik gesehen, aber ohne Streifen. Es tut mir leid, keine Streifen.« Royan wollte etwas sagen, aber Nicholas hob die Hand und schüttelte den Kopf. Sie verstummte, schaute auf ihren Teller und aß ein Stück von der Taubenbrust. »Wir brauchen morgen keine Begleitung«, erklärte Nicholas auf Arabisch. »Wenn er wüßte, was wir gesehen haben, würde er mitkommen wollen.« »Hat Ihre Mami Ihnen nicht beigebracht, höflich zu sein, Engländer? Es gehört sich nicht, eine Sprache zu benutzen, die andere nicht verstehen können. Trinken Sie ein Glas Wodka mit mir.« »Ich überlasse Ihnen gern meinen Anteil«, sagte Nicholas. »Ich weiß, wann mir jemand überlegen ist.« Als Royan versuchte, Tessay während des Essens am Ge spräch zu beteiligen, antwortete sie nur einsilbig. Sie machte einen traurigen und niedergeschlagenen Eindruck. Sie würdigte ihren Mann keines Blickes, auch wenn er noch so laut und auf
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dringlich war. Nach der Mahlzeit ließen sie Tessay mit Boris am Feuer sitzen, neben dem eine neue Flasche Wodka auf dem Tisch stand. »So wie er den Schnaps in sich hineinschüttet, müssen wir mit einer neuen mitternächtlichen Rettungsaktion rechnen«, sagte Nicholas, als sie zu ihren Hütten gingen. »Tessay ist den ganzen Tag mit ihm im Camp allein gewe sen. Dabei ist es wieder zu Reibereien zwischen ihnen gekom men. Sie hat mir gesagt, sobald sie wieder in Adis Abeba sei, werde sie ihn verlassen. Sie könne das nicht mehr ertragen.« »Ich kann nur nicht recht verstehen, wie es zu der Verbin dung zwischen beiden gekommen ist. Sie ist eine schöne Frau und hätte sicher auch einen anderen Mann finden können.« »Manche Frauen fühlen sich zu solchen animalischen Kerlen hingezogen«, erwiderte Royan und zuckte die Schultern. »Viel leicht reizt sie daran die damit verbundene Gefahr. Jedenfalls hat Tessay mich gefragt, ob sie uns morgen begleiten könnte. Sie will auf keinen Fall noch einen Tag allein mit Boris im Lager zurückbleiben. Ich glaube, sie fürchtet das schlimmste. Sie sagt, sie habe es noch nie erlebt, daß er so viel trinkt.« »Sagen Sie ihr, sie könne mitkommen«, sagte Nicholas resi gniert. »Je mehr wir sind, desto lustiger wird es werden. Viel leicht werden wir das dik-dik verscheuchen, wenn wir zu dritt erscheinen, und ich spare Munition.« Es war noch dunkel, als die drei am nächsten Morgen das Camp verließen. Von Boris war noch nichts zu sehen, und als Nicholas nach ihm fragte, sagte Tessay nur: »Nachdem Sie gestern abend zu Bett gegangen waren, hat er die Flasche aus getrunken. Er wird sicher bis zum Mittag in der Hütte bleiben und mich nicht vermissen.« Nicholas hängte sich das Jagdgewehr um und führte sie auf dem Pfad, den Tamre ihnen gestern gezeigt hatte, hinauf zu den Kalksteinfelsen. Unterwegs hörte er, wie Royan Tessay erzähl
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te, daß sie gestern das gestreifte dik-dik gesehen hatten und was sie jetzt planten. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie zu der Stelle unter dem Dornenbaum kamen und sich hinsetzten, um auf das Erscheinen des dik-dik zu warten. »Wie werden Sie das erlegte Tier herüberholen, wenn es Ih nen gelingen sollte, das arme kleine Geschöpf zu schießen?« fragte Royan. »Dafür habe ich schon gesorgt, bevor wir das Camp verlie ßen«, erklärte er. »Ich habe mit dem Führer der Fährtensucher gesprochen. Wenn er einen Schuß hört, wird er mit seinen Kletterseilen herkommen und mir hinüberhelfen.« »Für mich wäre das zu gefährlich«, sagte Tessay und schaute in die Schlucht hinunter. »Neben allem Unsinn kann man in der Armee auch ganz nützliche Dinge lernen«, erwiderte Nicholas. Er setzte sich an den Baumstamm, das Gewehr schußbereit auf dem Schoß. Die beiden Frauen hatten sich neben ihm ins Gras gelegt und sprachen leise miteinander. Nicholas war überzeugt, daß ihr Geflüster auf der anderen Seite der Schlucht nicht zu hören sein würde, und bat sie deshalb auch nicht, so lange still zu sein, bis der dik-dik sich zeigte. Er glaubte, daß, wenn er überhaupt käme, er sich schon sehr bald zeigen würde. Aber er hatte sich geirrt. Um die Mittags zeit war noch immer nichts von ihm zu sehen, und in der Mit tagssonne wurde es fast unerträglich heiß. Nur eine Buschtaube unterbrach die allgemeine Stille mit ihrem klagenden Ruf. Ni cholas fiel es schwer, die Augen offenzuhalten, und er wäre fast eingenickt. Doch kurz bevor er wirklich einschlief, hörte er ganz in der Nähe im Dorngebüsch hinter sich ein Geräusch. Es war ein kaum hörbarer Laut, den er jedoch nur allzugut kannte, ein Geräusch, das seine Nerven elektrisierte und ihn sofort hellwach werden ließ. Sein Herzschlag beschleunigte
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sich, und in der Kehle spürte er den Geschmack von Furcht. Es war das metallische Klicken des Sicherungsflügels an einem AK-47-Sturmgewehr, das schußbereit gemacht wurde. In einer fließenden Bewegung nahm er das Jagdgewehr aus dem Schoß und legte sich auf die beiden Frauen neben ihm, um sie zu schützen. Zugleich brachte er sein Gewehr in Anschlag und zielte in das Gebüsch auf die Stelle, von der das Geräusch gekommen war. »Liegenbleiben!« flüsterte er. »Laßt die Köpfe unten!« Er hatte den Finger am Abzug, und obwohl es im Vergleich zur Kalaschnikow nur eine leichte Waffe war, wollte er das Feuer sofort erwidern. Als er sein Ziel erkannte, richtete er die Waffe darauf. Der Mann kauerte etwa zwanzig Schritte vor ihm und hatte das Sturmgewehr auf das Gesicht von Nicholas gerichtet. Es war ein Schwarzer. Er trug einen abgetragenen Tarnanzug und hatte eine Mütze aus dem gleichen Material auf dem Kopf. An seinem Koppel hingen ein Buschmesser, Handgranate, eine Wasserflasche und alles, was ein Guerillakämpfer sonst noch braucht. Einer von diesen Straßenräubern, dachte Nicholas. Ein ech ter Profi. Laß dich auf kein Risiko ein. Doch zugleich wurde es ihm klar, daß er längst tot wäre, wenn dieser Mann die Absicht hätte, ihn umzubringen. Er zielte mit seinem Gewehr auf das rechte Auge des Räu bers über der Mündung des Sturmgewehrs. Der Mann war sich der Gefahr bewußt, in der er sich befand, kniff die Augen zu sammen und gab dann auf Arabisch einen Befehl. »Salim, nimm die Frauen ins Visier. Wenn er sich bewegt, erschieße sie.« Nicholas hörte, wie sich seitwärts von ihm etwas bewegte. Er sah in die Richtung, ohne den vor ihm stehenden Guerilla kämpfer aus dem Auge zu lassen.
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Ein zweiter, ähnlich gekleideter Mann kam aus dem Dor nengebüsch heraus, und er hatte eine sowjetische Maschinenpi stole an der Hüfte. Der Lauf war abgesägt, denn eine kürzere Waffe eignete sich besser für den Kampf im dichten Unterholz, und ein Munitionsgurt hing um Seinen Hals. Er kam vorsichtig näher und richtete die MP auf die beiden Frauen. Nicholas wußte, wenn er nur kurz den Abzug berührte, würde er Hack fleisch aus ihnen machen. Nun hörte Nicholas, wie es überall im Gebüsch raschelte, und es wurde ihm klar, daß er es nicht nur mit diesen beiden, sondern mit einer ganzen Kampfgruppe zu tun hatte. Vielleicht hätte er einen von ihnen mit einem Schuß erledigen können, aber das hätte den Tod von Royan und Tessay zur Folge ge habt, und auch er selbst wäre nicht lebend davongekommen. Ganz langsam ließ er sein Gewehr sinken, bis die Mündung auf den Boden gerichtet war, legte es dann hin und hob die Hände. »Heben auch Sie die Hände«, sagte er den Frauen, »und tun Sie alles, was Ihnen gesagt wird.« Als der Führer der Gruppe sah, daß Nicholas bereit war, sich zu ergeben, stand er auf und sagte seinen Männern auf Ara bisch: »Nehmt sein Gewehr und seinen Rucksack mit.« »Wir sind britische Staatsangehörige und ganz gewöhnliche Touristen«, sagte Nicholas, und offenbar überraschte es den Guerillero, daß er arabisch sprach. »Wir haben nichts mit dem Militär oder der Regierung zu tun.« »Sei still und halt die Klappe!« fuhr der Mann ihn an. Inzwi schen waren auch seine Kameraden aus der Deckung heraus gekommen. Es waren fünf, aber Nicholas nahm an, daß dies nicht die ganze Kampfgruppe war und daß sich der Rest noch irgendwo versteckt hielt. Es waren offensichtlich gut ausgebil dete Soldaten. Das zeigte die Art, wie sie ihre Gefangenen be handelten und miteinander umgingen. Sie achteten darauf, daß
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jeder ein freies Schußfeld hatte und sich den Gefangenen keine Gelegenheit für einen Fluchtversuch bot. Zunächst wurden Nicholas und die beiden Frauen nach Waffen durchsucht und dann zum Weitermarsch auf den Pfad gebracht. »Wohin bringen Sie uns?« wollte Nicholas wissen. »Keine Fragen!« Der Mann stieß ihm den Kolben seines Sturmgewehrs mit solcher Kraft zwischen die Schulterblätter, daß er fast gestürzt wäre. »Nur die Ruhe, alter Knabe«, sagte Nicholas leise auf Eng lisch. »Das war wirklich nicht nötig.« Sie mußten trotz der großen Hitze den ganzen Nachmittag weitermarschieren. Nicholas orientierte sich nach dem Stand der Sonne und der Richtung, in der der Steilhang verlief, und so konnte er feststellen, daß sie nach Westen marschierten und dem Flußlauf des Nils zur sudanesischen Grenze folgten. Am Spätnachmittag hatten sie bis zu einer Abzweigung vom Fluß tal etwa sechzehn Kilometer zurückgelegt. Die Hänge beider seits des Pfades waren dicht bewaldet, und die drei Gefangenen wurden zunächst bis zu einer Baumgruppe am Rand dieses Waldes geführt. Hier befanden sie sich bereits in der Nähe des Camps der Guerilleros, von dessen Existenz sie bis dahin nichts wahrge nommen hatten. Es war sehr geschickt getarnt und bestand nur aus einigen behelfsmäßig überdachten Schutzräumen und ei nem Ring von Feuerstellen. Die Vorposten waren taktisch ge schickt verteilt, und die mit leichten Maschinengewehren be stückten Schützenlöcher waren bemannt. Nun wurden sie zu einem der überdachten Schutzräume in der Mitte des Lagers geführt, wo drei Männer vor einer, auf einem niedrigen Tisch ausgebreiteten Landkarte saßen. Das waren offenbar die Offiziere, und man erkannte sofort, wer der Befehlshaber war. Der Führer des Spähtrupps, der sie gefan gengenommen hatte, ging zu diesem Mann, grüßte ihn militä
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risch, meldete ihm offenbar den Vorfall und zeigte auf seine Gefangenen. Der Partisanenkommandeur erhob sich und kam heraus ins Sonnenlicht. Er war mittelgroß, wirkte aber durch seine selbst bewußte Haltung größer. Diese Wirkung wurde unterstrichen durch seine breiten Schultern und den kräftigen Körperbau. Er trug einen kurzen krausen Bart, in dem sich schon einige graue Haare zeigten. Die feingeschnittenen Züge des hellbraunen Gesichts wurden belebt durch dunkle, intelligente Augen, die ihre Umgebung mit raschem Blick erfaßten. »Meine Männer sagen mir, daß Sie Arabisch sprechen«, wandte er sich an Nicholas. »Besser als Sie, Mek Nimmur«, erwiderte Nicholas. »So sind Sie jetzt der Führer einer Bande von Straßenräubern und Kidnappern? Ich habe Ihnen doch schon immer gesagt, Sie alter Taugenichts würden nie in den Himmel kommen.« Mek Nimmur starrte ihn überrascht an, aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. »Nicholas! Ich habe Sie nicht wiedererkannt. Sie sind älter geworden und be kommen schon die ersten grauen Haare!« Er breitete die Arme aus, umarmte Nicholas und drückte ihn an die Brust. »Nicholas! Nicholas!« Er küßte ihn auf beide Wangen, hielt ihn an den Schultern fest und sah zu den beiden Frauen hin über, die dieses Schauspiel staunend beobachtet hatten. »Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte er ihnen. »Sie lassen mich erröten, Mek.« Mek küßte ihn noch einmal. »Er hat mir zweimal das Leben gerettet.« »Einmal«, widersprach Nicholas. »Beim zweiten Mal war es ein Versehen. Ich hätte es zulassen sollen, daß man Sie er schoß.« Mek lachte begeistert. »Wie lange ist das her, Nicholas?«
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»Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken.« »Mindestens fünfzehn Jahre«, sagte Mek. »Sind Sie immer noch in der britischen Armee? Welchen Rang haben Sie jetzt? Sie müssen inzwischen General sein?« »Ich bin nur Reserveoffizier«, sagte Nicholas und schüttelte den Kopf. »Ich führe schon seit langem das Leben eines schlichten Zivilisten.« Mek Nimmur hatte Nicholas immer noch nicht losgelassen, schaute aber interessiert zu den beiden Frauen hinüber. »Nicholas hat mich fast alles gelehrt, was ein Soldat wissen muß«, sagte er zu ihnen. Seine Augen richteten sich abwechselnd auf Royan und Tessay, aber dann blieb der Blick an dem dunklen schönen Gesicht der jungen äthiopischen Frau hängen. »Ich kenne Sie«, sagte er. »Ich habe Sie vor Jahren in Adis Abeba gesehen. Damals waren Sie ein junges Mädchen. Ihr Vater war Alto Zemen, ein großartiger und guter Mann. Er wurde von dem Tyrannen Mengistu ermordet.« »Ich kenne Sie auch, Alto Mek. Mein Vater hat Sie hoch ge schätzt. Viele von uns glauben, Sie sollten anstelle jenes ande ren Mannes der Präsident unseres Äthiopien sein.« Sie neigte ehrfurchtsvoll den Kopf und machte einen höflichen kleinen Knicks vor ihm. »Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte er, reichte ihr die Hand, und sie richtete sich wieder auf. Dann wandte er sich an Nicholas. »Es tut mir leid, daß wir Ihnen einen so unfreundli chen Empfang bereitet haben. Einige meiner Männer sind übereifrig. Ich hatte gehört, daß ein paar Fremde im Kloster gewesen seien und sich dort nach bestimmten Dingen erkun digt hätten. Aber genug, hier sind Sie unter Freunden. Ich heiße Sie willkommen.« Mek Nimmur führte sie in seinen Schutzraum, und einer sei ner Leute brachte einen rußgeschwärzten Kessel vom Feuer und goß ihnen starken schwarzen Kaffee in die Becher, die vor
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ihnen auf dem Tisch standen. Er und Nicholas tauschten Erinnerungen aus der Zeit vor dem Falklandkrieg aus, als sie noch Seite an Seite gekämpft hatten, Nicholas als geheimer Militärberater und Mek als jun ger Freiheitskämpfer gegen die Tyrannei von Mengistu. »Aber der Krieg ist jetzt vorüber, Mek«, sagte Nicholas schließlich. »Die Schlacht ist gewonnen. Warum sind Sie und Ihre Männer immer noch hier draußen im Busch? Warum wer den Sie nicht reich und dick und führen wie all die anderen ein angenehmes Leben in Adis Abeba?« »In der Übergangsregierung in Adis Abeba habe ich Feinde. Es sind Männer wie Mengistu. Wenn wir sie losgeworden sind, werde ich aus dem Busch herauskommen.« Nun begannen er und Nicholas ein lebhaftes Gespräch über die politische Situation in Afrika und behandelten dieses kom plizierte Thema so gründlich, daß Royan kaum folgen konnte, denn sie kannte nur wenige Namen der Persönlichkeiten, über die gesprochen wurde. Auch fiel es ihr schwer, die feinen Un terschiede in den religiösen Überzeugungen und die zwischen den einzelnen Stämmen und Völkern herrschende Intoleranz und ihre Vorurteile, die sich im Lauf der vergangenen tausend Jahre entwickelt hatten, zu verstehen. Sie war jedoch beein druckt davon, daß Nicholas über ein so umfassendes Wissen auf diesem Gebiet verfügte und wie er die jeweilige Lage zu beurteilen wußte. Zudem überraschte es sie, zu sehen, welche Bedeutung seine Meinung für einen Mann wie Mek Nimmur hatte, der sich offenbar gerne von ihm beraten ließ. Schließlich fragte Nicholas ihn: »Führen Sie also jetzt Ihren Krieg auch außerhalb der Grenzen von Äthiopien? Und operie ren Sie auch im Sudan?« »Der Krieg im Sudan wütet nun schon seit zwanzig Jahren«, bestätigte Mek. »Die Christen im Süden kämpfen gegen die Verfolgung der Moslems im Norden –«
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»Das ist mir durchaus bewußt, Mek. Aber dies ist nicht Äthiopien. Es ist nicht Ihr Krieg.« »Es sind Christen, und sie leiden unter der Ungerechtigkeit. Ich bin Soldat und Christ. Natürlich ist das mein Krieg.« Tessay hörte sich alles sehr genau an, was Mek sagte, und nun nickte sie zustimmend, und ihre dunklen Augen richteten sich voller Be wunderung auf diesen Mann, den sie für einen Helden hielt. »Alto Mek unternimmt einen Kreuzzug für Christus und die Rechte des einfachen Mannes«, sagte sie begeistert und sah Nicholas dabei an. »Und das Kämpfen ist seine Leidenschaft«, lachte Nicholas und gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Diese Geste war Ausdruck der Verbundenheit, hätte aber auch als Beleidigung aufgenommen werden können. Aber Mek ließ es sich gefallen und lachte. »Und was tun Sie hier, Nicholas, wenn sie nicht mehr Soldat sind? Auch Sie waren einmal ein begeisterter Kämpfer.« »Das hat sich von Grund auf geändert. Ich kämpfe nicht mehr. Ich bin zur Abbay-Schlucht gekommen, um ein dik-dik zu schießen.« »Ein dik-dik?« Mek Nimmur starrte ihn ungläubig an und lachte schallend. »Das kann ich nicht glauben. Sie ein dik-dik, nein, das ist unmöglich. Sie haben etwas ganz anderes vor.« »Es ist die Wahrheit.« »Sie lügen, Nicholas. Sie haben mich noch nie belügen kön nen, dazu kenne ich Sie zu gut. Sie haben irgend etwas Beson deres vor. Und Sie werden es mir sagen, wenn Sie meine Hilfe brauchen.« »Und werden Sie mir dann auch helfen?« »Natürlich. Sie haben mir zweimal das Leben gerettet.« »Einmal«, widersprach Nicholas. »Auch einmal ist genug«, erwiderte Mek Nimmur.
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Das Gespräch dauerte bis zum Abend, und die Sonne stand schon am Horizont, als Mek Nimmur sie einlud, in seinem Camp zu übernachten. »Für diese Nacht sind Sie meine Gäste«, sagte er. »Morgen früh werde ich Sie zu Ihrem Camp am Kloster des heiligen Frumentius begleiten. Meine Männer und ich werden dort das Timkatfest feiern. Der Abt Jali Hora ist mein Freund und Ver bündeter.« »Und das Kloster ist wahrscheinlich Ihr geheimes Basisla ger. Sie lassen sich über das Kloster von den Mönchen mit Proviant und Nachrichten versorgen. Habe ich nicht recht?« »Sie kennen mich zu gut, Nicholas«, mußte Mek Nimmur zu seinem Bedauern feststellen. »Was ich heute weiß, habe ich zum großen Teil Ihnen zu verdanken. So wird es Ihnen nicht schwerfallen, meine Strategie zu durchschauen. Das Kloster ist eine hervorragende Operationsbasis. Es liegt nahe genug an der Grenze –« Er unterbrach sich lächelnd. »Aber das brauche ich gerade Ihnen nicht näher zu erklären.« Mek ließ für Nicholas und Royan eine überdachte Notunter kunft bauen und darin ein bequemes Nachtlager aus frischge schnittenem Gras herrichten. Dort lagen sie nebeneinander un ter dem leichten Blätterdach. Die Nacht war schwülheiß, und deshalb brauchten sie keine Decken. Nicholas hatte einen In sektenspray in seinem Rucksack, um die Mücken fernzuhalten. Sie lagen auf der Grasmatratze so dicht nebeneinander, daß sie ein leises Gespräch führen konnten, ohne von draußen ge hört zu werden. Als Nicholas den Kopf zur Seite drehte, konnte er die dunklen Umrisse von Mek Nimmur und Tessay sehen, die nebeneinander am Feuer saßen. »Äthiopische Frauen sind anders als die arabischen und die meisten anderen afrikanischen Frauen.« Auch Royan schaute zu den beiden hinüber. »Keine Araberin würde es wagen, sich mit einem anderen Mann sehen zu lassen, besonders nicht,
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wenn sie verheiratet ist.« »Wie Sie das auch beurteilen mögen, sie sind ein ausneh mend attraktives Paar«, meinte er. »Ich wünsche ihnen viel Glück. Tessay hat in letzter Zeit auf manches verzichten müs sen – und es wird Zeit, daß sie es nachholt.« Nicholas sah Royan an. »Und wie steht es mit Ihnen, Royan, was sind Sie? Sind Sie eine sittsame, gehorsame Araberin oder eine unabhängige lebensbejahende Europäerin?« »Es ist sowohl etwas zu früh, andererseits aber auch viel zu spät, so intime persönliche Fragen zu erörtern«, antwortete sie und drehte ihm den Rücken zu. »Also werden wir uns heute abend streng an die gebotenen Anstandsregeln halten! Gute Nacht, Woizero Royan.« »Gute Nacht, Alto Nicholas«, sagte sie, ohne sich ihm noch einmal zuzuwenden, und deshalb sah er auch nicht ihr Lächeln. Die Guerilleros brachen am nächsten Tag schon vor Mor gengrauen auf und gliederten sich militärisch während des Marsches. Die Kolonne wurde an der Spitze durch eine Vorhut und auf beiden Seiten des Pfades durch eine Flankendeckung abgesichert. »Die Armee läßt sich in dieser Schlucht nur selten sehen, aber wir sind immer auf ihr Erscheinen vorbereitet«, erklärte Mek Nimmur, »und wenn wir auf ihre Soldaten stoßen, werden wir ihnen den gebührenden Empfang bereiten.« Während Mek Nimmur sprach, schaute Tessay die ganze Zeit wie gebannt zu ihm hinüber, ja, sie hatte ihn den Morgen über kaum aus den Augen gelassen. Nun wandte sie sich an Royan und sagte leise: »Er ist wirklich ein großer Mann, ein Mann, der die Menschen in unserem Land vereinigen könnte, vielleicht zum ersten Mal in tausend Jahren. In seiner Gegen wart werde ich demütig und habe das Gefühl, wieder ein jun
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ges Mädchen zu sein, voller Freude und Hoffnung.« Für den Marsch zum Kloster brauchten sie den ganzen Vor mittag. Unmittelbar bevor sie den Dandera-Fluß erreichten, führte Mek Nimmur seine Männer in das dichte Buschwerk neben dem Pfad und schickte nur einen Mann voraus. Nach dem sie eine Stunde gewartet hatten, kam ihnen eine Gruppe von Akolyten aus dem Kloster entgegen, die schwere Bündel auf den Köpfen trugen. Sie begrüßten Mek ehrfürchtig und gaben den Männern die Bündel, um dann wieder auf dem in die Schlucht führenden Pfad zu verschwinden. Die Bündel enthielten lange Mönchsroben, Kopftücher und Sandalen. Meks Männer zogen ihre Tarnanzüge aus und legten die Mönchsgewänder an. Um möglichst echt zu wirken, waren diese Roben abgetragen und ungewaschen. Darunter trugen sie nur ihre Handfeuerwaffen. Alle anderen Waffen und Ausrü stungsgegenstände versteckten sie in einer Kalksteinhöhle und ließen bei diesem Versteck eine Wache zurück. Als Mönche verkleidet, kamen sie im Kloster an und wurden dort freudig begrüßt. Hier trennten sich Nicholas und die bei den Frauen von Mek und stiegen den steilen Pfad hinauf zu dem aus wilden Feigenbäumen bestehenden Hain. Boris warte te schon auf sie und lief ungeduldig und verärgert im Camp herum. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen, Frau?« knurrte er Tessay an. »Die ganze Nacht herumgehurt, wie?« »Wir haben uns gestern abend verirrt«, sagte Nicholas. Da Boris nicht zu trauen war, hatte er mit Mek Nimmur verabre det, ihm eine Geschichte zu erzählen. »Heute morgen begegne te uns eine Gruppe von Mönchen aus dem Kloster, und sie ha ben uns hierher geführt.« »Sie sind also der große Jäger und Fährtensucher«, sagte Bo ris hämisch. »Sie brauchten meine Hilfe nicht, haben sich aber
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verirrt, nicht wahr Engländer? Jetzt weiß ich, warum Sie nur einen dik-dik schießen wollen.« Er lachte laut und sah dann mit seinen bleichen, ausdruckslosen Augen zu Tessay hinüber. »Mit dir spreche ich später. Jetzt besorge uns etwas zu essen.« Trotz der Hitze waren Nicholas und Royan hungrig, aber sie brauchten nicht lange auf das Essen zu warten. Schon nach wenigen Minuten brachte ihnen Tessay eine wohlschmeckende kalte Mahlzeit an dem im Schatten der Feigenbäume stehenden Tisch. Nicholas lehnte es ab, etwas von dem Wein zu trinken, den Boris ihm anbot. »Ich möchte heute nachmittag noch einmal auf die Jagd ge hen. Ich habe schon fast einen ganzen Tag verloren.« »Soll ich Sie diesmal an die Hand nehmen, Engländer, und dafür sorgen, daß Sie sich nicht mehr verirren?« »Vielen Dank, alter Junge, aber ich glaube, ich werde es auch ohne Ihre Hilfe schaffen.« Sie saßen noch beim Essen, als Nicholas Royan leicht an stieß und sagte: »Ihr Verehrer ist erschienen.« Er neigte den Kopf zur Seite und deutete auf den ungelen ken, schlaksigen Tamre, der unbemerkt nähergekommen war und nun vor der Küchenhütte am Boden saß. Als Royan ihn ansah, grinste er, neigte den Kopf und rutsche verlegen hin und her. »Heute nachmittag werde ich nicht mitkommen«, sagte Roy an, als Boris außer Hörweite war. »Ich fürchte, es wird zu einer unangenehmen Auseinandersetzung zwischen ihm und Tessay kommen. Deshalb möchte ich bei ihr bleiben. Nehmen Sie doch Tamre mit.« »Das ist vielleicht eine reizende Alternative. Ich habe ein ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet.« Als er jedoch sein Gewehr und den Rucksack umgehängt hatte, winkte er dem Jungen, ihm zu folgen. Tamre sah sich erwartungsvoll nach Royan um, aber sie war in ihrer Hütte. Schließlich folgte
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er Nicholas zögernd auf dem steil ansteigenden Pfad. »Führe mich zum anderen Flußufer«, sagte er zu dem Jun gen. »Zeige mir, wie man auf die Seite kommt, wo das heilige Geschöpf lebt.« Tamre horchte erwartungsvoll auf und trottete voraus. Dann führte er Nicholas über die Hängebrücke unter halb der hellroten Klippen. Eine Stunde folgten sie dem Pfad, der sich jedoch allmählich in dem schwer gangbaren, unebenen und steinigen Gelände verlor. Unbeirrt drang Tamre immer tiefer in das Dornenge strüpp ein, und so suchten sie sich während der nächsten bei den Stunden ihren Weg über felsige Höhenzüge und durch Tä ler mit dichtem Dornengestrüpp. »Jetzt verstehe ich, weshalb du Royan nicht hierherbringen wolltest«, sagte Nicholas. Seine bloßen Arme waren von den Dornen zerkratzt, und die Hosenbeine zeigten dort, wo sie im Gestrüpp hängengeblieben waren, Risse. Er merkte sich jedoch genau die Marschroute, und war überzeugt, daß er den Heim weg ohne Schwierigkeiten finden könnte. Nachdem sie einen letzten Bergkamm überwunden hatten, hielt Tamre an und zeigte hinüber zum anderen Flußufer. Unter ihnen lag jetzt die tiefe Schlucht und vor ihnen die schmale Schneise, an der die Quelle entsprang. Nicholas konnte sogar den Dornbaum am anderen Ufer des Dandera-Flusses erken nen, unter dem sie gesessen hatten, als sie von Meks Männern überrascht wurden. Er setzte sich ein paar Minuten und trank einen Schluck aus der Wasserflasche, bevor er sie auch Tamre reichte. »Schließ lich ist er ein Mönch«, beruhigte er sich. »Der kleine Teufel wird sich doch nicht mit AIDS infiziert haben.« Aber trotzdem wischte er die Öffnung der Flasche sorgfältig ab, als Tamre sie ihm zurückgab. Bevor sie den Hang hinunterstiegen, überprüfte er noch ein mal sein Gewehr und blies den Staub von der Linse des Ziel
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fernrohrs. Dann richtete er es auf einen Stein von der Größe eines dik-dik am Fuß des Hanges und stellte das Zielfernrohr auf die geringste Vergrößerung ein. So konnte er auch im dich ten Unterholz jederzeit einen raschen Schuß abgeben. Nun schob er eine Patrone in die Kammer ein, legte den Sicherungs flügel um und stand auf. »Bleibe hinter mir«, sagte er zu dem Jungen, »und tue alles, was ich tue.« Langsam stieg er den Hang hinunter, blieb alle paar Schritte stehen und sah sich nach allen Seiten um. An der Stelle, wo die Quelle entsprang, war die Erde feucht und weich. Die ver schiedensten Tiere und Vögel hatten hier getrunken. Er erkann te die Fährten von Kudus und Buschböcken, darunter aber auch die winzigen, herzförmigen Abdrücke der Hufe seines Beutel tiers. Am Rande des Dornengestrüpps fand er eine Losung eines dik-dik, das damit die Grenze seines Territoriums markiert hat te. Es waren schrotkorngroße Kügelchen, die die kleine Antilo pe hier ablegte, wenn sie an dieser Stelle vorbeikam. Trotz aller bisherigen Fehlschläge war Nicholas von der Jagd auf das kleine Tier jetzt so gefesselt, als sei es ein menschen fressender Löwe, dem er folgte. Er ging mit leisen Schritten weiter und vermied es, auf knackende dürre Zweige oder ra schelndes trockenes Laub zu treten, und achtete auf jede Be wegung und farbliche Veränderung in dem Dornengestrüpp. Es war das Zucken eines Ohrs, mit dem sich das kleine Tier verriet. Mit seinem rotbrauen Fell, das sich kaum von den trok kenen Zweigen dahinter abhob, stand es bewegungslos im Halbschatten, als sei es aus Mahagoni geschnitzt. Nur diese winzige Bewegung hatte es verraten. Es war so nah, daß Nicholas sehen konnte, wie sich das Licht in seinem dunklen Auge spiegelte. Doch plötzlich schnupperte es aufgeregt mit seiner kleinen rüsselähnlichen Nase. Es war sich einer Gefahr
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bewußt, hatte aber noch nicht feststellen können, aus welcher Richtung diese Gefahr kam. Vorsichtig und langsam brachte Nicholas das Gewehr in An schlag. Durch das Zielfernrohr konnte er jedes Haar zwischen den gespitzten Ohren und den kleinen schwarzen Hörnern se hen. Er richtete das Fadenkreuz des Zielfernrohrs auf die Stelle zwischen Kopf und Hals. Das Fell sollte durch den Schuß mög lichst wenig beschädigt werden, was dem Präparator die Arbeit erleichtern würde. »Es ist das heilige Geschöpf. Lobt Gott und den heiligen Jo hannes den Täufer!« rief Tamre laut, fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Wie ein brauner Strich verschwand der dik-dik aus dem Schußbereich des Zielfernrohrs, und man hörte nur noch ein leises Rascheln im Gebüsch. Nicholas senkte langsam das Ge wehr und schaute hinunter auf den Jungen, der immer noch am Boden kniete, Gott und alle Heiligen anrief und betete. »Gute Arbeit. Ich nehme an, du stehst im Sold von Woizero Royan«, sagte er auf Englisch. Er bückte sich, packte den Jun gen und zog ihn auf die Füße. Dann sagte er auf Arabisch: »Du bleibst jetzt hier. Du wirst dich nicht bewegen, kein Wort spre chen, und bis ich komme, um dich zu holen, nur noch ganz leise atmen. Wenn du bis dahin auch nur ein einziges Gebet sprichst, werde ich persönlich dafür sorgen, daß du noch heute den heiligen Petrus am Himmelstor um Einlaß bitten kannst. Hast du mich verstanden?« Er ging allein weiter, aber die kleine Antilope war endgültig verscheucht. Nicholas sah sie noch zweimal, aber nur als flüch tigen rotbraunen Schatten im dichten Gebüsch. Er blieb stehen, verwünschte in Gedanken den kleinen Mönch und hörte das Trappeln der Hufe auf der trockenen Erde, als das Tierchen davonlief, um sich zu verstecken. Schließlich sah er sich ge zwungen, die Jagd für heute aufzugeben.
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Es war schon dunkel, als er und Tamre ins Camp zurückka men. Royan kam ihm entgegen und frage: »Wie war es? Haben Sie den dik-dik gesehen?« »Fragen Sie nicht mich, sondern Ihren Komplizen. Er hat das Tier verscheucht.« »Tamre, du bist ein großartiger junger Mann, und ich bin sehr stolz auf dich«, sagte sie. Der Junge sprang herum wie ein kleiner Hund, kicherte und konnte sich vor Freude über dieses Lob nicht beruhigen. Dann lief er den Pfad hinunter zum Klo ster. Der Ausgang der Jagd hatte Royan so sehr gefallen, daß sie ein Glas Whisky eingoß und es Nicholas brachte, der betrübt am Feuer saß. Er trank einen Schluck und schüttelte sich. »Man sollte sich nie von einem Abstinenzler einen Schnaps eingießen lassen. Mit einer so schweren Hand sollten Sie sich in Schottland an den Wettkämpfen beim Baumstammwerfen beteiligen oder das Schmiedehandwerk erlernen.« Er trank aber trotzdem noch einen kleinen Schluck. Sie hatte sich dicht neben ihn gesetzt, aber erst nach einiger Zeit hörte er, wie erregt sie war. »Was ist los? Irgend etwas beunruhigt Sie, und man hat den Eindruck, Sie säßen auf einem Pulverfaß.« Sie sah sich vorsichtig nach Boris um, der ihnen auf der an deren Seite des Feuers gegenübersaß, und sagte dann mit leiser Stimme auf Arabisch: »Tessay und ich waren heute nachmittag im Kloster, um Mek Nimmur aufzusuchen. Tessay hatte mich gebeten, für den Fall, daß Boris nun, Sie wissen schon, was ich meine.« »Ja, ich kann es mir ungefähr vorstellen. Sie mußten die An standsdame spielen.« Nicholas trank noch einen kleinen Schluck Whisky, atmete zischend aus und sagte mit rauher Stimme: »Fahren Sie bitte fort.«
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»Bevor ich die beiden allein ließ, unterhielten wir uns über das Timkat Fest. Am fünften Tag bringt der Abt das Taberna kel zum Fluß. Mek hat uns gesagt, es gibt einen Pfad, der zwi schen den Klippen bis hinunter ans Flußufer führt.« »Ja, das wissen wir.« »Aber das Interessante daran wußten Sie nicht. Alles schließt sich dieser Prozession zum Fluß an, alle Anwesenden. Der Abt, die geweihten Priester, die Akolyten, die Gläubigen und sogar Mek mit seinen Männern. Sie alle gehen hinunter zum Fluß und bleiben über Nacht dort. Einen ganzen Tag und eine Nacht ist das Kloster verlassen. Niemand ist zurückgeblieben, um es zu bewachen.« Er sah sie über den Rand seines Whiskyglases an und lächel te. »Nun, das ist allerdings sehr interessant«, mußte er zugeben. »Und vergessen Sie nicht, ich werde mitkommen«, sagte sie streng. »Wagen Sie es nicht, auch nur daran zu denken, mich allein zurückzulassen.« Am gleichen Abend nach dem Essen suchte Nicholas sie in ihrer Hütte auf. Das war der einzige Ort im ganzen Camp, wo sie ungestört Zusammensein konnten und nicht fürchten muß ten, belauscht zu werden. Doch diesmal machte er nicht den Fehler, sich auf ihr Bett zu setzen. Während sie am Fußende saß, setzte er sich ihr gegenüber auf einen Schemel. »Bevor wir anfangen, das Unternehmen vorzubereiten, er lauben Sie mir eine Frage. Haben Sie daran gedacht, welche Folgen es haben könnte?« »Sie meinen, was geschehen würde, wenn die Mönche uns dabei erwischen?« fragte Royan. »Zumindest müssen wir damit rechnen, daß sie uns zwingen werden, dieses Tal zu verlassen. Der Abt ist ein sehr mächtiger Mann, und schlimmstenfalls wird man uns auch körperlich
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bedrohen«, sagte Nicholas. »Dies ist für ihre Religion eine der heiligsten Stätten, eine nicht zu unterschätzende Tatsache. Es könnte sehr gefährlich werden und damit enden, daß man uns ein Messer zwischen die Rippen stößt oder versucht, uns zu vergiften.« »Auch Tessay würde sich von uns abwenden. Sie ist eine tief religiöse Frau«, sagte Royan. »Noch unangenehmere Folgen wird es haben, weil wir wahr scheinlich auch Mek Nimmur erheblich verärgern würden.« Dieser Gedanke beunruhigte Nicholas ganz besonders. »Ich weiß nicht, was er tun würde, aber ich fürchte, daß es das Ende unserer Freundschaft bedeuten könnte.« Sie schwiegen eine Zeitlang und dachten darüber nach, wel chen Preis sie für dieses Unternehmen bezahlen würden. Schließlich sagte Nicholas: »Und haben Sie auch darüber nachgedacht, was es persön lich für uns bedeuten würde? Schließlich ist es unsere eigene Kirche, die wir entweihen würden. Sie sind eine gläubige Chri stin. Können Sie ein solches Vorgehen vor sich selbst rechtfer tigen?« »Ich habe darüber nachgedacht«, gab sie zu. »Und ich bin nicht sehr glücklich dabei, aber in Wirklichkeit ist es nicht meine Kirche. Es ist ein anderer Zweig der koptischen Kirche.« »Aber ist das nicht Haarspalterei?« »Die ägyptische Kirche verweigert niemandem den Zugang zu ihren heiligsten Stätten. Ich fühle mich nicht an die Verbote des Abtes gebunden. Ich glaube vielmehr, als gläubige Christin habe ich das Recht, jeden beliebigen Teil der Kathedrale zu betreten.« Er pfiff leise. »Und Sie haben einmal gesagt, ich hätte Rechtsanwalt werden sollen.« »Bitte, Nicky, reden Sie nicht so. Darüber sollten Sie keine Witze machen. Ich weiß nur, daß ich hineingehen muß, koste
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es, was es wolle. Selbst wenn ich Tessay, Mek und die Mönche damit verärgere, ich muß es tun.« »Sie könnten es auch mir überlassen«, sagte er. »Schließlich bin ich ein alter Heide. Ich würde dabei nicht meine ewige Se ligkeit aufs Spiel setzen, mit der ich ohnedies nicht rechnen darf.« »Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Wenn es dort eine Inschrift oder etwas Ähnliches gibt, dann muß ich es se hen. Sie können die Hieroglyphen recht gut lesen, aber nicht so gut wie ich, und sie kennen nicht die hieratischen Schriftzei chen. Ich bin die Expertin – Sie sind nur ein begabter Dilettant. Sie brauchen mich. Ich werde mit Ihnen hineingehen.« »Nun gut. Das ist damit erledigt.« Zu diesem Thema war al so nichts mehr zu sagen. »Doch nun lassen Sie uns überlegen, welche Vorbereitungen wir zu treffen haben. Wir sollten eine Liste von all den Dingen aufstellen, die wir brauchen: Taschen lampe, Messer, Polaroidkamera, Reservefilme –« »Zeichenpapier und weiche Bleistifte, um Abdrucke von den eingravierten Inschriften zu machen«, ergänzte sie die Liste. »Zum Teufel!« Er schnippte ärgerlich mit den Fingern. »Ich habe nicht daran gedacht, das zu besorgen.« »Verstehen Sie jetzt, was ich meine, mein lieber Dilettant? Ich habe daran gedacht.« Ihre Besprechung dauerte noch sehr lange, und schließlich sah Nicholas auf seine Armbanduhr und sagte: »Mitternacht ist längst vorüber. Der Bettzipfel zieht. Gute Nacht.« »Das Fest dauert noch zwei Tage, bis das Tabernakel an den Fluß hinuntergebracht wird. Bis dahin können wir nichts unter nehmen. Was haben Sie jetzt vor?« »Morgen werde ich noch einmal versuchen, dieses ver dammte kleine Bambi zu kriegen. Er hat mich schon zweimal zum Narren gehalten.«
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»Ich werde Sie begleiten«, sagte sie, und mit dieser einfa chen Zusage machte sie ihm eine unverhältnismäßig große Freude. »Wir dürfen nur Tamre nicht mitnehmen«, sagte er er noch, bevor er hinausging. Die kleine Antilope trat aus dem tiefen Schatten des Dor nendickichts heraus, ihr seidiges Fell glänzte im Licht der mor gendlichen Sonne, und sie überquerte die schmale Lichtung. Nicholas’ Atem beschleunigte sich vor Erregung, als er das Tier durch das Zielfernrohr beobachtete. Es kam ihm lächerlich vor, bei der Verfolgung einer so unscheinbaren Beute von ei nem solchen Jagdfieber gepackt zu sein, aber angesichts der Tatsache, daß seine bisherigen Versuche fehlgeschlagen waren, hatte sich die Hoffnung, nun endlich Erfolg zu haben, gestei gert. Dazu kam die typische Leidenschaft des begeisterten Sammlers. Seit dem Verlust seiner Frau und seiner beiden Töchter hatte er alle Energie darauf verwendet, die Sammlung in Quenton Park zu vervollständigen. Nun war die Aussicht darauf, sie durch ein zweites Exemplar dieser Spezies zu berei chern, plötzlich zu einer ganz wichtigen Angelegenheit für ihn geworden. Sein Zeigefinger berührte leicht die rechte Seite des Abzug bügels. Er war entschlossen, nicht zu schießen, bevor das dik dik stehengeblieben war. Solange er sich bewegte, war es nicht möglich, einen absolut sicheren Schuß abzugeben. Sein Ge schoß mußte das Tier sofort tödlich treffen und sollte dabei das Fell möglichst wenig beschädigen. Dazu hatte er das Gewehr mit Vollmantelgeschossen gela den, die ihre Form beim Auftreffen nicht veränderten, keinen weiten Wundkanal zurückließen und beim Ausschuß kein gro ßes Loch aufrissen. Diese Stahlmantelgeschosse stanzten nur
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zwei winzige Löcher mit dem Durchmesser eines Bleistifts in das Fell, die der Präperator, der für sein Museum arbeitete, so vernähen konnte, daß sie nicht mehr zu sehen waren. Er wurde sichtlich nervöser, als er sah, daß das dik-dik of fenbar nicht in der Lichtung stehenbleiben wollte. Dies könnte seine letzte Chance sein. Er wehrte sich gegen die Versuchung, auf das Ziel zu schießen, also mußte er den Finger wieder vom Abzug nehmen. Dicht vor dem Dornengebüsch blieb die Antilope stehen und steckte den kleinen Kopf zwischen die unteren Zweige eines am Rande stehenden Busches. Sie stand jetzt mit der Breitseite Nicholas zugewendet und knabberte an den hellgrünen Blät tern. Ihr Kopf war verdeckt, so daß er den Schuß nicht so an bringen konnte, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Doch die Schulter war frei, und er erkannte deutlich die Umrisse des Schulterblatts unter dem glänzenden rotbraunen Fell. Das war die günstigste Stellung für einen Schuß ins Herz, der tief hinter dem Schulterblatt sitzen mußte. Er richtete das Fadenkreuz des Zielfernrohrs auf diese Stelle und drückte auf den Abzug. Der Schuß peitschte durch die stickigheiße Luft, die kleine Antilope sprang steil in die Höhe und flüchtete mit langen Sät zen. Das Geschoß hatte das Tier wie ein Rapier und nicht wie eine Machete durchschlagen, ihm dabei aber nicht einen so starken Stoß versetzt, daß es umgerissen worden wäre. Mit gesenktem Kopf flüchtete es, die typische Reaktion auf einen Herzschuß. In Wirklichkeit war es schon tot, und die Muskeln konnten nur so lange reagieren, wie der Sauerstoff im Blut nicht aufgebraucht war. »O nein! Nicht in diese Richtung«, rief Nicholas und sprang auf die Füße. Die Antilope lief auf den Rand der Klippe zu und sprang blindlings in den Abgrund, überschlug sich beim Fallen in die hier etwa sechzig Meter tiefe Schlucht und stürzte wahr
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scheinlich in das tosende Wasser des Dandera-Flusses. »Das war ausgesprochenes Pech.« Nicholas sprang über den Busch, hinter dem sie sich versteckt hatten, und lief an den Rand der Steilwand. Royan war ihm gefolgt, und beide schau ten hinunter in die schwindelnde Tiefe. »Da liegt das Tier chen«, sagte sie und zeigte nach unten. Er nickte. »Ja, ich kann sie sehen.« Die kleine Antilope lag unmittelbar unter ihnen auf einer kleinen Felseninsel in der Mitte des Flusses. »Was werden Sie jetzt tun?« fragte sie. »Ich muß hinunter und sie holen.« Er richtete sich auf und trat zurück. »Zum Glück ist es noch früh am Tag, und wir ha ben Zeit genug, es noch vor der Dunkelheit zu schaffen. Ich werde zum Camp zurückgehen und ein paar Männer mitbrin gen, die uns helfen können.« Sie kamen erst am Nachmittag in Begleitung von Boris, sei nen beiden Fährtensuchern und zwei Kürschnern zurück und brachten vier Rollen Nylonseil mit. Nicholas beugte sich über den Rand der Klippe und sagte er leichtert: »Die kleine Antilope liegt immer noch dort. Ich hatte schon befürchtet, sie könnte fortgeschwemmt worden sein.« Inzwischen wickelten die Fährtensucher eines der Seile auf und ließen es in die Schlucht hinunterhängen. »Wir werden zwei Seile brauchen, um damit ganz nach un ten zu kommen«, sagte Nicholas und band selbst die beiden Seile mit einem Knoten zusammen. Dann ließ er sie über den Rand der Klippe hinunter, bis das Ende die Wasseroberfläche berührte, zog sie wieder herauf und maß zwischen den ausge breiteten Armen die gesamte Länge. »Es sind dreißig Klafter, so etwa sechzig Meter. Ich werde es nicht schaffen, so hoch hinaufzuklettern«, sagte er zu Boris.
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»Sie und ihre Leute werden mich wieder heraufziehen müs sen.« Er verankerte das Seil am Stamm eines kräftigen Dornbau mes und sicherte es mit einem für das Festzurren von Schiffstauen üblichen Knoten. Dann testete er die Haltbarkeit des Knotens und ließ alle vier Fährtensucher und Kürschner mit ihrem ganzen Gewicht daran ziehen. »Das sollte reichen«, sagte er, zog sich seine halbhohen Stie fel aus und behielt nur sein Hemd und die Khakishorts an. Am Rand des Abgrunds lehnte er sich mit dem über die Schulter gelegten Seil, das durch die Beine wieder nach vorne lief, zu rück. »Jetzt können wir nur noch hoffen und beten«, sagte er und sprang rückwärts in die Tiefe. Dabei bremste er die Fallge schwindigkeit mit dem Seil und ließ es wie ein Pendel hin und her schwingen, indem er sich immer wieder mit beiden Füßen von der Felswand abstieß. Dabei kam er jedesmal bis kurz vor dem im Wasser liegenden Steinhaufen, auf dem die tote Anti lope lag, und ließ sich dort ins Wasser fallen. Mit dem Ende des Seils zwischen den Zähnen schwamm er mit kräftigen Stö ßen gegen den Strom an und zog sich schließlich auf die Stein insel hinauf. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er wieder zu Atem kam und das schöne kleine Geschöpf bewundern konnte, das er getötet hatte. Er streichelte das seidige Fell und sah sich den einzigartigen Kopf mit der rüsselförmigen Nase an. Wie jeder verantwortungsvolle Jäger wurde auch er beim Anblick des toten Tiers von einem melancholischen Gefühl des Bedau erns ergriffen. Doch es war nicht die Zeit, sich solchen Gedan ken hinzugeben und das Gewissen des erfolgreichen Jägers zu erforschen. Er befestigte die kleine Antilope mit zusammengebundenen Beinen am Ende des Seils, trat einen Schritt zurück und schau te nach oben. Dort blickte Boris über den Rand zu ihm hinun
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ter. »Einholen!« rief er und zog wie verabredet dreimal am Seil. Er konnte die Fährtensucher nicht sehen, aber das Seil straffte sich, und die kleine Antilope wurde ruckweise nach oben ge zogen. Aufmerksam verfolgte er das Unternehmen. Auf dem letzten Drittel verhakte sich das Seil kurz, kam dann aber wie der frei, und mit einem letzten Schwung landete das Tierchen im hohen Bogen auf dem festen Boden oberhalb des Abgrunds. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Seil wieder über den Rand der Klippe hinunterglitt. Boris hatte am Ende des Seils einen großen Stein befestigt, und er selbst beobachtete nun, wie es immer tiefer nach unten rutschte, und gab seinen Männern die notwendigen Anweisungen. Das mit dem Stein beschwerte Ende des Seils berührte die Wasseroberfläche an einer Stelle außerhalb der Reichweite von Nicholas. Nun ließ Boris das Seil so weit hin und her pendeln, daß Nicholas es greifen konnte. Mit einem Schifferknoten knüpfte Nicholas aus dem Ende des Seils eine Schlinge und legte sie sich unter die Achselhöhlen. Dann schaute er hinauf zu Boris. »Einholen!« rief er laut und zog dreimal an dem schlaff he runterhängenden Seil, das sich nun straffte und ihn in die Höhe hob. Spiralförmig über dem Abgrund kreisend, kam er immer höher. Dabei näherte sich ihm die Wand der kesselförmig aus gehöhlten Kluft, bis er sich mit den bloßen Füßen vom Felsen abstoßen und so die Kreisbewegung unterbrechen konnte. Etwa sechzehn Meter unterhalb des oberen Randes der Klippe ging es plötzlich nicht mehr weiter, und er hing hilflos an der Fels wand. »Was ist los?« rief er Boris zu. »Das verdammte Seil hat sich verklemmt«, rief Boris zurück. »Können Sie sehen, wo es festhängt?« Nicholas schaute nach oben und sah, daß das Seil in eine
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senkrecht verlaufende Felsspalte geraten war, wahrscheinlich war es die gleiche Stelle, an der es sich verhängt hatte, als die kleine Antilope nach oben gezogen wurde. Doch sein Gewicht betrug mindestens das Fünffache, und aus diesem Grund war das Seil sehr viel tiefer in die Spalte geraten. Nun hing er etwa dreißig Meter über dem Abgrund in der Luft. »Schaukeln Sie sich los!« rief ihm Boris zu. Gehorsam stieß sich Nicholas von der Wand ab und versuchte das Seil so zu drehen, daß es sich aus dem Spalt löste. Er bemühte sich, bis ihm der Schweiß in die Augen lief und er sich mit dem Seil unter den Armen wundgerieben hatte. »Es geht nicht!« rief er. »Versuchen Sie es mit Gewalt!« Er wartete einen Augenblick und sah dann, wie sich das Seil über der Spalte straffte, als fünf starke Männer am oberen Ende mit aller Kraft daran zogen. Die Fährtensucher stimmten dazu einen rhythmischen Gesang an, mit dem sie auch bei anderen Gelegenheiten ihre Arbeit begleiteten. Doch das Ende des Seiles rührte sich nicht von der Stelle. Nicholas wußte, daß es den Männern nicht gelingen würde, es herauszubekommen. Er blickte hinunter. Die Wasseroberfläche schien viel tiefer unter ihm zu liegen als dreißig Meter. »Die Endgeschwindigkeit des menschlichen Körpers beträgt zweihundertvierzig Kilometer pro Stunde«, erinnerte er sich. Wenn er mit dieser Geschwindigkeit auf der Wasseroberfläche landete, dann würde es so sein, als landete er auf Beton. »Aber ganz so schnell werde ich nicht fallen«, versuchte er sich zu beruhigen. Er schaute wieder hinauf. Die Männer auf der Klippe zogen immer noch mit aller Kraft an dem Seil. In diesem Augenblick war ein Strang des Nylonseils an der scharfen Kante des Spalts durchgerieben und löste sich von dem Hauptstrang wie ein lan ger grüner Wurm.
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»Nicht mehr ziehen!« rief Nicholas laut. »Werfen Sie das Seil herunter!« Aber Boris war nicht mehr zu sehen. Er half den anderen bei dem Versuch, den Strick mit Gewalt aus dem Spalt zu ziehen. Nun löste sich auch der zweite Strang, und Nicholas hing nur noch an einem einzigen, der, wie er erkannte, schon im näch sten Augenblick abreißen würde. »Boris, verdammter Schweinekerl, hör auf zu ziehen!« Aber der Russe konnte ihn nicht hören, und mit einem leisen Knall riß auch der dritte und letzte Strang auseinander. Nicholas stürzte senkrecht nach unten, während das lose En de des abgerissenen Seils über seinem Kopf flatterte. Er riß beide Arme in die Höhe, um den Sturz zu stabilisieren, streckte die Beine nach unten aus, um in dieser Haltung auf der Was seroberfläche aufzutreffen. Er dachte an die kleine Felseninsel im Fluß. Würde er neben ihr ins Wasser fallen oder auf den Steinen landen und sich da bei sämtliche Knochen brechen? Er wagte es nicht, hinunterzu sehen, denn wenn er flach auf das Wasser fiel, würde er sich die Rippen brechen und wahrscheinlich das Rückgrat verren ken. Die hohe Geschwindigkeit des Sturzes nahm ihm fast den Atem, und erst unmittelbar vor dem Eintauchen ins Wasser konnte er noch einen letzten Atemzug tun. Der Aufprall war unglaublich hart. Er spürte, wie der Stoß durch das Rückgrat den Hinterkopf erschütterte, so daß die Zähne aufeinander schlugen und er vor den Augen Funken sprühen sah. Er tauchte tief ins Wasser, aber immer noch so schnell, daß er den Ruck in den Hüften spürte, als die Füße auf dem Grund des Flusses landeten. Seine Knie knickten ein, und er fürchtete, beide Beine gebrochen zu haben. Der Wasserdruck preßte ihm die Luft aus den Lungen, und erst als er sich verzweifelt nach Luft ringend vom Grund ab
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stieß, stellte er erleichtert fest, daß die Beine noch heil waren. Als er schnaubend und prustend auftauchte, sah er, daß er nur etwa zwei Meter neben der kleinen Felseninsel ins Wasser ge stürzt war. Doch die Strömung riß ihn sofort ein ganzes Stück weiter. Er hielt sich wassertretend an der Oberfläche des rasch dahinfließenden Flusses, schüttelte sich das Wasser aus den Augen und sah sich um. Er schätzte die Geschwindigkeit, mit der er an der Felswand vorbeigetrieben wurde, auf etwa zehn Knoten. Beim Zusammenprall mit einem Felsblock hätte er sich die Knochen brechen können. Deshalb drehte er sich auf den Rücken und streckte die Beine flußabwärts aus, um einen möglichen Zusammenstoß mit einem Felsblock abfangen zu können. »Jetzt geht es aber wirklich los«, sagte er laut und war auf al les gefaßt. »Es gibt nur noch eine Möglichkeit: ich werde bis zur Einmündung in den Blauen Nil schwimmen müssen.« Er versuchte zu berechnen, wie weit er noch von der Stelle entfernt war, wo der Fluß durch die schmale Kluft im rosa Kalkstein in die Tiefe gestürzt, und wie lange er bis dorthin noch schwimmen mußte. Er überlegte: Es sind noch minde stens sechs Kilometer, und der Fluß überwindet bis dahin einen Höhenunterschied von fast dreihundert Metern. Das heißt, auf dieser Strecke liegen noch einige Stromschnellen und wahr scheinlich auch Wasserfälle. Von hier aus sieht es nicht so aus, und ich werde vermutlich nicht durchkommen, ohne dabei ei nige Hautfetzen an den scharfkantigen Felsen zurücklassen zu müssen. Er schaute nach oben. Die Felswände näherten sich und stie ßen senkrecht über ihm fast zusammen. Zwischen ihnen zeigte sich nur ein ganz schmaler Streifen des blauen Himmels, und in der Tiefe war es düster, denn im Lauf der Jahrtausende hatte der Fluß die Felswände ausgewaschen. Ein Glück, daß wir jetzt die Trockenperiode haben. Wie mag
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es hier in der Regenzeit aussehen? überlegte er. Er schaute hin auf und sah etwa fünf bis sechs Meter über sich die in die Wand eingeschnittene Markierung des Hochwassers. Die Vorstellung, von einem Wettersturz überrascht zu wer den, ließ ihn schaudern. Doch nun konzentrierte er sich auf den vor ihm liegenden Abschnitt des Flusses. Er war inzwischen wieder zu Atem gekommen und versuchte festzustellen, ob und wie schlimm er sich verletzt hatte. Erleichtert stellte er fest, daß er außer einigen unbedeutenden Prellungen und einer Zerrung am Knie keinen Schaden genommen hatte. Arme und Beine ließen sich ungehindert bewegen, und wenn er ein paar Stöße zur Seite schwimmen mußte, um einem Felsblock auszuwei chen, hinderte ihn die Zerrung am Knie nicht daran. Nun näherte er sich einer Stelle, von der ein neues Geräusch ausging. Es war ein dumpfes Grollen, das allmählich immer stärker wurde. Die Wände der Schlucht rückten zusammen, und die Strömung beschleunigte sich, je enger der Durchlaß wurde. Das Getöse des durch die Enge der Schlucht strömen den Wassers ließ die Luft erzittern. Nicholas schwamm mit einigen kräftigen Stößen durch die Stromschnelle zur nächsten Felswand und versuchte eine Stelle zu finden, an der er sich festhalten konnte, aber der Fluß hatte die Wand so glatt poliert, daß seine Hände immer wieder ab rutschten. Benommen vom lauten Brausen des Wassers sah er, wie sich die Oberfläche des Gesteins um ihn her geglättet hatte, als sei es Glas. Wie ein Pferd, das die Ohren spitzt, wenn es zum Sprung ansetzt, spürte der Fluß, was vor ihm lag. Nicholas stieß sich noch einmal von der Felswand ab, um freier manövrieren zu können, und legte sich, die Füße flußab wärts gerichtet, auf den Rücken. Plötzlich öffnete sich unter ihm ein Abgrund, die Luft war erfüllt von weißem Schaum, und er wurde in den Wirbel hineingerissen. Der Sturz schien eine Ewigkeit zu dauern, sein Magen wurde gegen die Rippen
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gepreßt, und erneut schlug er auf der Wasserfläche auf und tauchte tief ins Wasser hinein. Mühsam kämpfte er sich an die Oberfläche und holte keu chend Luft. Er wurde in den Strudeln des großen Kessels un terhalb des Wasserfalls herumgewirbelt und sah sich verzwei felt nach einem Halt an den Felsen um. Als erstes entdeckte er den weißschäumenden Vorhang des Wasserfalls, der ihn in die Tiefe gerissen hatte, und dann die schmale Spalte, durch die sich der Fluß den Weg in die Tiefe suchte. Doch zunächst fühlte er sich im Rückstau des Beckens unterhalb des Wasserfalls durchaus sicher. Der Strudel drückte ihn gegen die eine Seite des Beckens unmittelbar unterhalb des Katarakts. Er tastete sich an der Wand entlang und ergriff ein Büschel Farnkraut, das aus einer Spalte in der Felswand he rauswuchs. Hier konnte er sich endlich eine Weile ausruhen und über seine Lage nachdenken. Doch sehr bald wurde ihm klar, daß er aus der Schlucht nur herauskommen konnte, wenn er dem Flußlauf folgte und sich darauf gefaßt machte, weitere Hinder nisse zu überwinden. Das konnten Stromschnellen, aber auch weitere Wasserfälle sein wie dieser, der hier neben ihm in die Tiefe stürzte. Gäbe es doch nur irgendeine Möglichkeit, an der Wand hin aufzuklettern! Er blickte nach oben, aber an dem nach innen überhängenden Felsen gab es keine Möglichkeit. Als er sich die Felswand genauer ansah, fiel sein Blick auf eine doppelte Reihe dunkler Markierungen, die zu regelmäßig nebeneinanderlagen, um auf natürliche Weise entstanden zu sein. Sie begannen an der Wasseroberfläche und setzten sich fort bis zu dem etwa dreißig Meter darüberliegenden, oberen Rand der Felswand. Er ließ das Farnbüschel wieder los und schwamm langsam an die Stelle, wo die Markierungen unmit telbar oberhalb der Wasserfläche begannen.
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Als er danach griff, stellte er fest, daß es etwa fünfundzwan zig Quadratzentimeter große, in den Stein getriebene Nischen waren. Der seitliche Abstand zwischen diesen beiden, senk recht nach oben verlaufenden Reihen betrug etwa vier Meter, wobei sich jeweils zwei dieser Nischen genau gegenüberlagen. Die erste, bei Hochwasser unter der Wasseroberfläche liegende Nische hatte abgeschliffene, geglättete Ränder, er konnte je doch erkennen, daß die darüberliegenden Quadrate scharfe Kanten hatten. Sie mußten schon sehr alt sein, überlegte er, denn sonst könnte die unterste nicht schon so stark ausgewaschen sein. Es ließ sich nur schwer vorstellen, wie irgend jemand hier herun tergekommen war, um sie aus der Felswand herauszustemmen. Er hielt sich an der nächstbesten Nische fest und betrachtete das Muster auf der glatten Oberfläche der Klippe. Warum hat sich irgend jemand diese Mühe gemacht? dachte er. »Wer hat es getan, und weshalb sind diejenigen, die diese Nischen ange legt haben, in die Schlucht gestiegen?« Ein unlösbares Rätsel! Doch nun fiel sein Blick auf eine andere Stelle, an der eine kreisrunde Vertiefung in die Felswand eingemeißelt worden war. Sie lag genau in der Mitte zwischen den beiden Reihen von Nischen und oberhalb der Hochwassermarke des Flusses. Von unten hatte man den Eindruck, daß die Vertiefung tatsäch lich kreisrund war und daher nicht auf natürliche Weise ent standen sein konnte. Er schwamm weiter und versuchte an eine Stelle zu kom men, von der aus sich alles deutlicher erkennen ließ. Die runde Scheibe schien eine in die Felswand eingemeißelte Plakette zu sein und erinnerte ihn an ähnliche Markierungen in den schwarzen Felswänden beiderseits des Nils unterhalb des er sten Katarakts von Assuan, die vor Jahrtausenden angebracht wurden, um den jeweiligen Wasserstand des Flusses zu mes sen. Hier war es jedoch zu dunkel, und der Winkel, aus dem er
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die runde Vertiefung betrachtete, war zu flach, um mit Sicher heit sagen zu können, daß sie von Menschen ausgemeißelt worden waren, oder um zu erkennen, ob sich auf dieser Schei be irgendwelche Gravuren oder Schriftzeichen befanden. Er wollte versuchen, über diese Nischen die Wand hinaufzu klettern, und mit einiger Mühe gelang es ihm, sich an eine von ihnen zu klammern und aus dem Wasser herauszuziehen. Aber die Zwischenräume zwischen den einzelnen Nischen waren zu groß, und er fiel wieder zurück und schluckte dabei noch mehr Wasser. Nur die Ruhe, mein Junge – du wirst weiterschwimmen müssen. Es hat keinen Sinn, deine Kräfte zu verschwenden. Eines Tages wirst du zurückkommen und dir diese Wand näher ansehen. Erst jetzt wurde ihm klar, wie nah er der völligen Erschöp fung war. Das von den Bergen herabfließende Schmelzwasser war so kalt, daß er mit den Zähnen klapperte. Ich bin zu sehr ausgekühlt und muß versuchen, hier heraus zukommen, solange ich noch bei Kräften bin, überlegte er. Er stieß sich von der Felswand ab und schwamm auf die en ge Öffnung zu, durch die der Dandera-Fluß sich zwängte, be vor er nach weiteren Stromschnellen in den Blauen Nil münde te. Er spürte, wie das Wasser ihn mitriß, und ließ sich – ohne sich dagegen zu wehren – von der Strömung mitnehmen. Das ist die Berg- und Talfahrt des Teufels! dachte er. Es geht immer tiefer hinunter, und niemand kann sagen, wo es aufhört. Die ersten Stromschnellen zerrten unbarmherzig an ihm und schienen nicht enden zu wollen. Doch schließlich wurde er in einen langsamer fließenden Teil des Flusses gespült, legte sich auf den Rücken, um Luft zu schöpfen und nach oben zu schau en. Dort ließ sich aber kaum etwas erkennen, denn die Fels wände über ihm rückten so nahe zusammen, daß sie fast zu sammenstießen. Es war dunkel, die Luft war schwülwarm, und
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es roch nach Fledermäusen. Aber er hatte nicht viel Zeit, sich seine Umgebung näher anzusehen, denn erneut hörte er das laute Tosen des Wassers vor ihm. Eine neue Stromschnelle riß ihn mit und beförderte ihn über die nächste Stufe weiter in die Tiefe. Nach einiger Zeit verlor er völlig die Orientierung und konn te nicht mehr sagen, wie weit er vorangekommen war und wie viele Katarakte er überlebt hatte. Es war ein ständiger Kampf gegen die Kälte, gegen den Schmerz, den ihm der Wasserdruck in den Lungen bereitete, und gegen die Anspannung in den Muskeln und Sehnen. Der Fluß hatte ihn schlimm zugerichtet. Plötzlich änderte sich das Licht. Es war so, als sei Nicholas aus dem düsteren Dunkel am Boden der Schlucht in das grelle Licht eines Scheinwerfers geraten, das ihm direkt in die Augen leuchtete, und er spürte, daß die ungebändigte wilde Kraft der reißenden Strömung nachgelassen hatte. Er blinzelte hinauf in das Sonnenlicht, schaute dann zurück und sah, daß er durch die Öffnung in der rosafarbenen Felswand in den, ihm bereits be kannten Teil des Flußlaufs gespült worden war, den er mit Royan erkundet hatte. Er näherte sich nun der Hängebrücke und konnte mit letzter Kraft auf den weißen Sand eines schma len Uferstreifens zusteuern. Eines der großen Seile hatte sich von der Brücke gelöst und hing nun bis auf die Wasserfläche herunter. Es gelang ihm, es zu packen, als er daran vorbeigetrieben wurde, und sich ans Ufer zu ziehen. Bei dem Versuch, aus dem Wasser herauszu kriechen, blieb er mit dem Gesicht im Sand liegen und mußte sich übergeben. Er genoß das angenehme Gefühl, sich endlich entspannen und ausruhen zu können. Sein letzter Gedanke war: Ich bin noch am Leben. In einem Zustand zwischen Schlaf und Bewußtlosigkeit blieb er liegen.
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Er wußte nicht, wie lange er schon so dagelegen hatte, aber als ihn eine Hand an der Schulter berührte, um ihn wachzurüt teln, und ihn jemand mit leiser Stimme ansprach, ärgerte er sich über die Störung. »Effendi, wachen Sie auf! Die schöne Woizero sucht Sie.« Mit großer Mühe richtete Nicholas sich auf. Neben ihm knie te Tamre, grinste und schüttelte den Kopf. »Bitte, Effendi, kommen Sie mit. Die Woizero sucht das an dere Flußufer nach Ihnen ab. Sie weint und ruft Sie beim Vor namen«, sagte Tamre. Er war der einzige Mensch, den Nicho las kannte, der es fertigbrachte, gleichzeitig besorgt auszusehen und zu grinsen. Nicholas sah sich um und stellte fest, daß es schon spät am Nachmittag war, denn die große rote Sonnen scheibe schaute gerade noch über den Rand der Steilwand. Noch im Sand sitzend, versuchte Nicholas, festzustellen, wo er sich verletzt hatte. Alle Muskeln taten ihm weh, und seine Arme und Beine zeigten blutige Schrammen und Prellungen, aber er konnte keinen Knochenbruch feststellen. Und obwohl er dort eine Beule am Kopf hatte, wo er auf einen Stein geprallt war, konnte er klar denken. »Hilf mir, aufzustehen!« sagte er. Tamre schob seine Schul ter unter die von dem Seil aufgeriebene Achselhöhle und half ihm auf die Füße. Dann kletterten beide den Hang hinauf auf den zur Hänge brücke führenden Pfad, die sie langsam überquerten. Nicholas war kaum am anderen Ufer angekommen, als er ei nen freudigen Aufschrei hörte. »Nicky! O lieber Gott! Sie sind in Sicherheit.« Roy an kam den Pfad heruntergelaufen und umarmte ihn. »Ich war verzwei felt. Ich glaubte schon –« Sie unterbrach sich und hielt ihn auf Armeslänge vor sich hin, um ihn genauer anzuschauen. »Haben Sie sich wirklich nichts getan? Ich fürchtete schon, ich würde nur noch Ihren zerschmetterten Körper finden –«
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»Sie kennen mich doch«, grinste er und versuchte, nicht zu hinken, »Drei Meter groß und kugelfest. So schnell werden Sie mich nicht los. Ich habe das doch nur getan, um von Ihnen um armt zu werden.« Darauf gab sie ihn sofort frei und sagte: »Denken Sie sich nichts dabei. Ich bin freundlich zu allen mißhandelten und wehrlosen Tieren.« Aber ihr Lächeln strafte sie Lügen. »Trotz dem ist es gut, Sie heil wiederzuhaben, Nicky.« »Wo ist Boris?« fragte er. »Er und die Fährtensucher sehen sich weiter flußabwärts nach Ihnen um. Wahrscheinlich hofft er dort irgendwo ihre Leiche zu finden.« »Was hat er mit meinem dik-dik gemacht?« »Allzuviel kann Ihnen nicht geschehen sein, wenn Sie sich darum noch Sorgen machen. Die Kürschner haben die kleine Antilope ins Camp mitgenommen.« »Verdammt! Ich muß dabei sein, wenn sie ihr das Fell ab ziehen und sie präparieren. Sonst werden sie alles verderben!« Er legte Tamre einen Arm über die Schultern und sagte: »Komm mit, mein Junge. Wir müssen uns beeilen.« Nicholas wußte, daß die kleine Antilope bei dieser Hitze sehr bald verwesen und sich das Haar von der Haut lösen würde, wenn man sie nicht sofort sachgemäß präparierte. Es war wich tig, ihr so bald wie möglich das Fell abzuziehen. Man hatte schon zu lange damit gewartet, und das Präparieren eines gan zen Tierkörpers war eine schwierige Arbeit, die nur Fachleute erledigen konnten. Es war schon dunkel, als er auf Tamre gestützt hinkend das Camp erreichte. Er rief auf Arabisch nach den Kürschnern. »Ya, Kif! Ya, Salin!« Und als sie aus ihren Hütten heraus kamen, fragte er besorgt: »Haben Sie schon angefangen?«
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»Noch nicht, Effendi. Wir haben zuerst zu Abend gegessen.« »Diesmal ist eure Gefräßigkeit eine Tugend gewesen. Rührt das Tier nicht an, bis ich komme. Bis dahin holt eine Gaslater ne.« Er humpelte zu seiner Hütte, zog sich aus und betupfte alle wunden Stellen und Abschürfungen mit Mercurochrom. Dann zog er sich saubere Unterwäsche und einen frischen Khakianzug an, holte aus seinem Gepäck die in ein Baumwoll tuch eingewickelten Seziermesser und ging damit in die Hütte der Kürschner. Im grellen Licht der Butangaslaterne hatte er gerade begon nen, die Haut an den Innenseiten der Läufe und am Bauch der kleinen Antilope aufzuschneiden, als Boris hereinkam. »Hat Ihnen das Schwimmen Spaß gemacht, Engländer?« »Es war erfrischend, vielen Dank.« Nicholas lächelte. »Ich nehme nicht an, daß Sie sich gerne daran erinnern, was Sie über mein gestreiftes dik-dik gesagt haben«, sagte er freund lich. »Ich glaube, Sie sagten, ein solches verdammtes Tier gibt es nicht.« »Es sieht aus wie eine Ratte. Ein richtiger Jäger würde sich mit so etwas nicht abgeben«, erwiderte Boris in arrogantem Ton. »Nun, da Sie Ihre Ratte haben, Engländer, können wir vielleicht nach Adis Abeba zurückfahren?« »Ich habe Sie für eine Safari von drei Wochen bezahlt. Wir werden erst fahren, wenn ich es sage«, erwiderte Nicholas. Boris brummte und verließ die Hütte. Nicholas kam rasch mit seiner Arbeit voran, denn seine Mes ser eigneten sich besonders gut dafür: Er zog sie regelmäßig an einem Schleifstein aus Keramik ab, und sie waren so scharf, daß sich die Haare an seinem Unterarm schon bei der leichte sten Berührung damit abrasieren ließen. Das Fell von den Beinen der kleinen Antilope mußte so ab gezogen werden, daß die winzigen Hufe noch daran haften blieben. Bevor er damit fertig war, kam wieder jemand in die
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Hütte. Er trug die lange Mönchskutte und Kopfbedeckung, und erst als er zu sprechen anfing, erkannte Nicholas Mek Nimmur. »Wie ich höre, haben Sie sich wieder in Gefahr gegeben, Ni cholas. Nun wollte ich mich vergewissern, ob Sie noch am Le ben sind. Im Kloster erzählte man sich, Sie seien ertrunken. Das habe ich allerdings nicht für möglich gehalten, denn so leicht werden Sie nicht sterben.« »Ich hoffe, Sie haben recht, Mek«, erwiderte Nicholas und lachte. Mek hockte sich vor ihn auf den Boden. »Geben Sie mir ein Messer. Ich werde mir die Hufe vornehmen. Es wird schneller gehen, wenn ich Ihnen helfe.« Wortlos reichte Nicholas ihm eines der Messer. Er wußte, daß Mek die Hufe präparieren konnte, denn er hatte es ihn schon vor Jahren gelehrt. Wenn sie sich die Arbeit teilten, wür de es schneller gehen, und er mußte nicht mehr fürchten, daß das Fell verdarb. Nicholas nahm sich jetzt den Kopf vor, der war am schwie rigsten. Das Fell mußte abgezogen werden wie ein Handschuh, und die Augenlider, Lippen und Nüstern mußten von innen her gelöst werden. Am schwierigsten war es, den Knorpel aus den Ohren zu bekommen, ohne sie zu beschädigen. Sie arbeiteten eine Zeitlang schweigend weiter, doch dann fragte Mek un vermittelt: »Wie gut kennen Sie diesen Russen, Boris Brusilow?« »Ich habe ihn zum ersten Mal gesehen, als ich aus dem Flug zeug stieg. Er wurde mir von einem Freund empfohlen.« »Das kann kein sehr guter Freund gewesen sein.« Mek sah mit finsterem Blick zu ihm auf. »Ich bin gekommen, um Sie vor ihm zu warnen, Nicholas.« »Ich höre«, sagte Nicholas ruhig. »1985 wurde ich von den Halsabschneidern Mengistus im Karl-Marx-Gefangenenlager bei Adis Abeba eingesperrt. Bru
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silow gehörte zu den Leuten, die die Gefangenen verhörten. Er war Mitglied des KGB. Seine Lieblingsmethode war es, dem Mann oder der Frau, die er befragte, das Ende eines Schlauchs, der mit einem Kompressor verbunden war, in den After zu stecken und dann den Kompressor einzuschalten. Die Unglück lichen wurden aufgeblasen wie Ballons, bis ihre Eingeweide zerplatzten.« Er machte eine Pause und nahm sich wieder einen Huf der Antilope vor. Dann fuhr er fort: »Ich bin dieser Proze dur entgangen, da ich nicht mehr von ihm verhört wurde. Er zog sich ins Privatleben zurück, als Mengistu fliehen mußte, und arbeitete als Berufsjäger. Ich weiß nicht, wie er Woizero Tessay dazu gebracht hat, ihn zu heiraten, aber wie ich diesen Mann kenne, hat er ihr wahrscheinlich kaum eine Wahl gelas sen.« »Natürlich habe auch ich kein großes Vertrauen zu ihm«, mußte Nicholas zugeben. Sie setzten schweigend ihre Arbeit fort, bis Mek ihm nach einiger Zeit zuflüsterte: »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sa gen, daß ich ihn unter Umständen töten muß.« Wieder schwiegen sie, bis Mek alle vier Hufe herauspräpa riert hatte. Dann stand er auf. »Heutzutage ist das Leben unsi cher, Nicholas. Wenn ich mich gezwungen sehen sollte, plötz lich abzureisen, ohne mich von Ihnen verabschieden zu kön nen, dann gibt es jemanden in Adis Abeba, der mich erreichen kann, wenn Sie mich brauchen. Es ist Colonel Maryam Kidane im Verteidigungsministerium. Wir sind befreundet. Mein Deckname ist ›die Schwalbe‹. Wenn Sie mich so nennen, wird er wissen, von wem Sie sprechen.« Sie umarmten sich kurz. »Gott befohlen!« sagte Mek und verließ die Hütte. Seine in die Mönchsrobe gehüllte Gestalt verschwand in der Nacht. Nicholas stand noch einige Zeit an der Tür und ging dann wieder an die Arbeit. Es war schon spät, als er die Innenseite des Fells mit einer
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Mischung aus Steinsalz und einem Gerbemittel eingerieben hatte, um es vor dem Speckkäfer und anderen Insekten und Bakterien zu schützen, die es zerstören könnten. Schließlich legte er es mit der feuchten Seite nach oben auf den Boden der Hütte und streute weiteres Steinsalz auf die Stelle, an denen noch Fleischreste klebten. Er hatte die Wände der Hütte zum Schutz gegen Hyänen mit Drahtnetzen verstärken lassen. Eine gefräßige Hyäne hätte das Fell in wenigen Sekunden verschlingen können. Bevor er seine Laterne nahm, um zur Küche zu gehen, sicherte er die Tür der Hütte mit einem festen Verschluß aus Draht. Die anderen hat ten alle schon gegessen und waren längst zu Bett gegangen, aber Tessay hatte den äthiopischen Koch beauftragt, seine Por tion warmzuhalten. Erst als er das Essen roch, spürte er, wie hungrig er war. Am nächsten Morgen war Nicholas so steif, daß er wie ein alter Mann zur Hütte des Kürschner hinunterhumpelte. Zuerst sah er sich das gestern abgezogene Fell an und streute noch einmal Salz darüber. Dann gab er Kif und Salin den Schädel des dik-dik und sagte ihnen, sie sollten ihn in einen Ameisen haufen legen, damit die Ameisen den Rest des daran hängen den Fleisches abnagten und die Hirnschale säuberten. Diese Methode hielt er für besser als das Auskochen des Schädels. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Trophäe in ei nem guten Zustand war, ging er zur Küchenhütte hinunter, wo Boris ihn freundlich begrüßte. »Nun, Engländer, fahren wir also jetzt nach Adis Abeba, da? Hier gibt es nichts mehr zu tun.« »Wir werden noch hierbleiben und im Kloster Aufnahmen von den Timkat-Feierlichkeiten machen«, erwiderte Nicholas. »Und anschließend werde ich vielleicht noch einen MenelikBuschbock schießen. Vielleicht habe ich Glück. Im übrigen habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir erst aufbrechen, wenn ich
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es sage.« Boris verzog das Gesicht. »Sie sind verrückt, Engländer. Warum wollen Sie bei dieser Hitze hierbleiben und sich den Humbug ansehen, den die Leute im Kloster veranstalten?« »Heute werde ich fischen gehen, und morgen werden wir uns das Timkat-Fest ansehen.« »Sie haben doch gar keine Angelrute«, erwiderte Boris, aber Nicholas zeigte ihm ein kleines Futteral aus Baumwollstoff, das nicht länger war als eine Damenhandtasche, und zog eine vierteilige Hardy-Angelrute heraus. Er fragte Royan, die ihm am Tisch gegenübersaß: »Wollen Sie mich begleiten?« Sie gingen stromaufwärts bis zur Hängebrücke, wo Nicholas die Gerte zusammensteckte und eine Fliege an das Vorfach knüpfte. »Royal Coachman.« Er zeigte sie ihr und sagte: »Die Fische überall auf der Welt von Patagonien bis nach Alaska lieben diese Fliege. Wir werden sehen, ob auch die Fische in Äthiopi en sie mögen.« Sie setzte sich an die Uferböschung und sah ihm zu, wie er die Angelschnur hinauswarf und die Fliege in der Mitte der Strömung sanft auf das Wasser fallen ließ, das sie stromab wärts weitertrug. Beim zweiten Wurf kräuselte sich das Wasser unter der Fliege, die Angelrute bog sich, und die Rolle, auf der die Schnur aufgewickelt war, schnarrte. »Jetzt haben wir dich!« Es freute Royan, die knabenhafte Begeisterung von Nicholas zu sehen, der nichts mehr von seinen Verletzungen zu spüren schien, sondern ohne zu humpeln am Flußufer hin und her lief und den Fisch drillte. Nach zehn Minuten zog er den goldgel ben, zappelnden Fisch auf den Ufersand. »Ein Goldfisch«, sagte er triumphierend. »Großartig. Den werden wir uns morgen zum Frühstück schmecken lassen.«
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Er kam zu ihr auf die Böschung und setzte sich neben sie ins Gras. »Das Fischen war eigentlich nur ein Vorwand, um Boris loszuwerden. Ich habe Sie hierher mitgenommen, um Ihnen zu sagen, was ich gestern dort oben gefunden habe.« Er zeigte durch die Öffnung im rötlichen Kalkstein über der Brücke. Auf einen Ellbogen gestützt, hörte sie ihm aufmerksam zu. »Natürlich kann ich nicht sagen, ob es etwas mit den Dingen zu tun hat, die wir suchen, aber irgend jemand hat an diesem Steilhang gearbeitet.« Dann beschrieb er die Nischen, die aus der Felswand ausgemeißelt worden waren. »Sie reichen vom oberen Rand bis hinunter zum Flußufer. Soweit sie unterhalb der Hochwassermarkierung liegen, sind sie durch das Wasser stark erodiert. Die höhergelegenen konnte ich nicht erreichen, aber soweit ich sehen konnte, wurden sie durch einen scheiben förmigen Vorsprung an der Klippe vor Wind und Regen ge schützt. Im Gegensatz zu den unteren Nischen sind die oberen offenbar noch in ihrem ursprünglichen Zustand.« »Was schließen wir daraus?« fragte sie. »Daß sie sehr alt sind«, antwortete er. »Wie wir wissen, ist der Basalt ein sehr hartes Gestein. Es hat daher sehr lange ge dauert, bis das Wasser die Nischen so abgeschliffen hat, wie wir sie heute sehen.« »Was glauben Sie, welchem Zweck diese Nischen gedient haben?« »Das kann ich nicht sagen«, gab er zu. »Könnte es sein, daß hier eine Art Gerüst verankert worden ist?« fragte sie. »Keine schlechte Idee«, räumte er ein. »Was fällt ihnen noch ein?« »Es könnte irgendeine rituelle Bedeutung haben«, meinte er. »Ein religiöses Motiv.« Er lächelte, als sie ihn zweifelnd ansah. »Ich muß zugeben, das klingt nicht sehr überzeugend.« »Gut, überlegen wir uns also die Sache mit dem Gerüst.
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Weshalb würde irgend jemand gerade hier ein Gerüst bauen wollen?« Sie hatte sich wieder hingelegt und einen Grashalm ausgerissen, auf dem sie jetzt kaute. Er zuckte die Schultern. »Vielleicht wollte man hier eine Leiter anbringen, um in die Schlucht hinuntersteigen zu können.« »Gibt es noch eine andere Erklärung?« »Mir fällt nichts mehr ein.« Auch sie schüttelte den Kopf. »Mir auch nicht«, sagte sie und spuckte den Grashalm aus. »Wenn das der Anlaß gewesen ist, dann hat man sich beim Bau des Gerüsts große Mühe gege ben. Nach Ihrer Beschreibung muß es ein sehr solide gebautes Gerüst gewesen sein, das das Gewicht vieler Menschen oder schwerer Gegenstände aushielt.« »In Nordamerika haben die Indianer über solchen Wasserfäl len Plattformen gebaut, von denen aus sie die stromaufwärts schwimmenden Lachse in Netzen fingen.« »Hat es in diesen Gewässern jemals Fische gegeben, die in großer Zahl zum Laichen stromaufwärts wanderten?« fragte sie und zuckte die Schultern. »Das kann niemand sagen. Wer weiß, vielleicht vor sehr langer Zeit.« »War das alles, was Sie dort unten gesehen haben?« »Hoch oben genau in der Mitte zwischen den von den Ni schen gebildeten, senkrechten Reihen war etwas, das aussah wie ein in den Stein gemeißeltes Basrelief.« Sie setzte sich auf und starrte ihn an. »Konnten Sie es genau erkennen? Waren es Schriftzeichen oder ein bestimmtes Mu ster? Welchen Stil hatte dieses Relief?« »Das habe ich leider nicht sehen können. Das Relief lag zu hoch und war zu schlecht beleuchtet. Ich kann nicht einmal genau sagen, ob es vielleicht nur eine natürliche Aushöhlung in der Felswand war.« Sie war sichtlich enttäuscht, fragte dann aber doch: »Und
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haben Sie noch etwas gesehen?« »Ja«, grinste er. »Noch und noch Wasser, Wasser und immer wieder Wasser, das mich sehr schnell mitriß.« »Und was machen wir nun mit dem vermeintlichen Basre lief?« fragte sie. »Ich denke zwar nur sehr ungern an diese Möglichkeit, aber ich werde noch einmal in die Schlucht hinuntersteigen und mir die Sache genauer ansehen müssen.« »Wann?« »Morgen ist Timkat. Das ist für uns die einzige Chance, in den Altarraum der Kathedrale zu kommen. Anschließend kön nen wir noch einmal versuchen, uns die Schlucht näher anzu sehen.« »Die Zeit wird knapp, Nicky, und zwar gerade jetzt, da es anfängt, wirklich interessant zu werden.« »Das können Sie laut sagen!« murmelte er. Sie spürte seinen Atem auf den Lippen, denn sie waren einander so nah wie zwei Verschwörer oder zwei Menschen, die sich liebten, und plötz lich wurde sie sich der doppelten Bedeutung ihrer Worte be wußt. Sie sprang auf die Füße und klopfte den Staub ab. Dann sagte sie: »Sie haben nur einen Fisch, um alle Münder zu stopfen. Entweder haben Sie eine sehr hohe Meinung von sich, oder Sie müssen Ihre Angel noch einmal auswerfen.« Zwei Novizen, die von dem Bischof den Auftrag bekommen hatten, sie abzuholen, versuchten, ihnen den Weg durch die Menge freizumachen. Doch noch bevor sie an der Treppe an gekommen waren, wurden die Novizen abgedrängt und ver schwanden in der Menge. Auch Nicholas und Royan verloren Boris und Tessay aus den Augen. »Bleiben Sie bei mir«, sagte Nicholas und hielt Royan am
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Oberarm fest, während er mit der Schulter versuchte, eine Gas se zu öffnen, so konnte er sie hinter sich herziehen. Natürlich hatte er bewußt versucht, die beiden anderen im Gewühl zu rückzulassen, und das war ihm auch gelungen. Schließlich konnte sich Nicholas mit dem Rücken an eine der Steinsäulen lehnen und damit verhindern, von der Menge weitergeschoben zu werden. Von hier aus konnte er auch den Eingang zur Höhlenkathedrale beobachten. Royan war nicht groß genug, um über die Köpfe der Männer wegzusehen, des halb hob sie Nicholas auf das Treppengeländer und drückte sie gegen die Säule. Sie hielt sich an seiner Schulter fest, um nicht über den hinter ihr liegenden Abgrund in den Nil zu stürzen. Die Gläubigen hatten einen monotonen Gesang angestimmt, und ein Dutzend Orchester rührten die Trommeln und Hand rasseln. In der Mitte jeder Gruppe von Musikern stand der Stammeshäuptling in einer prächtigen Robe unter einem gro ßen, weitausladenden Schirm. Die Erregung der Menge hatte sich so weit gesteigert, daß sie in ihrer Intensität sogar die Hitze und den Gestank übertraf. Während der Gesang immer lauter und durchdringender wurde, wogte die Menge hin und her, und ihr Geheul klang so, als kä me es aus der Kehle eines einzigen, unvorstellbar großen Un geheuers. Plötzlich ertönte aus dem Inneren der Kathedrale das Läuten von Glocken, in das Hunderte Trompeten und Posaunen ein stimmten. Die oben an der Treppe stehenden Soldaten der Leibwache der Stammeshäuptlinge feuerten eine Salve ab. Einige von ihnen waren mit automatischen Gewehren be waffnet, und das Geknatter der AK-47 vermischte sich mit dem dumpfen Donnern der alten, mit Schwarzpulver geladenen Vorderlader. Blaue Rauchwolken zogen über die Köpfe der Versammelten hinweg, und an den Felsen abprallende Quer schläger sausten zischend über die Schlucht. Das Kreischen
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und Heulen der Frauen vermischte sich zu einem unheimlichen und bedrohlichen Ton. Die Gesichter der Männer glühten im Feuer religiöser Inbrunst. Sie fielen auf die Knie, hoben betend die Hände, sangen und erflehten den Segen Gottes. Die Frauen hielten ihre Kinder in die Höhe, und Tränen demütiger Fröm migkeit liefen ihnen über die Wangen. Nun erschien am Tor der Felsenkathedrale der Anfang einer aus Priestern und Mönchen bestehenden Prozession. Die Spitze bildeten die Novizen in langen weißen Roben. Ihnen folgten die Akolyten, die im Fluß getauft werden sollten. Unter ihnen erkannte Royan auch Tamre, der die anderen um Haupteslänge überragte. Sie winkte ihm zu, und als er sie sah, grinste er ver legen und folgte dann den Novizen auf dem Pfad zum Fluß hinunter. Inzwischen war es dunkel geworden, der Bergkessel lag im tiefen Schatten, und darüber wölbte sich ein purpurner Him mel, an dem die ersten hellen Sterne aufleuchteten. Am Beginn des Pfades zum Fluß brannte ein Feuer in einer Kohlenpfanne aus Messingblech. Im Vorbeigehen entzündete jeder der Mön che seine Fackel an diesem Feuer und hielt sie in die Höhe. Wie ein Strom geschmolzener Lava bewegte sich die Prozes sion die Steilwand hinunter, und der monotone Gesang der Mönche wurde begleitet von dumpfen Trommelwirbeln, deren Echo von der gegenüberliegenden Felswand widerhallte. Den Täuflingen folgten die geweihten Priester in ihren prächtigen Roben mit den Prozessionskreuzen aus Silber und Messing und den Bannern aus gestickter Seide, auf denen das Martyrium und die fromme Ekstase der verschiedenen Heiligen dargestellt war. Die Mönche begleiteten die Prozession mit Glockengeläut und Flötenspiel. Sie schwitzten und sangen, und ihre weit aufgerissenen Augen leuchteten in ihren dunklen Ge sichtern. Hinter ihnen kam, getragen von zwei Priestern in prächtigen
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Gewändern und mit hohen, juwelengeschmückten Kappen auf den Köpfen, das Tabernakel. Darüber hing ein bis zum Boden reichendes, scharlachrotes Tuch, denn es durfte nicht den neu gierigen Blicken der Menge ausgesetzt und dadurch entweiht werden. Die Gläubigen warfen sich ehrfurchtsvoll vor dem heiligen Tabernakel auf den Boden, und sogar die Stammeshäuptlinge legten sich andächtig auf das schmutzige Pflaster der Terrasse. Einige von ihnen waren so ergriffen, daß ihnen die Tränen in die Augen traten. Als letzter der Prozession erschien Jali Hora. Diesmal trug er nicht die Krone mit dem blauen Stein, sondern die sehr viel prächtigere Epiphaniaskrone, eine massive Kopfbedeckung aus glänzendem Metall, besetzt mit Juwelen aus buntem Glas, die zu tragen dem alten Mann sichtlich schwerfiel. Zwei Novizen stützten ihn an den Ellbogen und führten ihn vorsichtig über die steile Treppe zum Nil hinunter. Während sich die Prozession auf dem unteren Teil der Trep pe dem Fluß näherte, standen die Gläubigen neben den ersten Stufen auf, entzündeten ihre Fackeln am Feuer der Kohlen pfanne und folgten dem Abt in die Tiefe. Die Menge schloß sich ihnen an, und als es um sie her leerer wurde, hob Nicholas Royan von dem Geländer herab. »Wir müssen sehen, daß wir in die Kirche kommen, solange hier noch genügend Menschen sind, die uns Deckung geben«, flüsterte er. Er nahm sie bei der Hand und hielt mit der anderen den Riemen an seiner Kameratasche fest, die er sich über die Schulter gehängt hatte. Dann schloß er sich den Menschen an, die die Terrasse hinuntergingen, hielt sich aber an der Seite, die zum Eingang der Kirche führte. In dem Gedränge vor ihm ent deckte er Boris und Tessay, die ihn aber noch nicht gesehen hatten, und ging gebückt weiter, um sich ihnen nicht zu zeigen. Als er mit Royan zum Portal des Hauptschiffs der Felsenkathe
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drale kam, trennten sie sich von der Menge, und Nicholas zog Royan vorsichtig durch den niedrigen Eingang in das nur schwach beleuchtete, menschenleere Innere. Er sah sich um und stellte fest, daß sie allein waren und auch die Wachen nicht mehr an den Zugängen zu den anderen Räumen standen. Dann führte er sie an der Längswand entlang bis zu der Stelle, wo die rußgeschwärzten Gobelins von der Decke bis zum Steinfußbo den herunterhingen. Er hob den schweren Wollstoff hoch, zog Royan hinter sich her und stellte sich mit ihr hinter diesen Vor hang. Sie hatten sich gerade noch rechtzeitig versteckt, denn kaum standen sie mit dem Rücken an die Wand gedrückt in ihrem Versteck, als sie Schritte hörten, die sich aus dem Seitenschiff der Tür zum Hauptschiff näherten. Durch einen schmalen Spalt sah Nicholas vier Mönche in weißen Gewändern zum Ausgang des Kirchenschiffs gehen. Nachdem sie die Kathedrale verlas sen hatten, verschlossen sie die Tür, und Nicholas hörte, wie der Verschlußbalken vorgeschoben wurde. Nun herrschte abso lute Stille. »Damit hatte ich nicht gerechnet«, flüsterte Nicholas. »Für diese Nacht haben sie uns eingeschlossen.« »Das heißt zumindest, daß man uns nicht stören wird«, erwi derte Royan. »Wir können sofort an die Arbeit gehen.« Vorsichtig verließen sie ihr Versteck und gingen hinüber zum Eingang in das Seitenschiff. Hier blieb Nicholas stehen und legte ihr die Hand auf den Arm. »Hier stehen wir am Be ginn des verbotenen Bereichs. Lassen Sie mich lieber voraus gehen und feststellen, wie es dort aussieht.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Lassen Sie mich hier nicht allein. Ich werde mitkommen.« Er wußte, es hatte keinen Sinn, ihr zu widersprechen. »Gehen wir also«, sagte er und führte sie die Stufen hinauf in das Seitenschiff.
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Der Raum war kleiner und niedriger als der, den sie verlas sen hatten, und die Wandbehänge waren prächtiger und in ei nem besseren Zustand. Der Fußboden war leer, mit Ausnahme eines pyramidenförmigen Rahmens aus handgeschnitztem Holz, auf dem eine Reihe mit Öl gefüllter Messinglampen stand, deren brennende Dochte ein trübes Licht verbreiteten, wobei die Decke und die Ecken im Schatten blieben. Als sie zur Tür gingen, die zum Allerheiligsten führte, nahm Nicholas zwei Taschenlampen aus dem Kamerabeutel und gab ihr eine. »Die Batterien sind neu«, sagte er, »aber gehen Sie sparsam damit um. Wahrscheinlich werden wir die ganze Nacht hier zubringen müssen.« Vor der Tür zum Allerheiligsten blieben sie stehen, und Ni cholas sah sie sich kurz an. Auf jedem Türflügel war der heili ge Frumentius in einem Flachrelief dargestellt. Sein Kopf war von einem Heiligenschein umgeben, und er hatte die rechte Hand zum Segen erhoben. »Ein primitives Schloß«, sagte er. »Es muß Jahrhunderte alt sein. Haspe und Zunge sind weit voneinander entfernt.« Er nahm einen Dietrich aus der Tasche. »Ein sehr nützlicher Gegenstand. Man kann ihn als Hufkrat zer benutzen oder das Schloß eines Keuschheitsgürtels damit öffnen.« Er kniete vor dem schweren Eisentor, und sie sah aufmerk sam zu, wie er mit dem Dietrich daran arbeitete und die Halte rung sich schließlich mit leisem Knacken zurückschieben ließ. »Haben Sie nicht doch den falschen Beruf ergriffen?« fragte sie. »Als Einbrecher hätten Sie auch einiges leisten können!« »Wollen Sie das wirklich wissen?« Er stand auf und stemmte sich mit der Schulter gegen den einen Türflügel. Er öffnete sich gerade so weit, daß sie hindurchschlüpfen konnten, und schloß sich dann sofort wieder. Nun standen sie nebeneinander auf der Schwelle zum Aller
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heiligsten und sahen sich tief beeindruckt an. Das Allerheiligste war ein kleiner geschlossener Raum, und mit einem Durchmesser von etwa zwölf Schritten sehr viel kleiner, als sie erwartet hatten. Die gewölbte Decke war so niedrig, daß Nicholas sie, wenn er den Arm ausstreckte, mit den Fingerspitzen berühren konnte. An den Wänden waren vom Boden bis zur Decke Regale an gebracht, auf denen die Votivgaben der Gläubigen standen; Ikonen der Dreifaltigkeit und die heilige Jungfrau im byzanthi nischen Stil in einem schön gearbeiteten Silberrahmen. Daneben standen und lagen Statuetten von Heiligen und Kai sern, Medaillons und Kränze aus getriebenem Metall, Töpfe, Schalen und juwelengeschmückte Kästchen sowie vielarmige Kandelaber mit brennenden Votivkerzen, die ein unsicheres, flimmerndes Licht verbreiteten. Es war eine ungewöhnliche Sammlung aus Kitsch und echten Kunstschätzen, aus kostbaren Votivgaben und Antiquitäten, im Lauf der Jahrhunderte ge spendet von frommen äthiopischen Kaisern und Stammes häuptlingen. In der Mitte stand der Altar aus Zedernholz, dessen Seiten wände Flachreliefs mit Darstellungen aus der Offenbarung des Johannes und der Schöpfungsgeschichte zeigten: die Versu chung von Adam und Eva, die Vertreibung aus dem Paradies und das Jüngste Gericht. Das Altartuch war eine Häkelarbeit aus Rohseide, und Kreuz und Kelch waren aus massivem Sil ber. Die Krone des Abtes mit dem blauen Keramiksiegel Taitas in der Mitte der Stirnseite schimmerte im Kerzenlicht. Royan fiel vor dem Altar auf die Knie, beugte den Kopf und betete. Nicholas wartete respektvoll an der Schwelle, bis sie wieder aufstand, und stellte sich dann neben sie. »Der Tabernakelstein!« Er deutete auf einen hinter dem Al tar stehenden, mit einem silber- und goldbestickten schweren Damasttuch bedeckten Gegenstand. Soweit man die äußere
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Form dieses Gegenstandes unter dem Tuch erkennen konnte, war es ein gut proportioniertes, etwa ein Meter achtzig langes Gebilde mit einem länglichen Aufsatz. Sie sahen sich diesen Gegenstand von allen Seiten an, scheu ten sich aber, ihn zu berühren oder das Tuch zu entfernen, denn sie fürchteten, ihre Hoffnungen könnten enttäuscht werden. Ihre Spannung löste sich, als Nicholas sich von dem Taberna kelstein abwandte und Royan an die vergitterte Tür in der Rückwand des geweihten Raumes führte. »Die Grabkammer des heiligen Frumentius!« sagte er und trat an das Gitter heran. Royan stellte sich neben ihn, und ge meinsam schauten sie durch die quadratischen Öffnungen in dem aus dunklen Holzstäben bestehenden Gitter. Er schob sei ne Taschenlampe durch eine dieser Öffnungen und leuchtete hinein. Die Grabkammer erstrahlte im Licht der Taschenlampe in al len Farben des Regenbogens, und es dauerte ein paar Sekun den, bis sich ihre Augen an die unerwartete Farbenpracht ge wöhnt hatten. Staunend rief Royan aus: »O mein Gott!« Sie fing an zu zittern wie bei einem plötzlichen Fieberanfall und wurde totenblaß. Der Sarg stand auf einem Steinsockel an der Rückwand der zellenartigen Grabkammer. An der Vorderseite des Sarges sah man das Portrait des darin liegenden Mannes. Obwohl die Far be schon verblaßt und zum größten Teil abgeblättert war, lie ßen sich das bleiche Gesicht und der rötliche Bart des Toten deutlich erkennen. Aber nicht nur das zog das besondere Interesse von Royan auf sich, sondern auch die vielfarbigen Wandgemälde oberhalb und beiderseits des Steinsockels, die in erstaunlicher Weise die Jahrhunderte überdauert hatten. Nicholas beleuchtete sie schweigend mit seiner Taschenlam pe, und Royan klammerte sich an seinen Arm, als fürchte sie,
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vor Erregung zu fallen. Aber Nicholas spürte kaum, wie sie ihn mit ihren scharfen Fingernägeln verletzte. Hier sahen sie, wie sich auf dem blauen Wasser des Flusses Flotten von Galeeren Seeschlachten lieferten, und Jagdszenen, bei denen Flußpferde und große Elefanten mit riesigen weißen Stoßzähnen von den Jägern verfolgt wurden. Im wilden Schlachtgetümmel bekämpften sich gepanzerte Ritter mit Schwertern und Spießen, und ganze Geschwader von Streitwä gen rasten in dem aufgewirbelten Staub aufeinander zu. Den Vordergrund all dieser Wandgemälde beherrschte die Gestalt eines mächtigen Kriegers, der in einer Szene den Bogen spannte und in einer anderen ein Bronzeschwert zückte. Er stieß seine Feinde zu Boden oder hob ihre abgeschlagenen Köpfe auf wie jemand, der Blumen pflückt. Nachdem Nicholas all diese Kunstwerke im Licht seiner Ta schenlampe betrachtet hatte, sah er sich noch einmal die Szene über dem Steinsockel mit dem Sarg an. Hier stand der göttliche Krieger auf seinem Streitwagen mit dem Bogen in der einen und einem Bündel Speere in der anderen Hand. Er trug keinen Helm, und sein langer blonder Haarschopf wehte im Wind wie der Schweif eines Löwen. Er hatte sein edles, stolzes Gesicht nach vorne gerichtet und blickte entschlossen auf den ihn er wartenden Feind. Royan übersetzte flüsternd die ägyptischen Hieroglyphen der Inschrift: Großer Löwe Ägyptens Der beste unter Hunderttausend Sein ist das Gold der Kühnheit Einziger Gefährte des Pharao Krieger aller Götter Mögest du ewig leben!
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Die Hand, die sie Nicholas auf den Arm gelegt hatte, bebte, und sie war so ergriffen, daß ihr fast die Stimme versagte. Mit einem kurzen Seufzer richtete sie sich auf und wurde sich wie der der Gegenwart bewußt. »Ich kenne diesen Künstler«, sagte sie leise. »Ich habe mich fünf Jahre intensiv mit seinem Werk beschäftigt und würde seine Arbeiten zu jeder Zeit und überall wiedererkennen.« Sie atmete tief durch. »Ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß der Sklave Taita vor fast viertausend Jahren diese Wandgemälde geschaffen und diese Grabkammer entworfen hat.« Sie deutete auf den Namen des Toten, der in den Stein über dem Sockel geritzt war, auf dem der Sarg stand. »Dies ist nicht das Grabmal eines christlichen Heiligen. Wahrscheinlich ist vor Jahrhunderten ein christlicher Priester durch Zufall darauf gestoßen und hat es fälschlicherweise für seine eigene Religion in Anspruch genommen«, sagte sie zö gernd. »Sehen Sie hier! Das ist das Siegel des Tanus, des Herrn Harrab, des Befehlshabers aller ägyptischen Armeen und Ge liebten der Königin Lostris, des Vaters des Prinzen Memnon und späteren Pharao Tamose.« Angesichts dieser Entdeckung schwiegen sie beide eine Wei le, und schließlich sagte Nicholas: »Also hatten wir doch recht. Die Geheimnisse der siebten Schriftrolle liegen hier vor uns, wenn wir den Schlüssel dazu finden können.« »Ja«, sagte sie leise. »Der Schlüssel. Das steinerne Testa ment Taitas.« Sie wendet sich wieder dem Tabernakelstein zu und näherte sich ihm langsam, fast ängstlich. »Ich wage es nicht, nachzusehen, Nicky. Ich fürchte fast, wir werden nicht das finden, was wir zu finden hoffen. Tun Sie es!« Er trat an die Säule heran und zog mit einem Ruck das Da masttuch von dem Stein herunter. Die Säule aus rostgespren
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keltem Granit war etwa sechs Fuß hoch, am unteren Ende ei nen Fuß breit und verjüngte sich nach oben am flachen Sockel auf die Hälfte. Die Oberfläche des Granits war poliert, und auf der polierten Fläche war eine Inschrift eingraviert. Royan trat heran, berührte den kalten Stein und tastete mit den Fingern die Hieroglyphen ab wie ein Blinder, der eine Blindenschrift liest. »Taitas Brief an uns«, flüsterte sie und strich vorsichtig mit dem Zeigefinger von dem Symbol des Falken mit dem gebro chenen Flügel den ziselierten Text entlang. »Das wurde also vor fast viertausend Jahren geschrieben und hat seither darauf gewartet, daß wir es lesen und verstehen. Sehen Sie, wie er es unterzeichnet hat.« Langsam ging sie um die Granitsäule herum, sah sich jede der vier Seiten genau an, lächelte, nickte, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und lächelte dann, als sei es ein Liebes brief. »Lesen Sie es mir vor«, forderte Nicholas sie auf. »Für mich ist es zu kompliziert – ich kenne die Bedeutung der Schriftzei chen, kann aber den Text nicht ganz verstehen. Erklären Sie ihn mir.« »Er ist typisch für Taita.« Sie lachte. Sie war so erregt, daß sie ihre ursprüngliche Ehrfurcht verloren hatte. »Er ist wie im mer geheimnisvoll und kapriziös.« Es war so, als sprächen sie von einem geliebten Freund, der es darauf abgesehen hatte, sie zu reizen. »Es sind Verse, und es ist wahrscheinlich ein auf seine besondere Weise verschlüsselter Text.« Sie begann an einer Reihe von Hieroglyphen, folgte ihr mit dem Finger und übersetzte laut: »›Der Geier wird auf mächtigen Schwingen emporgetragen, die Sonne zu grüßen. Der Schakal heult und wendet sich nach seinem Schwanz um. Der Fluß strömt zur Erde. Nehmt euch in acht, die ihr die heiligen Orte entweiht, daß nicht der Zorn aller Götter über euch kommt!‹«
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»Das ist völliger Unsinn. Es ist ganz unverständlich«, wen dete Nicholas ein. »Aber ja, es ist durchaus verständlich. Was Taita sagt, hat immer eine Bedeutung, wenn man weiß, wie er seine geheimen Gedanken zum Ausdruck bringt.« Sie sah ihn ruhig an. »Ma chen Sie kein so finsteres Gesicht, Nicky. Glauben Sie nicht, Taita so lesen zu können wie einen Leitartikel in The Times. Er hat uns ein Rätsel aufgegeben, das zu lösen wir vielleicht Wo chen und Monate brauchen werden.« »Nun, eines ist sicher. Wir können nicht Wochen und Mona te hier bleiben, um die Lösung zu finden. Gehen wir also an die Arbeit.« »Zuerst die Fotos«, sagte sie. »Dann können wir die Inschrif ten von den Steinen abziehen.« Er stellte die Kameratasche auf den Boden, kniete sich daneben und öffnete sie. »Mit den ersten beiden Filmen werde ich Farbaufnahmen machen und dann mit der Polaroidkamera fotografieren. Mit diesen Aufnahmen können wir dann arbei ten, bis die Farbfilme entwickelt sind.« Sie trat zur Seite, und er umkreiste die Säule auf den Knien, um alle vier Seiten aus der richtigen Perspektive aufzunehmen. Von jeder Seite machte er vier Aufnahmen mit jeweils ver schiedenen Verschlußgeschwindigkeiten. »Verbrauchen Sie nicht alle Filme«, warnte sie ihn. »Wir müssen auch noch einige Aufnahmen von den Wandgemälden machen.« Gehorsam ging er an die vergitterte Öffnung und sah sich den Verschluß an. »Dieses Schloß ist etwas komplizierter als das am ersten Durchgang. Wenn ich versuche hineinzukom men, könnte ich es beschädigen. Ich glaube, wir dürfen nicht riskieren, entdeckt zu werden.« »In Ordnung«, sagte sie. »Machen Sie die Aufnahmen durch die Öffnungen des Gitters.«
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Nachdem er Blende und Entfernung so eingestellt hatte, wie es nach seiner Schätzung richtig war, nahm er die Kamera in die Hand und führte sie durch eine Öffnung im Gitter in den Raum hinein. »Das hätten wir«, sagte er schließlich. »Jetzt noch die Pola roidaufnahmen.« Er nahm die zweite Kamera, und das Ganze wiederholte sich noch einmal, aber jetzt nahm Royan ein klei nes Bandmaß, um die genaue Entfernung von der Kameralinse bis zur Säule einzustellen. Er gab ihr jedes einzelne Foto, damit sie sehen konnte, ob die Aufnahme richtig entwickelt war, denn wenn die Aufnah me über- oder unterbelichtet war, mußte sie wiederholt werden. Nach fast zwei Stunden hatten sie einen vollständigen Satz von Polaroidaufnahmen. Nicholas packte seine Kamera ein und hob eine Rolle Zeichenpapier aus seinem Beutel. Gemeinsam legten sie es über die eine Seite der Säule und befestigten es mit Klebeband. Dann fing er oben und sie unten an, das weiße Papier mit einem schwarzen Zeichenstift so abzureiben, daß die Ziselierung darauf sichtbar wurde. »Bei meiner Beschäftigung mit Taita habe ich gelernt, wie wichtig das ist. Wenn man nicht mit dem Original arbeiten kann, dann braucht man eine genaue Kopie. Manchmal kann ein winziges Detail der Gravierung den Sinn und die Bedeu tung des ganzes Textes verändern. In allem, was er sagt, ver bergen sich geheime Botschaften. Sie haben in dem Buch Das Grabmal des Pharao gelesen, daß er sich für jemanden hält, der es glänzend versteht, in Rätseln zu sprechen und Wortspie le zu gebrauchen, und daß er der beste Baospieler war, der je gelebt hat. Nun, soweit hat das Buch recht. Wo er heute auch sein mag, er weiß, daß wir das Spiel begonnen haben, und es bereitet ihm das größte Vergnügen, auf jeden unserer Züge zu reagieren. Ich kann mir sehr lebhaft vorstellen, wie er heimlich kichert und sich vor Vergnügen die Hände reibt.«
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»Sie haben viel Phantasie, meine Liebe.« Er ging wieder an die Arbeit. »Aber ich weiß, was Sie meinen.« Das Übertragen der Schriftzeichen auf das Zeichenpapier war eine mühsame und langweilige Arbeit, und es dauerte Stunden, bis sie endlich damit fertig waren. Schließlich stand Nicholas auf und massierte sich seinen schmerzenden Rücken. »Das wäre also erledigt.« Sie stand neben ihm und fragte: »Wie spät ist es?« Er sah auf seine Armbanduhr. »Vier Uhr morgens, Jetzt müssen wir nur noch aufräumen und dafür sorgen, daß wir keine Spuren hinterlassen.« »Nur noch eine Kleinigkeit«, sagte Royan, riß ein Stück Zei chenpapier ab, ging damit zum Altar, auf dem die Krone des Abtes lag, und befestigte das Papier über dem blauen Keramik siegel an der Stirnseite der Krone. Dann rieb sie mit dem schwarzen Zeichenstift darüber, so daß die Umrisse des Falken mit dem gebrochenen Flügel sichtbar wurden. »Das soll Glück bringen«, sagte sie und half ihm, die langen Papierstreifen zusammenzufalten und zu verpacken, dazu die Reste des Klebestreifens und die leeren Filmdosen, die auf dem Boden lagen. Bevor sie die Granitsäule wieder mit dem Damasttuch be deckten, streichelte Royan wie zum Abschied die in den Stein geritzten Hieroglyphen. Dann nickte sie Nicholas zu. Er legte das Tuch über die Stelle und ordnete die Falten so an, wie er sie vorgefunden hatte. An der Schwelle der Tür zum Allerheiligsten sahen sie sich zum letzten Mal um. »Gehen wir!« Er öffnete die Tür so weit, daß sie sich gerade hindurchzwängen konnte, und folgte ihr dann in das Seiten schiff der Kirche. Er brauchte nur wenige Minuten, das Schloß einschnappen zu lassen. »Wie werden wir durch das Hauptportal hinauskommen?« fragte sie.
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»Ich glaube, das wird nicht notwendig sein. Die Priester ha ben offenbar noch einen anderen Zugang zum Seitenschiff. Das Hauptportal benutzen sie nur sehr selten.« Er stand in der Mitte des Raumes und sah sich alles genau an. »Der Ausgang muß auf dieser Seite sein, wenn er direkt in die Unterkünfte der Mönche führt –« Jetzt hatte er gefunden, was er suchte. »Sehen Sie, hier haben die Füße der Mönche im Lauf der Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen.« Er machte sie auf die abgewetzten Steine neben der Wand aufmerksam. »Und den Gobelin dort drüben haben sie mit ihren schmutzigen Fingern angefaßt.« Er ging zu dem Vorhang hinüber und zog ihn beiseite. »Das habe ich mir doch gedacht.« Hinter dem Vorhang lag ein schmaler Durchgang. »Folgen Sie mir.« Sie befanden sich nun in einem dunklen, durch den Felsen führenden Gang. Nicholas leuchtete mit seiner Taschenlampe den Gang entlang, deckte sie aber mit der Hand so weit ab, daß der Lichtkegel gerade zum Weiterkommen reichte. »In dieser Richtung.« Sie mußten im rechten Winkel abbiegen und sahen in einiger Entfernung einen schwachen Lichtschein. Nicholas schaltete die Taschenlampe aus und ging weiter. Es roch wie in einer schlecht gelüfteten, menschlichen Be hausung nach abgestandenem Essen. Sie kamen am türlosen Eingang einer Mönchszelle vorbei. Nicholas leuchtete hinein. Bis auf ein hölzernes Kreuz an der Wand und ein Feldbett war sie leer, und als sie weitergingen, kamen sie noch an einem Dutzend ähnlicher Zellen vorbei. Beim nächsten Richtungswechsel blieb Nicholas stehen. Er spürte, wie ihm die frische Luft entgegenwehte. »Hier ent lang«, flüsterte er. Sie gingen schnell weiter, doch plötzlich legte ihm Royan die Hand auf die Schulter und zwang ihn anzuhalten. »Was –«, begann er, aber sie klopfte ihm auf die Schulter,
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um ihn auf die menschliche Stimme aufmerksam zu machen, deren Echo er jetzt auch im Labyrinth der Gänge hörte. Es folgte ein unterdrückter Schrei, ein Wimmern und Schluchzen. Royan und Nicholas schlichen weiter und hofften, nicht entdeckt zu werden, aber die Stimme wurde lauter. »Direkt vor uns«, flüsterte Nicholas. »Wir müssen vorbei kommen, ohne gesehen zu werden.« Aus der Tür einer Zelle drang ein schwacher gelblicher Lichtschein. Dann hörten sie wieder den Aufschrei und blieben wie angewurzelt stehen. »Es ist die Stimme einer Frau. Was geschieht dort?« hauchte ihm Royan ins Ohr, aber er schüttelte den Kopf und ging weiter voran. Sie mußten unbemerkt an der offenen Tür vorbeikommen. Mit dem Rücken an der Wand schob sich Nicholas schrittweise weiter. Royan hielt sich an seinem Arm fest und folgte ihm. Als sie in die Zelle hineinschauten, schrie die Frau wieder auf, aber diesmal verschmolz ihre Stimme mit der des Mannes. Es war ein Duett ohne Worte, Ausdruck einer Leidenschaft, die in ihrer Wildheit nicht schweigend ertragen werden konnte. Auf dem Feldbett lag ein nacktes Paar. Die Frau lag auf dem Rücken und drückte die Knie gegen die Hüften des Mannes. Ihre Arme hielten seinen muskulösen, schweißglänzenden Rücken umspannt, während er mit wilder Gier in sie eindrang. Stöhnend rollte sie den Kopf von einer Seite zur anderen, während der Mann mit aufgerichtetem Oberkörper wie eine Kobra auf sie hinuntersah. Die Frau öffnete die Augen und richtete den Blick auf Ni cholas und Royan, die wie versteinert an der offenen Tür stan den, aber geblendet von ihrer Leidenschaft konnte sie nichts erkennen, während sie mit unartikulierten Lauten den Gefühlen Ausdruck verlieh, die ihr Geliebter in ihr weckte. Nicholas führte Royan weiter den Gang entlang, hinaus auf
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die menschenleere Terrasse. Sie stiegen die Treppe hinunter und genossen die kühle, nach Nilwasser duftende Nachtluft. »Tessay hat sich für ihn entschieden«, flüstert Royan. »Zumindest für heute nacht«, sagte Nicholas. »Nein«, widersprach ihm Royan. »Sie haben ihr Gesicht ge sehen, Nicky. Sie gehört jetzt Mek Nimmur.« Die ersten Sonnenstrahlen tauchten den gezackten Kamm des Steilabbruchs in ein rosenfarbenes Licht, als sie im Camp ankamen und sich am Eingang von Royans Hütte verabschie deten. »Ich bin völlig erschöpft«, sagte sie zu Nicholas. »Das hat mich alles zu sehr aufgeregt. Sie werden mich erst um die Mit tagszeit wieder’ sehen.« »Denken Sie ruhig über alles nach! Schlafen Sie, solange Sie wollen. Sie müssen frisch und munter sein, wenn wir uns die Ausbeute unserer gestrigen Arbeit ansehen.« Doch schon am frühen Vormittag wurde Nicholas geweckt, als Boris in seine Hütte stürmte und ihn anbrüllte. »Engländer, wachen Sie auf! Ich muß mit Ihnen sprechen. Wachen Sie auf, Mann, wachen Sie auf.« Nicholas drehte sich um, schob das Moskitonetz zur Seite und griff nach seiner auf einem Schemel liegenden Armband uhr. »Verdammt, Brusilow! Was, zum Teufel, wollen Sie?« »Meine Frau! Haben Sie meine Frau gesehen?« »Was habe ich mit Ihrer Frau zu tun?« »Sie ist fort! Ich habe sie seit gestern abend nicht mehr gese hen.« »So wie Sie sie behandeln, überrascht mich das nicht. Aber jetzt verschwinden Sie und lassen mich schlafen.« »Die Hure ist mit diesem schwarzen Bastard Mek Nimmur abgehauen. Ich weiß genau, was mit denen los ist. Versuchen
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Sie nicht, ihr zu helfen, Engländer. Ich weiß alles, was hier geschieht. Sie versuchen doch nur, sie zu beschützen. Geben sie es zu!« »Gehen Sie, Boris, und bringen Sie mich nicht mit Ihrem un erfreulichen Privatleben in Verbindung.« »Ich habe doch gesehen, wie Sie sich neulich in der Kürsch nerhütte unterhalten haben. Versuchen Sie nicht, das zu bestrei ten, Engländer. Sie sind in diese Angelegenheit verwickelt.« Nicholas schlug das Moskitonetz zurück und sprang aus dem Bett. »Ich verbitte mir diesen Ton, Sie Flegel.« Boris zog sich bis an die Tür zurück. »Ich weiß, Sie ist mit ihm abgehauen. Ich habe die ganze Nacht am Fluß nach ihnen gesucht. Sie sind fort, und auch die meisten seiner Männer sind nicht mehr da.« »Gut für Tessay. Was Männer betrifft, hat sie diesmal einen besseren Geschmack bewiesen.« »Glauben Sie etwa, ich würde mir das von dieser Hure gefal len lassen? Da irren Sie sich gewaltig. Ich werde sie verfolgen und beide umbringen. Ich weiß, in welche Richtung sie geflo hen sind. Sie glauben, ich sei ein Idiot. Ich weiß alles über Mek Nimmur. Ich war Chef des Nachrichtendienstes –« Er hielt inne, als ihm klar wurde, was er gesagt hatte. »Ich werde ihn in den Bauch schießen, und diese Hure Tessay wird sehen, wie er stirbt.« »Ich möchte wetten, daß Sie nicht zurückkommen werden, wenn Sie Mek Nimmur verfolgen.« »Sie kennen mich nicht, Engländer. Sie haben mich an je nem Abend verprügelt, als ich eine Flasche Wodka im Bauch hatte, und deshalb glauben Sie, man könnte leicht mit mir fer tigwerden, da? Nun, Mek Nimmur wird schon sehen, wie leicht das ist.« Boris verließ die Hütte, und Nicholas folgte ihm, nachdem er sich ein Hemd über seine Shorts gezogen hatte.
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Boris war in seine Hütte gegangen und hatte das Notwendig ste zusammengepackt. Jetzt lud er Patronen in das Magazin seines 30/06-Jagdgewehrs. »Lassen Sie sie doch gehen, Boris«, riet ihm Nicholas in ru higem Ton. »Mek ist ein harter Bursche, und es gibt nur weni ge, die es mit ihm aufnehmen können. Außerdem verfügt er über eine Kampfgruppe von fünfzig Mann. Sie sind doch alt genug, um zu wissen, daß man eine Frau nicht mit Gewalt an sich binden kann. Lassen Sie sie gehen!« »Ich will sie nicht halten; ich will sie töten. Die Safari ist zu Ende, Engländer.« Damit warf er Nicholas zwei an einem Le deranhänger befestigte Schlüssel vor die Füße. »Das sind die Schlüssel für den Geländewagen. Sie können allein nach Adis Abeba zurückfahren. Ich lasse Ihnen vier meiner besten Män ner hier, die für Sie sorgen werden. Den Lastwagen lassen Sie hier stehen, da ich ihn noch brauche. Wenn Sie nach Adis Abeba kommen, geben Sie die Schlüssel für das Geländefahr zeug meinem Fährtensucher Aly. Ich weiß, wo ich ihn finden kann. Das Geld, das ich Ihnen noch schulde, schicke ich Ihnen zurück. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie können sich auf mich verlassen.« »Wie hätte ich das bezweifeln können?« sagte Nicholas und lächelte. »Leben sie wohl, alter Freund. Ich wünsche Ihnen Glück, denn das werden Sie brauchen, wenn Sie es mit Mek Nimmur aufnehmen wollen.« Die beiden hatten einen Vorsprung von mehreren Stunden, und nachdem Boris das Camp verlassen hatte, lief er den Pfad hinunter und dann weiter auf der nach Westen zur sudanesi schen Grenze führenden Hauptstraße. Er lief wie ein Pfadfinder mit raumgreifenden Schritten. »Er scheint gut in Form zu sein – trotz des Wodkas«, dachte Nicholas, »aber wer weiß, wie lange er dieses Tempo durchhal ten wird.«
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Nicholas hätte gern noch ein paar Stunden geschlafen, aber als er an Royas Hütte vorbeikam, steckte sie den Kopf heraus und fragte: »Was war das für ein Geschrei? Ich glaubte schon, Sie und Boris hätten wieder eine kleine Meinungsverschieden heit.« »Tessay ist verschwunden. Boris glaubt, Mek habe sie ent führt, und jetzt läuft er ihnen hinterher.« »O Nicky! Können wir sie nicht warnen?« »Das ist unmöglich. Aber wie ich Mek kenne, rechnet er damit, daß Boris versuchen wird, ihn zu finden. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß er nur auf die Gelegenheit wartet, die alte Rechnung mit Boris zu begleichen. Nein, Mek braucht unsere Hilfe nicht. Schlafen Sie noch ein wenig.« »Unmöglich. Ich bin voll beschäftigt. Ich habe mir noch einmal die Polaroidaufnahmen von gestern abend angesehen. Taita gibt uns reichlich zu tun. Kommen Sie und sehen Sie sich das an.« »Nur noch ein Stündchen Schlaf?« versuchte er sie umzu stimmen. »Nein, sofort!« lachte sie. In ihrer Hütte hatte sie die Polaroidaufnahmen und das Zei chenpapier mit den Abdrucken der Hieroglyphen auf den Tisch gelegt und forderte ihn nun auf, sich neben sie zu setzen. »Während Sie schnarchten, bin ich ein Stück weitergekom men.« Sie legte vier Polaroidfotos nebeneinander und stellte das Vergrößerungsglas darüber, eine Konstruktion mit vier ausziehbaren Beinen, wie sie von Landvermessern verwendet wird. Die Vergrößerung war so stark, daß man alle Einzelhei ten auf den Fotos erkennen konnte. »Taita hat jede Seite der Stele mit dem Namen einer Jahreszeit gekennzeichnet Früh jahr, Sommer, Herbst und Winter. Was, glauben Sie, war seine Absicht?« »Die Festlegung einer bestimmten Reihenfolge?«
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»Genau das habe ich auch gedacht«, sagte sie. »Für die Ägypter war das Frühjahr der Beginn allen neuen Lebens. Er sagt uns hier, in welcher Reihenfolge die Inschriften auf den einzelnen Seiten der Stele gelesen werden sollen. Dies hier ist das Frühjahr.« Sie wies auf eines der Fotos. »Es beginnt mit vier Standardzitaten aus dem ägyptischen Totenbuch.« Sie übersetzte die ersten Zeilen des Zitats: »›Ich bin die erste sanfte Brise, die über dem dunklen Ozean der Ewigkeit weht. Ich bin der erste Sonnenaufgang. Der erste Lichtschein. Eine weiße Feder im sanften Wind des Morgen grauens. Ich bin Ra. Ich bin der Anfang aller Dinge. Ich werde ewig leben. Ich werde nie zugrunde gehen.‹« Unter dem Ver größerungsglas lagen noch die gleichen Fotos, als sie ihn ansah und sagte: »Soweit ich sehen kann, unterscheiden sie sich nicht wesentlich vom Original. Mein Instinkt sagt mir, daß wir sie zunächst beiseite legen sollten. Wir können später immer noch darauf zurückkommen.« »Folgen wir Ihrem Instinkt«, schlug er vor. »Lesen Sie den nächsten Abschnitt.« Sie legte das nächste Polaroidfoto unter das Vergrößerungsglas. »Ich werde Sie nicht ansehen, während ich es lese. Taita kann ebenso gegenwärtig sein wie Rabelais, wenn er in der richtigen Stimmung ist. Hier heißt es also: ›Die Tochter der Göttin sehnt sich nach ihrer Mutter. Sie brüllt wie eine Löwin, während sie sich beeilt, zu ihr zu kommen. Sie springt vom Berg herunter, und ihre Reißzähne sind weiß. Sie ist die Dirne der ganzen Welt. Aus ihrer Vagina strömen ganze Fluten. Ihre Vagina hat eine Armee von Männern verschlun gen. Ihre sexuelle Begierde frißt die Maurer und die Steinmet zen. Ihre Vagina ist eine Krake, die einen König verschlungen hat.‹« »O weh!« Nicholas mußte lachen. »Das ist wirklich ein recht derber Text, finden Sie nicht?« Er beugte sich vor, um ihr Ge sicht zu sehen, denn es war immer noch von ihm abgewandt.
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»O Lassie, was haben Sie für rosige Wangen. Das wird doch keine Schamröte sein?« »Ihre schottische Ausdrucksweise ist keineswegs überzeu gend«, erwiderte sie kühl, sah ihn aber immer noch nicht an. »Wenn Sie sich genug über mich lustig gemacht haben, was halten Sie von dem Text, den ich Ihnen vorgelesen habe?« »Abgesehen vom Offensichtlichen, habe ich keine Ahnung.« »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Sie stand auf und legte die Fotos und die Papierrollen in einen Stoffbeutel. »Sie müssen sich Ihre Stiefel anziehen. Wir machen einen kleinen Spazier gang.« Nach einer Stunde standen sie in der Mitte der Hängebrücke, die über den Stromschnellen des Dandera-Flusses leicht hinund herschwankte. »Hapi ist die Göttin des Nil. Ist daher dieser Fluß nicht ihre Tochter, die sich danach sehnt, mit ihr zusammenzutreffen, und brüllend wie eine Löwin vom Berg herunterspringt und dabei ihre Reißzähne entblößt, die so weiß sind wie der Schaum des sprudelnden Wassers?« fragte sie ihn. Sie blickten schweigend hinüber zu dem breiten Spalt im ro ten Gestein, durch den sich der Fluß ergoß, und Nicholas grin ste lasziv. »Ich glaube, ich weiß, was Sie nun sagen werden. Das habe auch ich bedacht, als ich diese Öffnung zum ersten Mal sah. Sie haben gesagt, sie gliche der Öffnung eines Was serspeichers, aber ich hatte eine andere Vorstellung.« »Ich kann nur sagen, Sie müssen intime Beziehungen zu sehr ungewöhnlichen Frauen gehabt haben«, sagte sie und hielt sich dann die Hand vor den Mund. »Oh! Das habe ich nicht sagen wollen, jetzt bin ich ebenso unanständig wie Sie oder Taita.« »Und die Leute, die von diesem Maul verschlungen wur den!« Er wartete gespannt auf ihre Antwort. »Die Maurer und Steinmetzen!« »Der Pharao Mamose war ein Gott. Der Fluß hat einen Gott
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mit seiner – mit seiner Öffnung im Fels verschlungen.« Auch sie erregte der Gedanke. »Ich muß zugeben, ich wäre niemals darauf gekommen, wenn Sie das Innere dieses Kessels nicht erkundet und nicht diese Nischen in der Felswand gefunden hätten.« Sie faßte ihn am Arm. »Nicky, wir müssen uns dort noch einmal umsehen. Wir müssen feststellen, wie dieses Bas relief wirklich aussieht, das Sie in der Felswand entdeckt ha ben.« »Das muß sorgfältig vorbereitet werden«, sagte er. »Ich muß die Taue zusammenknoten und Aly und den anderen Männern genaue Anweisungen geben, damit sich das Fiasko vom letzten Mal nicht wiederholt. Wir werden den Versuch frühestens morgen vormittag unternehmen können.« »Fangen Sie nur an. Ich habe reichlich mit der Übersetzung der Inschriften auf der Stele zu tun.« Sie unterbrach sich, blick te zum Himmel hinauf und flüsterte: »Hören Sie das?« Auch er hob den Kopf und hörte jetzt neben dem Rauschen des Flusses das Geräusch der Rotoren eines Hubschraubers in der Luft. »Verdammt!« rief er verärgert. »Ich glaubte, wir seien die Pegasusleute jetzt los. Kommen Sie!« Er faßte sie am Arm und half ihr ans Ufer. Dort versteckten sich beide unter den über hängenden Baumwurzeln, an denen die Brücke befestigt war. Sie saßen still auf dem weißen Sand und hörten, wie der Hubschrauber näher kam und dann über den Anhöhen jenseits der rosa Klippen kreiste. Diesmal hatte der Pilot sie nicht gese hen, denn er wendete und begann über der Schlucht hin- und herzufliegen. Doch plötzlich veränderte sich das Motorenge räusch, als der Pilot am Höhensteuer zog. »Es klingt so, als wolle er dort oben landen«, sagte Nicholas und kroch aus seinem Versteck heraus. »Ich wäre froh, wenn sie aufhören würden, hier herumzuschnüffeln.« »Ich glaube, wir brauchen uns keine besonderen Sorgen zu
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machen«, meinte Royan. »Selbst wenn sie etwas mit den Mör dern von Duraid zu tun haben, sind wir ihnen ein gutes Stück voraus. Offenbar sind sie noch nicht darauf gekommen, welche Bedeutung das Kloster und die Stele haben.« »Ich hoffe, Sie haben recht. Gehen wir zurück zum Camp. Wir dürfen uns hier in der Nähe der Schlucht nicht wieder von ihnen sehen lassen. Es wird sie mißtrauisch machen, wenn sie feststellen, daß auch wir jedesmal hier sind, wenn sie die Schlucht überfliegen.« Während Royan zu ihrer Hütte ging, um sich mit den Fotos und Radierungen zu beschäftigen, arbeitete Nicholas mit den Fährtensuchern und Kürschnern an den Vorbereitungen für seine neuerliche Erkundung. Er knüpfte ein Ende des geteilten Nylonseils an den zweiten Strang, so daß das Ganze einen Me ter fünfundsechzig lang war. Dann schnitt er das aus Baumwollstoff bestehende Vordach der Küchenhütte ab und machte daraus eine Art Hängematte, auf die er sich setzen und in die Tiefe hinunterlassen konnte. Da er keinen Flaschenzug hatte, baute er aus Holzpfählen ein rohes Gestell, das über den Rand der Klippe hinausgeschoben werden konnte, um das Nylonseil an seinem Ende in die Tiefe hinuntergleiten zu lassen. Das Seil sollte dabei durch eine Rille laufen, die er mit einem glühenden Eisen in das Ende des mitt leren Pfahls gebrannt hatte. Diese Rille schmierte er mit Kü chenfett ein. Am Spätnachmittag war alles bereit. Er ließ Royan im Camp zurück und führte seine Männer mit den Seilen und den Pfäh len für das Gestell den schmalen Pfad hinauf zu der Stelle, wo er sich hatte abseilen lassen. Von dort aus ging es weiter stromabwärts am Rand der Klippe entlang. Da die Böschung bis oben mit dichtem Buschwerk bewachsen war, kamen sie
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nur langsam voran und mußten sich streckenweise den Weg mit der Machete bahnen. Sie folgten dabei dem Rauschen des Wasserfalls. Je weiter sie kamen, desto lauter wurde es, bis das Tosen des Wassers den Boden unter ihren Füßen erbeben ließ. Schließlich konnte Nicholas, wenn er sich über den Rand der Klippe beugte und nach unten blickte, in der Tiefe das weißschäumende Wasser erkennen. »Dies ist die Stelle«, brummte er zufrieden und erklärte Aly auf Arabisch, was nun geschehen sollte. Um festzustellen, wo das Gestell angebracht werden mußte, befahl Nicholas den Männern, ihn in seinem Hängesitz etwa sieben Meter vor der Steilwand hinunterzulassen, und zwar bis zu der Höhe, wo sie sich nach innen neigte. Bis dorthin ließ es sich auch vermeiden, daß sich das Nylonseil an der Felskante abrieb. Er konnte von hier aus aber auch die ganze Höhlung überblicken. Während er nun mit dem Wasserfall und dem Felsenkanal im Rücken etwa fünfzig Meter über dem dahinbrausenden Fluß hing, konnte er endlich die doppelte Reihe der Nischen in der Felswand erkennen. Doch das kreisförmige Basrelief lag noch hinter der nach innen gekrümmten Fläche der Felswand. Nun gab er Aly das Zeichen, ihn wieder hinaufzuziehen. »Wir müssen das Gestell ein Stück weiter unten anbringen«, sagte er und ließ die Männer die am Rand des Abgrunds wach senden Bäume abhacken. Plötzlich rief er: »Verdammt noch mal!« Er kniete sich hin, um sich den freigewordenen Felsrand genauer anzusehen. »Da sind noch weitere Nischen.« Anders als die weiter unten gelegenen Aushöhlungen waren diese, da sie den Witterungseinflüssen stärker ausgesetzt waren, mehr erodiert. In dem Gestein am Rande des Abgrunds sah man nur noch die Spuren solcher Aushöhlungen. Aber er war überzeugt, daß hier die alten Gerüste verankert worden waren. Nun befe
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stigten sie ihr Gestell in der gleichen Höhe und schoben den langen Pfahl weiter über den Abgrund hinaus. Dann befestigten sie ihn mit Hilfe von Seilen und dünneren Stangen. Als das Gerüst gesichert war, kletterte Nicholas hinaus bis ans Ende dieses Pfahls, um die Festigkeit des Gestells zu prü fen und das Ende des Seils in die dafür vorbereitete Rinne zu legen. Das Ganze machte einen soliden und sicheren Eindruck. Und doch atmete er erleichtert auf, als er wieder auf festem Boden stand. Über die Dornbüsche hinweg sah er hinüber auf die unterge hende Sonne, die sich als glühend roter Ball dem Horizont nä herte. »Genug für heute«, sagte er, »der Rest kann bis morgen war ten.« Als Nicholas und Royan am nächsten Morgen am Lagerfeuer saßen und Kaffee tranken, war es noch dunkel. Aly und seine Männer hockten an ihrem Feuer ganz in der Nähe, unterhielten sich ruhig und husteten beim Rauch der ersten Zigarette. Das Vorhaben von Nicholas und Royan hatte auch ihr Interesse geweckt. Sie wußten allerdings nicht, weshalb sich die beiden zum zweiten Mal in die Schlucht abseilen lassen wollten, aber die Begeisterung der beiden Fremden wirkte ansteckend. Sobald es hell genug war, den Pfad zu sehen, führte sie Ni cholas hinauf in die Berge. Die Männer unterhielten sich fröh lich auf Amharisch, und als sie durch das dichte Dornenge strüpp endlich an den Rand der Schlucht gekommen waren, ging über dem östlichen Horizont die Sonne auf. Nicholas hatte das ganze Unternehmen am Tag zuvor mit den Männern einge übt, und er und Royan hatten die halbe Nacht über ihren Plänen gesessen. So wußte jeder von ihnen genau, was er zu tun hatte, und schon nach kurzer Zeit war alles so weit, daß das Abseilen
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beginnen konnte. Nicholas hatte nur seine Shorts und Tennisschuhe an, zog sich jetzt aber doch noch einen warmen Wollpullover an. Dann zeigte er Royan die aus dem massiven Fels herausgehauene Stufe. Sie sah sich diese Stufe sehr genau an und sagte: »Es ist schwer zu sagen, aber ich glaube, Sie haben recht. Wahrschein lich haben Menschen das gemacht.« »Wenn Sie weiter nach unten kommen, werden Sie das nicht mehr bezweifeln. Die Felswand unter dem Überhang ist kaum verwittert, und die Nischen sind bis hinunter zur Hochwasser markierung in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten«, erklärte er, setzte sich in den am Nylonseil hängenden Sitz und schwang sich hinaus über die Schlucht. Am Ende der langen Stange über dem Abgrund hängend, gab er Aly das verabredete Zeichen, und die Männer ließen ihn in die Schlucht hinunter. Das Seil lief glatt durch die mit Fett geschmierte Kerbe. Er sah sofort, daß er sich nicht geirrt hatte, sondern genau zwischen den beiden Reihen der senkrecht übereinanderliegenden Ni schen abgeseilt wurde. Als er etwa siebzehn Meter vor der rät selhaften kreisförmigen Vertiefung in der Felswand angekom men war, stellte er fest, daß sie so stark mit vielfarbigen Flech ten und Moos überwachsen war, daß er nicht erkennen konnte, ob es nicht doch eine natürliche Verformung war. Deshalb ließ er sich weiter bis zur Wasseroberfläche abseilen. Dort angekommen ließ er sich ins Wasser gleiten. Es war sehr kalt, und er mußte sich erst eine Zeitlang bewegen, bis sich sein Körper daran gewöhnt hatte. Dann zog er dreimal an der Signalschnur, um Aly ein Zeichen zu geben, der daraufhin das Seil mit dem Stoffsitz hinaufzog. Er selbst schwamm an den Rand der Gumpe und hielt sich an einer in den Fels ge hauenen Nische fest. Er hatte vergessen, wie düster, kalt und einsam es hier in der Tiefe der Schlucht war.
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Erst nach längerem Warten konnte er sehen, wie auch Royan in dem Stoffsitz abgeseilt wurde, der sich dabei langsam um die eigene Achse drehte. Sie schaute herunter und winkte ihm freundlich zu. Alle Achtung vor dieser mutigen Frau, dachte er und sah mit breitem Lächeln zu ihr hinauf. Sie weiß genau, was sie zu tun hat. Er wollte ihr ein ermutigendes Wort zurufen, wußte aber, daß das Tosen des Wasserfalls seine Stimme übertönen würde. Deshalb winkte er nur zurück. Auf halbem Wege nach unten zog sie plötzlich heftig an der Signalleine. Aly hatte auf dieses vorher verabredete Zeichen gewartet und hielt das Seil fest. Nun beugte sie sich zurück, hielt sich nur noch mit ihrer linken Hand fest und griff nach Nicholas’ Fernglas, das ihr vor der Brust hing. Er beobachtete, daß sie Schwierigkeiten hatte, die kreisrunde Vertiefung in der Felswand im Gesichtsfeld des Glases zu behalten, denn der Sitz pendelte hin und her und drehte sich dabei langsam um sich selbst. Es kam Nicholas so vor, als bemühte sie sich sehr lange dar um, etwas zu erkennen, aber wahrscheinlich waren es nur we nige Minuten. Doch dann nahm sie das Glas von den Augen, warf den Kopf zurück und rief ihm so laut etwas zu, daß er ihre Stimme trotz des lauten Getöses des Wasserfalls hören konnte. Sie strampelte fröhlich mit den Beinen und winkte ihm aufge regt mit der freien Hand zu, während Aly das Seil wieder ver längerte. Er konnte zwar nicht verstehen, was sie ihm zurief, aber sie strahlte so glücklich, daß er die in der Tiefe der Schlucht herrschende düstere Stimmung vergaß. »Ich kann Sie nicht hören«, rief er zurück, aber das Rau schen des Wasserfalls war so laut, daß eine Verständigung nicht möglich war. Royan rutschte in ihrem Sitz hin und her, versuchte, ihm ir gend etwas zuzurufen, und schwenkte erregt den freien Arm.
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Dann ließ sie auch den Strick los, an dem sie sich mit der ande ren Hand festgehalten hatte, und lehnte sich weit nach vorn, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, während sich die Schlau fe, in der sie hing, langsam drehte. Sie hing noch etwa sechs Meter über dem Wasser, als sie fast das Gleichgewicht verlor und beinahe rückwärts aus der Schlinge gerutscht und ins Was ser gefallen wäre. »Vorsicht«, rief er laut, »das ist ein Zeiss-Fernglas und ko stet in Zürich unverzollt zweitausend Pfund!« Diesmal hatte sie ihn offenbar verstanden, denn sie streckte ihm wie ein Schulmädchen die Zunge heraus. Aber sie war jetzt doch vorsichtiger, und erst als ihre Füße fast das Wasser berührten, zog sie an der Leine und gab Aly damit das Zeichen, das Seil anzuhalten. Von hier bis zu der Stelle, an der sich Ni cholas an der Nische festhielt, waren es noch etwa achtzehn Meter. »Was haben Sie gesehen?« rief er. »Sie hatten recht, Sie wunderbarer Mann!« »Ist es von Menschen gemacht? Trägt es eine Inschrift? Konnten Sie die Inschrift lesen?« »Ja, ja und ja auf alle drei Fragen!« Sie lachte triumphierend, und es schien ihr eine besondere Freude zu machen, ihn mit dieser Antwort zu verwirren. »Machen Sie mich nicht wahnsinnig! Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben.« »Taita hat auch hier nicht der Versuchung widerstehen kön ne, sein Werk zu signieren.« Sie lachte. »Er hat sein Auto gramm hinterlassen den Falken mit dem gebrochenen Flügel!« »Wunderbar! Das ist wirklich wunderbar!« rief er begeistert. »Es beweist, daß Taita hier gewesen ist, Nicky. Um diese Kartusche auszumeißeln, muß er auf einem Gerüst gestanden haben. Mit unserer ersten Vermutung hatten wir recht. Die Ni sche, an der Sie sich jetzt festhalten, ist Teil der Leiter, über die
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er in die Schlucht hinuntergestiegen ist.« »Ja, aber warum, Royan?« rief er zurück. »Warum ist Taita hier unten gewesen? Nichts deutet auf irgendwelche Aushöh lungen oder Bauarbeiten hin.« Sie sahen sich beide im Halbdunkel der Schlucht um, aber außer den in zwei senkrechten Reihen verlaufenden Nischen, zeigte die Felswand keinerlei Spuren menschlicher Einwirkun gen und verlief glatt bis hinunter in das dunkle Wasser. »Und unter dem Wasserfall?« rief sie. »Gibt es dort einen Einschnitt in die Felswand? Können Sie dort hinkommen?« Er stieß sich von der Klippe ab und schwamm auf den tosen den Katarakt zu. Auf halbem Wege wurde er von der Strömung erfaßt und konnte nur unter Aufwendung aller Kraft dagegen anschwimmen. Schließlich gelang es ihm, an ein durch die Strömung glattgeschliffenes und mit Algen bewachsenes Stück Fels unterhalb des Wasserfalls heranzukommen. Das Wasser ergoß sich in hohem Bogen über seinen Kopf hinweg, und er arbeitete sich unterhalb der Felsstufe bis zur Mitte der Kaskade vor. Doch auf halbem Wege war die Strö mung zu stark. Sie riß ihn mit, schleuderte ihn zurück in das tiefer gelegene Becken, wo er hilflos herumgewirbelt wurde. In der Mitte des Beckens tauchte er wieder auf und mußte alle Kraft aufwenden, um aus der starken Strömung heraus und in das ruhigere Wasser unmittelbar unterhalb der Felswand zu gelangen. Hier hielt er sich wieder an der steinernen Nische fest und schnaufte wie ein Blasebalg. »Haben Sie nichts gesehen?« rief sie. Er schüttelte nur den Kopf, denn er konnte kein Wort he rausbringen, bevor er wieder zu Atem gekommen war. Schließ lich rief er: »Nichts. Hinter dem Wasserfall liegt nur die glatte Felswand.« Er holte noch einmal tief Luft und fragte dann sar kastisch: »Haben Sie noch eine so schlaue Idee, gnädige Frau?«
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Zunächst antwortete sie nicht, und er genoß die Atempause, die sie ihm gönnte. Dann rief sie: »Nicky, wie weit gehen diese Nischen nach unten?« »Wie Sie sehen, bis zu der, an der ich mich jetzt festhalte.« »Und wie sieht es unter Wasser aus?« Der lange Aufenthalt im kalten Wasser hatte ihn nervös ge macht, und deshalb antwortete er gereizt: »Reden Sie doch keinen Unsinn, meine Verehrte. Wie, zum Teufel, soll es unter der Wasseroberfläche noch irgendwelche Nischen geben?« »Sehen Sie doch nach!« antwortete sie ebenso gereizt. Er schüttelte bedauernd den Kopf, streckte sich aber dann doch so weit wie möglich vor und versuchte, unter Wasser etwas zu erkennen. Nach wenigen Sekunden tauchte er nach Luft schnappend wieder auf und rief: »Mein Gott, Sie haben recht! Da unten ist noch eine Nische.« »Es tut mir leid, aber ich habe es Ihnen ja gleich gesagt.« Selbst auf diese Entfernung konnte er ihr selbstzufriedenes Lächeln sehen. »Was sind Sie? Eine Art Hexe?« Er unterbrach sich und schaute verzweifelt zum Himmel hinauf. »Ich weiß schon, was Sie jetzt von mir verlangen werden.« »Wie weit geht die Reihe der Nischen nach unten? Wollen Sie mir den Gefallen tun und noch einmal tauchen, lieber Nik ky?« »Das habe ich befürchtet«, sagte er. »Ich werde mit meinem Betriebsrat sprechen und mich über Sie beschweren. Das ist Sklavenarbeit. Ich streike.« »Bitte, lieber Nicky!« Im Wasser hängend, atmete er ein paarmal tief ein und aus, um sein Blut reichlich mit Sauerstoff zu versorgen und mög lichst lange tauchen zu können. Nach dem letzten Atemzug entleerte er die Lungen vollständig und atmete dann wieder tief
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ein, bis sie ganz mit frischer Luft gefüllt waren. Dann tauchte er mit dem Kopf voraus ins Wasser und ließ sich durch sein eigenes Gewicht in die Tiefe drücken. Während er so an der Steilwand entlangglitt, kam er an die nächste Nische, griff hinein und beschleunigte die Tauchge schwindigkeit, indem er sich mit einem kräftigen Ruck nach unten abstieß. Auch an der zweiten Nische zog er sich weiter in die Tiefe. Der Abstand zwischen den Nischen betrug knapp zwei Meter. Danach konnte er berechnen, wie weit er jeweils gekommen war. Auf dem Weg nach unten fand er vier Reihen von Nischen, die bis acht Meter unter die Wasseroberfläche hinunterreichten. In seinen Ohren entstand ein klopfendes, quietschendes Ge räusch, als die Luft aus den eustachischen Röhren gedrückt wurde. Als er an der fünften Reihe der Nischen angekommen war, hatte der Wasserdruck seine Lungen auf die Hälfte ihrer nor malen Kapazität zusammengedrückt. Dadurch verringerte sich der Auftrieb, und das Tauchen wurde leichter und beschleunig te sich. Er hatte die Augen weit geöffnet, aber das Wasser unter ihm war dunkel und trübe. So konnte er nur die glatte Felswand vor seinem Gesicht erkennen. Als die sechste Nische erschien, griff er danach, zögerte aber, noch tiefer zu tauchen. Schon zwölf Meter tief, und vom Boden ist immer noch nichts zu sehen, dachte er. In der Armee hatte er in einem Team angehört, das unter Wasser mit dem Speer fischte. Da mals konnte er bis zu zwanzig Meter tief tauchen und es eine ganze Minute lange in dieser Tiefe aushalten, war aber doch sehr viel jünger und körperlich auf dem Höhepunkt seiner Lei stungsfähigkeit gewesen. Nur noch eine Nische, sagte er sich, und dann wieder hinauf
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an die Oberfläche. Schon jetzt hatte er ein beklemmendes Ge fühl in der Brust und das dringende Bedürfnis, Atem zu holen, aber er stieß sich noch einmal ab, glitt noch tiefer hinunter und sah im trüben Wasser bereits die siebente Nische. Sie setzten sich bis zum Boden fort, stellte er erstaunt fest. Wie hat Taita hier herunterkommen können? Die Menschen verfügten damals doch über keine Tauchausrüstung. Er griff in die Nische, hielt sich einen Augenblick daran fest und überleg te, ob er es wagen sollte, noch tiefer zu tauchen. Er wußte, daß er die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht hatte. Der Luftmangel machte sich immer stärker bemerkbar, und seine Brust begann sich fast automatisch zusammenzuziehen. Wie wäre es, wenn ich es noch bis zur nächsten Nische ver suchte? Er spürte eine leichte Benommenheit und wurde von einer gewissen Euphorie ergriffen. Dabei war er sich der Ge fahr bewußt, in die er sich begab, und sah an seinem Körper hinunter. Obwohl es relativ dunkel war, konnte er erkennen, daß sich seine Haut als Folge des Wasserdrucks, der auf sie einwirkte, in Falten gelegt hatte. Es waren mehr als zwei At mosphären, die seinen Brustkorb zusammendrückten. Der Sau erstoffmangel beeinträchtigte jetzt auch seine Gehirnfunktion. Er vergaß die Gefahr, in der er sich befand, und glaubte, un verwundbar zu sein. Tiefer hinein in die Schlucht, dachte er in seinem Rausch und ließ sich tiefer sinken. Nummer acht, so weit haben wir’s gebracht. Er spürte, wie seine Finger in die achte Nische griffen. Er konnte nur noch in unsinnigen Wortkombinationen denken: Nummer acht, die habe ich ihr mitgebracht. Er drehte sich um und spürte plötzlich Boden unter den Fü ßen. Jetzt bin ich sechzehn Meter tief. Trotz seiner Benom menheit, war er sich dessen bewußt. Ich bin zu spät umgekehrt. Jetzt muß ich wieder hinauf. Ich muß atmen.
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Er wollte sich gerade vom Boden abstoßen, um aufzutau chen, als irgend etwas seine Beine erfaßte und ihn mit aller Gewalt gegen die Felswand schleuderte. Eine Krake! dachte er und erinnerte sich an eine Zeile auf der Stele Taikas: »Ihre Vagina ist eine Krake, die einen König verschlungen hat.« Er versuchte, sich von der Wand abzustoßen, aber er hatte das Gefühl, seine Beine würden von den Fangarmen eines See ungeheuers umschlungen; eine kalte, heimtückische Umar mung hielt ihn fest. Taitas Krake. Ich möchte schwören, er hat es wörtlich gemeint. Jetzt bin ich in ihrer Gewalt. Er war hilflos an die Wand gedrückt, ohne sich dagegen wehren zu können. Der Schreck war ihm so in die Glieder ge fahren, daß sich sein Blutdruck erhöhte und die Halluzinatio nen aus seinem unter Sauerstoffmangel leidenden Gehirn spül te. Nun erkannte er, was mit ihm geschehen war. Keine Krake, es ist der Wasserdruck. Er hatte vor langer Zeit etwas Ähnliches erlebt. Im Verlauf seiner militärischen Aus bildung hatte er in der Nähe der Einlaßöffnungen zu den Tur binen der Generatoren im Loch Arran tauchen müssen. Ein mit ihm durch einen Strick verbundener, zweiter Taucher war in den starken Sog der Turbinen geraten und mit hoher Ge schwindigkeit gegen das Gitter von dieser Öffnung geschleu dert worden. Dabei waren ihm sämtliche Rippen gebrochen und wie Dolche durch die Haut und den Taucheranzug gesto ßen. Nicholas war wie durch ein Wunder diesem Schicksal ent gangen. Der seitliche Abstand zu dem anderen Taucher war groß genug gewesen, ihn nicht in den stärksten Sog geraten zu lassen. Trotzdem hatte er sich ein Bein gebrochen, und zwei andere Taucher hatten ihn schließlich aus der starken Strömung herausziehen müssen. Diesmal konnte er den Atem kaum noch länger anhalten, und
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es war kein zweiter Taucher in der Nähe, der ihm hätte helfen können. So wurde er von dem rasch fließenden Wasser in eine schmale Öffnung im Fels gezogen, die in einen Unterwasser tunnel in der Felswand führte. Sein Oberkörper war noch nicht von der Strömung erfaßt, aber seine Beine wurden mit unwiderstehlicher Gewalt hinein gezogen. Es war eine rechteckige Öffnung mit scharfen Kan ten, und obwohl er die Arme ausbreitete, um sich irgendwo festzuhalten, glitten seine Finger über die glatte, schleimige Oberfläche der Felswand. Jetzt ist es soweit, dachte er. Nun gibt es kein Entrinnen mehr. Er krümmte die Finger und spürte, wie seine Nägel abge rissen wurden, als sie an der Felswand entlangglitten. Aber plötzlich faßte er sich die letzte Nische über der Öffnung, in die der Sog des Wassers ihn zu ziehen drohte. Noch einmal, dachte er. Nur noch ein letzter Versuch. Er wußte, daß er mit seiner Energie und seiner Entschlußkraft am Ende war. In seinem Kopf drehte sich alles, und er sah nur noch dunkle Schatten. Tief in seinem Inneren aktivierte er die letzten Reserven und zog noch einmal, bis die Dunkelheit in seinem Kopf aufbrach und leuchtende Farben, Sternschnuppen und Feuerräder vor seinen Augen erschienen und ihn blendeten. Er hörte jedoch noch nicht auf zu ziehen und spürte schließlich, wie sich seine Beine allmählich aus dem Sog befreiten. Mit neuer Kraft, wie er sie sich nicht zugetraut hätte, zog er zum letzten Mal. Plötzlich war er frei und schoß nach oben, aber es war zu spät. Um ihn her wurde es dunkel, und er hörte nur noch das Brausen des Wasserfalls. Er glaubte zu ertrinken, denn seine Kräfte waren erschöpft, und er wußte nicht, wo er sich befand und wie weit es noch bis zur Wasseroberfläche war. Als er schließlich die Wasseroberfläche erreichte, hatte er
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nicht mehr die Kraft, das Gesicht nach oben zu drehen und zu atmen. Mit dem Gesicht im Wasser ließ er sich treiben wie ein Toter und glaubte zu sterben. Dann fühlte er, wie Royan die Haare an seinem Hinterkopf ergriff, und spürte die kühle Luft auf seinem Gesicht, als sie ihn zu sich zog und rief: »Nicky! Atmen Sie! Nicky, atmen Sie!« Er öffnete den Mund und spie einen Wasserstrahl, Speichel und abgestandene Luft aus, würgte und atmete schwer. »Sie sind noch am Leben! Gott sei Dank. Sie waren so lange da unten, daß ich schon glaubte, Sie seien ertrunken.« Er hustete, rang nach Luft und kam langsam wieder zu Be wußtsein. Er glaubte, sie sei irgendwie aus dem Sitz am Ende des Seils gerutscht und ihm nun zu Hilfe gekommen. »Sie waren so lange dort unten. Ich konnte es nicht glau ben.« Sie behielt seinen Kopf über Wasser und hielt sich mit der freien Hand an der Nische in der Felswand fest. »Alles wird wieder gut. Ich habe Sie fest im Griff. Entspannen Sie sich. Alles ist in Ordnung.« Es war erstaunlich, wie sehr ihre Stimme ihn ermutigte. Er genoß es, wieder atmen zu können, und spürte, wie seine Le benskräfte allmählich zurückkehrten. »Wir müssen Sie hinaufziehen lassen«, sagte sie. »Erholen Sie sich noch ein paar Minuten, und dann werde ich Ihnen in den Sitz an der Schlinge helfen.« Sie schwamm mit ihm hinüber zu der Stelle, über der die Schlinge mit dem Sitz hing, und gab den Männern am oberen Rand der Felswand das Zeichen, den Sitz bis zur Wasserober fläche herunterzulassen. Dann glättete sie die Falten der Sitz fläche und half ihm in den Sitz. »Ist alles in Ordnung, Nicky?« fragte sie besorgt. »Halten Sie sich fest, bis Sie oben sind.« Sie legte seine Hände an die Seile, an denen der Sitz aufgehängt war, und sagte noch ein mal: »Halten Sie sich fest!«
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»Ich kann Sie nicht hier unten zurücklassen«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Ich werde schon nachkommen«, beruhigte sie ihn. »Sagen Sie Aly, er soll den Sitz noch einmal für mich herunterlassen.« Auf halbem Wege nach oben schaute er noch einmal hinun ter und sah ihren Kopf im dunklen Wasser. Ihr blasses Gesicht wirkte bemitleidenswert einsam und verlassen. »Tapfer!« Es war ihm gar nicht bewußt, wie schwach und rauh seine Stimme war. »Sie sind wirklich tapfer.« Doch er war schon so weit oben, daß sie ihn nicht mehr hören konnte. Als die Männer auch Royan aus der Schlucht heraufgezogen hatten, ließ Nicholas das Gestell abbauen, über dessen mittlere Stange der Stoffsitz abgeseilt worden war, und sagte Aly, er solle die einzelnen Teile unter den Dornbüschen verstecken. Vom Hubschrauber aus hätte man es deutlich erkennen kön nen, und er wollte nicht die Neugier von Jake Helm erregen. Er war noch nicht so weit zu Kräften gekommen, daß er den Männern hätte helfen können. Deshalb legte er sich in den Schatten eines der Dornbäume, und Royan setzte sich neben ihn. Er war entsetzt, feststellen zu müssen, wie sehr es ihn ge schwächt hatte, fast ertrunken zu sein. Als Folge des Sauer stoffmangels hatte er fast unerträgliche Kopfschmerzen. Auch in der Brust spürte er bei jedem Atemzug ein unangenehmes Stechen. Wahrscheinlich war es eine Verstauchung oder innere Zerrung. Besonders rührte ihn die Geduld von Royan. Sie versuchte nicht ihn zu fragen, was er am Boden der Schlucht entdeckt hatte, und es lag ihr offenbar mehr daran, ihn gesund zu pfle gen, als ihr Forschungsvorhaben fortzuführen. Nachdem sie ihm aufzustehen geholfen hatte, machten sie sich gemeinsam auf den Weg zum Camp. Dabei kam er nur mit
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Mühe weiter und bewegte sich lahm und steif wie ein alter Mann. Er wußte, daß es eine gewisse Zeit dauern würde, bis die Milchsäure und der Stickstoff, die sich in seinem Gewebe angesammelt hatten, absorbiert oder ausgeschieden sein wür den. Als sie im Camp angekommen waren, führte Royan ihn in seine Hütte und bettete ihn auf sein Lager unter dem Moskito netz. Inzwischen fühlte er sich sehr viel besser, sagte es ihr aber nicht. Er genoß es, von einer Frau so liebevoll gepflegt zu werden. Sie brachte ihm ein paar Aspirintabletten und einen Becher dampfendheißen, stark gesüßten Tee. Er spielte auch weiterhin den Hilfsbedürftigen und bat sie zaghaft um einen zweiten Becher. Sie hatte sich neben sein Bett gesetzt und sah ihm beim Trinken zu. »Besser?« fragte sie, als er ausgetrunken hatte. »Die Chancen stehen zwei zu eins, daß ich überleben wer de«, erwiderte er, und sie lächelte. »Ich sehe schon, daß es Ihnen bessergeht. Ihre Wangen ha ben sich gerötet. Wissen Sie, ich habe furchtbare Angst um Sie gehabt.« »Natürlich tue ich alles, um Ihre Aufmerksamkeit zu erre gen.« »Nun, da wir wissen, daß Sie überleben werden, erzählen Sie mir, was geschehen ist. In welche Schwierigkeiten sind Sie dort unten am Boden des Wasserbeckens geraten?« »In Wirklichkeit wollen Sie doch nur wissen, was ich dort gefunden habe, nicht wahr?« »Das auch«, gab sie zu. Er erzählte ihr, was er alles entdeckt hatte und wie er unter Wasser in den Strudel der Abzugsgrube geraten war. Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und auch als er seinen Be richt beendet hatte, blieb sie noch eine Weile mit nachdenkli chem Gesicht sitzen.
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Schließlich sah sie ihn an. »Glauben Sie, daß Taita diese Ni schen unter Wasser bis zum Boden dieses Beckens hat ausmei ßeln können?« Und als er nickte, schwieg sie wieder. Dann sagte sie: »Wie hat er das nur bewerkstelligt? Wie stellen Sie sich das vor?« »Vor viertausend Jahren ist der Wasserstand vielleicht nicht so hoch gewesen. Vielleicht ist er in einer Dürreperiode durch das ausgetrocknete Flußbett bis hier hergekommen. Wäre das nicht eine Möglichkeit?« »Das könnte die Lösung sein«, gab sie zu, »aber warum hat er sich dann die Mühe gemacht, ein Gerüst zu bauen? Wenn er durch das ausgetrocknete Flußbett hier herkommen konnte, brauchte er es doch nicht. Andererseits hatte doch gerade der Fluß eine besondere Bedeutung für Taita. In einer Dürreperiode hätte es tausend andere Stellen gegeben, die ebenso aussahen wie diese hier. Nein, ich glaube, einer der Gründe oder vielleicht sogar der einzige Grund dafür, daß er sich für diese Stelle ent schieden hat, war die Tatsache, daß sie so unzugänglich war.« »Ich nehme an, Sie haben recht«, stimmte er ihr zu. »Wenn also der Fluß auch damals mit dem gleichen niedri gen Wasserstand wie heute durch die Schlucht floß, wie hat er es fertiggebracht, diese Nischen unter Wasser aus der Felswand herauszumeißeln? Und welchen Sinn hätte es gehabt, unter Wasser ein Gerüst anzubringen?« »Das kann ich auch nicht sagen«, gab er zu. »Gut, lassen wir das zunächst, aber sagen Sie mir, wie es dort aussah, wo sie vom Sog des Wasserwirbels fast in die Öff nung der Felswand hineingezogen wurden. Können Sie sagen, wie groß diese Öffnung etwa war?« Er schüttelte den Kopf. »Dort unten ist es fast ganz dunkel. Ich konnte nicht weiter als etwa einen Meter sehen.« »Lag diese Öffnung genau in der Mitte zwischen den beiden Nischenreihen?«
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»Nein, nicht genau in der Mitte«, sagte er nach einigem Überlegen. »Sie lag ein wenig seitwärts davon. Meine Füße berührten gerade den Boden, und ich wollte mich nach oben abstoßen, als ich von diesem Sog ergriffen wurde.« »Die Öffnung muß also ganz nah am Boden des Beckens und von dem Gerüst aus ein Stück stromabwärts gelegen ha ben. Sie haben gesagt, es müsse wahrscheinlich eine rechtecki ge Öffnung gewesen sein?« »Dessen bin ich mir nicht ganz sicher – wie gesagt, konnte ich nur sehr wenig sehen. Aber das war mein Eindruck.« »Auch diese Öffnung könnte von Menschen hergestellt wor den sein – vielleicht eine Art Abzugsschacht, der aus dem Bek ken hinausführte?« »Das ist möglich«, sagte er nach einigem Zögern. »Aber an dererseits konnte es auch ein natürlicher Riß gewesen sein, durch den sich das Wasser einen Weg suchte.« Sie stand auf, um zu gehen, und er fragte: »Wohin gehen Sie?« »Ich werde nicht lange fortbleiben. Ich gehe nur in meine Hütte, um meine Notizen und das Material von der Stele zu holen. Ich bin gleich wieder da.« Als sie zurückkam, setzte sie sich im Schneidersitz neben sein Bett. Sie legte ihre Papiere neben sich auf den Boden, und er schob das Moskitonetz beiseite, um sie sich anzusehen. »Während Sie gestern damit beschäftigt waren, das Gestell zu bauen, konnte ich den größten Teil des Textes auf der Früh lingsseite der Stele entziffern.« Sie schlug ihr Notizbuch auf und zeigte ihm die entsprechenden Seiten. »Das sind meine vorläufigen Notizen. Sie werden sehen, wo ich ein paar Frage zeichen gemacht habe – hier und dort zum Beispiel. An diesen Stellen weiß ich nicht genau, ob meine Übersetzung richtig ist oder ob Taita ein neues, mir bisher unbekanntes Symbol be nutzt hat. Ich werde meine Übersetzung später noch einmal überprüfen lassen.«
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»Ich verstehe«, sagte er, und sie fuhr fort. »Was ich hier grün angestrichen habe, sind Zitate aus der Standardversion des Ägyptischen Totenbuches. Ein solches Zitat ist auch das folgende: Das Universum wird in Kreisen gezeichnet, die kreisrunde Scheibe des Sonnengottes Ra. Das Leben des Menschen ist ein Kreis, der im Schoß der Mutter beginnt und im Grab endet. Der Kreis des Rades am Streitwagen läßt den Tod der Schlan ge vorausahnen, die das Rad unter seinem Reifen zermalmt.« »Ja, ich erinnere mich an dieses Zitat«, sagte er. »Dagegen sind die Teile des Textes, die ich gelb gekenn zeichnet habe, von Taita selbst verfaßt, zumindest jedoch keine Zitate aus dem Ägyptischen Totenbuch oder einer anderen, mir bekannten Quelle. Ganz besonders wollte ich Sie auf den fol genden Abschnitt aufmerksam machen.« Sie legte den Zeigefinger auf die Stelle und las sie laut vor. »›Die Tochter der Göttin ist schwanger. Sie ist von dem ge schwängert worden, der keinen Samen hat. Sie ist mit ihrer eigenen Zwillingsschwester geschwängert worden. Der Fötus liegt zusammengerollt in ihrem eigenen Schoß. Ihre Zwillings schwester wird nie geboren werden. Sie wird nie das Licht des Ra erblicken. Sie wird ewig im Dunklen leben. Im Schoß der Schwester nimmt ihr Bräutigam sie für ewig als Ehefrau in Anspruch. Die ungeborene Zwillingsschwester wird zur Braut des Gottes, der ein Mann war. Die Schicksale beider sind mit einander verflochten. Sie werden ewig leben. Sie werden nicht zugrunde gehen.‹.« Sie blickte von ihrem Notizbuch auf. »Als ich diesen Text zum ersten Mal las, war ich überzeugt, daß die Tochter der Göttin der Dandera-Fluß sei, was wir beide angenommen hat ten. Ich war auch ziemlich sicher, daß der Gott, der ein Mann gewesen war, der Pharao sein muß. Mamose wurde erst zum Gott erhoben, als er den ägyptischen Thron bestieg. Vorher war
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er ein Mann.« Nicholas nickte. »Der Samenlose ist offensichtlich Taita selbst. Er hat wiederholt erklärt, er sei ein Eunuch. Aber wenn Sie glauben, die Existenz der geheimnisvollen Zwillingsschwe ster ließe sich auch noch anders deuten, dann sagen Sie es.« »Der Zwilling des Flusses wird höchstwahrscheinlich ein Nebenfluß oder eine Abzweigung des Flusses sein, nicht wahr?« »Oh, ich sehe, worauf Sie hinaus wollen. Sie wollen sagen, daß das durch den Felsspalt fließende Wasser der Zwilling ist. Unten in der Tiefe des Beckens wird er niemals das Licht des Sonnengottes Ra sehen. Der samenlose Taita erklärt sich zum Vater. Damit sagt er uns, daß er der Architekt ist.« »Genau, und er hat die Zwillingsschwester des Flusses dem Pharao Mamose für alle Ewigkeit zur Frau gegeben. Unter der Voraussetzung, daß unsere Vermutungen stimmen, werden wir den Ort, an dem der Pharao Mamose beigesetzt wurde, niemals finden, bevor wir die Felsspalte gründlich untersucht haben, in der Sie fast ertrunken sind.« »Wie, glauben Sie, sollten wir das tun?« fragte er, und sie zuckte nur die Schultern. »Ich bin kein Techniker, Nicky. Das überlasse ich Ihnen. Ich weiß nur, daß Taita es getan haben muß. Er ist nicht nur dort unten gewesen, sondern hat dort auch noch gearbeitet. Wenn Ihre Interpretation der Stele richtig ist, dann hat er am Boden des Beckens umfangreiche Ausschachtungsarbeiten geleistet. Wenn er das konnte, dann gibt es keinen Grund, weshalb Sie es nicht auch tun könnten.« »Aber Taita war ein Genie. Das beweist er immer wieder. Ich bin nur ein armseliger Stümper.« »Sie sind meine ganze Hoffnung, Nicky. Sie werden mich doch nicht enttäuschen?«
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Es war nicht besonders schwierig, den Spuren von Mek Nimmur und seinen Leuten zu folgen. Zwar hatte er gewisse Maßnahmen getroffen, um eventuelle Verfolger abzulenken, aber sein Weg führte im allgemeinen in westlicher Richtung entlang der Schlucht des Blauen Nil zur sudanesischen Grenze, in deren Nähe sich auch sein Basislager befand. Boris schätzte, daß seine Gruppe aus fünfzehn bis zwanzig Mann bestand. Das ließ sich nicht ohne weiteres feststellen, da sich ihre Spuren auf dem Pfad an vielen Stellen kreuzten. Zu dem marschierte eine aus wenigen Männern bestehende Vorhut voraus, andere sicherten die Flanken, und am Schluß wurde die kleine Kolonne von einer schwachen Nachhut gedeckt. Zwar konnten sie ein verhältnismäßig hohes Marschtempo halten, aber ein einzelner Verfolger war natürlich schneller als eine ganze Gruppe. Boris war überzeugt, daß er sie einholen würde. Nach seiner Berechnung waren sie vier Stunden vor ihm aufgebrochen, aber alles deutete darauf hin, daß sie jetzt nur noch einen Vorsprung von etwa zwei Stunden hatten. Er lief im gleichen Tempo ruhig weiter, bückte sich aber nach einem auf dem Pfad liegenden, grünen Zweig und hob ihn auf. Er stellte fest, daß es der vor kurze Zeit abgebrochene Schößling einer Pflanze am Weg war. Irgend jemand hatte ihn im Vorbeigehen abgebrochen und liegen lassen. Da die Blätter in der Hitze kaum angefangen hatten zu verwelken, konnte Boris daraus schließen, daß er der Gruppe von Mek Nimmur näher gekommen war, als er geglaubt hatte. Er verlangsamte sein Tempo ein wenig und überlegte, wie er sich jetzt verhalten sollte. Er kannte diese Gegend recht gut. Im vergangenen Jahr hatte er hier einen amerikanischen Jäger ge führt, der einen kapitalen Steinbock schießen wollte. Nach fast einem Monat waren sie in diesen bewaldeten Schluchten auf einen mächtigen alten Bock mit einem ausladenden Gehörn gestoßen, das später im Trophäenverzeichnis Rowland Ward an
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zehnter Stelle eingetragen wurde. Er wußte, daß der Nil etwa fünf Kilometer weiter südlich ei ne große Schleife bildete. Der Pfad folgte dem Verlauf des Flusses, es war jedoch möglich, den Weg durch die hohen Klippen innerhalb der Schleife abzukürzen, wie er das bei der Verfolgung des waidwund geschossenen Steinbocks getan hatte. Der Amerikaner hatte den Bock nicht mit einem sauberen Blattschuß erlegt, sondern zu weit rückwärts getroffen und die Eingeweide durchschossen. Der Bock war daraufhin auf sei nem Wechsel bergauf geflüchtet, und Boris erinnerte sich dar an, wie gefährlich es gewesen war, diesem Wechsel zu folgen, der auf der anderen Seite der Anhöhe wieder bergab führte. Das bedeutete eine Abkürzung von etwa fünfzehn Kilometern. Wenn er jetzt den Anfang dieses Wildwechsels fand, würde er unter Umständen Mek Nimmur einholen und ihm an dem Pfad am Flußufer auflauern können. Auf diese Weise konnte er sich einen gewaltigen Vorteil verschaffen. Der Guerillaführer rechnete wahrscheinlich damit, daß er verfolgt wurde, nicht aber mit einem Überraschungsangriff von vorne. Deshalb wür de er sich nach hinten absichern, da er es für äußerst unwahr scheinlich hielt, daß Boris ihn überholen konnte, ohne daß sei ne Nachhut etwas davon merkte. Andererseits würde Boris, wenn er von vorne kam, selbst die Stelle bestimmen können, an der er seinen Gegner erledigen konnte. Dort, wo der Pfad parallel zum Flußlauf nach Süden abbog, suchte Boris die Hänge nach einem charakteristischen Wahr zeichen ab, an dem er sich merken konnte, wo er sich befand. Nach etwa achthundert Metern sah er, wie der dunkle Basalt des Felsens von einem dicht bewaldeten Streifen unterbrochen wurde. Er blieb stehen und wischte sich den Schweiß von seinem Gesicht und Hals. »Zuviel Wodka«, brummte er. »Nicht weich werden.« Sein Hemd war so durchgeschwitzt und naß, als sei
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er in den Fluß gefallen. Er nahm das Gewehr auf die andere Schulter und sah sich durch das Fernglas den bewaldeten Streifen an. Ein Aufstieg schien hier unmöglich zu sein, aber dann sah er einen kleinen Baum, der aus einer engen Felsspalte herauswuchs. Er sah aus wie ein japanischer Bonsai mit einem vielfach gekrümmten Stamm und verkrüppelten Zweigen. Der Steinbock hatte auf der Klippe unmittelbar über diesem Baum gestanden, als der Amerikaner schoß. Boris erinnerte sich noch genau daran, wie der Bock den Rücken gekrümmt hatte, als das Geschoß ihn traf, und dann die Klippe hinauf ge flüchtet war. Er führte das Glas allmählich den engen Grat hin auf, der bis an den oberen Rand der Klippe führte. Da, da. Das ist die Stelle. Er dachte in seiner Muttersprache. Das war besser als die Quälerei mit dem Französischen und Englischen. Bevor er mit dem Aufstieg begann, kletterte er den steinigen Hang hinunter zum Fluß. Am Ufer beugte er sich kniend über das Wasser und wusch Kopf, Gesicht und Hals mit dem kühlen Flußwasser ab. Dann goß er das abgestandene Wasser aus sei ner Feldflasche, füllte sie neu und trank sich satt. Nachdem er die Flasche ausgespült hatte, füllte er sie noch einmal. Oben in den Bergen würde er kein Wasser mehr finden. Schließlich tauchte er seinen Hut in den Fluß und setzte ihn tropfnaß wie der auf, so daß ihm das Wasser über das Gesicht und den Hals hinunterlief. Nachdem er die Böschung hinaufgeklettert war, ging er langsam hundert Meter weiter und sah sich dabei den Pfad sehr genau an. An einer Stelle lag ein großer Felsblock, der ein Weiterkommen fast unmöglich machte. Die Männer vor ihm waren über dieses Hindernis geklettert und dann auf eine mit feinem Staub bedeckte Stelle dahinter gesprungen und hatten ihre deutlich erkennbaren Fußabdrücke hinterlassen.
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Die meisten Männer trugen israelische Fallschirmjägerstiefel mit gezackten Profilsohlen, und als sie von dem Felsblock hin untersprangen, hatten sie die Fußabdrücke der anderen ver wischt. Boris mußte sich hinknien, um die Abdrücke genau ansehen zu können. Dann sah er jedoch einen sehr viel kleine ren, offensichtlich weiblichen Fußabdruck, der zwar zum Teil durch einen männlichen verwischt worden war, aber immerhin ließ sich die Fußspitze noch deutlich erkennen und ebenso auch der Sohlenabdruck eines Tennisschuhs, den Boris unter Tau senden von anderen als den von Tessay erkannt hätte. Er war erleichtert, festzustellen, daß sie sich noch bei der Gruppe befand und nicht mit ihrem Liebhaber einen anderen Weg genommen hatte. Boris wußte, Mek Nimmur war intelli gent, und es war ihm schon einmal gelungen, sich aus seinen Fängen zu befreien. Aber diesmal würde das nicht so sein! Der Russe schüttelte energisch den Kopf; nein, diesmal nicht. Wieder sah er sich den weiblichen Fußabdruck sehr genau an. Der Anblick gab ihm einen Stich ins Herz, und erneut flammte diese erbarmungslose Wut in ihm auf. Die Gefühle für diese Frau waren erstorben. Liebe und physisches Verlangen gab es nicht mehr. Sie war sein Eigentum, und man hatte sie ihm gestohlen. Diese Kränkung war das einzige, was ihn wirk lich berührte. Sie hatte ihn zurückgewiesen und gedemütigt, und dafür sollte sie sterben. Bei diesem Gedanken packte ihn seine alte Mordlust. Das Töten war schon immer sein Beruf gewesen, aber sooft er diese Mordlust auch hatte befriedigen können, sie war noch nie voll befriedigt worden und niemals abgestumpft. Vielleicht war es das einzig wirkliche Vergnügen, das ihm geblieben war, ein reines und ungetrübtes Vergnügen. Nicht einmal der Wodka konnte dieses Gefühl schwächen, wie das bisher beim Ge schlechtsakt der Fall gewesen war. Sie zu töten, würde ihm ein größeres Vergnügen bereiten, als sie körperlich zu besitzen.
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In den letzten Jahren hatte er nur auf Tiere Jagd gemacht, aber er hatte nie vergessen, wie es war, einen Menschen zu jagen und umzubringen, besonders eine Frau. Er wollte Mek Nimmur erschießen, aber noch stärker war das Verlangen, die se Frau zu töten. Zur Regierungszeit des Präsidenten Mengistu, als er Leiter der Spionageabwehr gewesen war, hatten seine Männer seinen Geschmack gekannt und die hübschesten Frauen für ihn ausge sucht. Jetzt bedauerte er nur, daß er sie so schnell würde töten müssen. Er würde nicht das Vergnügen haben, sie zu foltern und sich daran zu weiden, wie sie langsam unter seinen Hän den starb. Es würde nicht mehr so sein wie damals, als es viele Stunden und manchmal sogar Tage gedauert hatte. »Verdammtes Weibsbild«, brummte er und stieß mit dem Fuß in den Staub, um ihren Fußabdruck ebenso auszulöschen, wie er sie auslöschen wollte. »Verdammte schwarze Hure.« Gestärkt und entschlossen verließ er den Pfad und kletterte hinauf zu dem verkrüppelten Baum und dem Beginn des über die Klippe führenden Wildwechsels. Er fand ihn genau an der Stelle, wo er ihn vermutet hatte, und folgte ihm nach oben. Je höher er stieg, desto steiler wurde er. Oft mußte er sich mit beiden Händen eine steile Stelle hi naufziehen oder einen schmalen Grat überwinden. Zum ersten Mal war er hier hinaufgestiegen, als er die Schweißfährte des angeschossenen Steinbocks verfolgte, aber jetzt konnte er sich nicht von irgendwelchen Blutspuren leiten lassen. Deshalb kam er zweimal von dem Wildwechsel ab und stand plötzlich am Rand einer steil abfallenden Felswand. Er mußte sich also langsam zurücktasten und dann versuchen, den richtigen Weg zu finden. Dabei war es ihm jedesmal bewußt, daß die Zeit verstrich, und er unter Umständen Mek Nimmur nicht mehr würde einholen können. An einer Stelle stieß er auf einige wilde Bergziegen, die auf
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einem Felsvorsprung lagen. Sie flüchteten und sprangen so geschickt über alle Hindernisse und Felsspalten, daß man eher an Vögel erinnert wurde als an Tiere, die dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen waren. Sie wurden geführt von einem kapitalen Bock mit einem langen Bart und langen korkenzie herartig gedrehten Hörnern, der Boris auf den direkten Zugang zum oberen Rand der Klippe hinwies. Beim Überwinden der letzten Steilwand riß er sich die Fin gerspitzen wund, kam schließlich oben an und rutschte über den Kamm auf die andere Seite, ohne den Kopf zu heben. Eine menschliche Silhouette wäre gegen den klaren, hellblauen Himmel schon auf viele Kilometer zu erkennen gewesen. Er kroch unterhalb des Kamms entlang, bis er einen niedrigen Busch fand, hinter dem er sich verstecken konnte. Getarnt durch die langen, spitzen Blätter dieses Busches, suchte er mit seinem Fernglas das dreihundert Meter unter ihm liegende Ge birgstal ab. Aus dieser Höhe erschien der Nil als ein breites, leuchtendes Band, das in Serpentinen bis zur ersten Biegung der großen Schleife verlief und dessen Oberfläche sich, unterbrochen von einzelnen Felsblöcken, auf den Strecken kräuselte, wo der Fluß in Stromschnellen dahinschoß. Die Anhöhen oberhalb der bei den Ufer bestanden aus scharfkantigen Basaltfelsen, die wie erstarrt wirkten, in einem tropischen Wirbelsturm aufgepeitsch te Meereswellen. Das ganze Bild flimmerte in der Hitze der unbarmherzig einfallenden Sonnenstrahlen. Obwohl sich das durch die Luftspiegelung erzeugte Flim mern dabei noch verstärkte, suchte Boris mit dem Fernglas den neben dem Fluß verlaufenden Pfad ab und folgte ihm das Tal hinunter bis zu der Stelle, wo er hinter der großen Schleife ver schwand. Auf der ganzen Strecke war niemand zu erkennen, und daraus schloß er, daß die Kampfgruppe von Mek Nimmur schon vorüber war. Er konnte allerdings nicht sagen, wie weit
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sie schon gekommen war, sondern wußte nur, daß er sich beei len mußte, wenn er sie jenseits des Gebirgsmassivs abfangen wollte. Zum ersten Mal, seit er den Fluß verlassen hatte, trank er ein wenig aus seiner Wasserflasche. Er hatte das Gefühl, bei der anstrengenden Kletterparie bei dieser Hitze völlig ausgetrock net zu sein. Wer unter solchen Umständen kein Wasser hatte, konnte schon nach wenigen Stunden tot sein. Deshalb über raschte es nicht, daß die ganze Gegend in der Nähe der Schlucht so dünn besiedelt war. Nachdem er sich erfrischt hatte, kletterte er weiter, um über den Gebirgskamm auf die andere Seite zu gelangen. Bis dort hin waren es noch anderthalb Kilometer. Doch plötzlich stand er völlig unerwartet direkt am Rande einer senkrecht in die Tiefe abfallenden Steilwand. Noch ein unbedachter Schritt, und er wäre im freien Fall dreihundert Meter in die Tiefe gestürzt. Nun kroch er direkt unterhalb des Kammes weiter, bis er eine Stelle fand, an der er ungesehen das vor ihm liegende Gelände mit dem Fernglas absuchen konnte. Der Fluß war der gleiche – ein breites Band aus weißschäu menden Stromschnellen, das auf ihn zukam, um dann in wei tem Bogen die Schleife zu bilden. Der Pfad folgte dem diessei tigen Ufer, soweit er nicht durch hochaufragende Klippen ge zwungen war, landeinwärts auszuweichen. In der von allem Leben verlassenen Schlucht konnte er keine andere Bewegung feststellen als das rasche Dahinströmen des Wassers und das unaufhörliche Flimmern der aufsteigenden Luftspiegelung. Mek Nimmur konnte nicht so rasch vorange kommen sein, daß er ihn bereits überholt hatte. Deshalb muß ten er und seine Leute demnächst auf dem Pfad neben der gro ßen Flußschleife auftauchen. Boris nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche und ruhte sich dann fast eine halbe Stunde aus. Danach fühlte er
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sich soweit gestärkt, daß er sich überlegte, ob er sofort abstei gen und neben dem Pfad eine geeignete Stelle suchen sollte, an der er die Kampfgruppe abfangen könnte. Schließlich beschloß er aber doch, so lange oben zu bleiben, bis er sie kommen sah. Er überprüfte sein Gewehr und überzeugte sich davon, daß sich das Zielfernrohr beim Klettern nicht aus seiner Halterung gelöst hatte. Dann nahm er das Magazin heraus und sah sich die fünf Patronen an. Eine Patronenhülse war leicht verbeult. Er warf sie fort, schob eine neue Patrone in die Kammer und legte den Sicherungshebel um. Dann legte er die Waffe neben sich auf den Boden, wechsel te seine verschwitzten Socken gegen ein frisches Paar aus, zog die Stiefel wieder an und zog die Schnürsenkel fest. Nur ein Neuling würde es riskieren, sich unter solchen Umständen Bla sen an den Füßen zu laufen, denn sie würden sich schon in we nigen Stunden entzünden und zu eitern anfangen. Wieder nahm er einen Schluck aus der Wasserflasche, stand auf und hängte sich das Gewehr über die Schulter. Nun war er auf jede Beute gefaßt, die die Göttin der Jagd ihm zugedacht hatte, und ging in Erwartung der Kampfgruppe weiter den Bergkamm entlang. An jeder geeigneten Stelle suchte er das unter ihm liegende Tal mit dem Fernglas ab, aber immer noch ließen sich Mek Nimmur und seine Leute nicht sehen. Der Nachmittag verging sehr schnell, und er fürchtete schon, daß es seinem Feind ge lungen war, ungesehen an ihm vorbeizukommen, den Fluß an einer geheimen Furt überquert zu haben oder einen anderen Pfad durch ein von hier aus nicht sichtbares Tal genommen zu haben, als er plötzlich ein lautes Kreischen hörte. Er blickte auf und sah, wie zwei Gabelweihen über einem dichten Dornbusch am Flußufer kreisten. Die gelbschnäblige Gabelweihe ist einer der in Afrika am häufigsten vorkommenden, aasfressenden Raubvögel. Sie lebt in enger Symbiose mit dem Menschen,
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ernährt sich von seinen Abfällen, kreist über seinen Dörfern und anderen Wohnstätten und beobachtet genau, wo der Mensch etwas zurückläßt, was ihr als Futter dienen könnte. Damit ist die Weihe Teil eines natürlichen Systems zur Besei tigung von Abfällen. Boris beobachtete die beiden Vögel durch sein Fernglas, wie sie in der heißen Luft immer wieder über demselben Busch am Flußufer kreisten. Sie hatten eine besondere Art, ihren Flug mit dem gegabelten Stoß zu steuern, wenn sie im Aufwind der hei ßen Luft die Flugrichtung änderten. Ihre leuchtendgelben Schnäbel waren deutlich zu erkennen, wenn sie nach unten blickten, um das Gebüsch abzusuchen. Boris lächelte zufrieden. Da! Nimmur hat schon verhältnis mäßig früh eine Pause eingelegt. Vielleicht hat seine neue Frau die Hitze nicht vertragen, oder der Marsch hat sie zu sehr ange strengt. Vielleicht will er auch nur ein wenig mit ihr spielen. Boris ging weiter am Bergkamm entlang, bis er an eine Stelle kam, von der aus er unmittelbar in das Gebüsch hineinsehen konnte, in dem er einen Menschen vermutete. Aber auch durch das Fernglas konnte er nichts entdecken. Nachdem er fast zwei Stunden gewartet hatte, vermutete er, er könnte sich vielleicht getäuscht haben. Nur noch die beiden Weihen fesselten seine Aufmerksamkeit. Sie hatten sich inzwischen auf einen Baum oberhalb dieses Gebüschs gesetzt. Nun mußte er sich darauf verlassen, daß sie die vielleicht dort versteckten Menschen nicht aus den Augen lassen würden. Besorgt sah er, wie sich die Sonne allmählich dem Horizont näherte, und stellte fest, daß die Hitze nachließ. Dann blickte er wieder ins Tal hinunter. Unmittelbar unterhalb des Busches staute sich der Fluß zu einer kleinen Lagune. Bei Hochwasser würde der Fluß bis an die steile Böschung heranreichen, aber jetzt war hier ein schmaler Kiesstreifen zu sehen. Auf dieser Seite des Ufers la
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gen einige große Felsbrocken, die von der darüberliegenden Klippe heruntergerollt waren. Einige von ihnen lagen auf dem Kies, ein paar andere halb im Wasser. Der größte von ihnen, ein mächtiger dunkler Gesteinsblock, hatte die Ausmaße einer kleinen Hütte. Unerwartet trat plötzlich ein Mann aus dem Gebüsch ins Freie. Mit vor Erregung beschleunigtem Puls sah Boris, wie er die Böschung hinunterkletterte und von einem der kleineren Gesteinsbrocken auf den Kiesstreifen am Ufer sprang. Am Rand der Lagune kniete er hin und füllte eine Feldflasche mit Wasser. Dann kletterte er wieder die Böschung hinauf und ver schwand im Gebüsch. »Ah! Auch für sie ist die Hitze zu groß. Sie müssen trinken, und so haben sie sich verraten. Wenn die Vögel nicht dagewe sen wären, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, hier auf sie zu warten.« Irgendwie bewunderte er die Tüchtigkeit seines Gegners. »Nimmur ist ein vorsichtiger Mann. Kein Wunder, daß er so lange überlebt hat. Er hat alles im Griff. Aber auch er kann ohne Wasser nicht leben.« Boris ließ das Flußufer und das Gebüsch, in dem der Mann verschwunden war, nicht mehr aus den Augen und überlegte, was Mek Nimmur jetzt unternehmen würde: Er hat viel Zeit verloren, als er hier wegen der Hitze eine Pause einlegte. Er wird erst weitermarschieren, wenn es kühler geworden ist, wahrscheinlich erst in der Nacht, dachte er und schaute wieder nach der Sonne. In drei Stunden wird es dunkel sein. Bis dahin muß ich etwas unternehmen. Im Dunkeln wird es schwierig sein, meine Ziele ins Visier zu bekommen. Bevor er aufstand, rutschte er ein Stück den Hang hinunter und ging zurück bis zu einer Stelle, wo er hinter einem Fels vorsprung den Abstieg ins Flußtal wagen konnte, ohne daß die Wachen von Mek Nimmur ihn sahen. Hier gab es zwar keinen Wildwechsel, aber schließlich fand er einen nicht zu steilen,
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felsigen Abhang, über den er das Flußufer ohne besondere Schwierigkeiten erreichen konnte. Unten angekommen sah er sich die Gesteinsschichten, über die er geklettert war, genau an, um sie im Notfall wiederfinden zu können. Es war ein günsti ger Fluchtweg, und er wußte, daß er unter Umständen sehr bald von seinen Gegnern verfolgt werden würde. Es hatte mehr als eine Stunde gedauert, hinunterzukommen, und die Zeit wurde knapp. Auf dem am Flußufer entlangfüh renden Pfad ging er nun in Richtung auf das Basislager von Mek Nimmur zurück. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu beei len, er mußte jedoch darauf achten, keine Spuren zu hinterlas sen. Er schlich am Rand des Pfades entlang und achtete darauf, bei jedem Schritt nur auf einen Stein zu treten. Aber trotz sei ner Vorsicht wäre er den Leuten von Mek Nimmur fast in die Arme gelaufen. Nachdem er etwa zweihundert Meter gegangen war, hörte er das leise, melancholische Pfeifen eines Weißflügelstars und hätte es fast unbeachtet gelassen, doch plötzlich wurde ihm bewußt, daß es nicht die richtige Tageszeit dafür war. Der Star ließ diesen Warnruf nur hören, wenn er im Morgengrauen sei nen Nistplatz oben in den Klippen verließ. Jetzt war es Spät nachmittag, und er befand sich tief unten in der schwülheißen Schlucht. So war es wahrscheinlich das Signal eines Mannes der Vorhut von Mek Nimmur, der auf ihn zukam. Boris reagierte sofort. Er verließ den Pfad und lief zurück zu der Stelle, wo er den Abhang heruntergekommen war. Dort kletterte er so weit hinauf, daß er den Pfad überblicken konnte. Er mußte jedoch erkennen, daß es ihm kaum etwas genützt hatte, den kürzeren Weg durch die Berge zu nehmen. Die Stel le, an der er sich jetzt versteckt hielt, war kein günstiger Aus gangspunkt für einen Überraschungsangriff, und sein Flucht weg lag im Schußfeld seiner Feinde. Wenn er viel Glück hatte, würde er es vielleicht bis nach oben schaffen. Aber er dachte
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nicht im entferntesten daran, seinen Rachefeldzug aufzugeben. Sobald er seine Feinde im Visier hatte, würde er auch aus die ser Entfernung das Feuer eröffnen. Aber er mußte zugeben, daß Mek Nimmur ihn überrascht hatte. Boris hatte nicht damit gerechnet, daß er vor Sonnenun tergang aufbrechen würde. Er hatte geglaubt, noch rechtzeitig bis zu einer höheren Stelle über dem Dornengestrüpp zu kom men, in dem sich Mek Nimmur und seine Leute versteckt hiel ten, um von dort aus zwei gutgezielte Schüsse abzugeben, be vor er fliehen mußte. Er hatte zunächst auch geglaubt, daß die Männer von Mek Nimmur nach dem Tode ihres Anführers seinen Mörder nicht besonders energisch verfolgen würden. Sollte das doch gesche hen, dann hatte er bei seinem Rückzug immer wieder anhalten wollen, um ein paar Schüsse abzugeben und einen oder mehre re dieser Leute außer Gefecht zu setzen. So würden sie bei ih rer Verfolgung sehr vorsichtig vorgehen und sie schließlich aufgeben. Doch das alles hatte sich jetzt geändert. Nun würde er bei der ersten Gelegenheit auf ein höchstwahrscheinlich bewegliches Ziel schießen müssen, dann aber beim Aufstieg über die Klip pen dem Feuer seiner Verfolger ausgesetzt sein. Sein einziger Vorteil bestand darin, daß er über ein erstklassiges Jagdgewehr verfügte, während die Männer von Mek Nimmur nur mit Schnellfeuergewehren vom Typ AK-47 bewaffnet waren, die auf größere Entfernungen nicht sehr treffsicher waren, vor al lem nicht in den Händen dieser Guerillas. Gut ausgebildete, afrikanische Eingeborene gehörten zu den besten Soldaten der Welt, aber sie waren im allgemeinen schlechte Schützen. Er lag flach auf dem Felsvorsprung, und der von der Sonne durchglühte Stein war so heiß, daß ihn auch seine Kleidung nicht vor der Hitze schützen konnte. Er nahm den Rucksack ab und legte ihn als Unterlage für den Schaft seines Gewehrs vor
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sich hin. Dann blickte er durch das Zielfernrohr, zielte auf ei nen kleinen, neben dem Pfad liegenden Stein und richtete den Lauf nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, daß er rings um ein freies Schußfeld hatte. Dies war nach seiner Ansicht der beste Platz, den er in der kurzen Zeit hatte finden können. Nun legte er das Gewehr zur Seite und rieb das Gesicht mit einer Hand voll Erde ein, die, vermischt mit seinem Schweiß, seine blasse Gesichtshaut mit einer dunklen Schicht überzog, so daß man ihn auf größere Entfernung nicht erkennen könnte. Als letzte Vorsichtsmaß nahme sorgte er dafür, daß das Sonnenlicht nicht durch die Linse des Zielfernrohrs oder irgendwelche Metallteile seines Gewehrs so reflektiert wurde, daß es von unten her zu erken nen war. Dazu bog er einen belaubten Ast des Busches neben sich so zurecht, daß sein Schatten auf die Waffe fiel. Nun legte er sich hinter das Gewehr, hob den Kolben an die Schulter, atmete im ruhigen Rhythmus tief ein und aus, ver langsamte damit seinen Pulsschlag und entspannte seine Hän de. Er mußte nicht lange warten. Schon bald hörte er den Warnruf des Vogels, aber diesmal schon sehr viel näher. Er wurde sofort auf der anderen Seite des Pfades von einer Stelle aus beantwortet, die nahe am Flußufer lag. Die Leute, die Mek Nimmur zur Flankensicherung eingesetzt hat, werden Schwierigkeiten haben, einen Platz zu finden, von dem aus sie dieses Gelände überwachen können. Er grinste hämisch. Wahrscheinlich werden sie sich verirren. Während er das dachte, sah er, wie ein Mann in einer Entfernung von etwa fünfhundert Metern in den Pfad einbog und auf ihn zukam. Boris sah ihn sich durch das Fernglas an. Es war ein typi scher afrikanischer Untergrundkämpfer in einem abgetragenen, zerschlissenen Tarnanzug mit einem AK-Schnellfeuergewehr unter dem Arm. An der Wegbiegung hielt er einen Augenblick an und nahm Deckung hinter einem großen Felsblock neben
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dem Pfad. Ein paar Minuten sah er sich nach allen Seiten um und schaute dabei einmal direkt zu Boris herüber, der den Atem anhielt und bewegungslos liegenblieb wie ein Felsblock. Doch dann richtete sich der Mann auf und gab seinen Kameraden, die hinter ihm in den Büschen versteckt waren, ein Handzei chen. Dann trabte er den Pfad entlang auf Boris zu, und nach dem er fünfzig Meter gelaufen war, erschienen auch die ande ren im gleichen Abstand hintereinander. Auch mit einem guten Repetiergewehr hätte man sie nicht einzeln abschießen können. Gut! dachte Boris. Das sind hervorragende, gut ausgebildete Soldaten. Er sah sich ihre Gesichter durch das Fernglas an und wartete auf das Erscheinen von Mek Nimmur. Inzwischen lie fen schon sieben Männer den Pfad entlang, aber von ihrem Führer war noch nichts zu sehen. Der Mann an der Spitze war unmittelbar unter ihm angekommen, lief aber weiter. Zwei von ihnen hatten den Flankenschutz übernommen und kamen etwa zwölf Schritte unter ihm durch die Büsche. Er blieb still liegen und ließ sie vorbei. Auch die anderen liefen auf dem Pfad im Laufschritt und im gleichen Abstand an ihm vorüber. Nachdem der letzte verschwunden war, schien die Schlucht menschenleer zu sein. Doch dann bewegte sich wieder etwas im Gebüsch. »Die Nachhut«, brummte Boris leise. »Mek bleibt mit der Frau zurück, mit seinem neuen Spielzeug. Er scheint sehr be sorgt um sie zu sein.« Leise entsicherte er sein Gewehr und vermied dabei jedes metallische Geräusch, das ihn hätte verraten können. »Nun sollen sie kommen«, flüsterte er leise. »Mek wird der erste sein. Kein Risiko, kein Kopfschuß. Mitten auf die Brust. Die Frau wird erstarren, wenn er fällt. Sie hat nicht die Reakti onsfähigkeit eines erfahrenen Kriegers. Sie wird mir die Gele genheit geben, einen sicheren Schuß anzubringen. Auf diese Entfernung kann ich sie nicht verfehlen. Genau zwischen diese
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hübschen kleinen schwarzen Brüste.« Die Vorstellung, daß diese hübsche junge Frau blutend zusammenbrechen und vor seinen Augen eines gewaltsamen Todes sterben würde, erregte ihn sexuell. Vielleicht wird es mir sogar gelingen, auch einen der anderen Männer zu erledigen, ich kann aber nicht damit rechnen. Es sind gute Leute, und sie werden wahrscheinlich schon in Deckung gegangen sein, bevor ich die Frau erschos sen habe. Er sah sich die Gesichter der vorbeilaufenden Männer genau an, aber jedesmal war es die gleiche Enttäuschung. Auch die letzten drei liefen im gleichmäßig ruhigen Tempo vorüber. Doch Mek und die Frau ließen sich nicht blicken. Die Nachhut verschwand, und ihre Schritte verhallten. Es war still gewor den, und Boris lag allein mit klopfendem Herzen und dem bit teren Geschmack der Enttäuschung in der Kehle auf dem Fels vorsprung. Wo sind sie? dachte er verbittert. Wo, zum Teufel, ist Mek? Schon nach wenigen Augenblicken fand er die wahrscheinlich richtige Antwort auf diese Frage. Sie hatten einen anderen Weg gewählt, und Mek hatte seine Leute hier vorbeilaufen lassen, um ihn abzulenken. Er sah auf seine Armbanduhr und blieb genau fünf Minuten liegen, um abzuwarten, ob noch weitere Männer den Pfad he raufkamen. Er überlegte verzweifelt, was er jetzt unternehmen sollte. Der letzte Beweis dafür, daß auch Tessay mit dieser Gruppe unterwegs sein mußte, war ihre Fußspur auf dem Pfad am Beginn der großen Schleife. Seitdem waren schon mehrere Stunden vergangen, und wenn sie und Mek sich unbemerkt an ihm vorbeigeschlichen hatten, dann konnten sie jetzt überall sein. Vielleicht hatte Mek inzwi schen einen Vorsprung von mehr als einem ganzen Tag, und es würde lange dauern, bis er seine Spur wiederfand. Sein Mißer folg ärgerte ihn so sehr, daß er kaum noch klar denken konnte.
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Aber gerade das war jetzt notwendig, und er durfte nicht wie ein angeschossener Büffel in die falsche Richtung stürmen. Er wußte, daß das eine seiner Schwächen war, aber jetzt mußte er sich beherrschen. Als er wieder die Augen öffnete, spürte er nur noch die kalte Wut, wußte aber genau, was und in welcher Reihenfolge er es tun mußte. Zunächst mußte er auf dem Pfad zurückgehen und ihn nach Spuren absuchen. Er mußte die Stelle finden, an der Mek sich von seinen Männern getrennt hatte. Er verließ den Felsvorsprung und kroch durch die Büsche den Hang hinunter auf den Pfad und lief schnell stromaufwärts bis dorthin, wo sich die Kampfgruppe von Mek in der Tages hitze ausgeruht hatte. Hier stellte er fest, daß die beiden Ga belweihen fort waren. Das war aber noch kein Beweis dafür, daß alle das Gebüsch verlassen hatten, und deshalb sah er sich den Pfad sehr genau an. Die Spuren waren noch deutlich zu erkennen, obwohl sie bereits einige Stunden alt waren. Plötzlich blieb er abrupt mitten auf dem Pfad stehen und spürte, wie sich seine Haare auf den Unterarmen und im Nak ken sträubten, als er die Spur im Staub erkannte und feststellen mußte, daß er in Meks Falle geraten war. Es war der Abdruck eines Tennisschuhs von Tessay. Mek und diese Frau hatten sich im Gebüsch versteckt und saßen immer noch dort. Ihre Spuren führten hinein, aber nicht heraus. Boris hatte das Gefühl, daß Mek ihn in diesem Augen blick im Visier seines Sturmgewehrs hatte. Während sich Boris hier draußen die Spur auf dem Pfad ansah, konnte er schon im nächsten Augenblick von einer Kugel getroffen werden. Mit einem Satz sprang er zur Seite und landete wie eine Kat ze im hohen Gras neben dem Pfad mit dem Gewehr im An schlag. Es dauerte mehrere Minuten, bis sich sein Puls wieder normalisiert hatte und er aufstand, um gebückt und vorsichtig um das Gebüsch herumzuschleichen. Er schaute sich nervös
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nach allen Seiten um, hatte den Finger an den Abzug seines Repetiergewehrs gelegt und ließ die Mündung langsam hin und her pendeln wie den Kopf einer Kobra, die bereit ist, ihre Gift zähne in das Opfer zu schlagen. Nun kletterte er vorsichtig die Böschung zum Fluß hinunter, wo das Rauschen der Stromschnellen alle Geräusche, die er machte, übertönen würde. Aber als er fast bis zu dem riesigen Felsbrocken gekommen war, den er von oben gesehen hatte und hinter dem er sich jetzt verstecken wollte, erstarrte er er neut. Neben dem Rauschen der Stromschnellen des Nil hörte er einen Laut, der nicht hierherpaßte, so daß er fast daran zweifel te, ihn gehört zu haben. Es war das Gelächter einer Frau, süß und klar wie das Klingen eines Kristallkronleuchters im Wind. Der Laut kam vom Flußufer unterhalb des großen Fels blocks. Er kroch auf den Felsblock zu, um sich entweder dahin ter zu verstecken oder hinaufzuklettern und von diesem Aus sichtspunkt das Flußufer zu überblicken. Doch bevor er dort war, hörte er, wie ein schwerer Gegenstand ins Wasser klatsch te, und dann den erregten und zugleich spielerisch herausfor dernden Aufschrei einer Frauenstimme. An dem Felsblock angekommen, kroch er weiter bis an sei nen Rand, von wo aus er zum Kiesstreifen am Flußufer hinun terblicken konnte. Er konnte kaum glauben, was er sah. Eine solche Torheit hätte er einem Mann wie Mek Nimmur niemals zugetraut. Das also war der harte Mann, der erfahrene Krieger und Überlebende eines zwanzig Jahre dauernden, blutigen Buschkriegs, der sich nun verhielt wie ein liebeskrankes junges Bürschchen. Mek Nimmur hatte seine Männer fortgeschickt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen. Boris ließ sich Zeit, um absolut sicher zu sein, daß man ihm hier keine Falle gestellt hatte. Das war mehr als ein glücklicher Zufall! Er suchte jeden Zoll des Flußufers in beiden Richtungen mit seinem Fernglas ab, um
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festzustellen, ob sich nicht doch irgendwo einige von Meks Leuten versteckt hatten, um ihm aufzulauern. Doch sehr bald verzog sich sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen: Natür lich sind sie allein. Mek würde es nie zulassen, daß einer seiner Männer Tessay nackt sieht. Er muß verrückt sein. Hat er nicht gewußt, daß ich ihm folgen würde? Glaubte er, einen so großen Vorsprung zu haben, daß er sich jetzt dieses Zwischenspiel erlauben durfte? Gibt es etwas Dämlicheres und Kurzsichtige res auf dieser Welt als einen steifen Schwanz? Boris grinste zufrieden, als er das ganze Ausmaß seines Glücks begriff. Die beiden hatten sich nackt ausgezogen und ihre Kleider auf den grauen Basaltkies am Flußufer im Schatten eines gro ßen Felsblocks gelegt. Splitternackt planschten sie im seichten Wasser am Rande der Strömung herum. Mek Nimmur war breitschultrig, hatte einen muskulösen Rücken und ein festes Gesäß. Neben ihm wirkte Tessay zart wie ein Schilfrohr mit ihrer schlanken Taille und den schmalen Hüften. Ihre Haut hatte die Farbe wilden Honigs. Sie waren so sehr miteinander beschäftigt, daß sie nichts anderes hörten oder sahen. Höchstwahrscheinlich hat er einige seiner Männer beauf tragt, den Pfad in seinem Rücken zu sichern. So viel taktische Vernunft mußte Boris seinem Gegner zubilligen. Jedenfalls hat er nicht damit gerechnet, daß ich ihn überholen könnte. Hier fühlt er sich absolut sicher. Was ist das doch für ein Narr, dach te er schadenfroh, als Mek die junge Frau verfolgte und sie sich fangen ließ. Engumschlungen ließen sie sich ins Wasser fallen und küßten sich lachend, als sie wieder auftauchten. In diesem Augenblick waren sie die idealen Abbilder männlichen und weiblichen Ebenmaßes, Adam und Eva in ihrem kleinen, wohlbehüteten afrikanischen Paradies. Nun schaute Boris hinüber zu den im Schatten abgelegten Kleidern: auf Meks Tarnanzug lag sein Sturmgewehr. Bis dort hin waren es nur wenige Schritte. Boris lief hinüber, nahm das
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Sturmgewehr in die Hand, löste das Magazin aus seiner Halte rung, steckte es in die Tasche und warf die Patrone aus der Kammer auf den Boden. Dann legte er das entladene Gewehr wieder auf die Jacke und lief zurück zu seinem Versteck. Mek und Tessay hatten es nicht bemerkt. Im Schatten des Felsblocks beobachtete Boris in aller Ruhe, wie die beiden im Wasser spielten. Mit fast kindlicher Unbe kümmertheit gaben sie sich ganz ihrer Liebe hin. Schließlich löste sich Tessay aus der Umarmung und kam aus dem Wasser heraus. Wie ein junges Fohlen lief sie mit ih ren langen, schlanken Beinen über den Kies, und ihre Brüste hüpften bei jedem Schritt. Sie schaute sich nach ihm um und forderte ihn mit einem verlockenden Lächeln auf, ihr zu folgen. Mek kam ihr nach, das Wasser glitzerte auf der dichtbehaarten Brust und tropfte von seinen starken Genitalien auf den Boden. Er holte sie ein, bevor sie an den Kleidern angekommen war, und sie wehrte sich spielerisch gegen seine Umarmung, bis er ihr den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuß verschloß. Während er sie küßte, glitten seine Hände ihren Rücken hinun ter und über ihr feuchtglänzendes Gesäß. Sie schmiegte sich an ihn, spreizte die Beine und forderte ihn so auf, in die Geheim nisse ihres Körpers einzudringen. Sie stöhnte wollüstig, als er zärtlich ihre Scham streichelte. Bei Boris vermischte sich die Wut mit dem perversen Ver gnügen, das er empfand, als er zusehen konnte, wie sich seine Frau einem anderen Mann ergab. Ein höllisches Gebräu aus den verschiedensten Empfindungen brodelte in seinem Inneren. Einerseits spürte er eine fast schmerzliche Erregung in seinen Lenden, wurde jedoch zugleich wie ein Baum im Sturm von einem fast unbezähmbaren Zorn ergriffen. Die Liebenden sanken auf die Knie, Tessay legte sich zurück und zog ihn auf sich herunter. Mit lauter Stimme rief Boris: »Mein Gott, Mek Nimmur, Sie
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wissen gar nicht, wie lächerlich Ihr nackter Arsch in dieser Stellung aussieht.« Mek reagierte so plötzlich wie ein Leopard, der überrascht wird. Mit einem Satz war er an dem Kleiderbündel und ergriff sein Sturmgewehr. Obwohl Boris, als er ihn anrief, mit dem Repetiergewehr auf seinen Nacken gezielt hatte, war Mek schnell genug, sein Sturmgewehr auf den Bauch von Boris zu richten, bevor dieser sich darauf einstellen konnte. Mek drückte auf den Abzug, aber der Schlagbolzen schlug mit einem metal lischen Klicken nur auf die leere Kammer. Nun richteten die beiden Männer ihre Waffen aufeinander und starrten sich wütend an. Tessay lag zusammengekrümmt nackt an der Stelle, wo Mek sie verlassen hatte, und richtete ihre dunklen, erschreckten Augen auf ihren Mann, der in der nächsten Sekunde Mek töten würde. Boris lachte heiser. »Wo soll der Schuß sitzen, Mek. Wie wäre es, wenn ich deinem dreckigen schwarzen Werkzeug den Kopf zerschmetterte, solange er noch auf dem Halse sitzt?« Mek Nimmur schaute kurz hinauf in die Berge. Boris er kannte, daß er recht gehabt hatte; dort oben warteten noch eini ge von Mek Nimmurs Männern, aber doch so weit entfernt, daß sie das Flußufer nicht sehen konnten, an dem ihr Führer das Zusammensein mit seiner Geliebten genoß. »Die Affenärsche dort oben kannst du vergessen. Ihr werdet beide tot sein, bevor sie herunterkommen und euch retten kön nen«, sagte Boris lachend. »Für mich ist das ein Mordsspaß. Wir hatten schon einmal eine Verabredung, aber du hast sie nicht eingehalten. Das macht nichts – diesmal werden wir uns noch besser amüsieren.« Er wußte, daß es unklug war, einem solchen Mann zu viel Zeit zu lassen. Mek hatte einen Fehler gemacht, aber das würde sich nicht wiederholen. Boris sollte ihn eigentlich sofort mit einem Kopfschuß erledigen. Dann hätte er noch ein paar Minuten Zeit, mit Tessay fertigzuwer
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den. Aber die Versuchung, seinen Gegner noch länger verhöh nen zu können, war zu groß. »Ich habe eine gute Nachricht für dich, Mek. Du wirst ein paar Sekunden länger leben. Zuerst werde ich die Hure er schießen, und du wirst zusehen. Ich hoffe, du wirst es ebenso genießen wie ich.« Er schob sich aus der Deckung des Fels blocks heraus und glitt dorthin, wo Tessay zusammengerollt auf dem Kiesstreifen lag. Sie hatte sich halb von ihm abgewen det und versuchte, ihre Brüste und ihre Scham mit ihren Hän den zu bedecken. Doch auch während er sich ihr näherte, ließ Boris seinen Gegner Mek nicht aus den Augen, denn ihn hatte er zu fürchten. Das war ein Fehler. Er hatte die Frau unter schätzt. Während sie so tat, als wende sie sich aus Scham von ihm ab, hatte Tessay zwischen ihren Oberschenkeln einen runden, vom Wasser abgeschliffenen Stein gefunden, der genau in ihre kleine Faust paßte. Unvermutet streckte sie sich und warf den Stein mit aller Kraft nach dem Kopf von Boris, der ihre Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte und sofort den Arm hob, um seinen Kopf zu schützen. Der Stein, der auf diese kurze Entfernung mit erstaunlicher Kraft geschleudert worden war, verfehlte sein Ziel und traf statt dessen den Ellbogen von Boris. Er hatte die Ärmel aufgerollt und den nackten Arm angewinkelt, so daß der Stein die ge straffte Haut über dem Gelenk traf. Das obere Ende der Elle zersplitterte wie Glas, und Boris heulte vor Schmerzen auf. Ohne es zu wollen, öffnete er die Hand, sein Zeigefinger streckte sich, und er hatte nicht mehr die Kraft, den Abzug zu ziehen und Mek in den Bauch zu schießen. Mek sprang auf, und bevor Boris das Gewehr in die andere Hand nehmen konnte, war er hinter dem großen Felsblock ver schwunden.
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Boris hatte das Gewehr jetzt in der linken Hand, holte aus, und schlug Tessay mit dem Gewehrkolben an den Kopf. Dann stieß er ihr die Mündung in den Hals und brüllte wütend: »Ich werde sie erschießen, du schwarzer Bastard! Wenn du deine Hure haben willst, komm und hol sie dir!« Der zerschmetterte Ellbogen schmerzte so stark, daß er nur krächzen konnte. Aus seinem Versteck hinter dem Felsblock rief Mek Nimmur mit lauter Stimme ein einziges Wort in amharischer Sprache, dessen Echo von den Klippen widerhallte. Dann sagte er auf Englisch: »Meine Männer werden sofort hier sein: Lassen Sie die Frau in Frieden, und ich werde Ihnen nichts tun. Wenn Sie ihr auch nur das geringste antun, werde ich Sie so weit bringen, daß Sie mich anflehen, Ihnen den Gnadenschuß zu geben.« Boris beugte sich zu Tessay hinunter und zog sie auf die Fü ße, während er ihr den gesunden Arm um den Hals gelegt hat te. Er hielt sein Gewehr, dessen Mündung auf ihrer Schulter lag, in der gleichen Hand. Die Hand des verletzten Arms hatte sich so weit erholt, daß er den Abzug bedienen konnte. »Bis deine Männer hier sind, wird sie längst tot sein«, brüllte er zurück und zog sie ein Stück mit sich fort. »Komm her und hol sie dir, Mek. Sie wartet auf dich.« Er drückte ihr die Kehle so weit zu, daß sie kaum noch at men konnte. Sie wehrte sich verzweifelt, und ihre Fingernägel hinterließen lange rote Striemen auf seiner gebräunten Haut. »Höre auf sie! Ich breche ihr den hübschen Hals. Höre doch, wie sie röchelt.« Er verstärkte seinen Druck und zwang sie, so laut zu keuchen, daß Mek es hörte. Boris sah zu der Seite des Felsblocks hinüber, an der Mek verschwunden war, dann ging er noch ein paar Schritte zurück, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Er überlegte verzweifelt, wie er sich retten könnte, wußte aber, daß es ei gentlich keine Rettung mehr gab. Seinen rechten Arm konnte er kaum noch benutzen, und bald würden auch die Männer von
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Mek hier sein. Zwar hatte er noch die Frau in seiner Gewalt, aber das genügte ihm nicht. Auch der Mann sollte dran glau ben. Er mußte sie beide haben. Jetzt hörte er eine fremde Stimme über sich an der Bö schung. Meks Männer waren unterwegs. Seine Lage wurde immer verzweifelter. Mek war nicht dazu zu bewegen, sich noch einmal zu zeigen. Er hatte ihn schon mehr als zwei Minu ten nicht mehr gehört und wußte nicht, wo er war. Zu spät, mußte Boris einsehen. Ich werde ihn nicht bekom men, nur die Frau. Aber ich muß es jetzt tun. Er zwang sie auf die Knie, beugte sich über sie und lockerte den Griff seines Arms. »Leb wohl, Tessay«, flüsterte er ihr mit heiserer Stimme ins Ohr. Dann verstärkte er den Druck seiner Armmuskeln und spürte, daß ihre Halswirbel bald auseinanderbrechen würden. Dazu mußte er den Druck nur noch ein wenig verstärken. »Für dich ist alles vorüber«, flüsterte er und verstärkte den Druck. Er kannte aus Erfahrung das Geräusch brechender Halswirbel, und er machte sich darauf gefaßt, dieses Knirschen zu hören, und zu spüren, wie er einen erschlafften toten Körper im Arm hielt. In diesem Augenblick bekam er einen so starken Schlag in den Rücken, daß er schon glaubte, ihm seien das Rückgrat und einige Rippen gebrochen. Er hatte nie damit gerechnet, daß er aus dieser Richtung angegriffen werden würde. Es schien fast unmöglich, daß Mek Nimmur ihm so schnell in den Rücken fallen konnte, denn dazu hätte er sein Versteck hinter dem Felsblock verlassen müssen. Der Angriff war mit solcher Heftigkeit erfolgt, daß Boris den Griff um Tessays Hals lockern mußte. Sie holte tief Atem und befreite sich aus seiner Umklammerung. Boris versuchte, sich umzudrehen und das Gewehr auf Mek zu richten, aber dieser packte es und versuchte, es Boris aus den Händen zu reißen.
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Der Finger des Russen lag noch am Abzug, und nun löste sich unmittelbar vor dem Gesicht von Mek ein Schuß. Die De tonation betäubte Mek für einen kurzen Augenblick, der Mün dungsknall klang ihm in den Ohren, und er stolperte ein paar Schritte zurück. Währenddessen versuchte Boris, das Gewehr schloß zu öffnen und eine Patrone in die Kammer zu schieben, aber mit seinem angeschlagenen rechten Arm gelang es ihm nicht. Mek nutzte diese Gelegenheit und stürmte mit gesenk tem Kopf auf Boris zu und warf sich mit seinem ganzen Ge wicht auf ihn. Das Gewehr glitt ihm aus den Händen, und beide Männer rangen Brust an Brust miteinander, wobei jeder ver suchte, den anderen auf den Boden zu werfen. Am Uferrand stolperten sie und fielen rückwärts in den Fluß. Als sie wieder auftauchten, ging der Kampf weiter, und jeder versuchte, den anderen unter Wasser zu drücken und zu erträn ken, eine grausige Parodie des Liebesspiels, das Boris noch vor wenigen Minuten beobachtet hatte. Zunächst blieben sie im seichten Wasser, aber jedesmal, wenn sie ins Wasser fielen, rutschten sie auf dem schräg abfallenden Grund zur Mitte des Flusses hin, bis sie schließlich von der Strömung erfaßt und stromabwärts abgetrieben wurden. Aber der Kampf ging unter wüsten gegenseitigen Beschimpfungen weiter. Nun hörte Tessay die Männer, nach denen Mek gerufen hat te, durch das Gestrüpp an der Böschung näherkommen. Sie schlang ihre Wolldecke um sich und lief ihnen entgegen. Als der erste mit seinem Sturmgewehr im Anschlag auf dem Kies streifen erschien, rief sie ihm auf Amharisch zu: »Dort! Mek ist im Wasser. Er kämpft mit dem Russen. Helft ihm!« Sie lief mit ihnen das Flußufer entlang, und als sie dort hinkamen, wo die beiden mitten in der Strömung miteinander kämpften, blieb einer der Männer stehen und richtete sein Sturmgewehr auf sie. Aber Tessay sprang hinzu und riß den Lauf seiner Waffe nach oben.
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»Idiot!« rief sie böse. »So können Sie auch Mek treffen!« Dann sprang sie auf einen der Felsblöcke am Ufer und schaute hinunter aufs Wasser, wurde dabei aber von den Licht reflexen der tiefstehenden Sonne geblendet. Zu ihrem Schreck sah sie, daß es Boris gelungen war, Mek an der Gurgel zu pak ken und vor sich herzuschieben. Dabei drückte er Meks Kopf ins Wasser. Mek wehrte sich wie ein Lachs an der Angel, und beide wurden vom schäumenden Wasser einer langen Strom schnelle mitgerissen. Tessay sprang von dem Felsblock hinunter und lief am Fluß ufer entlang zur nächsten Stelle, von der aus sie aber auch nur hilflos zusehen konnte, wie Boris Meks Kopf ins Wasser drückte, während beide von der Stromschnelle mitgerissen wurden, und zwar mit immer höherer Geschwindigkeit vorbei an scharfkantigen schwarzen Felsvorsprüngen. Mek war ein kräftiger Mann, und Boris mußte sich gewaltig anstrengen, ihn unter Wasser zu halten. Er wußte, daß seine Kräfte sehr bald erschöpft sein würden. Mit einem Ruck konnte sich Mek so weit aus der Umklammerung lösen, daß er kurz auftauchte und Atem schöpfte, bevor Boris ihn wieder ins Wasser drücken konnte. Aber die frische Luft hatte ihn gestärkt. Verzweifelt sah Boris das Ende der Stromschnelle vor sich, denn dort ragten weitere Felsvorsprünge aus dem Wasser. Bo ris steuerte auf einen großen schwarzen Felsblock zu, über den sich das Wasser in einer meterhohen Welle ergoß. Mit hoher Geschwindigkeit trieben sie auf den Felsblock zu, der sie wie ein mordlustiges Ungeheuer zu erwarten schien. Schließlich gelang es Boris unter Aufwendung seiner letzten Kraft, Mek vor sich herzuschieben, mit dessen Körper er den Aufprall auf den Felsblock abfangen wollte. Im letzten Augenblick vor dem Zusammenstoß tauchte Mek mit dem Kopf aus dem Wasser, nahm einen tiefen Atemzug, sah, wie er sich dem Felsblock näherte, und erkannte die Ge
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fahr. Geistesgegenwärtig tauchte er unter, und zwar so überra schend, daß Boris ihn nicht daran hindern konnte. Er hielt sich instinktiv am Hals von Mek fest und wurde über dessen Rük ken nach vorn geschoben, so daß jetzt er und nicht Mek mit voller Wucht auf den Felsblock aufprallte. Die rechte Schulter von Boris zersplitterte wie eine Walnuß im Nußknacker. Obwohl er noch nicht aufgetaucht war, brüllte er vor Schmerzen, und seine Lungen füllten sich mit Wasser. Er ließ Mek los, und als er auftauchte, streckte er die Glieder wie ein ertrinkendes Insekt. Sein rechter Arm war an zwei Stel len gebrochen, der gesunde Arm bewegte sich kraftlos hin und her, und er versuchte vergeblich, das Wasser aus den Lungen zu pressen. Mek tauchte nur wenige Meter hinter ihm auf. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, sah er den Kopf von Boris vor sich und war mit wenigen kräftigen Stößen hinter ihm. Boris war so erschöpft, daß er sich nicht vorstellen konnte, was Mek beabsichtigte, bis dieser ihn von hinten am Hemd packte und ihm mit dem Kragen die Luft abschnürte. Mit der anderen Hand packte er unter der Wasseroberfläche den Leder gurt von Boris und lenkte ihn damit wie mit einem Steuerruder gegen das nächste Felsenriff. Obwohl seine Lungen mit Wasser gefüllt waren, versuchte Boris, ihn mit Schmähungen zu überhäufen: »Bastard! Drecki ges schwarzes Schwein –« Aber seine Stimme wurde vom Rauschen und Dröhnen des Wassers übertönt. Mek stieß ihn mit dem Kopf voraus gegen das gezackte Felsenriff und spürte deutlich den Ruck des Aufpralls in den angespannten Muskeln seiner Unterarme. Im gleichen Augenblick erschlaffte Boris. Sein Kopf fiel zur Seite, und seine Glieder hingen kraftlos im Wasser wie Seetang in der Brandung. Als sie die Stromschnellen überwunden hatten, zog Mek den Kopf von Boris so weit aus dem Wasser, daß er das Gesicht
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des Russen sehen konnte. Zunächst erschrak er beim Anblick der Verletzungen, die er ihm beigebracht hatte. Die Stirn war eingedrückt, aber die Haut war unverletzt geblieben. Die Ver tiefung war so groß, daß Mek seinen Daumen hätte hineinstek ken können, und die Augen waren aus den Augenhöhlen he rausgetreten wie bei einer zerschlagenen Puppe. Mek drehte den leblosen Körper so weit herum, daß er den zertrümmerten Schädel aus der Nähe betrachten konnte. Er betastete die Vertiefung auf der Stirn mit den Fingerspitzen und fühlte die Knochensplitter unter der Haut. Er ließ den Kopf zurück ins Wasser sinken und schwamm durch die Strömung ans Ufer. Boris konnte sich zwar nicht mehr wehren, aber Mek drückte seinen Kopf während der gan zen Zeit, die er zum Überqueren des Flusses brauchte, ins Was ser. Wie tötet man ein Ungeheuer? fragte er sich grimmig. »Ich sollte ihn an einem Kreuzweg mit einem Holzpflock im Herzen begraben.« Doch statt dessen ertränkte er ihn mehr als fünf zigmal, und an der nächsten Flußbiegung wurden sie ans Ufer gespült. Hier warteten Meks Männer schon auf ihn. Sie stützten ihn, als sie sahen, daß seine Beine ihn kaum mehr tragen konnten, und halfen ihm die Böschung hinauf. Als sie auch die Leiche von Boris aus dem Fluß holen wollten, protestierte Mek. »Überlaßt ihn den Krokodilen. Nach allem, was er unserem Land und unserem Volk angetan hat, hat er nichts Besseres verdient.« Doch selbst in seinem Zorn und Haß wollte er Tes say den Anblick dieses verstümmelten Kopfes ersparen. Sie hatte mit den Männern Schritt halten können, und kam ihm jetzt am Flußufer entgegen. Einer seiner Männer stieß die Leiche von Boris zurück in die Strömung, und während sie fortschwamm, nahm er sein Sturmgewehr von der Schulter und durchlöcherte den Toten
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mit einem Feuerstoß. Die Geschosse schlugen neben dem Kopf des Toten ins Wasser und in seinen Rücken. Sie durchlöcherten sein nasses Hemd und rissen Fleischfetzen heraus. Die anderen Männer lachten laut und übermütig und beteiligten sich an der Schießerei auf den leblosen Körper. Mek versuchte nicht, sie daran zu hindern. Einige ihrer nächsten Verwandten waren durch die Schuld des Russen eines grausamen Todes gestorben. Die Leiche drehte sich in dem von seinem Blut rotgefärbten Wasser, und einen Augenblick starrten die bleichen, vorste henden Augen von Boris zum Himmel hinauf. Dann versank er in der Tiefe. Mek stand langsam auf und ging zu Tessay hin über. Er nahm sie in die Arme, drückte sie an die Brust und flüsterte zärtlich: »Es ist alles gut. Er wird dir nie mehr etwas antun. Alles ist vorüber. Du bist jetzt meine Frau – für alle Zeit!« Da Boris und Tessay das Camp verlassen hatten, mußten Ni cholas und Royan keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen mehr treffen, um ihr Vorhaben geheimzuhalten, und sich nicht mehr in Royans Hütte zurückziehen, wenn sie über ihre Suche nach dem Grabmal sprachen. Sie verlegten ihre Besprechungen in die Hütte vor der Kü che, in der die Mahlzeiten eingenommen wurden, und ließen einen großen Tisch hineinstellen, auf dem sie die Satellitenfo tos und alle anderen Karten und Papiere ausbreiten konnten, die sie brauchten. Wenn sie hier zusammensaßen und über ihre Entdeckungen in Taitas Wasserbecken und über ihre Theorien sprachen, wurden sie vom Koch mit reichlich Kaffee versorgt. »Wir werden nie feststellen können, ob dieser Schacht von Taita angelegt wurde oder ob es ein auf natürliche Weise ent standener Abfluß ist, wenn wir ihn uns nicht noch einmal mit Hilfe geeigneter Geräte ansehen.«
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»Was für Geräte meinen Sie?« fragte sie. »Ein Unterwasser-Atemgerät, aber kein Sauerstoffgerät. Zwar sind die Atemgeräte der Marine sehr viel leichter und kompakter, aber man kann sie in einer Tiefe von zehn Metern bei einem Wasserdruck von einer Atmosphäre nicht benutzen. In dieser Tiefe wirkt der reine Sauerstoff tödlich. Haben Sie irgendwann eine Taucherlunge benutzt?« Sie nickte. »Ja, als Duraid und ich auf unserer Hochzeitsreise am Roten Meer wa ren. Damals habe ich gelernt, ein solches Gerät zu benutzen, und bin ein paarmal im offenen Meer damit getaucht. Ich muß aber gleich sagen, daß ich diese Technik nicht wirklich beherr sche.« »Ich verspreche Ihnen, daß ich es Ihnen nicht zumuten wer de, damit zu tauchen«, sagte er lächelnd, »aber ich glaube, die Hinweise, die wir im Grab von Tanus und in Taitas Wasser becken gefunden haben, lassen es notwendig erscheinen, die zweite Phase dieses Unternehmens zu beginnen.« Sie nickte zustimmend. »Wir werden unsere Versuche mit einer sehr viel besseren Ausrüstung und auch mit Hilfe von Fachleuten wiederholen müssen. Aber diesmal werden Sie nicht als ein für die Jagd interessierter Tourist auftreten kön nen. Welchen Vorwand werden wir für unsere Rückkehr finden können, der bei den äthiopischen Behörden nicht die Alarm glocken läuten läßt?« »Sie sprechen mit dem Mann, der inoffiziell und ohne einge laden worden zu sein, die beiden charmanten Burschen Gad daffi und Saddam besucht hat. Im Vergleich damit ist ein sol ches Unternehmen in Äthiopien so harmlos wie ein sonntägli ches Picknick einer Schulklasse.« »Wann fängt die Regenzeit in den Bergen an?« fragte sie unvermittelt. »Ja!« Er machte ein ernstes Gesicht. »Das ist die entschei dende Frage. Sie müssen sich nur die Hochwassermarkierung
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an der Felswand über Taitas Wasserbecken ansehen, um sich vorstellen zu können, wie es dort aussieht, wenn der Fluß Hochwasser führt.« Er sah sich die Tagebuchaufzeichnungen in seinem Notizblock an. »Zum Glück haben wir noch etwas Zeit – nicht sehr viel, aber genug. Wir müssen uns alles genau über legen. Bevor ich mit den Vorbereitungen für die zweite Phase unseres Unternehmens beginnen kann, müssen wir noch einmal nach Hause fahren.« »Dann sollten wir sofort unsere Sachen packen.« »Ja, das sollten wir. Aber es wäre eine Schande, wenn wir nicht jeden Augenblick nutzen würden, den wir noch hier sind. Ich glaube, wir haben noch ein paar Tage Zeit, um festzustel len, ob ich mit meinen Vermutungen hinsichtlich des Wasser beckens von Taita und des Abflußschachts recht gehabt habe. Dann werden wir uns auch ungefähr vorstellen können, was wir bei unserer Rückkehr brauchen.« »Sie sind der Boß.« »Es ist wirklich schön, das von einer Lady zu hören.« Sie sah ihn mit freundlichem Lächeln an und sagte: »Genie ßen Sie es; vielleicht werden Sie es nie wieder hören.« Aber dann wurde sie wieder ernst und fragte: »Und was sind das für Vermutungen, von denen Sie sprechen?« »Was aufsteigt, muß wieder absteigen, was hineingeht, muß herauskommen«, antwortete er geheimnisvoll. »Das Wasser, das mit solchem Druck in den Abflußschacht gesogen wird, muß irgendwo hinfließen. Wenn es nicht über ein unterirdi sches System in den Nil geleitet wird, müßte es irgendwo an die Oberfläche kommen, wo wir es finden können.« »Sprechen Sie weiter«, forderte sie ihn auf. »Eines ist sicher: Niemand kann vom Becken aus in den Ab flußschacht tauchen. Der Wasserdruck würde ihn umbringen. Aber wenn wir die Stelle finden, wo das Wasser austritt, kön nen wir den Schacht vielleicht von der anderen Seite her er
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kunden.« »Das ist eine faszinierende Möglichkeit.« Der Gedanke schien sie zu beeindrucken, und sie sah sich das Satellitenfoto an. Nicholas hatte das Kloster auf dem Foto gekennzeichnet und mit einem Farbstift einen Ring darum gezogen. Ebenso hatte er den ungefähren Verlauf des Flusses durch die Schlucht nachgezeichnet, obwohl sie zu schmal war und vom Busch werk überdeckt wurde, so daß sie auf dem Foto auch mit dem Vergrößerungsglas nicht auszumachen war. »Dies ist die Stelle, wo der Fluß in die Schlucht eintritt.« Sie zeigte sie ihm und fuhr fort: »Und dies ist das Seitental, durch das der Pfad einen Umweg macht. Richtig?« »Richtig«, nickte er. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Auf dem Wege hierher sagten wir, daß der Dandera-Fluß zunächst durch dieses Tal geflossen sein könnte, um sich später ein neues Bett durch die Schlucht zu suchen.« »Auch das ist richtig«, sagte Nicholas. »Und was wollten Sie noch sagen?« »Die Böschung zum Nil hinunter ist an dieser Stelle sehr steil, nicht wahr? Erinnern Sie sich noch daran, daß wir auf unserem Weg durch das Trockental einen kleineren, aber auch reichlich Wasser führenden Fluß überquert haben? Er schien irgendwo an der Ostseite des Tals entsprungen zu sein.« »Sehr gut, ich kann Ihnen folgen. Sie meinen, daß aus dieser Quelle das Wasser strömt, das aus dem großen Becken in den Abflußschacht geflossen ist Ein verteufelt schlauer Gedanke.« »Ich lasse mich nur von Ihrer Intelligenz anregen.« Sie senk te bescheiden den Blick und schaute ihn dann verstohlen durch ihre dunklen Wimpern an, und ihre honigfarbenen Augen mit den winzigen goldenen Glanzlichtern wirkten irgendwie beun ruhigend. Er stand auf und schlug vor: »Warum gehen wir nicht hin und sehen uns die Sache an?«
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Nicholas holte seine Kameratasche und den Proviant, den sie für einen Tag brauchen würden, und als er zurückkam, war auch Royan bereit, zu gehen. Aber sie war nicht allein. »Wie ich sehe, ist auch Ihr ständiger Begleiter schon er schienen«, sagte er resigniert. »Es sei denn, Sie sind hart genug, ihn fortzuschicken.« Royan lächelte und warf Tamre einen ermutigenden Blick zu. Er grinste und freute sich darüber, daß er sein Idol begleiten durfte. »Nun gut«, sagte Nicholas und ergab sich in sein Schicksal. »Lassen Sie den kleinen Teufel mitkommen.« Tamre hüpfte vor ihnen den Pfad hinauf, seine schäbige Kut te flatterte ihm um die dürren Beine, und während er das Rezi tativ eines amharischen Psalms sang, schaute er sich immer wieder um und vergewisserte sich, daß Royan ihm noch folgte. In der drückenden Mittagshitze war der Fußmarsch das Tal hinauf ein kräftezehrendes Unternehmen. Obwohl Tamre da von nichts zu spüren schien, waren die Hemden von Nicholas und Royan völlig durchgeschwitzt, als sie dort ankamen, wo sich der Fluß ins Tal ergießt. Dankbar ruhten sie sich im Schat ten einer Gruppe von Akazien aus, während Nicholas das Tal auf der anderen Seite der Anhöhe mit dem Fernglas absuchte. »Hat das Fernglas das Bad im kalten Wasser gut überstan den?« fragte sie. »Es ist wasserdicht«, brummte er, »alle Achtung Herr Zeiss.« »Was sehen Sie dort oben?« »Nicht viel. Das Buschwerk ist zu dicht. Es tut mir leid, aber wir werden den Hang hinaufklettern müssen.« Sie verließen den schattigen Ruheplatz und machten sich in der prallen Sonne auf den Weg den steilen Hang hinauf. Der Fluß stürzte in mehreren Kaskaden in die Tiefe und bildete unter jedem dieser Wasserfälle einen kleinen Stausee. Seine
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Ufer waren dichtbewachsen, und dort, wo die Wurzeln das Wasser erreichen konnten, zeigte das Laub ein sattes, leuchtendes Grün. Wolken schwarzer und gelber Schmetterlinge tanz ten über den Stauseen, eine schwarz-weiße Bachstelze trippelte über die grünbemoosten Steine am Ufer, und ihr langer, schlanker Stoß wippte auf und ab wie der Zeiger eines Metro noms. Auf halbem Wege ruhten sie sich am Ufer eines dieser Stau seen aus, und Nicholas schlug mit seinem Hut nach einer Heu schrecke. Dann warf er das Insekt ins Wasser, und als es von der Strömung erfaßt und zum Abfluß getragen wurde, tauchte aus der Tiefe ein langer dunkler Schatten auf. Die silbernen Schuppen am Bauch des Fisches leuchteten kurz auf, an der Wasseroberfläche bildete sich ein Ring, und die Heuschrecke verschwand. »Ein Zehnpfünder«, sagte Nicholas bedauernd. »Warum ha be ich meine Angelrute nicht mitgebracht?« Tamre, der sich neben Nicholas gesetzt hatte, streckte plötz lich die Hand aus, und fast gleichzeitig setzte sich einer der Schmetterlinge auf seinen Finger. Der Schmetterling blieb ru hig sitzen und fächelte leicht mit seinen samtigen Schwingen. Nicolas und Roy an sahen Tamre erstaunt an, denn es war so, als habe er den Schmetterling gerufen. Tamre kicherte und bot Royan den Schmetterling an. Als sie die Hand ausstreckte, setzte er das prächtige Insekt vorsichtig auf ihre Handfläche. »Danke, Tamre. Das ist ein wunderbares Geschenk. Als Ge gengeschenk für dich gebe ich ihm die Freiheit.« Sie hauchte den Schmetterling an, und sie, Nicholas und Tamre blickten ihm nach, als er sich über der Wasserfläche hoch in die Lüfte schwang. Tamre klatschte entzückt in die Hände und lachte. »Seltsam«, murmelte Nicholas. »Er scheint ein besonderes Gefühl für alle in dieser Wildnis lebenden Geschöpfe zu haben. Ich glaube, der Abt Jali Hora versucht nicht, ihn irgendwie zu
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lenken, sondern läßt ihn seinen Instinkten folgen. Sonderbe handlung für eine entrückte Seele, die eine uns fremde Musik hört und danach tanzt. Ich muß zugeben, daß ich trotz der Vor behalte, die ich zunächst hatte, anfange, den Jungen wirklich zu mögen.« Sie mußten noch etwas mehr als fünfzehn Meter steigen, bis sie an die Quelle kamen. Über einer Grotte, aus der das Wasser sprudelte, hatte sich ein flacher Felsvorsprung aus rotem Sand stein gebildet. Der Zugang war durch dichtstehendes, hohes Farnkraut verdeckt. Nicholas kniete sich hin, schob es beiseite und schaute in die schmale Öffnung. »Was können Sie sehen?« fragte Royan. »Nicht viel, es ist völlig dunkel, aber augenscheinlich reicht der Schacht tief in den Fels hinein.« »Sie sind zu groß und werden nicht hineinkommen. Soll ich es versuchen?« »Wenn Sie es riskieren wollen, einer Wasserkobra zu begeg nen«, erwiderte er. »Es gibt dort genügend Frösche, die Lieb lingsnahrung solcher Schlangen. Wollen Sie wirklich hinein gehen?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich es will.« Sie setzte sich, zog sich die Schuhe aus und stieg dann ins Wasser. Es reichte ihr bis zu den Hüften, und es war schwierig, gegen den Strom vo ranzukommen. Sie mußte sich fast bis zur Wasseroberfläche bücken, um un ter dem Felsvorsprung über dem Eingang zur Grotte durchzu kommen. Aber sie ging weiter, und dann hörte er ihre Stimme. »Die Decke wird niedriger.« »Seien Sie vorsichtig, liebes Mädchen, kein Risiko!« »Es gefällt mir nicht, daß Sie mich ›liebes Mädchen‹ nen nen.« Am Höhleneingang klang ihre Stimme fremd. »Nun, Sie sind doch beides, ein Mädchen und lieb. Wie wäre es, wenn ich Sie ›meine junge Lady‹ nennen würde?«
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»Auch das gefällt mir nicht. Ich heiße Royan.« Eine Zeitlang hörte er nichts mehr von ihr, aber dann rief sie: »Jetzt komme ich nicht weiter. Es verengt sich zu einer Art Schacht.« »Ein Schacht?« fragte er. »Nun, zumindest eine rechteckige Öffnung.« »Glauben Sie, daß die Öffnung von Menschen gemacht wur de?« »Das kann ich nicht sagen. Das Wasser kommt im dicken Strahl heraus, wie aus dem Wasserhahn einer Badewanne.« »Keine Hinweise auf eine Ausschachtung mit Werkzeugen, deren Spuren man an der Felswand sehen könnte?« »Nichts. Die Felswand ist glatt, vom Wasser abgeschliffen und mit Moos und Algen bedeckt.« »Würde ein Mensch in die Öffnung passen, ich meine, wenn der Wasserdruck ihn nicht daran hindern würde?« »Wenn es ein Pygmäe oder ein Zwerg wäre.« »Oder ein Kind?« »Oder ein Kind«, stimmte sie zu. »Aber wer würde ein Kind dort hineinschicken?« »Im Altertum hat es viele Kinder gegeben, die Sklavenarbeit verrichten mußten. Vielleicht hat auch Taita Sklavenkinder für sich arbeiten lassen.« »Sagen Sie das nicht. Ich habe eine zu hohe Meinung von ihm, um so etwas zu glauben«, sagte sie, als sie aus der Grotte herauskam. Sie hatte Moos und Grashalme im Haar und war von der Gürtellinie abwärts völlig durchnäßt. Er reichte ihr die Hand und zog sie heraus auf den Felsvorsprung. Die Rundun gen ihres Gesäßes zeichneten sich deutlich unter der nassen Hose ab, und er mußte sich zwingen, nicht zu genau hinzu schauen. »Wir müssen also annehmen, daß der Schacht eine auf natür liche Weise entstandene Öffnung im Kalkstein ist und kein von Menschen hergestellter Tunnel?«
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»Das habe ich nicht gesagt. Nein. Ich habe nur gesagt, das ließe sich nicht erkennen. Sie könnten recht haben. Vielleicht haben Kinder ihn ausgehoben. Schließlich haben Kinder auch während der industriellen Revolution in den Kohlebergwerken gearbeitet.« »Aber von dieser Seite werden wir den Tunnel nicht erkun den können?« »Unmöglich.« Sie war sich ihrer Sache ganz sicher. »Das Wasser kommt unter gewaltigem Druck aus der Öffnung. Ich habe versucht, einen Arm in den Schacht zu stecken, aber ich hatte nicht die Kraft.« »Schade! Ich hatte gehofft, Sie würden einige nicht ganz so unwiderlegbare Hinweise finden, irgend etwas, das uns auf neue Ideen bringen könnte.« Er setzte sich neben sie auf den Felsvorsprung und suchte etwas in seiner Packtasche. Sie sah ihn fragend an, als er ein kleines schwarzes eloxiertes Instru ment herausnahm und den Deckel öffnete. »Ein Aneroidbarometer«, erklärte er. »Jeder tüchtige Seefah rer sollte ein solches Gerät besitzen.« Er sah es einen Augen blick an und notierte den darauf abzulesenden Luftdruck. »Bitte erklären Sie mir, was das zu bedeuten hat«, sagte sie. »Ich will wissen, ob diese Quelle tiefer liegt als der Zufluß zum Schacht in Taitas Wasserbecken. Wenn das nicht der Fall ist, dann können wir sie von der Liste der möglichen Austritt stellen des abfließenden Wassers streichen.« Er stand auf. »Wenn Sie bereit sind, können wir weiterge hen.« »Wohin?« »Nun, natürlich zu Taitas Wasserbecken. Wir müssen den atmosphärischen Druck dort messen, um den Höhenunter schied zwischen beiden Punkten festzustellen.«
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Als sie Tamre gesagt hatten, wohin sie wollten, zeigte er ih nen eine Abkürzung, und so brauchten sie von der Quelle bis zum oberen Rand der Felswand über Taitas Wasserbecken nur knappe zwei Stunden. Unterwegs legten sie eine Ruhepause ein, und Royan sagte: »Offensichtlich verbringt Tamre seine Zeit hauptsächlich da mit, herumzuwandern und die Gegend zu erkunden. Er kennt jeden Pfad und jeden Wildwechsel. Er ist ein hervorragender Führer.« »Auf jeden Fall besser als Boris«, stimmte Nicholas ihr zu, nahm sein Barometer heraus und überprüfte den Luftdruck. »Sie scheinen mit Ihren Leistungen sehr zufrieden zu sein.« Royan sah sich sein Gesicht an, während er den Barometer stand notierte. »Das darf ich auch«, sagte er. »Wenn die Steilwand unter uns sechzig Meter hoch ist, und wir die zwanzig Meter bis zum Boden des Wasserbeckens hinzurechnen, dann liegt die Öff nung des Abflußschachts mehr als dreißig Meter über der Ab flußöffnung auf der anderen Seite des Höhenzugs.« »Und was bedeutet das?« »Es bedeutet, daß das Wasser, das in Taitas Becken in den Schacht fließt, in unserer Grotte wieder herauskommt.« »Wie, in aller Welt, hat Taita das fertiggebracht? Wie hat er am Boden des Beckens arbeiten können? Sie erinnern sich doch sicher daran, wie er in dem Buch Das Grabmal des Pha rao seine hydrographischen Arbeiten beschreibt?« »Die traditionelle Technik ist es, einen Fangdamm zu bau en«, erklärte Nicholas beiläufig, stockte plötzlich und sah sie mit großen Augen an. »Mein Gott, Sie sind wirklich großartig! Ein Damm! Wie wäre es, wenn dieser alte Schlauberger den Fluß mit einem solchen Damm gestaut hätte!« »Wäre das möglich gewesen?« »Ich glaube fast, für Taita war nichts unmöglich. Er verfügte
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über die Anzahl Arbeitskräfte, die er brauchte, und wenn er bei Assuan einen Staudamm im Nil bauen konnte, dann kannte er auch die Gesetze der Hydrodynamik. Schließlich wurde das Leben im alten Ägypten von den jährlichen Überschwemmun gen im Niltal beherrscht, und es kam darauf an, diese Wasser massen so zu verteilen, daß sie landwirtschaftlich genutzt wer den konnten. Nach allem, was wir über den alten Mann wissen, erscheint es durchaus möglich.« »Und wie könnten wir es beweisen?« »Dazu müßten wir die Reste dieses Staudamms finden. Es muß ein gewaltiges Unternehmen gewesen sein, den DanderaFluß aufzustauen. Ich halte es daher für sehr wahrscheinlich, daß man noch irgendwo auf die Spuren dieser Arbeit stoßen kann.« »Wo würde er den Damm gebaut haben?« fragte sie erregt. »Oder lassen Sie es mich noch anders sagen: Wo hätten Sie den Damm gebaut?« »Dafür gibt es eine besonders gut geeignete Stelle«, antwor tete er, ohne zu zögern. »Es ist dort, wo der Pfad den Flußlauf verläßt, einen Umweg durch das Tal macht und der Fluß sich in die Schlucht ergießt.« Sie schauten beide gleichzeitig strom aufwärts. »Worauf warten wir noch?« fragte sie und sprang auf. »Ge hen wir hin und sehen uns die Sache an!« Ihre Erregung war ansteckend, und Tamre kicherte und hüpf te ihnen auf dem Pfad durch das Dorngebüsch und dann tal aufwärts bis dorthin voraus, wo der Pfad erneut auf den Fluß lauf stieß. Die Sonne brannte nicht mehr so heiß, als sie wieder über dem Wasserfall standen, wo der Dandera-Fluß sich in die Tiefe der Schlucht ergoß, um sich schließlich über die letzten Stromschnellen mit dem Nil zu vereinigen. »Wenn Taita hier einen Damm gebaut hat –« Nicholas zeigte mit einer weitausholenden Geste hinüber zum Ende der
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Schlucht, »– dann hätte er den Fluß durch dieses Seitental um leiten können.« »Das wäre eine Möglichkeit«, lachte sie. Tamre kicherte und nickte ihr zu, und obwohl er kein Wort von dem, was sie sagte, verstanden hatte, machte es ihm offenbar eine Riesenfreude, ihr zuzuhören. »Ich müßte ein paar Aufnahmen vom tatsächlichen Nei gungswinkel der Böschung machen, denn man kann sich bei der Beurteilung der Gegebenheiten sehr täuschen. Aber mit dem bloßen Auge sieht es, wie Sie sagen, so aus, als sei es möglich.« Er schirmte die Augen mit der Hand gegen das Son nenlicht ab und betrachtete die Steilufer beiderseits des Was serfalls. Sie bildeten zwei gezackte Arkaden aus Kalkstein, zwischen denen der Fluß brausend über den Rand der Klippe in die Tiefe stürzte. »Am liebsten würde ich hinaufklettern, um mir ein klareres Bild von der Tektonik des Geländes zu ma chen. Sind Sie bereit, mitzumachen?« »Versuchen Sie, mich daran zu hindern«, erwiderte sie und kletterte voraus. Es war eine anstrengende Kletterparie, und an einigen Stellen war der Kalkstein brüchig und bröckelte ab. Doch als sie oben an der östlichen Arkade ankamen, wurden sie mit einem herrlichen Blick über das ganze Tal belohnt. In nördlicher Richtung erhob sich der Steilhang als glatte Wand mit seinen schroffen Zinnen und Zacken, und in der Fer ne erkannte man die schwachen Umrisse weiterer Berge, die hohen, gezackten Gipfel des Choke, zartblau wie das Gefieder eines Reihers vor dem klaren und dunklen Blau des afrikani schen Himmels. Die Schlucht lag mitten in einer zerklüfteten, wüstenähnli chen Landschaft, einer verwirrenden Vielfalt von Bergketten, hochaufragenden Gipfeln und felsigen Graten in den verschie densten Farben. Einige waren aschgrau und weiß, andere schwarz wie das Fell eines Büffels oder rot wie sein Herzblut.
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Die Büsche und Bäume an den Flußufern waren grün, die Blät ter an den Baumkronen zeigten das giftige Grün der Mamba, während die Vegetation dort, wo es ihr an Wasser mangelte, verdorrte. Auf den zerklüfteten Anhöhen standen die schwar zen Skelette von vor langer Zeit vertrockneter Bäume und reckten ihre knorrigen Äste gen Himmel. »Ein Bild der Verwüstung«, flüsterte Royan, als sie sich um sah, »ungezähmt und unzähmbar. Kein Wunder, daß sich Taita für diese Gegend entschieden hat. Kaum jemand wird es wa gen, hier einzudringen.« Beeindruckt von der Großartigkeit und Wildheit der Land schaft schwiegen beide eine Zeitlang, und als sie sich von dem anstrengenden Aufstieg erholt hatten, kehrte ihre Begeisterung zurück. »Jetzt können Sie sich ein gutes Bild davon machen.« Nicho las zeigte hinunter in das Tal. »Wo es sich gabelt, ist die natür liche Wasserscheide. Sie können sehen, in welchem Winkel die Böschung abfällt. Dort an der gegenüberliegenden Seite der Schlucht bis zu der Stelle unter uns ist sie am engsten, und hier muß sich der Fluß hindurchzwängen – die für einen Staudamm am besten geeignete Stelle.« Dann deutete er nach links. »Der Fluß könnte hier mühelos in das Tal umgeleitet werden. Wenn Taita in der Tiefe der Schlucht die geplanten Arbeiten erledigt hatte, konnte er den Damm ohne weiteres abbrechen lassen, so daß der Fluß wieder seinen natürlichen Verlauf nahm.« Tamre beobachtete aufmerksam ihre Gesichter, und obwohl er nicht verstand, wovon sie sprachen, imitierte er den Ge sichtsausdruck von Royan wie ein Spiegel. Wenn sie nickte, nickte auch er, wenn sie die Stirn runzelte, tat er das gleiche, und wenn sie lächelte, kicherte er fröhlich. »Es ist ein großer Fluß.« Royan schüttelte den Kopf, und Tamre tat das gleiche und machte ein verständnisvolles Ge sicht. »Wie hätte dieser Damm ausgesehen? Wäre es ein Erd
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damm gewesen? Wahrscheinlich nicht.« »Die alten Ägypter haben für ihre Bewässerungsanlagen Gräben aus der Erde ausgehoben und Dämme aus Erde aufge schüttet«, überlegte Nicholas. »Andererseits haben sie dort, wo sie ihnen zur Verfügung standen, Steine benutzt. Sie waren ausgezeichnete Maurer. Sie kennen doch auch die Steinbrüche bei Assuan.« »Hier in der Schlucht gibt es kaum Mutterboden«, sagte sie, »aber reichlich Stein. Die Schlucht ist ein geologisches Muse um, und es gibt jede Gesteinsart, die man sich wünschen kann.« »Richtig«, sagte er. »Taita wird wahrscheinlich keinen Erd wall aufgeschüttet haben, sondern er hat einen Wall aus Ge steinsbrocken und Mauerwerk errichtet. Solche Dämme haben die alten Ägypter schon lange vor seiner Zeit gebaut. Wenn das stimmt, müßten sich noch Spuren dieser Arbeit finden lassen.« »Gut, gehen wir also von dieser Annahme aus. Taita hat ei nen Damm aus Felsbrocken gebaut und ihn dann wieder abge rissen. Wo sollen wir nach den Spuren dieser Arbeit suchen?« »Wir müssen an der Stelle beginnen, wo der Damm errichtet wurde«, erwiderte er, »an der engsten Stelle der Schlucht. Von da aus können wir unsere Suche stromabwärts fortsetzen.« Sie kletterten den Hang hinunter, und Tamre bemühte sich, für Royan den bequemsten Weg zu finden, und er blieb stehen, sobald sie zögerte oder eine Pause machte, um Atem zu holen. An der engsten Stelle der Schlucht angekommen, standen sie am felsigen Flußufer und sahen sich um. »Wie hoch könnte der Damm gewesen sein?« fragte Royan. »Nicht sehr hoch. Ich kann Ihnen diese Frage nicht exakt be antworten, bevor ich mir das Gefälle der Hänge auf beiden Sei ten angesehen habe.« Er kletterte ein kleines Stück die Bö schung hinauf und schaute zunächst das Tal hinunter und dann hinauf zu der Stelle, an der sich der Wasserfall über den oberen
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Rand des Steilhangs in die Tiefe ergoß. Dreimal veränderte er seine Stellung, und jedesmal stieg er dazu ein paar Schritte höher. Je weiter er nach oben kam, desto steiler wurde es. Schließlich mußte er sich an einem kleinen Felsvorsprung festhalten, um nicht abzustürzen, aber offenbar hatte er gefunden, was er suchte. Er rief hinunter: »Ich würde sagen, es ist etwa hier, wo ich jetzt bin. So hoch muß der Staudamm gewesen sein. Nach meiner Schätzung sind es etwa fünf Meter.« Royan stand noch unten am Fluß, schaute hinüber zum ande ren Ufer und schätzte die Entfernung zu der Kalksteinwand. »Es sind etwa dreißig Meter«, rief sie ihm zu. »Das könnte stimmen«, erwiderte er. »Viel Arbeit, aber nicht unmöglich.« »Taita hat sich nie von irgendwelchen Schwierigkeiten ab schrecken lassen«, rief sie ihm durch die hohlen Hände zu. »Können Sie dort oben irgendwelche Spuren solcher Arbeiten erkennen? Taita hätte den Staudamm irgendwie in der Steil wand verankern müssen.« Er kletterte weiter an der Wand entlang bis unmittelbar über dem Wasserfall und ließ sich dann bis an die Stelle hinunter gleiten, an der Royan und Tamre auf ihn warteten. »Nichts?« fragte sie, und er schüttelte den Kopf. »Nein, aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß man hier nach fast viertausend Jahren noch etwas sehen kann. Diese Klippen sind während der ganzen Zeit den Witterungseinflüssen ausge setzt gewesen. Wir sollten uns vielleicht nach quadratisch zu gehauenen Steinblöcken umsehen, die irgendwo ligengeblieben sind, nachdem Taita den Staudamm hat abtragen lassen, um die Schlucht wieder zu fluten.« Auf dem Wege talabwärts stieß Royan auf einen Stein, der sich deutlich von den Felsen unterschied. Er war so groß wie ein altmodischer Kabinenkoffer. Zwar lag er halb versteckt
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unter den Pflanzen, aber die noch sichtbare Oberfläche hatte eine rechtwinklige scharfe Kante. Sie rief Nicholas und sagte: »Sehen Sie sich das an.« Royan legte stolz die Hand auf den Stein. »Was halten Sie davon?« Er kletterte zu ihr hinunter und strich mit der Hand über die Oberfläche des Steins. »Möglich«, sagte er. »Aber um sicher zu sein, müßten wir die Spuren des Meißels finden, mit dem die alten Steinmetzen diesen Quader aus der Felswand ge schlagen haben. Wie wir wissen, meißelten sie zuerst ein Loch in den Stein und trieben dann einen Keil in dieses Loch, um ihn zu spalten.« Beide sahen sich den Stein sehr genau an, und obwohl Roy an eine Kerbe darauf fand, die nach ihrer Ansicht die verwitter te Spur eines Meißels war, meinte Nicholas, die Wahrschein lichkeit, daß sie recht hätte, läge bei vier zu zehn. »Die Zeit wird knapp«, sagte er und versuchte, sie von ihrem Fund fortzulocken, »und wir haben noch viel zu tun.« Sie suchten das Tal noch auf einer Strecke von fünfhundert Metern ab, aber dann sagte Nicholas: »Selbst die stärkste Strömung bei Hochwasser hätte solche Steinquadern nicht so weit fortspülen können. Gehen wir zurück und sehen nach, ob irgend etwas über den Wasserfall in die Engstelle der Schlucht gespült worden ist.« An das Ufer des Dandera-Flusses zurückgekehrt, folgten sie dem Fluß bis zu dem Wasserfall. Nicholas schaute hinunter. »Hier ist es nicht so tief wie weiter flußabwärts«, schätzte er. »Ich würde sagen, es sind weniger als dreißig Meter.« »Glauben Sie, daß Sie dort hinunterkommen könnten?« frag te sie zögernd. Der Gischt aus der Tiefe sprühte ihnen in die Gesichter, und sie konnten das laute Brausen des hinabstürzen den Wassers kaum mit ihren Stimmen übertönen. »Nicht ohne ein Seil und einige kräftige Männer, die mich wieder nach oben ziehen müßten.« Er kroch bis an den Rand
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und sah mit dem Fernglas hinunter. Dort lagen zahlreiche grö ßere und kleinere, zum Teil von der Strömung abgeschliffene Steine, aber auch zwei sehr viel größere Brocken. Einige dieser Steine hatten scharfe Kanten, und von anderen konnte man mit einiger Phantasie behaupten, sie seien rechteckig. Doch ihre Oberflächen waren durch die Strömung geglättet und glänzend naß. Sie alle schienen zum Teil im Wasser zu liegen, oder man konnte Form und Lage durch den Gischt nicht erkennen. »Ich glaube nicht, daß wir von hier oben feststellen können, wie diese Steine aussehen, und um ehrlich zu sein, ich habe keine große Lust, mich hier abseilen zu lassen – jedenfalls nicht heute abend.« Royan saß neben ihm und hatte die Arme um die Knie ge schlungen. Sie war enttäuscht. »Also lassen sich unsere Ver mutungen bisher nicht bestätigen. Hat Taita einen Staudamm gebaut oder nicht?« Natürlich wollte Nicholas sie trösten und legte ihr den Arm um die Schulter. Nach kurzem Zögern entspannte sie sich und schmiegte sich an ihn. Schweigend blickten sie hinunter in die Schlucht. Schließlich löste sie sich aus seinen Armen und stand auf. »Ich denke, wir sollten ins Lager zurückgehen. Wie lange werden wir brauchen?« »Mindestens drei Stunden.« Er stand neben ihr. »Sie haben recht. Wir werden erst im Dunkeln zurück sein, und in dieser Nacht wird auch der Mond nicht scheinen.« »Seltsam, wie man nach einer Enttäuschung müde werden kann«, sagte sie und streckte sich. »Ich könnte mich hier auf einen der Steinblöcke Taitas legen und sofort einschlafen.« Sie unterbrach sich und sah ihn an. »Nicky, woher kommen sie?« »Woher kommt was?« Er sah sie verwundert an. »Begreifen Sie denn nicht? Wir fangen mit unserer Suche am falschen Ende an. Wir haben versucht festzustellen, wo die
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Steinblöcke geblieben sind. Heute morgen haben Sie von den Steinbrüchen bei Assuan gesprochen. Sollten wir nicht überle gen, woher die Felsbrocken stammen, aus denen Taita seinen Staudamm gebaut hat, anstatt uns darum zu kümmern, was später mit ihnen geschehen ist?« »Der Steinbruch!« rief Nicholas. »Tatsächlich, Sie haben recht. Der Anfang und nicht das Ende. Wir sollten nach dem Steinbruch suchen und nicht nach den Resten des Staudamms.« »Wo fangen wir an?« »Ich hoffte, Sie würden es mir sagen.« Er lachte laut auf, und Tamre stimmte in das Gelächter ein. Beide drehten sich nach dem Jungen um. »Vielleicht sollten wir mit Tamre beginnen, unserem zuver lässigen Fährtensucher«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. »Höre, Tamre. Höre mir genau zu!« Gehorsam hob er den Kopf, sah ihr ins Gesicht und versuchte, sich zu konzentrieren. »Wir suchen die Stelle, von der diese rechteckigen Steine kommen.« Er sah sie verwirrt an, deshalb versuchte sie es noch einmal. »Vor langer Zeit gab es Männer, die solche Steine aus den Bergen herausholten. Irgendwo, nicht weit von hier, haben sie ein großes Loch zurückgelassen. Vielleicht liegen in diesem Loch auch heute noch solche rechteckigen Steinblöcke?« Plötzlich strahlte der Junge über das ganze Gesicht und rief: »Der Jesusstein!« Er sprang auf, ohne ihre Hand loszulassen, und sagte: »Ich werde Ihnen meinen Jesusstein zeigen.« Damit zog er sie mit sich hinunter ins Tal. »Warte doch, Tamre!« bat sie ihn, »nicht so schnell«, aber vergeblich. Tamre lief weiter und fing an, eine amharische Hymne zu singen. Nicholas folgte ihnen gemächlich und holte sie nach etwa vierhundert Metern wieder ein. Tamre hatte sich hingekniet, drückte die Stirn gegen die Felswand und betete mit geschlossenen Augen.
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»Was tun Sie da, um Himmels willen?« wollte Nicholas wis sen. »Wir beten«, erwiderte sie schnippisch. »Tamre sagt, wir müßten beten, bevor wir zum Jesusstein gehen.« Sie wandte sich von Nicholas ab, schloß die Augen, faltete die Hände und begann, leise zu beten. Nicholas setzte sich indessen auf einen Stein und tröstete sich bei dem Gedanken, daß es nicht schaden würde. Plötzlich sprang Tamre auf, hob die Arme und hüpfte ver gnügt so wild im Kreis herum, daß der Staub aufwirbelte. Dann blieb er stehen und rief: »Jetzt ist es soweit. Wir können zum Jesusstein hineingehen.« Wieder nahm er Royan bei der Hand und führte sie an die Felswand. Vor den Augen von Nicholas verschwanden die bei den, und er blieb verwundert stehen. »Royan!« rief er. »Wo sind Sie? Was geht hier vor?« »Hierher, Nicky. Kommen Sie her!« Er ging auf die Stelle zu, wo sie verschwunden waren, und rief erstaunt: »Lieber Himmel, wir hätten das auch nach einem Jahr noch nicht gefunden.« In einer Vertiefung der Felswand befand sich ein verborge ner Eingang. Er ging hinein, schaute zu den steilen Wänden links und rechts hinauf und kam nach etwa dreißig Schritten in ein nach oben offenes Amphitheater mit einem Durchmesser von mindestens hundert Metern. Auf den ersten Blick stellte er fest, daß die Wände aus dem gleichen glimmerartigen Schiefer bestanden wie der Felsblock, den Royan unten im Tal gefunden hatte. Es war deutlich zu erkennen, daß er ebenso wie andere Qua dersteine gleicher Größe aus dem gewachsenen Fels herausge schlagen worden war. Die dabei entstandenen Aushöhlungen waren an den Wanden bis oben hin zu erkennen. Es waren tiefe Stufen mit rechtwinkligen Profilen. In einigen Spalten wuchsen
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ein paar verkümmerte Büsche, aber der nach oben offene Steinbruch war nicht ganz überwachsen, so daß Nicholas am Boden des Steinbruchs mehrere, fertig behauene Granitblöcke entdeckte. Tief beeindruckt stand er am Eingang und schaute sich langsam nach allen Seiten um, um sich ein vollständiges Bild von der Situation zu machen. Tamre hatte Royan in die Mitte des Steinbruchs zu einem dort liegenden großen Steinblock geführt. Der von allen Seiten sauber behauene und geglättete Block hatte von hier aus wahr scheinlich das Tal hinauftransportiert werden sollen. »Der Jesusstein!« jubelte Tamre, kniete davor nieder und zog auch Royan mit sich auf die Knie. »Jesus hat mich hierher geführt. Als ich zum ersten Mal hier hereinkam, stand er auf dem Stein. Er hatte einen langen weißen Bart und freundliche, traurige Augen.« Tamre bekreuzigte sich, sang einen Psalm und neigte sich rhythmisch von der einen zur anderen Seite. Auch Nicholas war jetzt herangekommen, stand hinter ihnen und erkannte, daß Tamre diesen für ihn heiligen Ort regelmä ßig besucht hatte. Der Jesusstein war sein ganz persönlicher Altar, und seine bescheidenen kleinen Opfergaben lagen dar auf. Es waren vor allem zerbrochene Schnapsflaschen und Trinkbecher aus gebranntem Ton, in denen längst verwelkte und verdorrte Sträuße aus Wiesenblumen steckten. Er hatte aber auch andere Schätze gesammelt und auf den Altar gelegt wie zum Beispiel Schildkrötenschalen, Stachelschweinstacheln und ein handgeschnitztes hölzernes Kreuz. Das alles war mit farbigen Bändern und Ketten aus bunten Bohnen geschmückt, dazu aus blauem Flußton modellierte kleine Tiere und Vögel. Als Nicholas die beiden vor sich knien und beten sah, war er zutiefst gerührt von der Frömmigkeit des Jungen und dem kindlichen Vertrauen, das er dadurch bewies, daß er sie an die sen heiligen Ort geführt hatte. Schließlich stand Royan auf und kam zu ihm. Gemeinsam
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machten sie einen Rundgang durch den ganzen Steinbruch. Dabei sprachen sie kaum ein Wort, und wenn sie sich äußerten, dann nur im Flüsterton, als seien sie in einer Kathedrale oder an einem anderen geweihten Ort. Sie berührte seinen Arm und machte ihn auf einige Felsblöcke aufmerksam, die noch nicht ganz von der Felswand abgelöst, sondern wie an Nabelschnü ren mit ihr verbunden waren, bevor die alten Steinmetze sie abgespalten hatten. Es war eine perfekte Illustration der Methoden, mit denen im Altertum in Steinbrüchen gearbeitet wurde. Hier konnte man sehr gut die einzelnen Arbeitsgänge verfolgen: von der Markie rung der Stellen, an denen die Blöcke herausgeschnitten wer den sollten, über das Bohren der Löcher für die Keile und das Aufspalten des Gesteins in einzelne Blöcke bis zum Bebauen und Glätten der fertigen Blöcke und ihrer Bereitstellung zum Abtransport. Die Sonne war untergegangen, und es war schon fast dunkel, als sie an den Eingang des Steinbruchs zurückgekommen wa ren. Sie setzten sich auf einen der fertigen Blöcke, und Tamre hockte sich zu ihren Füßen hin wie ein kleiner Hund und schaute zu Royan auf. »Wenn er ein kleiner Hund wäre, dann würde er jetzt mit dem Schwanz wedeln«, sagte Nicholas lächelnd. »Wir dürfen sein Vertrauen niemals mißbrauchen und diesen Ort irgendwie entweihen. Er hat ihn zu seinem persönlichen Tempel gemacht. Ich bin überzeugt, wir sind die einzigen, de nen er sein Heiligtum gezeigt hat. Versprechen Sie mir, daß wir das stets respektieren werden.« »Das ist das mindeste, was ich tun kann«, sagte er. Dann wandte er sich an Tamre. »Es ist sehr gut, daß du uns den Je susstein gezeigt hast. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Du hast auch der Lady eine große Freude damit gemacht.« »Wir sollten jetzt wieder zum Camp zurückgehen«, schlug
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Royan vor und schaute zu dem dunklen Himmel hinauf, an dem die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verblaßten. »Ich würde das nicht für sehr klug halten«, widersprach er, »denn heute nacht haben wir keinen Mondschein, und im Dun keln könnte sich einer von uns ein Bein brechen. Das wäre hier draußen eine schlimme Sache, und wir müßten unter Umstän den eine Woche auf ärztliche Hilfe warten.« »Haben Sie vor, hier zu übernachten?« fragte sie überrascht. »Warum nicht? Ich kann sofort ein Feuer anzünden, und zum Abendessen habe ich ein paar Notrationen mitgebracht. Wie Sie wissen, habe ich solche Situationen schon häufiger erlebt. Und Sie haben Ihren Anstandswauwau mitgebracht und müs sen deshalb nicht fürchten, daß Ihre Ehre verletzt wird. Also, warum nicht?« »In der Tat, warum nicht?« lachte sie. »Dann werden wir uns den Steinbruch morgen früh noch einmal sehr genau ansehen können.« Er stand auf, um Feuerholz zu holen, blieb aber sofort wieder stehen und schaute nach oben. Auch sie hörte das typische flat ternde Pfeifen in der Luft, und er hätte gar nicht sagen müssen: »Da ist wieder der Hubschrauber, wer weiß, was er um diese Tageszeit hier sucht?« Nun sahen sie auch die roten, grünen und weißen Positions lichter der Maschine, die in einer Höhe von etwa dreihundert Metern über ihnen in südlicher Richtung auf das Kloster zu davonflog. Nicholas hatte in einer Ecke neben dem Eingang zum Stein bruch ein kleines Feuer angezündet. Dort saßen sie nun, und er verteilte die Notrationen. Sie zerkauten die süßen, klebrigen Tabletten konzentrierter Nahrung und spülten sie mit dem Wasser aus seiner Feldflasche hinunter.
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Das Feuer wurde von der gegenüberliegenden Felswand re flektiert, und ihre sich geisterhaft bewegenden, vergrößerten Schatten wirkten so unheimlich, daß Royan erschauerte. Als ein Ziegenmelker aus einer Nische oben an der Wand seinen klagenden Ruf ertönen ließ, suchte sie unwillkürlich Schutz bei Nicholas. »Ich frage mich, ob uns Taita aus dem Jenseits beobachten kann und sieht, wie weit wir schon gekommen sind«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, er könnte vielleicht besorgt sein, weil wir seinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind. Den er sten Teil des Rätsels, das er uns aufgegeben hat, haben wir ge löst, und ich bin überzeugt, er hat nicht damit gerechnet, daß das irgend jemandem gelingen könnte.« »Der nächste Schritt wird sein, auf den Boden des Wasser beckens zu kommen. Dann werden wir den alten Teufel fast eingeholt haben. Und was, glauben Sie, werden wir dort fin den?« »Ich möchte es nicht in Worte fassen«, erwiderte sie, »denn damit würde ich vielleicht das Versagen unseres Unternehmens heraufbeschwören.« »Ich bin nicht abergläubisch. Viel wird es allerdings nicht sein. Soll ich es an Ihrer Stelle sagen?« Sie lachte und nickte. Er fuhr fort: »Wir hoffen, den Eingang zur Grabkammer des Pharao Mamose zu finden. Nicht nur Hinweise, Rätsel und falsche Spuren, sondern das Grabmal selbst.« Sie kreuzte die Finger. »Ihr Wort in Gottes Ohr!« Doch dann wurde sie ernst. »Welche Chancen haben wir? Ich meine, wird die Grabkammer noch unberührt sein?« Er zuckte die Schultern. »Diese Frage werde ich erst beant worten können, wenn wir unten am Grund des Wasserbeckens sind.« »Wie kommen wir dorthin? Sie haben gesagt, eine Taucher lunge käme nicht in Frage.«
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»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Vielleicht wird es uns in Taucheranzügen und mit Taucherhelmen gelingen.« Sie äußerte sich nicht dazu, weil sie es für fast unmöglich hielt, daß dieses Unternehmen gelingen könnte. »Machen Sie sich keine Sorgen!« Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie versuchte nicht, sich von ihm loszuma chen. »Wir können uns nur damit trösten, daß Taita nicht nur uns so viele Schwierigkeiten in den Weg gelegt hat, sondern jedem, der versucht, seinen Geheimnissen nachzuspüren. Ich glaube, wenn sich die Grabkammer wirklich dort unten befin det, dann sind uns bis jetzt noch keine Grabräuber zuvor gekommen.« »Wenn der Eingang zur Grabkammer am Boden des Was serbeckens liegt, dann sind seine Angaben in den Schriftrollen irreführend. Die uns zur Verfügung stehenden Informationen sind zunächst von Taita, dann von Duraid und schließlich von Wilbur Smith verstümmelt worden. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, den richtigen Ausweg aus diesem Labyrinth der be wußten Fehlinformationen zu finden.« Wieder saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander, doch dann erschien auf dem vom Feuer beleuchteten Gesicht Royans ein strahlendes, erwartungsfrohes Lächeln. »O Nicky! Was ist das nur für eine erregende Herausforde rung.« Ihre Stimme wurde leiser, und sie fragte: »Aber gibt es eine Möglichkeit? Ist es wirklich möglich, hineinzukommen?« »Wir werden es erleben.« »Wann?« »Zur rechten Zeit. Ich muß mir die Sache noch einmal genau überlegen. Ich weiß nur, daß wir alles sehr gründlich vorberei ten müssen und daß es viel Arbeit werden wird.« »Sie haben also immer noch vor, weiter an diesem Projekt mitzuarbeiten?« Sie brauchte seine Bestätigung, denn allein
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hätte sie es nie geschafft. »Und Sie lassen sich von den Schwierigkeiten nicht abschrecken, mit denen wir zu kämpfen haben?« Nicholas lachte. »Ich muß zugeben, daß ich nicht geglaubt hätte, Taita würde uns auf eine so abenteuerliche Reise schik ken. Ich hatte mir vorgestellt, wir würden nur den versteckten Zugang zu einer Grabkammer suchen müssen, wo alles schon bereitläge, was wir zu finden hofften, wie es auch Howard Carter bei der Entdeckung des Grabes von Tut-ench-Amun gegangen war. Doch um Ihre Frage zu beantworten: Ja, es er schreckt mich, zu sehen, was von uns verlangt wird. Aber hol es der Teufel, jetzt kann mich nichts mehr davon abhalten! Ich stelle mir schon vor, was es bedeutet, wenn wir Erfolg haben, und ich sehe schon den Glanz des Goldes vor mir, der uns blenden wird, wenn die Tür sich öffnet.« Tamre lag im Staub auf der anderen Seite des Feuers und zog sich seine Kutte über den Kopf. Augenscheinlich hatte er einen aufregenden Traum, denn er murmelte, quietschte und kicherte im Schlaf. »Ich frage mich, was in diesem armen verworrenen Gehirn vorgeht und welche Visionen er hat«, flüsterte Royan. »Er be hauptet, hier in diesem Steinbruch Jesus gesehen zu haben, und ich bin sicher, daß er es wirklich glaubt.« Ihre Stimmen wurden immer leiser und schläfriger, während das Feuer herunterbrannte, und Royan murmelte, bevor sie auf Nicholas’ Schulter einschlief: »Wenn die Grabkammer des Pharao Mamose tiefer liegt als der Fluß, dann werden die Schätze wahrscheinlich durch das Wasser stark beschädigt sein.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Taita, wie er es in den Schriftrollen behauptet, fünfzehn Jahre damit zugebracht hat, den Damm und die Grabkammer zu bauen, um sie dann zu überfluten und dabei die Mumie seines Königs und dessen
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Schätze zu vernichten«, murmelte Nicholas, während er spürte, wie Royans Haare seine Wange berührten. »Nein, damit hätte er die Auferstehung des Pharao im Jenseits verhindert, und seine ganze Arbeit wäre umsonst gewesen. Ich glaube, Taita ist sich all dieser Möglichkeiten bewußt gewesen.« Sie schmiegte sich noch enger an ihn und seufzte zufrieden. Nach einiger Zeit sagte er leise: »Gute Nacht, Royan«, aber sie antwortete nicht, sondern atmete tief und ruhig. Er lächelte in sich hinein und küßte sie zärtlich auf die Stirn. Nicholas wußte nicht, was ihn geweckt hatte. Er brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu orientieren und festzustellen, daß er sich immer noch im Steinbruch befand. In der mondlosen Nacht sah er nur das helle Leuchten der Sterne über sich am tiefdunklen Himmel. Royan war aus seinen Armen geglitten und lag jetzt auf dem Rücken neben ihm. Er stand vorsichtig auf, um sie nicht zu stören, ging ein Stück zur Seite und leerte seine Blase. Es war totenstill um ihn her. Keine Vogelstimme und kein Geräusch eines nachtaktiven Tiers. Die Steinwände strahlten immer noch die Hitze aus, mit der die Sonne sie tags über aufgeheizt hatte. Plötzlich wiederholte sich das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Es war ein fernes Knattern, das von den Felswänden wi derhallte, so daß er nicht sagen konnte, aus welcher Richtung es kam. Aber er erkannte es sofort als das, was es war, denn er hatte es schon zu oft gehört. Es waren die Feuerstöße einer automatischen Waffe, höchstwahrscheinlich eines Sturmge wehrs vom Typ AK-47. Dabei lösten sich jedesmal nur drei Schüsse, ein Zeichen dafür, daß das Gewehr von einem gut ausgebildeten Soldaten bedient wurde. Er schaute auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Es war wenige Minuten nach drei.
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Er blieb längere Zeit stehen und wartete, aber die Schüsse wiederholten sich nicht. Schließlich legte er sich wieder neben Royan auf den Boden. Er konnte aber nicht mehr richtig ein schlafen und wartete darauf, neue Schüsse zu hören. Royan begann sich erst zu regen, als die ersten Sonnenstrah len den Himmel über dem östlichen Horizont zitronengelb und orangefarben aufleuchten ließen, und während sie die Reste der Notration zum Frühstück aßen, erzählte er ihr, welche Geräu sche ihn in der Nacht geweckt hatten. »Glauben Sie, daß es Boris gewesen sein könnte?« fragte sie. »Vielleicht hat er Mek und Tessay eingeholt.« »Das halte ich für ausgeschlossen. Boris ist schon mehrere Tage unterwegs und so weit von uns entfernt, daß wir seine Schüsse nicht hören könnten. Auf diese Entfernung ist auch das Feuer schwerster Waffen nicht mehr zu hören.« »Wer könnte es sonst gewesen sein?« »Ich habe keine Ahnung, aber es gefällt mir nicht. Wenn wir uns den Steinbruch noch einmal genauer angesehen haben, sollten wir zum Camp zurückgehen. Hier gibt es ohnedies nichts mehr für uns zu tun. Lassen Sie uns deshalb möglichst bald die heimatlichen Gefilde aufsuchen.« Sobald es hell genug war, fotografierte Nicholas alles, was sie in dem Steinbruch entdeckt hatten. Um die Größenverhält nisse zu zeigen, sollte sich Royan neben den mit der Wand verbundenen, rechteckigen Steinblock stellen. Doch vorher probte sie ihre Rolle als Modell und führte ihm allerlei Spaße vor. Sie kletterte auf den größten Block, winkte ihm zu und machte einen Schmollmund wie Marilyn Monroe. Auf dem Wege durch das Tal zum Kloster unterhielten sie sich lebhaft und freuten sich über ihren Erfolg. Vor allem spra chen sie darüber, wie sie ihre wunderbaren Entdeckungen weiter auswerten wollten. Am späten Vormittag erreichten sie die roten Klippen am unteren Ende der Schlucht, und dort begeg
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nete ihnen eine kleine Gruppe von Mönchen, die den Pfad he raufkamen. Schon von weitem konnten sie erkennen, daß in ihrer Abwe senheit etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Das jam mervolle Geheul der Mönche ließ Royan bis ins Mark erschau dern. Es war die in diesem Land übliche Art, die Trauer über Tod und Verderben zum Ausdruck zu bringen. Als sie näher kamen, sahen sie, daß sich die Mönche, während sie laut jam merten, immer wieder bückten und den Straßenstaub aufhoben, um ihn sich auf die Köpfe zu streuen. »Was geht da vor?« fragte Royan den Jungen. »Geh und fra ge sie!« Tamre lief den Mönchen entgegen, die nun stehenblie ben und lebhaft gestikulierend und weinend auf ihn einredeten. Dann kam Tamre zurück. »Ihre Leute im Camp. Etwas Furchtbares ist geschehen. Bö se Männer sind in der Nacht gekommen, und viele von Ihren Männern sind tot«, schluchzte er. Nicholas faßte Royan bei der Hand. »Kommen Sie!« sagte er, »sehen wir uns an, was passiert ist.« Die letzten anderthalb Kilometer zum Camp legten sie im Laufschritt zurück. Vor der Küchenhütte drängten sich einige Mönche um etwas, das am Boden lag. Nicholas schob sie zur Seite, und der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erschauern und ihm den kalten Schweiß auf die Stirn treten. Um die blut bespritzten Leichen des Kochs und drei seiner Gehilfen summ te ein Schwarm blauer Aasfliegen. Die Hände der Toten waren hinter ihren Rücken zusammengebunden, und man hatte sie gezwungen, niederzufallen, bevor sie mit Genickschüssen erle digt worden waren. »Sehen Sie nicht hin!« rief Nicholas, als Royan näherkam. »Es ist nicht sehr schön.«
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Aber sie kümmerte sich nicht um seine Warnung, sondern kam heran und stellte sich neben ihn. »Lieber Himmel! Sie sind abgeschlachtet worden wie das Vieh in einem Schlacht haus«, stammelte sie. »Das also war das Gewehrfeuer, das ich in der Nacht gehört habe«, erwiderte er grimmig. Dann sah er sich die Männer ge nauer an. »Aly und Kif sind es nicht. Wo sind sie?« Er rief laut auf Arabisch: »Aly, wo bist du?« Der Fährtensucher drängte sich nach vorn durch und sagte mit bebender Stimme: »Hier bin ich, Effendi.« Sein Hemd war blutverschmiert, und sein bleiches Gesicht zeigte deutlich, wie sehr ihn der brutale Überfall in der vergangenen Nacht erschüt tert hatte. »Wie ist das geschehen?« fragte Nicholas und ergriff seinen Arm, um ihn zu stützen. »In der Nacht kamen die Männer mit den Gewehren. Bandi ten. Sie schossen in die Hütten, in denen wir schliefen, ohne uns zu warnen. Sie fingen einfach an zu schießen.« »Wie viele waren es? Und was waren das für Leute?« wollte Nicholas wissen. »Ich weiß nicht, wie viele es waren. Es war dunkel. Ich schlief. Als das Schießen anfing, lief ich fort. Es waren Bandi ten, Mörder – Hyänen und Schakale, und sie hatten keinen Grund, so etwas zu tun. Die Männer hier waren meine Brüder, meine Freunde.« Er fing an zu schluchzen, und die Tränen lie fen ihm über die Wangen. Royan wandte sich entsetzt ab, ging zu ihrer Hütte und blieb im Eingang stehen. Sie war durchsucht und ausgeplündert worden. Man hatte den Inhalt ihrer Koffer und Taschen auf den Boden ausgeleert, die Bettbezüge heruntergerissen und die Ma tratze in eine Ecke geworfen. Wie eine Schlafwandlerin ging sie hinein und hob die Stofftasche auf, in der sie ihre Papiere aufbewahrte, und drehte sie um, aber sie war leer. Die Satelli
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tenfotos und Karten, die Abzüge, die sie von den Hieroglyphen an der Stele und die Polaroidfotos, die Nicholas in der Grab kammer von Tanus gemacht hatte – alles war fort. Royan legte die Matratze wieder auf das Bett, setzte sich und versuchte, sich zu sammeln. Sie war verwirrt und erschüttert. Der Anblick der von Schüssen zerfetzten, blutigen Leichen vor der Küchenhütte verfolgte sie, und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und klar zu denken. Nicholas stürmte herein und sah sich um. »Bei mir sieht es ebenso aus. Ein wüstes Durcheinander. Mein Gewehr und alle meine Papiere sind fort. Aber wenigstens hatte ich die Pässe und Travellerschecks in meinem Tagesgepäck mitgenommen – « Er unterbrach sich, als er die leere Leinentasche zu ihren Fü ßen liegen sah. »Haben sie auch die –« »Ja!« Sie wußte schon, wonach er fragen wollte. »Sie haben alle unsere Unterlagen und Dokumente mitgenommen. Gott sei Dank hatten Sie die noch nicht entwickelten Filme bei sich. Das gleiche haben Duraid und ich schon einmal erlebt. Wir sind nirgends sicher vor ihnen, selbst hier in dieser abgelege nen Gegend nicht.« Ihre Stimme klang fast hysterisch. Sie sprang von ihrem Bett auf und lief auf ihn zu. »O Nicky, was wäre geschehen, wenn wir heute nacht hier im Lager gewesen wären?« Sie umarmte ihn und klammerte sich an ihn. »Wir würden blutverschmiert dort draußen in der Sonne liegen, und die Fliegen würden auf uns herumkriechen.« »Ruhig, mein Liebling. Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es könnten auch irgendwelche Banditen ge wesen sein.« »Aber warum haben sie uns dann unsere Papiere gestohlen? Welchen Wert würden unsere Aufzeichnungen und Polaroidfo tos für gewöhnliche Räuber haben? In welche Richtung flog der Hubschrauber kurz vor diesem Überfall? Sie hatten es auf uns abgesehen, Nicky. Davon bin ich überzeugt. Sie wollten
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uns umbringen, ebenso wie sie Duraid umgebracht haben. Und jetzt, da wir keine Waffen haben und ihnen hilflos ausgeliefert sind, könnten sie jederzeit zurückkommen.« »Gut, ich muß Ihnen recht geben. Hier sind wir diesen Leu ten ziemlich hilflos ausgeliefert. Deshalb sollten wir das Camp möglichst bald verlassen. Es hätte ohnedies keinen Sinn, länger hierzubleiben, denn unter diesen Umständen können wir kaum etwas unternehmen.« Er drückte sie zärtlich an die Brust. »Be ruhigen Sie sich! Wir werden sehen, ob wir in diesem Durch einander noch etwas finden, das wir mitnehmen müssen, und dann werde ich nachsehen, ob die Fahrzeuge noch da sind.« »Was soll mit den Toten geschehen?« Sie trat einen Schritt zurück und konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Doch dann faßte sie sich und sagte: »Wie viele von unseren Leuten haben überlebt?« »Aly, Salin und Kif sind dem Gemetzel entgangen. Als die Schießerei anfing, sprangen sie aus ihren Hütten und liefen fort in die Dunkelheit. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten sich sofort fertigmachen und das Lager verlassen. Ich habe auch mit einem der älteren Priester gesprochen. Sie werden die Toten beerdi gen und die Behörden verständigen, sobald das möglich ist. Aber sie alle sind davon überzeugt, daß der Angriff gegen uns gerichtet war und wir mit neuen Angriffen rechnen müßten. Deshalb sollten wir uns sobald wie möglich in Sicherheit brin gen.« Nach einer Stunde waren sie abmarschbereit. Nicholas hatte entschieden, die Campingausrüstung und den persönlichen Be sitz von Boris dem Abt Jali Hora zur Aufbewahrung zu über geben. Die Maultiere wurden nur mit leichtem Gepäck beladen, um möglichst schnell aus der Schlucht hinauszukommen. Der Abt hatte ihnen eine Gruppe von Mönchen mitgegeben, die sie bis zum oberen Rand des Steilhangs begleiten sollten. »Nur ein wirklich gottloser Mann würde Sie angreifen, solange
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Sie unter dem Schutz des Kreuzes stehen«, erklärte er. In der Hütte der Kürschner fand Nicholas noch das getrock nete Fell der gestreiften Zwergantilope. Er rollte es zu einem Bündel zusammen und befestigte es mit einer Schnur am Ge päck eines der Maultiere. Dann gab er das Zeichen zum Ab marsch. Tamre hatte sich der Gruppe von Mönchen ange schlossen, die sie bis zum Verlassen der Schlucht begleiten sollten. Er hielt sich unmittelbar hinter Royan, während ihnen die ganze Mönchsgemeinde auf den ersten anderthalb Kilome tern folgte und sich mit lauten Zurufen von ihnen verabschie dete. Die Mittagshitze war fast unerträglich. Kein Lüftchen regte sich, die Felswände glühten unter den unbarmherzigen Sonnen strahlen, und während sie den steilen Abhang hinaufkletterten, trocknete der Schweiß, der ihnen aus den Poren drang, sofort und hinterließ auf ihrer Haut und ihren Kleidern eine weiße Salzkruste. Die Maultiertreiber, die der Gefahr möglichst schnell entrinnen wollten, verlangten von ihren Tieren das Äu ßerste und stachen sie mit spitzen Stöcken in die Weichteile. Am Spätnachmittag erreichten sie die Stelle, an der sie den Staudamm Taitas vermutet hatten. Nicholas und Royan legten eine kurze Pause ein und spülten sich am Fluß die Salzkrusten von Gesicht und Hals. Dann standen sie wenige Augenblicke nebeneinander über dem Wasserfall und blickten wehmütig hinunter in die Tiefe der Schlucht, wo all ihre Hoffnungen und Träume lagen. »Wie lange wird es dauern, bis wir hierher zurückkehren können?« fragte sie. »Wir können es uns nicht erlauben, zu lange zu warten«, antwortete er. »Bald kommt die Regenzeit, die Hyänen haben die Witterung aufgenommen und kommen immer näher. Jetzt kommt es auf jeden Tag an, und jede Stunde, die wir verlieren, könnte uns um den Erfolg unserer Bemühungen bringen.«
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Sie schaute noch einmal in die Schlucht hinunter und sagte leise: »Noch hast du nicht gewonnen, Taita. Der Wettlauf ist noch nicht entschieden.« Dann kehrten sie um und folgten den Maultieren auf dem steilen, den Hang hinaufführenden Pfad. An diesem Abend übernachteten sie nicht auf dem gewohnten Lagerplatz neben dem Fluß, sondern gingen noch mehrere Kilometer weiter, bis die Dunkelheit sie zwang, haltzumachen. Sie versuchten auch nicht, ein bequemes Lager einzurichten. Ihr Abendessen bestand aus dem landesüblichen Brot, das sie in einen Topf mit Gulasch tauchten, den die Mönche mitge bracht hatten. Dann breiteten Nicholas und Royan ihre Schlaf säcke nebeneinander auf dem steinigen Boden aus und nahmen als Kopfkissen zwei Bündel vom Gepäck der Maultiere. Er schöpft sanken sie sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Während die Maultiere am nächsten Morgen noch vor Ta gesanbruch beladen wurden, tranken sie einen Becher starken, bitteren, schwarzen äthiopischen Kaffee und brachen sofort zum Weitermarsch auf. Als die aufgehende Sonne die glatte Wand der Böschung vor ihnen aufleuchten ließ, schien sie so nah zu sein, daß man sie fast hätte berühren können. Nicholas wandte sich an Royan, die mit großen Schritten neben ihm herging, und sagte: »Wenn wir dieses Tempo einhalten, werden wir noch am Nachmittag un terhalb der Böschung angekommen sein und die nächste Nacht vielleicht in der Höhle hinter dem Wasserfall schlafen.« »Das heißt, wir könnten zwei Tage sparen und schon morgen bei den Lastwagen sein.« »Vielleicht«, erwiderte er. »Ich werde froh sein, hier heraus zukommen.« »Man hat das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein«, antwor
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tete Royan und sah sich die steinigen Wände links und rechts des Pfades an, die den Flußlauf des Dandera begrenzten. »Ich habe ein wenig nachgedacht, Nicky.« »Und zu welchem Schluß sind Sie gekommen?« »Zu keinem Schluß, sondern nur zu gewissen Befürchtun gen. Nehmen wir an, irgend jemand bei Pegasus, der unsere Aufzeichnungen und Polaroidfotos jetzt in Händen hat, hat begriffen, was sie bedeuten. Wie werden diese Leute reagieren, wenn sie wissen, wie weit wir bei unserer Suche schon ge kommen sind?« »Das ist keine sehr beruhigende Vorstellung«, mußte er zugeben. »Aber andererseits können wir kaum etwas unter nehmen, bevor wir nicht in die zivilisierte Welt zurückgekehrt sind. Wir können nur die Augen offenhalten und auf alles ge faßt sein. Zum Teufel, sie haben mir sogar mein Rigby-Gewehr gestohlen. Wir sind in der Tat in eine Falle geraten und können uns kaum wehren.« Aly, die Maultiertreiber und die Mönche schienen diese Meinung zu teilen, denn sie bemühten sich, möglichst rasch voranzukommen. Erst um die Mittagszeit legten sie eine kurze Rast ein, um den Kaffee aufzubrühen und die Maultiere zu tränken. Während die Männer die Feuer anzündeten, nahm Nicholas sein Fernglas aus der Kameratasche und kletterte da mit ein Stück den felsigen Hang hinauf. Er war noch nicht weit gekommen, als er sich umblickte und sah, daß Royan ihm folg te. Er wartete, bis sie ihn eingeholt hatte. »Sie hätten sich jetzt ausruhen sollen«, sagte er streng. »Körperliche Überanstrengung bei dieser Hitze kann gefährlich sein.« »Es gefällt mir nicht, wenn Sie allein etwas unternehmen. Ich möchte wissen, was Sie vorhaben.« »Ich wollte mich nur etwas umsehen. Wir hätten eine Vorhut vorausschicken sollen, um nicht unangenehm überrascht zu
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werden. Wenn ich mich nicht täusche, liegt die schwierigste Strecke noch vor uns. Der Himmel weiß, was uns dort noch passieren kann.« Sie stiegen weiter den Pfad hinauf, konnten aber den Grat nicht erreichen, denn eine senkrecht aufragende Klippe ver sperrte den Zugang. An einer geeigneten Stelle unterhalb die ses Hindernisses suchte Nicholas die steilen Böschungen bei derseits des Tals vor ihnen ab. Er hatte sich nicht geirrt. Sie näherten sich jetzt der Stelle, an der die steile Böschung be gann, und der Boden wurde immer unebener. Der Pfad verlief jetzt unmittelbar neben dem Fluß. Die steilen Klippen hingen über dem schmalen Uferstreifen und waren durch Wind und Regen zerklüftet, und an einer Stelle ragte eine rote Sandstein klippe so weit in die enge Schlucht hinein, daß der Fluß im Bogen herumfließen mußte und der Pfad so schmal wurde, daß ein beladenes Maultier nicht daran vorbeikommen konnte, oh ne in den Fluß zu fallen. Nicholas sah sich den Verlauf des Flußtals in allen Einzel heiten durch das Fernglas an, konnte aber nichts entdecken, was ihm verdächtig oder gefährlich erschien. So schaute er noch einmal nach oben auf die Klippen und ihre gezackten Spitzen. In diesem Augenblick hörte er die Stimme von Aly, der ihm von unten zurief: »Beeilen Sie sich, Effendi! Die Maultiere können jetzt weitergehen!« Nicholas winkte ihm zu, richtete das Fernglas aber dann noch einmal auf das vor ihm liegende Gelände. Plötzlich sah er das Aufblitzen eines hellen Lichts wie das Signal eines Helio graphen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Stelle auf der Klippe. »Was ist? Was haben Sie gesehen?« fragte Royan. »Ich bin nicht sicher. Wahrscheinlich war es nichts«, antwor tete er, ohne das Fernglas abzusetzen. Vielleicht war es die
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Reflexion des Sonnenlichts auf einer polierten Metallfläche, auf den Linsen eines Fernglases oder dem Gewehrlauf eines Heckenschützen, dachte er. Andererseits konnte auch ein Stückchen Bergkristall das Sonnenlicht reflektieren, und sogar gewisse Pflanzen haben glänzende Blätter. Er beobachtete die Stelle noch ein paar Minuten, bis er noch einmal Aly rufen hörte: »Beeilen Sie sich, Effendi. Die Maultiertreiber wollen nicht mehr warten!« Er stand auf. »Nun gut. Nichts. Gehen wir.« Er faßte Royan am Arm, um ihr über den unebenen Boden zu helfen, und sie gingen weiter. In diesem Augenblick hörte er, wie ein paar Steine den Hang hinunterrollten. Er und Royan blieben stehen, warteten und blickten hinauf zum Horizont. Plötzlich tauchte das lange, korkenzieherförmige Gehörn und dann der Kopf eines alten Kudubullen auf, der seine trom petenförmigen Lauscher aufgestellt hatte. Er blieb am Rand der Klippe direkt über ihnen stehen, hatte sie aber noch nicht be merkt. Dann drehte der Kudu den Kopf und äugte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Das Sonnenlicht spiegelte sich in seinem Auge, und es war deutlich zu erkennen, daß ir gend etwas ihn gestört hatte. So blieb er einige Zeit stehen, und ohne Nicholas und Royan gesehen zu haben, schnaubte er und floh in langen Sätzen. Er verschwand hinter dem Bergkamm, und bald war nichts mehr von ihm zu hören. »Irgend etwas muß ihn erschreckt haben.« »Was kann es gewesen sein?« fragte Royan. »Alles mögliche – vielleicht ein Leopard«, erwiderte er und schaute den Hang hinunter. Die Kolonne mit den Maultieren und Mönchen hatte sich schon in Bewegung gesetzt und folgte dem Pfad entlang dem Flußufer. »Was sollen wir jetzt tun?« fragte Royan. »Wir sollten sehr genau darauf achten, was in dem vor uns
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liegenden Gelände geschieht – aber dafür haben wir nicht ge nug Zeit.« Die Kolonne entfernte sich rasch, und wenn sie nicht sofort hinunterstiegen und ihr folgten, wären sie hilflos und unbewaffnet jedem Angriff ausgeliefert. Es gab keinen konkreten Anlaß, irgend etwas zu unternehmen, und doch muß ten sie sofort einen Entschluß fassen. »Kommen Sie!« Er nahm sie wieder bei der Hand, und sie kletterten den steinigen Hang hinunter. Auf dem Pfad ange kommen liefen sie schneller, um die Kolonne einzuholen. Als sie sie eingeholt hatten, konnte Nicholas seine Aufmerk samkeit wieder dem oberen Rand der Klippe zuwenden. Die hochaufragende Felswand neben ihnen überdeckte den halben Himmel, und das laute Tosen der Strömung des Flusses über tönte alle anderen Geräusche. Nicholas war nicht wirklich besorgt. Er war stolz auf seinen Instinkt, mit dem er jede Gefahr im voraus witterte, dieser sechste Sinn hatte ihm schon manches Mal das Leben gerettet. Für ihn war es ein Frühwarnsystem, auch wenn es ihm keine konkrete Botschaft übermittelte. Es gab unzählige Erklärungen für die Reflexionen des Sonnenlichts am oberen Rand der Klippe und für das Verhalten des Kudu. Seine Nervosität hatte sich aber nicht gelegt, und so blieb seine ganze Aufmerksamkeit auf die aufsteigenden Klippen und Anhöhen gerichtet. Plötzlich sah er, wie irgend etwas über den Kamm geweht und von dem leichten, warmen Luftzug auf ihn zugetrieben wurde. Wahrscheinlich war es ein trockenes Blatt, das keine weitere Beachtung verdiente, aber er verfolgte es trotzdem mit den Augen. Das braune Blatt wirbelte durch die Luft, kam auf ihn zu und landete schließlich an seiner Wange. Er griff danach und rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger. Eigentlich hätte es dabei knistern und zerkrümeln sollen, aber es war weich und ge schmeidig mit einer feinen, fast öligen Struktur.
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Er legte es auf die offene Handfläche und sah es sich genauer an. Dabei stellte er sofort fest, daß es kein Blatt war, sondern ein Fetzen Ölpapier, braun und durchsichtig. Plötzlich läuteten alle seine inneren Alarmglocken. Ihn beunruhigte nicht nur die Tatsache, daß in dieser abgelegenen Gegend plötzlich ein Stück Papier auftauchte. Er erkannte die Qualität und Struktur dieses Papiers sofort wieder. Er roch daran, und der scharfe Salpetergeruch kribbelte in seiner Nase. »Nitroglyzerin!« rief er laut. Er hatte den Geruch sofort er kannt. Der Sprengstoff Nitroglyzerin wurde, nachdem zahlreiche moderne Plastiksprengstoffe erfunden worden waren, militä risch kaum noch verwendet, wohl aber im Bergbau und bei Gesteinssprengungen. Gewöhnlich wurden die aus Zellstoff und Nitroglyzerin bestehenden, stangenförmigen Sprengladun gen in dieses braune Ölpapier verpackt. Bevor die Zündstäbe in die Ladung eingeführt wurden, riß man den oberen Teil der Papierumhüllung ab, um die Stäbe in die braune, weiche Masse zu stecken. Er hatte vor langer Zeit oft solche Sprengungen vorgenommen und erinnerte sich noch sehr genau an den Ge ruch. Jetzt überschlugen sich seine Gedanken. Wenn irgend je mand ihnen dort oben auflauerte und die Klippe mit Nitrogly zerin vermint hatte, konnte das Aufblitzen, das er dort gesehen hatte, die Reflexion des Sonnenlichts auf dem blanken Kupfer draht gewesen sein, der die Sprengladungen im Felsen mit dem elektrischen Auslösemechanismus verband, oder das Sonnen licht wurde von irgendeinem anderen Ausrüstungsgegenstand reflektiert. Wenn das so war, dann hatte sich der Attentäter vielleicht dort versteckt und lag in diesem Augenblick bereit, die Explosion mit einem Knopfdruck auszulösen. Der Kudu konnte also auch vor dem Menschen geflohen sein, auf den er dort unvermutet gestoßen war.
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»Aly!« rief er laut. »Anhalten! Umkehren!« Er wollte an der Kolonne vorbeilaufen und sie, wenn er an der Spitze ange kommen war, anhalten und zurückführen. Aber er wußte, daß es dazu schon zu spät war. Wenn ihn jemand von dort oben beobachtete, konnte er alles sehen, was Nicholas tat. Nicholas konnte nicht hoffen, die Spitze der Kolonne zu erreichen, die Maultiere auf dem engen Pfad umkehren zu lassen und sie si cher zurückzuführen… Er blieb kurz stehen und sah sich nach Royan um. Seine Hauptsorge galt ihr. Deshalb kehrte er um und faßte sie am Arm. »Kommen Sie! Wir müssen vom Pfad herunter.« »Warum, Nicky? Was tun Sie?« Sie wehrte sich und wollte ihm nicht folgen. »Ich werde es Ihnen später erklären«, fuhr er sie an. »Jetzt müssen Sie mir vertrauen.« Er zog sie ein paar Schritte hinter sich her, bis sie nachgab und mit ihm in die Richtung zurück lief, aus der sie gekommen waren. Sie waren kaum fünfzig Meter gelaufen, als die Felswand über ihnen von einer gewaltigen Explosion zerrissen wurde. Die Erschütterung war so groß, daß sie stolperten, und der Luftdruck so stark, daß sie glaubten, die Trommelfelle würden ihnen platzen. Aber es war nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Detonationen, die wie die Donner schläge eines Gewitters über sie hinweggingen. Wie betäubt taumelten sie aufeinander zu und waren so verwirrt, daß sie nicht mehr wußten, in welche Richtung sie laufen sollten. Nicholas hielt sie fest und blickte sich um. Er sah, wie die Explosionen einander in einer Reihe von oben nach unten folg ten. Hohe Fontänen aus Erde, Staub und Gesteinstrümmern wurden aufgewirbelt, rollten den Hang hinunter und folgten dabei einer Choreographie wie Tänzerinnen. Selbst angesichts der schreckenerregenden Gewalt dieses Er eignisses, war er sich der Tatsache bewußt, daß nur ein geübter
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und erfahrener Sprengmeister es in Szene gesetzt haben konn te. Die in die Luft geschleuderten Gesteinstrümmer fielen zu Boden, und die vor dem klarblauen Himmel aufgewirbelten Staubwolken senkten sich allmählich, so daß man einen Au genblick glauben konnte, der vernichtenden Wirkung dieser Detonationen entgangen zu sein. Doch dann begann sich die Silhouette der Klippe zu verändern. Zunächst neigte sich die Felswand allmählich nach außen. Er sah, wie sich tiefe Risse wie gierige Mäuler öffneten. Schicht weise löste sich das Gestein und glitt langsam den Hang hinun ter, und laut knirschend und krachend stürzte die ganze Klippe in den Fluß. Nicholas erstarrte bei diesem Schauspiel, und er konnte kaum noch denken oder gar handeln. Er entdeckte, daß die Felswand etwas weiter flußabwärts oberhalb der Spitze der Maultierkolonne von der Explosion zerrissen worden war. Dort waren auch Tamre und Aly. Er und Royan befanden sich am Ende der Kolonne. Der Sprengmeister am oberen Rand der Klippe hatte offenbar darauf gewartet, daß sie bis an die Stelle kamen, an der die Wirkung der Detonationen am stärksten war, hatte sich jedoch gezwungen gesehen, sie auszulösen, als er sah, daß er und Royan auf dem Pfad zurückliefen, und er hatte vermutet, daß sie die Gefahr erkannt hatten und sich in Sicher heit bringen wollten. Es war ihnen jedoch nicht gelungen, ganz aus dem Gefah renbereich herauszukommen. Deshalb waren sie noch am Rande des Erdrutsches von der Gesteinslawine erfaßt worden. Ni cholas hielt Royan immer noch in den Armen und starrte ent setzt auf die herabstürzenden Gesteinsmassen. Es gab nur eine allerletzte Möglichkeit, sich aus dieser verzweifelten Situation zu befreien. Voller Entsetzen sah er, wie das Geröll auf den Pfad vor ihm herabstürzte, die Männer und Maultiere erfaßte und in das
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Flußbett schleuderte. Dort wurden sie von den scharfkantigen roten Gesteinsbrocken erfaßt und wie im Rachen eines blutdür stigen Ungeheuers zerquetscht und zermahlen. Die Angst schreie der Menschen und Tiere übertönten sogar das dumpfe Krachen der Gesteinslawine. Die Welle der Vernichtung kam der Stelle, an der er und Royan auf dem Pfad standen, immer näher. Hätten sie während der Sprengungen unmittelbar unterhalb der Felswand gestan den, dann hätten sie ebenso wie die anderen keine Überlebens chance gehabt, aber weiter flußaufwärts war die vernichtende Wirkung nicht mehr so stark. Andererseits mußte Nicholas erkennen, daß sie vor dem jetzt noch drohenden Einsturz der ganzen Felswand nicht mehr fortlaufen konnten, und daß das Herabstürzen dieser Gesteinsmassen eine vernichtende Wir kung haben würde. Er hatte keine Zeit, Royan im einzelnen zu erklären, was er vorhatte, sondern mußte in wenigen Sekunden etwas unter nehmen. Er nahm sie in die Arme und sprang hinüber zum Flußufer. Dabei rutschte er aus, beide fielen ins Wasser und wurden von der Strömung etwa zehn Meter mitgerissen bis zu einem riesigen Felsblock, an dessen Vorderseite sich das Was ser staute und an dem sie sich festhalten konnten. Sie hatten sich von dem Sturz ins Wasser noch nicht erholt, aber Nicholas half Royan auf die Füße und führte sie in eine Nische in der Felswand, wo sie sich hinhockten. Beide hielten den Atem an, als der erste große Stein wie ein riesiger Gummi ball herunterrollte, immer schneller wurde und schließlich mit solcher Gewalt gegen den Felsblock prallte, daß er wie eine Kirchenglocke vibrierte, und hoch über ihre Köpfe hinweg, sich überschlagend, in den Fluß fiel. An dieser Stelle entstand eine kreisförmige Welle, die sich nach allen Seiten ausbreitete und an beide Ufer klatschte. Das war jedoch erst der Beginn der Lawine, die nun auf sie
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niederging. Es schien, als würde der halbe Berg über ihnen zusammenstürzen. Eine gewaltige Kaskade flog über ihre Köp fe hinweg, und sie wurden von zahlreichen Steinsplittern ge troffen. Doch die meisten Splitter landeten unmittelbar hinter dem großen Felsblock, in dessen Nische sie Schutz gesucht hatten. Nicholas legte sich auf Royan, um sie mit seinem Körper zu schützen. Ein Stein traf ihn an der Schläfe, aber er biß die Zäh ne zusammen und schaute nicht nach oben. Er fühlte, wie et was Warmes hinter seinem Ohr und über die Wange lief, aber erst der metallisch salzige Geschmack in seinem Mundwinkel sagte ihm, daß es Blut war. Der feine Staub, den sie einatmen mußten, reizte sie zum Husten und drang ihnen in die Augen. Ein Felsblock von der Größe eines Eisenbahnwaggons wir belte durch die Luft und krachte neben ihnen auf den Boden. Die Erschütterung war so stark, daß sich Royans Magen zu sammenkrampfte, ihr Atem stockte und sie im ersten Augen blick glaubte, einige Rippen seien gebrochen. Allmählich ließ der Erd- und Steinregen nach, und immer seltener landete ein großer Steinbrocken auf dem Felsblock. Auch der feine Staub, den sie hatten einatmen müssen, setzte sich. Das Krachen und Knirschen wurde immer leiser, bis sie schließlich nur noch hörten, wie Erde und Gestein den Hang hinunterrutschten und der Fluß neben ihnen rauschte. Vorsichtig hob Nicholas schließlich den Kopf und versuchte, sich den Staub aus den Augen zu wischen. Auch Royan begann sich unter ihm zu rühren. Er rückte beiseite, und sie setzte sich auf. Entsetzt starrten sie einander an. Ihre vom weißen Staub gekennzeichneten Gesichter sahen aus wie Kabukimasken, und ihr Haar war weißgepudert wie die Perücken der französischen Aristokraten im 18. Jahrhundert. »Sie bluten«, flüsterte Royan heiser.
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Nicholas fuhr sich mit der Hand über die blutige Wange und sagte: »Es ist nur ein kleiner Kratzer. Und wie geht es Ihnen?« »Ich glaube, ich habe mir das Knie verrenkt. Ich spürte, wie irgend etwas nachgab, als wir ins Wasser fielen. Wahrschein lich ist es nichts Ernstes. Es tut kaum weh.« »Dann haben wir beide ein unverschämtes Glück gehabt«, sagte er, »denn sonst hätten wir es nicht überlebt.« Sie versuchte aufzustehen, aber er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Warten Sie! Der ganze Hang über uns hat sich gelockert. Lassen Sie sich Zeit. Wir müssen immer noch damit rechnen, daß sich einzelne Brocken lösen und auf uns herunterstürzen.« Er knüpfte den Schal auf, den er um den Hals trug, und gab ihn ihr. »Im übrigen, wir dürfen –« aber er unter brach sich und beendete den Satz nicht. Sie wischte sich das Gesicht ab und fragte leise: »Sie wollten doch etwas sagen –?« »Im übrigen dürfen wir bei den Schweinehunden dort oben nicht den Eindruck erwecken, daß wir ihre kleine Party über lebt haben. Sonst werden sie sehr bald hier sein, um uns den Rest zu geben und uns die Kehlen durchzuschneiden. Es wird sehr viel besser sein, wenn sie annehmen, daß wir in diesem Steinhagel umgekommen sind.« Sie starrte ihn entsetzt an. »Glauben Sie, daß sie immer noch da oben sind und Ausschau nach uns halten?« »Darauf können Sie sich verlassen«, erwiderte er grimmig. »Sie werden sich natürlich freuen, daß sie uns endlich losge worden sind. Nun dürfen wir uns nicht sehen lassen und ihnen die Freude verderben.« »Woher wußten Sie, was geschehen würde?« fragte sie. »Wenn Sie mich nicht gepackt hätten, dann –« Sie sprach nicht weiter. Mit wenigen Worten erklärte er ihr, wie er den braunen Pa pierfetzen gefunden und welche Schlüsse er daraus gezogen
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hatte. »Es ist die einfachste Sache der Welt, die Klippe über der engsten Stelle, durch die sich unser Pfad windet, zu vermi nen –« Er unterbrach sich, als er das schwache, aber unver kennbar flatternde Geräusch der Rotoren eines startenden Hub schraubers hörte. »Schnell«, rief er ihr zu. »Rücken Sie so weit wie möglich in Deckung.« Er drückte sie an den Felsblock. »Legen Sie sich flach auf den Rücken!« Er legte sich neben sie und bestreute sie und sich selbst mit Erde und Steinsplittern. »Liegen Sie ganz still und bewegen Sie sich auf keinen Fall!« Sie hörten, wie sich der Hubschrauber näherte und über ih nen kreiste. Dann flog er nur wenige Meter über dem Flußlauf auf und ab. Als er unmittelbar über dem Riff, auf dem sie la gen, einige Augenblicke in der Luft stehenblieb, spürten sie den von den Rotoren ausgehenden Luftstrom. »Sie suchen nach Überlebenden«, sagte Nicholas grimmig. »Rühren Sie sich nicht. Sie haben uns noch nicht gesehen.« »Wenn sie uns schon vor der Sprengung beobachtet haben, dann müßten sie genau wissen, wo wir sind«, flüsterte sie. »Sie scheinen sich ihrer Sache nicht sicher zu sein.« »Sie müssen uns in der Staubwolke nach der Sprengung und nach dem Zerbersten der Felswand aus den Augen verloren haben. Jetzt wissen sie nicht genau, wo sie uns suchen sollen.« Der Hubschrauber entfernte sich langsam den Flußlauf entlang, und Nicholas sagte: »Ich werde ganz vorsichtig versuchen, festzustellen, ob es der Pegasus-Hubschrauber ist, obwohl wir in dieser Gegend kaum mit irgendwelchen anderen Hubschrau bern rechnen können. Bleiben Sie mit dem Kopf unten!« Er hob vorsichtig den Kopf und sah auf den ersten Blick, daß er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Etwa achthundert Meter stromaufwärts stand der Pegasus-Jet-Ranger über dem Fluß in der Luft. Langsam entfernte er sich so weit, daß Nicho
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las nicht mehr erkennen konnte, wer hinter der Windschutz scheibe in der Kabine saß. Doch in diesem Augenblick verän derte sich das Motorengeräusch, und der Pilot betätigte das Höhensteuer. Der Hubschrauber stieg senkrecht in die Höhe und drehte ab nach Norden. Dabei konnte Nicholas erkennen, daß Jake Helm auf dem Vordersitz und Oberst Nogo auf dem Sitz dahinter saß. Sie blickten beide in das Flußtal hinunter, aber schon in wenigen Sekunden verschwand der Hubschrauber hinter dem Bergkamm, flog parallel zur Böschung talabwärts, und das Motorengeräusch verstummte. Nicholas kroch aus seinem Ver steck heraus und half Royan auf die Füße. »Kein Zweifel. Wir wissen jetzt, mit wem wir es zu tun ha ben. Im Hubschrauber saßen Helm und Nogo. Höchstwahr scheinlich hat Helm die Sprengladungen angebracht, und No gos Männer haben in der vergangenen Nacht unser Camp über fallen. Jeder von ihnen hat den Teil der Arbeit übernommen, von dem er am meisten versteht«, sagte Nicholas. »Damit be stätigen sich unsere Vermutungen. Der Inhaber der Firma Pe gasus ist der Bösewicht, der uns aus dem Weg räumen will. Helm und Nogo sind nur seine Handlanger.« »Aber Nogo ist Offizier in der äthiopischen Armee«, wandte sie ein. »Willkommen in Afrika.« Er lächelte nicht, als er das sagte. »Hier hat alles seinen Preis, und jeder ist käuflich, auch die Regierungsbeamten und Offiziere.« Er verzog das Gesicht, und dabei löste sich die aus Blut und Staub bestehende Kruste von seinen Wangen. »Aber jetzt kommt es vor allem darauf an, aus dieser Schlucht herauszufinden und wieder die Verbindung zur zivilisierten Welt herzustellen.« Er sah zur Böschung hinauf und stellte fest, daß sie den Pfad nicht mehr benutzen konnten. »Dort kommen wir nicht mehr durch«, sagte er und faßte Royan bei der Hand. Aber als er ihr
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auf die Füße helfen wollte, zuckte sie kurz zusammen und ver lagerte das Gewicht auf das rechte Bein. »Mein Knie!« Dann lächelte sie tapfer. »Es wird schon wie der werden.« Aber es fiel ihr schwer, mit dem verletzten Knie den Hang hinunterzuklettern. Zudem fürchteten beide, daß sie eine neue Erdlawine auslösen könnten. Sie landeten schließlich im Was ser, das ihnen hier bis zur Gürtellinie reichte. Royan stand hinter Nicholas und wusch ihm das Blut und den Staub aus der Wunde in seiner Kopfhaut. »Nicht so schlimm«, sagte sie. »Es muß nicht genäht werden.« »In meinem Seesack ist eine Tube Wundsalbe«, sagte er. Er holte sie heraus, sie strich die gelb-braune Salbe auf die Wunde und verband sie mit ihrem Halstuch. »Das wird reichen«, sagte sie und klopfte ihm auf die Schul ter. »Gott sei Dank haben wir diesen Seesack«, sagte er und zog den Reißverschluß zu. »So können wir zumindest ein paar wichtige Dinge mitnehmen. Jetzt müssen wir sehen, ob wir noch ein paar Überlebende finden können.« »Tamre!« rief sie. Vorsichtig gingen sie am Ufer entlang. Immer wieder stießen sie auf Gesteinstrümmer, denen sie ausweichen mußten. An den tieferen Stellen reichte ihnen das Wasser bis zu den Ach selhöhlen, und Nicholas trug seinen Seesack mit ausgestreckten Armen über dem Kopf. Ständig stießen sie gegen irgendwelche lockeren Steine, während sie versuchten, die Menschen und Tiere zu finden, die von der Gesteinslawine mitgerissen wor den waren. Sie fanden die Leichen von zwei, zwischen den Steinen zer quetschten und halb im Geröll begrabenen Mönchen, versuch ten aber nicht, sie herauszuholen. An einer anderen Stelle ragte nur noch das Bein eines Maultiers aus den Gesteinstrümmern
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heraus. Das Gepäckstück, das es getragen hatte, war aufgeris sen, und der Inhalt überall verstreut. Nicholas entdeckte das zusammengerollte Fell der gestreiften Zwergantilope und nahm es mit. »Wieder mehr zu tragen«, sagte Royan. »Nur ein oder zwei Pfund, aber es lohnt sich«, erwiderte er. Nach einiger Zeit kamen sie auch an die Stelle, über der sie Tamre und Aly auf dem Pfad gesehen hatten. Doch obwohl sie fast eine Stunde nach ihnen suchten, fanden sie nichts. Der Hang über ihnen war vollständig verwüstet, die Erde war auf gerissen, und überall lagen Gesteinstrümmer und entwurzelte, zu Kleinholz zerschlagene Bäume und Büsche herum. Royan kletterte so hoch hinauf, wie es das verletzte Knie er laubte. Dann legte sie die Hände an den Mund und rief: »Tam re! Tamre! Tamre!« Das Echo ihres Rufs hallte durch das gan ze Tal. »Ich fürchte, der arme kleine Kerl liegt unter den Trümmern begraben«, rief Nicholas ihr zu. »Wir suchen ihn schon seit einer Stunde. Es wird Zeit, daß wir uns auf den Weg machen, wenn wir hier noch herauskommen wollen. Wir müssen ihn zurücklassen.« Sie hörte nicht auf ihn, sondern kletterte weiter über das lose Geröll, und er konnte sehen, wie ihr schmerzendes Knie sie dabei behinderte. »Tamre, antworte«, rief sie auf Arabisch. »Tamre! Wo bist du?« »Royan! Es ist genug. Sie werden Ihr Knie nur noch mehr beschädigen. Sie gefährden uns beide. Geben Sie auf!« In diesem Augenblick hörten sie beide ein leises Stöhnen. Es kam von einer Stelle über ihnen. Royan kletterte in dieser Richtung weiter nach oben, rutschte aber immer wieder ab und kam nur mühsam voran, aber dann schrie sie entsetzt auf. Ni cholas legte seinen Beutel ab und folgte ihr. Als er oben ange
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kommen war, kniete er sich neben sie hin. Tamre lag unter den schweren Gesteinstrümmern. Sein Ge sicht war kaum wiederzuerkennen. Seine Gesichtshaut war zerfetzt und teilweise abgerissen. Royan legte seinen Kopf in ihren Schoß und wischte ihm mit den Ärmeln den Schmutz aus der Nase, um ihm das Atmen zu erleichtern. Das Blut tropfte ihm aus dem Mundwinkel, und wenn er stöhnte, floß es stärker. Die untere Hälfte von Tamres Körper lag unter großen Ge steinstrümmern. Nicholas versuchte, sie zu entfernen, mußte aber schnell erkennen, daß es unmöglich war. Er lag unter ei nem Gesteinsbrocken, der so groß war wie ein Billardtisch und sicher mehrere Tonnen wog. Wahrscheinlich hatte er ihm das Rückgrat und das Becken zertrümmert. Allein konnte er diesen Stein nicht bewegen. Selbst wenn es möglich wäre, würde Tamre dabei noch schwerer verletzt werden. »Tun Sie etwas, Nicky«, flüsterte Royan. »Wir müssen et was für ihn tun.« Nicholas sah sie an und schüttelte den Kopf. Die Tränen, die ihr aus den Augen strömten, fielen wie Regentropfen auf Tam res Gesicht und vermischten sich mit seinem Blut. Tamre lächelte, und sein armes zerfetztes Gesicht leuchtete mit diesem Lächeln auf. »Ummee!« flüsterte er. »Du bist mei ne Mutter. Du bist so lieb. Ich liebe dich, Mutter.« Mehr konnte er nicht sagen. Sein Körper verkrampfte sich, mit schmerzverzerrtem Gesicht wimmerte er leise und sank dann in sich zusammen. Der Krampf löste sich, und sein Kopf kippte auf die Seite. Royan saß noch lange Zeit da, hielt seinen Kopf in den Hän den und weinte still, aber bitterlich, bis Nicholas ihre Hand streichelte und sagte: »Er ist tot, Royan.« Sie nickte. »Ich weiß. Er ist nur solange am Leben geblie ben, um sich von mir verabschieden zu können.« Er überließ sie noch eine Zeitlang ihrer Trauer und sagte
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dann freundlich: »Wir müssen gehen, mein Liebling.« »Sie haben recht. Aber es fällt mir schwer, ihn hier alleinzu lassen. Er hatte keine wirklichen Freunde und war immer ein sam. Er nannte mich Mutter. Ich glaube, er hat mich wirklich geliebt.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Nicholas und half ihr auf zustehen. »Gehen Sie hinunter und warten Sie dort auf mich. Ich werde ihn bestatten, so gut es geht.« Nicholas nahm Tamres Hände und legte seine gefalteten Finger um das silberne Kruzifix, das er an einer Kette am Hals trug. Dann deckte er ihn sorgfältig mit losen Steinen zu, so daß die Krähen und Geier nicht herankonnten. Nicholas ließ sich den Hang hinuntergleiten, hängte sich das Notgepäck über die Schultern und stieg ins Wasser, wo Royan bereits auf ihn wartete. »Jetzt müssen wir gehen«, sagte er. Royan wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und nickte. »Ich bin bereit.« Sie wateten stromaufwärts und hatten Mühe, gegen die Strömung anzukommen. Die Steinlawine hatte das halbe Fluß bett zugeschüttet, und das Wasser floß jetzt mit doppelter Ge schwindigkeit durch diese Engstelle. Als sie endlich die Strek ke überwunden hatten, die von der Steinlawine blockiert wur de, kletterten sie an Land und stiegen die steile Böschung hin auf, bis sie schließlich den normalen Pfad erreichten. Nach der anstrengenden Kletterpartie machten sie eine kurze Pause und blickten zurück. Unterhalb des Felssturzes hatte der Schlamm das Wasser rotbraun gefärbt. Selbst wenn die Mön che im stromabwärts gelegenen Kloster die Explosionen nicht gehört hatten, würden sie, beunruhigt durch das verfärbte Was ser, hinaufgehen, um zu sehen, was geschehen war. Dann wür den sie die Leichen finden und sie mitnehmen, um sie in wür diger Weise beizusetzen. Dieser Gedanke tröstete Royan auf
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dem langen Marsch, der noch vor ihnen lag und wahrscheinlich zwei Tage in Anspruch nehmen würde. Sie hinkte immer stärker, aber jedesmal, wenn Nicholas ver suchte, ihr zu helfen, schob sie seine Hand fort. »Es geht mir ganz gut. Das Knie ist nur etwas steif.« Sie wollte ihm nicht erlauben, sich die Verletzung näher anzusehen, sondern lief ihm eigensinnig auf dem Pfad voraus. So marschierten sie weiter und sprachen den ganzen Tag kaum ein Wort miteinander. Nicholas respektierte ihren Kum mer und war dankbar dafür, daß sie trotz ihres Schweigens nicht den Eindruck erweckte, er sei ihr lästig. Ihre Fähigkeit, sich in sich selbst zurückzuziehen, ohne anderen das Gefühl zu geben, von ihr abgelehnt zu werden, war eine der Eigenschaf ten, die er an ihr bewunderte. Sie sprachen kurz miteinander, als sie am Nachmittag eine Pause einlegten und sich neben den Pfad auf den Boden setzten. »Nur gut, daß die Leute von Pegasus jetzt glauben, wir seien unter dem Geröll begraben, denn nun werden sie nicht mehr nach uns suchen. So müssen wir keine Zeit damit verschwen den, an jeder Wegbiegung den Pfad vor uns zu erkunden«, sag te Nicholas. Sie übernachteten in der Nähe der Stelle, wo sie am nächsten Tag wieder die Steilwand hinaufklettern würden. Nicholas führte Royan in eine abseits des Pfades gelegene, dichtbewal dete Bodensenke und entzündete dort ein kleines Feuer, das vom Pfad aus nicht gesehen werden konnte. Hier erlaubte sie ihm endlich, sich ihr Knie genauer anzuse hen. Es war geschwollen und heiß. »So dürfen Sie nicht wei tergehen«, sagte er. »Was bleibt mir anderes übrig?« fragte sie. Er beantwortete die Frage nicht, sondern durchnäßte sein Halstuch mit Wasser aus der Feldflasche und band das Bein oberhalb des Knies ab, aber nicht zu fest, um die Blutzirkulation nicht zu unterbre
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chen. Dann holte er aus seinem Beutel ein Fläschchen mit ent zündungshemmenden Tabletten und ließ sie zwei einnehmen. »Es wird schon besser«, sagte sie. Während sie am Feuer hockten und sich ruhig unterhielten, teilten sie die letzte Überlebensration miteinander. »Was wird geschehen, wenn wir oben ankommen?« fragte Royan. »Werden die Lastwagen noch dort stehen, wo wir sie geparkt haben? Werden die Männer, die Boris zu ihrer Bewa chung zurückgelassen hat, noch dort sein? Und wie wird es sein, wenn wir plötzlich den Leuten von Pegasus begegnen?« »Ich kann Ihnen diese Fragen nicht beantworten. Wir können diese Probleme alle erst lösen, wenn sie aktuell werden.« »Wenn wir nach Adis Abeba kommen, dann müssen wir das Massaker an Tamre und den anderen sofort der äthiopischen Polizei melden. Helm und seine Bande müssen für das, was sie getan haben, bestraft werden.« Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete: »Ich weiß nicht, ob das sehr klug wäre«, sagte er schließlich. »Was soll das heißen? Wir sind Zeugen eines Massenmordes und dürfen die Schuldigen nicht entkommen lassen.« »Vergessen Sie nicht, daß wir nach Äthiopien zurückkom men wollen. Wenn wir jetzt die Behörden alarmieren, dann wird es im ganzen Flußtal des Blauen Nil von Militär und Poli zei wimmeln. Das könnte bedeuten, daß wir den Versuch auf geben müßten, Taitas Rätsel zu lösen und die Grabkammer von Mamose zu finden.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte sie, »und doch war es Mord, und Tamre –« »Ich weiß, ich weiß«, beruhigte er sie. »Aber es gibt bessere Möglichkeiten, Pegasus zur Verantwortung zu ziehen, als durch eine Anzeige bei der äthiopischen Gerichtsbarkeit. Über legen Sie nur, daß Nogo mit Helm zusammenarbeitet. Wir ha ben ihn in dem Hubschrauber gesehen. Wenn sich ein Oberst
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der äthiopischen Armee von Pegasus hat kaufen lassen, wer arbeitet sonst noch mit diesen Leuten zusammen? Die Polizei? Die militärische Führung? Kabinettsmitglieder? Das alles kön nen wir jetzt noch nicht wissen.« »Auch daran hatte ich nicht gedacht«, mußte sie zugeben. »Von nun an sollten wir so denken wie die Afrikaner, und das können wir auch aus den Schriftrollen von Taita lernen. Ebenso wie er müssen wir schlau und verschlagen sein. Wir dürfen uns nicht damit aufhalten, irgend jemanden zu beschul digen. Wenn wir das Land heimlich verlassen könnten, wäh rend alles glaubt, wir lägen tot unter den Trümmern der Stein lawine, dann wäre das ideal. Es würde unsere Rückkehr in diese Schlucht erleichtern. Aber leider bezweifle ich, daß uns das gelingen wird. Doch von nun an dürfen wir uns keine Blöße geben und müssen so vorsichtig sein wie nur irgend möglich.« Sie starrte eine ganze Weile in das flackernde Feuer und fragte dann mit einem Seufzer: »Sie haben gesagt, es gäbe eine bessere Art, sich an Pegasus zu rächen. Wie meinen Sie das?« »Nun, wir müßten ihnen den Schatz des Mamose ganz ein fach vor ihren Nasen wegschnappen.« Zum ersten Mal an diesem langen, schrecklichen Tag mußte sie lachen. »Sie haben recht. Wer auch immer hinter dem Un ternehmen Pegasus steht, hat ein so großes Interesse daran, daß er bereit ist, dafür zu morden. Wir können nur hoffen, daß der endgültige Verzicht darauf ihm ebensolche Schmerzen bereiten wird, wie wir sie nach allem, was er uns angetan hat, ertragen müssen.« Sie waren beide so müde, daß sie erst im Morgengrauen aufwachten. Als Royan versuchte aufzustehen, sank sie stöh nend wieder zurück. Nicholas setzte sich neben sie, und sie wehrte sich nicht dagegen, daß er sich ihr nacktes Bein in den
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Schoß legte. Er nahm den Verband ab und machte ein besorgtes Gesicht, als er das Knie sah. Es war noch mehr geschwollen und fast doppelt so dick wie normalerweise. Er befeuchtete den Schal noch einmal und wickelte ihn wieder um das Knie. Dann gab er ihr die beiden letzten entzündungshemmenden Tabletten und half ihr beim Aufstehen. »Wie fühlt sich das Knie jetzt an?« fragte er besorgt. Sie humpelte ein paar Schritte und lächelte tapfer. »Wenn ich die Steifheit überwunden habe, dann wird es si cher wieder in Ordnung sein.« »Natürlich«, ermutigte er sie und faßte sie am Arm. »Halten Sie sich an mir fest. Dann wird es sein wie ein Spaziergang im Park.« Den ganzen Vormittag kletterten sie mühsam den Pfad hin auf, der mit jedem Schritt steiler zu werden schien. Sie beklag te sich mit keinem Wort, war aber kreidebleich und schwitzte vor Schmerzen. Zur Mittagszeit waren sie noch nicht bis zum Wasserfall gekommen, und Nicholas schlug vor, eine Ruhe pause einzulegen. Sie hatten nichts mehr zu essen, aber sie trank gierig ein paar Schlucke aus der Wasserflasche. Er ließ sie trinken, nahm selbst aber nur einen Mundvoll. Als sie wieder versuchte, aufzustehen, stöhnte sie und stol perte, so daß sie fast gefallen wäre, wenn er sie nicht festgehal ten hätte. »Verdammt! Verdammt! Verdammt!« rief sie wütend. »Das Knie ist wieder steif geworden.« »Keine Sorge«, sagte er aufmunternd und nahm alles, was er nicht unbedingt brauchte, aus seinem Beutel und ließ es liegen. Nur das Fell des dik-dik rollte er zusammen und stopfte es wieder hinein. Er band sich den Beutel an den Gürtel und for derte sie freundlich lachend auf: »Kommen Sie auf meinen Rücken, kleines leichtes Ding.«
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Sie schaute entgeistert nach oben auf den steilen Pfad und sagte: »Da können Sie mich doch nicht hinauftragen.« »Es ist der einzige Zug, der diesen Bahnhof verläßt«, erwi derte er und nahm sie auf den Rücken. »Wollen Sie nicht das dik-dik-Fell hier unten lassen?« fragte sie. »Kommt gar nicht in Frage!« antwortete er und machte sich auf den Weg. Er kam nur langsam vorwärts und geriet bei dem mühsamen Klettern so außer Atem, daß er kaum noch sprechen konnte. So schleppte er sich schweigend und schwitzend den steilen Pfad hinauf, aber ihr war weder die feuchte Wärme, die sie durch ihre Bluse auf der Haut spürte, noch der starke männliche Schweißgeruch unangenehm. Sie empfand es als wohltuend und beruhigend. Jede halbe Stunde blieb er stehen, setzte sie ab und legte sich mit geschlossenen Augen auf den Boden, bis er wieder ruhig und gleichmäßig atmete. Dann öffnete er die Augen und lachte sie an. »Hallo, meine Liebe, es geht weiter!« Dann stand er auf und nahm sie wieder auf den Rücken. Im Lauf des Tages ließ ihn auch sein Humor im Stich, und am späten Nachmittag war er so erschöpft, daß er sich zu jedem Schritt zwingen mußte. Immer wieder blieb er stehen, be vor er eine schwierige Stelle überwinden konnte. Um ihm zu helfen, ließ sie sich schließlich nicht mehr von ihm tragen, sondern ging gestützt auf seine Schulter neben ihm den Hang hinauf, denn sie spürte deutlich, daß seine Kräfte praktisch er schöpft waren. Als sie nach einer letzten Wegbiegung oben ankamen und den Wasserfall wie einen weißen Spitzenvorhang über dem Pfad herunterstürzen sahen, wußten sie nicht, wer von ihnen
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beiden die größere Leistung vollbracht hatte. Nicholas betrat mit unsicheren Schritten die Höhle hinter dem Wasserfall, und sie glitt zu Boden. Auch er konnte sich nicht länger auf den Beinen halten, sondern blieb bis zum Dunkelwerden mit ge schlossenen Augen liegen wie ein Toter. Als er sich ausgeruht hatte, setzte er sich auf und sah, daß Royan inzwischen von dem Holzvorrat der Mönche etwas ge nommen und damit ein kleines Feuer angezündet hatte. »Braves Mädchen«, sagte er. »Sollten Sie eine Stelle als Haushälterin suchen –« »Führen Sie mich nicht in Versuchung.« Sie humpelte zu ihm hinüber und untersuchte die Wunde an seiner Schläfe. »Schon recht gut verheilt«, sagte sie und drückte dann plötzlich und impulsiv seinen Kopf an die Brust und strich ihm das stau bige, verschwitzte Haar aus der Stirn. »O, Nicky! Wie kann ich Ihnen jemals danken, was Sie heu te für mich getan haben?« Schon lag ihm eine leichtfertige, frivole Erwiderung auf der Zunge, aber er beherrschte sich, denn er wollte es gerade jetzt nicht zu weiteren Intimitäten kommen lassen. So genoß er ihre Umarmung und körperliche Nähe und wagte es nicht, sie durch eine unvorsichtige Bewegung abzuschrecken. Schließlich gab sie ihn frei. »Es tut mir unendlich leid, daß Ihnen die Haushälterin zum Abendessen keinen Räucherlachs mit Champagner servieren kann. Was würden Sie zu einem Becher mit reinem und nahrhaftem Gebirgswasser sagen?« »Ich denke, wir werden uns etwas Besseres leisten können.« Er nahm seine Taschenlampe aus dem Beutel, suchte einen runden, faustgroßen Stein auf dem Boden der Höhle, behielt ihn in der rechten Hand und leuchtete den oberen Teil der Höh le ab. Sofort hörte man die Felsentauben, die sich zur Nacht auf einem vorspringenden Sims niedergelassen hatten, mit den Flügeln rascheln und gurren. Nicholas stellte sich unter ihnen
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bereit und blendete sie mit dem Licht der Taschenlampe. Mit dem ersten Wurf traf er zwei von ihnen, die flügelschla gend auf den Höhlenboden herunterfielen. Es gelang ihm, die beiden Vögel zu fassen und ihnen mit geschicktem Griff die Hälse umzudrehen. »Wie würde Ihnen eine saftige gebratene Taubenbrust schmecken?« fragte er. Sie lag auf einen Ellbogen gestützt am Boden, und er saß ihr mit gekreuzten Beinen gegenüber. Beide rupften den Tauben die kastanienbraunen und grauen Federn aus. Selbst beim Ausweiden ihrer Taube zierte sie sich nicht, wie es manche andere Frau getan haben würde. Diese natürliche Einstellung und ihr tapferes Verhalten während des vergangenen Tages imponierten Nicholas. Die Gefühle, die er für sie empfand, vertieften sich mit jedem Tag. Während sie die feinen Flaumfedern aus der Taubenbrust rupfte, sagte sie: »Zweifellos befinden sich jetzt die Unterla gen, die uns bei dem Überfall aus dem Camp geraubt wurden, in den Händen von Pegasus.« »Ich habe eben auch daran denken müssen«, nickte Nicholas, »und die Antennen in ihrem Basislager oberhalb der Wasserfäl le zeigen uns, daß sie über Satellit mit dem führenden Mann verbunden sind. Wir können sicher sein, daß Helm seinem Chef schon alle wichtigen Informationen gemeldet hat, wer dieser Chef auch immer sein mag.« »Er kennt also alle Details über die Stele in der Grabkammer des Tanus. Wir wissen, daß sich auch die siebente Schriftrolle in seinem Besitz befindet. Wenn er selbst kein erfahrener Ägyptologe ist, dann arbeitet bestimmt ein auf diesem Gebiet ausgebildeter Wissenschaftler für ihn. Glauben Sie das nicht auch?« »Ich vermute, er kann die Hieroglyphen lesen. Er muß ein leidenschaftlicher Sammler sein. Ich kenne diesen Typ. Diese
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Leute sind von ihrer Sammlerleidenschaft besessen.« »Auch ich kenne diesen Typ«, sagte sie lächelnd. »Einer die ser Leute sitzt in diesem Augenblick nicht gerade tausend Mei len von mir entfernt auf dem Boden einer Höhle.« »Touché!« lachte er und hob die Hände. »Aber im Vergleich mit anderen, die ich beim Namen nennen könnte, bin ich ein harmloser Vertreter dieser Zunft. Da sind zum Beispiel die beiden Männer auf der Liste von Duraid.« »Peter Walsh und Gotthold von Schiller«, sagte sie. »Diese beiden Sammler würden zur Befriedigung ihrer Lei denschaft praktisch alles tun«, bestätigte er ihre Vermutung. »Ich bin überzeugt, keiner von ihnen würde für die Schätze des Pharao Mamose vor einem Mord zurückschrecken.« »Aber soweit ich weiß, sind beide Dollar-Milliardäre.« »Sie müssen verstehen, daß Geld nichts damit zu tun hat. Wenn sie an diese Dinge herankämen, würden sie nie davon träumen, auch nur ein einziges Stück zu verkaufen. Sie würden alles in einem Tresor verschließen und niemandem erlauben, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Vielleicht würden sie sich ab und zu selbst an diesem Anblick weiden – es ist eine bizarre, geradezu orgastische Leidenschaft.« »Was ist das für ein seltsames Wort!« protestierte sie. »Aber zutreffend. Sie können es mir glauben. Es ist etwas Sexuelles, eine Zwangsvorstellung, vergleichbar mit den Zwangsvorstellungen eines Massenmörders.« »Ich liebe alles Ägyptische, aber ich glaube, ich kann mir ei ne so intensive Begierde nicht einmal vorstellen.« »Sie dürfen nicht vergessen, daß es keine gewöhnlichen Menschen sind, über die wir uns unterhalten. Ihr Reichtum erlaubt ihnen, sich jeden materiellen Luxus zu leisten. Alle normalen, natürlichen menschlichen Bedürfnisse haben für sie keine Bedeutung mehr, sobald sie befriedigt sind. Sie können sich jeden Wunsch erfüllen. Sie können jeden Mann und jede
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Frau kaufen, alles, mag es noch so pervers sein, und gleichgül tig, ob es legal ist. Schließlich müssen sie etwas finden, was außer ihnen niemand besitzen kann, denn nur damit können sie ihre Besitzgier befriedigen.« »Also ist der Mann, der hinter Pegasus steht, ein Verrück ter?« fragte sie leise. »Sehr viel mehr als das«, erwiderte er. »Wir haben es hier mit einem ungeheuer reichen und mächtigen Wahnsinnigen zu tun, der in seinem Wahn vor nichts halt macht.« Zum Frühstück aßen sie das, was übriggeblieben war, und gingen dann nacheinander unter den Wasserfall, um nackt zu duschen. Dabei vermieden sie es taktvollerweise, sich einander zu zeigen. Nach der Hitze in der Schlucht erschien ihnen das Wasser eiskalt. Es prasselte auf sie nieder, als käme es aus einem Feu erwehrschlauch. Royan hüpfte auf ihrem gesunden Bein her um, schnaubte und prustete und kam mit Gänsehaut und blauen Lippen wieder zurück. Doch die Dusche hatte sie erfrischt, und obwohl sie jetzt wieder ihre schmutzige, verschwitzte Kleidung anziehen mußte, hatte sie neuen Mut gefaßt, das letzte steile Stück des Hangs hinaufzuklettern. Bevor sie die Höhle verließen, untersuchten sie noch einmal ihre Verletzungen. Der Riß in der Kopfhaut von Nicholas heilte gut ab, aber Royans Knie sah nicht besser aus als am Tag zu vor. Die Prellungen hatten eine dunkelbraune Farbe angenom men, und die Schwellung war nicht zurückgegangen. Nicholas konnte kaum etwas für sie tun, erneuerte aber den Verband. Schließlich gab er sich geschlagen und beschloß, seinen Vor ratsbeutel und die zusammengerollte Haut des dik-dik zurück zulassen. Er wußte, daß seine physischen Reserven demnächst erschöpft sein würden und er mit jedem Pfund, das er sich zu
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sätzlich aufbürdete, riskierte, unterwegs zusammenzubrechen. Er nahm nur die drei belichteten und noch nicht entwickelten Filmrollen mit den Aufnahmen der Hieroglyphen auf der Stele mit, denn er wagte nicht, ihren Verlust zu riskieren. So steckte er sie in die Brusttasche seines Khakihemds und knöpfte es sorgfältig zu. Die Tasche mit dem zusammengerollten Fell steckte er in eine Felsspalte in der rückwärtigen Wand der Höhle und nahm sich vor, sie sobald wie möglich wieder abzu holen. Damit begannen sie den letzten und beschwerlichsten Teil des Aufstiegs. Zunächst konnte Royan noch einigermaßen mit halten, allerdings nur, wenn sie sich auf seine Schulter stützte. Aber nach weniger als einer Stunde wurde die Anstrengung für ihr Knie zu groß, und sie setzte sich am Rande des Pfades auf einen großen Stein. »Ich bin eine schreckliche Belastung für Sie, nicht wahr?« »Kommen Sie an Bord, Lady. Für Sie ist hier immer noch Platz.« Wieder nahm er Royan auf den Rücken, und während sie das verletzte Bein nach vorn ausstreckte, schleppten sie sich müh sam weiter. Sie kamen jedoch noch langsamer voran als am Tage zuvor. Immer häufiger mußte Nicholas eine Pause ma chen, um sich auszuruhen. Auf den leichter zu begehenden Strecken rutschte sie von seinem Rücken herunter, legte ihm eine Hand auf die Schulter und hüpfte auf einem Bein neben ihm her. Doch bald wurde ihr dies zu anstrengend, und er muß te sie wieder auf den Rücken nehmen. Der Aufstieg wurde zu einem Alptraum, und sie verloren je des Zeitgefühl. Die Stunden folgten einander in einer langen Kette nicht nachlassender Qualen. An einer Stelle waren sie vor Erschöpfung zusammengebrochen und lagen nebeneinan der auf dem Pfad, unfähig, sich vor Durst und Schmerzen wei terzubewegen. Vor einer Stunde hatten sie das letzte Wasser
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getrunken, und auf dieser Teilstrecke gab es nirgends eine Quelle, wo sie die Wasserflasche hätten auffüllen können. Da zu mußten sie den oberen Rand der Böschung und den dahinter fließenden Dandera-Fluß erreichen. »Gehen Sie weiter. Ich werde hier auf Sie warten«, flüsterte sie heiser. Er setzte sich auf und starrte sie entsetzt an. »Reden Sie kei nen Unsinn. Ich brauche Sie als Ballast.« »Bis oben kann es nicht mehr weit sein«, erwiderte sie. »Sie können mit ein paar von Boris’ Leuten zurückkommen, die Ihnen helfen werden, mich hinaufzutragen.« »Wenn sie noch dort sind und Pegasus Sie nicht vorher fin det«, sagte er und stand mit einiger Mühe auf. »Vergessen Sie das. Sie kommen mit, und zwar bis ans Ziel.« Er faßte sie an den Händen und half ihr aufzustehen. Er ließ sie seine Schritte laut zählen und legte jeweils nach hundert Schritten eine Ruhepause ein. Dann begannen die nächsten hundert, die sie ihm leise ins Ohr zählte, während sie sich mit beiden Armen an ihm festhielt. Sie hatten das Gefühl, das Gewicht einer ganzen Welt den Hang hinaufschleppen zu müssen. Sie sahen nicht mehr die steile Felswand auf der einen und den tiefen Abgrund auf der anderen Seite des Pfades. Wenn er stolperte und der Ruck in ihrem schmerzenden Knie spürbar wurde, schloß sie die Augen und ließ sich den Schmerz nicht anmerken, um ihn nicht zu beunruhigen. In den Ruhepausen lehnte er sich gegen die Steilwand und blieb stehen, weil er fürchtete, seine Beine könnten beim Auf stehen versagen. Er wagte es auch nicht, sie abzusetzen, denn er hätte nicht die Kraft gehabt, sie wieder hochzuheben. »Es ist schon fast dunkel«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wir sollten hier übernachten; für einen Tag ist es genug. Sie brin gen sich um, Nicky.« »Noch hundert Schritte«, murmelte er.
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»Nein, Nicky. Setzen Sie mich ab!« Aber er stieß sich mit der Schulter von der Felswand ab und stolperte weiter hinauf. »Zählen Sie!« sagte er. »51, 52«, zählte sie gehorsam. Sie kamen an eine Stelle, wo sich das Gefälle des Pfades plötzlich änderte und die Steigung zu Ende war. Fast wäre er hingefallen wie ein Betrunkener, der glaubt, auf eine Stufe zu steigen, die nicht da ist. Er taumelte, konnte sich aber doch auf den Füßen halten. So stand er schwankend am Rande des Abgrunds und starrte in die Dunkelheit hinaus. Zunächst wollte er seinen Augen nicht trau en und hielt die Lichter, die er sah, für eine Halluzination. Doch dann hörte er Männerstimmen und versuchte kopfschüt telnd, sich der realen Wirklichkeit bewußt zu werden. »O mein Gott. Sie haben es geschafft. Wir sind oben, Nicky. Dort sind die Fahrzeuge. Sie haben es geschafft, Nicky. Sie haben es wirklich geschafft!« Er versuchte zu sprechen, aber seine Kehle war wie zuge schnürt, und er brachte kein Wort heraus. Er wankte den Lich tern entgegen, und die an seinem Rücken hängende Royan rief leise: »Helfen Sie uns. Bitte helfen Sie uns!« Zuerst auf Eng lisch, dann auf Arabisch. »Bitte helfen Sie uns.« Erstaunte Rufe antworteten ihr, und sie hörte die Schritte der Männer, die ihnen entgegenliefen. Nicholas setzte sich vorsich tig in das Gras neben dem Pfad und ließ Royan von seinem Rücken gleiten. Inzwischen hatten sich amharisch redende, dunkle Gestalten um sie versammelt, und freundliche Hände streckten sich ihnen entgegen, um sie in das Licht der Schein werfer zu führen oder zu tragen. Dann leuchtete eine Taschen lampe Nicholas ins Gesicht, und eine englische Stimme sagte: »Hello, Nicky. Schöne Überraschung. Ich bin von Adis hier hergekommen, um Ihre Leiche zu holen. Ich hörte, Sie seien tot. Etwas verfrüht diese Meldung, wie?« »Hello, Geoffrey. Sehr freundlich, daß Sie sich die Mühe
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gemacht haben.« »Ich würde sagen, Sie können eine Tasse Tee gebrauchen. Sie sehen erschöpft aus«, sagte Geoffrey Tennant. »Ich wußte nicht, daß Ihr Bart blonde und graue Strähnen hat. Ein modi scher Stoppelbart. Steht Ihnen gut.« Nicholas konnte sich sehr gut vorstellen, wie er aussah: zer lumpt, unrasiert, schmutzig und ausgemergelt. »Sie erinnern sich doch an Dr. Al Simma? Sie hat ein ver letztes, geschwollenes Knie. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie sich um sie kümmern würden.« In diesem Augenblick versagten seine Beine, und Geoffrey Tennant konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er hinfiel. »Nur die Ruhe, alter Junge.« Er führte ihn zu einem Klapp stuhl, half ihm, sich zu setzen, und ließ einen zweiten Stuhl für Royan bringen. »Letta chai hapa!« Der in ganz Afrika geläufige Ruf eines Engländers, der nach seinem Tee verlangt. Schon nach weni gen Minuten hatten sie ihre Becher mit dampfendem, stark gesüßtem Tee in den Händen. Nicholas hob seinen Becher und trank Royan zu. »Auf uns beide. Mit uns kann sich niemand vergleichen!« Mit dem ersten Schluck des heißen Tees verbrühten sie sich fast die Zungen, aber das Getränk und der Zucker hatte eine so belebende Wirkung, daß Nicholas erleichtert aufatmete und sagte: »Jetzt weiß ich, daß ich am Leben bleiben werde.« »Ich möchte nicht aufdringlich sein, Nicky, aber könnten Sie mir sagen, was, zum Teufel, hier vorgeht?« fragte Geoffrey. »Warum sagen Sie es nicht mir?« erwiderte Nicholas. Er brauchte Zeit, um sich in der neuen Lage zurechtzufinden. Was wußte Geoffrey, und wer hatte es ihm gesagt? Geoffrey war sofort bereit, Nicholas’ Frage zu beantworten. »Zuerst hörten wir, daß der weiße Jäger Brusilow, der Ihre Expedition ausgerüstet hatte, in der Nähe der sudanesischen
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Grenze aus dem Fluß gefischt worden war. Seine Leiche war von Schüssen durchlöchert. Krokodile und Raubfische hatten ihm das Gesicht zerfetzt. Die Grenzpolizei identifizierte ihn nach den Dokumenten in seinem Geldbeutel, den er am Gürtel trug.« Nicholas schaute zu Royan hinüber und versuchte, ihr mit einem Blick verständlich zu machen, daß sie sich nicht in das Gespräch einmischen sollte. »Wir haben ihn zuletzt gesehen, als er zu irgendeinem per sönlichen Unternehmen aufbrach«, erklärte Nicholas. »Wahr scheinlich ist er dabei den Banditen begegnet, die vor vier Ta gen unser Camp überfallen haben.« »Ja, wir haben davon gehört. Oberst Nogo hat diesen Vorfall mit einem Funkspruch nach Adis gemeldet.« Nicholas und Royan hatten nicht gesehen, daß auch Nogo zu den Männern gehörte, die ihnen entgegengekommen waren. Erst als er in den Lichtkreis der Laternen des Camps trat, er starrte Royan und machte ein so böses Gesicht, daß Nicholas ihre Hand ergriff, um sie zu beruhigen und zu verhindern, daß sie irgendwelche unvorsichtigen Bemerkungen machte. »Ich bin erleichtert, Sie zu sehen, Sir Quenton-Harper. In den vergangenen Tagen haben wir uns große Sorgen um Sie gemacht«, sagte Nogo. »Das tut mir sehr leid«, erwiderte Nicholas. »Ich bitte Sie, Sir, das sollte kein Vorwurf sein. Die Pegasus Exploration Company hatte uns nur mitgeteilt, daß Sie und Dr. Al Simma nach einer Sprengung einen Unfall erlitten hätten. Ich war dabei, als Mr. Helm von der Exploration Company Sie warnte und sagte, daß seine Firma in der Schlucht Sprengungen vornehmen würde.« »Aber Sie –«, fuhr Royan auf, doch Nicholas drückte Ihre Hand, um ihr verständlich zu machen, daß sie nicht zu viel sa gen sollte.
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»Wie Sie sagen, war es wahrscheinlich unsere eigene Un achtsamkeit. Doch Dr. Al Simma hat sich verletzt, und wir bei de leiden noch unter den Nachwirkungen dieses verheerenden Unfalls. Aber noch schlimmer ist es, daß andere Menschen, einige unserer Mitarbeiter im Lager und Mönche aus dem Klo ster, bei dem Überfall durch die Banditen und bei dem Berg sturz nach der Sprengung ums Leben gekommen sind. Wenn wir nach Adis Abeba kommen, werde ich den Behörden aus führlich über diese Ereignisse berichten.« »Ich hoffe sehr, Sie glauben nicht, daß die Schuld –«, be gann Nogo, aber Nicholas unterbrach ihn. »Natürlich nicht. Ihnen kann niemand einen Vorwurf ma chen. Sie haben uns vor den Räuberbanden in der Schlucht gewarnt, und Sie waren nicht dort, um uns im Notfall zu hel fen. Ich würde sagen, Sie haben in vorbildlicher Weise Ihre Pflicht getan.« Nogo sah ihn erleichtert an. »Es ist sehr gütig, das zu sagen, Sir Quenton-Harper.« Nicholas sah sich das Gesicht dieses liebenswürdigen jungen Mannes mit der Nickelbrille, der sich solche Mühe gab, ihm zu gefallen, noch einen Augenblick länger an. Fast glaubte er, er habe sich geirrt, und in dem Hubschrauber, der wie ein Geier über dem Bergsturz hin und her geflogen war, um nach ihren Leichen zu suchen, habe jemand anderes gesessen. Nicholas zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und sagte: »Ich wäre außerordentlich dankbar, Herr Oberst, wenn Sie mir noch einen Gefallen tun könnten.« »Natürlich«, erklärte Nogo bereitwillig. »Was immer Sie wünschen.« »In der Höhle unter dem Dandera-Wasserfall habe ich einen Beutel und eine meiner Jagdtrophäen zurückgelassen. In dem Beutel befinden sich unsere Pässe und Reiseschecks. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie einen Ihrer Männer hinschicken
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und diese Dinge holen lassen könnten.« Es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, ausgerechnet den Mann um diesen Gefallen zu bitten, der ihm nach dem Le ben getrachtet hatte, und ihm zu erklären, wie und wo er den Beutel mit seinen persönlichen Dingen finden konnte. Dann wandte er sich von Nogo ab, so daß dieser sein vielsagendes Lächeln nicht sehen konnte, mit dem er seinen Freund fragte: »Wie sind Sie hierhergekommen, Geoffrey?« »Mit einer einmotorigen Maschine zum Feldflughafen von Debra Maryam. Dort trafen wir Oberst Nogo, der uns dann mit einem Jeep der Armee hierhergebracht hat«, erklärte Geoffrey. »Der Pilot und das Flugzeug warten in Debra Maryam auf uns.« In schlechtem Amharisch sprach Geoffrey mit den herum stehenden Leuten und sagte dann: »Ich habe für Sie und Dr. Al Simma ein heißes Bad vorbereiten lassen. Anschließend wer den ein gutes Essen und ein gesunder Schlaf Wunder wirken. Morgen können wir nach Adis zurückfliegen. Spätestens mor gen abend können wir dort sein.« Er klopfte Royan freundlich auf die Schulter und verbarg sein sexuelles Interesse an ihr hinter einem onkelhaften Lä cheln. »Ich muß sagen, ich bin sehr froh, daß ich nicht in die Schlucht hinunterklettern mußte, um Sie beide zu suchen. Wie ich höre, ist der Aufenthalt dort unten nicht gerade empfeh lenswert. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, Dr. Al Simma, wenn ich vorn sitze. Das ist zwar unhöflich, aber ich leide manchmal unter Luftkrankheit. Haha!« sagte Geoffrey zu der neben ihm stehenden Royan, als sie darauf warteten, daß drei kleine Jun gen ihre Ziegen von dem Landestreifen in Debra Maryam jag ten. Nicholas verstaute indessen das zusammengerollte Fell des dik-dik unter dem Rücksitz im Flugzeug. Einer von Nogos Un teroffizieren war in der Nacht die Steilwand hinuntergeklettert
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und hatte ihm am Morgen, als er beim Frühstück saß, den Beu tel und das Fell gebracht. Nogo grüßte militärisch, als das Flugzeug in einer Staubwol ke über die Piste rollte, und Nicholas winkte ihm aus dem Sei tenfenster zu und lächelte. Dabei murmelte er: »Hol dich der Teufel, Nogo!« Als der Pilot die kleine Cessna 260 von der holprigen, mit Gras bewachsenen Piste startete, sahen sie, daß sich am Hori zont über der Schlucht des Blauen Nil riesige Gewitterwolken wie kosmische Pilze aufgetürmt hatten, die bis in die Strato sphäre reichten. Die Turbulenzen in der Luft waren so stark, daß sie auf ihren Rücksitzen gnadenlos durchgeschüttelt wur den. Auch Geoffrey schien es nicht besser zu gehen. Er saß schweigend da und interessierte sich nicht dafür, was Nicholas und Royan miteinander besprachen. Sie hatten seit dem vergangenen Abend keine Gelegenheit gehabt, privat miteinander zu reden, da entweder Geoffrey oder Nogo ständig in Hörweite waren. Nun saßen sie dicht neben einander, das Motorengeräusch übertönte ihre Stimmen, Geof frey kämpfte gegen seine Übelkeit, und sie konnten sich end lich darüber klarwerden, was sie den Behörden in Adis Abeba sagen würden. Geoffrey hatte ihnen gesagt, daß der britische Botschafter in Adis Abeba wegen der Unannehmlichkeiten, die sie ihm berei tet hatten, nicht besonders gut auf sie zu sprechen sei. Nach dem sie als vermißt gemeldet worden waren, hatte Whitehall offenbar mehrere Anfragen über Telefax an die Botschaft ge richtet. Außerdem wollte der Leiter der obersten Polizeibehör de in Äthiopien sie vernehmen. Sie durften also Mek Nimmur nicht mit der Ermordung von Boris Brusilow in Verbindung bringen und mußten es vermeiden, Pegasus zu beunruhigen oder auch nur zu nennen. Es war ihnen klar, daß diese Leute sofort und wahrscheinlich mit einem neuen Mordanschlag ge
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gen sie reagieren würden, wenn sie vermuteten, daß sie wüß ten, wer sich außer ihnen noch für Taita und seine verborgenen Schätze interessierte. Vor allem aber mußten sie vermeiden, die äthiopischen Be hörden gegen sich aufzubringen oder sie zu veranlassen, ihre Visa zu kündigen oder sie als unerwünschte Ausländer auszu weisen. Sie beschlossen deshalb, die Rolle unschuldiger Touri sten zu spielen, die hier in Angelegenheiten verwickelt worden waren, mit denen sie nicht gerechnet hatten und von denen sie nichts verstanden. Bei der Landung in Adis Abeba wußten sie genau, was sie im einzelnen sagen würden. Als die Cessna vor dem Flugha fengebäude ausrollte und der Pilot den Motor ausschaltete, wurde Geoffrey wieder lebendig, und obwohl er noch etwas blaßgrün im Gesicht war, geleitete er Royan höflich die Stufen der Flugzeugtreppe hinunter. »Natürlich übernachten Sie in der Residenz des Botschaf ters«, sagte er zu ihnen. »Die Hotels in Adis Abeba sind so schrecklich, daß ich es Ihnen nicht zumuten kann, dort einzu ziehen, und Seine Exzellenz hat einen recht ordentlichen Kü chenchef und einen passablen Weinkeller. Ich werde Ihnen auch etwas zum Anziehen besorgen. Meine Frau hat etwa Ihre Figur, Dr. Al Simma, und meine Anzüge haben die richtige Größe für Nicky. Gott sei Dank, habe ich einen zweiten Smo king. Seine Exzellenz legt großen Wert auf Etikette.« Die Residenz des britischen Botschafters stammte noch aus der Regierungszeit des alten Kaisers Haile Selassie vor dem Überfall Mussolinis auf Äthiopien in den 30er Jahren. Das am Stadtrand gelegene, im Kolonialstil gebaute Haus hatte ein mit Stroh gedecktes Dach und geräumige Veranden. Vor dem saf tigen Grün des gepflegten Rasens bildeten die leuchtendroten
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Blüten der Weihnachtssterne einen deutlichen Kontrast. Das Haus hatte sowohl die Revolution als auch den darauffolgen den Befreiungskrieg überlebt. An der Haustür empfing sie ein äthiopischer Butler im langen, blütenweißen shamtna und führ te sie zu den nebeneinandergelegenen Schlafzimmern im ersten Stock. Nicholas hörte, wie das Badewasser nebenan in die Wanne lief, während er schon im warmen Wasser lag, einen Whisky mit Soda trank und mit dem großen Zeh den Warm wasserhahn betätigte. Aus Royans Apartment hörte er die Stimme des Arztes, der ihr Knie behandelte. Geoffreys Smoking war ihm in der Taille zu weit, und Ärmel und Hosen waren zu kurz. Die Schuhe, die er ihm geliehen hatte, waren zu eng, und als Nicholas sich im Spiegel betrach tete, stellte er fest, daß es längst Zeit für einen Haarschnitt war. Daran läßt sich jetzt nichts ändern, dachte er, als er hinüber ging und bei Royan an die Tür klopfte. »Großartig!« rief er, als sie öffnete. Sylvia Tennant hatte ihr ein lindgrünes Cocktailkleid geliehen, in dem ihre olivfarbene Haut wunderbar zur Geltung kam. Royan hatte sich die Haare gewaschen, die ihr jetzt lose auf die Schultern fielen. Er spürte, daß sich sein Puls beschleunigte wie bei einem Teenager bei seiner ersten Verabredung, und mußte über sich selbst lachen. »Sie sehen wirklich toll aus«, sagte er und meinte es auch so. »Vielen Dank, Sir«, lachte sie, »und auch Sie wirken sehr elegant. Darf ich um Ihren Arm bitten?« »Ich hoffte schon, ich würde Sie tragen dürfen. Ich habe mich so sehr daran gewöhnt.« »Die Zeiten sind vorüber«, erwiderte sie und drohte ihm mit dem Spazierstock aus Ebenholz, den der Butler ihr gegeben hatte. Sie brauchte ihn, um sich darauf zu stützen, wenn sie mit dem verletzten Bein auftrat. Als sie den langen Korridor hinun tergingen, fragte sie flüsternd: »Wie ist der Name unseres Gastgebers?«
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»Ihrer Britischen Majestät Botschafter, Sir Oliver Bradford KCMG.« »Heißt denn das nicht Knight Commander of St. Michael and St. George?« fragte sie. »Nein«, erwiderte er, »es heißt ›Kindly Call Me God‹, ›Nen nen Sie mich freundlicherweise Gott‹.« »Sie sind unmöglich!« lachte sie, wurde aber gleich wieder ernst. »Haben Sie Mrs. Street das Fax schicken können?« »Ich bin schon beim ersten Versuch durchgekommen, und sie hat sofort geantwortet. Sie läßt Sie grüßen und verspricht, uns sehr bald Näheres über Pegasus mitzuteilen.« Es war ein milder Abend, und Sir Oliver erwartete sie auf der Veranda. Geoffrey eilte voraus, um ihm seine Gäste vorzu stellen. Der Botschafter war ein weißhaariger Mann mit rotem Gesicht. Geoffrey hatte ihnen gesagt, daß er die meisten Touri sten als lästige Störenfriede empfand, aber als er Royan sah, glätteten sich die Falten in seinem mürrisch dreinblickenden Gesicht. Außer Geoffrey und Sylvia Tennant waren zwölf weitere Gäste zum Essen geladen, und Sir Oliver bot Royan den Arm an und stellte sie ihnen vor. Nicholas folgte ihnen und hatte sich inzwischen mit der Tatsache abgefunden, daß Royan die meisten Männer beeindruckte. »Darf ich Ihnen General Obeid, den Polizeikommissar, vor stellen«, sagte Sir Oliver. Der Chef der äthiopischen Polizei war ein hochgewachsener, dunkelhäutiger und in seiner elegan ten Uniform gutaussehender Mann. Er beugte sich über Royans Hand. »Ich glaube, wir sind morgen vormittag miteinander verab redet. Ich freue mich schon auf das Gespräch mit Ihnen.« Royan warf Sir Oliver einen fragenden Blick zu, denn sie wußte noch nichts von dieser Verabredung. »General Obeid möchte von Ihnen und Sir Nicholas über die
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Vorgänge in der Schlucht des Blauen Nil informiert werden«, erklärte Sir Oliver. »Ich hatte meine Sekretärin beauftragt, Sie bei ihm anzumelden. Ich versichere Ihnen, Dr. Al Simma und Sir Nicholas, der General wird ihre Zeit nicht lange in An spruch nehmen.« »Natürlich werden wir alles tun, Ihnen zu helfen«, sagte Ni cholas höflich. »Um welche Zeit erwarten Sie uns?« »Ich glaube, Sie werden morgen vormittag um elf Uhr bei mir sein, wenn es Ihnen recht ist.« »Das ist eine sehr zivile Zeit«, sagte Nicholas. »Mein Fahrer wird Sie um zehn Uhr dreißig abholen und zum Polizeipräsidium bringen«, versprach Sir Oliver. Am Eßtisch nahm Royan zwischen Sir Oliver und General Obeid Platz. Beide Männer bemühten sich, der hübschen, charmanten jungen Frau zu gefallen. Nicholas sah ein, daß er sich daran gewöhnen mußte, ihre Aufmerksamkeit mit anderen Männern zu teilen; sie hatte zu lange nur mit ihm vorliebneh men müssen. Die Unterhaltung mit Lady Bradford am anderen Ende des Tisches fiel Nicholas nicht ganz leicht. Sie war die zweite Frau ihres um dreißig Jahre älteren Mannes. Sie hatte einen starken londoner Akzent und wirkte mit ihrem blondgefärbten Haar und dem fülligen Busen, der aus dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides hervorquoll, ausgesprochen gewöhnlich. Die Schwä che eines alten Mannes, dachte Nicholas. Augenscheinlich hat te sie sich sehr gründlich mit der Genealogie der englischen Aristokratie beschäftigt – das heißt, sie war ein richtiger Snob. Nun wollte sie alles über seine Vorfahren wissen, und zwar über eine ganze Reihe von Generationen hinweg. Am Schluß rief sie ihrem Mann über den Tisch hinweg zu: »Sir Nicholas ist der Besitzer von Quenton Park. Hast du das gewußt, mein Lieber?« Dann wendete sie sich wieder an Ni cholas und sagte: »Mein Mann ist ein leidenschaftlicher Jäger.«
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Die Intelligenz seiner Frau schien Sir Oliver zu beeindruk ken. »Quenton Park, ist das richtig? Neulich habe ich in der Shooting Times einen Artikel darüber gelesen. Sie haben dort einen Trieb mit dem Namen ›Hohe Buchen‹, nicht wahr?« »Es sind die ›Hohen Lärchen‹«, erwiderte Nicholas. »Bei Ihnen soll es mit die besten Fasane in ganz Großbritan nien geben«, sagte Sir Oliver begeistert und sah Nicholas er wartungsvoll an. »Das weiß ich nicht«, antwortete Nicholas. »Aber wir sind recht stolz auf dieses gute Jagdrevier. Das nächste Mal, wenn Sie wieder in England sind, müssen Sie uns besuchen und als mein Gast an einer Fasanenjagd teilnehmen.« Von diesem Augenblick an änderte sich das Verhalten von Sir Oliver gegenüber Nicholas dramatisch. Er bemühte sich eifrig darum, ihm zu gefallen, und ging sogar soweit, von sei nem Butler eine Flasche 1954er Lafite holen zu lassen. »Sie haben einen guten Eindruck gemacht«, flüsterte Geof frey ihm zu. »Seine Exzellenz bietet den 1954er nur Gästen an, von denen er glaubt, sie verdienten seine besondere Aufmerk samkeit.« Es war schon nach Mitternacht, als es Nicholas endlich ge lang, sich von seiner Gastgeberin zu verabschieden und die beiden Kavaliere Royans, Sir Oliver und General Obeid, davon zu überzeugen, daß es Zeit für sie war, sich zurückzuziehen und schlafen zu gehen. Da Royan immer noch hinkte, nahm er sie am Arm, führte sie vorsichtig den Gang entlang und achtete nicht darauf, daß Geoffrey Tennant ihnen neugierig hinterher schaute, bis sie nach dem ersten Treppenabsatz verschwunden waren. »Nun, Sie waren entschieden der Star des Abends«, sagte er. »Und in Ihrer Gesellschaft hat Lady Bradford geschnurrt wie eine Katze«, verteidigte sie sich, und er war glücklich, im Ton ihrer Stimme eine gewisse Eifersucht zu hören. So war also
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nicht nur er eifersüchtig. An ihrer Tür ging sie jedem Problem aus dem Wege und hielt ihm ihre Wange hin, die er zärtlich küßte. »Diese Brüste!« murmelte sie. »Hoffentlich träumen Sie nicht davon.« Dann schloß sie die Tür hinter sich. Fröhlich und zufrieden ging er zu seinem Zimmer, aber als er die Tür öffnete, sah er einen Briefumschlag auf der Schwelle liegen. Als er die Seiten überflog, veränderte sich sein Ge sichtsausdruck. Er ging hinaus auf den Korridor und klopfte an Royans Tür. Nach einem kurzen Augenblick öffnete sie die Tür einen Spalt und sah ihn verwundert an. Um sofort alle Mißverständ nisse zu vermeiden, zeigte er ihr die Papiere und sagte: »Eine Antwort auf mein Fax. Darf ich sie Ihnen vorlesen?« »Einen Augenblick.« Sie schloß die Tür und öffnete sie nach wenigen Sekunden wieder. »Kommen Sie herein.« Auf der Kommode stand eine Karaffe. Sie zeigte darauf und fragte: »Wie wäre es mit einem Schlummertrunk?« »Ich glaube, ich kann einen Schluck gebrauchen. Wir wissen jetzt, wer der Chef des Pegasus ist.« »Sagen Sie es mir!« verlangte sie, aber er goß sich zuerst in aller Ruhe einen Scotch ein, schaute sich nach ihr um und frag te: »Wie wäre es mit einem Schuß Sodawasser?« »Verdammt, Nicholas Quenton-Harper.« Sie stampfte mit dem gesunden Fuß auf den Boden. »Wagen Sie es nicht, mich auf die Folter zu spannen. Wer ist es?« »Als ich Sie kennenlernte, waren Sie eine bescheidene junge Araberin, die gelernt hatte, die Überlegenheit des männlichen Geschlechts anzuerkennen. Wenn ich Sie jetzt reden höre, den ke ich, daß ich Sie verwöhnt habe.« »Ich glaube, ich sollte Sie warnen. Sie spielen mit dem Feu er.« Sie versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken. »Bitte, sagen Sie es mir, Nicky.«
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»Setzen Sie sich«, sagte er und nahm ihr gegenüber auf ei nem Lehnstuhl Platz. Dann nahm er das Fax in die Hand und blickte zu ihr auf. »Mrs. Street hat sich beeilt. In meinem Fax hatte ich sie gebeten, meinen Börsenmakler in der City anzuru fen. Hier sind wir der Greenwicher Zeit um drei Stunden vor aus, deshalb hat sie ihn wahrscheinlich noch zu Hause erreicht, bevor er in sein Büro gegangen ist. Jedenfalls beantwortet sie hier alle meine Fragen.« »Hören Sie auf, Nicky, oder ich werde mir mein Mieder he runterreißen, um Hilfe rufen und einen Skandal auslösen. Sa gen Sie es mir!« Er strich die Seiten glatt und las: »Pegasus Exploration ist bei der Börse von Sydney in Australien mit einem Gesamtkapi tal von zwanzig Millionen registriert –« »Lassen Sie die Einzelheiten aus«, bat sie. »Sagen Sie mir nur den Namen des Mannes.« »Fünfundsechzig Prozent der Pegasusaktien gehören der Walhalla Bergbaugesellschaft«, fuhr er ungerührt fort, »und die restlichen fünfunddreißig Prozent gehören der Firma Anaconda Metall in Österreich.« Schließlich unterbrach sie ihn nicht mehr, sondern saß leicht vorgebeugt ihm gegenüber auf dem Stuhl und hörte aufmerk sam zu. »Walhalla und Anaconda sind Tochtergesellschaften von HMI, der Hamburg Manufacturing Industries. Alle Aktien der HMI gehören der Familienstiftung von Schiller, deren einzige Bevollmächtigte Gotthold Ernst von Schiller und seine Frau Ingemar sind.« »Von Schiller«, wiederholte sie leise und sah ihn an. »Er stand auch auf Duraids Liste der möglichen Sponsoren. Er muß das Buch von Wilbur Smith gelesen haben – ich weiß, es ist ins Deutsche übersetzt worden. Wahrscheinlich hat er, ebenso wie Sie, die Verbindung zu Duraid aufgenommen, aber er hat sich
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nicht so leicht abwimmeln lassen wie Sie.« »Diesen Eindruck habe ich auch«, sagte Nicholas und nickte. »Für ihn war es eine Kleinigkeit, im Kairoer Museum herum zuschnüffeln und festzustellen, daß Duraid und Sie an einem bedeutenden Vorhaben arbeiteten. Was dann geschah, wissen wir nur zu genau.« »Aber wie hat er Pegasus so schnell nach Äthiopien ge bracht?« wollte sie wissen. »Da muß Schiller einfach Glück gehabt haben – der Teufel hat ihm dabei geholfen. Geoffrey hat mir erzählt, daß Pegasus vor fünf Jahren von dem Präsidenten Mengistu noch vor dessen Sturz eine Lizenz erhalten hat, hier nach Kupfervorkommen zu suchen. Schiller war schon hier, bevor er etwas von den Schriftrollen erfahren hatte. Er mußte nur sein Basislager aus dem Norden, wo seine Leute arbeiteten, hierher verlegen und es oberhalb der Schlucht des Blauen Nil einrichten, um aus allen neuen Entwicklungen seinen Nutzen zu ziehen. Wir wer den wahrscheinlich feststellen können, daß Jake Helm einer seiner Spezialisten ist, die mit schmutzigen Tricks überall auf der Welt seine besonderen Interessen wahrnehmen. Offensicht lich arbeitet auch Nogo für ihn. Wir sind diesen Leuten nur zufällig über den Weg gelaufen.« Royan sah ihn nachdenklich an. »Das klingt recht plausibel. Nachdem Helm seinem Meister unsere Ankunft hier gemeldet hatte, muß Schiller ihm befohlen haben, den Überfall der Ban diten auf unser Camp zu organisieren. Lieber Himmel, ich has se ihn. Ich habe ihn nie gesehen, aber ich hasse ihn mehr, als ich glaubte, jemals irgend jemanden hassen zu können.« »Nun, zumindest wissen wir jetzt, mit wem wir es zu tun ha ben.« »Aber wir wissen noch nicht genug«, entgegnete sie. »Schil ler muß einen Mann in Kairo gehabt haben, irgend jemanden, der sich hier auskennt.«
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»Wie heißt doch Ihr Minister?« fragte Nicholas. »Nein«, widersprach sie heftig. »Nicht Atalan Abou Sin. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben. Er ist absolut integer.« »Es ist erstaunlich, wie sich manchmal die Integrität schein bar sehr charakterfester Menschen mit hunderttausend Dollar erschüttern läßt«, erwiderte Nicholas ruhig, und sie sah ihn betroffen an. Beim Frühstück waren sie nur zu zweit. Sir Oliver war schon vor einer Stunde in sein Büro gefahren, und Lady Bradford war noch nicht aufgestanden, um die klare, frische Bergluft zu ge nießen. »Ich habe diese Nacht kaum ein Auge zugetan, denn ich mußte ständig an Atalan denken. O Nicky, ich kann mir nicht vorstellen, daß er etwas mit der Ermordung von Duraid zu tun hatte.« »Es tut mir leid, daß Sie meinetwegen eine unruhige Nacht gehabt haben, aber wir müssen alle Möglichkeiten bedenken«, versuchte er sie zu beruhigen. Dann wechselte er das Thema. »Wir haben hier zuviel Zeit verschwendet. Gegenwärtig hat Pegasus hier freie Bahn. Ich möchte jetzt nach Hause fliegen, um unsere nächste Expedition vorzubereiten.« Sie stand auf und fragte: »Soll ich den Flughafen anrufen und Plätze für uns bestellen? Ich werde sehen, ob ich irgendwo ein Telefon finden kann.« »Aber vorher müssen Sie noch etwas essen.« »Ich habe genug gehabt«, sagte sie und ging zur Tür. »Kein Wunder, daß sie so mager sind«, rief er ihr hinterher. »Wie ich gehört habe, kann die Anorexia nervosa, die Mager sucht, mit einem sehr qualvollen Tod enden.« Er aß noch einen Toast mit Marmelade. Nach fünfzehn Minuten kam sie zurück. »Morgen nachmit
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tag um fünfzehn Uhr dreißig fliegt eine Maschine der Kenya Airways nach Nairobi. Dort haben wir am gleichen Abend An schluß an einen Flug der British Airways nach Heathrow.« »Ausgezeichnet.« Er nahm seine Serviette, wischte sich den Mund ab und stand auf. »Vor der Tür wartet der Wagen, der uns zur Polizeistation bringen wird, wo wir mit Ihrem neuen Verehrer, General Obeid, verabredet sind. Gehen wir also.« Ein Polizeioffizier hatte schon auf sie gewartet und führte sie durch einen Nebeneingang in das Gebäude des Polizeipräsidi ums. Er stellte sich als Inspektor Galla vor und behandelte sie mit äußerster Zuvorkommenheit, als er sie zu den Diensträu men des Polizeikommissars führte. General Obeid stand auf und kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Er war charmant und freundlich und bemühte sich besonders um Royan. Dann führte er sie in sein privates Wohnzimmer. Nachdem sie Platz genommen hatten, servierte ihnen Inspektor Galla den unvermeidlichen bitteren, schwarzen Kaffee in kleinen Tassen. Nach dem kurzen Austausch der üblichen Belanglosigkeiten kam der General zur Sache. »Wie versprochen werde ich Sie nicht länger aufhalten als unbedingt notwendig. Inspektor Galla wird Ihre Aussagen protokollieren. Zuerst möchte ich auf das Verschwinden und den Tod des Majors Brusilow eingehen. Ich nehme an, Sie wissen, daß er ein ehemaliger Offizier des russi schen KGB war?« Das Gespräch dauerte sehr viel länger, als sie erwartet hat ten. General Obeid war gründlich, aber ausgesucht höflich. Am Schluß ließ er ihre Aussagen von einem Polizeischreiber auf der Maschine schreiben, und nachdem sie das Protokoll gele sen und unterzeichnet hatten, begleitete der General sie zum Ausgang, wo der Wagen schon wartete. Nicholas empfand das als eine besondere Auszeichnung. »Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann, zögern Sie bitte
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nicht, sich an mich zu wenden. Es war ein besonderes Vergnü gen, Sie, Dr. Al Simma, kennenzulernen. Sie sollten bald nach Äthiopien zurückkommen, um uns zu besuchen.« »Trotz der bedauerlichen Zwischenfälle, die wir hier erlebt haben, hat mir Ihr schönes Land ausgezeichnet gefallen«, sagte sie freundlich. »Vielleicht werden Sie uns schon sehr viel frü her wiedersehen, als Sie glauben.« »Ein charmanter Mann«, sagte sie, als sie sich in den Fond von Sir Olivers Rolls-Royce setzten. »Er gefällt mir wirklich gut.« »Das beruht offensichtlich auf Gegenseitigkeit«, brummte Nicholas. Royans Prophezeiung ging schneller in Erfüllung, als sie er wartet hatte, denn als sie am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkamen, lagen zwei identische Briefumschläge an ihren Plätzen auf dem Eßtisch. Nicholas öffnete den an ihn gerichteten Brief, während er bei dem in einen knöchellangen shamma gekleideten Diener seinen Kaffee bestellte, und machte ein erstauntes Gesicht, als er das Schreiben las. »Hallo!« rief er. »Wir haben auf die Burschen in den blauen Uniformen einen größeren Eindruck gemacht, als wir glaubten. General Obeid will mich noch einmal sprechen.« Er las ihr das Schreiben vor: »›Sie haben sich noch am Vormittag oder späte stens um die Mittagszeit im Polizeipräsidium zu melden.‹« Nicholas pfiff leise. »Ein scharfer Ton. Weder danke noch bit te.« »In meinem steht das gleiche«, sagte Royan, nachdem sie sich das Papier mit dem Briefkopf der Polizei angesehen hatte. »Was, in aller Welt, glauben Sie, soll das bedeuten?« »Das werden wir früh genug feststellen«, erwiderte Nicho
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las. »Aber es klingt irgendwie bedrohlich. Die Liebe hat sich offenbar abgekühlt.« Als sie diesmal ins Polizeipräsidium kamen, wartete kein Empfangskomitee darauf, sie zu begrüßen. Der Posten vor dem Nebeneingang schickte sie in das für Bittsteller und Festge nommene zuständige Büro, wo sie von dem diensthabenden Polizeioffizier, der nur gebrochen englisch sprach, in ein langes und verwirrendes Gespräch verwickelt wurden. Aus den Erfah rungen, die er in Afrika gemacht hatte, wußte Nicholas, daß es keinen Sinn hatte, die Beherrschung zu verlieren oder seinen Unmut zu zeigen. Nachdem der Offizier ein längeres Telefon gespräch im Flüsterton geführt hatte, forderte er sie mit einer Handbewegung auf, sich an der gegenüberliegenden Wand auf eine harte Holzbank zu setzen. »Sie warten. Mann kommt gleich.« Während der folgenden vierzig Minuten teilten sie die Bank mit anderen Bittstellern, Beschwerdeführern und kleinen Kri minellen. Einige von ihnen hatten blutige Verletzungen, andere waren mit Handschellen gefesselt. »Unser Glücksstern scheint zu verblassen«, sagte Nicholas und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, denn einige seiner Nachbarn waren lange Zeit nicht mehr mit Seife und Wasser in Berührung gekommen. »Dessen dürfen wir angesichts dieser Behandlung sicher sein.« Nach vierzig Minuten schaute Inspektor Galla, der sie noch gestern mit solcher Zuvorkommenheit behandelt hatte, über die Trennwand und winkte sie mit hochmütiger Miene heran. Er übersah geflissentlich die Hand, die Nicholas ihm zur Be grüßung reichte, und führte sie in ein anderes Zimmer. Ohne ihnen einen Platz anzubieten, ließ er sie stehen und erklärte an Nicholas gerichtet kühl: »Sie sind verantwortlich für den Ver lust einer Feuerwaffe, die sich in ihrem Besitz befand.« »Das ist richtig. Ich habe Ihnen schon gestern erklärt –«
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Inspektor Galla unterbrach ihn. »Der Verlust einer Feuerwaf fe aufgrund von Nachlässigkeit ist ein sehr ernstes Vergehen«, sagte er streng. »Eine Nachlässigkeit meinerseits liegt nicht vor«, erwiderte Nicholas. »Sie haben die Feuerwaffe unbeaufsichtigt liegen lassen. Sie haben nicht versucht, sie in einen Stahltresor einzuschließen. Das ist Nachlässigkeit.« »Mit allem Respekt, Inspektor, aber in der Schlucht des Blauen Nil herrscht ein auffallender Mangel an Stahltresoren.« »Nachlässigkeit«, wiederholte Galla. »Kriminelle Nachläs sigkeit. Woher sollen wir wissen, daß die Waffe nicht irgend welchen Regierungsgegnern in die Hände gefallen ist?« »Glauben Sie denn, daß irgendein Unbekannter die Regie rung mit Hilfe eines 275-Rigby stürzen könnte?« lächelte Ni cholas. Inspektor Galla beachtete den Einwand nicht, sondern holte aus seiner Schreibtischschublade zwei Dokumente. »Es ist meine Pflicht, Ihnen und Dr. Al Simma diese Ausweisungsbe scheide zuzustellen. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, Äthiopien zu verlassen. Danach werden Sie beide als uner wünschte Einwanderer behandelt werden.« »Dr. Al Simma hat keine Waffen verloren«, erklärte Nicho las freundlich. »Soweit ich weiß, hat sie während ihres ganzen Lebens auch nicht die geringste Nachlässigkeit begangen.« Auch auf diesen Einwand reagierte der Inspektor nicht. »Bitte unterschreiben Sie hier und bestätigen Sie damit, daß Sie den Bescheid empfangen und verstanden haben.« »Ich würde gern den Polizeikommissar, General Obeid, sprechen«, sagte Nicholas. »General Obeid ist heute morgen zu einer Inspektionsreise in den nördlichen Grenzbezirk abgereist. Er wird erst in einigen Wochen wieder in Adis Abeba sein.«
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»Bis dahin sind wir längst in England.« »Richtig.« Inspektor Galla lächelte zum ersten Mal, doch dieses Lächeln war höchstens ein schwaches, verächtliches Grinsen. »Bitte unterschreiben Sie hier und hier.« »Was ist geschehen?« fragte Royan, nachdem der Fahrer ihr die Tür des Rolls-Royce geöffnet und sich neben Nicholas ge setzt hatte. »Es ist alles so plötzlich und unerwartet gekommen. Zunächst hat man uns mit Freundlichkeiten überschüttet, und im nächsten Augenblick mit Fußtritten die Treppe hinunterge worfen.« »Wollen Sie wissen, was ich vermute?« fragte Nicholas und fuhr fort, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Nogo ist nicht der einzige, der von Pegasus bezahlt wird. Obeid hat sich inzwi schen mit Schiller in Verbindung gesetzt und seine Befehle entgegengenommen.« »Ist Ihnen klar, was das bedeutet, Nicky? Das heißt, wir werden nicht nach Äthiopien zurückkehren können. Deshalb werden wir auch unsere Suche nach dem Grabmal des Pharao Mamose aufgeben müssen.« Mit ihren großen dunklen Augen starrte sie ihn verzweifelt an. »Als Duraid und ich den Irak und Libyen besuchten, hatte uns, soweit ich mich erinnere, weder Saddam noch Gaddaffi eingeladen.« »Die Aussicht, gegen das Gesetz verstoßen zu können, scheint Ihnen großes Vergnügen zu bereiten«, warf sie ihm vor. »Das verrät Ihr breites Grinsen.« »Schließlich sind es nur äthiopische Gesetze«, erwiderte er schlagfertig, »und sie müssen nicht allzuernst genommen wer den.« »Und man wird Sie in ein äthiopisches Gefängnis stecken. Das werden Sie ernst nehmen müssen.« »Sie auch«, grinste er, »wenn sie uns kriegen.
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Sie können sicher sein, daß Seine Exzellenz schon eine offi zielle Beschwerde beim Präsidenten eingelegt hat«, sagte Geof frey, als er am nächsten Tag mit Nicholas und Royan zum Flughafen fuhr. »Ich kann Ihnen sagen, er ist empört über das Verhalten der Behörden, die Ausweisung und so weiter. Uner hört.« »Regen Sie sich nicht auf, alter Junge«, erwiderte Nicholas. »Unter diesen Umständen werden wir beide nicht nach Äthio pien zurückkommen. Kein Grund zur Beunruhigung.« »Es geht ums Prinzip. Ein prominenter britischer Staatsan gehöriger wird behandelt wie ein gewöhnlicher Krimineller. Das ist eine Rücksichtslosigkeit.« Er seufzte. »Manchmal wün sche ich, hundert Jahre früher geboren zu sein. Damals hätten wir uns mit einem solchen Unsinn nicht abgefunden, sondern einfach ein Kanonenboot geschickt.« »Ganz richtig, Geoffrey, aber ärgern Sie sich bitte nicht mehr darüber.« Am Abfertigungsschalter der Kenya Airways umschwänzel te Geoffrey sie wie eine Katze ihre Jungen. Sie nahmen nur ihr Handgepäck mit ins Flugzeug, zwei kleine billige Nylonbeutel, die sie am Vormittag auf der Straße gekauft hatten. Nicholas hatte das Fell der Zwergantilope zusammengerollt und in einen bestickten wollenen Umhang gewickelt, den er ebenfalls auf dem Markt besorgt hatte. Geoffrey wartete mit ihnen, bis ihr Flugzeug aufgerufen wurde, und winkte ihnen nach, als sie durch die Sperre gingen. Diese freundliche Geste galt in erster Linie Royan und nicht Nicholas. Die für sie reservierten Sitze lagen unmittelbar hinter der Tragfläche, und Royan setzte sich neben das Fenster. Der Pilot startete die Motoren, und das Flugzeug rollte langsam an den Flughafengebäuden vorbei. Nicholas sprach mit der Stewardeß,
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die sein kostbares Antilopenfell in der roten Nylontasche über den Sitzen verstauen wollte, während Royan aus dem Fenster der startenden Maschine schaute, um einen letzten Blick auf Adis Abeba zu werfen. Plötzlich richtete sie sich in ihrem Sitz auf und faßte Nicho las am Arm. »Sehen Sie!« zischte sie in einem so bösen Ton, daß er sich sofort zum Fenster hinüberbeugte, um zu sehen, was sie erregt hatte. »Pegasus!« rief sie und zeigte auf den Falcon Jet, der eben gelandet war und nun vor dem letzten Flughafengebäude stand. Das kleine, windschlüpfrige Flugzeug war grün angestrichen, und auf seiner Schwanzflosse sah man deutlich das auf den Hinterbeinen stehende, scharlachrote geflügelte Pferd. Sie sa hen, wie sich die Tür am Rumpf der Maschine öffnete und ein kleines Empfangskomitee erwartungsvoll herantrat, um die Passagiere, die in der offenen Tür des Jet erschienen, zu begrü ßen. Der erste war ein kleiner Mann in einem cremefarbenen Tropenanzug und einem weißen Panama-Strohhut auf dem Kopf. Trotz seiner geringen Körpergröße machte er einen sehr selbstsicheren Eindruck und wirkte wie jemand, der es ge wöhnt ist, zu befehlen. Seine blasse Gesichtsfarbe zeigte, daß er aus dem winterlichen Norden kam, was in dieser Umgebung besonders auffiel. Mit dem fest geschlossenen Mund, der stark herausragenden Nase und den unter dichten schwarzen Brauen scharfblickenden Augen, wirkte er unerschütterlich. Nicholas erkannte ihn sofort wieder. Er hatte ihn schon oft bei den Versteigerungen von Sotheby und Christie beobachtet. Dieser Mann gehörte nicht zu den Menschen, die man leicht vergißt, wenn man sie einmal gesehen hat. »Von Schiller!« rief er, als der Deutsche auf die unter ihm auf dem Flugfeld stehenden Männer mit gebieterischem Blick
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hinunterschaute. »Er sieht aus wie ein streitsüchtiger Zwerghahn«, murmelte Royan, »oder wie eine sich aufbäumende Kobra.« Schiller hob seinen Panamahut und sprang die Stufen von der Flugzeugtür zur Rollbahn mit leichten, athletischen Schritten hinunter. Ni cholas sagte ruhig: »Man würde nicht glauben, daß er schon fast siebzig Jahre alt ist.« »Er bewegt sich wie ein Vierzigjähriger«, stimmte Royan ihm zu. »Er muß sich Haare und Augenbrauen gefärbt haben – sehen Sie doch, wie dunkel sie sind.« »Donnerwetter!« rief Nicholas. »Sehen Sie, wer zu seiner Begrüßung erschienen ist.« Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Orden und Rangabzei chen eines hochgewachsenen Mannes in blauer Uniform, der ein paar Schritte vortrat, die rechte Hand zum militärischen Gruß an seinen Mützenschirm legte und dann Schiller freund lich die Hand schüttelte. »Das ist doch Ihr Verehrer, General Obeid. Kein Wunder, daß er gestern keine Zeit für uns hatte. Er hatte zu viel zu tun.« »Sehen Sie, Nicky«, rief Royan staunend aus. Sie interessier te sich nicht mehr für die beiden Männer vor der Treppe, die einander immer noch an den Händen hielten und sich angeregt unterhielten. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich nun auf einen jungen Mann, der eben in der Tür des Falcon Jet erschie nen war. Er war barhäuptig, und soweit Nicholas es erkennen konnte, hatte er ein blasses Gesicht und dichtes, dunkles, welli ges Haar. »Ich habe ihn noch nie gesehen. Wer ist es?« fragte Nicho las. »Nahoot Guddabi. Duraids Assistent im Museum. Er ist der Mann, der jetzt seine Stelle einnimmt.« Während Nahoot die Treppe herunterkam, rollte die Maschine, in der Nicholas und Royan saßen, weiter und bog dann auf die Startbahn ab, so daß
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sie die Versammlung vor dem Pegasus-Jet nicht mehr sehen konnten. Sie lehnten sich beide in ihren Sitzen zurück und sa hen einander schweigend an. Nicholas ergriff als erster das Wort. »Ein Hexensabbat. Eine Versammlung von Strolchen. Wir haben Glück gehabt, das noch zu sehen. Jetzt gibt es keine Ge heimnisse mehr. Wir wissen sehr genau, wer unsere Gegner sind.« »Schiller ist der Puppenspieler«, stimmte sie ihm, atemlos vor Zorn und Schrecken, zu. »Aber Nahoot Guddabi ist sein Jagdhund. Offenbar hat Nahoot auch die Mörder in Kairo ge kauft und auf uns losgelassen. Mein Gott, Nicky, Sie hätten hören sollen, wie er bei der Beisetzung behauptete, Duraid stets bewundert und geachtet zu haben. Dieser schmutzige, mörderi sche Heuchler!« Sie schwiegen beide, bis das Flugzeug gestartet war und die Reiseflughöhe erreicht hatte. Dann sagte Royan ruhig: »Natür lich hatten Sie recht, mit dem, was Sie über Obeid gesagt ha ben. Auch ihn hat Schiller in die Tasche gesteckt.« »Vielleicht handelt er auch nur im Auftrag der äthiopischen Regierung und mußte hier einen Mann begrüßen, der unter Umständen reiche Kupfervorkommen entdecken und damit diesem armen Land zu ungeahntem Reichtum verhelfen wür de.« Aber sie schüttelte den Kopf. »Wenn es so einfach wäre, dann wäre irgendein Kabinettsminister zu seiner Begrüßung erschienen, aber nicht der Polizeichef. Nein, Obeid ist ebenso wie Nahoot ein Verräter.« Der Anblick der Mörder ihres Mannes hatte bei Royan die noch nicht ganz verheilten Wunden des Kummers und der Trauer von neuem aufgerissen. Diese bitteren Gefühle glichen einer Flamme, die in ihr brannte wie das Buschfeuer in einem hohlen Baumstamm und die sie von innen her verzehrte. Ni
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cholas wußte, daß er diese Flamme nicht ersticken, sondern nur versuchen konnte, Royan eine Zeitlang auf andere Gedanken zu bringen. Er sprach deshalb nicht mehr von Tod und Rache, sondern wendete sich der Herausforderung zu, die Taita mit seinen Andeutungen und das Rätsel des Pharaonengrabes für sie bedeuteten. Als sie am folgenden Morgen in Heathrow landeten, nach dem sie in Nairobi in eine nach England fliegende Maschine umgestiegen waren, hatten sie ihre Pläne für die Rückkehr in die Schlucht des Blauen Nil und die Erkundung des von Taita angelegten Wasserbeckens im großen und ganzen besprochen. Doch obwohl Royan nach außen hin ihre Ruhe und Gelassen heit wiedergewonnen zu haben schien, spürte Nicholas doch, daß sie die schmerzlichen Erlebnisse noch nicht ganz über wunden hatte. Sie landeten so zeitig in Heathrow, daß sie ohne Aufenthalt durch die Sperre kamen, und da sie kein großes Gepäck im Flugzeug zurückgelassen hatten, mußten sie nicht an dem Ge päckkarussell darauf warten. Den Nylonbeutel mit dem zusammengerollten Fell der Zwergantilope unter dem einen und die an ihrem Krückstock humpelnde Royan am anderen Arm, schlenderte Nicholas mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt an der Reihe der Zollbe amten Ihrer Britischen Majestät vorbei zum Ausgang. »Sie sind so unverschämt«, flüsterte sie ihm zu, als sie schließlich draußen waren, »daß ich mich frage, wie soll ich Ihnen je wieder vertrauen, wenn Sie den Zoll so überzeugend belügen können?« Sie hatten auch weiterhin Glück und fanden sofort ein Taxi, das sie eine knappe Stunde nach der Landung vor dem Stadt haus von Nicholas in Knightsbridge absetzte. Es war an einem
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Montag morgen um acht Uhr dreißig. Während Royan duschte, ging Nicholas – es regnete wie so oft in London – mit einem Schirm hinaus und besorgte an ei nem Eckladen einige Lebensmittel. Dann bereiteten sie das Frühstück zu. Royan röstete den Toast und Nicholas beschäf tigte sich mit der Herstellung seiner Spezialität, eines Kräuter omeletts. »Wenn wir zur Abbay-Schlucht zurückkehren, werden Sie wahrscheinlich die Hilfe eines Fachmannes brauchen«, sagte Royan, als sie den heißen Toast mit Butter bestrich. »Ich glaube, ich kenne einen geeigneten Mann«, antwortete er. »Es ist ein ehemaliger Soldat der königlich britischen Pio niertruppe. Sein Spezialgebiet ist das Tauchen und das Arbei ten unter Wasser. Er ist pensioniert und lebt in einem kleinen Dorf in Devon. Ich nehme an, er sehnt sich danach, etwas Ver nünftiges tun zu können, und langweilt sich zu Tode. So wird er jede Gelegenheit ergreifen, diesem Mangel abzuhelfen.« Nachdem sie gefrühstückt hatten, sagte Nicholas: »Ich werde das Geschirr waschen. Bringen Sie bitte die Filme von der Ste le zum Entwickeln. Ganz in der Nähe gegenüber dem Kaufhaus Harrods gibt es einen Schnelldienst, wo Sie die fertigen Fotos nach einer Stunde abholen können.« »Das nenne ich eine faire Arbeitsteilung«, sagte sie mit lei dender Miene. »Sie haben eine Spülmaschine, und draußen regnet es.« »Sie haben recht«, lachte er. »Um Ihnen Ihre Aufgabe zu versüßen, werde ich Ihnen meinen Regenumhang leihen. Wäh rend Sie auf das Entwickeln der Filme warten, könnten Sie einen Einkaufsbummel machen und die notwendigen Beklei dungsstücke besorgen, die Sie bei dem Bergsturz verloren ha ben. Ich muß ein paar wichtige Telefongespräche führen.« Nachdem sie gegangen war, setzte sich Nicholas an seinen Schreibtisch mit einem Notizblock auf der einen und dem Tele
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fon auf der anderen Seite. Zuerst rief er in Quenton Park an, wo Mrs. Street versuchte, ihre Freude darüber zu verbergen, daß er wieder zu Hause war. »Auf Ihrem Schreibtisch liegt ein ganzer Haufen Post und wartet auf Sie. Das meiste sind Rechnungen.« »Ihnen geht es hoffentlich gut?« »Die Anwälte liegen mir ständig in den Ohren, und Mr. Markham von Lloyd’s ruft jeden Tag an.« »Seien Sie so gut und sagen Sie niemandem, daß ich zurück bin.« Nicholas wußte genau, was diese Leute von ihm wollten – das gleiche, was Leute immer wollen, die einen ständig zu sprechen suchen: Geld! In diesem Fall waren es nicht nur tau send Shilling für eine längst fällige Schneiderrechnung, son dern zweieinhalb Millionen Pfund. »Wahrscheinlich wird es besser sein, ich bleibe in York und komme nicht nach Quenton zurück«, sagte er zu Mrs. Street. »Hier wird man mich nicht so leicht finden.« Er versuchte, nicht mehr an seine Schulden zu denken, son dern konzentrierte sich auf die Probleme, die ihm jetzt am wichtigsten waren. »Haben Sie Bleistift und Notizblock zur Hand? Gut, bitte tun Sie jetzt folgendes.« Das Diktat dauerte etwa zehn Minuten. Nachdem Mrs. Street es ihm vorgelesen hatte, sagte er: »Okay. Machen Sie sich bitte jetzt daran. Wir werden heute abend zurück sein. Dr. Al Simma wird zunächst einmal bei uns bleiben. Bitten Sie die Haushälte rin, das zweite Schlafzimmer in der Wohnung für sie herzu richten.« Dann rief er die Nummer in Devon an, und während das Te lefon läutete, stellte er sich das umgebaute Haus der Küstenwa che auf den Klippen der aufgewühlten, grauen See vor. Daniel Webb war wahrscheinlich in seiner Werkstatt im Garten und beschäftigte sich mit seiner großen Liebe, dem 1935er Jaguar
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oder mit dem Binden von Lachsfliegen. Das Fischen war seine zweite Leidenschaft, und so hatten sie sich auch kennengelernt. »Hallo?« Daniels Stimme klang zurückhaltend und mißtrauisch. Ni cholas stellte ihn sich vor mit seiner gesprenkelten Glatze und der stark behaarten, verarbeiteten Faust, die nun den Telefon hörer ergriffen hatte. »Pionier, ich habe einen Job für Sie. Sind Sie bereit?« »Wohin geht es, Herr Major?« Obwohl sie sich drei Jahre nicht gesehen hatten, erkannte er sofort die Stimme seines alten Vorgesetzten. »Sonniges Klima und tanzende Mädchen. Die gleiche Be zahlung wie beim letzten Mal.« »Ich komme. Wo treffen wir uns?« »In meiner Wohnung. Sie kennen Sie ja. Kommen Sie schon morgen und bringen Sie Ihren Rechenschieber mit.« Nicholas wußte, daß Dany nichts für diese modernen Taschenrechner übrig hatte. »Der Jaguar ist immer noch prima in Ordnung. Ich werde morgen früh abfahren und zu Mittag da sein.« Nicholas legte den Hörer auf und rief noch seine Bank in Jersey und eine zweite Bank auf den Kayman Inseln an. Seine Reserveguthaben für Notfälle waren in letzter Zeit stark zu sammengeschrumpft. Die Expedition, die er mit Royan wäh rend des Fluges geplant hatte, würde ihn zweihundertdreißig tausend Pfund kosten, und wahrscheinlich würde das nicht einmal ausreichen. Wie immer, muß man mit fünfzig Prozent mehr rechnen, dachte er. Und das bedeutet, daß alle Reserven erschöpft sein werden, wenn die Sache hinter uns liegt. Ich hoffe und bete, daß du uns nicht an der Nase herumführst, Taita. Er nannte den Kassierern bei den Banken die Kennwörter und wies sie an, die von ihm benötigten Beträge auf die laufen
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den Konten zu überweisen, um sie gegebenenfalls sofort abhe ben zu können. Er mußte noch zwei Leute anrufen, bevor sie nach York wei terfuhren, von denen es abhing, ob sich seine Pläne verwirkli chen ließen, und es war nicht immer leicht, die Verbindung zu ihnen herzustellen. Die erste Nummer war besetzt. Er versuchte es noch fünf mal, aber immer wieder ertönte nur das Besetztzeichen. Beim letzten Mal antwortete eine selbstsichere westenglische Stim me. »Guten Tag. Hier ist die britische Botschaft. Was kann ich für Sie tun?« Nicholas sah auf seine Armbanduhr. Bei einem Zeitunterschied von drei Stunden würde es in Adis Abeba schon Nachmittag sein. »Hier spricht Sir Nicholas Quenton-Harper. Ich rufe Sie aus England an. Könnten Sie mich bitte mit ihrem Militärattaché Geoffrey Tennant verbinden?« Geoffrey kam sofort an den Apparat. »Mein lieber Junge. So sind Sie also schon zu Hause, Sie Glücklicher.« »Ich wollte Sie nur beruhigen. Ich wußte, Sie würden sonst nicht gut schlafen können.« »Wie geht es der charmanten Frau Dr. Al Simma?« »Sie läßt Sie herzlich grüßen.« »Wenn ich Ihnen doch glauben dürfte«, seufzte Geoffrey. »Können sie mir einen großen Gefallen tun, Geoff? Kennen Sie einen Oberst Maryam Kidane im Verteidigungsministeri um?« »Ein erstklassiger Mann«, versicherte Geoffrey. »Ich kenne ihn gut. Habe noch am vergangenen Samstag Tennis mit ihm gespielt. Verdammt gute Rückhand!« »Bitte veranlassen Sie ihn, sich möglichst bald mit mir in Verbindung zu setzen.« Er gab Geoffrey seine Telefonnummer in York. »Sagen Sie ihm, es hätte etwas mit einer seltenen und
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nur in Äthiopien vorkommenden Schwalbe für die Sammlung in meinem Museum zu tun.« »Wieder eine von Ihren verrückten Ideen, Nicky. Kaum ha ben Sie mit Mühe und Not alle Schwierigkeiten in Äthiopien hinter sich gelassen, fangen Sie schon an, mit seltenen Vögeln zu handeln. Wahrscheinlich handelt es sich um eine vom Aus sterben bedrohte Spezies.« »Wollen Sie so freundlich sein, Geoff, das für mich zu tun?« »Natürlich. Diene, wenn du führen willst, alter Junge. Und dabei ist man stets der Trottel.« »Ich bin Ihnen einen Gegendienst schuldig.« »Mehr als einen. Eher ein halbes Dutzend.« Mit seinem nächsten Anruf hatte er weniger Erfolg. Die in ternationale Fernsprechauskunft gab ihm eine Nummer in Mal ta. Beim ersten Versuch hörte er deutlich das Freizeichen. »Nimm doch den Hörer ab, Jannie«, flüsterte er, aber beim sechsten Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Sie sind mit dem Hauptbüro der Africair Services verbun den. Gegenwärtig ist niemand hier, der Ihren Anruf entgegen nehmen könnte. Bitte nennen Sie beim Pfeifton Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und hinterlassen Sie eine kurze Botschaft. Wir werden Sie so bald wie möglich zurückrufen. Vielen Dank.« Der südafrikanische Akzent von Jannie Badenhorst war unverkennbar. »Jannie. Hier spricht Nicholas Quenton-Harper. Ist Ihre alte Herc-Maschine noch flugfähig? Was ich Ihnen vorschlagen möchte, wird für Sie ein Vergnügen sein. Im übrigen gibt es Geld dafür. Rufen Sie mich in meiner Wohnung in England an. Keine Eile. Gestern oder vorgestern ist früh genug.« Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, läutete Royan an der Haustür, und er lief die Treppe hinunter. »Sie kommen gerade zur rechten Zeit«, sagte er, als sie durchgefroren hereinkam und den naßgewordenen Regenum
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hang ausschüttelte. »Haben Sie die entwickelten Filme mitge bracht?« Stolz zeigte sie ihm ein gelbes Päckchen. »Sie sind ein Meisterfotograf«, sagte sie. »Die Fotos sind sehr gut geworden. Ich kann die Hieroglyphen auf der Stele sogar mit bloßem Auge lesen. Wir können also das Spiel mit Taita von neuem beginnen.« Sie legte die auf Glanzpapier ge machten Vergrößerungen auf seinen Schreibtisch und sah sie sich noch einmal an. »Sie haben also jeweils zwei Vergrößerungen, für jeden von uns eine, mitgebracht. Ausgezeichnet«, sagte er befriedigt. »Die Negative kommen in meinen Banktresor. Wir dürfen nicht riskieren, sie zum zweiten Mal zu verlieren.« Royan betrachtete die Vergrößerungen mit seiner großen Lupe und legte die schärfsten Aufnahmen von den vier Seiten der Stele nebeneinander auf den Tisch. »Mit diesen Aufnahmen werden wir arbeiten. Ich glaube, wir brauchen jetzt auch nicht mehr die Papierabzüge. Die Fotos werden genügen.« Sie übersetzte die Inschrift auf einer der Seiten. »›Die Kobra rollt sich auf und hebt ihre mit Juwelen besetzte Haube. Die Sterne des Morgens leuchten in ihren Au gen. Dreimal küßt ihre schwarze, schlüpfrige Zunge die Luft.‹« Sie errötete vor Erregung. »Ich frage mich, was Taita uns mit diesem Vers sagen will. O Nicky, es ist so aufregend! Endlich können wir uns wieder an die Lösung dieser Rätsel machen.« »Lassen wir das zunächst«, sagte er. »Ich kenne Sie. Wenn Sie damit anfangen, dann werden wir die ganze Nacht hier sit zen. Jetzt müssen wir unsere Sachen in den Rangerover verstauen. Uns steht eine lange Fahrt nach York bevor, und der Wetterdienst meldet Glatteis auf den Straßen. Hier haben wir es mit anderen Wetterverhältnissen zu tun als in der Nil schlucht.« Sie richtete sich auf und packte die Fotos zusammen. »Sie
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haben recht. Manchmal lasse ich mich von meiner Begeiste rung hinreißen.« Sie stand auf. »Bevor wir fahren, darf ich noch einmal zu Hause anrufen?« »Mit Zu Hause meinen Sie Kairo?« »Verzeihen Sie, ja, Kairo. Duraids Familie –« »Aber bitte! Das ist doch selbstverständlich. Dort ist das Te lefon. Ich warte unten in der Küche, bis Sie mit Ihren Ver wandten gesprochen haben. Wir beide brauchen eine Tasse Tee, bevor wir starten.« Nach einer halben Stunde kam sie herunter in die Küche und sagte: »Offen gestanden fürchte ich, ich werde Ihnen wieder Ungelegenheiten bereiten.« »Spucken Sie es aus«, forderte er sie auf. »Ich muß noch einmal nach Hause – nach Kairo«, sagte sie. Er sah sie bestürzt an. »Nur für ein paar Tage«, suchte sie ihn zu beruhigen. »Ich habe mit Duraids Bruder gesprochen. Duraid hat noch einiges hinterlassen, was nur ich erledigen kann.« »Ich möchte Sie nicht allein nach Kairo fliegen lassen«, sag te er kopfschüttelnd, »nach Ihren letzten Erfahrungen.« »Wenn Sie recht haben und die Gefahr bei Nahoot Guddabi liegt, dann gibt es nichts zu fürchten. Der ist jetzt in Äthiopi en.« »Trotzdem gefällt es mir nicht. Sie sind der Schlüssel zu den Geheimnissen Taitas.« »Herzlichen Dank«, sagte sie mit gespielter Empörung. »Ist das der einzige Grund dafür, daß sie um mein Leben fürch ten?« »Wenn Sie mich so in die Ecke treiben, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zuzugeben, daß ich mich sehr daran gewöhnt habe, mit Ihnen zusammenzusein.« »Es wird nicht lange dauern, und wenn ich zurückkomme, werden Sie meine Abwesenheit kaum bemerkt haben. Im übri gen haben Sie bis dahin genug zu tun.«
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»Offenbar kann ich Sie nicht aufhalten«, brummte er. »Wann wollen Sie abreisen?« »Das nächste Flugzeug startet heute abend um acht Uhr.« »Etwas plötzlich. Wir sind doch gerade erst angekommen.« Auch dieser letzte schwache Versuch nützte nichts, und er mußte nachgeben. »Ich werde Sie zum Flugzeug bringen.« »Nein, Nicky. Es wäre ein Umweg für Sie, wenn Sie über Heathrow fahren wollten. Ich nehme die Bahn.« »Das kommt gar nicht in Frage.« An diesem Montag abend wurden sie nicht mehr durch den Berufsverkehrt behindert, sondern kamen, nachdem sie die Stadt verlassen hatten, gut voran. Auf der Fahrt gab er ihr einen kurzen Bericht über die Telefongespräche, die er in ihrer Ab wesenheit geführt hatte. »Ich hoffe, durch Maryam Kidane schon bald die Verbin dung zu Mek Nimmur aufnehmen zu können. Mek ist der Dreh- und Angelpunkt unseres ganzen Plans. Ohne ihn können wir nicht einmal den ersten Zug auf Taitas Baobrett machen.« Er setzte sie vor dem Eingang zur Abflughalle in Heathrow ab. »Rufen Sie mich morgen früh von Kairo aus an, damit ich weiß, daß alles in Ordnung ist, und sagen Sie mir, wann Sie zurückkommen werden. Ich werde in meiner Wohnung sein.« »Auf Ihre Kosten«, warnte sie ihn und hielt ihm die Wange zum Abschiedskuß hin. Dann stieg sie aus und schlug die Tür hinter sich zu. Beim Abfahren sah er im Rückspiegel, wie sie allein und verlassen zum Eingang des Gebäudes ging. Diese, wenn auch nur vorübergehende Trennung von ihr fiel ihm schwer. Doch plötzlich überkam ihn eine unerklärliche Unruhe. Irgendwie begannen die Glocken seines inneren Frühwarnsystems zu läu ten. Sie sagten ihm, daß sie in Ägypten in eine außerordentlich gefährliche Situation geraten könnte. Irgendeine gefährliche Bestie war aus ihrem Käfig entwichen und wartete in der Dun
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kelheit auf die Gelegenheit, sich auf ihr Opfer zu stürzen, aber es war noch zu früh, die Gestalt oder Farbe dieses Ungetüms zu erkennen. »Ich bitte dich, laß ihr nichts geschehen«, sagte er laut, wuß te aber nicht, an wen er diese Bitte richtete. Er dachte kurz dar an, umzukehren, um ihr diese Reise auszureden, aber er hatte kein Recht dazu und wußte, daß sie ihm nicht folgen würde. Er hätte sie nur mit physischer Gewalt aufhalten können, und so mußte er sie gehen lassen. Aber es gefällt mir nicht, es gefällt mir gar nicht, dachte er. Seine Privatsekretärin und die anderen Mitarbeiter wußten genau, was er von ihnen verlangte, und sie hatten in jeder Be ziehung seinen Wünschen entsprochen. Gotthold von Schiller sah sich zufrieden in der Nissenhütte um. Helm hatte sich gro ße Mühe gegeben, das Basislager vor Eintreffen seines Chefs nach dessen Vorstellungen einzurichten. Sein Privatquartier nahm die Hälfte des langen transporta blen Gebäudes ein. Es war spartanisch, aber makellos sauber und aufgeräumt. Seine Anzüge hingen im Schrank, und seine Kosmetika und Medikamente waren in einem Schränkchen im Badezimmer untergebracht. In seiner persönlichen Küche ver fügte der chinesische Koch über alle notwendigen Gerätschaf ten und Vorräte. Der Koch hatte ihn auf dem Flug hierher be gleitet und alles mitgebracht, was er für die Zubereitung der Mahlzeiten brauchte, die den Wünschen seines Herrn entspra chen. Schiller war Vegetarier, Nichtraucher und Antialkoholiker. Vor zwanzig Jahren war er ein bekannter Feinschmecker gewe sen, der die herzhaften Gerichte des heimatlichen Schwarzwaldes, den Rheinwein und den starken, dunklen, kubanischen Tabak schätzte. Damals war er wohlbeleibt gewesen und hatte ein fülliges Doppelkinn gehabt. Jetzt war er trotz seines Alters schlank, sportlich und vital wie ein schneller Windhund.
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Im Herbst seines Lebens beschäftigten ihn die geistigen und emotionalen Freuden mehr als das, was ihm auf physischer Ebene geboten werden konnte. Ihm bedeuteten unbelebte Ge genstände mehr als jedes menschliche oder tierische Lebewe sen. Ein vor Tausenden von Jahren von einem Steinmetz be hauener Stein erregte ihn mehr als der zarte warme Körper der schönsten jungen Frau. Er verlangte Ordnung und Gehorsam. Menschen und Ereignisse beherrschen zu können, war ihm wichtiger als der Genuß ausgesuchter Speisen. Macht und der Besitz schöner und einzigartiger Gegenstände waren jetzt seine Leidenschaften, da seine Kräfte schwanden und alles körperli che seinen Reiz für ihn verloren hatte. Jeder Gegenstand in seiner umfangreichen und kostbaren Sammlung alter Schätze war von anderen Männer entdeckt worden. Jetzt hatte er die Chance, die letzte Chance, selbst eine Entdeckung zu machen, die Siegel zum Eingang eines Pharao nengrabes zu lösen und der erste Mensch zu sein, der nach viertausend Jahren die dort ruhenden Schätze in Augenschein nehmen konnte. Vielleicht war das seine wirkliche Hoffnung auf Unsterblichkeit, und es gab keinen Preis in Gold und Men schenleben, den dafür zu bezahlen er nicht bereit gewesen wä re. Es waren schon Menschen für seine Leidenschaften gestor ben, und es kümmerte ihn nicht, daß auch noch andere Opfer gebracht werden müßten. Kein Preis war ihm zu hoch. Er betrachtete sich in dem vom Boden bis zur Decke rei chenden Spiegel an der Wand gegenüber seinem Bett und glät tete sein dichtes, krauses schwarzes Haar. Natürlich war es gefärbt, aber das war eine seiner wenigen persönlichen Eitel keiten. Dann durchquerte er den Raum auf dem hölzernen Fuß boden und öffnete die Tür zu einem geräumigen Konferenz zimmer, das in den nächsten Tagen seine Befehlszentrale sein würde. Als er den Raum betrat, sprangen die anwesenden Personen
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auf und nahmen eine deutlich unterwürfige Haltung ein. Schil ler ging ans Kopfende des langen Tisches und stieg auf ein mit einem Teppich bedecktes, hölzernes Podest, das seine Sekretä rin für ihn hingestellt hatte. Dieser Gegenstand begleitete ihn überallhin. Es war dreiundzwanzig Zentimeter hoch, und von hier aus konnte Schiller auf die Männer und Frauen hinunter sehen, die nun auf seine Anweisungen warteten. Er sah sich die Versammlung in aller Ruhe an und ließ sie eine Zeitlang ste hen. Auf dem Podest stehend, überragte er sie alle. Zuerst richtete er seinen Blick auf Helm. Der Texaner arbei tete seit mehr als zehn Jahren für ihn. Er konnte sich auf diesen körperlich starken und energischen Mann verlassen, der jeden seiner Befehle ohne irgendwelche Fragen oder Skrupel ausfüh ren würde. Schiller konnte diesem Mann vertrauen. Er konnte ihn an jeden beliebigen Ort auf dieser Welt schicken, von Zaire bis Queensland, vom Polarkreis bis zu den feuchtheißen Ur wäldern am Äquator, und Helm würde jede Aufgabe wider spruchslos erledigen, ohne daß es für Schiller unangenehme Folgen hatte. Er war rücksichtslos, aber diskret, und wie ein guter Jagdhund kannte er seinen Herrn. Er wandte den prüfenden Blick von Helm ab und sah zu der Frau hinüber. Utte Kemper war seine Privatsekretärin. Sie re gelte seinen Lebensablauf in allen Einzelheiten, von der Ernäh rung bis zu seinem Podest, von den Medikamenten bis zum Terminkalender, und jede Verabredung mit ihm mußte von ihr vermittelt werden. Zudem war sie verantwortlich für das Funk tionieren eines komplexen Kommunikationssystems. Die dafür benötigte elektronische Ausrüstung nahm eine ganze Wand ein und wurde nur von ihr bedient. Mit dem unfehlbaren Instinkt einer Brieftaube stellte sie jede gewünschte Verbindung her. Er kannte keinen Mann und keine Frau, die den Umgang mit Schalttafeln und dem Morsealphabet zur Herstellung und Un terbrechung von Nachrichtenübermittlungen so beherrschten
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wie sie. Mit vierzig Jahren war sie in dem Alter, in dem eine Frau den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hat. Die schlanke Blondine mit den schräggestellten grünen Augen und hohen Wangenknochen glich irgendwie der jungen Marlene Dietrich. Schillers Frau Ingemar war seit zwanzig Jahren leidend, und Utte Kemper füllte nun die Lücke aus, die in seinem Leben entstanden war. Für ihn war sie mehr als eine Ehefrau oder Sekretärin. Als er sie kennenlernte, war Utte die Leiterin der technischen Abteilung des deutschen Telekommunikationsnetzes und arbei tete nebenher als Schauspielerin in pornographischen Filmen, und zwar nicht nur um des zusätzlichen Verdienstes willen, sondern weil ihr diese Arbeit ein besonderes Vergnügen berei tete. Die Videofilme, die damals von ihr aufgenommen worden waren, gehörten neben seiner Sammlung ägyptischer Antiqui täten zu den Dingen, auf deren Besitz Schiller den größten Wert legte. Ebenso wie Helm kannte sie keine Skrupel. Es gab nichts, was sie nicht für ihn tun oder sich von ihm antun lassen würde, um seine bizarrsten Phantasien zu befriedigen. Wenn er sich die Videofilme vorführen ließ und sie mit ihm das tat, was sie auf diesen Filmen vorführte, war sie die einzige Frau, die bei ihm noch einen Orgasmus auslösen konnte. Doch das ge schah mit jedem Monat, der verging, immer seltener, und je desmal war die sexuelle Erregung, in die sie den alten Mann versetzen konnte, weniger intensiv. Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, mit dem Tonaufnahme gerät, das vor ihr auf dem Tisch stand, den Verlauf der Sitzung und jedes Wort, das dabei gesprochen wurde, genau und voll ständig aufzuzeichnen. Nun wandte Schiller seine Aufmerk samkeit den beiden anderen Männern zu, die neben diesen in jeder Hinsicht zuverlässigen Mitarbeitern am Tisch standen. Oberst Nogo war er an diesem Morgen zum ersten Mal be
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gegnet, als er aus dem Jet Ranger ausstieg, mit dem er von Adis Abeba zum Basislager über der Nilschlucht geflogen war. Außer der Tatsache, daß Helm ihn angeworben hatte, wußte er nur wenig von ihm, war jedoch mit seinen bisherigen Leistun gen zufrieden. Er hatte aber auch seine Zweifel, denn Nogo hatte Quenton-Harper und die ägyptische Frau entkommen lassen. Nachdem er fast sein ganzes Leben in Afrika tätig ge wesen war, hatte Schiller nur wenig Vertrauen zu Schwarzen und zog es vor, mit Europäern zu arbeiten. Er war sich jedoch der Tatsache bewußt, daß er gegenwärtig nicht auf die Dienste von Nogo verzichten konnte. Schließlich war er der Militärbe fehlshaber des südlichen Gojam. Sobald er seinen Zweck er füllt hatte, würde man ihn schon loswerden können, dafür wür de Helm sorgen. Er selbst würde sich um die Einzelheiten nicht kümmern müssen. Nun richtete sich Schillers Blick auf den letzten vor ihm am Tisch stehenden Mann, auf dessen Dienste er jetzt auch nicht verzichten konnte. Durch Nahoot Guddabi hatte er von der Existenz der siebenten Schriftrolle erfahren. Augenscheinlich hatte ein englischer Verfasser einen Roman über die Schriftrol len geschrieben, aber Schiller las keine Romane, weder in deutscher noch in irgendeiner anderen der vier Fremdsprachen, die er beherrschte. Wenn Nahoot ihn nicht auf die Schriftrollen Taitas aufmerksam gemacht hätte, hätte er vielleicht nie etwas von dieser einmaligen Gelegenheit erfahren. Der Ägypter war zu ihm gekommen, nachdem Duraid Al Simma die Schriftrollen entziffert und übersetzt hatte und man annehmen durfte, daß es einen bisher unbekannten Pharao ge geben hatte, dessen Grabkammer noch nicht entdeckt worden war. Seither waren er und Nahoot ständig in Verbindung ge blieben, und als Al Simma und seine Frau bei ihren Forschun gen ein gutes Stück vorangekommen waren, hatte Schiller Na hoot beauftragt, sie auszuschalten und ihm die siebente Schrift
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rolle zu bringen. Jetzt war die Schriftrolle das Glanzstück seiner Sammlung. Sie lag ebenso wie andere wertvolle Antiquitäten in den Stahl tresoren unter seinem Schloß in den Bergen, seinem privaten Adlerhorst. Trotzdem war es falsch gewesen, Nahoot mit dem Ausschal ten von Al Simma und seiner Frau zu beauftragen. Das wäre eigentlich die Aufgabe eines Berufskillers gewesen, aber Na hoot hatte behauptet, es werde ihm gelingen, und er war für die mißlungenen Attentatsversuche gut bezahlt worden. Auch er selbst würde zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschaltet werden müssen, aber jetzt brauchte Schiller ihn noch. Fraglos verstand Nahoot mehr von Ägyptologie und Hiero glyphen als Schiller. Schließlich hatte er sich ein Leben lang mit diesem Wissensgebiet beschäftigt, während Schiller ein Dilettant war, der erst vor nicht allzulanger Zeit angefangen hatte, sich für das ägyptische Altertum zu interessieren. Nahoot konnte die Schriftrollen und dieses neue Material, das ihnen jetzt in die Hände gefallen war, lesen, als seien es Briefe eines Freundes, während Schiller lange brauchte, um jedes einzelne Symbol richtig zu deuten, und dazu oft seine Fachbücher he ranziehen mußte. Aber auch dann konnte er die vielen in den Texten verborgenen Feinheiten nicht erkennen. Ohne die Hilfe von Nahoot konnte er nicht hoffen, die Rätsel zu lösen, vor die er bei seiner Suche nach der Grabkammer des Pharao Mamose gestellt wurde. Das also war das Team, das sich jetzt vor ihm versammelt hatte und auf den Beginn der Sitzung wartete. »Bitte setzen Sie sich, Fräulein Kemper«, sagte er schließlich. »Auch Sie, meine Herren. Fangen wir an.« Schiller blieb auf seinem Podest am Kopfende des Tisches stehen. Er genoß das Gefühl der Überlegenheit, das er in dieser erhöhten Position spürte. Aufgrund seiner geringen Körpergrö
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ße hatte er viele Demütigungen über sich ergehen lassen müs sen, und schon als Schüler hatten seine Altersgenossen ihm den Spitznamen »Pippa« gegeben. »Fräulein Kemper wird alles aufzeichnen, was heute nach mittag hier gesagt wird. Außerdem wird sie jedem von Ihnen eine Mappe mit Dokumenten geben, die Sie ihr nach Ende die ser Sitzung zurückgeben werden. Ich möchte sie besonders darauf aufmerksam machen, daß nichts von diesem Material diesen Raum verlassen darf. Es ist absolut vertraulich zu be handeln und gehört nur mir. Jeder Verstoß gegen diese Anwei sung wird strengstens geahndet werden.« Während Utte die Mappen verteilte, sah sich Schiller die Empfänger einen nach dem anderen prüfend an. Sein Blick zeigte deutlich, mit welcher Bestrafung jeder rechnen mußte, der seine Anweisungen nicht befolgte. Dann schlug Schiller die vor ihm liegende Mappe auf und beugte sich, während er sich mit geballten Fäusten auf den Tisch stützte, über sie. »In ihren Mappen werden Sie Abzüge von den Polaroidfotos finden, die im Camp von Quenton-Harper sichergestellt wur den. Bitte sehen Sie sich die Fotos jetzt an.« Alle Anwesenden schlugen ihre Mappen auf. »Seit unserem Eintreffen hier hat Dr. Nahoot die Gelegen heit gehabt, diese Fotos zu prüfen, und er hält sie für echt und glaubt, die auf den Aufnahmen gezeigte Stele sei ein altägypti sches Artefakt, höchstwahrscheinlich aus der Periode des zwei ten Zwischenreichs um das Jahr 1790 v. Chr. Möchten Sie dazu noch etwas sagen, Doktor?« »Vielen Dank, Herr von Schiller.« Nahoot lächelte unterwür fig, aber der Blick seiner dunklen Augen wirkte nervös. Der alte Deutsche hatte etwas Kaltes und Leidenschaftsloses an sich, das ihm Furcht einflößte. Als er Nahoot seinerzeit befoh len hatte, den Tod von Duraid Al Simma und seiner Frau zu
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arrangieren, hatte er das getan, ohne die geringsten Emotionen zu zeigen. Nahoot wußte, er würde ebenso ungerührt auch sei ne, Nahoots, Ermordung anordnen. Er wußte genau, daß er einem Mann von der Kaltblütigkeit und Grausamkeit eines Tigers ausgeliefert war. »Ich möchte hinsichtlich dessen, was ich gesagt habe, eine gewisse Einschränkung machen. Ich sag te, die auf diesen Abzügen gezeigte Stele scheint echt zu sein. Endgültig könnte ich das nur beurteilen, wenn ich die Mög lichkeit hätte, das Original zu prüfen.« »Diesen Vorbehalt muß ich anerkennen«, nickte Schiller, »und wir sind hier zusammengekommen, um eine Möglichkeit zu finden, uns diese Stele zu verschaffen, damit Sie sie prüfen und Ihr Urteil abgeben können.« Er nahm den Abzug, den Utte am Vormittag in ihrer Dunkelkammer in der Nachbarhütte von einem der Polaroidfotos gemacht hatte, in die Hand. Sie war eine talentierte Fotografin und Laborantin, und die Aufnahmen, die Helm ihm nach Hamburg geschickt hatte, waren unscharf und verzerrt gewesen, hatten ihn aber doch veranlaßt, sich so fort auf die Reise nach Äthiopien zu machen. Der Anblick der neuen Farbaufnahmen erregte ihn so sehr, daß es ihm fast den Atem nahm. Während seine Mitarbeiter schweigend an ihren Plätzen standen, streichelte er zärtlich die glatte Oberfläche des Fotos, als sei es der Gegenstand, den es darstellte. Wenn es, wie er instinktiv erkannte, echt war, dann war es den hohen Preis an Zeit, Geld und menschlichem Leben wert, den er bisher hatte zahlen müssen. Dieses wunderbare Kunstwerk war mindestens ebenso wertvoll wie die siebente Schriftrolle, die er bereits seiner Sammlung einverleibt hatte. Es war erstaunlich, daß sich die Stele über die Jahrtausende in einem so guten Zustand er halten hatte. In seinem langen Leben hatte es nur wenige Dinge gegeben, deren Besitz ihm so viel bedeutete. Nur mit Mühe konnte er dieses Verlangen zunächst zurückstellen, um sich
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den unmittelbar vor ihm liegenden Aufgaben zuzuwenden. »Wenn die Stele jedoch echt ist, Doktor, können Sie uns sa gen oder einen Hinweis darauf geben, wo sie sich befindet und wo wir danach suchen müssen?« »Ich glaube, wir sollten unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf die Stele richten, Herr von Schiller, sondern auch die ande ren Polaroidaufnahmen ansehen, die Oberst Nogo uns besorgt hat und die von Fräulein Kemper so hervorragend vergrößert worden sind.« Nahoot legte die Aufnahme zur Seite und nahm eine zweite aus seiner Mappe. »Da ist zum Beispiel dieses Fo to.« Auch die anderen nahmen das Foto, das er ihnen zeigte, aus ihren Mappen und sahen es sich an. »Im Hintergrund dieser Aufnahme sehen sie im Schatten hinter der Stele eine Fläche, die aussieht wie die Wand irgend einer Höhle.« Er blickte zu Schiller auf, der ihm ermutigend zunickte. »Dort befindet sich scheinbar auch ein vergitterter Eingang.« Nahoot legte das Foto beiseite und nahm ein weite res heraus. »Nun sehen Sie hier. Das ist die Aufnahme von einem anderen Gegenstand. Es ist, wie ich glaube, ein dekora tives Wandgemälde auf einer verputzten Wand oder der Fels wand einer Höhle, möglicherweise eines Höhlengrabes. Das Foto scheint durch das Gitter eines Eingangs aufgenommen worden zu sein, auf das ich Sie bei der ersten Aufnahme von der Stele aufmerksam gemacht habe. Dem Stil nach ist es höchstwahrscheinlich ein ägyptisches oder vom ägyptischen Malstil beeinflußtes Wandgemälde. Es erinnert mich sehr stark an die Wandgemälde in der Grabkammer der Königin Lostris in Oberägypten, in der die Schriftrollen Taitas entdeckt wur den.« »Ja, ja. Sprechen Sie weiter!« sagte Schiller. »Nun gut. Ausgehend von der Tatsache, daß wir auf diesen Fotos mehrfach auf den vergitterten Durchgang stoßen, dürfen
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wir annehmen, daß sich sowohl die Stele als auch die Wand gemälde in der gleichen Höhle oder Grabkammer befinden.« »Wenn das so ist, woraus dürfen wir schließen, wo QuentonHarper diese Polaroidaufnahmen gemacht hat?« fragte Schiller, während er die Aufnahmen noch einmal genauer betrachtete. Als er aufblickte, versuchte jeder, sich seinem durchdringenden Blick zu entziehen. »Oberst Nogo«, sagte Schiller schließlich, »dies ist Ihr Land. Sie kennen diese Gegend ganz genau. Lassen Sie uns hören, was Sie über diese Frage denken.« Oberst Nogo schüttelte den Kopf. »Dieser Mann, dieser Ägypter –« und er verwendete dieses Attribut in deutlich ge ringschätzigem Ton, »irrt sich. Die Fotos zeigen keine ägypti sche Grabkammer.« »Womit wollen Sie das begründen?« fuhr Nahoot böse auf. »Was verstehen Sie schon von Ägyptologie? Ich habe zwanzig Jahre damit zugebracht –« »Warten Sie«, unterbrach ihn Schiller. »Lassen Sie ihn zu Ende reden.« Er sah Nogo an und sagte: »Sprechen Sie weiter, Oberst.« »Ich gebe zu, daß ich nichts von ägyptischen Grabkammern verstehe, aber diese Fotos wurden in einer christlichen Kirche aufgenommen.« »Woher wissen Sie das so genau?« fragte Nahoot, der sich darüber ärgerte, daß seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wurde. »Lassen Sie mich erklären, daß ich vor fünfzehn Jahren zum Priester geweiht worden bin. Vom Christentum, aber auch von allen anderen Religionen enttäuscht, habe ich einige Zeit später die Kirche verlassen und bin Soldat geworden. Ich sage Ihnen dies, um Sie davon zu überzeugen, daß ich weiß, wovon ich rede.« Er sah mit einem spöttischen Lächeln zu Nahoot hinüber und fuhr dann fort. »Sehen Sie sich noch einmal das erste Foto
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an. Auf der Wand im Hintergrund neben der Ecke des vergit terten Durchgangs werden Sie die Umrisse einer menschlichen Hand und die stilisierte Form eines Fisches entdecken. Das sind die Symbole der koptischen Kirche. Sie werden sie in je der Kirche oder Kathedrale im ganzen Land finden.« Alle Anwesenden sahen sich die erste Aufnahme noch ein mal an, aber keiner wagte es, etwas dazu zu sagen, bevor Schil ler seine Meinung geäußert hatte. »Sie haben recht«, erklärte Schiller. »Man sieht dort, wie Sie sagen, die Hand und den Fisch.« »Aber ich versichere Ihnen, die Hieroglyphen auf der Stele, die Wandgemälde und der hölzerne Sarg sind ägyptischen Ur sprungs«, verteidigte sich Nahoot energisch. »Ich würde mich dafür totschlagen lassen.« Nogo schüttelte den Kopf und widersprach. »Ich weiß, was ich sage –« Schiller hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und überlegte sich die Sache noch einmal. Dann faßte er seinen Entschluß. »Oberst Nogo, zeigen Sie mir auf dem Satellitenfoto die Stelle, an der Quenton-Harper sein Camp eingerichtet hatte, aus dem Sie diese Polaroidaufnahmen besorgt haben.« Nogo stand auf, ging um den Tisch herum und stellte sich neben Schiller. Er beugte sich über das Satellitenfoto und legte seinen Finger auf die Stelle, wo der Dandera-Fluß in den Nil mündet. Das Foto hatte Quenton-Harper gehört und war ihm bei dem Überfall auf sein Camp gestohlen worden. Darauf hat te der Engländer, wie Nogo annahm, einige Stellen mit Farb stift gekennzeichnet. »Es war hier, Sir. Sie sehen, daß Quenton-Harper diesen Punkt mit einem grünen Kreis markiert hat.« »Nun zeigen Sie mir, wo die nächste koptische Kirche liegt.« »Nun, Herr von Schiller, sie liegt hier, nur anderthalb Kilo
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meter von dem Camp entfernt. Quenton-Harper hat sie mit ro ter Tinte gekennzeichnet. Es ist das Kloster des heiligen Fru mentius.« »Da haben Sie Ihre Antwort.« Schiller runzelte die Stirn. »Koptische und ägyptische Symbole nebeneinander. Das Klo ster.« Alles starrte ihn an, und niemand wagte es, ihm zu wider sprechen. »Das Kloster muß durchsucht werden«, sagte er leise. »Da bei ist jeder einzelne Raum und jeder Zoll an den Wänden zu prüfen.« Er wandte sich wieder an Nogo. »Können Sie mit Ih ren Männern in das Kloster eindringen?« »Selbstverständlich, Herr von Schiller. Ich habe bereits einen zuverlässigen Mann im Kloster – einer der Mönche wird von mir bezahlt. Zudem gilt hier im Gojam noch das Kriegsrecht. Ich bin der militärische Befehlshaber. Ich bin berechtigt, über all nach Rebellen, Dissidenten und Banditen zu suchen, wo sie sich versteckt haben könnten.« »Werden Ihre Männer auch in eine Kirche eindringen, um ihre Pflicht zu erfüllen?« wollte Helm wissen. »Haben Sie selbst vielleicht irgendwelche religiösen Skrupel? Es konnte notwendig werden – wie soll ich das ausdrücken –, einen heili gen Raum zu entweihen.« »Ich habe schon gesagt, daß ich mich von der Religion ab gewandt habe und mich heute mehr für weltliche Dinge inter essiere. Es würde mir ein besonderes Vergnügen bereiten, ge fährliche Symbole des Aberglaubens zu zerstören, wie man sie mit Sicherheit im Kloster des heiligen Frumentius finden kann. Was nun meine Männer betrifft, so werde ich nur Moslems oder Animisten bei diesem Unternehmen einsetzen, die das christliche Kreuz und alles ablehnen, was es symbolisiert. Ich werde sie persönlich führen und versichere Ihnen, daß es keine Schwierigkeiten geben wird.«
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»Wie werden Sie das Ihren Vorgesetzten in Adis Abeba er klären? Ich will auf keinen Fall mit ihren Aktivitäten in dem Kloster in Verbindung gebracht werden«, sagte Schiller. »Das militärische Oberkommando in Adis Abeba hat mich beauftragt, rücksichtslos gegen die Rebellen vorzugehen, die in der Nilschlucht ihr Unwesen treiben. Also werde ich eine Durchsuchung des Klosters ohne weiteres rechtfertigen kön nen.« »Mir liegt vor allem etwas an der Stele. Ich will sie haben, und zwar ohne Rücksicht auf die Kosten. Haben Sie mich ver standen, Oberst?« »Ich verstehe Sie sehr gut, Herr von Schiller.« »Wie Sie wissen, bin ich sehr großzügig gegenüber jedem, der bereit ist, meine Wünsche zu erfüllen. Bringen Sie mir die Stele in unversehrtem Zustand, und ich werde Sie reichlich dafür belohnen. Wenn notwendig, können Sie die Hilfe von Mr. Helm in Anspruch nehmen, und auch Pegasus wird Ihnen mit seinem Material und seinen Leuten zur Verfügung stehen.« »Wenn wir Ihren Hubschrauber dabei benutzen können, werden wir viel Zeit sparen. Ich kann schon morgen mit mei nen Leuten dort sein, und wenn der Stein im Kloster ist, werde ich ihn morgen abend bei Ihnen abliefern.« »Ausgezeichnet. Dr. Guddabi wird Sie begleiten. Er wird im Kloster auch nach anderen Kunstschätzen suchen und alle In schriften übersetzen, die Sie dort finden. Besorgen Sie eine Uniform für ihn. Die Mönche sollen ihn für einen Ihrer Solda ten halten. Ich möchte nicht, daß man mich später beschuldigt, irgendwie gegen das Gesetz verstoßen zu haben.« »Wir werden morgen früh bei Tagesanbruch aufbrechen. Ich werde sofort mit den Vorbereitungen beginnen.« Mit militäri schem Gruß meldete sich Nogo bei Schiller ab und verließ die Hütte.
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Obwohl Oberst Nogo noch nie im Seitenschiff oder im Al lerheiligsten der Klosterkirche gewesen war, hatte er das Klo ster des heiligen Frumentius schon oft besucht. Er war sich daher der Schwierigkeit der vor ihm liegenden Aufgabe voll bewußt und konnte sich vorstellen, wie die Mönche und die Gemeinde darauf reagieren würden, wenn er sich mit seinen Männern den Zugang in das Innere des Klosters erzwang. Er kannte zudem zahlreiche ähnliche, in die Felsen gehauene Ka thedralen in anderen Teilen des Landes. Er selbst war in der berühmten Kathedrale von Lalibelela geweiht worden und wußte daher, wie unübersichtlich das Gewirr der unterirdischen Gänge in einer solchen Kathedrale sein konnte. Er schätzte, daß er mindestens zwanzig Mann brauchen würde, um sich in den Besitz des Klosters zu bringen, es zu durchsuchen und sich gegen den empörten Widerstand des Abtes und seiner Mönche zu wehren. Deshalb sorgte er persönlich dafür, daß nur skrupel lose und ihm treuergebene Männer an dem Unternehmen betei ligt wurden. Zwei Stunden vor Morgengrauen ließ er sie im Innenhof des Pegasus-Camps antreten und gab ihnen im hellen Scheinwer ferlicht genaue Anweisungen bezüglich ihres Verhaltens bei dem geplanten Überfall. Um Mißverständnisse zu vermeiden, mußte am Schluß der Befehlsausgabe jeder Mann vortreten und noch einmal bestätigen, welche Aufgaben er dabei übernehmen sollte. Zuletzt wurden Waffen und Ausrüstung noch einmal genauestens überprüft. Nogo wußte genau, daß er, nachdem er den Engländer und die ägyptische Frau hatte entkommen lassen, das Mißtrauen von Schiller geweckt hatte, und machte sich keine Illusionen über die Konsequenzen eines weiteren Versagens. In der kur zen Zeit, seit er die Bekanntschaft mit Gotthold von Schiller gemacht hatte, fürchtete Nogo diesen Mann mehr als er, solan
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ge er noch ein gläubiger Christ und Priester gewesen war, Gott oder den Teufel gefürchtet hatte. Der Überfall auf das Kloster bot ihm nun die Gelegenheit, das Vertrauen dieses furchtein flößenden kleinen Deutschen wiederzugewinnen. Der Kampfhubschrauber stand bereit, der Pilot saß im Cock pit, er hatte die Motoren gestartet, und die Rotorblätter drehten sich langsam, aber die ganze Gruppe schwerbewaffneter Män ner hatte keinen Platz in der Maschine. Um sie alle zum Bereit stellungsraum an der Schlucht zu bringen, waren vier Flüge notwendig. Nogo und Nahoot Guddabi flogen schon beim er sten Mal mit. Der Hubschrauber setzte sie etwa fünf Kilometer vom Kloster entfernt auf einer Lichtung am Ufer des DanderaFlusses ab. An derselben Stelle hatten sie sich auch für den Überfall auf das Camp von Nicholas Quenton-Harper bereitge stellt. Der Landeplatz war so weit vom Kloster entfernt, daß das Motorengeräusch des Kampfhubschraubers die Mönche nicht beunruhigen konnte. Selbst wenn sie es hörten, waren sie, wie Nogo glaubte, so sehr an die häufigen Erkundungsflüge des Hubschraubers gewöhnt, daß sie sich dadurch nicht bedroht fühlen würden. Die Männer warteten im Dunkeln auf ihre Kameraden und durften während dieser Zeit weder sprechen noch rauchen. Als die letzten gelandet waren, ließ Nogo die Abteilung antreten und führte sie den Pfad neben dem Fluß entlang. Es waren für den Kampf im bewaldeten Gelände gut ausgebildete und durchtrainierte Soldaten, die nun sicher und zielbewußt durch die Nacht marschierten. Nur Nahoot war ein verweichlichter Städter, und schon nach dem ersten Kilometer fing er an zu jammern und bat um eine Ruhepause. Nogo lächelte nur hä misch, beachtete aber die kläglichen Hilferufe nicht, sondern marschierte an der Spitze seiner Männer ruhig weiter. Er war so früh aufgebrochen, daß er bei Tagesanbruch zur
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Zeit des Morgengebets im Kloster eintreffen würde. Die zum Kloster hinunterführende, steile Treppe überwanden sie im Laufschritt. Dabei achteten sie darauf, daß ihre Waffen und Ausrüstung beim Laufen keine unnötigen Geräusche verur sachten. Mit den Gummisohlen an ihren Fallschirmspringer stiefeln waren ihre Schritte auch auf dem gepflasterten Gang, der zu den leeren Mönchszellen zum Eingang der unterirdi schen Kathedrale führte, kaum zu hören. Aus dem Inneren der Kirche hörte man den von Trommeln begleiteten, monotonen liturgischen Gesang der Mönche, der zwischendurch von der hohen, klagenden Stimme des Abtes unterbrochen wurde, der den Gottesdienst leitete. Oberst Nogo blieb vor dem Eingang stehen und ließ seine Männer in Dop pelreihe hinter sich aufmarschieren. Dazu mußte er keine Be fehle mehr geben, denn bei seiner Vorbesprechung hatte er jede einzelne Phase des Überfalls genau erläutert. Er schaute sich noch einmal um und nickte dann seinem vorn stehenden Un teroffizier zu. Das Hauptschiff der Kirche war leer, denn die Mönche hat ten sich im Seitenschiff versammelt. Die Abteilung durchquer te das Hauptschiff und lief dann zu den offenstehenden Holztü ren des Seitenschiffs hinauf. Als er es betrat, folgten ihm die Männer in zwei Reihen und stellten sich an den Seitenwänden des Seitenschiffes auf. Hier brachten sie ihre schußbereiten Sturmgewehre mit aufgepflanzten Bajonetten in Anschlag und richteten sie auf die kniende Mönchsgemeinde. Das alles geschah so leise und schnell, daß einige Minuten vergingen, bevor die Mönche allmählich merkten, daß eine Gruppe von Fremden in den geweihten Raum eingedrungen war. Der liturgische Gesang und die Trommelwirbel verstummten, und die dunklen Gesichter wendeten sich besorgt den bewaffneten Männern zu. Nur der alte Abt Jali Hora war so vertieft in sein Gebet, daß er nicht wahrnahm, was um ihn her
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geschah, sondern weiter vor den Türen zum Allerheiligsten kniete und mit zitternder Stimme um sein Seelenheil flehte. In der nun entstandenen Stille marschierte Oberst Nogo durch die Mitte des Raumes nach vorn und stieß die vor ihm knienden Mönche mit Fußtritten zur Seite. Hinter Jali Hora angekommen, faßte er ihn an den mageren Schultern und warf ihn brutal auf den Boden. Seine vergoldete Krone rutschte von seinem weißhaarigen Kopf und rollte mit blechernem Klirren über die Steinfließen. Nogo ließ ihn ausgestreckt auf dem Boden liegen und drehte sich den in ihren weißen Gewändern vor ihm hockenden Mön chen zu. In amharischer Sprache herrschte er sie an: »Ich bin gekommen, um diese Kirche und die anderen Gebäude des Klosters zu durchsuchen, weil der Verdacht besteht, daß rebel lische Dissidenten und andere Banditen hier Zuflucht gefunden haben.« Er sah die vor ihm kauernden Mönche mit drohenden Blicken an und fuhr fort: »Ich muß Sie warnen. Jeder Versuch, meine Männer an der Erfüllung ihrer Pflicht zu hindern, wird als Rebellion und Provokation angesehen und mit Waffenge walt unterdrückt werden.« Jali Hora hatte sich inzwischen hingekniet und griff nun nach einem bestickten Wandteppich, um sich daran aufzurich ten. Stehend hielt er sich an dem Gobelin fest, auf dem die Jungfrau mit dem Kinde dargestellt war, und rief mit erstaun lich klarer und starker Stimme: »Dies ist ein geweihter Raum, und wir haben unser Leben dem Dienst und der Verehrung des allmächtigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, geweiht.« »Ruhe!« brüllte Nogo ihn an. Er löste die Schnalle des Pisto lenhalfters an seiner Hüfte und legte drohend die Hand auf den Griff der Tokarewpistole. Doch Jali Hora ließ sich nicht beeindrucken, sondern rief: »Wir sind heilige Männer in einem Gotteshaus. Hier gibt es
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keine Banditen und keine Gesetzesbrecher. Im Namen des Al lerhöchsten fordere ich Sie auf, gehen Sie und überlassen Sie uns unseren Gebeten und unserem Gottesdienst, und entweihen Sie nicht –« Nogo zog die Pistole aus dem Halfter und stieß dem Abt den stählernen Lauf der Pistole zwischen die Lippen, die sich öff neten wie die Schale eines reifen Granatapfels. Das Blut aus seinen verwundeten Lippen tropfte auf sein Meßgewand und färbte es rot. Durch die Reihen der vor ihm knienden Mönche ging ein entsetztes Stöhnen. Jali Hora hielt sich immer noch am Wandbehang fest, tau melte aber und konnte sich kaum noch auf den Füßen halten. Er öffnete den blutenden Mund, um etwas zu sagen, aber er konnte nur noch krächzen wie eine sterbende Krähe, während ihm das Blut von den Lippen tropfte. Nogo lachte und gab ihm einen Fußtritt, der ihn zu Boden stürzen ließ, wo er liegenblieb wie ein Häufchen schmutzige Wäsche. Aus seinem mit Blut und Speichel verschmierten Mund kam nur noch ein schwaches Gurgeln. »Wo ist dein Gott jetzt, du alter Pavian? Blöke zu ihm, so laut du kannst, er wird dir nicht antworten«, verhöhnte ihn No go. Mit der Pistole gab er seinem am Eingang stehenden Un teroffizier ein Zeichen. Sechs seiner Männer, vier am Eingang und je einer an einer Seitenwand, blieben zur Bewachung der Mönche zurück. Die anderen folgten ihm zu der Tür, die in das Allerheiligste führte. Sie war verschlossen. Nogo rüttelte ungeduldig an dem alten Schloß. »Aufschließen, du alte Krähe!« schrie er Jali Hora an, der stöhnend und schluchzend am Boden lag. »Der alte Kerl ist nicht mehr ganz bei sich.« Der Unteroffi zier schüttelte den Kopf. »Er kann nichts mehr begreifen, Herr Oberst, er hat den Befehl nicht verstanden.« »Also brechen Sie das Schloß auf«, befahl ihm Nogo. »Nein,
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keine Zeitverschwendung. Ein paar Schüsse werden genügen. Das Holz ist verfault.« Gehorsam kam der Unteroffizier zur Tür und winkte seine Männer beiseite. Dann zielte er mit seiner Maschinenpistole auf den Türsturz und gab einen Feuerstoß ab. Das Holz zersplitterte in einer Staubwolke, und die hellen Splitter fielen auf den Steinfußboden. Die Schüsse und die durch das Seitenschiff pfeifenden Querschläger erzeugten ei nen ohrenbetäubenden Lärm. Dazu jammerten und heulten die Mönche, die, am Boden kauernd, Ohren und Augen mit den Händen zu schützen suchten. Der Unteroffizier trat von der zerschossenen Tür zurück. Der schmiedeeiserne Türrahmen hing schräg in den Angeln, und die hölzerne Türfüllung zeigte große Risse. »Stoßen Sie die Tür jetzt auf!« befahl Nogo, und fünf seiner Männer liefen nach vorn und stemmten ihre Schultern gegen die schiefhängende Tür. Auf das knirschende und krachende Geräusch reagierten die Mönche mit lauten Schreien. Einige von ihnen verbargen ihre Gesichter unter den Hauben der Um hänge, um dieses Sakrileg nicht mitansehen zu müssen, andere kratzten sich die Wangen blutig. »Noch einmal!« brüllte Nogo, und seine Männer warfen sich gemeinsam mit den Schultern gegen die Tür. Dabei wurde das Türschloß aus der Verankerung gerissen, die schwere Holztür öffnete sich, und sie konnten nun in das Halbdunkel des Aller heiligsten blicken, in dem nur ein paar rauchende Öllampen brannten. Doch jetzt zögerten sogar die nichtchristlichen Angreifer, die Schwelle zu dem geweihten Raum zu überschreiten. Auch No go, der sich so stolz zu seinem Unglauben bekannt hatte, blieb stehen. »Nahoot!« rief er über die Schulter dem schwitzenden Ägyp ter zu, »das hier ist Ihre Aufgabe. Herr von Schiller hat Ihnen
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befohlen, nach den Dingen zu suchen, die er haben will. Kom men Sie her.« Nogo ergriff Nahoot am Arm und schob ihn durch die geöffnete Tür. »Hinein mit Ihnen, Sie Jünger des Propheten. Der dreieinige Gott der Christen kann Ihnen nichts anhaben.« Er folgte Nahoot ins Allerheiligste und leuchtete den niedri gen Raum mit seiner Stablampe aus. Der Lichtstrahl glitt über die Regale mit den Votivgaben und spiegelte sich in Glas und Edelsteinen, Messing, Gold und Silber. Er verhielt am hohen Altar aus Zedernholz, wo das Licht nun auf die Epiphaniaskro ne und Abendmahlskelche fiel und sich im silbernen Kommu nionsteller und dem hohen silbernen koptischen Kreuz spiegel te. »Hinter dem Altar«, rief Nahoot erregt. »Der vergitterte Durchgang! Hier sind die Polaroidfotos aufgenommen wor den.« Er ließ die anderen am Eingang stehen und lief durch den Raum. Dann ergriff er zwei Gitterstäbe mit den Händen und blickte in den Raum dahinter wie ein zu lebenslänglicher Haft verurteilter Gefangener. »Dies ist die Grabkammer. Bringen Sie das Licht hierher!« kreischte er. Nogo lief zu ihm hinüber, vorbei an dem unter einem Da masttuch verborgenen Tabernakelstein. Dann leuchtete er durch die Gitterstäbe in den dunklen Raum. »Bei der unendlichen Gnade Gottes und dem ewigen Atem seines Propheten«, flüsterte Nahoot, »das sind die Wandge mälde des alten ägyptischen Schreibers. Das ist die Arbeit des Sklaven Taita.« Ebenso wie Royan erkannte auch er sofort den Stil und die besondere Malweise Taitas. Diese Zeugnisse seiner Kunst hatten die Jahrtausende überdauert. »Öffnen Sie dieses Gitter!« verlangte Nahoot laut und unge duldig.
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»Hier, Männer!« rief Nogo. Sie kamen nach vorn und ver suchten zuerst, das Gitter mit bloßen Händen aus der Wand zu reißen. Es zeigte sich jedoch, daß das nicht möglich war, und deshalb schickte Nogo sie wieder fort. »Suchen Sie in den Unterkünften der Mönche nach geeigne ten Werkzeugen«, befahl er seinem Unteroffizier. Der Mann nahm die meisten Soldaten mit, und Nogo sah sich indessen das Innere des Allerheiligsten genauer an. »Die Stele!« rief er mit heiserer Stimme. »Herr von Schiller legt den größten Wert auf diesen Stein.« Er sah sich den Raum noch einmal im Licht seiner Stablaterne an. »Aus welchem Winkel wurde das Polaroidfoto aufgenommen –« Er unterbrach sich und beleuchtete den mit einem Damast tuch bedeckten Tabernakelstein, auf dem das Tabernakel in ein Samttuch gehüllt stand. »Ja«, rief Nahoot Nogo zu, der hinter ihm stand. »Das ist es.« Nogo kam mit wenigen Schritten zu ihm heran, griff nach der goldenen Bordüre des Tuchs und riß es herunter. Das Ta bernakel war ein einfacher Kasten aus Olivenholz, das die Spu ren ungezählter Priesterhände zeigte, die es im Lauf der Jahr tausende berührt hatten. »Primitiver Aberglaube«, murmelte Nogo verächtlich, hob den Kasten auf und warf ihn gegen die steinerne Wand der Höhle. Das Holz zersplitterte, und der Deckel des Kastens fiel herunter. Ein Stapel mit Inschriften versehener Tontafeln rutschte auf die Steinfliesen, aber weder Nogo noch Nahoot interessierten diese heiligen Reliquien. »Nehmen Sie das Tuch von dem Stein«, forderte Nahoot ihn auf. Nogo zerrte an einer Ecke des Damasttuchs, das sich jedoch an einer Kante der Säule verfing. Ungeduldig riß er mit aller Kraft daran, und der alte, morsche Stoff zerriß.
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Darunter zeigte sich nun Taitas steinernes Testament, die Stele mit den eingeritzten Schriftzeichen. Selbst Nogo war von dieser Entdeckung beeindruckt. Mit dem zerrissenen Tuch in der Hand, trat er einige Schritte zurück. »Das ist der Stein auf dem Foto, den zu finden uns Herr von Schiller befohlen hat«, flüsterte er. »Jetzt sind wir reich.« Sie hatten begriffen, welchen materiellen Nutzen ihnen diese Entdeckung bringen würde. Nahoot fiel vor der Stele auf die Knie und umfaßte sie mit beiden Armen wie eine Geliebte, auf die er schon lange gewartet hatte. Er schluchzte leise und war überrascht, daß auch Nogo die Tränen die Wangen hinunterlie fen. Nogo hatte nur an den Wert der Belohnung gedacht. Er hätte nie geglaubt, daß irgend jemand ein solches Verlangen nach einem toten Gegenstand haben könnte, nach etwas so Gewöhnlichem und Alltäglichem, wie es diese steinerne Säule war. Nahoot kniete immer noch wie anbetend vor der Stele, und Nogo stand schweigend hinter ihm, als der Unteroffizier in die Höhle zurückkam. Irgendwo hatte er eine rostige Hacke mit einem groben hölzernen Stiel gefunden. Beide Männer schraken aus ihren Träumen auf, und Nogo befahl ihm: »Brechen Sie das Gitter auf!« Obwohl das Gitter sehr alt und der hölzerne Rahmen schon morsch war, brauchten die Männer längere Zeit, bis sie die Verankerung aus der Felswand herausgerissen hatten. Doch schließlich neigte sich die schwere Tür nach vorn, die Männer sprangen zur Seite, sie fiel krachend auf die Fliesen, und eine rote Staubwolke verdunkelte das Licht der Kerzen und der elektrischen Stablampe. Nahoot betrat als erster die Grabkammer. Er lief durch die Staubwolke und kniete neben dem alten zerbrochenen Holzsarg auf den Boden. »Kommen Sie mit der Lampe«, rief er ungeduldig. Nogo
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stellte sich hinter ihn und beleuchtete den Sarg. Die Portraits des Mannes waren dreidimensional, und zwar nicht nur auf den Seitenbrettern, sondern auch auf dem Deckel. Offensichtlich waren sie das Werk desselben Künstlers, der die Wandgemälde gemalt hatte. Das Portrait darüber war noch sehr gut erhalten. Es zeigte einen Mann in der Blüte des Lebens mit dem energischen, stolzen Gesicht eines Bauern oder Soldaten, der den Betrachter mit ruhigem, gelassenem Blick anschaute. Es war ein gutaussehender Mann mit dicken blonden Zöpfen, die offenbar von einem Künstler gemalt worden waren, der ihn gut gekannt und geliebt hatte. Der Maler schien den Charakter seines Modells richtig erfaßt zu haben, um seine hervorstehen den guten Eigenschaften besonders zu betonen. Nahoot blickte auf die Inschrift an der Wand über dem Por trait und las sie laut vor. Mit Tränen in den Augen schaute er dann wieder auf den Sarg und las die Worte unter dem Portrait des blonden Generals. »Tanus, der Herr Harrab.« Seine Stimme stockte vor Erre gung, und er räusperte sich. »Dieser Text entspricht genau der Beschreibung in der siebenten Schriftrolle. Hier haben wir die Stele und den Sarg. Es sind großartige und unbezahlbare Schätze. Herr von Schiller wird entzückt sein.« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen glauben«, sagte Nogo, der noch gewisse Zweifel hatte. »Herr von Schiller ist ein gefährli cher Mann.« »Sie haben seine Anweisungen bisher doch genau befolgt«, sagte Nahoot, um ihn zu beruhigen. »Jetzt müssen Sie die Stele und den Sarg nur noch zum Landeplatz des Hubschraubers bringen, der sie zum Pegasus-Camp fliegen wird. Wenn Ihnen das gelingt, werden Sie ein reicher Mann sein, reicher, als Sie es je für möglich gehalten haben.« Diese Ermunterung genügte Nogo. Er beaufsichtigte seine Männer, als sie in einer Staubwolke die Steinplatten aus dem
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Pflaster um die Stele lösten und gemeinsam den Stein aus dem Fundament hoben, auf dem er seit fast viertausend Jahren ge standen hatte. Erst jetzt stellten sie fest, daß er etwa eine halbe Tonne wog. Nahoot ging zurück in das Seitenschiff und riß, ohne auf die dort hockenden Mönche zu achten, ein Dutzend der dicken wollenen Wandteppiche von den Wänden und ließ sie von den Soldaten in das Allerheiligste bringen. Er wickelte die Stele und den Sarg in den schweren, groben Wollstoffein. Er war so fest wie Leinen, und die Männer konn ten die Lasten bequem tragen. Zehn der kräftigsten Soldaten hoben die Stele auf und trugen sie hinaus, während drei Män ner genügten, den hölzernen Sarg und seinen mumifizierten Inhalt fortzubringen. So blieben sieben bewaffnete Soldaten übrig, ihren Abzug zu sichern. Sie trugen ihre schwere Last durch die aufgesprengte Tür des Allerheiligsten in das Seiten schiff, in dem sich die Mönche versammelt hatten. Als diese feststellten, was hinausgetragen wurde, fingen sie laut an zu jammern und zu protestieren. »Ruhe!« brüllte Nogo. »Bringt diese Narren zum Schwei gen.« Die zum Begleitschutz eingeteilten, bewaffneten Soldaten erzwangen den Durchgang für die geplünderten Schätze mit Fußtritten und Gewehrkolben und forderten die Mönche laut schreiend auf, den Weg freizumachen. Das Stimmengewirr wurde immer lauter, die Mönche ermutigten einander mit Pro testgeschrei und gerieten dabei in eine religiöse Ekstase. Einige von ihnen sprangen auf die Füße, obwohl ihnen befohlen wor den war, sitzen zu bleiben. Sie näherten sich den Bewaffneten und krallten sich in ihren Uniformen fest. Dabei wurde ihr Pro testgeschrei immer lauter und feindlicher. Mitten in diesem Durcheinander tauchte plötzlich die gei sterhafte Gestalt von Jali Hora auf. Sein Bart und seine Robe
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waren mit Blut beschmiert, und er starrte mit blutunterlaufe nen, irren Augen in die Menge. Die Mönche traten zur Seite, um ihn durchzulassen, und wie eine lebendige Vogelscheuche lief er, während sein langes Gewand um die dürren Beine flat terte, auf Oberst Nogo zu. »Zurück, du alter Idiot!« rief ihm Nogo zu und richtete sein Sturmgewehr auf ihn. Doch Jali Hora ließ sich durch nichts aufhalten, sondern stürmte weiter in das Bajonett, das Nogo auf seinen Bauch ge richtet hatte. Die scharfgeschliffene Spitze des Bajonetts bohrte sich durch seine Robe und in das Fleisch so leicht wie ein Fischha ken in einen zappelnden Fisch und kam, mit dem Blut des alten Mannes beschmiert, an dessen Rücken durch die Samtrobe wieder heraus. Der so aufgespießte Jali Hora krümmte und wand sich, öffnete die blutigen, zerfetzten Lippen und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Nogo versuchte, das Bajonett herauszuziehen, aber die Ein geweide des Abtes hielten die Klinge fest. Und als Nogo das Gewehr kräftiger zurückriß, wurde Jali Hora hin und her ge worfen wie eine Marionette, die mit schlenkernden Armen und zappelnden Beinen zum Vergnügen der Zuschauer einen lusti gen Tanz aufführt. Es gab nur eine Möglichkeit, die Klinge des Bajonetts wie der freizubekommen. Nogo stellte das Schloß des AK-47 Sturmgewehrs auf »Einzelfeuer« ein und drückte auf den Ab zug. Der Mündungsknall des Schusses wurde durch Jali Horas Körper gedämpft, war aber doch so laut, daß er die Mönche für einen Augenblick zum Schweigen brachte. Das Hochge schwindigkeitsgeschoß fuhr mit dreifacher Schallgeschwindig keit durch den Stichkanal der Klinge, und der so entstehende Druck ließ die Eingeweide des alten Mannes zu Brei werden
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und verflüssigte sein Fleisch. Durch den Schuß war das Bajo nett wieder freigeworden, und der tote Jali Hora wurde den Mönchen hinter ihm in die Arme geschleudert. Einen Augenblick lang währte die angespannte, unnatürliche Stille, doch dann ertönte ein lauter, durchdringender Schrek kensschrei aus den Kehlen der Mönche. Es war so, als seien sie von einem Geist und einem Instinkt beseelt. Wie eine Schar weißer Vögel stürzten sie sich auf die bewaffneten Männer in ihrer Mitte, um diesen Mord zu rächen. Ohne daran zu denken, daß sie sich selbst gefährden könnten, zerrten sie an ihnen, ver suchten ihnen die Augen auszukratzen und griffen nach den Sturmgewehren. Einige von ihnen faßten mit bloßen Händen nach den scharfgeschnittenen Bajonetten und schnitten sich dabei ins Fleisch und in die Sehnen. Kurze Zeit hatte es den Anschein, daß die Soldaten von den ihnen zahlenmäßig weit überlegenen Mönchen überwältigt werden könnten, aber dann setzten die Männer, die die Stele und den Sarg trugen, ihre Lasten ab und nahmen ihre Gewehre von den Schultern. Die Mönche waren ihnen so nahe gekommen, daß sie ihre Gewehre nicht frei nach allen Seiten bewegen konnten und sich gezwungen sahen, sich die Angreifer mit Bajonettstichen vom Leibe zu halten. Sie brauchten nicht viel Platz, denn das Sturmgewehr AK-47 hat einen kurzen Lauf und ist sofort schußbereit. Der erste Feuerstoß aus der automatischen Waffe war in Bauchhöhe auf die Mönche gerichtet und ließ eine Lük ke in dem Menschengewimmel entstehen. Jeder Schuß fand sein Ziel, und die Vollmantelgeschosse durchschlugen den er sten Mann, den sie trafen, und töteten den hinter ihm stehen den. Inzwischen feuerten alle Soldaten aus der Hüfte, sprangen vor und zurück und übergossen die Mönche mit ihrem Feuer wie Gärtner, die ein Blumenbeet mit einer Gießkanne begie
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ßen. Sobald ein Magazin mit achtundzwanzig Schuß leerge schossen war, wurde es aus der Halterung genommen, fortge worfen und durch ein geladenes ersetzt. Nahoot hockte hinter der am Boden liegenden Stele und benutzte sie als Schutz schild. Das laute Krachen des Gewehrfeuers dröhnte in seinen Ohren und verwirrte ihn. Er sah sich um und konnte nicht be greifen, wie es zu diesem Gemetzel gekommen war. Auf so kurze Entfernung hat ein Geschoß des Kalibers 7,62 eine furchtbare Wirkung und kann einen Arm oder ein Bein zer schmettern und abreißen wie ein Beilhieb. Wenn es den Unter leib trifft, kann es den Bauch aufreißen. Nahoot sah, wie einer der Mönche in die Stirn getroffen wurde. Aus seinem Schädel spritzten Blut und Hirnmasse. Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, lachte laut. Alle an diesem wahnsinnigen Abschlachten Beteiligten schienen den Verstand verloren zu haben. Wie eine Meute wilder Hunde, die ihre Beu te gestellt haben, schossen sie, luden ihre Waffen von neuem und schossen wieder. Die Mönche in den vorderen Reihen versuchten zu fliehen, wurden aber von den hinter ihnen stehenden Mitbrüdern daran gehindert. Sie rangen miteinander, heulten vor Schmerz und Angst, bis die Geschoßgarben sie töteten und verwundeten, und stürzten dann auf die am Boden liegenden Toten und Sterbenden. Der ganze Boden des Seitenschiffs war mit Toten und Verwundeten bedeckt. Bei dem Versuch, dem Geschoßhagel zu entkommen, hatten die Mönche den Ausgang blockiert, und nun richteten die in der Mitte des Raums stehenden Soldaten ihre Waffen auf diese eng zusammengedrängte Masse von Menschen. Während die Geschosse in sie einschlugen, schwankten sie hin und her wie Bäume im Sturm. Das Ge schrei war fast verstummt, und die einzigen Laute, die noch zu hören waren, waren die Feuerstöße aus den Gewehren. Nach wenigen Minuten verhallten die letzten Schüsse, und
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man hörte nur noch das Stöhnen und Wimmern der Verwunde ten. Es roch nach dem blauen Pulverdampf, der in dicken Schwaden durch den Raum zog. Selbst das Lachen der Solda ten verstummte, als sie sich umsahen und sich der Ungeheuer lichkeit des Blutvergießens bewußt wurden. Der ganze Boden war mit toten Mönchen in weißen blutbefleckten Umhängen bedeckt, und in den Blutlachen auf dem steinernen Pflaster lagen die leergeschossenen Patronenmagazine. »Feuer einstellen!« befahl Nogo erst jetzt. »Gewehre um hängen! Lasten aufnehmen! Vorwärts marsch!« Die Träger schulterten ihre Gewehre und bückten sich, um die in die wollenen Wandbehänge eingewickelten Lasten auf zunehmen. Dann stolperten sie durch die Blutlachen und über die am Boden liegenden Toten. Die Verwundeten, auf die sie traten, versuchten stöhnend, sich zur Seite zu wälzen oder rühr ten sich nicht mehr. In dem durchdringenden Geruch nach Pul verdampf, Blut und von Schüssen zerfetzten, menschlichen Eingeweiden stockte den Soldaten der Atem, und sie mußten gegen den Brechreiz ankämpfen, während sie sich dem Aus gang näherten. Als sie dort ankamen und die Stufen zum Hauptschiff der Kirche hinunterstiegen, sah Nahoot die Erleichterung auf den Gesichtern der kampferprobten Männer, die endlich dieses übelriechende Leichenhaus verlassen durften. Auch für Nahoot war es zuviel gewesen, sogar in seinen schlimmsten Alpträu men hatte er so etwas noch nie gesehen. Er torkelte gegen eine Seitenwand des Hauptschiffs und hielt sich an einem wollenen Wandteppich fest. Er atmete schwer und würgte bittere Gallenflüssigkeit aus. Er sah sich noch ein mal um und stellte fest, daß er allein war. Nur ein verwundeter Mönch schleppte sich über das Steinpflaster auf ihn zu. Ein Schuß ins Rückgrat hatte seine Beine gelähmt, die, während er sie hinter sich herschleifte, auf dem Boden eine blutigschleimi
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ge Spur hinterließen. Nahoot schrie auf, wich vor dem verwundeten Mönch zu rück, wirbelte herum, lief auf dem schmalen Pfad an den Mönchszellen über der Nilschlucht vorbei und folgte der Grup pe Soldaten, die ihre Lasten die Steintreppe hinauftrugen. Er war so erregt und verängstigt, daß er den sich nähernden Hub schrauber erst hörte, als dieser mit seinen silbrigglänzenden Rotorblättern unmittelbar über ihm schwebte. Gotthold von Schiller stand vor der Tür der Nissenhütte, und Utte Kemper wartete einen Schritt hinter ihm. Der Pilot hatte seine Ankunft schon während des Fluges über Funk angemel det, und so war alles bereit, die wertvolle Ladung in Empfang zu nehmen. Der Hubschrauber wirbelte während der Landung eine helle Staubwolke auf. Die lange, in den wollenen Wand behang eingewickelte Steinsäule hatte nicht in die Kabine ge paßt, und deshalb hatte man sie an die Landekufen der Maschi ne gebunden. Als der Hubschrauber aufsetzte und der Pilot die Maschine drosselte, befahl Jake Helm zwölf Männern, die Ny lonseile aufzuknüpfen und die Stele zur Hütte zu bringen. Helm folgte ihnen durch die Tür bis in den Konferenzraum. Der lange Tisch war inzwischen an die Wand gerückt wor den. Mit größter Vorsicht wurde die Stele in der Mitte des Raumes abgelegt, und einige Minuten später stand der Sarg des großen Löwen von Ägypten, Tanus, daneben. Helm schickte die Träger hinaus und verschloß die Tür hin ter ihnen. Jetzt waren sie nur noch zu viert. Nahoot und Helm knieten neben der Stele, bereit, die wollene Hülle zu entfernen. Schiller und Utte standen nebeneinander an einem Ende. »Sollen wir beginnen?« fragte Helm und blickte zu Schiller auf wie ein treuer Hund zu seinem Herrn. »Vorsichtig«, warnte ihn Schiller mit verhaltener Stimme. »Beschädigen Sie nichts.« Schweißtropfen glänzten auf seiner bleichen Stirn. Utte war, wie um ihn vor einem Unheil zu
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schützen, ganz nah an ihn herangerückt, aber er sah sie nicht an. Er starrte wie gebannt auf den zu seinen Füßen liegenden Schatz. Helm klappte sein Taschenmesser auf und durchschnitt die Nylonschnur, die die Hülle zusammenhielt. Schillers Atem beschleunigte sich, und er keuchte wie jemand, der an einem schweren Lungenemphysem leidet. »Ja«, flüsterte er mit rauher Stimme, »so muß es gemacht werden.« Utte Kemper sah ihm aufmerksam ins Gesicht. So verhielt er sich jedesmal, wenn er für seine Antiquitätensamm lung ein neues wertvolles Stück erworben hatte. Man hätte glauben können, er würde im nächsten Augenblick an einem Herzanfall zusammenbrechen, aber sie wußte, er hatte das Herz eines Ochsen. Helm öffnete am oberen Ende der Stele einen kleinen Schlitz in der Umhüllung. Dann steckte er die Klinge des Taschenmes sers in den Schlitz und ließ sie langsam zum unteren Ende glei ten, als öffnete er einen Reißverschluß. Die Klinge war rasier messerscharf, der Wollstoff rutschte zur Seite und gab die Stele mit den Hieroglyphen frei. Der Schweiß, der sich auf Schillers Gesicht gebildet hatte, tropfte von seinem Kinn auf seine Khakijacke. Er stöhnte leise, als er die in den Stein geritzten Hieroglyphen sah. Auch bei Utte steigerte sich die Erregung. Sie wußte, womit sie bei ei nem solchen Gefühlsausbruch rechnen mußte. »Sehen Sie hier, Herr von Schiller.« Nahoot kniete neben dem Obelisken und strich mit dem Finger über die Umrisse eines Falken mit gebrochenem Flügel. »Das ist das Siegel des Sklaven Taita.« »Ist das echt?« fragte Schiller mit der heiseren Stimme eines schwerkranken Mannes. »Es ist echt. Dafür würde ich mein Leben einsetzen.« »Und dazu könnte es auch kommen«, warnte ihn Schiller,
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dessen Augen wie zwei helle Saphire glänzten. »Diese Säule ist vor fast viertausend Jahren ausgemeißelt worden«, versicherte Nahoot. »Dies ist das echte Siegel des alten Schreibers.« Er übersetzte die darauf eingeritzten Hiero glyphen in geradezu feierlichem Ton: »›Anubis der Gott der Gräber mit dem Kopf eines Schakals hält in seinen Pfoten das Blut und die Eingeweide, die Knochen, die Lungen und das Herz, die meine einzelnen Teile sind. Er bewegt sie wie die Steine auf dem Baobrett, meine Glieder sind seine Zählmarken, mein Kopf ist der große Stier des langen Bretts‹ –« »Genug!« sagte Schiller. »Später werden wir Zeit haben, mehr zu hören. Gehen Sie jetzt. Lassen Sie mich allein. Kom men Sie erst zurück, wenn ich Sie rufen lasse.« Nahoot sah ihn verwirrt an und stand auf. Er hatte nicht ge glaubt, gerade jetzt, im Augenblick seines Triumphs, entlassen zu werden. Helm nickte ihm zu, und beide gingen rasch zur Tür der Hütte. »Helm«, rief Schiller ihm nach, »sorgen Sie dafür, daß mich niemand stört.« »Selbstverständlich, Herr von Schiller.« Er blickte fragend auf Utte Kemper. »Nein«, sagte Schiller. »Sie bleibt hier.« Die beiden Männer verließen den Raum, und Helm schloß die Tür hinter ihnen. Utte folgte ihm und drehte den Schlüssel um. Dann wandte sie sich um, blieb mit den Händen hinter dem Rücken an die Tür gelehnt stehen und sah Schiller an. Sie hatte sich gerade aufgerichtet, und ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter der dünnen Bluse ab. »Das Kostüm?« fragte sie. »Soll ich das Kostüm anziehen?« Ihre Stimme klang verkrampft und unnatürlich, aber sie genoß diese Situation ebensosehr wie er. »Ja, das Kostüm«, flüsterte er. Sie durchquerte den Raum und verschwand durch die Tür,
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die in seine Privatzimmer führte. Als sie gegangen war, fing Schiller an sich auszuziehen. Nach wenigen Sekunden stand er nackt da, warf seine Kleider in eine Zimmerecke und drehte sich dann der Tür zu, durch die sie wieder hereinkommen wür de. Als sie in der offenen Tür erschien, atmete er tief auf. Die plötzliche Verwandlung beeindruckte ihn. Sie trug eine ägypti sche Perücke aus straff geflochtenen Zöpfen und darüber das goldene Diadem mit der altägyptischen Uräusschlange, der Kobra mit gespreizter Haube. Das Diadem war echt und einige tausend Jahre alt. Schiller hatte fünf Millionen Mark dafür be zahlt. »Ich bin die Reinkarnation der alten ägyptischen Königin Lostris«, sagte sie leise. »Meine Seele ist unsterblich. Mein Fleisch verwest nicht.« Sie trug goldene Sandalen aus der Grabkammer einer ägyptischen Prinzessin, goldene Armbän der, Fingerringe und Ohrringe aus dem gleichen Grab. All die se Schmuckstücke stammten aus altägyptischer Zeit. »Ja«, flüsterte er heiser. Sein Gesicht war totenblaß. »Nichts kann mich töten. Ich werde ewig leben«, sagte sie. Sie trug einen durchsichtigen, gelbseidenen Rock und einen mit Edelsteinen besetzten, goldenen Gürtel. »Ewig«, wiederholte sie. Über der Gürtellinie war sie nackt. Ihre Brüste waren groß und milchweiß. Sie nahm sie in die Hände. »Diese Brüste haben sich über viertausend Jahre jung und glatt erhalten«, sagte sie. »Ich biete sie dir an.« Sie schlüpfte aus den offenen goldenen Sandalen und stand nun mit ihren schlanken, wohlgeformten Füßen vor ihm. Nun öffnete sie den Schlitz an der Vorderseite des Rocks und ent blößte ihren Unterleib. Alle ihre Bewegungen waren langsam und berechnend. Sie war eine intelligente Schauspielerin. »Dies ist die Verheißung des ewigen Lebens.« Sie legte die
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rechte Hand auf das dichte, honigfarbene Schamhaar. »Das biete ich dir an.« Er stöhnte leise, wischte sich den Schweiß aus den Augen und sah sie begierig an. Langsam und lüstern wie eine sich aufbäumende Kobra spreizte sie die Oberschenkel und öffnete mit den Fingern ihre Schamlippen. »Dies ist das Tor zur Ewigkeit. Ich öffne es für dich.« Schiller stöhnte leise. Sooft sich diese Szene auch schon wiederholt hatte, sie hatte immer wieder die gleiche Wirkung. Wie in Trance näherte er sich ihr. Sein Körper war mager und dürr wie eine tausendjährige Mumie. Auf seiner Brust wuchs ein feiner Flaum grauer Haare, seine Bauchhaut war runzelig und faltig, aber seine Schamhaare waren dicht und dunkel wie die Haare auf seinem Kopf. Sein Penis war für den hageren alten Leib, an dem er herabhing, viel zu groß. Während sie sich ihm langsam näherte, füllte er sich und verschob sich zur ande ren Seite, während die welke Vorhaut die starke, purpurfarbene Eichel freigab. »Auf die Stele«, grunzte er. »Schnell! Auf den Stein.« Sie wendete ihm den Rücken zu, kniete auf den Stein und sah ihm über die Schulter entgegen, während er sich ihr näher te. Ihre Gesäßbacken waren rund und weiß wie ein Paar Strau ßeneier. Helm und seine Männer arbeiteten noch bis spät in die Nacht in der Pegasus-Werkstatt an den Lattenkisten für die Stele und den Sarg. Im Morgengrauen des folgenden Tages wurden sie auf einen der schweren Lastwagen verladen, mit dicken Gum mimatten gesichert und festgezurrt. Nahoot begleitete die wertvolle Ladung auf der mehr als dreißig Stunden dauernden, anstrengenden Fahrt nach Adis
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Abeba vorsorglich im Laderaum des Lastwagens. Die Turbo propmaschine von Pegasus stand schon auf der Startbahn des Flughafens bereit, als der staubige Lastwagen durch die Sperre rollte, um dann neben dem Flugzeug zu halten. Schiller und Utte Kemper waren im Hubschrauber vorausge flogen, und General Obeid war zum Flughafen gekommen, um sich von ihnen zu verabschieden und ihnen gute Reise zu wün schen. Während die Lattenkisten in das Flugzeug verladen wurden, sprach Obeid mit dem wartenden Zollbeamten, der daraufhin die Dokumente abstempelte, auf denen die beiden Lattenkisten als »Gesteinsproben« zum Export freigegeben wurden, und zog sich dann diskret zurück. »Alles ist verladen, und die Maschine ist startbereit, Herr von Schiller«, sagte der uniformierte Chefpilot der Firma Pega sus und legte die Hand an die Mütze. Schiller schüttelte Obeid die Hand und stieg, gefolgt von Ut te und Nahoot Guddabi die Leiter zur Tür der Maschine hinauf. Nahoot war nach der langen Fahrt sichtlich erschöpft, hatte aber die Holzverschläge nicht aus den Augen lassen wollen. Die Turbopropmaschine vom Typ Falcon startete, stieg über die Berge bis in Reiseflughöhe auf und nahm Kurs nach Nor den. Als der Pilot das Leuchtzeichen »Sicherheitsgurte anle gen« ausgeschaltet hatte, steckte Utte Kemper ihren hübschen blonden Kopf durch die Tür des Cockpits und sagte zu dem Piloten: »Herr von Schiller läßt Sie fragen, wie lange der Flug dauern wird.« »Ich schätze, wir werden um einundzwanzig Uhr in Frank furt landen. Bitte sagen Sie Herrn von Schiller, daß ich unser Hauptbüro über Funk benachrichtigt und gebeten habe, zum Abtransport der Ladung unsere Ankunft am Flughafen zu er warten.« Die Falcon landete schon wenige Minuten vor der Zeit und
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rollte zum Hangar von Pegasus. Die Zollbeamten und Grenz polizisten, die auf sie gewartet hatten, waren alte Bekannte, die stets bereitstanden, wenn die Falcon mit einer wichtigen La dung landete. Nach Erledigung der Formalitäten tranken sie an der kleinen Bar der Maschine einen Schnaps mit Gotthold von Schiller und steckten wortlos die Umschläge ein, die neben ihren Schnapsgläsern auf dem Bartisch lagen. Die Fahrt in die Berge dauerte fast die ganze Nacht. Schillers Chauffeur folgte dem geschlossenen Pegasus-Lastwagen auf den gewundenen und vereisten Straßen durch das Gebirge und ließ ihn nicht aus den Augen. Um fünf Uhr morgens fuhren sie durch die Einfahrt in der den Schloßpark umgebenden Mauer. Das Schloß selbst mit seinen dunklen steinernen Burgwehren und Schießscharten sah aus wie eine Ritterburg aus einem Ro man von Bram Stoker. Doch selbst zu dieser frühen Stunde standen der Butler und das Hauspersonal bereit, um den Haus herrn zu begrüßen. Auch Herr Reeper, der Kurator von Schillers Sammlung, und seine engsten Mitarbeiter standen bereit, die beiden Holzkisten in den Tresorraum zu bringen. Diensteifrig luden sie sie auf einen Gabelstapler und fuhren damit in einem Lastenaufzug in das Untergeschoß. Während sie die Stele und den Sarg auspackten, zog sich Schiller in seine Wohnung im Nordturm zurück. Er badete und ließ sich von seinem chinesischen Koch ein leichtes Frühstück servieren. Nachdem er gegessen hatte, besuchte er seine Frau in deren Schlafzimmer. Seit ihrem letzten Zusammensein hatte sich ihr Zustand sichtbar verschlimmert. Ihr Haar war inzwi schen ganz weiß geworden, und ihr ausgemergeltes Gesicht wirkte wächsern. Er schickte die Krankenschwester hinaus und küßte ihr zärtlich die Stirn. Der Krebs, an dem sie litt, nahm ihr die letzten Kräfte, aber sie war die Mutter seiner beiden Söhne, und auf seine Art liebte er sie immer noch.
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Er blieb eine Stunde bei ihr und ging dann in sein Schlaf zimmer, um vier Stunden zu schlafen. In seinem Alter war das alles, was er an Schlaf brauchte, auch wenn er noch so müde war. Anschließend arbeitete er bis zum späten Nachmittag mit Utte und zwei anderen Sekretärinnen. Dann rief ihn Herr Ree per über das Haustelefon an und meldete ihm, daß im Tresor raum alles bereitstand. Schiller und Utte fuhren im Aufzug hinunter, und als sich die Tür öffnete, warteten Reeper und Nahoot schon auf sie. Offen bar hatten sie ihm etwas Wichtiges mitzuteilen und konnten es kaum erwarten, ihn damit zu überraschen. »Sind die Röntgenaufnahmen fertig?« fragte Schiller, als sie ihm auf dem Wege zum Tresorraum folgten. »Die Techniker haben ihre Arbeit erledigt«, meldete Reeper. »Sie haben gut gearbeitet. Die Aufnahmen sind großartig, ja wunderbar!« Die Klinik war eine von Schiller finanzierte Stiftung, und deshalb war für ihren Direktor jeder Wunsch Schillers ein Be fehl. Diesmal hatte er sein modernstes tragbares Röntgengerät und zwei Techniker für die Aufnahmen der Mumie des Herrn Harrab zur Verfügung gestellt und eine erfahrene Radiologin beauftragt, die Aufnahmen zu begutachten. Reeper steckte eine Plastikkarte in den Schlitz im Schloß des Stahltresors, und mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür. Schiller betrat als erster den Raum, blieb kurz stehen und sah sich um. Das war jedesmal ein ganz besonderes Vergnügen für ihn. Die Wände bestanden aus zwei Meter dickem Stahlbeton, und das Ganze war durch ein hochmodernes elektronisches Warnsystem gesichert. Aber davon war nichts zu sehen, als er sich in dem spärlich erleuchteten Ausstellungsraum umsah. Er war von einem der führenden europäischen Innenarchitekten entworfen und ausgebaut worden. Die Grundfarbe war Blau.
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Jeder Gegenstand der Sammlung befand sich in einem eigenen Behälter, der so aufgestellt war, daß sich dieser Gegenstand von seiner besten Seite zeigte. Überall schimmerten das Gold und die Edelsteine auf mitter nachtsblauen Samtkissen. Versteckt angebrachte Scheinwerfer beleuchteten kostbare Plastiken aus Alabaster, Stein, Elfenbein und Obsidian. Das ganze altägyptische Pantheon war hier ver sammelt: Thoth und Anubis, Hapi und Seth und dazu das Drei gestirn Osiris, Isis und deren Sohn Horus. Diese Gottheiten hatten mit unergründlichem Blick gesehen, wie Jahrtausende an ihnen vorüberzogen. Auf dem Ehrenplatz in der Mitte des Raumes stand auf ei nem behelfsmäßigen Sockel die neueste Erwerbung für diese außergewöhnliche Sammlung von Kunstschätzen: das hohe, ebenmäßige steinerne Testament Taitas. Schiller blieb davor stehen und streichelte die mattglänzende Oberfläche der Stele, bevor er das zweite Zimmer betrat. Hier lag der Sarg von Tanus, des Herrn Harrab, auf zwei Balken. Eine Radiologin im weißen Kittel beugte sich über die gläsernen Schautafeln, an denen die Röntgenaufnahmen befe stigt waren. Schiller trat näher und sah sich die Negative genau an. Man erkannte deutlich die in dem Holzsarg liegende, menschliche Gestalt mit über der Brust gekreuzten Armen. Sie erinnerte ihn an das Relief auf dem Sarkophag eines alten Rit ters in einer mittelalterlichen Kathedrale. »Was können Sie mir über diesen Toten sagen?« fragte er die Radiologin, ohne sie anzusehen. »Ein älterer Mann«, antwortete sie. »Zur Zeit seines Todes zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Geringe Körpergröße.« Die anderen Anwesenden zuckten zusammen, aber Schiller schien den geringschätzigen Ton dieses Berichts nicht zu be merken. »Fünf Zähne fehlen. Ein vorderer Schneidezahn, ein Augenzahn und drei Backenzähne. Die Weisheitszähne sind
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eingeklemmt, die meisten Zähne von Karies befallen. Anzei chen für eine chronische Bilharziose. Möglicherweise spinale Kinderlähmung in frühester Jugend, Muskelschwund im linken Bein.« Sie schloß diese kurzen Ausführungen mit den Worten: »Die wahrscheinliche Todesursache war eine Stichwunde im Brustkorb oben rechts. Speer oder Pfeil. Die Spitze des Speers oder des Pfeils muß den rechten Lungenflügel durchbohrt ha ben.« »Haben Sie sonst noch etwas dazu zu sagen?« fragte Schil ler. Die Radiologin zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort. »Herr von Schiller, Sie werden sich daran erinnern, daß ich auch schon andere Mumien für Sie untersucht habe. In diesem Fall muß die Leichenöffnung zur Entnahme der Eingeweide – anders als bei den anderen von mir untersuchten Mumien – von einem erfahrenen Arzt vorgenommen worden sein.« »Vielen Dank.« Nun wendete sich Schiller an Nahoot. »Wol len Sie sich noch dazu äußern?« »Ich kann nur sagen, daß das alles nicht mit dem überein stimmt, was in der siebenten Schriftrolle über Tanus, den Herrn Harrab, zur Zeit seines Todes gesagt wird.« »Wieso?« »Tanus war ein hochgewachsener Mann und viel jünger. Das erkennt man schon an dem Portrait auf dem Deckel des Sar ges.« »Fahren Sie fort«, forderte Schiller ihn auf. Nahoot trat an das Röntgenbild heran und machte ihn auf ei nige deutlich erkennbare, dunkle Objekte aufmerksam, die den Toten schmückten. »Das sind Schmuckstücke«, sagte er. »Amulette, Armbän der, Brustschilder, mehrere Halsbänder, Ringe und Ohrringe. Aber am bedeutsamsten ist die Uräuskrone.« Nahoot legte den Finger auf einen dunklen Kreis in der Mitte der Stirn des To
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ten. »Die Form der heiligen Schlange läßt sich unter den Ban dagen einwandfrei erkennen.« »Und was bedeutet das?« fragte Schiller verwundert. »Das war nicht der Körper eines gewöhnlichen Menschen, ja nicht einmal der eines Adligen. Das zeigen die kostbaren Grabbeigaben, vor allem aber die Uräuskrone: Die heilige Ko bra. Sie war das Abzeichen der Königswürde. Ich glaube, wir haben es hier mit der Mumie eines Pharao zu tun.« »Unmöglich«, fuhr Schiller ihn an. »Sehen Sie sich die In schrift auf dem Sarg an. Aber auch die Wandgemälde in der Grabkammer. Das ist die Mumie eines ägyptischen Feldherrn.« »Verzeihen Sie, Herr von Schiller. Das läßt sich vielleicht erklären. In dem englischen Buch Das Grabmal des Pharao schreibt der Verfasser, daß der Sklave Taita zwei Mumien ver tauscht hat, und zwar die des Pharao Mamose gegen die seines guten Freundes Tanus.« »Was, in aller Welt, hätte ihn dazu veranlassen können?« Schiller sah ihn ungläubig an. »Es geschah nicht aus politischen, sondern aus spirituellen Gründen. Taita wollte seinem Freund alle Schätze des Pharao und die mit ihnen verbundenen Herrschaftsansprüche ins To tenreich mitgeben. Das war sein Abschiedsgeschenk.« »Halten Sie das für möglich?« »Ich halte es nicht für unmöglich. Zudem gibt es noch eine Tatsache, auf die sich diese Theorie stützen kann. Die Rönt genaufnahmen zeigen, daß der Sarg für den darin liegenden Toten viel zu groß ist. Er war also ursprünglich, wie ich glaube, für einen sehr viel größeren Mann bestimmt. Ja, Herr von Schiller, ich glaube, es besteht eine sehr hohe Wahrscheinlich keit, daß dies die Mumie eines Pharao ist.« Schiller wurde aschfahl, als er das hörte. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, und er fragte mit rauher Stimme: »Eine königliche Mumie?«
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»Das kann durchaus sein.« Schiller trat an den. auf dem Holzgestell liegenden, ge schlossenen Sarg heran und betrachtete mit starrem Blick das Portrait des Toten auf seinem Deckel. »Der goldene Uräus des Mamose. Die Juwelen eines Pha rao.« Seine Hand zitterte, als er sie auf den Sargdeckel legte. »Wenn das so ist, dann übertrifft dieser Fund unsere kühnsten Hoffnungen.« Schiller atmete tief ein. »Öffnen Sie den Sarg. Entfernen Sie die Hülle von der Mumie des Pharao Mamose.« Die Öffnung des Sarges erforderte die größte Sorgfalt. Na hoot hatte schon häufig vor der gleichen Aufgabe gestanden, doch bisher waren es noch nie die sterblichen Überreste einer so hochgestellten Persönlichkeit wie eines ägyptischen Pharao gewesen. Zuerst mußte er feststellen, wo das Scharnier des Deckels unter der Farbschicht lag. Wenn das geschehen war, konnte er den alten Firnis und den Leim lösen, die den Deckel am unte ren Teil des Sarges festhielten. Dabei durfte der Sarg nach Möglichkeit nicht beschädigt werden, denn auch er hatte einen unschätzbaren Wert. Allein diese Arbeit dauerte fast zwei Ta ge. Als er den Deckel so weit gelöst hatte, daß er abgehoben werden konnte, ließ Nahoot Schiller, der in seiner Bibliothek mit seinen Söhnen und anderen leitenden Angestellten seiner Firma eine Besprechung abhielt, verständigen. Schiller hatte sich geweigert, zu dieser Besprechung in die Stadt zu fahren, denn es fiel ihm zu schwer, sich von seinen neuen Schätzen zu trennen. Als er von Nahoot hörte, unterbrach er die Sitzung, verschob die Besprechung auf den folgenden Montag und ent ließ die leitenden Angestellten und seine Söhne. Er begleitete
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sie nicht einmal zu ihren Fahrzeugen, sondern eilte sofort hin unter in den Tresorraum. Nahoot und Reeper hatten über dem Sarg ein leichtes Gestell angebracht, von dem zwei Flaschenzüge herunterhingen. Als Schiller den Tresorraum betrat, schickte Reeper seine Assisten tin hinaus. Nur Schiller, Nahoot und er durften bei der Öffnung des Sarges zugegen sein. Reeper stellte ein Podest vor das Kopfende des Sarges, von dem aus Schiller bereits in das Innere des Sarges sehen konnte, noch während sie daran arbeiteten. Nachdem er seinen Platz eingenommen hatte, nickte er ihnen zu. Die Sperrklinken knackten, als Reeper und Nahoot die Flaschenzüge vorsichtig in Bewegung setzten. Man hörte ein schwaches Knistern, und Schiller zuckte zusammen. »Das sind nur noch die Leimreste, die am Rand des Deckels kleben«, suchte Nahoot ihn zu beruhigen. »Weiter!« befahl Schiller. Nun hoben sie den Sargdeckel um weitere fünfzehn Zentimeter in die Höhe, bis er frei über dem offenen Sarg hing, und schoben das auf Nylonlaufrollen mon tierte Gerüst mit dem daran hängenden Sargdeckel zur Seite. Schiller blickte in den offenen Sarg hinunter. Was er sah, er staunte ihn. Er hatte erwartet, eine ordentlich in Leichentücher eingewickelte Mumie zu finden. Statt dessen war das Innere des Sarges mit losen Leinenbandagen vollgestopft, unter denen die Mumie nicht zu erkennen war. »Was ist denn das –«, rief Schiller verwundert. Er streckte die Hand nach den alten, fleckigen Binden aus, um sie heraus zunehmen, aber Nahoot rief erregt: »Nein! Berühren Sie das nicht.« Doch dann entschuldigte er sich. »Verzeihen Sie, Herr von Schiller, aber das ist faszinie rend. Es ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Mumie, die zunächst in diesem Sarg gelegen hat, gegen eine andere ver tauscht worden ist. Ich glaube, wir sollten uns das genau anse
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hen, bevor wir diese Mumie von ihren Hüllen befreien. Natür lich nur, wenn Sie damit einverstanden sind, Herr von Schil ler.« Schiller zögerte. Er wollte unbedingt sehen, was unter diesen alten Lumpen lag, mußte aber zugeben, daß es vernünftiger war, nichts zu übereilen, denn dabei könnte ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstehen. Errichtete sich auf und stieg von seinem Podest hinunter. »Nun gut«, brummte er. Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines dunkelblauen Zweireihers und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Mit unsicherer Stimme fragte er: »Ist es möglich? Könnte das wirklich Mamose sein?« Als er das Taschentuch in die Hosentasche steckte, stellte er überrascht fest, daß er eine Erektion hatte. Mit der Hand in der Tasche schob er das Glied nach oben, so daß es flach auf sei nem Bauch zu liegen kam. »Entfernen Sie die losen Banda gen.« »Wenn Sie erlauben, Herr von Schiller, sollten wir zuerst ein paar Fotos machen«, schlug Reeper höflich vor. »Natürlich«, erklärte sich Schiller einverstanden. »Wir sind Wissenschaftler und Archäologen, keine gewöhnlichen Grab räuber. Machen Sie die Fotos.« Reeper und Nahoot ließen sich reichlich Zeit dabei. Schiller konnte die Verzögerung kaum ertragen. Hier unten im Tresor raum war es niemandem bewußt geworden, wie rasch die Zeit verging, aber als Schiller, der jetzt in Hemdsärmeln dastand, auf seine goldene Armbanduhr blickte, sah er zu seiner Überra schung, daß es schon nach neun Uhr abends war. Er knotete seine Krawatte auf, warf sie auf die Bank, auf der schon seine Anzugsjacke lag, und wandte sich wieder dem Sarg zu. Allmählich zeigten sich unter den alten Binden die Umrisse eines menschlichen Körpers, aber erst nach Mitternacht ent fernte Nahoot die letzten auf der eingewickelten Mumie lie
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genden Stoffreste. Nun schimmerte das Gold durch die um die Mumie gewickelten Bandagen. »Eigentlich müßte die Mumie in mehreren, ineinanderge stellten Särgen liegen. Aber sie fehlen ebenso wie die Masken. Sie werden wahrscheinlich in dem Sarkophag zu finden sein, in dem der Pharao zunächst beigesetzt werden sollte, jetzt aber die Mumie des Tanus darauf wartet, entdeckt zu werden. Hier haben wir nur die letzte Hülle der königlichen Mumie vor uns.« Mit einer langen Pinzette hob er die obere Schicht der Hülle ab, während Schiller, der wieder auf seinem Podest stand, knurrte und mit den Füßen scharrte. »Der Brustschild des königlichen Hauses von Mamose«, flü sterte Nahoot ehrerbietig. Das prächtige Schmuckstück glänzte im Licht der Stablaterne. Mit den in den goldenen Schild ein gelegten, blauen Lapislazuli und den roten Karneolen bedeckte es die ganze Brust der Mumie. In der Mitte des Schildes prang te ein Geier mit ausgebreiteten Flügeln, der die goldene Kartu sche des Pharao in den Fängen hielt. Es war das Meisterstück eines hervorragenden Künstlers. »Jetzt besteht kein Zweifel mehr«, flüsterte Schiller. »Die Kartusche beweist, wer der Tote war.« Als nächstes wickelten sie die auf dem Brustschild überein andergelegten Hände aus. Die Finger waren lang und zart, und auf jedem Finger steckten eine Reihe prächtiger Ringe. In den Händen hielt der Pharao den oben gebogenen Krummstab und das Szepter als Zeichen seiner königlichen Würde. Nahoot war begeistert. »Die Symbole des Königtums. Das alles beweist uns, daß dies Mamose der Achte ist, der Herrscher im Oberen und Unte ren Reich des alten Ägypten.« Als Nahoot anfing, die Bandagen vom Kopf der Mumie zu entfernen, sagte Schiller: »Lassen Sie das bis zuletzt! Ich bin
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noch nicht bereit, dem Pharao ins Gesicht zu sehen.« So konzentrierten Nahoot und Reeper ihre Aufmerksamkeit nun auf den unteren Teil der königlichen Mumie. Als sie die Bandagen schichtweise entfernten, kamen zahlreiche Amulette zum Vorschein, die den Toten vor bösen Geistern schützen sollten. Es waren goldene Schmuckstücke in verschiedensten Formen, auf denen in Ägypten heimische Vögel, Tiere und Fische aus Edelstein und Keramik in leuchtenden Farben dar gestellt waren. Jedes Amulett wurde nun an Ort und Stelle fo tografiert und dann in eine numerierte Schachtel auf der Werk bank gelegt. Die Füße des Pharao waren ebenso klein und feingliedrig wie seine Hände, und auch an jedem Zeh steckten kostbare Ringe. Nun mußte nur noch der Kopf freigelegt werden, und beide Männer blickten Schiller fragend an. »Es ist schon sehr spät, Herr von Schiller«, sagte Reeper, »wenn Sie sich ausru hen wollen –« »Machen Sie weiter!« befahl er streng. Daraufhin begannen Nahoot und Reeper je an einer Seite des Kopfes zu arbeiten, während Schiller auf dem Podest zwischen ihnen stehenblieb. Auf das Gesicht des Pharao fiel zum ersten Mal nach fast viertausend Jahren Licht. Er hatte feines, schütteres und mit Henna gefärbtes Haar wie zu seinen Lebzeiten. Die Gesichts haut war mit wohlriechenden Harzen überzogen, die gehärtet glänzten wie poliertes Ambra. Die Nase war schmal und gebo gen. Die Lippen waren leicht geöffnet und verliehen dem Ge sicht ein fast träumerisches Lächeln, und zwischen ihnen er kannte man die Lücke des fehlenden Schneidezahns. Auch die Augenwimpern waren in Harz getaucht und sahen aus, als seien sie tränenfeucht. Die Augenlider waren nur halb geschlossen. Das ganze Gesicht machte einen sehr lebendigen Eindruck, und als Schiller näher hinschaute, sah er, daß das Licht von den weißen runden Porzellanscheiben reflektiert
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wurde, die bei der Einbalsamierung in die leeren Augenhöhlen eingefügt worden waren. Über den Augenbrauen trug der Pharao die heilige Uräuskrone. Der Kopf der Kobra war vollständig erhalten, und das weiche Material war an keiner Stelle beschädigt. Die Gift zähne der Schlange waren scharf und zurückgebogen, und zwi schen ihnen zeigte sich die lange gespaltene Zunge. Die Augen bestanden aus glänzendem blauen Glas. Auf dem goldenen Reif unter dem aufgeblähten Hals der Schlange war die könig liche Kartusche des Mamose eingraviert. »Geben Sie mir die Krone«, sagte Schiller mit vor Leiden schaft keuchender Stimme. »Nehmen Sie sie ab, damit ich sie in den Händen halten kann.« »Das wird nicht möglich sein, ohne den Schädel der königli chen Mumie zu beschädigen«, protestierte Nahoot. »Widersprechen Sie mir nicht. Tun Sie, was ich Ihnen sage.« »Sofort, Herr von Schiller«, sagte Nahoot, »aber es wird eine gewisse Zeit dauern, sie von dem Schädel zu lösen. Vielleicht sollten Sie sich inzwischen etwas ausruhen. Sobald es uns ge lungen ist, werden wir es Ihnen mitteilen. Dann steht Ihnen die Krone zur Verfügung.« Der Goldreif war bei der Einbalsamierung auf die mit Harz bestrichene Stirn des Pharao gedrückt worden. Um ihn zu lö sen, mußten Nahoot und Reeper zuerst die ganze Mumie aus dem Sarg nehmen und sie auf die schon bereitstehende Toten bahre aus Stahl legen. Dann mußte das Harz mit besonderen Lösungsmitteln aufgeweicht und entfernt werden. Das dauerte, wie Nahoot schon gesagt hatte, eine gewisse Zeit, gelang schließlich aber doch. Sie legten die goldene Uräuskrone auf ein blaues Samtkissen wie für eine Krönungszeremonie, blendeten alle anderen Licht quellen im großen Tresorraum ab und richteten den Lichtstrahl eines Scheinwerfers auf die Krone. Dann gingen sie beide nach
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oben, um Schiller zu benachrichtigen. Er erlaubte den beiden Archäologen nicht, ihn zu begleiten, als er nach unten in den Tresorraum ging, um sich die Krone anzusehen. Nur Utte Kemper stand neben ihm, als er den Schlüssel in das Schloß der gepanzerten Tür des Tresors steck te und die schwere Tür sich öffnete. Als er den Raum betrat, fiel sein Blick sofort auf das blaue Samtkissen mit der im Scheinwerferlicht glänzenden Krone. Im gleichen Augenblick rang er nach Luft wie ein Asthmati ker, griff ihre Hand so fest, daß ihre Gelenke knirschten und sie vor Schmerzen wimmerte. Doch der Schmerz erregte sie. Schiller zog sie aus, setzte ihr die goldene Krone auf und legte sie nackt in den offenen Sarg. »Ich bin die Verheißung des Lebens«, flüsterte sie, als sie in dem alten Sarg lag. »In meinem Gesicht leuchtet die Unsterb lichkeit.« Auch Schiller hatte sich nackt ausgezogen. Er berührte sie aber nicht, sondern stand wie ein Wesen aus einem anderen Leben mit erigiertem Penis über dem Sarg. Sie strich mit den Händen langsam an ihrem Körper hinun ter, und als sie am Venusberg angekommen war, verkündete sie feierlich: »Du sollst ewig leben!« Hier erwies sich die Fähigkeit der Krone des Mamose, in wunderbarer Weise auf die Menschen zu wirken. Bisher hatte Gotthold von Schiller so etwas noch nie erlebt. Auf ihre Worte hin ergoß sich der Samen aus seinem Penis und tropfte hinunter auf ihren weißen, weichen Leib. Utte Kemper bäumte sich im Sarg auf und reagierte mit ei nem eigenen, überwältigenden Orgasmus darauf. Royan hatte das Gefühl, es seien Jahre und nicht nur wenige Wochen vergangen, seit sie Ägypten verlassen hatte. Ihr wurde
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bewußt, wie sehr sie das Menschengewimmel auf den belebten Straßen der Stadt, den köstlichen Duft nach Gewürzen, Speisen und Wohlgerüchen in den Basaren und die klagende Stimme des Muezzin, der die Gläubigen vom Minarett seiner Moschee zum Gebet rief, vermißt hatte. Es war noch dunkel, als sie am ersten Morgen ihre Wohnung in Gizeh verließ, und da ihr krankes Knie noch geschwollen war und schmerzte, hatte sie zu einem Spaziergang am Ufer des Nil einen Stock mitgenommen, auf den sie sich stützte. Die aufgehende Sonne spiegelte sich in einem goldenen und kup ferfarbenen Streifen auf der Oberfläche des Wassers und ließ die dreieckigen Segel der Feluken aufleuchten. Es war ein ganz anderer Nil als der, den sie in Äthiopien kennengelernt hatte. Dies war nicht der Abbay, sondern der echte Nil. Er war breiter, sein Wasser floß langsamer dahin, und sie freute sich an dem vertrauten Geruch des Nilschlam mes. Das war ihr Fluß und ihr Land. Sie fand, daß ihre Ent scheidung, das zu tun, was die Rückkehr nach Hause veranlaßt hatte, richtig gewesen war. Ihre Zweifel waren jetzt ausgeräumt und ihr Gewissen beruhigt. Sie hatte an Selbstsicherheit ge wonnen und war überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie besuchte die Familie von Duraid, um den Verwandten ih res Mannes zu erklären, weshalb sie so plötzlich abgereist und so lange fortgeblieben war. Zunächst reagierte ihr Schwager recht kühl, aber nachdem seine Frau Royan unter Tränen um armt und die Kinder sich begeistert auf ihre Lieblingstante ge stürzt hatten, änderte auch er seine Haltung und bot ihr an, sie zur Oase hinauszufahren. Als sie sagte, daß sie bei ihrem Be such auf dem Friedhof allein sein wollte, lieh er ihr sogar sei nen geliebten Citroen. Als sie an Duraids Grab stand, genoß sie den Duft der Wü ste, und der heiße Wind wehte ihr durch das Haar. Duraid hatte die Wüste geliebt, und sie freute sich, daß er ihr jetzt für immer
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nahe sein würde. Der Grabstein war schlicht: Unter dem ein gravierten Kreuz standen nur sein Name, sein Geburtsdatum und das Datum seines Todestages. Neben dem Grabhügel kniend, säuberte sie ihn, nahm die verwelkten Blumen weg und legte an ihrer Stelle den Blumenstrauß darauf, den sie aus Kai ro mitgebracht hatte. Dann blieb sie lange Zeit neben dem Grabhügel sitzen. Sie versuchte nicht, in Gedanken mit Duraid zu sprechen, sondern ließ die schöne Zeit, die sie an seiner Seite zugebracht hatte, an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Sie dachte an seine Güte, an sein Verständnis für sie und an seine Liebe, mit der er ihr Wärme und Sicherheit gegeben hatte. Sie bedauerte, daß sie es ihm niemals in gleichem Maß hatte vergelten können, aber sie wußte, daß er das akzeptiert und verstanden hatte. Sie hoffte, daß er auch verstehen würde, weshalb sie jetzt zu rückgekommen war: Es war ein Abschied. Sie war gekommen, um ihm Lebewohl zu sagen. Sie hatte um ihn getrauert, und obwohl sie ihn niemals vergessen und er immer ein Teil ihres Lebens bleiben würde, war es jetzt Zeit für sie, ein neues Le ben zu beginnen. Und für ihn war es Zeit, sich von ihr zu tren nen. Als sie den Friedhof verließ, schaute sie nicht mehr zu rück. Bei der Rückfahrt in die Stadt nahm sie den längeren Weg über die am Südufer des Sees entlangführende Straße, um nicht an der ausgebrannten Villa vorbeifahren zu müssen. Sie wollte nicht an die Schreckensnacht erinnert werden, in der Duraid dort gestorben war. Deshalb war es schon dunkel, als sie nach Hause kam, und die Familie war erleichtert, sie gesund wieder zusehen. Ihr Schwager ging dreimal um den Citroën herum, um sich zu vergewissern, daß der Wagen nicht beschädigt war, bevor er sie ins Haus bat, wo seine Frau schon mit dem Essen auf sie wartete.
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Atalan Abou Sin, der Minister, den Royan hatte sprechen wollen, war nicht in Kairo. Er befand sich auf einer Dienstreise in Paris. Deshalb mußte sie drei Tage auf seine Rückkehr war ten. Da sie wußte, daß Nahoot Guddabi nicht mehr in Kairo war, mußte sie nicht fürchten, ihm hier zu begegnen, und brachte einen großen Teil ihrer Zeit im Museum zu. Dort hatte sie viele Freunde, die sich freuten, sie zu sehen und ihr über alles berichten zu können, was während ihrer Abwesenheit geschehen war. Einen großen Teil ihrer Zeit verwendete sie dazu, in der Bi bliothek des Museums den Mikrofilm mit den Schriftrollen Taitas anzusehen, um dort vielleicht gewisse Hinweise zu fin den, die ihr beim ersten Lesen entgangen waren. Besonders aufmerksam studierte sie Teile der zweiten Schriftrolle und machte sich ausführliche Notizen. Da jetzt durchaus die Mög lichkeit zu bestehen schien, die unversehrte Grabkammer des Pharao Mamose zu finden, nahm ihr Interesse dafür zu, was sie enthalten könnte. Die Schriftrolle, auf die sie sich besonders konzentrierte, enthielt eine Schilderung des Schreibers Taita von einem Be such des Pharao in den Werkstätten der Nekropolis, wo die Schätze für den großen Tempel hergestellt wurden, den er für die Beisetzung seiner Mumie hatte bauen lassen. Wie Taita schrieb, hatten der Pharao und sein Gefolge die einzelnen Werkstätten besucht, und zwar zuerst die Waffenmeisterei mit ihrer Sammlung von Kriegs- und Jagdwaffen und dann die Möbelwerkstatt, in der hervorragende Möbeltischler arbeiteten. Dann beschrieb Taita die Arbeit der Bildhauer an den Götter statuen und den lebensgroßen Plastiken des Königs, die entlang des Weges, der von der Nekropolis zur Grabkammer im Tal der Könige führte, aufgestellt werden sollten. In der gleichen Werkstatt arbeiteten auch die Steinmetzen an dem großen Sar
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kophag aus Granit, in dem die Mumie des Pharao für die Ewigkeit ruhen sollte. Doch nach einem späteren Bericht von Taita hatte der Pharao Mamose auf diesen Teil seiner Schätze verzichten müssen, weil die geschichtlichen Ereignisse einen anderen Verlauf nahmen, als vorgesehen. Er mußte all diese schweren und unhandlichen Gegenstände aus Stein im Tal der Könige zurücklassen, als die Ägypter entlang des Nil nach Sü den in ein Land fliehen mußten, das sie Kusch nannten, um den Hiksos zu entkommen, die in ihr Land eingefallen waren. In der Beschreibung der Goldschmiedewerkstatt interessierte sich Royan ganz besonders für den Satz, in dem über die gol dene Totenmaske des Pharao berichtet wurde. »Dies war der Gipfel und der Höhepunkt. Alle noch ungeborenen Zeitalter werden eines Tages staunend vor ihrem erhabenen Glanz ste hen.« Royan blickte verträumt von dem Mikrofilm auf und fragte sich, ob sich die Prophezeiung des alten Schreibers nicht doch erfüllen würde. Sollte sie zu jenen Menschen gehören, die die Pracht der goldenen Totenmaske staunend bewundern dür fen? Würde sie vielleicht die erste sein, die das nach fast vier tausend Jahren tun durfte? Würde sie dieses Wunder berühren, in die Hände nehmen und schließlich damit tun, was ihr Ge wissen ihr befahl? Die Lektüre des Berichts von Taita versetzte Royan in jene längst vergangene Zeit und weckte ihr Mitgefühl für die Leiden der Menschen, die damals gelebt hatten. Schließlich waren es – auch wenn noch so lange Zeit darüber verstrichen war – ihre eigenen Vorfahren. Als ägyptische Koptin stammte sie in di rekter Linie von ihnen ab. Vielleicht war diese innere Verbun denheit der Hauptgrund dafür, daß sie sich schon als Kind ent schlossen hatte, das Studium dieser Menschen und ihrer Ge wohnheiten zum Hauptinhalt ihres Lebens zu machen. Es gab jedoch noch vieles andere zu bedenken, während sie auf die Rückkehr von Atalan Abou Sin wartete. Dazu gehörten
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nicht zuletzt auch die Gefühle, die sie für Nicholas QuentonHarper empfand. Seit dem Besuch auf dem kleinen Friedhof in der Oase, bei dem sie sich von Duraid verabschiedet hatte, hat ten die Gefühle für Nicholas eine neue Qualität angenommen. Sie wurde von Zweifeln gequält und wußte, daß sie manche schwere Entscheidung treffen mußte. Es würde nicht möglich sein, all ihre Pläne zu verwirklichen und all ihre Wünsche zu befriedigen, ohne andere und fast ebenso dringende Wunsch vorstellungen aufzugeben. Als endlich die Stunde ihrer Verabredung mit Atalan ge kommen war, fiel es ihr schwer, sich zu dem Besuch bei ihm zu entschließen. Wie in Trance humpelte sie am Stock durch die Basare und hörte kaum die Rufe der Kaufleute, die ihre Waren anpriesen. Ihre helle Haut und europäische Kleidung ließen sie vermuten, daß sie eine Touristin sei. Sie hatte den unvermeidlichen Besuch so lange hinausge schoben, daß sie sich schließlich um eine Stunde verspätete. Aber sie war hier in Ägypten, und Atalan war ein Araber, für den die Zeit nicht die gleiche Bedeutung hatte wie in der west lichen Welt, nach deren Mode Royan gekleidet war. Wie gewöhnlich war er charmant und liebenswürdig. Hier in seinen eigenen Räumen trug er den bequemen weißen dishdas ha mit der entsprechenden Kopfbedeckung. Er schüttelte ihr mit freundlichem Lächeln die Hand, und wenn sie sich in Lon don begegnet wären, dann hätte er sie vielleicht auf die Wange geküßt, aber hier im Osten küßte ein Mann nur seine Ehefrau, und auch das nur im eigenen Haus. Er führte sie in sein privates Wohnzimmer, wo sein Sekretär ihnen einen starken schwarzen Kaffee in kleinen Tassen ser vierte und dann dablieb, um zu unterstreichen, daß bei dieser Begegnung die Anstandsregeln gewahrt wurden. Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten und einer kurzen Unter haltung über belanglose Dinge durfte Royan mit vorsichtigen
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Andeutungen auf den Hauptgrund ihres Besuchs zu sprechen kommen. »Ich habe in den vergangenen Tagen viel Zeit im Museum zugebracht und in der Bibliothek gearbeitet. Dort habe ich auch viele meiner alten Kollegen gesprochen und war überrascht zu hören, daß Nahoot seine Bewerbung um den Direktorenposten zurückgezogen hat.« Atalan seufzte. »Mein Neffe ist manchmal sehr eigensinnig. Er hätte den Job haben können, aber im letzten Augenblick sagte er mir, man habe ihm eine Anstellung in Deutschland angeboten. Ich versuchte ihm das auszureden. Ich sagte ihm, das Klima im Norden würde ihm nicht gefallen, nachdem er im Niltal aufgewachsen sei. Ich sagte ihm auch, daß es viele Dinge im Leben gibt – wie die Heimat und die Familie –, die sich mit Geld nicht bezahlen lassen. Aber –« Atalan hob die Hände. »Wen haben Sie nun für den Posten des Direktors vorgese hen?« fragte sie mit unschuldiger Miene, die ihn jedoch nicht täuschen konnte. »Wir haben noch keine Dauerlösung gefunden. Nachdem Nahoot verzichtet hat, ist mir noch niemand eingefallen, dem ich den Posten anbieten könnte. Vielleicht werden wir die Stel le international ausschreiben müssen. Ich würde es nicht gerne sehen, wenn ein Ausländer Direktor würde, auch wenn er sich noch so gut dafür eignete.« »Exzellenz, darf ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen?« fragte Royan und schaute zu dem Sekretär hinüber, der an der Tür stand. Atalan zögerte einen Augenblick. »Natürlich.« Er forderte den Sekretär mit einer Geste auf, das Zimmer zu verlassen. Als er gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Atalan mit leiser Stimme: »Was wollen Sie mit mir besprechen, meine Verehrte?« Nach einer Stunde verabschiedete sich Royan, und er beglei tete sie auf den Korridor vor seinen Diensträumen bis zum
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Aufzug. Als er ihr zum Abschied die Hand reichte, sagte er mit leiser, einschmeichelnder Stimme: »Wir werden uns bald wiederse hen, inshallah.« Als die Maschine der Egyptair in Heathrow landete und Royan das Flughafengebäude verließ, um sich in die Schlange vor dem Taxistand einzureihen, kam es ihr so vor, als sei es hier mindestens um fünfzehn Grad kälter als in Kairo. Ihr Zug traf am Spätnachmittag dieses nebligen, kühlen Tages in York ein, und vom Bahnhof aus rief sie die Nummer an, die Nicho las ihr gegeben hatte. »Sie törichtes Mädchen«, schalt er sie. »Warum haben Sie sich nicht angemeldet? Ich hätte sie am Flughafen abgeholt.« Es überraschte sie, festzustellen, wie sie sich freute, ihn wie derzusehen, und daß sie ihn vermißt hatte, als sie ihn aus dem Rangerover steigen und mit seinen langen Beinen auf sich zu kommen sah. Er trug keinen Hut und hatte sich, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, offenbar nicht die Haare schneiden lassen. Sein dunkles Haar war zerzaust, und die weißen Sträh nen an den Schläfen hingen ihm über die Ohren. »Was macht das Knie?« begrüßte er sie. »Müssen Sie noch getragen werden?« »Ist schon besser. Bald werde ich auch den Stock wegwerfen können.« Am liebsten hätte sie ihm die Arme um den Hals ge legt, unterließ es aber im letzten Augenblick, ihm ihre Gefühle zu zeigen, und bot ihm nur ihre rosigbraune Wange zum Kuß. Er roch gut – nach Leder und einem aromatischen Rasierwas ser, ausgesprochen männlich. Als er neben ihr am Steuer saß, startete er den Motor nicht sofort, sondern betrachtete ihr Gesicht im Licht der Straßenla terne, das es durch das Seitenfenster beleuchtete.
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»Sie sehen sehr selbstzufrieden aus, Madam. War die Katze etwa an der Sahne?« »Ich habe mich gefreut, alte Freunde wiederzusehen«, lä chelte sie, »ich muß aber zugeben, ein Aufenthalt in Kairo ist immer erfrischend.« »Zu Hause wartet noch kein Abendbrot auf uns. Ich denke, wir könnten in einem Pub essen. Worauf haben Sie Appetit, Steak mit Nierenpudding?« »Zuerst möchte ich meine Mutter besuchen. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Ich weiß nicht einmal, wie es ihrem Bein geht.« »Ich habe sie vorgestern besucht. Es geht ihr gut. Sie ist ent zückt von ihrem kleinen Hund. Sie hat ihn Taita getauft, kaum zu glauben!« »Sie sind wirklich ein sehr netter Mensch – ich meine, daß Sie sich die Mühe machen, sie zu besuchen.« »Ich mag sie gern. Sie ist eine reizende alte Dame. Solche Menschen sind selten geworden. Ich schlage vor, wir essen zunächst eine Kleinigkeit, und dann werde ich eine Flasche Laphroaig besorgen, die wir ihr mitbringen können.« Es war nach Mitternacht, als sie das Haus von Georgina ver ließen. Sie hatte reichlich dem Maltwhisky zugesprochen, den Nicholas ihr mitgebracht hatte, und nun stand sie in der offenen Küchentür, drückte ihren kleinen Hund an den vollen Busen, schwankte auf dem eingegipsten Bein ein wenig hin und her und winkte ihnen zu. »Sie haben einen schlechten Einfluß auf meine Mutter«, sag te Royan. »Wer hat einen schlechten Einfluß auf was?« protestierte er. »Einige ihrer Witze lassen sogar mich erröten.« »Sie hätten mir erlauben sollen, bei ihr zu bleiben.« »Taita wird ihr Gesellschaft leisten. Im übrigen brauche ich Sie und Ihre Mitarbeit sehr dringend. Es gibt eine Menge zu
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tun. Ich kann es kaum erwarten, Ihnen zu zeigen, womit ich mich beschäftigt habe, während Sie sich in Ägypten herumge trieben haben.« Die Haushälterin in Quenton Park hatte in der Wohnung hin ter der Kathedrale von York ein Schlafzimmer für sie vorberei tet. Als Nicholas ihr Gepäck die Treppe hinauftrug, hörte man hinter der Tür des Schlafzimmers im ersten Stock ein lautes Schnarchen, und sie sah Nicholas fragend an. »Das ist der Pionier Webb«, erklärte er. »Das neueste Mit glied unseres Teams. Ein tüchtiger Mechaniker. Sie werden ihn morgen kennenlernen, und ich glaube, er wird Ihnen gefallen. Er ist ein guter Angler.« »Und was hat das damit zu tun, daß er mir gefallen wird?« »Die besten Leute sind Angler.« »Anwesende ausgeschlossen«, lachte sie. »Werden Sie nach Quenton Park zurückfahren?« »In nächster Zeit werde ich um dieses Haus einen großen Bogen machen.« Er schüttelte den Kopf. »Es soll nicht bekannt werden, daß ich wieder in England bin. Es gibt Leute bei Lloyd’s, mit denen ich im Augenblick nicht sprechen möchte. Ich werde in dem kleinen Schlafzimmer im Obergeschoß über nachten. Rufen Sie nach mir, wenn Sie mich brauchen.« Als sie allein war, sah sie sich in dem kleinen hübschen Raum mit dem winzigen Badezimmer und dem riesigen Dop pelbett um, das fast das ganze Schlafzimmer in Anspruch nahm. Er hatte gesagt, sie solle nach ihm rufen, wenn sie ihn brauchte, und blickte gerade in dem Augenblick nach oben zur Decke, als sie hörte, wie er einen Schuh auf den Fußboden fal len ließ. »Führe mich nicht in Versuchung«, flüsterte sie. Sie glaubte, noch seinen Geruch zu riechen, und erinnerte sich an seinen muskulösen, schweißnassen Körper, an den sie sich geschmiegt
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hatte, als er sie auf dem steilen Pfad aus der Abbay-Schlucht heraustrug. Hunger und Verlangen waren zwei Worte, die seit Jahren in ihrem Vokabular fehlten. Nun drohten sie, in ihrem Leben eine neue Bedeutung zu gewinnen. »Genug davon, altes Mädchen«, schalt sie sich und ging ins Badezimmer, um das Wasser in die Wanne einlaufen zu lassen. Als Nicholas am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, klopfte er an ihre Tür und rief: »Kommen Sie, Royan. Das Le ben geht weiter, und wir haben noch viel zu tun.« Draußen war es noch stockdunkel, und sie stöhnte leise und fragte: »Wie spät ist es?« Aber er war schon weitergegangen, und sie hörte nur noch, wie er unten leise pfiff »The Big Rock Candy Mountain«. Sie sah auf ihre Uhr und seufzte: »Um sechs Uhr dreißig pfeifen, nachdem er und Mummy gestern abend den ganzen Whisky ausgetrunken haben. Kaum zu glauben. Dieser Mann ist wirklich ein Ungeheuer.« Nach zwanzig Minuten war sie unten in der Küche, wo er in einem dunkelblauen Pullover und mit einer Küchenschürze vor den Jeans das Frühstück zubereitete. »Seien Sie so lieb und schneiden Sie Toast für drei auf.« Er wies auf das Weißbrot neben dem elektrischen Toaster. »Die Omelette sind in fünf Minuten fertig.« Nun wandte sie sich dem anderen Mann in der Küche zu. Er war mittleren Alters, breitschultrig, hatte die Hemdsärmel bis zu den muskulösen Oberarmen aufgerollt, und sein runder Schädel war kahl wie eine Billardkugel. »Hallo«, sagte sie, »ich bin Royan Al Simma.« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Nicholas und deutete mit dem Schaumschläger auf seinen Freund. »Das ist Danny – Daniel Webb. Seine Freunde nennen ihn Sapper Pionier.«
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Mit der Kaffeetasse in seiner kräftigen großen Hand stand er auf und sagte: »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Al Simma. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee eingießen?« Seine Glatze war mit Sommersprossen übersät, und es fiel ihr auf, wie blau seine Augen waren. »Dr. Al Simma«, korrigierte Nicholas ihn. »Aber bitte nennen Sie mich Royan«, sagte sie schnell, »ja, ich nehme gern eine Tasse.« Während des Frühstücks wurden Äthiopien oder die Ge schichte Taitas mit keinem Wort erwähnt. Royan aß ihr Ome lett und hörte sich respektvoll einen Vortrag von Sapper an, der bis ins Detail erklärte, wie man einen Seglerfisch mit der Flie genrute fängt, während Nicholas ihn immer wieder schonungs los kritisierte, und alles, was er sagte, in Frage stellte. Ganz offensichtlich bestand ein gutes Freundschaftsverhältnis zwi schen den beiden, und sie war überzeugt, daß sie sich im Lauf der Zeit an diesen Anglerjargon gewöhnen würde. Nach dem Frühstück stand Nicholas mit der Kaffeekanne in der Hand auf und sagte: »Nehmen Sie Ihre Tassen mit und fol gen Sie mir.« Er führte Royan in das Empfangszimmer. »Ich habe eine Überraschung für Sie. Meine Leute im Museum haben rund um die Uhr gearbeitet, damit ich es Ihnen gleich nach Ihrer An kunft zeigen kann.« Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer mit dem imitierten Hornsignal »Tätärätä!« Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers stand der ausge stopfte gestreifte dik-dik mit den spitzen Hörnern. Sein Fell hatte Nicholas aus Afrika mitgebracht. Die kleine Antilope sah so lebensecht aus, daß Royan, als sie sich ihr näherte, einen Augenblick erwartete, sie würde vom Tisch springen und fort laufen. »O Nicky. Das ist ja sehr gut gelungen!« Sie ging um den
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Tisch herum und sah sich das Tierchen von allen Seiten an. »Das sind wirklich Künstler gewesen, die das gemacht haben.« Der dik-dik erinnerte sie lebhaft an die Hitze und den Geruch in der Schlucht, und irgendwie tat es ihr leid, daß dieses schöne und zierliche Lebewesen hatte sterben müssen. Seine gläsernen Augen glänzten wie bei einem lebenden Tier, und das Ende seines Rüssels wirkte feucht und biegsam, bereit, jeden ver dächtigen Geruch wahrzunehmen und zu prüfen. »Auch mir gefällt diese Arbeit. Es freut mich, daß Sie der gleichen Meinung sind.« Er streichelte das weiche, glatte Fell, und Royan wollte ihm die jungenhafte Freude, die er daran hatte, nicht verderben. »Sobald wir Taitas Rätsel gelöst haben, werde ich einen Bericht über den dik-dik schreiben und ihn dem naturhistorischen Museum schicken, den Burschen, die behauptet haben, mein Urgroßvater hätte gelogen. Das bin ich unserer Familienehre schuldig.« Er lachte, nahm das ausge stopfte Tier vorsichtig vom Tisch herunter, stellte es in eine Zimmerecke und deckte es mit einem Tuch zu. »Das war die erste Überraschung, mit der ich Sie empfangen wollte. Aber jetzt kommt die zweite, große.« Er zeigte auf das Sofa an der Wand. »Setzen Sie sich. Ich möchte nicht, daß Sie vor Schreck umfallen.« Sie lächelte über diesen Unsinn, ging aber gehorsam an das äußerste Ende des Sofas und setzte sich im Schneidersitz dar auf. Sapper Webb nahm am anderen Ende Platz. Offenbar war es ihm peinlich, sich direkt neben sie zu setzen. »Lassen Sie uns jetzt darüber sprechen, wie wir auf den Grund des Wasserbeckens kommen können, das der DanderaFluß in der Schlucht bildet«, schlug Nicholas vor. »Sapper hat in der Zeit, in der Sie verreist waren, über nichts anderes ge sprochen.« »Darüber und mit Sicherheit auch über das Angeln.« Sie lachte ihn an, und er senkte schuldbewußt den Blick.
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»Nun, beides hat etwas mit Wasser zu tun. Das ist meine einzige Rechtfertigung.« Doch dann kam er zur Sache. »Sie erinnern sich daran, daß wir darüber gesprochen haben, man könnte Taitas Wasserbecken mit Hilfe eines UnterwasserAtemgerätes untersuchen, und daß ich gesagt habe, auf welche Schwierigkeiten wir dabei stoßen würden.« »Das ist richtig«, stimmte sie ihm zu. »Sie sagten, die Strö mung, die einen in die Öffnung unter der Wasseroberfläche ziehen würde, sei zu stark, und wir müßten eine andere Metho de finden, hineinzukommen.« »Sie haben recht.« Nicholas lächelte geheimnisvoll. »Nun, Sapper hat bereits das viele Geld verdient, das ich ihm verspro chen habe – ich sage versprochen und nicht bezahlt. Nach sei ner Ansicht gibt es noch eine andere Methode.« Jetzt war auch sie ernsthaft interessiert. Sie rutschte nach vorn, stellte die Füße auf den Boden, beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die hohlen Hände. »Wahrscheinlich hat seine ungewöhnliche Intelligenz die Leistungsfähigkeit seines Gehirns so sehr in Anspruch ge nommen, daß ihm keine Haare mehr gewachsen sind. Das heißt, er hat sehr gründlich nachgedacht. Obwohl wir beide unmittelbar davorstanden, sind weder Sie noch ich auf diesen Gedanken gekommen.« »Hören Sie auf, Nicky«, drohte sie ihm. »Sie tun es schon wieder.« »Ich will Sie nur auf etwas hinweisen.« Ohne ihre Warnung zu beachten, fuhr er fort, sie zu necken. »Manchmal sind die alten Methoden die besten. Darauf wollte ich Sie aufmerksam machen.« »Warum sind Sie bei all Ihrer Klugheit noch kein berühmter Mann?« fing sie an, unterbrach sich jedoch, als ihr die Lösung einfiel. »Die alten Methoden? Sie meinen, wir sollten das Pro blem ebenso lösen, wie Taita es getan hat, und den Boden des
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Beckens ebenso wie er ohne Taucherausrüstung erreichen?« »Lieber Himmel! Ich glaube, sie hat es begriffen!« In diesem Augenblick erinnerte Nicholas an Rex Harrison in seinen be sten Szenen. »Ein Damm.« Royan klatschte in die Hände. »Sie schlagen vor, an der gleichen Stelle einen Staudamm zu bauen, an der Taita vor viertausend Jahren seinen Damm gebaut hat.« »Sie hat es tatsächlich begriffen!« lachte Nicholas. »Es gibt keine Fliegen, mit denen man diese junge Dame fangen kann! Zeigen Sie ihr die Zeichnungen, Sapper.« Sapper Webb versuchte nicht, seine Selbstzufriedenheit zu verbergen, sondern ging zu der Tafel, die ihnen gegenüber an der Wand lehnte. Royan hatte sie schon gesehen, aber nicht weiter beachtet, bis er nun das darüberhängende Tuch fortzog und stolz die Zeichnungen zeigte, die auf der Tafel angeheftet waren. Sie erkannte sofort die Vergrößerungen der Fotos, die Ni cholas am Dandera-Fluß dort aufgenommen hatte, wo vermut lich Taitas Damm errichtet worden war, daneben aber auch die Aufnahmen von dem alten Steinbruch, den Tamre ihnen ge zeigt hatte. Auf diesen Vergrößerungen waren jetzt mit einem schwarzen Stift Berechnungen eingetragen und gerade Linien gezogen worden. »Der Major hat mir gesagt, welche Ausmaße das Flußbett nach seiner Schätzung an dieser Stelle hat, und er hat außerdem berechnet, wie hoch der Staudamm sein muß, wenn das Wasser in das alte Flußbett abgeleitet werden soll. Ich habe natürlich mögliche Fehler in diesen Berechnungen berücksichtigt. Wenn die Abweichungen nicht größer sind als dreißig Prozent, dann glaube ich, daß unser Vorhaben auch mit der sehr unvollstän digen Ausrüstung, über die wir verfügen, durchführbar sein wird.« »Wenn die alten Ägypter diesen Damm bauen konnten, dann
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wird es für Sie eine Kleinigkeit sein, Sapper.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Major, das zu sagen, aber ich würde nicht behaupten, es sei eine ›Kleinigkeit‹.« Er drehte sich zu den Zeichnungen hin, die er neben den Fo tos auf die Tafel geheftet hatte, und Royan sah, daß es im ein zelnen ausgearbeitete Pläne für die Verwirklichung des Vorha bens waren, das sich auf die Fotos und die Schätzungen von Nicholas stützte. »Es gibt die verschiedensten Methoden für den Bau von Dämmen, aber die meisten setzten voraus, daß man über reich lich Zement für die Herstellung von Eisenbeton und über schweres Gerät für größere Erdbewegungen verfügt. Soweit ich weiß, werden uns diese modernen Hilfsmittel nicht zur Verfü gung stehen.« »Denken Sie an Taita«, sagte Nicholas. »Er kannte noch kei ne Bulldozer.« »Andererseits verfügten die Ägypter wahrscheinlich über je de Menge Sklaven.« »Sklaven kann ich Ihnen beschaffen – oder die Arbeitskräfte, die heute ihre Stelle einnehmen. Allerdings vielleicht nicht in unbegrenzter Zahl.« »Je mehr es sind, desto eher kann ich den Fluß in sein altes Bett ableiten. Dabei sind wir uns der Tatsache bewußt, daß es vor Beginn der Regenzeit geschehen muß.« »Dann bleiben uns höchstens noch zwei Monate.« Nicholas war offenbar bereit, sich jetzt ernsthaft mit diesem Problem zu befassen. »Was nun die Arbeitskräfte betrifft, so werde ich mich um die Unterstützung durch die Mönche im Kloster des heiligen Frumentius bemühen. Ich muß nur noch einen theolo gischen Grund finden, mit dem ich sie davon überzeugen kann, den Damm zu bauen. Ich glaube nicht, daß ich ihnen einreden könnte, das Heilige Grab befände sich nicht in Jerusalem, son dern wir hätten es in Äthiopien entdeckt.«
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»Besorgen Sie die Arbeitskräfte, und ich werde Ihren Damm bauen«, brummte Sapper. »Wie Sie schon gesagt haben, die alten Methoden sind die besten. Höchstwahrscheinlich haben die alten Ägypter für den Bau des Fundaments eines solchen Damms Schanzkörbe und Kisten verwendet.« »Ich bitte um Entschuldigung«, unterbrach ihn Royan. »Schanzkörbe? Ich bin keine ausgebildete Mechanikerin.« »Ich muß mich entschuldigen.« Sapper unternahm den etwas unbeholfenen Versuch, höflich zu sein. »Darf ich Ihnen meine Zeichnungen zeigen.« Er ging an die Tafel. »Dieser Taita hat wahrscheinlich große, aus Bambus geflochtene Körbe benutzt, die er am Flußufer mit Felsbrocken und Steinen füllte. Wir nennen das Schanzkörbe.« Dann zeigte er auf seine Pläne. »Dann hat er wahrscheinlich mit roh zugehauenen Balken zwi schen den Schanzkörben kreisrunde Kisten aufgestellt, die ebenfalls mit Steinen und Erde gefüllt wurden, und auf diese Weise entstand ein sogenannter Kofferdamm.« »Im großen und ganzen ist mir die Sache jetzt klar«, sagte Royan, »aber es ist sicher nicht notwendig, daß ich alle Einzel heiten begreife.« »Richtig!« sagte Sapper. »Der Major hat mir zwar versichert, daß es an Ort und Stelle jede Menge Bauholz gibt, aber ich möchte für die Herstellung des Kofferdamms Maschendraht benutzen und brauche Arbeitskräfte, um die Körbe mit Steinen und anderem Material zu füllen.« »Maschendraht?« wollte Royan wissen. »Wo werden Sie in der Schlucht des Blauen Nil Maschendraht finden?« Sapper wollte antworten, aber Nicholas unterbrach ihn. »Diese Frage werde ich später beantworten. Lassen Sie Sapper zuerst seinen Plan erläutern und verderben Sie ihm nicht den Spaß. Sagen Sie Royan, was Sie mit den Steinen im Steinbruch vorhaben. Das wird sie freuen.« »Zwar ist der Damm nur als Notbehelf gedacht und soll nach
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einer gewissen Zeit wieder abgetragen werden, aber wir müs sen dafür sorgen, daß er dem Wasserdruck lange genug stand hält, damit unser Team gefahrlos in den unter Wasser liegen den Tunnel einsteigen kann, der in das stromabwärts liegende Becken führt –« »Wir nennen es Taitas Wasserbecken«, sagte Nicholas, und Sapper nickte. »Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß der Damm nicht bricht, solange unsere Leute in diesem Tunnel sind. Sie können sich vorstellen, welche Folgen das haben würde.« Er schwieg einen Augenblick und ließ den anderen Zeit, über diese Möglichkeit nachzudenken. Royan kreuzte die Arme vor der Brust, denn sie schauderte bei dem Gedanken. »Das wäre allerdings sehr unangenehm«, sagte Nicholas. »Sie wollen also diese Steinquader einsetzen?« fragte er Sap per. »Richtig. Ich habe mir die Aufnahmen vom Steinbruch sehr genau angesehen, und dabei habe ich festgestellt, daß dort mehr als einhundertfünfzig fertige oder halbfertige Granitblök ke liegen, und ich glaube, wenn wir sie zusammen mit den Schanzkörben aus Maschendraht und den Kästen einsetzen, werden wir ein haltbares Fundament für den Damm gelegt ha ben.« »Jeder dieser Granitblöcke muß viele Tonnen wiegen«, sagte Royan. »Wie wollen Sie diese Steinquader an die Baustelle bringen?« Doch als Sapper den Mund öffnete, um es ihr zu erklären, überlegte sie sich die Sache noch einmal. »Nein! Sa gen Sie nichts. Wenn Sie es für möglich halten, werde ich Ih nen glauben.« »Es ist möglich«, versicherte Sapper. »Taita ist es gelungen«, sagte Nicholas, »und wir werden nach seinen Methoden verfahren. Das wird Ihnen doch sicher lich gefallen. Schließlich sind Sie mit ihm verwandt.«
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»Sie wissen, daß Sie recht haben. Irgendwie freut mich das auch.« Sie lächelte ihn an. »Ich glaube, das ist ein gutes Omen. Und wann wird das alles geschehen?« »Es geschieht schon jetzt«, sagte Nicholas. »Sapper und ich haben den Proviant und die Ausrüstungsgegenstände bereits bestellt, die wir mitnehmen wollen. Sogar der Maschendraht für die Schanzkörbe ist schon von einer kleinen Eisenwarenfa brik hier in der Nähe zugeschnitten worden. Als Folge der wirtschaftlichen Flaute standen einige ihrer Maschinen unbe nutzt herum.« »Ich bin jeden Tag in ihrer Werkstatt gewesen und habe das Zuschneiden und Einpacken überwacht«, erklärte Sapper. »Die Hälfte der Lieferung ist schon unterwegs. Der Rest wird noch diese Woche folgen.« »Sapper wird heute nachmittag abreisen und das Verladen überwachen. Wir beide haben dann noch Zeit, das zu erledigen, was uns hier zu tun übrig bleibt. Zum Wochenende werden auch wir uns auf den Weg machen. Vergessen Sie nicht, daß ich Sie nicht so früh aus Kairo zurückerwartet habe«, sagte Nicholas. »Hätte ich gewußt, daß Sie jetzt schon hier sein wür den, dann hätten wir alle gemeinsam nach Valetta fliegen kön nen.« »Valetta?« Royan sah ihn verwundert an. »Das liegt doch auf der Insel Malta? Ich hatte gedacht, unser Reiseziel sei Äthiopien.« »Malta ist der Sitz des Unternehmens von Jannie Baden horst.« »Jannie, und wie heißt die Firma?« »Badenhorst. Africair.« »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.« »Africair ist ein Lufttransportunternehmen, dem eine alte Hercules der britischen Luftwaffe gehört, die von Jannie und seinem Sohn Fred geflogen wird. Die Operationsbasis des Un
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ternehmens ist die Insel Malta. Das ist ein stabiles und nüch ternes kleines Land – keine afrikanische Politik, keine Korrup tion –, und doch starten hier die meisten Flüge in den Mittleren Osten und die nördliche Hälfte von Afrika, wo Jannie und Fred am häufigsten zu tun haben. Ihr Hauptgeschäft ist das Schmug geln von alkoholischen Getränken in die islamischen Länder. Jannie ist der Al Capone des Mittelmeerraums. Der Alkohol schmuggel ist das große Geschäft in diesem Teil der Welt, aber das Unternehmen unternimmt auch andere Aufgaben. Duraid und ich sind von dort aus mit Jannie zu unserem kleinen Aus flug in das Tibetimassiv geflogen. Nun wird uns Jannie zum Blauen Nil bringen.« »Nicky, ich möchte keine Spielverderberin sein, aber Sie und ich gelten in Äthiopien als unerwünschte Ausländer. Haben Sie diese kleine Schwierigkeit übersehen? Wie sollen wir dort hin kommen?« »Durch die Hintertür«, grinste Nicholas, »und mein alter Freund Mek Nimmur ist der Torhüter.« »Haben Sie sich schon mit Mek in Verbindung gesetzt?« »Mit Tessay. Offenbar hat sie es übernommen, für ihn die notwendigen Verbindungen aufrechtzuerhalten. Das ist für Mek sehr günstig, denn sie kennt alle wichtigen Leute und kann, ohne daß es auffällt, nach Khartum, Adis Abeba oder in andere Gegenden reisen, wo es für ihn ungünstig oder gefähr lich wäre, sich sehen zu lassen.« »Sehr gut!« Royan schien beeindruckt zu sein. »Sie sind sehr fleißig gewesen.« »Nicht jeder von uns kann sich einen Vergnügungsurlaub in Kairo leisten«, erwiderte er sarkastisch. »Noch eine kleine Frage.« Sie überhörte diese Stichelei, ob wohl es ihr trotz seines freundlichen Lächelns bewußt war, daß ihre Abwesenheit ihn geärgert haben mußte. »Weiß Mek etwas über Taitas Versteckspiel?«
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»Nichts Genaues.« Nicholas schüttelte den Kopf. »Aber er vermutet etwas in dieser Richtung, und jedenfalls weiß ich, daß ich mich auf ihn verlassen kann.« Er zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort. »Tessay war sehr zurückhaltend, als ich mit ihr telefonierte, aber augenscheinlich ist das Kloster des heili gen Frumentius überfallen worden. Jali Hora und dreißig oder vierzig seiner Mönche wurden massakriert, und die meisten Heiligtümer in der Kirche wurden geraubt.« »Mein Gott, nein!« Royan war erschüttert. »Wer würde so etwas tun?« »Dieselben Leute, die Duraid ermordet und dreimal versucht haben, Sie umzubringen.« »Pegasus.« »Schiller«, bestätigte er ihren Verdacht. »Dann sind wir dafür verantwortlich«, flüsterte Royan. »Wir haben sie auf das Kloster aufmerksam gemacht. Die Polaroi daufnahmen, die ihnen bei dem Überfall auf unser Camp in die Hände gefallen sind, werden ihnen die Stele und die Grab kammer des Tanus gezeigt haben. Schiller mußte kein Hellse her sein, um zu erraten, wo diese Aufnahmen entstanden sind. Jetzt klebt an unseren Händen noch mehr Blut.« »Zum Teufel, Royan, Sie können doch nicht die Verantwor tung für den Wahnsinn Schillers übernehmen. Ich werde es nicht zulassen, daß Sie sich deshalb Vorwürfe machen«, sagte Nicholas wütend. »Wir haben diese ganze Sache angefangen.« »Da muß ich Ihnen widersprechen, aber ich gebe zu, daß Schiller das Allerheiligste in der Klosterkirche ausgeraubt und die Stele ebenso wie den Sarg in seine Sammlung aufgenom men hat.« »O Nicky, ich habe ein so schlechtes Gewissen. Ich habe nie geglaubt, daß wir für diese einfachen frommen Christen eine solche Gefahr werden könnten.«
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»Wollen Sie jetzt die ganze Sache abblasen?« fragte er rück sichtslos. Sie überlegte sich alles sehr gründlich und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Vielleicht können wir bei unserem nächsten Besuch im Kloster die Mönche irgendwie für das entschädigen, was sie verloren haben, wenn wir ihnen einen Teil dessen geben, was wir am Boden des Wasserbeckens von Taita finden.« »Das hoffe ich«, stimmte er ihr zu. »Ich hoffe es wirklich.« Die große viermotorige Turbopropmaschine vom Typ Her cules C-Mkl war schmutzigbraun angestrichen, und die Kenn zeichen auf dem Rumpf waren verblichen und kaum zu entzif fern. Auf der ganzen Maschine war nirgends das Firmenzei chen der Africair zu sehen. Das Flugzeug machte einen alten, schäbigen Eindruck und ließ deutlich erkennen, daß es schon fast vierzig Jahre alt war und mehr als eine halbe Million Flug stunden hinter sich hatte, bevor es in den Besitz von Jannie Badenhorst gekommen war. »Und das Ding soll noch fliegen?« fragte Royan, als sie die Maschine verloren in einer Ecke des Flugplatzes von Valetta stehen sah. Mit ihrem dicken Leib erinnerte sie an ein altes trauriges Straßenmädchen, das als Folge einer ungewollten Schwangerschaft sein Geschäft hatte aufgeben müssen. »Daß die Maschine so verkommen aussieht, ist Absicht«, versicherte Nicholas. »In den Teilen der Welt, in die Jannie fliegt, ist es am besten, keinen Neid zu erregen.« »Dann hat er sicher erreicht, was er will.« »Aber Jannie und Fred sind erstklassige Flugzeugmechani ker. Die Maschine unter der Motorhaube von Big Dolly ist in einem hervorragenden Zustand.« »Big Dolly?«
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»Jannie ist ein Fan von Dolly Parton.« Das Taxi setzte sie und ihr dürftiges Gepäck an der Seitentür des Hangars ab, und Nicholas bezahlte den Fahrer, während Royan mit den Händen in den Taschen ihres Anoraks vor Kälte zitterte. »Da kommt Jannie schon.« Nicholas zeigte auf die untersetz te Gestalt eines Mannes im ölverschmierten, braunen Overall, der die Laderampe der Hercules herunterkam. Als er sie sah, sprang er von der Rampe. »Hallo! Sind Sie endlich doch gekommen? Ich hatte es schon fast aufgegeben, noch länger zu warten«, sagte er, als er über die Rollbahn auf sie zukam. Er sah aus wie ein Rugby spieler, was er in seiner Jugend auch gewesen war, und daß er etwas hinkte, war die Folge einer Verletzung, die er sich auf dem Spielfeld zugezogen hatte. »Unser Abflug in Heathrow hat sich verspätet. Die französi schen Flugpiloten streikten. Das sind die Freuden des interna tionalen Luftverkehrs«, erklärte Nicholas und stellte ihm dann Royan vor. »Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen meine neue Sekretärin vorstellen«, forderte Jannie sie auf. »Vielleicht hat sie sogar eine Tasse Kaffee für Sie.« Er führte sie durch eine kleine Tür im Haupttor des Hangars und dann in ein winziges Büro, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift »Africair« und dem Firmenzeichen, einem ge flügelten Kriegsbeil, angebracht war. Jannies neue Sekretärin Mara stammte aus Malta und war nur wenige Jahre jünger als er. Was ihr an Jugend und Schönheit fehlte, machte sie mit dem gewaltigen Busen wett. »Jannie hat eine Vorliebe für reife Frauen mit möglichst großer Oberweite«, flüsterte Nicholas Royan ins Ohr. Mara bot ihnen Kaffee an, während Jannie mit Nicholas über seinen Flugplan sprach. »Es ist etwas kompliziert«, entschuldigte er sich. »Wie Sie
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sich vorstellen können, werden wir hin und wieder kleine Um wege machen müssen. Moamar Gaddaffi ist im Augenblick nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Deshalb ist es rat sam, sein Territorium nicht zu überfliegen. Zuerst werden wir nach Ägypten fliegen, aber ohne dort zu landen.« Er erläuterte Nicholas die Flugroute auf einer Karte, die auf seinem Schreib tisch lag. »Auch über dem Sudan gibt es ein kleines Problem. Gegen wärtig sind die Leute dort mit einem Bürgerkrieg beschäftigt.« Er blinzelte Nicholas zu. »Aber die Regierung im Norden ver fügt nicht über die modernsten Radargeräte. Es ist fast alles von den Russen ausgemustertes Gerumpel. Der Sudan ist ein riesiges Land, und Fred und ich kennen genau die Bereiche, die außerhalb der Reichweite dieser Radargeräte liegen. Zudem werden wir es vermeiden, ihren Militäreinrichtungen zu nahe zu kommen.« »Wie lange wird der Flug dauern?« wollte Nicholas wissen. Jannie verzog sein Gesicht. »Big Dolly ist kein Hochge schwindigkeitsflugzeug, und wie ich schon sagte, werden wir Umwege machen müssen.« »Wie lange wird es dauern?« wiederholte Nicholas seine Frage. »Fred und ich haben Schlafkojen und eine Küche in die Ma schine eingebaut, und so werden Sie sich auf dem Flug wie zu Hause fühlen.« Er nahm seine Kappe ab und kratzte sich am Kopf, bevor er zugab, »fünfzehn Stunden«. »Kann Big Dolly das durchhalten?« wollte Nicholas wissen. »Reservetanks und einundsiebzigtausend Liter Flugbenzin – damit können wir sogar nach Ihrer Ladung – ohne nachzutan ken – hin- und zurückfliegen.« Er wurde unterbrochen, als sich das große Tor des Hangars öffnete und ein schwerer Lastwagen hereinfuhr. »Das werden Fred und Sapper sein.« Jannie trank seinen Kaffee aus und umarmte Mara. Sie kicherte, und ihr
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Busen bebte wie ein Schneefeld vor dem Abgang einer Lawine. Der Lastwagen fuhr bis zum Ende des Hangars, wo die Aus rüstung und der Proviant bereitlagen, um verladen zu werden. Fred stieg aus dem Führerhaus, und Jannie stellte ihm Royan vor. Er war die jüngere Ausgabe seines Vaters, und mit seinem offenen freundlichen Gesicht glich er eher einem südafrikani schen Schafzüchter als dem Piloten eines Transportflugzeugs. »Das ist die letzte Lastwagenladung.« Sapper ging um den Lastwagen herum und schüttelte Nicholas die Hand. »Wir kön nen sofort mit der Verladung beginnen.« »Ich möchte morgen früh schon vor vier Uhr starten. Dann werden wir morgen abend zur günstigsten Zeit an unserem Treffpunkt sein«, sagte Jannie. »Jetzt haben wir noch einiges zu tun, wenn wir vorher noch ausschlafen wollen.« Er zeigte auf die Stahlpaletten, die beladen werden sollten. »Eigentlich wollte ich uns von ein paar Burschen hier helfen lassen, aber Sapper hat das abgelehnt.« »In Ordnung«, sagte Nicholas. »Je weniger wir sind, desto besser. Fangen wir an.« Die Ladung war schon mit Nylonseilen und Netzen auf den Paletten befestigt. Im ganzen waren es sechsunddreißig beladene Paletten und dazu die Leinensäcke mit den Fallschirmen für jede Ladung. Für den Transport dieser umfangreichen Ladung mußte die Maschine zweimal nach Afrika fliegen. Royan las von der getippten Liste vor, welche Gegenstände auf jeder einzelnen Palette verladen sein sollten, während Ni cholas die Vollständigkeit der Ladungen überprüfte. Nicholas und Sapper hatten die Ladungen so zusammengestellt, daß al les, was man sofort brauchte, auf dem ersten Flug mitgenom men wurde. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, daß alle Paletten vollständig beladen waren, gab er Fred, der den Ga belstapler bediente, das Zeichen, mit dem Verladen zu begin nen. Fred nahm die einzelnen Paletten auf, fuhr mit ihnen aus
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dem Hangar hinaus und dann über die Rampe zur Ladeluke der Hercules. Im Laderaum des riesigen Flugzeugs halfen ihm Jannie und Sapper, die Paletten auf den Rollen richtig zu verteilen und dann festzubinden. Der letzte Teil der Ladung war der kleine Frontgabelstapler. Sapper hatte ihn auf dem Parkplatz eines Gebrauchtwagen händlers in York entdeckt, und nachdem er ihn ausgiebig gete stet hatte, erklärte er, etwas Besseres hätte er nicht finden kön nen. Nun fuhr er selbst den Gabelstapler die Rampe hinauf und befestigte ihn sorgsam auf dem Rollenbock. Der Gabelstapler war etwa so schwer wie ein Drittel der Ge samtladung, aber Sapper glaubte, er würde ihn unbedingt sofort brauchen, um die Erdarbeiten für den Damm so rasch zu been den, wie Nicholas es vorgesehen hatte. Nach seiner Berech nung brauchte er fünf Lastenfallschirme, um das schwere Fahr zeug unbeschädigt auf die Erde bringen zu können. Der dafür benötigte Kraftstoff stellte allerdings ein besonderes Problem dar. Die zweite Ladung würde hauptsächlich aus Dieselöl in besonderen Nylontanks bestehen, die, wenn sie an Fallschir men abgeworfen wurden, den Aufprall aushielten. Es war schon nach Mitternacht, als die erste Ladung im Flugzeug verstaut war. Die restlichen Paletten warteten noch an der Wand des Hangars auf die Rückkehr von Big Dolly für den zweiten Flug. Nun hatten alle Anwesenden Zeit genug, die maltesischen Spezialitäten zu genießen, die Mara ihnen in dem kleinen Büro der Firma Africair vorsetzte. »Ja«, versicherte Jannie, »sie ist auch eine gute Köchin«, und drückte sie liebevoll an sich, als sie sich über ihn beugte, um ihm eine Portion Tintenfische auf den Teller zu legen und da bei ihren fülligen Busen an seiner Schulter ruhen ließ. »Auf eine glückliche Landung!« sagte Nicholas und hob sein Glas mit rotem Chianti.
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»Acht Stunden Pause zwischen Steuerknüppel und Flasche«, entschuldigte sich Jannie und erwiderte den Toast mit CocaCola. Sie krochen in die Kojen in der Kabine der Hercules, um vor dem Abflug noch ein paar Stunden zu schlafen, aber Royan kam es vor, als seien nur wenige Minuten vergangen, als sie von den beiden Piloten geweckt wurde, die die Motoren der großen Turbopropmaschine versuchsweise starteten. Während Jannie über Funk mit den Fluglotsen im Kontrollturm sprach und Fred auf die Startbahn hinausrollte, stiegen sie aus ihren Kojen und schnallten sich auf ihren Sitzen in der Fahrgastkabi ne an. Big Dolly stieg in den Nachthimmel auf, und die Lichter auf der Insel verschwanden allmählich in der Dunkelheit. Von nun an war nur noch die schwarze See unter ihnen, und über ihnen wölbte sich der Sternenhimmel. Royan lächelte Nicholas im schwachen Licht der Kabinenbeleuchtung zu. »Nun, Taita, stehen wir wieder hinter den Kulissen und war ten auf unseren letzten Auftritt.« Sie war sichtlich erregt. »Nur gut, daß wir gezwungen sind, uns auf diese Weise ins Land zu schmuggeln, denn Pegasus wird nun eine gewisse Zeit brauchen, um festzustellen, daß wir zur Abbay-Schlucht zu rückgekehrt sind«, sagte Nicholas zufrieden. »Hoffen wir, daß Sie recht haben.« Royan hob die Hand und kreuzte die Finger. »Wir werden genug mit der Lösung der Rätsel zu tun haben, die Taita für uns bereithält, ohne uns noch um Pegasus kümmern zu müssen.« »Sie sind schon auf dem Rückweg nach Äthiopien«, sagte Schiller und war sich seiner Sache offenbar ganz sicher. »Woher wissen Sie das so genau, Herr von Schiller?« fragte Nahoot. Schiller sah ihn herablassend an. Er konnte den Ägypter im
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Grunde nicht ausstehen und bedauerte schon seit einiger Zeit, daß er ihn für sich arbeiten ließ. Nahoot war bei der Interpreta tion der Hieroglyphen auf der Stele, die sie aus dem Kloster mitgenommen hatten, nicht sehr viel weitergekommen. Ihre Übersetzung war nicht besonders schwierig gewesen. Schiller war überzeugt, daß ihm das im Lauf der Zeit und unter Verwendung der umfangreichen Fachliteratur in seiner Biblio thek auch ohne Nahoots Hilfe gelungen wäre. Der Text bestand zum großen Teil aus unverständlichen, zusammenhanglosen Reimen, Die Schriftzeichen und Hieroglyphen auf der einen Seite der Stele hatten keine Beziehung zu dem Text auf den anderen drei Seiten. Aber obwohl Nahoot das nicht zugeben wollte, hatte er die Bedeutung dieser Texte offenbar nicht verstanden. Schiller hatte keine Geduld mehr mit ihm und hatte es satt, Nahoots Ausreden und leere Versprechungen anzuhören. Ihn ärgerte seine ganze Art, der schleimige, unterwürfige Ton seiner Stimme und der traurige Ausdruck seiner tiefliegenden Augen. Doch am wenigsten konnte Schiller es vertragen, daß Nahoot immer wieder die Richtigkeit dessen bezweifelte, was er, Gott hold von Schiller, ihm sagte. »General Obeid hat mir, als sie Addis Abeba verließen, alle Einzelheiten ihres Flugplanes melden können. So war es mir ohne weiteres möglich, ihre Ankunft auf dem Flughafen in England von meinen Leuten überwachen zu lassen. Weder Harper noch die Frau sind Menschen, die man leicht übersehen kann, auch nicht in einer größeren Menschenmenge. Meine Männer sind der Frau bis nach Kairo gefolgt –« »Verzeihen Sie, Herr von Schiller, aber warum haben Sie diese Frau nicht erledigen lassen, wenn Sie jederzeit gewußt haben, wo sie sich aufhält?« »Dummkopf!« fuhr Schiller ihn an. »Wahrscheinlich wird sie mich sehr viel eher zum Grab des Mamose führen als Sie.«
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»Aber Sir, ich habe doch alles getan –«, verteidigte sich Na hoot. »Sie haben gar nichts getan, sondern nur versucht, Ihr eige nes Versagen zu entschuldigen. Es liegt an Ihnen, daß die Stele immer noch ein Rätsel für uns ist«, unterbrach ihn Schiller ver ächtlich. »Es ist sehr schwierig –« »Allerdings ist es schwierig. Deshalb habe ich Sie auch so großzügig bezahlt. Wenn es leicht wäre, hätte ich es selbst ge tan. Wenn es die Anweisung des Schreibers Taita für das Auf finden des Grabes von Mamose ist, dann hat dieser den Text absichtlich verschlüsselt.« »Wenn Sie mir etwas mehr Zeit lassen, dann werde ich den Schlüssel wahrscheinlich sehr bald finden können.« »Aber Sie haben keine Zeit mehr. Haben Sie nicht gehört, was ich Ihnen eben gesagt habe? Harper ist auf dem Wege zur Schlucht des Blauen Nil. Sie sind gestern abend in einer schwerbeladenen Chartermaschine von Malta abgeflogen. Meine Männer haben nicht feststellen können, woraus diese Ladung besteht. Wir wissen nur, daß sie auch einen Frontlade traktor mitgenommen haben. Das kann nur bedeuten, daß sie wissen, wo sich die Grabkammer befindet, und sie freilegen wollen.« »Sobald sie das Kloster erreicht haben, werden Sie sie erle digen können.« Dieser Gedanke gefiel Nahoot besonders gut. »Oberst Nogo wird –« »Weshalb muß ich mich ständig wiederholen?« fuhr Schiller ihn an und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sie werden uns zum Grab des Mamose führen. Deshalb darf ihnen jetzt auf keinen Fall etwas geschehen«, sagte er und sah Nahoot wütend an. »Ich schicke Sie noch heute nach Äthiopien zurück. Viel leicht werden Sie mir dort nützlich sein können. Hier kann ich Sie jedenfalls nicht mehr gebrauchen.«
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Nahoot war verärgert, wagte es aber nicht, zu widersprechen, sondern saß mißmutig da, als Schiller fortfuhr: »Sie werden im Basislager bleiben und Helm zur Verfügung stehen. Folgen Sie seinen Befehlen, als kämen sie direkt von mir. Haben Sie mich verstanden?« »Ja, Herr von Schiller«, brummte Nahoot widerwillig. »Kümmern Sie sich nicht um Harper und die Frau. Sie dür fen nicht einmal wissen, daß Sie im Basislager sind. Die Geo logen von Pegasus werden wie bisher weiterarbeiten.« Er machte eine Pause und lächelte gezwungen. Dann fuhr er fort: »Es ist sehr gut, daß Helm Anzeichen für ergiebige Galenitvor kommen gefunden hat. Das ist, wie Sie vielleicht wissen, ein bleihaltiges Mineral. Er wird seine Untersuchungen fortsetzen, und wenn er feststellt, daß sich seine Erwartungen erfüllen, kann die Ausbeute ein sehr gutes Geschäft werden.« »Welche Aufgaben werde ich im einzelnen übernehmen müssen?« wollte Nahoot wissen. »Sie werden die weitere Entwicklung abwarten. Sie sollen sich bereit halten, auf jeden Fortschritt, den Harper macht, zu reagieren. Sie müssen ihm allerdings weitgehende Handlungs freiheit lassen. Sie dürfen ihn nicht dadurch beunruhigen, daß Sie sich in der Nähe seines Camps sehen lassen oder es mit dem Hubschrauber überfliegen. Keine nächtlichen Überfälle mehr! Alles, was Sie unternehmen, muß vorher mit mir abge klärt werden. Ich wiederhole, alles, bevor Sie etwas unterneh men.« »Wenn Sie mir solche Beschränkungen auferlegen, wie soll ich dann wissen, ob Harper und die Frau irgendwelche Fort schritte gemacht haben?« »Oberst Nogo hat bereits einen zuverlässigen Mann, einen Spion, im Kloster. Er wird uns alles melden, was Harper unter nimmt.« »Aber was habe ich dabei zu tun? Welche Aufgaben muß ich
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übernehmen?« »Sie werden auswerten, was wir von Nogo erfahren. Sie sind vertraut mit archäologischen Methoden. Sie werden beurteilen können, was Harper zu erreichen sucht, und Sie werden uns sagen können, wie erfolgreich er dabei ist.« »Ich verstehe«, murmelte Nahoot. »Wenn ich könnte, würde ich selbst in der Abbay-Schlucht nach dem Rechten sehen. Aber das ist unmöglich. Es wird eine gewisse Zeit dauern, vielleicht Monate, bis Harper entschei dend vorankommt. Sie wissen selbst sehr gut, wieviel Zeit so etwas braucht.« »Howard Carter hat zehn Jahre in Theben gearbeitet, bevor er auf das Grab von Tut-ench-Amun stieß«, erwiderte Nahoot hämisch. »Ich hoffe, so lange wird es diesmal nicht dauern«, sagte Schiller kühl. »Wenn es so viel Zeit in Anspruch nimmt, dann werden Sie an dieser Suche wahrscheinlich nicht mehr teil nehmen. Was mich betrifft, so habe ich in nächster Zeit hier in Deutschland sehr wichtige Verhandlungen zu führen und muß außerdem an der jährlichen Hauptversammlung meines Unter nehmens teilnehmen. Meine Anwesenheit dort ist unbedingt erforderlich.« »Sie werden also nicht nach Äthiopien zurückkommen?« Nahoot war sichtlich erleichtert bei dem Gedanken, daß er eine Zeitlang nicht in einer so unangenehmen Weise von Schiller beaufsichtigt werden würde. »Ich werde kommen, wenn meine Anwesenheit dort erfor derlich wird, und Sie werden mir sagen, wenn es soweit ist.« »Und was soll mit der Stele geschehen? Soll ich –« »Sie werden weiter an der Übersetzung arbeiten.« Schiller hatte keine Lust, sich die Einwände Nahoots anzuhören. »Sie werden Vergrößerungen von allen vorhandenen Fotos der Stele nach Äthiopien mitnehmen und dort weiter daran arbeiten. Ich
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erwarte, daß Sie mir wenigstens einmal in der Woche über Sa tellit melden, wie weit Sie gekommen sind.« »Wann soll ich abreisen?« »Sofort. Wenn möglich schon heute. Sprechen Sie mit Fräu lein Kemper. Sie wird die notwendigen Vorbereitungen für Ihre Reise treffen.« Zum ersten Mal seit Beginn dieses Gesprächs machte Na hoot ein zufriedenes Gesicht. Mit eintönigem Brummen flog Big Dolly in südöstlicher Richtung durch die Nacht, und die Passagiere konnten kaum etwas gegen die Langeweile unternehmen. Im Morgengrauen überquerten sie die afrikanische Küste an einer abgelegenen Stelle, wo die baumlose Wüste bis zum Strand reichte und für die sich Jannie aus diesem Grund entschieden hatte. Das jetzt unter ihnen liegende afrikanische Festland bot ihnen in seiner Eintönigkeit ebensowenig Interessantes wie die See. Die Wüste breitete sich öde, braun und vegetationslos nach allen Seiten aus, soweit das Auge reichte. Hin und wieder hörten sie Jannie im Cockpit mit einer Flug sicherung sprechen, da sie aber nur die Hälfte dieser Gespräche verstehen konnten, hatten sie keine Ahnung, zu welchem Land diese Flugsicherung gehörte. Gelegentlich wechselte Jannie von dem bewußt britischen Akzent seines sonst südafrikani schen Englisch ins Arabische. Royan war überrascht, festzu stellen, wie gut er die gutturalen Laute dieser Sprache be herrschte, aber als Südafrikaner fiel ihm das nicht schwer. Während er seine Maschine durch den Luftraum über der Wü ste schmuggelte, konnte er sogar die verschiedenen Akzente des in Libyen und Ägypten gesprochenen Arabisch überzeu gend imitieren. In den ersten Stunden arbeitete Sapper an seinen Entwürfen
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für den Damm. Da er jedoch noch nicht über die genauen Maße verfügte, legte er die Zeichnungen nach einiger Zeit zur Seite und nahm sich einen Roman vor. Aber leider konnte der Ver fasser ihn nicht sehr lange fesseln. Er streckte sich auf seiner Koje aus, schlief ein, und die Seiten des Buchs, das ihm auf das Gesicht gefallen war, flatterten jedesmal, wenn er laut schnar chend ausatmete. Nicholas und Royan saßen mit einem Schachbrett auf ihrer Koje, bis der Hunger sie in die behelfs mäßige Kombüse trieb. Royan schnitt das Brot auf und kochte den Kaffee, während Nicholas seine Kunstfertigkeit in der Her stellung wohlschmeckender belegter Brote bewies. Dann setz ten sie sich hinter die Pilotensitze im Cockpit und teilten die Mahlzeit mit Jannie und Fred. »Sind wir immer noch über ägyptischem Territorium?« frag te Royan. Nachdem er einen Bissen gegessen hatte, zeigte Jannie über die Spitze der Backbordtragfläche von Big Dolly und sagte: »Fünfzig Seemeilen von hier liegt dort draußen das Wadi Hai fa. Mein Vater ist dort 1943 gefallen. Er gehörte zur Sechsten Südafrikanischen Division. Sie nannten es das Wadi Höllen feuer.« Er aß noch einen zweiten großen Bissen von seinem Sandwich und fuhr fort: »Ich habe den alten Herrn nicht mehr gekannt. Fred und ich sind dort einmal gelandet. Wir haben versucht, sein Grab zu finden.« Er zuckte die Schultern. »Es ist ein riesiges Stück Land. Ungezählte Gräber, und nur wenige Grabsteine tragen die Namen der Gefallenen.« Sie schwiegen eine Weile, aßen ihre Brote, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Auch der Vater von Nicholas hatte in der Wüste gegen Rommel gekämpft. Er hatte mehr Glück gehabt als Jannies Vater. Nicholas beobachtete, wie Royan aus dem Fenster auf ihr Heimatland hinunterschaute, und in ihrem Blick lag eine solche Leidenschaft, daß er erschrak. Meist konnte er der Versuchung
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nicht widerstehen, sie als Engländerin zu betrachten, da ihre Mutter eine Engländerin war. Nur ganz selten wurde es ihm bewußt, daß sich in ihrem Wesen noch ganz andere Seiten ver einten. Sie schien seinen forschenden Blick nicht zu bemerken, son dern war völlig in Gedanken versunken. Er fragte sich, was sie so stark beschäftigte – welche düsteren und geheimnisvollen Gedanken gingen ihr durch den Kopf? Nach ihrer Rückkehr aus Äthiopien hatte sie die erste Gelegenheit ergriffen, nach Kairo zu fliegen, und die darin zum Ausdruck kommende, enge Bindung an Ägypten beunruhigte ihn. Vielleicht gab es verbor gene emotionale Bindungen, die stärker waren als die Loyalität ihm gegenüber, an der er bisher noch nie gezweifelt hatte. Plötzlich mußte er erkennen, daß sie erst wenige Wochen zu sammen waren und er, obwohl er sich stark zu ihr hingezogen fühlte, nur sehr wenig über sie wußte. In diesem Augenblick schreckte sie auf und sah sich rasch nach ihm um. Sie saßen dicht nebeneinander am Backbordfen ster und starrten einander aus einer Entfernung von etwa drei ßig Zentimetern in die Augen. Es waren nur wenige Sekunden, aber was er in ihrem Blick sah – die dunklen Schatten eines gewissen Schuldgefühls oder anderer Emotionen – konnte sei ne Bedenken nicht zerstreuen. Sie lehnte sich über seine Schulter und fragte Jannie: »Wann werden wir den Nil überfliegen?« »Auf der anderen Seite der Grenze. Die sudanesische Regie rung konzentriert ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Rebellen im Süden des Landes. Hier im Norden sind weite Strecken des Flusses praktisch unbewohnt. Sehr bald werden wir die Flug höhe verringern und an eine der Stellen kommen, die nicht von dem sudanesischen Radarsystem bei Khartum erfaßt werden. Dort werden wir den Nil überfliegen.« Jannie nahm das Brett mit der aeronautischen Karte von sei
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nem Schoß und hielt es so, daß Royan die Karte sehen konnte. Mit seinem dicken Zeigefinger fuhr er die Flugroute entlang. Sie war mit einem blauen Wachsstift eingezeichnet. »Big Dolly ist diese Route so oft geflogen, daß sie es jetzt schon tun könn te, ohne daß ich die Hand am Steuerknüppel habe, nicht wahr, altes Mädchen?« Er streichelte liebevoll das Armaturenbrett. Zwei Stunden später, Nicholas und Royan saßen in der Ka bine wieder an ihrem Schachbrett, sagte ihnen Jannie über die Gegensprechanlage: »Okay, keine Panik. Wir verringern jetzt die Flughöhe. Kommen Sie nach vorn und sehen Sie sich das an.« Sie schnallten sich in den hinteren Sitzen im Cockpit fest und erlebten nun, wie Fred die Maschine bei diesem gewagten Manöver in der Hand hatte. Der Sturzflug erfolgte so plötzlich, daß Royan das Gefühl hatte, aus dem Himmel zu fallen und ihren Magen in der Höhe von dreißigtausend Fuß zurückgelas sen zu haben. Fred fing die Maschine nur wenige Fuß über der Wüste ab, so niedrig, daß sie hätten glauben können, sie säßen in einem Bus, der mit hoher Geschwindigkeit durch die Land schaft rast. Fred paßte sich beim Überfliegen der braungelben, von der Sonne verdorrten Fläche einfühlsam jeder Bodenwelle an, wich geschickt den einzeln aufragenden, schwarzen Felsen aus und zog die Maschine schräg zur Seite, wenn er gelegent lich einen Hügel umfliegen mußte. »Wir werden den Nil in siebeneinhalb Minuten überfliegen.« Jannie drückte auf den Startknopf der vor ihm am Armaturen brett befestigten Stoppuhr. »Und wenn ich mich nicht gänzlich verflogen habe, dann werden wir beim Überfliegen eine Insel mit den Umrissen eines Haifisches unter uns liegen sehen.« Als sich der Zeiger der Stoppuhr dem Nullpunkt näherte, leuchtete vor ihnen die von der Sonne beschienene Wasser oberfläche des Flusses auf. Royan erkannte eine grüne Insel, an deren Spitze ein paar strohgedeckte Hütten standen und auf
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deren flachem Ufer einige Einbäume lagen. »Nun, der alte Herr ist noch nicht ganz aus der Übung«, meinte Fred. »Er ist noch für ein paar tausend Meilen gut, be vor wir ihn austauschen müssen.« »Laß doch das dumme Gerede vom alten Herrn, du kleiner Angeber. Ich habe noch ein paar Tricks auf Lager, die ich euch bisher noch nicht habe zeigen müssen.« »Fragen Sie Mara danach.« Fred grinste seinen Vater ver ständnisvoll an, nahm Kurs nach Südwesten und brachte dabei das Flugzeug in eine Schräglage, so daß er mit der einen Trag fläche fast den Boden berührte und eine Herde Kamele, die an ein paar Dornbüschen knabberten, auseinandertrieb. Sie galop pierten schwerfällig davon, und hinter jedem bildete sich eine weiße Staubwolke wie die Schleppe eines Hochzeitskleides. »Noch drei Stunden, dann sind wir am Ziel.« Jannie blickte von seiner Karte auf. »Merken Sie sich die Zeit! Wir sollten vierzig Minuten vor Sonnenuntergang landen. Es könnte gar nicht besser sein.« »Dann sollte ich mich jetzt umziehen«, sagte Royan, ging in den Fahrgastraum, holte ihre Reisetasche heraus, die unter der Koje gelegen hatte, und verschwand in der Toilette. Zwanzig Minuten später erschien sie in einem khakifarbenen Hosenrock und einer Leinenbluse. »Das sind die richtigen Marschstiefel.« Sie stampfte auf den Boden. »Ausgezeichnet«, sagte Nicholas, »aber wie steht es mit Ih rem Knie?« »Es wird mein Gewicht schon aushalten können«, sagte sie, aber eigentlich war es ihr unangenehm, diese Frage beantwor ten zu müssen. »Sie meinen, ich werde nicht das Vergnügen haben, Sie wie der auf den Rücken nehmen zu müssen?« Am östlichen Horizont tauchten jetzt die schwachen Umrisse
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der äthiopischen Berge auf. Royan sah sie erst, als Nicholas sie auf den hellblauen gezackten Streifen unter dem dunkelblauen afrikanischen Himmel aufmerksam machte. »Wir sind fast da.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ge hen wir hinauf zum Cockpit.« Als sie durch die Windschutzscheibe nach vorn sahen, konn ten sie kein Navigationszeichen entdecken. Vor ihnen lag nur die weite braune Savanne mit den schwarzen Umrissen einzel ner Akazien. »Noch zehn Minuten«, sagte Jannie. »Kann jemand etwas erkennen?« Alle schauten nach vorn, aber niemand sagte et was. »Noch fünf Minuten.« »Dort drüben!« Nicholas streckte den Arm über Jannies Schulter aus und zeigte nach vorn. »Dort fließt der Blaue Nil.« Weit vorne sah man die dunkle Linie engstehender Akazien. »Und dort ist der Schornstein der früheren Zuckerfabrik am Flußufer. Mek Nimmur hat mir gesagt, der Landestreifen liegt etwa fünf Kilometer dahinter.« »Nun, wenn das so ist, dann ist es nicht auf der Karte einge zeichnet«, brummte Jannie. »In einer Minute werden wir an dem festgelegten Punkt sein.« Der Zeiger auf der Stoppuhr rückte langsam vor. »Noch immer nichts –« Fred unterbrach sich, als eine rote Leuchtkugel unmittelbar vor ihnen aufstieg, und alle lächelten erleichtert. »Pünktlich auf die Sekunde.« Nicholas klopfte Jannie aner kennend auf die Schulter. »Ich hätte es auch nicht besser ma chen können.« Fred zog die Maschine ein paar hundert Fuß in die Höhe und flog eine Wende von hundertachtzig Grad. Am Boden brannten jetzt zwei Signalfeuer, eines mit schwarzem und das andere mit weißem Rauch. Die beiden Rauchsäulen stiegen senkrecht zum
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Abendhimmel auf. Erst als sie einen Kilometer weitergeflogen waren, erkannten sie den mit Gras überwachsenen Landestrei fen. Der Flugplatz von Roseires war vor fast zwanzig Jahren von der Firma gebaut worden, die versucht hatte, hier Zucker rohr anzubauen und die Felder mit dem Wasser des Blauen Nil zu bewässern. Aber das afrikanische Klima hatte sich schließ lich durchgesetzt, und die Firma hatte den Versuch aufgeben müssen. Jetzt erinnerte nur noch dieser ungepflegte Landestrei fen daran. Mek Nimmur hatte sich für diesen abgelegenen und verlassenen Treffpunkt entschieden. »Keine Spur von einem Empfangskomitee«, brummte Jan nie. »Was soll ich jetzt tun?« »Setzen Sie zur Landung an«, sagte Nicholas. »Wir müßten gleich noch ein Leuchtfeuer sehen – aha, da ist es!« Die Leuchtkugel stieg aus einer Baumgruppe am anderen Ende der Landebahn auf, und zum ersten Mal zeigten sich menschliche Gestalten in dieser öden Landschaft. Sie hatten sich bis zum letzten Augenblick zurückgehalten. »Da ist Mek! Jetzt können Sie landen.« Als Big Dolly am Ende der unebenen Landebahn ausrollte, erschien ein Mann im Tarnanzug vor ihnen. Mit ein paar Kel len dirigierte er die Maschine zwischen zwei der größten Aka zien hindurch. Jannie schaltete die Motoren aus und grinste ihnen über die Schulter zu. »Nun, Boys and Girls, es sieht so aus, als hätten wir wieder einmal Glück gehabt!« Selbst aus der Höhe des Cockpits von Big Dolly erkannte man sofort die unverwechselbare Gestalt von Mek Nimmur, als er aus dem Schatten einer Gruppe von Akazien ins Freie trat. Erst jetzt sah man, daß auf den Baumwipfeln ein Tarnnetz lag, das die Menschen darunter vor der Beobachtung aus der Luft
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schützte. Deshalb hatten Jannie und seine Passagiere beim An flug auch niemanden entdecken können. Nachdem die Lade rampe ausgefahren worden war, kam Mek Nimmur herauf. »Nicholas!« Sie umarmten einander, und nachdem Mek ihn auf beide Wangen geküßt hatte, hielt er Nicholas auf Armes länge vor sich fest und betrachtete sein Gesicht. Er freute sich aufrichtig, seinen alten Freund wiederzusehen. »Ich habe also recht behalten! Sie können das alte Glücksspiel nicht lassen. Und diesmal geht es nicht nur darum, einen dik-dik zu schie ßen, nicht wahr?« »Wie könnte ich einen alten Freund belügen?« sagte Nicho las achselzuckend. »Das ist Ihnen immer leichtgefallen«, lachte Mek, »aber es freut mich, daß wir uns jetzt gemeinsam an einem interessanten Vorhaben beteiligen werden. Das Leben ist in letzter Zeit sehr langweilig geworden.« »Davon bin ich überzeugt!« erwiderte Nicholas und versetz te ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Eine schlanke, anmutige Gestalt folgte Mek die Rampe hin auf. In dem olivgrünen Arbeitsanzug, den sie trug, erkannte Nicholas Tessay erst, als sie sprach. Sie trug Fallschirmsprin gerstiefel und eine Kappe und sah aus wie ein junger Mann. »Nicholas! Royan! Herzlich willkommen!« rief Tessay. Die beiden Frauen umarmten sich ebenso herzlich wie die Männer vorher. »Beruhigt euch, ihr komischen Vögel«, protestierte Jannie. »Wir sind hier nicht in Woodstock. Ich muß noch heute abend nach Malta zurückfliegen und will starten, bevor es dunkel geworden ist.« Mek übernahm mit seinen Männern das Ausladen. Sie rück ten die Paletten zurecht, so daß Sapper sie auf seinen geliebten Gabelstapler nehmen, die Rampe hinunterfahren und zwischen den Akazien aufstapeln konnte, auf denen das Tarnnetz lag.
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Mit so vielen Hilfskräften war die Arbeit schnell erledigt, und der Laderaum von Big Dolly war leer, als sich die Sonne dem Horizont näherte und die Farben der afrikanischen Landschaft im Dämmerlicht verblaßten. Während Fred die Motoren des Flugzeugs überprüfte, be sprachen Jannie und Nicholas in aller Eile die weiteren Pläne und vereinbarten, wann und wie oft sie sich über Funk verstän digen würden. »Also in vier Tagen«, sagte Jannie, während sie sich zum Abschied die Hände schüttelten. »Lassen Sie den Mann starten, Nicholas«, rief Mek von un ten. »Wir müssen noch vor Morgengrauen über die Grenze.« Big Dolly rollte bis ans Ende der Startbahn, wendete, kam mit laut heulenden Motoren in einer Staubwolke zurück und hob vom Boden ab. Nachdem er sie überflogen hatte, wackelte Jannie zum Abschied mit den Tragflächen, und ohne die Posi tionslichter eingeschaltet zu haben, verschwand die große Ma schine wie eine Fledermaus im dunklen Nachthimmel. »Kommen Sie mit«, sagte Nicholas und führte Royan zu ei ner Bank unter der Akazie. »Ich möchte nicht, daß Ihr Knie Ihnen noch mehr Kummer bereitet.« Er schob den Hosenrock bis zum Oberschenkel hinauf, wickelte eine elastische Binde um das Knie und versuchte nicht allzu deutlich zu zeigen, wel ches Vergnügen es ihm bereitete. Es freute ihn zu sehen, daß die blauen Flecken von den Prellungen verschwunden waren und das Knie nicht mehr geschwollen war. Er tastete es vor sichtig ab. Ihre Haut war samtweich und die Muskeln darunter fest und warm. Er sah sie an, und ihr Gesichtsausdruck zeigte, daß ihr diese Intimität ebensogut gefiel wie ihm. Als sich ihre Blicke begegneten, röteten sich ihre Wangen, und er zog den Hosenrock wieder herunter und glättete ihn. Sie sprang auf und sagte: »Tessay und ich müssen noch manches nachholen«, und ging zu ihr hinüber.
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»Ich lasse eine Kampfgruppe in Zugstärke hier, die Ihre Aus rüstung bewachen wird«, sagte Mek zu Nicholas, als Tessay und Royan sich auf den Weg machten. »Wir werden mit einer ganz kleinen Gruppe bis zur Grenze marschieren. Ich nehme nicht an, daß es Schwierigkeiten geben wird. In diesem Ab schnitt werden wir vermutlich nicht auf feindliche Kräfte sto ßen. Im Süden wird heftig gekämpft, aber hier ist es relativ ruhig. Deshalb habe ich mich für diesen Treffpunkt entschie den.« »Wie weit ist es bis zur äthiopischen Grenze?« wollte Nicho las wissen. »Ein Marsch von fünf Stunden«, sagte Mek. »Sobald der Mond untergegangen ist, werden wir auf einem unserer gehei men Wege die Grenze überschreiten. Der Rest meiner Männer wartet an der Stelle, wo der Pfad in die Abbay-Schlucht hinun terführt. Wir werden wahrscheinlich kurz vor Morgengrauen auf sie treffen.« »Und von dort zum Kloster?« »Das sind noch zwei Tagesmärsche«, erwiderte Mek. »Wir werden gerade rechtzeitig dort sein, um das in Empfang zu nehmen, was ihr dicker Freund mit dem dicken Flugzeug für Sie abwerfen wird.« Dann gab er dem Führer des Zuges, der in Roseires zurück bleiben sollte, um die hier deponierte Ausrüstung zu bewachen, die letzten Befehle. Sechs seiner Männer bildeten das Begleit kommando für den Marsch über die Grenze. Sie sollten auch das Gepäck tragen. Der wichtigste Gegenstand war das moder ne, leichte, militärische Funkgerät, das Nicholas selbst trug. »Ihre Reisetaschen sind zu unhandlich, um auf dem Marsch getragen zu werden«, sagte Mek zu Nicholas und Royan. »Deshalb muß ich Sie bitten, Ihre Sachen umzupacken.« Mek gab ihnen zwei Beutel, in die sie ihre Sachen verstauten, und zwei seiner Männer nahmen sie über die Schultern und ver
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schwanden in der Dunkelheit. »Er wird das doch nicht mitnehmen wollen!« Mek starrte entsetzt auf den schweren Theodoliten, den Sapper von einer der Paletten heruntergenommen hatte. Sapper sprach kein Ara bisch, und deshalb mußte Nicholas seine Antwort übersetzen. »Sapper sagt, daß dies ein sehr empfindliches Gerät ist und daher nicht aus dem Flugzeug abgeworfen werden kann. Er sagt, wenn es beschädigt würde, könnte er nicht die Arbeit tun, für die er bezahlt wird.« »Aber wer soll es tragen?« fragte Mek. »Meine Männer würden meutern, wenn ich es von ihnen verlangte.« »Sagen Sie diesem Besserwisser, daß ich das Gerät selbst tragen werde.« Sapper richtete sich stolz auf. »Ich würde kei nem von diesen ungeschickten Lümmeln erlauben, es auch nur zu berühren.« Er nahm das Paket auf, legte es sich auf die Schulter und verschwand. Mek ließ das Begleitkommando noch fünf Minuten warten. Dann nickte er und sagte: »Wir können jetzt gehen.« Dreißig Minuten nachdem Big Dolly gestartet war, machten sie sich auf den Weg nach Osten durch das dunkle, stille Land. Mek legte ein ziemliches Tempo vor. Royan folgte ihm und Nicholas auf den Fersen und hatte den Eindruck, daß die bei den Männer im Dunkeln sehen konnten wie Katzen. Wenn sie auf eine Vertiefung oder im Weg liegende Steine stießen, warnten sie Royan im Flüsterton, und wenn sie stolperte, faßte Nicholas sie sofort mit festem Griff am Arm und stützte sie. So marschierten sie diszipliniert und ohne zu sprechen im gleichen Tempo weiter, und jedesmal wenn eine Stunde ver gangen war, legten sie eine Ruhepause von fünf Minuten ein. Dabei setzten sich Nicholas und Mek nebeneinander, und aus den wenigen leisen Worten, die Royan verstehen konnte, ent nahm sie, daß Nicholas seinem Freund detailliert erklärte, wes halb sie zur Abbay-Schlucht zurückkehrten. Sie hörte, wie Ni
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cholas die Namen »Mamose« und »Taita« häufig wiederholte und wie Mek mit tiefer Stimme antwortete und ihm Fragen stellte. Dann standen sie wieder auf und setzten den Fußmarsch fort. Nach einiger Zeit verlor sie jedes Gefühl dafür, welche Ent fernung sie zurückgelegt hatten. Nur durch die stündlich einge legten Ruhepausen bekam sie eine Vorstellung davon, wie lan ge sie bereits unterwegs waren. Schließlich wurde sie so müde, daß sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Obwohl sie am Anfang behauptet hatte, ihrem Knie ginge es so viel besser, daß sie die Strapazen des Marsches ohne weiteres überstehen würde, begann es jetzt doch zu schmerzen. Hin und wieder faßte Nicholas sie am Arm, um ihr über die unebenen Stellen zu helfen. Manchmal blieben sie auch plötzlich stehen, wenn die vor ihnen gehenden Männer ihnen eine Warnung zu flüsterten, und warteten angespannt darauf, daß ein neues Flü stern ihnen sagte, daß sie im gleichen Tempo weitergehen könnten. Als sie schließlich in der warmen Nachtluft einen kühlen Windhauch spürte und den vom Fluß aufsteigenden Schlammgeruch wahrnahm, wußte sie, daß sie sich gleich in der Nähe des Nils befanden. Ohne daß ein Wort gesprochen wurde, bemerkte sie die nervöse Spannung bei den Männern, die ihr vorausgingen und mit schußbereiten Waffen aufmerk sam den vor ihnen liegenden Weg betrachteten. »Jetzt überqueren wir die Grenze«, flüsterte Nicholas ihr ins Ohr. Die allgemeine Spannung war ansteckend, und Royan vergaß ihre Müdigkeit und hörte ihren eigenen Pulsschlag. Diesmal verzichteten sie auf die Rast und marschierten ohne Pause noch eine Stunde weiter, bis Royan spürte, daß sich die Stimmung der Männer veränderte. Irgend jemand lachte leise, und als der Himmel am östlichen Horizont vor ihnen von Mi nute zu Minute heller wurde, schienen sich ihre Schritte zu beschleunigen. Plötzlich tauchte die Mondsichel über der dunk
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len Silhouette der fernen Berge auf. »Alles klar, wir sind durch«, sagte Nicholas mit normaler Stimme. »Willkommen in Äthiopien. Wie fühlen Sie sich?« »Alles in Ordnung.« »Auch ich bin müde.« Im schwachen Mondlicht sah sie sein lachendes Gesicht. »Bald werden wir unser Camp einrichten und uns ausruhen. Es ist nicht mehr sehr weit.« Das war natürlich gelogen. Der Marsch ging weiter und wei ter, und Royan war dem Weinen nah, als sie plötzlich im Mor gengrauen den Fluß hörte, das leise rauschende Fließen des Nils. Vorn an der Spitze der Marschkolonne hörte sie Mek mit den Männern sprechen, die auf sie gewartet hatten, und dann führte Nicholas sie an eine Stelle neben dem Pfad, forderte sie auf, sich hinzusetzen, kniete sich vor sie auf den Boden und schnürte ihre Stiefel auf. »Sie haben sich tapfer gehalten. Ich bin stolz auf Sie«, sagte er, als er ihr die Strümpfe auszog und nachsah, ob sie sich Bla sen an den Füßen gelaufen hatte. Dann entfernte er die Banda gen von dem verletzten Knie. Es war leicht geschwollen, und er massierte es geschickt und vorsichtig. Sie seufzte leise: »Hören Sie nicht auf. Das ist sehr ange nehm.« »Ich werde Ihnen eine entzündungshemmende Tablette ge ben.« Er holte die Tabletten aus seinem Brotbeutel, breitete seine wattierte Jacke auf dem Boden aus und forderte sie auf, sich darauf zu legen. »Es tut mir leid, aber unsere Schlafsäcke sind noch bei dem anderen Gepäck. Wir müssen uns behelfen, bis Jannie die nächste Ladung abwirft.« Er gab ihr die Wasserflasche, und während sie die Tablette hinunterspülte, öffnete er ein Päckchen mit der eisernen Ration. »Nichts für Feinschmecker.« Er roch daran. »In der Armee nannten wir das Rattenfutter.« Als sie einschlief, hatte sie noch die letzten Reste von dem faden Hackbraten und Käse im
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Mund. Als Nicholas sie mit einem Becher heißen süßen Tee weckte, stellte sie fest, daß es schon Spätnachmittag war. Er saß mit seinem Becher neben ihr und blies zwischen den einzelnen Schlucken geräuschvoll in den Tee. »Es wird Sie beruhigen zu wissen, daß Mek jetzt vollständig im Bilde ist. Er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen.« »Was haben Sie ihm gesagt?« »Gerade so viel, wie er wissen muß, um nicht das Interesse zu verlieren«, grinste Nicholas. »Man muß in solchen Situatio nen schrittweise vorgehen und darf niemals alles auf einmal erzählen, sondern man muß die Informationen portionsweise verabreichen. Er weiß, wonach wir suchen und daß wir einen Staudamm bauen wollen.« »Wie steht es mit den Arbeitskräften, die wir für den Dammbau brauchen?« »Die Mönche im Kloster des heiligen Frumentius werden al les tun, was er ihnen sagt. Er ist für sie ein großer Held.« »Was haben Sie ihm als Gegenleistung versprochen?« »Soweit sind wir noch nicht gekommen. Ich habe ihm ge sagt, wir hätten keine Ahnung, was wir finden würden, und er lachte und sagte, er würde mir vertrauen.« »Ist das nicht ein wenig einfältig?« »Das würde ich von Mek Nimmur nicht sagen«, erwiderte er. »Ich glaube, wenn die Zeit reif ist, wird er uns mitteilen, was der Preis für seine Mitarbeit ist.« In diesem Augenblick blickte Nicholas auf. »Wir haben gerade über sie gesprochen, Mek.« Mek kam auf sie zu und hockte sich neben Nicholas. »Was haben Sie über mich gesagt?« »Royan sagt, Sie seien ein brutaler Kerl, der sie zu einem die ganze Nacht dauernden Gewaltmarsch gezwungen hat.« »Nicholas verwöhnt Sie. Ich habe genau beobachtet, wie er
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sich um Sie bemüht.« Er lachte. »Mein Grundsatz ist, behandle die Frauen mit harter Hand. Das mögen Sie.« Aber dann sagte er mit ernstem Gesicht: »Es tut mir wirklich leid, Royan. Der Grenzübergang ist immer eine schwierige Sache. Nun, da wir uns auf heimatlichem Boden befinden, werden Sie feststellen, daß ich kein solches Ungeheuer bin.« »Wir sind Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für uns getan haben.« Er verneigte sich feierlich und sagte: »Nicholas ist ein alter Freund, und ich hoffe, daß Sie eine neue Freundin sind.« »Ich bin in großer Sorge. Tessay hat mir gestern abend er zählt, daß es im Kloster zu schlimmen Auseinandersetzungen gekommen ist.« Mek machte ein wütendes Gesicht und riß sich vor Zorn ein paar Haare aus seinem kurzen Bart. »Nogo und seine Mord buben. Hier zeigt sich, wer unsere Feinde sind. Wir sind von der Tyrannei Mengistus befreit worden, nur um jetzt neue Scheußlichkeiten erleben zu müssen.« »Was ist geschehen, Mek?« Ganz knapp, aber sehr lebendig schilderte er das Massaker und die Plünderung der Kunstschätze des Klosters. »Es besteht kein Zweifel daran, daß es Nogo gewesen ist. Die Mönche, die dem Gemetzel entkommen sind, kennen ihn genau.« Er konnte seinen Zorn nicht mehr beherrschen und stand auf. »Das Kloster bedeutet allen Menschen in Äthiopien sehr viel. Ich bin dort von Jali Hora getauft worden. Die Ermordung des Abtes und die Entweihung der Kirche sind grausige Untaten.« Er setzte sich seine Kappe auf und sagte: »Und jetzt müssen wir weiter. Der vor uns liegende Weg ist steil und schwierig.« Nachdem sie die Grenze hinter sich gelassen hatten, konnten sie bei Tageslicht weitermarschieren, ohne in Gefahr zu gera
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ten. Am zweiten Tag erreichten sie die Talsohle der Schlucht. Hier mußten sie nicht erst ein Vorgebirge überwinden, sondern es war so, als beträten sie durch das Tor eines Wehrturms eine große Burg. Die Felswände des großen Zentralmassives stiegen zu beiden Seiten der Schlucht etwa tausenddreihundert Meter in die Höhe. Am Grunde der Schlucht verlief der Fluß in zahl reichen Windungen, schäumenden Stromschnellen und Was serfällen bis zum Austritt aus dem Gebirge. Um die Mittagszeit legte Mek unter einer Baumgruppe neben dem Pfad eine Ruhe pause ein. Unter ihnen hatten sich über dem Flußufer gewaltige Felsblöcke aufgetürmt, die irgendwann von den Klippen abge brochen und heruntergerollt sein mußten. Nun saßen sie, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäf tigt, an ihren Plätzen. Sapper hatte die kleine Auseinanderset zung wegen des Theodoliten mit Mek noch nicht ganz verwun den und hielt sich abseits. Er hatte die schwere Last ostentativ dicht neben sich abgelegt. Auch Mek und Tessay saßen schweigend da, doch unvermittelt griff Tessay nach Meks Hand. »Ich möchte es ihnen erzählen«, sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend. Mek blickte zum Fluß hinüber und nickte dann. »Warum nicht?« erwiderte er achselzuckend. »Ich möchte, daß sie es wissen«, sagte Tessay. »Sie haben Boris gekannt, und sie werden es verstehen.« »Soll ich es ihnen sagen«, fragte Mek leise. Er hatte ihre Hand noch nicht losgelassen. »Ja«, nickte sie, »am besten, du erklärst es ihnen.« Mek brauchte noch eine Weile, um die richtigen Worte zu finden. Dann begann er, mit tiefer Stimme und ohne sie anzu sehen, zu sprechen, beobachtete dabei aber sehr aufmerksam Tessays Gesichtsausdruck. »In dem Augenblick, als ich diese Frau zum ersten Mal sah, wußte ich, daß sie mir von Gott ge
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schickt worden war.« Tessay rückte näher an ihn heran. »In der Nacht des Timkat haben wir uns ewige Treue gelobt und Gott um Vergebung gebeten, und dann ist sie mir als mei ne Frau gefolgt.« Sie legte die Hand auf seine muskulöse Schulter. »Der Russe folgte uns. Er fand uns hier an dieser Stelle, und er versuchte, uns beide zu töten.« Tessay blickte hinunter auf das Flußufer, wo sie und Mek fast gestorben wären, und die Erinnerung ließ sie erschaudern. »Wir kämpften miteinander«, sagte er, »und als er tot war, wurde seine Leiche von der Strömung mitgerissen.« »Wir wußten, daß er tot ist«, sagte Royan. »Von den Leuten an der Botschaft hörten wir, daß die Polizei seine Leiche stromabwärts in der Nähe der Grenze gefunden hatte. Wir wuß ten allerdings nicht, wie es geschehen war.« Sie schwiegen eine Zeitlang, und dann sagte Nicholas: »Ich hätte es gerne gesehen. Es muß ein verzweifelter Kampf gewesen sein.« Er schüttelte ergriffen den Kopf. »Der Russe war ein guter Kämpfer. Ich bin froh, nicht noch einmal mit ihm kämpfen zu müssen«, gab Mek zu und stand auf. »Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir noch vor Ein bruch der Dunkelheit im Kloster sein.« Mai Metemma, der neugewählte Abt von Sankt Frumentius, empfing sie auf der Terrasse des Klosters. Der hochgewachse ne, ehrwürdige weißhaarige Mann war nur wenig jünger als sein Vorgänger Jali Hora. Zu Ehren eines so hochgeschätzten Gastes wie Mek Nimmur trug er seine blaue Krone. Nachdem die Gäste gebadet und eine Stunde in den Mönchs zellen geruht hatten, wurden sie von einigen Mönchen zu ei nem Begrüßungsessen abgeholt. Als die Tejflaschen zum drit
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ten Mal nachgefüllt worden waren und sich die Stimmung des Abtes und seiner Mönche gelöst hatte, begann Mek, dem alten Mann etwas ins Ohr zu flüstern. »Sie kennen die Geschichte des heiligen Frumentius – wie Gott den Heiligen über die sturmgepeitschte See geführt und an unserer Küste hat landen lassen mit dem Auftrag, uns den wah ren Glauben zu bringen?« Dem Abt traten die Tränen in die Augen. »Sein heiliger Leib wurde hier im Allerheiligsten beigesetzt. Dann kamen diese Barbaren und raubten uns diese Reliquie. Wir haben unseren Vater verloren. Damit ist uns der eigentliche Anlaß für den Bau dieser Kirche und dieses Klosters genommen worden«, klagte er. »Nun werden die Pilger aus ganz Äthiopien ausbleiben, die bisher an diesem Heiligtum gebetet haben. Die Kirche wird uns vergessen, und das bedeutet für uns das Ende. Unser Kloster wird aufhören zu bestehen, und unsere Mönche werden wie die abgestorbenen herbstlichen Blätter in alle Winde verweht wer den.« »Als der heilige Frumentius nach Äthiopien kam, war er nicht allein. Er wurde von einem anderen Christen von der Hochkirche in Byzanz begleitet«, sagte Mek leise. »Das war der heilige Antonius«, erwiderte der Abt und nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, um seinen Schmerz zu betäuben. »Richtig, der heilige Antonius«, stimmte Mek ihm zu. »Er starb vor dem heiligen Frumentius, aber er war nicht weniger heilig als sein Bruder.« »Auch Sank Antonius war ein großer Heiliger und verdient unsere Liebe und Verehrung.« Der Abt trank noch einen gro ßen Schluck aus der Flasche. »Die Wege Gottes sind unerforschlich, nicht wahr?« Damit bestätigte Mek noch einmal das wunderbare Wirken Gottes im
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Universum. »Alles, was Er tut, hat einen tiefen Sinn, der nicht bezweifelt werden darf, den wir jedoch nicht begreifen.« »Und doch hat Er Mitleid mit uns und belohnt die From men.« »Er vergibt uns all unsere Sünden.« Dem Abt rannen die Tränen über die Wangen. »Sie und Ihr Kloster haben einen schmerzlichen Verlust er litten. Man hat Ihnen den heiligen Leib des Frumentius geraubt – wahrscheinlich für immer. Aber wie wäre es, wenn Gott Sie für diesen Verlust entschädigte? Was würden Sie dazu sagen, wenn Er Ihnen den heiligen Leib des Antonius schickte?« Der Abt blickte mit tränennassen Augen auf, überlegte kurz und sagte dann: »Das wäre in der Tat ein Wunder.« Mek Nimmur legte dem alten Mann den Arm um die Schul tern und flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr. Seine Tränen versiegten, und er hörte aufmerksam zu. »Ich habe Ihnen die Arbeitskräfte besorgt, Nicholas, die Sie für den Dammbau brauchen«, sagte Mek, als sie am nächsten Morgen zum Weitermarsch talaufwärts aufbrachen. »Mai Me temma hat mir versprochen, uns in zwei Tagen hundert Mann zur Verfügung zu stellen und weitere fünfhundert innerhalb der nächsten Woche. Er wird allen, die sich freiwillig zum Damm bau melden, einen Generalablaß gewähren. Sie werden das Fegefeuer nicht zu spüren bekommen, wenn sie sich an einem so verdienstvollen Projekt beteiligen wie der Bergung der sterblichen Überreste des heiligen Antonius.« Die beiden Frauen blieben stehen und starrten ihn entsetzt an. »Was hast du dem armen alten Mann versprochen?« fragte Tessay.
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»Die Mumie eines Heiligen als Ersatz für die von Nogo ge raubte. Wenn wir die Grabkammer entdecken, dann wird die Mumie von Mamose dem Kloster gehören.« »Das ist eine Gemeinheit«, empörte sich Royan. »Sie wollen ihn mit einem Täuschungsmanöver veranlassen, uns zu hel fen.« »Das ist kein Täuschungsmanöver.« Mek wies diese Be schuldigung mit einem empörten Blick zurück. »Die Reliquie, die ihnen geraubt wurde, war nicht die Mumie des heiligen Frumentius, und doch hat sie über Jahrhunderte den Mittel punkt der Mönchsgemeinde gebildet und fromme Christen im ganzen Land veranlaßt, zum Grabe des Heiligen zu pilgern. Nun, da diese heilige Reliquie geraubt wurde, ist die Existenz des Klosters gefährdet, denn es gibt keinen Grund mehr für dessen Fortbestand.« »Sie versuchen also, die Mönche mit einem falschen Ver sprechen für sich zu gewinnen!« Royan war immer noch verär gert. »Die Mumie des Mamose ist genauso echt wie die Reliquie, die ihnen geraubt wurde. Was hat es schon zu bedeuten, daß es der Leib eines alten Ägypters und nicht der eines alten Christen ist, wenn er den religiösen Glauben stärkt und dazu beiträgt, daß das Kloster weitere fünfhundert Jahre fortbesteht?« »Ich finde, was Mek sagt, klingt durchaus plausibel«, lenkte Nicholas ein. »Seit wann verstehen Sie etwas vom christlichen Glauben? Sie sind doch Atheist«, fuhr Royan ihn an, und er hob abweh rend die Hände. »Sie haben recht, was verstehe ich schon davon? Versuchen Sie, mit Mek ins reine zu kommen. Ich werde mich mit Sapper Webb über die Theorie des Dammbauens unterhalten.« Er lief nach vorn bis an die Spitze der Kolonne, die von Sapper Wepp angeführt wurde.
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Von Zeit zu Zeit hörte er hinter sich erregte Stimmen und grinste. Er kannte Mek, hatte aber auch Verständnis für die Haltung von Royan. Er war gespannt darauf, zu erfahren, wer sich schließlich in diesem Streitgespräch durchgesetzt hatte. Am späten Nachmittag erreichten sie den oberen Rand der Schlucht, und während Mek sich nach einem Lagerplatz um sah, führte Nicholas Sapper an die Stelle, wo die Schlucht am engsten war und sich der Fluß in einem Wasserfall in die Tiefe stürzte. Während Sapper den Theodoliten aufstellte, nahm Ni cholas die Meßlatte, und Sapper gab ihm mit Handzeichen zu verstehen, wo er sie jeweils am Steilhang aufstellen sollte. Da bei blickte er in das Okular des Theodoliten, und Nicholas hat te Mühe, die Meßlatte an dem steilen Hang senkrecht aufzu stellen, um es Sapper zu ermöglichen, in aller Ruhe seine Mes sungen vorzunehmen. »Okay!« rief ihm Sapper nach der zwanzigsten Messung zu. »Jetzt brauche ich Sie am anderen Ufer.« »Ausgezeichnet!« rief Nicholas zurück. »Soll ich fliegen oder schwimmen?« Nun mußte er fast fünf Kilometer stromaufwärts zu der Furt gehen, wo der Pfad den Dandera-Fluß überquerte, um sich dann durch den dichten Bewuchs am anderen Flußufer bis zu der Stelle durchzukämpfen, gegenüber der Sapper im Schatten lag und in aller Ruhe eine Zigarette rauchte. »Überanstrengen Sie sich nicht!« rief ihm Nicholas zu. Es war schon fast dunkel, als Sapper seine Arbeit beendet hatte, aber Nicholas noch den langen Weg durch die Furt und dann zum Camp zurückfinden mußte. Die letzten zwei Kilome ter legte er im Stockdunklen zurück und orientierte sich nur am Flackern der Feuer im Camp. Völlig erschöpft kam er schließ lich an und warf die Meßlatte auf den Boden.
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»Nun sagen Sie mir wenigstens, daß es sich gelohnt hat«, brummte Nicholas, aber Sapper blickte nicht einmal von sei nem Rechenschieber auf. Er arbeitete an seinen korrigierten Zeichnungen im hellen Licht einer kleinen Butanlampe. »Sie haben sich bei Ihren Entfernungsangaben kaum ver schätzt«, sagte Sapper anerkennend. »Der Fluß ist an dem ent scheidenden Punkt oberhalb des Wasserfalls, wo ich den Damm bauen will, siebenunddreißigeinhalb Meter breit.« »Ich will nur wissen, ob Sie dort einen Damm bauen kön nen.« Sapper grinste und legte einen Finger an die Nase. »Wenn Sie mir einen verdammten Frontlader zur Verfügung stellen, kann ich auch einen Damm über den Nil bauen, wo er am brei testen ist.« Nach dem Abendessen – sie hatten sich wieder mit einem Päckchen »Rattenfutter« begnügen müssen – schaute Royan, die ihm auf der anderen Seite des Feuers gegenübersaß, Nicholas an. Als er ihren Blick auffing, neigte sie ihren Kopf auffordernd zur Seite. Dann stand sie auf, und nachdem sie ein paar Schritte ge gangen war, blickte sie sich noch einmal um und vergewisserte sich, daß er ihr folgte. Auf dem Weg zu der Stelle, wo der Stau damm gebaut werden sollte, beleuchtete Nicholas den Pfad vor ihnen und entdeckte am Rand der Schlucht über dem Wasser becken einen Felsblock, auf den sie sich setzten. Er schaltete die Lampe aus, und sie schwiegen eine Zeitlang, bis sich ihre Augen an das Sternenlicht gewöhnt hatten. Dann flüsterte Royan: »Ich habe schon geglaubt, wir würden nie hierher zurückkehren – alles sei nur ein Traum gewesen, und Taitas Wasserbecken habe nie existiert.« »Für uns wird es ohne die Hilfe der Mönche vielleicht sogar dabei bleiben.« Er wartete gespannt auf ihre Antwort.
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»Sie und Mek Nimmur werden sich durchsetzen.« Sie lachte leise. »Natürlich werden wir uns von ihnen helfen lassen müs sen. Meks Argumente waren sehr überzeugend.« »Sie sind also damit einverstanden, daß wir sie für ihre Un terstützung mit der Mumie von Mamose belohnen?« »Ich bin damit einverstanden, daß wir ihnen die Mumie überlassen, die wir finden, wenn wir überhaupt noch auf eine Mumie stoßen«, sagte sie einschränkend. »Soweit wir wissen, hat Nogo die Mumie des Mamose wahrscheinlich gestohlen.« Einem natürlichen Impuls folgend, legte er ihr den Arm um die Schultern, und nach einem kurzen Augenblick schmiegte sie sich an ihn. »O Nicky, ich fürchte mich und bin zugleich sehr aufgeregt. Ich fürchte, daß all unsere Hoffnungen vergebens sein könnten, und ich bin erregt bei dem Gedanken, wir könnten den Schlüs sel für die Lösung des Rätsels von Taita gefunden haben.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und er spürte ihren Atem auf den Lippen. Er küßte sie zärtlich, und während er ihr Gesicht im Licht der Sterne betrachtete, spürte er ihre Wärme auf den Lippen. Sie machte keine Anstalten, sich von ihm zu lösen, sondern rückte näher zu ihm hin und küßte ihn. Zuerst war es ein harm loser, schwesterlicher Kuß mit geschlossenem Mund. Er legte die rechte Hand hinter ihren Kopf, ließ ihre Haare durch seine Finger gleiten und drückte ihr Gesicht sanft an das seine. Als er seinen Mund über dem ihren öffnete, stieß sie mit geschlosse nen Lippen einen kleinen unwilligen Laut aus. Langsam gab sie ihm nach, öffnete ihre Lippen und wehrte sich nicht, als sich ihre Zungen in zarter Berührung begegneten. Sie schnurrte zufrieden wie eine kleine Katze und umarmte ihn. Mit offenem Mund erwiderte sie leidenschaftlich seinen Zun genkuß und massierte mit ihren Fingerspitzen seinen Rücken. Mit seiner anderen Hand glitt Nicholas zwischen ihre beiden
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Körper und knöpfte ihre Bluse bis zur Gürtellinie auf. Dabei lehnte sie sich leicht zurück, um es ihm zu erleichtern. Freudig überrascht entdeckte er, daß ihre Brüste unter der dünnen Bluse nackt waren. Er umschloß eine von ihnen mit seiner Hand. Sie war klein und fest, und als er die Brustwarze zwischen zwei Finger nahm, richtete sie sich auf wie eine kleine reife Erdbeere. Nun gab er ihren Mund frei und beugte sich hinunter zu ihrer Brust. Sie stöhnte leise, legte eine Hand an seine Wange und zeigte ihm den richtigen Weg. Als er an ihrer Brustwarze saug te, drückte sie ihm stöhnend die Nägel ihrer anderen Hand in den Rücken. Ihr ganzer Körper bebte in seinen Armen. Nun schob sie seinen Kopf zur Seite und bot ihm die andere Brust an. Wieder stöhnte sie lustvoll, als er daran saugte. Je leidenschaftlicher er wurde, desto hingebungsvoller rea gierte sie auf seine Zärtlichkeiten. Nun konnte er sich nicht mehr beherrschen, glitt mit der Hand unter ihren Hosenrock und legte sie auf ihre Scham. Mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung löste sie sich von ihm und sprang auf die Füße. Dann trat sie einen Schritt zurück, glättete ihren Hosenrock und knöpfte mit zitternden Fingern ihre Bluse zu. »Verzeih mir, Nicky. Ich habe ein solches Verlangen. Mein Gott, du wirst es dir nicht vorstellen können, wie sehr ich dich begehre. Aber –« Sie schüttelte den Kopf und atmete tief ein, »noch nicht. Bitte, Nicky, vergib mir. Noch stehe ich zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite ist mein Verlangen nach dir unendlich groß, aber auf der anderen Seite kann ich es noch nicht zulassen –« Er stand auf und gab ihr einen brüderlichen Kuß. »Keine Ei le. Gut Ding will Weile haben«, sagte er, während seine Lippen die ihren kaum berührten. »Komm! Ich werde dich jetzt zu rückbringen.«
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Es war noch dunkel, als die ersten Mönche, deren Mithilfe Mai Metemma zugesagt hatte, am folgenden Morgen in langer Reihe das Tal heraufkamen. Mit ihren liturgischen Gesängen weckten sie die Schlafenden im Camp, die aus ihren strohge deckten Hütten kamen, um die frommen Männer zu begrüßen. »Lieber Himmel«, gähnte Nicholas, »es sieht aus, als hätten wir zu einem zweiten Kreuzzug aufgerufen. Sie müssen das Kloster gegen Mitternacht verlassen haben, um zu dieser frü hen Stunde schon hier zu sein.« Er ging zu Tessay und sagte: »Hiermit werden Sie zur offiziellen Dolmetscherin ernannt. Sapper spricht weder arabisch noch amharisch. Deshalb blei ben Sie bitte in seiner Nähe.« Nachdem es hell geworden war, machten sich Mek und Ni cholas auf den Weg, um einen geeigneten Platz zu finden, an dem Jannie den Proviant und die Ausrüstungsstücke abwerfen konnte, die er mit dem nächsten Flug mitbringen sollte. Um die Mittagszeit waren sie übereingekommen, daß es nur eine mög liche Stelle gab: Die Sachen mußten im Flußtal selbst abgewor fen werden. Im Vergleich mit den das Tal umgebenden Klip pen, war der Boden neben dem Fluß verhältnismäßig eben, und es gab dort kaum irgendwelche Hindernisse. Zudem mußte alles nach Möglichkeit in unmittelbarer Nähe der Stelle abge worfen werden, wo der Damm gebaut werden sollte, denn jeder Kilometer, den das Material getragen werden mußte, würde eine unnötige Verzögerung der Arbeiten zur Folge haben. »Zeit ist jetzt der wichtigste Faktor«, sagte Nicholas, als er am folgenden Morgen mit Mek dort stand, wo der Abwurf er folgen sollte. »Von nun an zählt jeder Tag bis zum Beginn der Regenzeit.« Mek sah zum Himmel hinauf. »Beten Sie zu Gott, daß er es möglichst spät regnen läßt.« Sie markierten die Abwurfstelle anderthalb Kilometer unter halb des Flusses, wo das Tal am breitesten war und das Flug
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zeug eine Anflugschneise durch die Berge hatte. Jannie würde auf den letzten acht Kilometern mit ausgefahrenen Landeklap pen und geöffneter Laderampe geradeaus fliegen müssen. »Das haben wir gut ausgesucht«, sagte Mek, als sie sich die zerklüfteten Hänge und hochaufragenden Berggipfel beider seits des Flußtals ansahen. »Kann Ihr dicker Freund fliegen?« »Fliegen? Er ist ein halber Vogel«, erwiderte Nicholas. Dann stiegen sie ins Tal hinunter, um sich anzusehen, wo die Leuchtraketen abgeschossen und die Markierungen angebracht werden sollten. Die Markierungen waren Kreuze aus Quarzge stein, die auf dem Landestreifen im Flußtal ausgelegt werden sollten. Sie würden aus der Luft deutlich zu erkennen sein. Sapper war oben am Ende des Flußtals, und sie konnten ihn beobachten, wie er die Fackeln für die Rauchzeichen zur Mar kierung des Abwurfstreifens auslegte. Als Nicholas sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung sah, entdeckte er die beiden Frauen, die am anderen Ende des Tals nebeneinander auf einem Felsblock saßen. Sap per hatte ihnen geholfen, ihre Fackeln aufzustellen. Sie würden die äußere Begrenzung der Abwurfzone markieren und Jannie zeigen, wo er seine Maschine wieder aufsteigen lassen mußte. Dann sah sich Nicholas an, wie Meks Männer die leucht endweißen Quarzmarkierungen auslegten. Nachdem das getan war, befahl Mek seinen Leuten, die Landezone zu verlassen. Dann kletterten sie mit dem schweren Funkgerät den Hang hinauf und gingen zu Sapper, der noch am oberen Ende des Flußtals beschäftigt war. Mek half Nicholas, die Antenne anzu schließen. Dann schaltete Nicholas das Gerät ein und justierte sorgfältig den Verstärker, bevor er auf die Mikrophontaste drückte. »Big Dolly. Bitte kommen. Big Dolly!« Aber niemand ant wortete, und Nicholas hörte nur das Summen und Pfeifen der atmosphärischen Störungen.
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»Wahrscheinlich haben sie’ sich verspätet.« Nicholas ver suchte, seine Unruhe nicht zu zeigen. »Jannie kommt diesmal direkt aus Malta. Nach dem ersten Abwurf wird er zu ihrer Basis in Roseire zurückfliegen und die zweite Ladung aufneh men. Wenn wir Glück haben, werden beide Ladungen bis mor gen vormittag abgeworfen werden.« »Wenn der Dicke überhaupt kommt«, sagte Mek. »Jannie ist ein Profi«, brummte Nicholas. »Er wird kom men.« Er hielt sich das Mikrofon an die Lippen. »Big Dolly. Hören Sie mich? Over.« Er versuchte alle zehn Minuten, die Verbindung herzustel len, bekam zunächst aber keine Antwort. Jedesmal wenn ein solcher Versuch mißglückt war, stellte er sich vor, wie sudane sische Mig-Abfangjäger mit ihren Fernlenkwaffen auf die alte Hercules zurasten und wie diese brennend abstürzte. »Bitte kommen, Big Dolly!« rief er verzweifelt, und endlich hörte er in seinem Kopfhörer eine schwache, krächzende Stimme. »Pharao. Hier Big Dolly, ETA (voraussichtliche Ankunftszeit) fünf undvierzig Minuten. Gehe auf Empfang.« Der Funkspruch von Jannie war so kurz wie möglich. Als alter und erfahrener Schmuggler wußte er genau, daß er einem feindlichen Zuhörer nicht die Zeit lassen durfte, seine Position zu bestimmen. »Big Dolly. Vier fünf verstanden. Pharao auf Empfang.« Ni cholas grinste Mek an. »Ich habe den Eindruck, wir sind wie der im Geschäft.« Mek hörte es als erster. Er hatte ein geschultes Ohr. Wer in diesem Land überleben wollte, mußte das Motorengeräusch eines Flugzeugs wahrnehmen können, lange bevor es am Hori zont auftauchte. Dagegen war Nicholas aus der Übung und brauchte fast fünf Minuten länger, das Echo des charakteristi schen Brummens der Propeller der Turbopropmaschine zu hö ren, das von den steilen Klippen jenseits der Schlucht zu ihm
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herüberschallte. Es war unmöglich zu erkennen, aus welcher Richtung das Flugzeug kam, aber alles schaute erwartungsvoll nach Westen. »Da ist sie.« Nicholas glich das, was sein Gehör nicht hatte leisten können, mit seinen guten Augen wieder aus, als er den winzigen dunklen Punkt erkannte, der sich ihnen in so geringer Höhe näherte, daß er fast mit der Felswand verschmolz. Er nickte Sapper zu. Sapper lief zu den bereitgestellten Signalbomben hinüber, und als er zurückkam, stießen sie dichte dunkelgelbe Rauch wolken aus, die langsam von einer leichten Brise fortgeweht wurden. Daran konnte Jannie die Stärke und Richtung des Windes erkennen und feststellen, wo er seine Lasten abwerfen mußte. Durch sein Fernglas sah Nicholas, wie sich Royan und Tes say am anderen Ende des engen Flußtals mit den Rauchsigna len beschäftigten und plötzlich eine rötliche Rauchwolke auf stieg. Die beiden Frauen liefen ein paar Schritte zurück, blie ben stehen und schauten zum Himmel hinauf. Nicholas nahm das Mikrofon und fragte mit leiser Stimme: »Big Dolly, der Rauch steigt auf; können Sie ihn sehen?« »Ich kann Sie sehen. Für das, was Sie jetzt bekommen, kön nen Sie wirklich dankbar sein.« Jannies südafrikanischer Ak zent war unverkennbar. Sie sahen, wie das Flugzeug immer größer wurde, bis die Tragflächen fast den halben Himmel verdeckten. Dann änder ten sich seine Umrisse, die Landeklappen an den Tragflächen wurden ausgefahren, und die Rampe wurde geöffnet. Big Dolly verringerte die Fluggeschwindigkeit so plötzlich, daß es aus sah, als hinge sie an einem unsichtbaren Seil von der afrikani schen Sonne herunter. Langsam wendete sie, flog weiter in die Richtung der Rauchsäulen und kam im Tiefflug auf sie zu. Als die Maschine über sie flog, wurde das Motorgeräusch so
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stark, daß sie sich duckten, denn sie hatten das Gefühl, im nächsten Augenblick von der Maschine mitgerissen zu werden. Nicholas sah, wie Jannie aus dem Cockpit auf ihn herunter blickte und ihm mit breitem Lächeln zuwinkte. Nicholas richtete sich auf und schaute Big Dolly hinterher, wie sie majestätisch in der Mitte des Flußtals geradeaus flog. Die erste Palette fiel zu Boden, und erst unmittelbar bevor sie landete, öffnete sich der Fallschirm wie ein Brautstrauß. Der Fall der schweren Palette wurde gebremst, sie baumelte unter dem Fallschirm hin und her und schlug dann mit lautem Kra chen in einer gelben Staubwolke auf dem Boden auf. Zwei weitere Ladungen wurden abgeworfen, und auch sie hingen einen Augenblick an ihren Fallschirmen, bis sie landeten. Die Motoren von Big Dolly heulten auf, als Jannie sie mit Vollgas über die roten Rauchwolken aufsteigen ließ, bis die tödliche Falle der engen Schlucht hinter ihr lag. Dann wendete sie in großem Bogen, um die nächste Ladung abzuholen. Wie der warf sie die Paletten ab, während sie über die Quarzmarkie rungen hinwegflog, um dann das enge Tal über den gezackten Felsgrad oberhalb der Steilwand zu verlassen. Sechsmal wiederholte Jannie das gefährliche Manöver, und jedesmal warf er drei der schweren Paletten ab. Nun lagen sie über die ganze Länge des Tals verstreut am Boden, unter der zerknitterten weißen Seide der Fallschirme. Als Jannie nach dem letzten Abwurf davonflog, hörte Nicho las seine Stimme im Kopfhörer. »Gehen Sie nicht fort, Pharao! Ich komme zurück.« Dann zog Big Dolly die Rampe ein und flog in westliche Richtung davon. Nicholas und Mek liefen hinunter ins Tal, wo die Mönche schon fröhlich schwatzend und lachend an den Paletten herum standen. Doch sehr bald übernahmen zwei von ihnen die Lei tung und teilten die Männer in Arbeitsgruppen ein, die die La dungen aufschnürten und forttrugen.
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Nicholas und Sapper hatten angeordnet, daß die Paletten in der Reihenfolge abgeworfen werden sollten, in der ihr Inhalt gebraucht werden würde. Die erste Palette enthielt Dosenkon serven und getrocknete Lebensmittel, ihr persönliches Gepäck und die Campingausrüstung. Nicholas hatte aber auch erlaubt, ein paar Kleinigkeiten mitzunehmen, die der persönlichen Be quemlichkeit dienen sollten, wie Moskitonetze und eine Kiste Maltwhisky. Es freute ihn, festzustellen, daß beim Abwurf nicht eine Flasche zerbrochen war. Sapper übernahm das Baumaterial und das schwere Gerät. Tessay übersetzte seine Anordnungen für die Arbeitskomman dos, die es in den alten Steinbruch brachten, wo es bleiben soll te, bis es für den Dammbau gebraucht wurde. Als es dunkel wurde, waren mehr als die Hälfte der Paletten noch nicht aus gepackt, sondern lagen noch an den Abwurf stellen. Mek ließ dieses Material von einigen seiner Männer bewachen, und alle anderen schleppten sich müde das Tal hinauf zum Camp. Nach einer warmen Mahlzeit und einem Schluck Whisky legte sich Nicholas unter einem Moskitonetz auf eine dicke Schaumstoffmatte und schlief mit einem Lächeln ein. Alle Voraussetzungen für den Beginn einer erfolgreichen Arbeit waren gegeben. Die liturgischen Gesänge der Mönche zur Frühmesse weck ten ihn. »Hier werden wir keinen Wecker brauchen«, knurrte er und kletterte zum Fluß hinunter, um sich zu waschen und zu rasieren. Als die Morgensonne die Felszacken am oberen Rand des Steilhangs vergoldete, waren er und Mek schon auf ihren Po sten hoch über dem Flußtal und suchten den westlichen Him mel ab. Jannie sollte die Nacht in Roseires zubringen, wo Meks Männer ihm helfen sollten, das Material ins Flugzeug zu verla den, das sie dort nach ihrem ersten Flug von Malta nach Äthio pien untergestellt hatten. Das war eine der gefährlichen Phasen
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des Unternehmens. Obwohl Mek ihnen versichert hatte, daß man in diesem Gebiet gegenwärtig kaum mit sudanesischem Militär rechnen müsse, hätte es katastrophale Folgen gehabt, wenn ein Spähtrupp zufällig auf die dort gelandete Big Dolly gestoßen wäre. Deshalb fiel ihnen ein Stein vom Herzen, als sie hörten, wie sich das vertraute Dröhnen der Motoren von Big Dolly näherte. Die Maschine setzte zum Flug durch die Schlucht an, und als sie die Quarzmarkierungen erreichte, fiel der große gelbe Frontlader aus ihrer Ladeluke. Nicholas stockte der Atem, als er sah, wie die schwere Ladung zu Boden stürzte und dann von den Fallschirmen aufgefangen wurde. Der Frontlader schwank te an den Nylonseilen hin und her, und die Mönche begrüßten ihn mit lautem Geschrei, als er in einer Staubwolke landete. Sapper stand neben Nicholas, stöhnte und hielt sich die Au gen zu, um nicht sehen zu müssen, wie der Traktor mit lautem Krachen in der Staubwolke verschwand. »Scheiße!« sagte er mit dumpfer Stimme. »Ist das ein Befehl oder nur eine Frage?« fragte Nicholas, aber in Wirklichkeit kam ihm die Sache gar nicht komisch vor. Nachdem die letzte Palette abgeworfen war, stieg die Ma schine mit Vollgas über der Schlucht auf, und Nicholas rief Jannie über Funk zu: »Vielen Dank, Big Dolly. Kommen Sie gut nach Hause!« »Inschallah! So Gott will!« antwortete Jannie. »Ich werde Sie rufen, wenn ich abgeholt werden möchte.« »Ich werde darauf warten.« Big Dolly flog davon. »Halsund Beinbruch!« »Nun gut!« Nicholas klopfte Sapper auf den Rücken. »Ge hen wir hinunter und sehen nach, ob Sie noch einen Traktor haben.« Der gelbe Frontlader lag auf der Seite, und das wie Blut aus einem verwundeten Dinosaurier herausfließende Öl bildete
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eine Lache auf dem Boden. »Sie können verschwinden. Lassen Sie mir nur ein Dutzend von diesen schwarzen Kerls hier, die mir helfen können.« Sap per klang so traurig, als stünde er am Grab seiner Geliebten. Da Sapper zum Abendessen nicht im Camp erschienen war, schickte ihm Tessay eine Schüssel Gulasch und ein paar Schei ben Brot hinunter. Nicholas dachte zunächst daran, zu ihm zu gehen und ihm zu helfen, überlegte es sich dann aber anders. Aus Erfahrung wußte er, daß es Situationen gab, in denen Sap per alleingelassen werden wollte, und das war sicherlich jetzt der Fall. Im Zwielicht der Morgendämmerung wurde das Camp von zwei Scheinwerfern beleuchtet, und man hörte das laute Knat tern eines Dieselmotors. Sogar Sappers kahler Kopf war mit Öl und Staub verschmiert, und obwohl er vor Müdigkeit die Au gen kaum noch offenhalten konnte, saß er er am Lenkrad sei nes Traktors und rief triumphierend: »Okay, Buben und Mädels! Steht auf und zieht euch die Socken an. Jetzt bauen wir den Damm!« Es dauerte noch zwei Tage, bis alle Paletten, die verstreut im Flußtal herumlagen, eingesammelt und in den alten Steinbruch gebracht worden waren. Dort wurden sie so aufgestapelt, wie Nicholas und Sapper es in ihrem Lageplan vorgesehen hatten, denn für sie war es wichtig zu wissen, wo jeder einzelne Ge genstand zu finden war. Inzwischen arbeitete Sapper schon am Fundament des Damms, schlug numerierte Pfähle in den Bo den am Flußufer und vergewisserte sich mit seinem stählernen Maßband, daß alle bisher gemachten Messungen stimmten. Während dieser Vorbereitungen beobachtete Nicholas die Mönche bei der Arbeit und machte sich mit ihnen persönlich bekannt. Dabei konnte er feststellen, welche von ihnen auf
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grund ihrer Intelligenz und Arbeitsbereitschaft geeignet waren, Führungsaufgaben zu übernehmen. Auch war es für ihn wich tig zu wissen, wer arabisch oder ein wenig englisch sprach. Als besonders tüchtig fiel ihm ein Mann namens Hansith Sherif auf, den er zu seinem persönlichen Assistenten und Dolmet scher machte. Nachdem das Camp eingerichtet worden war und alle Mön che wußten, welche Aufgaben sie zu erledigen hatten, nahm Mek Nimmur Nicholas beiseite, um außer Hörweite der beiden Frauen etwas mit ihm zu besprechen. »Von nun an wird es meine Aufgabe sein, für unsere Sicher heit zu sorgen. Wir müssen jederzeit bereit sein, einen Überfall auf unser Camp oder ein ähnliches Gemetzel, wie es im Kloster stattgefunden hat, abzuwehren und zu verhindern. Nogo und seine Leute treiben sich immer noch irgendwo in unserer Nähe herum, und er wird sehr bald erfahren, daß Sie wieder in der Schlucht sind. Wenn er kommt, werde ich bereit sein, ihn zu empfangen.« »Sie können besser mit einem Sturmgewehr umgehen als mit einer Spitzhacke«, stimmte Nicholas ihm zu. »Nur lassen Sie Tessay bei mir. Ich brauche sie.« »Ich brauche sie auch«, sagte Mek lächelnd. »Erst jetzt weiß ich, wie sehr ich sie brauche. Sorgen Sie für Tessay. Ich wer den jeden Abend kommen, um nachzusehen, wie es ihr geht.« Dann führte Mek seine Männer in den Busch und wies sie in ihre Verteidigungsstellungen entlang des Pfades und rings um das Lager ein. Jedesmal wenn Nicholas von seiner Arbeit auf blickte, konnte er einen von Meks Wachtposten irgendwo oberhalb des Lagers ausmachen. Es war beruhigend zu wissen, daß sie da waren. Doch wie versprochen kam Mek fast jeden Abend ins Lager zurück, und oft hörte Nicholas nachts aus dem Schutzraum, den er mit Tessay teilte, Meks tiefes, zufriedenes Lachen und
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daneben ihre silberhelle Stimme. Dann lag Nicholas wach und dachte an Royan, die ganz in der Nähe, aber doch unerreichbar in ihrer Hütte lag und schlief. Nicholas war überrascht, als das zweite Aufgebot der von Mai Metemma versprochenen Arbeitskräfte mit dreihundert Mann schon am fünften Tage erschien. Das war ein für afrika nische Verhältnisse ungewöhnliches Ereignis, denn man durfte hier nie damit rechnen, daß eine Zusage vor dem vereinbarten Termin erfüllt wurde. Er fragte sich, was Mek dem Abt im ein zelnen versprochen haben könnte. Aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen, sondern freute sich, daß man mit dem Dammbau beginnen konnte. Diese Männer waren keine Mönche, denn das Kloster hatte bereits alles verfügbare Personal zur Verfügung gestellt, sie kamen aus den Gebirgsdörfern in der Umgebung der Schlucht. Sie waren gekommen, weil Mai Metemma ihnen einen religiö sen Ablaß gewährt hatte mit der Zusage, daß sie nach ihrem Tode nicht ins Fegefeuer kommen würden. Nicholas und Sapper teilten sie in Arbeitsgruppen mit je weils dreißig Mann auf und bestimmten einen der Mönche zum Vorarbeiter für jede dieser Gruppen. Bei ihrer Aufteilung be rücksichtigten sie die körperliche Leistungsfähigkeit der Män ner und faßten die kräftig gebauten und muskulösen Arbeiter in besonderen Gruppen zusammen, die die Schwerstarbeit zu lei sten hatten, während die Schwächeren mit Aufgaben betraut werden konnten, bei denen es weniger auf die körperliche Lei stungsfähigkeit ankam. Nicholas dachte sich für jede Gruppe einen besonderen Na men aus. So gab es die Büffel, die Löwen, die Hirsche und so weiter. Damit wollte er ihren Zusammenhalt festigen und sie zu einem Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Gruppen
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anregen, was ihre Leistungen zum Nutzen des Ganzen steigern sollte. Dann führte er sie, jede Gruppe unter der Führung des Mönchs, den er zum Vorarbeiter bestimmt hatte, in den Stein bruch. Dort stellte er sich auf einen der alten Steinblöcke und hielt ihnen eine Ansprache, die Tessay übersetzte. Er rief sie dazu auf, tüchtig zu arbeiten, und sagte ihnen, sie würden mit silbernen Maria-Theresia-Talern bezahlt werden, und zwar in dreifacher Höhe des sonst üblichen Tageslohns. Bis dahin hatten die Männer ihm mit mürrischen Gesichtern zugehört, die ihm zeigten, daß sie diese Mühen nur ungern auf sich nahmen. Doch nun vollzog sich ein erstaunlicher Wandel. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, für seine Arbeit be zahlt zu werden. Jetzt versprach Nicholas ihnen nicht nur Geld, sondern sogar Silbertaler. Seit zweihundert Jahren galt in Äthiopien der Maria-Theresia-Taler als die einzig echte Wäh rung. Aus diesem Grunde wurden die Münzen immer noch mit ihrem Ausgabedatum von 1780 und dem Abbild der alten Kai serin mit dem Doppelkinn und dem fülligen Busen geprägt. Eine dieser Münzen war mehr wert als ein ganzer Sack Papier geld, wie es von der abessinischen Regierung in Adis Abeba herausgegeben wurde. Um seine Arbeiter bezahlen zu können, hatte Nicholas mit der ersten Palette eine mit diesen Münzen gefüllte Kiste von Jannie abwerfen lassen. Als die Arbeiter diese Zusage hörten, grinsten sie, und ihre weißen Zähne blitzten in den ebenholzfarbenen Gesichtern. Einige von ihnen fingen an zu singen, und alle hüpften und tanzten vor Freude und ließen Nicholas hochleben, während sie sich hintereinander aufstellten, um ihre Werkzeuge in Empfang zu nehmen. Mit Schaufeln und Hacken auf den Schultern mar schierten sie, immer noch singend und tanzend, das Tal hinauf zur Baustelle. »Sankt Nicholas«, lachte Tessay. »Jetzt sind Sie der Weih nachtsmann! Diese Leute werden Sie nie vergessen.«
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»Vielleicht wird man Sie eines Tages sogar in einem Heilig tum beisetzen, ein Kloster darüber errichten und es nach Ihnen benennen«, sagte Royan und lächelte. »Was sie nicht wissen, ist, daß sie für jeden Silbertaler, den sie bekommen, hart arbeiten müssen.« Von nun an begann die Arbeit jeden Tag schon früh am Morgen, sobald es hell geworden war, und wurde erst abends bei Einbruch der Dunkelheit wieder eingestellt. Dann kamen die Männer im Licht von Grasfackeln so erschöpft in ihre be helfsmäßigen Unterkünfte zurück, daß sie nicht einmal mehr sangen. Doch Nicholas hatte mit den Dorfältesten die tägliche Lieferung eines Schlachttiers vereinbart. Jeden Morgen kamen die Frauen mit großen Krügen Tej, die sie auf ihren Köpfen balancierten, den Pfad herunter und trieben das Tier vor sich her. In den folgenden Tagen gab es bei der aus Arbeitskräften be stehenden, kleinen Armee von Nicholas keine Fahnenflüchti gen. Auf dem hohen Sitz seines Frontladers thronend, hob Sapper den ersten mit Steinen gefüllten Drahtkorb auf die hydraulisch arbeitenden Gabeln. Jede dieser Lasten wog mehrere Tonnen, und die Männer am Ufer des Dandera-Flusses unterbrachen ihre Arbeit, um dieses Manöver zu beobachten. Ein beifälliges Murmeln ging durch ihre Reihen, als Sapper den gelben Trak tor das steile Ufer hinunter und mit der schweren Last in das Wasser hineinfuhr. Die Strömung brach sich aufschäumend an den großen Hinterrädern des Fahrzeugs, das Sapper immer tie fer hineinlenkte. Die Männer, die sich in einer langen Reihe am Ufer aufge stellt hatten, stimmten einen rhythmischen Gesang an und klatschten dazu in die Hände, als das Wasser bis zum Boden
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des Fahrzeugs reichte und vom heißen Stahlblech der Ölwanne weiße Dampfwolken aufstiegen. Sapper stellte die Bremsen fest und ließ den schweren Drahtkorb in den Fluten versinken, um dann im Rückwärtsgang das Ufer hinaufzufahren. Seine Leistung wurde stürmisch bejubelt, obwohl die erste Last so fort versank und nur noch ein Strudel auf der Wasseroberfläche die Stelle bezeichnete, an der sie lag. Ein zweiter mit Steinen gefüllter Drahtkorb stand schon bereit. Der Frontlader fuhr heran, senkte die stählerne Gabel und nahm die Last behutsam auf. Nicholas rief den Vorarbeitern zu, sie sollten jetzt weiterar beiten, und die Männer kamen in einer langen Reihe das Tal herauf. Bis auf einen kurzen, weißen Lendenschurz waren sie nackt, und ihre dunkle Haut glänzte wie frisch gebrochene Steinkohle in einem Bergwerk, denn in der Schlucht herrschte eine unglaubliche Hitze. Jeder von ihnen trug einen Korb mit Steinen auf dem Kopf, die er in einen bereitstehenden Draht korb kippte. Dann kehrten sie mit dem leeren, aus Weidenge flecht bestehenden Korb zurück in den Steinbruch. Sobald ein Drahtkorb mit Steinen gefüllt war, wurde er von einem anderen Team mit einem starken Draht zugebunden. »Eine Prämie von zwanzig Dollar für das Team, das heute die meisten Körbe gefüllt hat!« rief Nicholas. Die Männer ju belten und verdoppelten ihre Anstrengungen, konnten aber mit Sapper und seinem Frontlader nicht Schritt halten. Er türmte die Steine sehr geschickt aufeinander und begann damit im seichten Wasser unmittelbar unterhalb des Ufers so, daß jeder Drahtkorb sich an den nächsten und die letzten an die Steil wand lehnten und alle sich gegenseitig stützten. Zunächst war vom Fortgang der Arbeit kaum etwas zu er kennen, als jedoch unter der Wasseroberfläche das solide Fun dament der Staumauer entstand, begann der Fluß heftig darauf zu reagieren. Als die Strömung das von Sapper aufgebaute
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Steinfundament überwinden mußte, wurde aus einem sanften Rauschen ein dumpfes Tosen. Schon bald tauchte die aufgebaute Mauer aus dem Wasser auf, und der Fluß wurde auf die Hälfte seiner bisherigen Breite verengt. Nun ergoß sich das Wasser in einem grünen Sturzbach durch die Lücke und stieg, da es gezwungen war, hinter der Barriere zurückzubleiben, fast unmerklich das Ufer hinauf. Der Fluß zerrte am Fundament des Dammes und suchte nach schwachen Stellen, um das Hindernis aufzubrechen, und je höher das Wasser stieg, desto langsamer kam die Arbeit voran. An der mit Bäumen bestandenen Böschung arbeitete die Gruppe der Hirsche, und Nicholas zuckte jedesmal zusammen, wenn einer der großen Bäume gefällt wurde, mit lautem Knar ren umstürzte und ächzte, wie ein zu Tode getroffenes Tier. Er selbst sah sich gern als Vertreter des Naturschutzgedankens, und einige dieser Bäume waren schon ein paar hundert Jahre alt. »Was wollen Sie, den verdammten Damm oder Ihre hüb schen Bäume?« fragte Sapper zornig, als Nicholas die Verwü stung des Waldes beklagte. Aber Nicholas wandte sich, ohne etwas zu sagen, von ihm ab. Die pausenlose Arbeit zehrte an den Kräften aller Beteilig ten, und die nervliche Anspannung war ungeheuer groß. Einige Male war es schon zu lebensgefährlichen Auseinandersetzun gen zwischen einzelnen Arbeitern gekommen, und jedesmal hatte Nicholas den eisernen Hacken ausweichen müssen, wenn er eingreifen mußte, um die Streitenden voneinander zu tren nen. Der Fluß wurde durch den Damm allmählich in sein neues Bett gezwungen, und nun wurde es Zeit, mit den Arbeiten am gegenüberliegenden Ufer zu beginnen. Das verlangte den Ein
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satz aller vorhandenen Arbeitskräfte zum Bau der neuen Stra ße, die bis zur Furt reichte. Der Frontlader mußte auch hinü bergebracht werden, und hundert Männer zogen ihn an Seilen hinüber, während sich die großen Hinterräder wie wild drehten, den Grund aufwühlten und das Wasser zum Schäumen brach ten. Dann mußte am gegenüberliegenden Ufer bis dorthin, wo der Damm entstehen sollte, eine neue Straße gebaut werden. Dazu wurden die Baumstämme und Felsbrocken, die die Durchfahrt des Traktors behinderten, aus dem Wege geräumt. Nachdem der Traktor bis an die Baustelle herangefahren war, konnten auch von diesem Flußufer aus die mit Steinen gefüll ten Drahtkörbe ins Wasser versenkt werden. So rückten allmählich die Fundamente auf beiden Seiten jeden Tag um ein paar Meter gegen die Mitte des Flußlaufs vor, und als die Lücke zwischen ihnen schmaler wurde, stieg der Wasserspiegel, die Strömung wurde stärker und das Arbeiten an dieser Stelle schwieriger. Inzwischen hatten die Falken und Skorpione zweihundert Meter stromaufwärts mit ihrer Arbeit begonnen. Diese beiden Teams bauten aus den Baumstämmen, die sie an der Böschung gefällt hatten, ein Floß. Die Stämme wurden so zusammenge schnürt, daß sie ein Gitter bildeten. Über dieses Gitter wurde eine PVC-Plane gedeckt, um es wasserdicht zu machen, und darüber kam ein zweites Gitter aus Baumstämmen. Dann wur de alles mit starkem Draht zusammengebunden und schließlich das eine Ende des Gitters mit Steinblöcken beschwert. Sapper ließ die Steinblöcke so verteilen, daß das Floß auf der einen Seite stärker belastet wurde als auf der anderen und nun fast vertikal im Wasser lag, wobei ein Ende bis zum Grund des Flusses hinunterreichte, während das andere aus dem Wasser herausragte. Die Ausmaße des Floßes entsprachen genau der Lücke zwischen den beiden Teilen des Fundaments im Wasser.
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Während die Arbeit an dem Floß und dem Fundament weiter ging, ließ Sapper einen Vorrat an weiteren, mit Steinen gefüll ten Drahtkörben anlegen, die an beiden Ufern unterhalb des Dammes bereitgestellt wurden. Drei weitere für die Schwerstarbeit vorgesehene Tearns, die Elefanten, die Büffel und die Nashörner, die aus den größten und stärksten Männern zusammengesetzt waren, arbeiteten am oberen Ende des Flußtals. Sie hoben einen tiefen Kanal aus, in den das Flußwasser umgeleitet werden konnte. »Ihr tüchtiger Techniker Taita hat an diese Kleinigkeit nicht gedacht«, sagte Sapper und sah Royan mit hämischem Grinsen an. »Es bedeutet, daß wir den Wasserstand um nur sechs Fuß heben müssen, wenn das Wasser durch den Kanal ins Tal zu rückfließen soll. Andernfalls hätten wir den Wasserstand um fast zwanzig Fuß steigen lassen müssen, um die Strömung in eine neue Richtung zu leiten.« »Vielleicht waren die Wasserstände vor viertausend Jahren anders als heute.« Royan fühlte sich so sehr mit ihrem alten ägyptischen Landsmann verbunden, daß sie ihn unbedingt ver teidigen mußte. »Oder vielleicht hat auch er einen Kanal bauen lassen, von dem heute nichts mehr zu sehen ist.« »Das ist verdammt unwahrscheinlich«, brummte Sapper. »Der kleine Dreckskerl hat ganz einfach nicht daran gedacht.« Er machte ein überhebliches, selbstgefälliges Gesicht. »Hier sind wir, glaube ich, dem Herrn Taita überlegen.« Royan lächelte in sich hinein. Es war schon seltsam, wie die ser nüchterne, dem praktischen Leben zugewendete Mann plötzlich das Gefühl hatte, von einem jahrtausendealten Pro blem herausgefordert zu werden. Nun mußte auch er an der Lösung des Rätsels mitarbeiten, vor das Taita die Nachwelt gestellt hatte.
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Weder mit Strafandrohungen noch mit den schönsten Ver sprechungen hatten sich die Mönche dazu bewegen lassen, sonntags zu arbeiten. Jeden Samstag abend machten sie eine Stunde früher Feierabend und marschierten zum Kloster, um am folgenden Tag rechtzeitig zur heiligen Kommunion in der Kirche zu sein. Obwohl Nicholas seinen Ärger über diese Pflichtvergessenheit deutlich zum Ausdruck brachte, freute er sich im Grunde ebenso wie alle anderen, an einem Tag der Woche eine Ruhepause einlegen zu können. Alle waren er schöpft und froh, am nächsten Tag nicht schon um vier Uhr morgens von den liturgischen Gesängen zur Frühmesse ge weckt zu werden. So nahm sich am Samstag abend jeder vor, am Sonntag rich tig auszuschlafen, aber die Macht der Gewohnheit war stärker als dieser Vorsatz, und Nicholas wachte wieder zur gleichen Zeit auf wie an jedem Arbeitstag. Da er es nicht länger auf sei nem Feldbett aushielt, stand er auf, und als er frisch gewaschen und rasiert vom Flußufer zurückkam, stellte er fest, daß auch Royan schon wach und angezogen war. »Einen Kaffee?« Sie nahm die Kanne vom Feuer und goß ihm einen Becher voll ein. »Ich habe in der vergangenen Nacht sehr schlecht geschla fen«, sagte sie. »Ich hatte die lächerlichsten Träume. Ich be fand mich im Mausoleum des Mamose in einem Labyrinth aus unterirdischen Gängen. Ich suchte nach der Grabkammer und öffnete die verschiedensten Türen, aber in den Räumen hinter den Türen waren irgendwelche Menschen. In einem dieser Zimmer arbeitete Duraid, blickte auf und sagte: ›Erinnerst du dich noch an das Protokoll der vier Stiere? Beginne mit dem Anfang.‹ Er wirkte so real und lebendig, daß ich zu ihm hi neingehen wollte, aber die Tür schlug vor meiner Nase zu, und ich wußte, daß ich ihn nie wiedersehen würde.« Sie hatte Trä nen in den Augen.
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Nicholas wollte ihr helfen, diese schmerzlichen Erinnerun gen zu vergessen, und sagte: »Wer war in den anderen Räu men?« »Im nächsten Zimmer war Nahoot Guddabi. Er lachte höh nisch und sagte: ›Der Schakal jagt die Sonne‹, und sein Kopf verwandelte sich in den Kopf des Anubis, des schakalköpfigen Todesgottes, und er kläffte und bellte. Ich fürchtete mich so sehr, daß ich fortlief.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Das war alles völlig sinnlos und verrückt, aber im nächsten Zimmer war Schiller. Er erhob sich in die Luft, schlug mit den Flügeln und sagte: ›Der Geier erhebt sich in die Luft, und der Stein fällt.‹ Ich haßte ihn so sehr, daß ich ihn schlagen wollte, aber dann war er verschwun den.« »Und dann sind Sie aufgewacht?« fragte Nicholas. »Nein. Da war noch ein Zimmer.« »Und wer war in diesem Zimmer?« Sie schlug die Augen nieder und sagte ganz leise: »Sie«. »Ich? Was habe ich gesagt?« Er lächelte. »Sie haben nichts gesagt«, erwiderte sie leise und errötete. Das machte ihn neugierig. »Und was habe ich getan?« Er lächelte immer noch. »Nichts. Das heißt, ich kann es Ihnen nicht sagen.« Sie er lebte noch einmal in aller Deutlichkeit, was sie geträumt hatte: seinen nackten Körper, seinen Geruch und sogar das Gefühl, von ihm berührt zu werden. Sie wollte sich zwingen, nicht mehr daran zu denken, denn sie fühlte sich ebenso verwundbar wie in diesem Traum. »Erzählen Sie es mir«, verlangte er. »Nein!« Sie versuchte das, was sie erlebt hatte, von sich ab zuschütteln, und stand auf. Sie war verwirrt und immer noch rot im Gesicht. In der vergangenen Nacht hatte sie zum ersten Mal in ihrem
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Leben so von einem Mann geträumt und dabei im Schlaf einen Orgasmus gehabt. Als sie morgens aufwachte, war ihre Pyja mahose noch feucht gewesen. »Wir haben einen ganzen Tag vor uns, an dem wir nicht ar beiten müssen«, sagte sie, und es war der erste Gedanke, der ihr in diesem Augenblick einfiel. »Im Gegenteil.« Auch er stand auf. »Wir müssen uns auf ei ne plötzliche Abreise vorbereiten. Wenn das notwendig wird, werden wir wahrscheinlich in ziemlicher Eile sein.« »Darf ich mitkommen?« fragte sie. Im Steinbruch warteten zwei Teams, die Büffel und die Ele fanten, nur ihre Vorarbeiter waren nicht erschienen. Es waren die sechzig stärksten Männer des ganzen Arbeitskommandos. Nicholas nahm die aufblasbaren Lastenschlauchboote von einer der Paletten. Jedes dieser Schlauchboote war zu einem Bündel verschnürt worden. Die Paddel waren an den Seiten festgebun den. Die großen Schlauchboote eigneten sich besonders für den Transport von Menschen und Material auf Flüssen mit turbu lenter Strömung und faßten eine Besatzung von sechzehn Mann und eine Ladung von einer Tonne. Nicholas ließ die Männer diese schweren Pakete an zwei Stangen festbinden. Fünf Mann an jedem Ende dieser langen Pfähle, in deren Mitte das Bündel befestigt war, konnten dieses Gewicht ohne weiteres tragen. So liefen sie in scharfem Tempo den Pfad entlang, und wenn ein Team erschöpft war, wurde die Last vom nächsten übernommen. Sie lösten einander ab, ohne anzuhalten. Das neue Team nahm die Pfähle auf die Schultern, während das alte zur Seite trat. Das in der Schachtel verstaute Funkgerät, das mit Glaswolle gepolstert war, trug Nicholas selbst. Diesen kostbaren Gegen stand wollte er keinem der Träger anvertrauen. Er und Royan
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liefen hinter der Karawane her und stimmten in den Refrain des Liedes ein, das die Träger auf dem Wege zum Kloster sangen. Mai Metemma wartete auf der Terrasse vor der Kirche des heiligen Frumentius, um sie zu begrüßen. Er führte sie über die in den Felsen gehauenen Stufen die Klippe hinunter bis zu dem siebzig Meter tiefer gelegenen Flußufer. Unmittelbar über dem Wasser verlief ein schmaler Felsensims, und ein feiner Sprüh regen von dem Wasserfall wurde zu ihnen herübergeweht. Nach der Hitze und dem grellen Sonnenschein am oberen Rand der Schlucht war es hier unten in der Tiefe kalt, düster und feucht. An der schwarzen Steilwand lief das Wasser hinunter, und der Felssims, auf dem sie standen, war naß und schlüpfrig. Royan erschauerte beim Anblick des wild vorbeirauschenden Flusses, der in dem tiefen Felsenbecken einen großen Wirbel bildete, um sich dann durch die enge Kluft zu stürzen und die lange und ungestüme Reise in das im Norden gelegene Ägyp ten anzutreten. »Wenn ich nur gewußt hätte, daß Sie vorhaben, auf der Heimreise diesen Weg zu nehmen –«, sagte sie und blickte unschlüssig zum Fluß hinüber. »Wenn Sie lieber zu Fuß gehen wollen, soll es mir auch recht sein«, erwiderte Nicholas. »Doch wenn wir Glück haben, können wir auf diesem Weg eine ganze Menge Gepäck mit nehmen. Der Fluß bietet sich als günstigster Fluchtweg an.« »Wahrscheinlich ist das ein vernünftiger Vorschlag, aber ein solches Unternehmen erscheint mir nicht besonders verlok kend.« Sie brach ein Stück von dem Treibholz ab, das auf den schmalen Sims geschwemmt worden war, und warf es in den Fluß. Es wurde mitgerissen und verschwand hinter einen Fels block. »Wie schnell ist die Strömung?« fragte sie leise, als das Stück Holz von einem Strudel erfaßt wurde und unter der Was seroberfläche verschwand.
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»Oh, nicht sehr viel mehr als acht oder neun Knoten«, sagte er, »aber das ist noch gar nichts. Der Wasserstand ist noch sehr niedrig. Warten Sie nur, bis in den Bergen der Regen einsetzt. Dann werden Sie erleben, welche Wassermassen durch die Schlucht strömen. Viele würden eine Menge Geld dafür bezah len, eine Fahrt auf einem solchen Fluß unternehmen zu können. Und auch Ihnen wird es gefallen.« »Vielen Dank«, erwiderte sie trocken. »Ich kann warten.« Etwa fünfzehn Meter über dem Sims, auf dem sie standen, befand sich eine kleine Höhle, an die der Nil auch bei Hoch wasser nicht heranreichte. Das war das Epiphanias-Heiligtum. Vor langer Zeit hatten die Mönche einen in den Felsen führen den Gang ausgehauen, der in eine geräumige, von Kerzen er leuchtete Kammer führte. Darin stand eine lebensgroße, in ein Gewand aus verblichenem Samt gekleidete heilige Jungfrau mit dem Jesuskind auf den Armen. Mai Metemma hatte ihnen erlaubt, ihre Schlauchboote hier abzustellen. Nun waren sie entlang einer Wand aufgestapelt worden. Als die Träger ge gangen waren, zeigte Nicholas Royan, wie man die Pakete mit einem Auslöser öffnen konnte, und die mit Kohlendioxyd ge füllten Gasflaschen, mit denen sich die Schlauchboote inner halb weniger Minuten aufblasen ließen. Dann wickelte er die Schachtel mit seinem Funkgerät und seiner Notausrüstung in eine Plastikplane und legte alles auf ein noch verpacktes Schlauchboot, um diese Dinge für den Notfall sofort zur Hand zu haben. »Sie haben doch vor, auf dieser Vergnügungsreise mitzu kommen?« fragte sie besorgt. »Oder werden Sie mich etwa allein dort hinunterschicken?« »Es ist am besten, wenn Sie genau wissen, wie das alles funktioniert«, erwiderte er. »Wenn wir beim Verlassen dieser Gegend auf unerwartete Schwierigkeiten stoßen sollten und wir die Schlauchboote schnell zu Wasser lassen müssen, werde ich
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vielleicht Ihre Hilfe brauchen.« Als sie die Stufen in die Tageswärme und das Sonnenlicht hinaufstiegen, hatte Royan ihre Vorbehalte aufgegeben. »Es ist noch nicht Mittagszeit, und wir haben den ganzen Tag für uns. Gehen wir doch noch einmal zurück zum Wasserbecken Tai tas«, schlug sie vor. Er war einverstanden. Die Gruppe der Büffel und Elefanten begleiteten sie bis an die Stelle, an der sich der Pfad gabelte. Von hier aus gingen die Arbeitsgruppen wieder zur Baustelle zurück und verabschiede ten sich mit Winken und freundlichen Zurufen von Nicholas und Royan. In der kurzen Zeit, seit ihrem letzten Aufenthalt in dieser Gegend, war der Pfad durch das Unterholz schon wieder zuge wachsen. Nicholas mußte ihnen mit der Machete einen Weg bahnen, und sie kamen nur gebückt unter den dornigen Zwei gen der Akazien durch. Erst am Nachmittag überquerten sie den Gebirgskamm und standen wieder auf der Klippe unmittel bar über Taitas Wasserbecken. »Es sieht so aus, als sei nach uns niemand mehr hier gewe sen«, sagte Nicholas erleichtert. »Kein Zeichen von anderen Besuchern.« »Haben Sie damit gerechnet?« »Das läßt sich nicht genau sagen. Schiller ist ein einflußrei cher Mann, und es gibt ein paar entzückende Burschen, die für ihn arbeiten. Und vor allem muß man sich vor Helm vorsehen, und ich hatte das unangenehme Gefühl, er könnte sich hier he rumgetrieben haben. Ich werde mich noch etwas genauer um sehen.« Er machte sich auf den Weg und suchte in der näheren Um gebung nach irgendwelchen Hinweisen. Dann kam er wieder zu Royan zurück, die am Rand des Steilhangs auf dem Boden saß, und setzte sich neben sie. »Nichts zu sehen«, sagte er. »Noch können wir damit rech
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nen, nicht gestört zu werden.« »Sobald Sapper den Fluß stromaufwärts gestaut hat, wird dies unser wichtigstes Tätigkeitsfeld sein, nicht wahr?« fragte sie. »Ja, aber noch bevor Sapper den Damm gebaut hat, möchte ich hier ein Zwischenlager einrichten und alle Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände aus dem Steinbruch hierherbringen, die wir brauchen werden, wenn wir das trockengelegte Becken untersuchen.« »Auf welchem Wege werden wir dort hinkommen? Durch das trockengelegte Flußbett?« »Ich denke, wir könnten auf dem Wege durch das Flußbett kommen, und zwar entweder unterhalb des Staudamms oder vom Kloster her über die roten Klippen.« »Aber zunächst hatten Sie doch nicht vor, auf diesem Wege hineinzukommen?« fragte sie. »Selbst wenn der Fluß kein Wasser mehr führt, wird der Zu gang durch das Flußbett ein großer Umweg sein. Von einem zum anderen Ende des Beckens sind es fünf bis sechs Kilome ter, und außerdem wird man über das Geröll im trockenen Flußbett nur sehr langsam vorankommen. Ich spreche aus Er fahrung, denn ich kenne diese Strecke und möchte mir diese Strapazen nicht noch einmal zumuten. Dabei müßte man, so weit ich mich erinnere, mindestens fünf tiefe Rinnen und Steinhaufen überwinden.« »Haben Sie eine bessere Idee?« fragte sie. »Es ist nicht meine Idee«, erwiderte er. »Es ist Taitas Idee.« Sie schaute hinunter in die Tiefe. »Sie meinen, man sollte ebenso wie er ein Gerüst bauen, das über die Steilwand in die Tiefe führt?« »Was für Taita das richtige war, wird auch mir genügen«, bestätigte er ihre Vermutung. »Der alte Bursche hat wahr scheinlich zunächst auch daran gedacht, den Weg durch das
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Flußbett zu nehmen, und dann die Idee aufgegeben.« »Wann werden Sie mit dem Bau des Gerüsts anfangen?« »Eines unserer Teams ist schon damit beschäftigt, weiter oben Bambuspfähle zu schneiden. Morgen werden wir sie herbringen und mit dem Gerüstbau beginnen. Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Wenn der Staudamm fertig ist, müssen wir sobald wie möglich in das trockene Becken hinuntersteigen.« Als sollte die Bedeutung seiner Worte unterstrichen werden, hörte man es in der Ferne donnern. Nicholas und Royan schau ten besorgt nach Norden. In einer Entfernung von etwa einhun dertsechzig Kilometern sah man über der blauen Silhouette des Steilhangs regenschwere Kumuluswolken aufsteigen. Sie äu ßerten sich nicht dazu, aber es war ihnen bewußt, was diese Wolken über den fernen Bergen für sie bedeuten könnten. Nicholas schaute auf seine Armbanduhr und stand auf. »Es ist Zeit aufzubrechen, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Camp sein wollen.« Er reichte ihr die Hand und half ihr beim Aufstehen. Sie klopfte sich den Staub aus den Kleidern und trat an den Rand des Steilhangs. »Wach auf, Taita. Wir sind dir auf der Spur«, rief sie in die schattige Tiefe. »Fordern Sie ihn nicht heraus.« Nicholas nahm sie am Arm und zog sie zurück. »Der alte Schurke hat uns schon genug Schwierigkeiten bereitet.« Die Holzfäller hatten die Stümpfe einiger großer Bäume am Ufer des Dandera-Flusses stromaufwärts vom Damm stehen lassen. Sapper wollte sie als Verankerungen für die schweren Drahtseile benutzen, die er über den Fluß spannen ließ. An den Drahtseilen hatte er eine Reihe von Seilwinden für Flaschenzü ge angebracht. Das Hauptseil lief zurück und war verbunden
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mit dem Abschlepphaken des Traktors. Die beiden anderen Drahtseile waren an dem gegenüberliegenden Ufer ausgelegt, wo die Gruppe der Büffel und Elefanten bereitstanden, sie in Bewegung zu setzen. Das eine Team arbeitete unter Nicholas, das andere unter Mek Nimmur. Für diesen wichtigen Teil der Arbeit am Gerüst war Mek aus den Bergen heruntergekommen, um selbst mit anzupacken. Das aus dicken Baumstämmen zusammengebaute Gitter lag schon halb im Wasser am Flußufer. Mit schweren Steinen bela stet, war es unhandlich, und es bedurfte erheblicher gemeinsa mer Anstrengungen, dieses Gitter in die gewünschte Position zu bringen. Sapper betrachtete mit zusammengekniffenen Au gen die ganze Anlage und schaute dann stromabwärts zu dem noch unfertigen Damm. Das aus Schanzkörben zusammenge setzte Fundament reichte von beiden Ufern aus schon ein gro ßes Stück in die Mitte des Flusses, es blieb aber noch eine Lücke von etwa siebzig Metern, durch die sich nun der Fluß zwängte. »Das verdammte Ding darf auf keinen Fall von der Strö mung mitgerissen und unkontrolliert gegen das Fundament geschleudert werden«, warnte er Nicholas und Mek. »Dann wäre ein großer Teil der Arbeit, die wir bisher geleistet haben, umsonst gewesen. Ich will das Gitter jetzt ganz vorsichtig in die Lücke einfügen. Haben Sie noch Fragen? Später werden Sie keine Gelegenheit mehr dazu haben. Sie alle kennen die vereinbarten Signale.« Sapper zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte den Stummel in den Fluß. Dann sah er sie mitleidig an und sagte: »Okay, Freunde, wer zuletzt ins Wasser springt, ist ein Feigling.« Anders als ihre Männer hatten Nicholas und Mek noch ihre khakifarbenen Shorts an. Die anderen waren alle nackt. Auf das verabredete Zeichen sprangen sie ins Wasser, das ihnen bis
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zur Gürtellinie reichte, und nahmen an den Drahtseilen ihre Positionen ein. Bevor er ihnen in den Fluß folgte, sah sich Nicholas noch einmal um. Morgens beim Frühstück hatte Royan ihn ganz unschuldig gebeten, ihr sein Fernglas zu leihen. Jetzt wußte er, warum. Sie und Tessay saßen hoch oben am Rand des Steil hangs über dem Abgrund, und gerade in diesem Augenblick reichte Royan Tessay das Fernglas. Sie verfolgten aufmerksam jede Phase dieses entscheidend wichtigen Unternehmens. Nicholas sah sich nach den kräftigsten nackten Männern um, verzog das Gesicht und murmelte: »Lieber Himmel, da haben wir wirklich ein paar prächtig aussehende Burschen. Hoffent lich stellt Royan keine Vergleiche an.« Sapper kletterte auf den gelben Traktor und startete den Mo tor, der aufheulte und eine dicke schwarze Rauchwolke aus stieß. Er hob eine Hand mit geballter Faust über dem Kopf, und Nicholas gab den Befehl an sein Team weiter: »Spannt die Sei le.« Die Vorarbeiter wiederholten den Befehl auf Amharisch, und die Männer lehnten sich zurück und zogen an den Drahtseilen. Sapper ließ den Traktor ganz langsam im ersten Gang anrollen. Die Drahtseile strafften sich, die Seilwinden quietschten, und das Gitter glitt schwerfällig die Böschung hinunter in den Fluß. Das mit Steinen beschwerte Ende sank sofort auf den Grund des Flusses, während das leichtere Ende sich nach oben stellte. Langsam zogen sie das Ganze in die Mitte der Strömung, bis das Gitter senkrecht im Wasser hing. Dort wurde es von der Strömung ergriffen und in Richtung auf das aus Schanzkörben zusammengesetzte Fundament ge trieben. Die Geschwindigkeit der Strömung erhöhte sich in beängstigender Weise. Der Traktor knatterte und stieß schwar ze Rauchwolken aus, als Sapper den Rückwärtsgang einschal tete, um die Drahtseile zurückzuziehen. Die nackten schwarzen
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Männer hängten sich mit aller Kraft in die Drahtseile und be gleiteten ihre Arbeit mit rhythmischem Gesang. Einige von ih nen waren schon bis an den Hals ins Wasser gezogen worden. Das Gitter hatte sich in der Strommitte aufgerichtet, und nun ließen sie es langsam auf die Lücke im Fundament zutreiben. Als es anfing, nach einer Seite auszuweichen, hob Sapper den rechten Arm und beschrieb einen Kreis damit. Gehorsam gaben Meks Männer am gegenüberliegenden Ufer mit ihrem Draht seil nach, und das Team von Nicholas auf der anderen Seite holte es ein. Damit war das Gitter wieder auf die Lücke ausge richtet. »Rock and roll. Schließt das Loch«, brüllte Sapper, doch jetzt war die Strömung zu stark und riß beide Teams in den Fluß, bis einige der Leute die Drahtseile loslassen und sich schwimmend an Land retten mußten. Doch diejenigen, die noch Boden unter den Füßen hatten, konnten das Gitter gerade noch vor einem Zusammenstoß mit dem Fundament bewahren. Es verankerte sich fest in der Lücke wie ein riesiger Stöpsel im Abfluß einer gewaltigen Badewanne, und damit wurde der Strömung sofort Einhalt geboten. Während sich die Männer im Wasser zum Ufer durchkämpf ten, wo ihre nassen Leiber im Sonnenlicht glänzten, löste Sap per die Drahtseile vom Abschlepphaken seines Traktors und fuhr im vierten Gang das Ufer hinunter. Als er an Nicholas vorbeikam, sprang dieser hinter dem Fahrersitz auf. »Wir müssen das Gitter abstützen, bevor es bricht«, rief Sapper. Vom Trittbrett des Traktors aus konnte Nicholas die Situati on recht gut überblicken und beurteilen. Der Damm konnte den Wasserdruck einigermaßen aushallen. An verschiedenen Stel len drang allerdings das Wasser durch das Gitter und die Schanzkörbe. Der Wasserdruck gegen die Kunststoffolien im Gitter war enorm. Es mußte die ganze Gewalt der Wasser massen auffangen und bebte unter ihrem Ansturm.
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Sapper nahm einen der Schanzkörbe auf, die am Ufer bereit standen, und fuhr unterhalb des Staudamms in das Flußbett hin ein. Der Staudamm hatte so wenig Wasser durchgelassen, daß es hier nur noch knietief war. Es sprudelte durch die kleinen Öff nungen, denn die Schanzkörbe waren nicht wasserdicht, und obwohl die Steine in den Schanzkörben fest aufeinanderlagen, fand es überall noch Möglichkeiten, durchzusickern. Als der Traktor über das unebene Flußbett hinter dem Stau damm rumpelte, wurden Nicholas und Sapper wie durch einen kalten Regen naßgespritzt. Sapper fuhr unmittelbar hinter das Gitter und stellte dort zur Verstärkung den Schanzkorb auf. Dann fuhr er im Rückwärtsgang wieder das Ufer hinauf und nahm einen zweiten Schanzkorb auf. So baute er allmählich hinter dem Staudamm eine zweite Schutzwand, die ebensofest war, wie die neben dem Gitter eingerammten Pfeiler. Nicholas sprang vom Traktor hinunter und lief stromauf wärts zurück zum Kanal, der inzwischen am Beginn des Fluß tals ausgehoben worden war. Die meisten Arbeiter hatten sich am Rande dieses Kanals aufgestellt, und Nicholas sah Royan und Tessay in der vordersten Reihe der erregten Menge. Er drängte sich bis zu Royan durch, die ihn bei der Hand nahm und sagte: »Es ist gelungen, Nicky. Der Staudamm hält.« Sie sahen, wie der Wasserspiegel des zurückgestauten Flus ses am Gitter und an den Schanzkörben stieg, und die Männer bewunderten lachend das gelungene Werk. Fünfzig Mann ergriffen ihre Werkzeuge, sprangen in den Kanal und schaufelten die lockere Erde an dessen Rand beisei te, so daß das Wasser hineinfließen konnte. Die Männer am Ufer ermutigten sie mit lauten Zurufen, und ein dünnes Rinnsal schlängelte sich bis zum Beginn des Kanals. Die Männer mit den Hacken und Schaufeln liefen ein Stück voraus und mach ten dem Wasser den Weg frei, und wo sie auf ein Hindernis stießen, räumten sie es zur Seite.
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Schließlich wurde das Rinnsal zu einem Strom und füllte den Kanal mit dem gestauten Wasser des Flusses. Die Männer im Kanal schrien angstvoll auf, überrascht von der Plötzlichkeit der hereinbrechenden Fluten, und kletterten an den Wänden des Kanals hinauf, um ihnen zu entkommen. Aber einige von ihnen waren nicht schnell genug und wurden mitge rissen. Auf ihre Hilferufe hin warfen die an den Ufern stehen den Männer ihnen Stricke zu und zogen sie durchnäßt und schlammbedeckt aus der Flut. Nun toste der Fluß schäumend durch den Kanal das Tal hin unter und entdeckte sein altes Flußbett, dem er seit Jahrtausen den nicht mehr gefolgt war. Fast eine Stunde lang beobachteten die Menschen dieses faszinierende Schauspiel und waren ge zwungen, schrittweise zurückzutreten, weil der Fluß die Bö schung unter ihren Füßen mit sich fortriß. Nun entschloß sich Nicholas, zu Sapper zurückzugehen, der immer noch damit beschäftigt war, den Staudamm zu befestigen. Inzwischen hatte er stromabwärts hinter dem Damm mit vier Reihen von Schanzkörben einen Schutzwall errichtet, der in seinem oberen Teil nicht ganz so dick war wie am Boden. Damit war der Staudamm zunächst gesichert, und die Schwachstelle an dem zuletzt eingefügten Gitter wurde durch die schweren, mit Stei nen gefüllten Schanzkörbe festgehalten. Außerdem hatte sich der Wasserdruck ja auch verringert, nachdem der Fluß durch den Kanal in das Tal abgeleitet worden war. »Glauben Sie, daß es halten wird?« Royan sah besorgt zum Damm hinüber. »Wir hoffen, bis zum Beginn der Regenzeit.« Nicholas nahm sie beim Arm und führte sie fort. »Wir wollen hier keine Zeit mehr verschwenden. Es ist Zeit, stromabwärts mit der Arbeit an Taitas Wasserbecken zu beginnen.«
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Sie folgten den Ufern des neugeschaffenen Flusses durch das lange Tal. An einigen Stellen mußten sie ein Stück den Hang hinaufklettern und einen Umweg machen, weil der alte Pfad überspült worden war. Schließlich kamen sie an die Einmün dung des Nebenflusses, dessen von Schmetterlingen besuchte Quelle Tamre ihnen gezeigt hatte. Sie blieben am Ufer stehen und sahen sich sprachlos an. Der Nebenfluß war ausgetrocknet. Sie folgten dem trockenen Flußbett bergauf und kletterten bis zu dem Riff hinauf, an dem sie auf die Schmetterlingsquelle gestoßen waren. Um die Höhlung wuchs noch immer frisches, grünes Farnkraut, aber es sah aus wie eine dunkle, leere Au genhöhle. »Die Quelle ist ausgetrocknet!« flüsterte Royan. »Der Damm hat ihr das Wasser entzogen. Das bedeutet, daß die Quelle von Taitas Wasserbecken gespeist wurde. Damit, daß wir den Fluß abgeleitet haben, haben wir die Quelle trockengelegt,« Sie sah Nicholas mit vor Erregung blitzenden Augen an. »Kommen Sie. Wir dürfen hier keine Zeit verschwenden. Gehen wir hin auf zu Taitas Wasserbecken.« Nicholas war als erster unten in Taitas Wasserbecken. Dies mal wurde er in einem Bootsmannstuhl mit einem fachmän nisch montierten Flaschenzug über die Klippe hinuntergelas sen. Als der Stuhl unterhalb der Klippe mit ihm hin und her schaukelte, wurde sein rechter Daumen zwischen dem hölzer nen Sitz des Stuhls und der Felsenwand eingeklemmt. Er schrie vor Schmerzen auf, und als er den Daumen herauszog, stellte er fest, daß die Haut über dem Knöchel aufgerissen war und das Blut aus der Wunde tropfte. Die Verletzung verursachte ihm zwar Schmerzen, war aber nicht besorgniserregend. Er saugte die Wunde aus, die zunächst noch blutete, aber er hatte keine Zeit, sich weiter darum zu kümmern.
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Er hing jetzt unterhalb der vorstehenden Klippe, und unter ihm öffnete sich der düstere und wenig einladende Abgrund. Ihn interessierten vor allem die in die Felswand eingeritzten Zeichnungen. Er wußte, wonach er sich umschauen mußte, und erkannte die äußeren Umrisse des Falken mit dem gebrochenen Flügel. Der Anblick ermutigte ihn. Seit ihrer Flucht aus der Schlucht vor einem Monat war er oft von der Vorstellung ver folgt worden, er habe sich alles nur eingebildet, das Siegel des Taita sei eine Halluzination gewesen, und bei ihrer Rückkehr würden sie vor einer glatten, unberührten Felswand stehen. Doch nun erkannte er das Wahrzeichen wieder, das seinen er sten Eindruck bestätigte und ihn auf weitere Entdeckungen hoffen ließ. Er schaute hinunter auf den Boden des Beckens und sah, daß aus dem Wasserfall darüber ein dünnes Rinnsal geworden war. Das Wasser lief immer noch die schwarze glatte Felswand hin unter, nachdem es über die Sandbänke und Tümpel im oberen Teil der Schlucht durch die Spalten und Risse im Staudamm gedrungen war. Der Wasserstand im großen Becken war jetzt sehr viel nied riger als vorher. Die ursprüngliche Höhe des Wasserspiegels zeichnete sich auf der Felswand ab. Vierzehn Meter der Fels wand, die vorher unter Wasser gelegen hatten, lagen jetzt frei, und man erkannte acht untereinanderliegende Paare aus der Felswand herausgemeißelter Nischen. Dort, wo er zu diesen Nischen hinuntergetaucht war, waren diese jetzt hoch über dem Boden des Beckens deutlich sichtbar. Doch das Becken war noch nicht völlig leergelaufen. Das Wasser reichte jetzt bis zu einer Linie unterhalb des Abflusses und konnte daher nicht ablaufen. In der Mitte des Beckens lag noch eine von einem schmalen Sims umgebene Lache schwar zen Wassers. Auf diesem Sims landete Nicholas und stieg aus seinem Bootsmannstuhl aus. Es war ein seltsames Gefühl, hier,
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wo er erst kürzlich um sein Leben gekämpft hatte und fast er trunken wäre, jetzt auf einem festen felsigen Untergrund zu stehen. Er schaute hinauf, wo die Sonnenstrahlen den oberen Rand der Steilwand beschienen. Es war, als stünde er am Boden ei nes Grubenschachts in einem Bergwerk, und er schauderte in der feuchtkalten Luft, die er an seinen nackten Armen spürte und die ein unangenehmes Gefühl in ihm auslöste. Er zog an der Signalleine und gab das Zeichen, den Stuhl wieder nach oben zu ziehen. Dann ging er auf dem schlüpfrigen schmalen Saum am Rand der Wasserlache bis an die Stelle an der Fels wand, über der sich die Reihen dunkler Nischen deutlich von dem helleren Gestein abhoben. Jetzt konnte er auch feststellen, welche Form die Öffnung in der Felswand hatte, in deren dunkle, schlüpfrige Tiefe er fast hineingezogen worden wäre. Sie lag fast vollständig unter Wasser an einer tieferen Ecke, wo die Lache bis zur Felswand reichte. Über dem Wasserspiegel sah man nur den nach oben gewölbten Teil der Öffnung unterhalb von zwei nebeneinan derliegenden Reihen Nischen. Der untere Teil der Öffnung lag noch immer im Wasser. Das Felsband, auf dem er sich unterhalb der Steilwand vor wärts tastete, wurde immer schmaler, bis er sich schließlich nur noch seitwärts mit dem Rücken zur Steilwand auf Zehenspitzen im Wasser weiterbewegen konnte. Schließlich kam er nicht mehr weiter, ohne ganz ins Wasser zu steigen. Er hatte keine Ahnung, wie tiefes an dieser Stelle war, denn das Wasser war trübe und schmutzig. Da er es vermeiden wollte, mit den Füßen ins Wasser zu kommen, hockte er sich auf das schmale Felsband und beugte sich so weit vor, wie es die Umstände erlaubten, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen. Er stützte sich mit einer Hand ge gen die Felswand und griff mit der anderen in die unter Wasser
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liegende Öffnung. Der Rand der Oberfläche war glatt. Das hatte er schon fest gestellt, als er bis hierher getaucht und sie entdeckt hatte. Wie der hatte er den Eindruck, daß sie rechteckig und so sauber aus dem Fels herausgeschnitten war, daß sie nur von Menschen gemacht sein konnte. Als er den Ärmel aufrollte, sah er, daß sein Daumen noch blutete. Er beachtete die Verletzung aber nicht, sondern tauchte den Arm tief ins Wasser. Dort versuchte er, die genaue Form der Öffnung zu ertasten. Dabei schien es ihm, als bestünde das Innere der Öffnung aus sauber zusam mengefügten Mauersteinen. Er hatte den Arm jetzt so tief ins Wasser gesteckt, daß es ihm bis zum Bizeps reichte. Plötzlich wirbelte vor ihm im dunklen Wasser irgendein schweres, glattes Lebewesen herum, und er zog seinen Arm mit einem Ruck zurück. Das Tier folgte ihm bis zur Wasser oberfläche, ritzte ihm mit langen, nadelspitzen Zähnen die Haut auf und zeigte einen abstoßend häßlichen Kopf, der dem eines Barrakuda glich. Instinktiv wurde ihm sofort klar, daß es vom Blutgeruch angelockt worden war. Er sprang auf, schwankte unsicher auf dem schmalen Fels grat hin und her und griff sich an den Arm. Nur ein Vorderzahn dieses Ungeheuers hatte ihn verletzt und die Haut auf seinem rechten Handrücken wie mit einem Rasiermesser aufgerissen. Aus dieser neuen Wunde tropfte nun das Blut in das Wasser zu seinen Füßen. Darauf wurde es in der Tiefe des Wassers plötzlich lebendig, und er sah, wie die Schatten dieser Tiere durcheinanderwirbel ten. Mit dem Rücken an die Steilwand gedrückt, schaute Ni cholas entsetzt hinunter. Jetzt konnte er auch ihre Umrisse ei nigermaßen deutlich erkennen. Sie sahen aus wie armdicke schwarze, schleimige Würmer. Eines der Tiere steckte den Kopf aus dem Wasser und riß das Maul auf. Es hatte große, glänzende Augen, eine lange
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Schnauze, und die scharfen Zähne ragten über die dünnen Lip pen hinaus. Der Körper war nicht ganz zwei Meter lang und schlug hin und her wie eine Peitsche, als es sich über den Fels rand reckte, um die nackten Beine von Nicholas zu fassen. Er schrie wütend auf, sprang zurück bis zu einer Stelle, wo das Tier ihn nicht mehr erreichen konnte. Er hielt seine blutende Hand fest und starrte hinunter ins Wasser, wo der gräßliche Kopf des Tiers verschwunden war. Aber die Wasseroberfläche wurde immer noch bewegt von dem Durcheinanderwirbeln der geschmeidigen, schlangenartigen Tiere. »Aale! Riesige tropische Aale.« Natürlich hatte der Blutgeruch sie erregt. Nachdem der größ te Teil des Wassers in dem großen Becken abgeflossen war, waren alle darin lebenden Fische auf engstem Raum in der kleinen Lache zusammengedrängt, und die Aale hatten wahr scheinlich schon alle anderen Fische aufgefressen, von denen sie sich bis dahin ernährt hatten. Wahrscheinlich lebten auch in anderen Tümpeln, die nach dem Ableiten des Flusses übrig geblieben waren, solche Aale. Er war dankbar, daß er das letzte Mal, als er in diesem Becken geschwommen war, nicht geblu tet hatte. Er nahm sein baumwollenes Halstuch und wickelte es um die verletzte Hand. Die Aale waren eine tödliche Bedrohung für jeden, der den Versuch unternehmen wollte, sich die Öff nung in der Felswand genauer anzusehen. Doch Nicholas über legte, wie man diese Tiere loswerden könnte, um an die noch halb unter Wasser gelegene Öffnung heranzukommen. Allmählich beruhigte sich das Gewimmel, und als Nicholas nach oben schaute, sah er, wie Royan abgeseilt wurde. »Was haben Sie gefunden?« rief sie ihm erregt zu. »Gibt es dort einen Tunnel –« Sie unterbrach sich aber sofort, als sie das Blut auf seinen Kleidern und seine verbundene Hand sah. »O lieber Gott, was haben Sie getan? Sie sind verletzt. Ist es
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schlimm?« Der Bootsmannstuhl landete unmittelbar neben ihm, sie sprang heraus und griff vorsichtig nach seiner verbun denen Hand. »Was haben Sie nur angestellt?« »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, beruhigte er sie. »Es hat zwar stark geblutet, ist aber keine tiefe Wunde.« »Wie ist das passiert?« wollte sie wissen. Um es zu demon strieren, riß er ein Stück von dem blutigen Verband ab. »Schauen Sie!« sagte er, knüllte den Fetzen zusammen und warf ihn ins Wasser. Royan schrie entsetzt auf, als das Wasser zu brodeln anfing und sich die Schatten der Aale zeigten. Einer von ihnen schnellte aus dem Wasser heraus auf die Felskante, auf der sie standen, und rutschte dann wieder in den Tümpel hinein. Dabei hinterließ er eine silberfarbene Schleimspur auf den schwarzen Steinen. »Taita hat uns zum Abschied seine Wachhunde zurückgelas sen«, sagte Nicholas. »Wir müssen diese Kerle erst loswerden, bevor wir die Öffnung unterhalb der Wasseroberfläche unter suchen können.« Das Bambusgerüst, das Sapper und Nicholas an der Steil wand gebaut hatten, war in den Nischen verankert, die vor fast viertausend Jahren in den Fels geschlagen worden waren. Taita hatte sein Gerüst wahrscheinlich aus Seilen aus geflochtener Rinde zusammengebunden, aber Sapper hatte dazu starke ver zinkte Drahtseile verwendet, und das Ganze war so stabil, daß es das Gewicht von vielen Menschen tragen konnte. Die Grup pe der Büffel hatte dazu eine lebende Kette gebildet und das Baumaterial sowie die Werkzeuge von Hand zu Hand das Ge rüst hinunter weitergegeben. Das erste Ausrüstungsstück, das am Boden des Beckens an kam, war der tragbare Generator vom Typ Honda-EM-500.
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Sapper verband ihn mit den elektrischen Lampen, die er am unteren Rand der Klippe angebracht hatte. Der kleine Benzin motor lief ruhig und leise, und es war erstaunlich zu sehen, wieviel Energie er erzeugte. Die Scheinwerfer drangen mit ihrem hellen Licht bis in die letzten Winkel des großen Kessels und beleuchteten ihn wie eine Bühne. In diesem Augenblick schlug die Stimmung um. Jeder freute sich und sah sich in seiner Hoffnung auf einen guten Ausgang des Unternehmens bestärkt. Die Männer, die am Gerüst eine Kette bildeten, lachten und schwatzten erregt durcheinander, als Royan an ihnen vorbei zu Sapper und Nicholas hinunter stieg, die am Rande des Tümpels standen. »Nun, da wir wissen, daß es funktioniert, schalten Sie das Licht wieder aus«, befahl Nicholas. »Ohne die Beleuchtung ist es so düster und unheimlich«, protestierte Royan. »Wir müssen Kraftstoff sparen«, erklärte Nicholas. »Hier gibt es weit und breite keine Tankstelle. Wir haben nur noch zweihundert Liter in Reserve. Unser kleiner Honda-Generator kommt zwar mit wenig Kraftstoff aus, wir wissen aber nicht, wie lange wir ihn noch im Tunnel brauchen werden.« Royan mußte sich mit dieser Erklärung zufriedengeben, und als Sapper den Generator ausschaltete, lag der ganze Bergkes sel wieder im Schatten. Sie schaute hinunter in den dunklen Tümpel und verzog das Gesicht. »Wie werden Sie Ihre grausigen Lieblinge dort unten los werden?« wollte sie wissen und warf einen Blick auf die ver bundene rechte Hand von Nicholas. »Sapper und ich haben uns einen Plan zurechtgelegt. Zu nächst dachten wir daran, den Tümpel mit einer Eimerkette ganz ausschöpfen zu lassen, aber da von oben immer wieder Wasser nachfließt, wird das kaum möglich sein.« »Wenn wir Glück haben, könnten wir höchstens erreichen,
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daß der Wasserspiegel nicht weiter steigt, auch wenn wir rund um die Uhr mit Eimern arbeiten«, brummte Sapper. »Wenn der Major doch daran gedacht hätte, eine leistungsfähige Wasser pumpe mitzubringen –« »Auch ich kann nicht an alles denken, Sapper. Wir können aber um den Zufluß unter Wasser einen kleinen Kofferdamm bauen und das sich dahinter sammelnde Wasser mit Eimern ausschöpfen.« Royan trat zur Seite und sah ihnen bei den Vorbereitungen für dieses Unternehmen zu. Ein halbes Dutzend leerer Draht körbe wurden über das Gerüst heruntergebracht und an den Rand des Tümpels gestellt. Nun holten Sappers Männer Kopf steine aus dem Fluß und warfen sie in die Körbe, um ihnen einen gewissen Halt zu geben, allerdings durften die Körbe nicht so weit mit Steinen gefüllt werden, daß man sie nicht mehr tragen konnte. Hier unten stand Sapper kein Frontlader zur Verfügung, und so mußte er sich auf die Muskelkraft seiner Männer verlassen. Der Rest der Kunststoffolie genügte, um diese Körbe einzupacken und wasserdicht zu machen. »Was wird nun aus Ihren Aalen?« Royan war fasziniert von diesen häßlichen und gefräßigen Fischen und vermied es, dem Tümpel zu nahe zu kommen. »Sie können Ihre Männer doch da nicht hineinschicken!« »Passen Sie auf, Sie werden es gleich sehen«, grinste Nicho las. »Ich habe eine kleine Überraschung für Ihre Lieblinge.« Nachdem alle Vorbereitungen für den Bau des Damms ge troffen waren, schickte Nicholas Royan, Sapper und alle Män ner fort und ließ sie über das Gerüst die Felswand hinaufklet tern. Er blieb allein am Rande des Tümpels mit einem Sack Handgranaten über der Schulter stehen, die Mek Nimmur ihm gegeben hatte. Nun nahm er eine Handgranate in jede Hand und wartete noch einen Augenblick. »Sieben Sekunden Verzögerung«, er
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innerte er sich. »Quenton-Harper Trockenfliegen. Besser als der Royal Coachman!« Er zog die Sicherungsstifte aus den Granaten und warf sie dann in hohem Bogen in die Mitte des Tümpels. Dann lief er schnell an die am weitesten entfernte Ecke der Höhle, kniete sich mit dem Gesicht zur Felswand hin und legte sich beide Hände über die Ohren. Mit geschlossenen Augen wartete er auf die Detonation. Der Felsboden unter ihm bebte, und die Schockwellen der beiden Explosionen erfaßten ihn mit solcher Gewalt, daß er nach Atem rang. Im engen Raum der Schlucht hallte das donnernde Echo mit unglaublicher Stärke von allen Wänden wider, aber er hatte die Ohren geschützt, und das tiefe Wasser des Tümpels absor bierte einen großen Teil des Explosionsdrucks. Zwei Wasser fontänen schossen hoch in die Luft und gegen die Klippe, unter der er stand, so daß er nun von dem Wasserschwall übergossen und bis auf die Haut durchnäßt wurde. Als das Echo verstummt war, stand er auf. Sein Gehör hatte nicht gelitten, und außer der kalten Dusche war ihm auch sonst nichts geschehen. Am Rand des Tümpels wimmelte es von großen Aalen, die sich herumwälzten und ihre weißen Bäuche zeigten. Viele von ihnen waren tot. Die Gewalt der Detonatio nen hatte ihnen die Bauchhaut aufgerissen, und nun schwam men sie leblos an der Wasseroberfläche, doch andere waren nur betäubt. Da Nicholas wußte, wie zählebig Aale sind, nahm er an, daß sie sich bald erholen würden. Zunächst stellten sie je doch keine Gefahr mehr dar. Er rief Sapper, der am oberen Rand des Steilhanges stand, zu: »Alles klar. Schicken Sie Ihre Leute herunter.« Die Männer kamen über das Gerüst nach unten und staunten, als sie sahen, was für ein Blutbad die Handgranaten angerichtet hatten. Sie fingen sofort an, die toten Aale aus dem Wasser zu fischen.
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»Werden Sie sie essen?« fragte Nicholas einen der Mönche. »Sehr gut!« erwiderte der Mönch und rieb sich den Bauch. »Genug, ihr gefräßigen Lumpenhunde«, brummte Sapper und trieb sie wieder an die Arbeit. »Holt diese Drahtkörbe, bevor sie aufwachen und anfangen, euch zu fressen.« Mit einem Bambusstab lotete Nicholas die Tiefe des Wassers bis zu der Öffnung des Schachts aus und stellte fest, daß es fast zwei Meter waren. So waren sie gezwungen, die Drahtkörbe in das Wasser hineinzurollen und sie erst an Ort und Stelle mit Steinen zu füllen. Das war eine schwierige und anstrengende Arbeit und nahm fast den ganzen Tag in Anspruch. Aber schließlich war eine halbmondförmige Schutzwehr um den Stolleneingang entstanden, die ihn von dem übrigen Wasser im Tümpel trennte. Mit ledernen Eimern und Kochtöpfen aus gebranntem Ton begannen die Büffel-Leute, das Wasser aus dem abgeteilten Teil des Tümpels auszuschöpfen und in den großen Tümpel zu gießen. Nicholas und Royan beobachteten mit einiger Sorge, wie der Wasserspiegel in dem abgegrenzten Teil des Tümpels sank und allmählich die Öffnung in der Felswand sichtbar wurde. Sehr bald konnten sie sehen, daß sie fast rechtwinklig war, etwa drei Meter breit und zwei Meter hoch. Die Seiten und das Dach waren von dem fließenden Wasser ausgewaschen und erodiert, aber als der Wasserspiegel sank, konnten sie die Reste von zugehauenen Steinblöcken erkennen, mit denen die Öff nung wahrscheinlich einmal verschlossen worden war. Vier Schichten dieser Steine standen noch dort, wo die alten Maurer sie auf die Schwelle der Öffnung gestellt hatten, die anderen waren jedoch im Lauf der Jahrtausende durch das Hochwasser herausgerissen und in den Tunnel dahinter geschwemmt wor den, den sie nun zum Teil blockierten. Nicholas konnte seine Ungeduld nicht länger beherrschen
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und kletterte hinein, obwohl dieses kleinere Becken noch bis in Kniehöhe mit Wasser gefüllt war. Durch das Wasser ging er bis an die Öffnung und versuchte, einige Steintrümmer mit bloßen Händen beiseite zu räumen. »Es ist tatsächlich eine Art Schacht«, rief er zurück, und auch Royan konnte ihre Neugier nicht bezähmen, sprang zu ihm hinunter, kam über die glatten, ausgewaschenen Steine rutschend zu ihm an die Öffnung und faßte hinein. »Die Öffnung ist irgendwie versperrt«, sagte sie enttäuscht. »Hat Taita das absichtlich getan?« »Vielleicht«, erwiderte Nicholas. »Das läßt sich schwer sa gen. Diese Gesteinstrümmer sind zum großen Teil von der Strömung angeschwemmt worden und hier liegengeblieben, aber vielleicht hat er den Tunnel hinter sich verschlossen, als er ihn verließ.« »Es wird viel Arbeit kosten, den Zugang so weit freizuma chen, daß wir feststellen können, wohin der Tunnel führt.« Royans Erregung hatte sich gelegt. »Ich fürchte, Sie haben recht«, sagte Nicholas. »Dieser gan ze Gesteinsschutt wird mit der Hand ausgeräumt werden müs sen, und wir werden nicht die Zeit haben, die man für eine wis senschaftlich archäologische Ausgrabung braucht. Wir werden dieses Zeug ganz einfach hinauswerfen.« Er kletterte aus dem kleinen Becken heraus, reichte Royan die Hand und half ihr, über den Schutzwall zu steigen. »Nun, wenigstens haben wir die Scheinwerfer«, sagte er. »Wir können die Männer Tag und Nacht schichtweise arbeiten lassen, bis wir durchgekommen sind.« »Sie haben im Dandera-Fluß einen Staudamm gebaut«, sagte Nahoot Guddabi. Gotthold von Schiller sah ihn verwundert an. »Einen Staudamm? Sind Sie sicher?«
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»Ja, Herr von Schiller. Das berichtet unser Gewährsmann in Harpers Camp. Mehr als dreihundert Mann arbeiten für ihn in der Schlucht. Und das ist nicht alles. Er hat große Mengen Ausrüstungsgegenstände und Werkzeuge abwerfen lassen. Es sieht aus wie ein militärisches Unternehmen. Der Mann sagt, dort stünde ihm auch ein für Erdarbeiten geeignetes Fahrzeug, eine Art Traktor, zur Verfügung.« Schiller sah Jake Helm fragend an, und Helm nickte »Ja, Herr von Schiller, das stimmt. Harper muß sehr viel Geld dafür ausgegeben haben. Schon das Chartern des Flugzeugs muß etwa fünfzigtausend Dollar gekostet haben.« Seit dem Empfang des dringenden Funkspruchs, der ihm über Satellit übermittelt worden war, hatte Schiller keine Nach richt erhalten, die ihn mehr erregt hätte. Damals war er sofort nach Adis Abeba geflogen, wo der Jet Tanger auf ihn gewartet und ihn zum Pegasus-Camp auf der Böschung oberhalb der Abbay-Schlucht gebracht hatte. Wenn das stimmte, und er war überzeugt, daß Helm recht hatte, dann bereitete Harper ein ungeheuer wichtiges Unter nehmen vor. Er schaute aus dem Fenster der Nissenhütte hin aus auf den Dandera-Fluß, wo dieser unterhalb des Basislagers das Tal hinunterfloß. Es war ein breiter Fluß, der so viel Was ser führte, daß der Bau eines Staudamms in dieser abgelegenen Gegend ein kostspieliges und schwieriges Unternehmen war, auf das sich niemand einlassen würde, wenn es sich nicht wirk lich lohnte. Im stillen bewunderte er die Tatkraft des Engländers. »Zei gen Sie mir, wo er seinen Damm angelegt hat!« sagte er. Helm kam um den Tisch herum und stellte sich neben ihn. Schiller stand auf seinem Podest, und beide beugten sich über das vor ihnen liegende Satellitenfoto. Helm markierte die Stelle, wo der Damm gebaut worden war, und sie sahen sich die Situation auf dem Foto sehr genau
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an. Dann fragte Schiller: »Was halten sie davon, Helm?« Helm schüttelte den Kopf, hob die mächtigen Schultern und erwiderte: »Hier bin ich nur auf Vermutungen angewiesen.« »Dann vermuten Sie«, sagte Schiller, aber Helm zögerte noch. »Sprechen Sie!« »Entweder will er das Wasser an eine andere stromabwärts gelegene Stelle ableiten, um dort irgendeine Ablagerung aus zuwaschen, vielleicht ist es ein Goldvorkommen oder es sind irgendwelche Artefakte aus Edelmetall. Er könnte aber auch die über der Grabkammer liegende Bodenschicht fortspülen wollen –« »Sehr unwahrscheinlich!« unterbrach ihn Schiller. »Das wä re eine wenig wirksame und kostspielige Methode, einen an einer solchen Stelle vermuteten Schatz freizulegen.« »Auch ich glaube nicht an eine solche Möglichkeit«, sagte Nahoot, der gehorsam dem Gedankengang von Schiller folgte, aber niemand beachtete ihn. »Und was ist Ihre nächste Vermutung?« fragte Schiller und sah Helm durchdringend an. »Der einzige andere Grund für den Bau eines Staudamms, den ich mir vorstellen könnte, wäre es, daß etwas erreicht wer den soll, was bisher unter Wasser gelegen hat, und zwar im Flußbett.« »Das ist logischer«, räumte Schiller ein und blickte wieder auf das Satellitenfoto. »Was liegt unterhalb des Staudamms?« »Hier fließt der Fluß in eine tiefe und enge Schlucht.« Helm deutete auf die Stelle. »Sie beginnt unterhalb des Dammes. Die Schlucht verläuft über eine Strecke von etwa dreizehn Kilometern bis hierher, unmittelbar oberhalb des Klosters. Ich habe mir das vom Hubschrauber aus angesehen und hatte den Eindruck, daß es nicht möglich ist, sie zu überqueren, und doch
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–« Er unterbrach sich. »Ja, und weiter! Und doch – was?« »Bei einem Flug über diesem Gebiet sahen wir Harper und die Frau an dieser Stelle über der Schlucht.« Er legte den Fin ger auf das Foto, und Schiller beugte sich vor, um sich zu ver gewissern, wo das war. »Was taten sie dort?« fragte er, ohne aufzublicken. »Nichts. Sie saßen nur am Rand der Klippe über der Schlucht.« »Aber sie haben den Hubschrauber doch sicher bemerkt?« »Natürlich. Wir saßen im Hubschrauber, und sie hörten uns kommen. Sie sahen zu uns herauf, und Harper winkte uns sogar zu.« »Vermutlich haben sie sich die Gegend näher ansehen wol len, sind aber, als sich der Hubschrauber näherte, an dieser Stelle sitzen geblieben, um nicht zu zeigen, was sie vorhatten.« Schiller schwieg so lange, daß sich seine Zuhörer verwun dert fragten, was er hatte sagen wollen, und Nahoot schreckte auf, als er schließlich wieder das Wort ergriff. »Harper hat offenbar Grund zu glauben – daß die Grabkam mer unterhalb des Dammes liegt. Wann und wie werden Sie sich wieder mit Ihrem Gewährsmann in Harpers Camp in Ver bindung setzen?« »Harper bekommt seinen Proviant zum Teil aus den um liegenden Dörfern. Die Frauen treiben ihm das Schlachtvieh als Verpflegung für seine Männer zu und tragen dabei die mit Tej gefüllten Tonkrüge auf den Köpfen. Wenn sie zurückkommen, bringen sie uns die Berichte unseres Gewährsmanns mit.« »Sehr gut. Sehr gut!« Schiller unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Seine Lebensgeschichte interessiert mich nicht. Ich will nur wissen, ob Harper in der Schlucht unterhalb seines Dammes arbeitet. Wann können Sie mir etwas darüber sagen?«
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»Spätestens übermorgen«, antwortete Helm. Nun wandte sich Schiller an den am Ende des Konferenzti sches sitzenden Oberst Nogo. Bisher hatte dieser sich nicht an dem Gespräch beteiligt, sondern nur aufmerksam zugehört. »Wie viele Männer haben Sie in diesem Gebiet stationiert?« fragte Schiller. »Drei kriegsstarke Kompanien. Das sind mehr als dreihun dert Mann. Es sind gut ausgebildete, kampferprobte Soldaten.« »Wo befinden sie sich jetzt? Zeigen Sie es mir auf der Kar te.« Der Oberst stellte sich neben ihn. »Eine Kompanie hier, eine zweite ist im Dorf Debra Maryam einquartiert, und die dritte Kompanie liegt unterhalb des Steilhangs zum Angriff auf Har pers Camp bereit.« »Ich denke, Sie sollten sie jetzt angreifen und sie unschäd lich machen, bevor Harper die Grabkammer gefunden hat –«, sagte Nahoot. »Halten Sie den Mund«, fuhr ihn Schiller an, ohne ihn anzu sehen. »Ich werde sie erst nach Ihrer Meinung fragen, wenn ich es für notwendig halte.« Er sah sich die Landkarte etwas länger an und fragte dann Nogo: »Wie viele Männer befehligt dieser Guerillaführer, wie ist doch sein Name, der Mann, der sich mit Harper verbündet hat?« »Mek Nimmur ist kein Guerilla. Er ist ein Bandit, ein notori scher Terrorist«, widersprach ihm Nogo zornig. »Wen der eine für einen Freiheitskämpfer hält, der kann für den anderen ein Terrorist sein«, erwiderte Schiller trocken. »Wie viele Männer stehen unter seinem Kommando?« »Nicht viele. Weniger als hundert. Vielleicht nicht mehr als fünfzig. Sie haben den Auftrag, Harpers Camp und den Damm zu beschützen.« Schiller nickte und zupfte sich am Ohrläppchen. »Wie sind
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Harper und seine Leute nach Äthiopien zurückgekommen?« fragte er. »Ich weiß, er ist von Malta hierhergeflogen, aber das Flugzeug hat nicht hier in der Schlucht landen können.« Er sprang von seinem Podest und ging ans Fenster, von dem aus er einen Rundblick über das ganze Gelände hatte. Er schau te hinunter in die Tiefen der Schlucht und auf die in blauer Ferne liegenden Bergspitzen und Hochebenen. »Wie konnten sie bis hierher kommen, ohne daß die Regie rungsbehörden etwas davon merkten? Sind sie mit Fallschir men abgesprungen? Sie haben doch auch das Material mit Fall schirmen abgeworfen.« »Nein«, sagte Nogo. »Mein Gewährsmann hat mir gesagt, daß er einige Tage, bevor das Material abgeworfen wurde, mit Mek Nimmur hier hermarschiert ist.« »Und wo ist er abmarschiert?« fragte Schiller. »Wo liegt der nächste Flughafen, auf dem ein so großes Flugzeug landen kann?« »Wenn er mit Mek Nimmur gekommen ist, dann höchst wahrscheinlich aus dem Sudan. Dort liegt Nimmurs Operati onsbasis. In der Nähe der Grenze gibt es einige Feldflughäfen, die heute nicht mehr benutzt werden.« Nogo zuckte die Schul tern. »Im Krieg sind die Armeen ständig unterwegs, und wir befinden uns hier schon seit zwanzig Jahren im Krieg.« »Also aus dem Sudan?« Schiller sah sich auf der Karte den Verlauf der Grenze an. »So müssen sie am Fluß entlangmar schiert sein.« »Höchstwahrscheinlich«, stimmte Nogo ihm zu. »Dann ist es ebenso wahrscheinlich, daß Harper vorhat, auf seiner Flucht den gleichen Weg zu benutzen. Ich möchte, daß Sie die Männer der in Debra Maryam stationierten Kompanie hier und hier an beiden Ufern des Flusses unterhalb des Klo sters bereitstellen. Sie müssen in der Lage sein, Harper am Er reichen der sudanesischen Grenze zu hindern, falls er versu
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chen sollte, uns zu entkommen.« »Ja. Sehr gut! Ich verstehe. Das ist eine gute Taktik«, sagte Nogo und grinste hämisch hinter seinen dicken Brillengläsern. »Ihre übrigen Männer stellen Sie unterhalb der Böschung be reit. Sagen Sie ihnen, sie sollten jedes Zusammentreffen mit den Leuten von Mek Nimmur vermeiden, müßten aber jeder zeit bereit sein, auf meinen Befehl hin das Gelände beiderseits des Dammes in Besitz zu nehmen und den Zugang zu der Schlucht unterhalb des Dammes zu sperren.« »Wann wird das sein?« fragte Nogo. »Wir werden ihn auch weiterhin genau beobachten. Wenn er etwas entdeckt, wird er anfangen, diese Gegenstände herauszu bringen. Viele von ihnen werden zu groß sein, um das unbe merkt zu tun. Ihr Gewährsmann wird es erfahren. Dann werden wir gegen ihn vorgehen.« »Sie sollten das schon jetzt tun, Herr von Schiller, bevor er in die Grabkammer eindringen kann«, schlug Nahoot vor. »Seien Sie kein Idiot«, knurrte Schiller ihn an. »Wenn wir zu früh etwas unternehmen, dann wird er unter Umständen nie feststellen können, ob das, was er offenbar über die Lage der Grabkammer erfahren hat, auch zutrifft.« »Wir könnten ihn zwingen –« »Wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann ist es die Tatsache, daß man einen Mann wie Harper zu nichts zwin gen kann. Unter den Engländern gibt es Leute – im letzten Krieg habe ich einige von ihnen kennengelernt –« Er unterbrach sich und runzelte die Stirn. »Nein. Es ist nicht einfach, mit ihnen fer tigzuwerden. Jetzt dürfen wir nichts übereilen. Erst wenn Harper wirklich etwas entdeckt hat, werden wir zupacken.« Sein Ge sicht glättete sich, und er lächelte hinterhältig. »Wir müssen Ge duld haben. Wir müssen warten, bis es soweit ist.«
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Die Gesteinstrümmer, die den Zugang zum Schacht blockier ten, lagen nur lose aufeinander und konnten den Zufluß des Wassers in den Schacht nicht aufhalten. Wenn sich das Wasser hier gestaut hätte, dann wäre Nicholas, als er das erste Mal in das Becken tauchte, nicht von der Strömung erfaßt worden. Es gab immer noch Lücken, wo sich größere Gesteinsbrocken verklemmt hatten oder ein Baumstamm hineingeschwemmt worden war, der nun quer vor der Tunnelöffnung lag. Hier hat te die Strömung ihren Weg gefunden und hielt die Durchgänge offen. Die Gesteinsbrocken hatten sich aber im Lauf der Jahrhun derte so fest zusammengeschoben, daß es ungeheure Mühe kosten würde, dieses Hindernis fortzuräumen. In diesem engen Raum konnten zudem nur jeweils drei oder vier starke Männer arbeiten, während die anderen draußenbleiben und das Geröll fortschaffen mußten. Die Männer arbeiteten schichtweise und lösten einander stündlich ab. So hatten diejenigen, die in der Tiefe des Tunnels arbeiteten, immer wieder Zeit, sich auszuruhen, und freuten sich auf die Prämie in Silbertalern, die Nicholas ihnen verspro chen hatte. Bei jedem Schichtwechsel verschwand er im Tun nel, um mit Sappers Maßband festzustellen, wie weit sie ge kommen waren. »Einhundertzwanzig Fuß! Eine gute Leistung der Büffel«, sagte er ihrem Vorarbeiter, dem Mönch Hansith Sherif. Dann beobachtete er, wie das Wasser am Boden in einem dünnen Rinnsal weiterfloß, denn der Tunnel verlief bis hierher immer im gleichen Winkel in die Tiefe. Wenn er im Licht der Scheinwerfer zurückblickte, erkannte er deutlich, daß die Wände des Tunnels im rechten Winkel zueinander ausge schachtet worden waren. Also mußte der Tunnel von einem erfahrenen Techniker entworfen und angelegt worden sein. Am Gefälle des Tunnelbodens, über den das Wasser abfloß,
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versuchte er zu schätzen, wie weit sie sich an dieser Stelle schon unterhalb des Wasserspiegels des Flusses befanden. »Achtzig oder neunzig Fuß«, schätzte er. »Kein Wunder, daß mich der Wasserdruck am Eingang des Tunnels fast zerdrückt hätte –« Er unterbrach sich, als ihm eine ungewöhnlich geform te Tonscherbe im Schlamm zu seinen Füßen ins Auge fiel. Er blieb stehen und hob sie auf. Dann hielt er sie ins Licht eines der Scheinwerfer und sah sie sich genau an. Als er sie ober flächlich vom Schlamm gereinigt hatte, mußte er lachen. Er lief ein Stück den Tunnel hinauf und rief laut, »Royan!« Er reichte ihr die Scherbe und fragte: »Was halten Sie davon?« Sie saß auf der Begrenzungsmauer und nahm ihm die Scher be aus der Hand. »O heilige Mutter Gottes! Wo haben Sie das gefunden, Nik ky?« »Im Schlamm dort unten im Stollen, wo es in den vergange nen viertausend Jahren gelegen hat. Wahrscheinlich hat einer von Taitas Arbeitern hinter dem Rücken seines Sklaventreibers versucht, einen Krug Wein durchzuschmuggeln, und hat ihn fallen lassen, und dabei ist er zerbrochen.« Royan hielt die Scherbe ins Licht und rief begeistert: »Sie haben recht, Nicky. Es ist Teil eines Weinkrugs. Sehen Sie sich den geschwungenen Hals und die abgerundete Öffnung an. Aber wenn es noch irgendeinen Zweifel gäbe, was nicht der Fall ist, dann läßt sich dieses Stück sehr genau an den schwar zen Brandspuren am oberen Rand datieren, und zwar auf die Zeit um 2000 v. Chr., also die Zeit, in der Taita gelebt hat.« Mit der Tonscherbe in der Hand sprang sie herunter in den Schlamm und umarmte Nicholas. »Ein weiterer Beweis, Nicky. Wir sind Taita auf der Spur. Wir sitzen dem alten Schurken schon fast im Nacken.« Nach etwa einer halben Stunde hörte man einen lauten Schrei aus dem Inneren des Tunnels. Nicholas lief hinunter und
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fragte den Mönch, der die Arbeiten leitete, auf Arabisch: »Was ist los, Hansith? Was bedeutet dieses Geschrei?« »Wir haben den Durchbruch geschafft, Effendi«, grinste Hansith Sherif ihn an und zeigte ihm die weißen Zähne in sei nem schwarzen, mit Schlamm beschmierten Gesicht. Nicholas drängte sich an die Stelle, wo die Arbeiter einen großen runden Stein zur Seite geräumt hatten. Dahinter lag eine Öffnung. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein, konnte aber außer einem tiefen, schwarzen Loch nichts erkennen. Er trat zurück, klopfte dem Mönch auf den Rücken und sag te: »Gute Arbeit, Hansith. Ein Silbertaler als Prämie für jeden Mann im Team. Aber hört jetzt nicht auf zu arbeiten, sondern schafft diesen Schutt aus dem Tunnel.« Das ließ sich aber nicht so schnell bewerkstelligen. Zwei ganze Schichten hatten noch damit zu tun, den Tunnel freizumachen und die Gesteinstrüm mer beiseite zu schaffen. Erst dann konnten sich Nicholas und Royan am Ende des Tunnels auf die Schwelle der Höhle stel len. »Was ist hier geschehen? Und aus welchem Grund?« fragte Royan verwundert, als Nicholas in die Öffnung hineinleuchtete. »Ich nehme an, hier ist ein Teil des Gesteins herausgebro chen. Wahrscheinlich liegt das daran, daß eine Gesteinsschicht, die hier vorbeiläuft, aus brüchigerem Material besteht.« Er be leuchtete die Risse in der Decke der Höhle. »Sie glauben also, das durch den Schacht strömende Wasser habe die Gesteinsbrocken herausgewaschen?« fragte sie. »Ja, das würde ich sagen.« Nicholas richtete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe jetzt nach unten. »Auch der Boden des Schachts ist eingestürzt.« Der Felsboden vor ihnen war eingebrochen, und an dieser Stelle hatte sich ein tiefes Loch gebildet, das mit Wasser gefüllt war und einen kreisrunden Tümpel bildete, umrahmt von stei len Felswänden. Auch an der Decke über dem Loch war das
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Gestein zum Teil herausgebrochen, so daß sich jetzt ein hohes Gewölbe mit einer unregelmäßigen Innenfläche gebildet hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tümpels verlor sich der Schacht nach etwas dreißig Metern im Dunkeln. Offenbar gab es keine andere Möglichkeit, als durch das Wasser auf die andere Seite zu kommen. Nicholas rief nach Hansith und bat ihn, ihm eine der langen Bambusstangen zu bringen, die sie für den Bau des Gerüsts an der Steilwand ver wendet hatten. Die Bambusstange war zehn Meter lang und mußte der Länge nach durch den Tunnel getragen werden. Ni cholas steckte die Stange so weit in den Tümpel, wie sie reichte. »Ich komme damit nicht auf den Grund.« Er schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was ich glaube?« Er zog die Stange heraus und gab sie Hansith. »Sagen Sie es mir«, forderte Royan ihn auf. »Ich glaube, wir haben es hier mit einer natürlichen Kluft zu tun, durch die das Wasser auf die andere Seite des Bergstocks gelangt und dort die Schmetterlingsquelle bildet. Der Fluß hat einen eigenen unterirdischen Weg gefunden.« »Und warum ist das Wasser dann hier nicht abgeflossen?« Royan sah sich kopfschüttelnd das Wasserloch an. »Wahrscheinlich beschreibt der Schacht, in dem es abfließt, einen Bogen. So hält sich das Wasser hier in gleicher Höhe wie im Abfluß einer Toilette.« Er leuchtete mit der Taschenlampe in das Wasser hinein, und Royan schrie entsetzt auf, als einer der riesigen Aale, vom Licht angelockt, an die Oberfläche kam. »Diese ekelhaften Biester!« Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Im ganzen Fluß muß es von ihnen wimmeln.« Der lange, dunkle Aal drehte sich ein paarmal im Kreis und verschwand dann ebensoschnell, wie er aufgetaucht war, in der dunklen Tiefe. »Wenn Sie recht haben und ein Teil von Taitas Stollen ein
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gestürzt ist, dann muß sein Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite weitergehen.« Sie zeigte auf die Öffnung jenseits des Wasserlochs. Nicholas beleuchtete sie mit der Taschenlampe. »Sehen Sie, Nicky!« rief sie. »Da ist es.« Die dunkle recht winklige Öffnung lud sie ein, auch den weiteren Verlauf des Tunnels dahinter zu erforschen. »Wie kommen wir dort hinüber?« fragte Royan ungeduldig. »Zum Teufel, das wird nicht so leicht sein«, fluchte Nicho las. »Es wird uns noch zwei Tage kosten, und das können wir uns eigentlich gar nicht mehr leisten. Wir werden eine Brücke bauen müssen.« »Was für eine Brücke?« »Dafür ist Sapper zuständig.« Sapper stand am Rand des Wasserlochs und schaute hinüber. »Eine Pontonbrücke«, brummte er. »Wie viele von Ihren aufblasbaren Schlauchbooten haben Sie noch zur Verfügung?« »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Sapper!« sagte Nicho las. »Sie werden Ihre großen dreckigen Fäuste nicht auf meine wertvollen Schlauchboote legen.« »Wie Sie wollen.« Sapper hob resigniert die Hände. »So könnte man es am schnellsten und am leichtesten bewerkstelli gen. Man müßte ein Floß in der Mitte verankern und einen Steg darüber legen. Ich brauche etwas, das gut schwimmt –« »Das Holz vom Affenbrotbaum.« Nicholas schnalzte mit den Fingern. »Das würde sich hervorragend eignen. Trockenes Holz vom Affenbrotbaum ist ebensoleicht wie Balsaholz, und es schwimmt ebensogut wie meine aufblasbaren Schlauchboo te.« »An den Berghängen hier wachsen jede Menge Affenbrot bäume«, sagte Sapper. »Jeder zweite Baum in diesem Tal scheint ein verdammter Affenbrotbaum zu sein.«
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Dreihundert Meter vom höchsten Punkt der Klippe entfernt stand am Hang ein riesiger Affenbrotbaum. Seine glatte Rinde glich der Haut eines der großen Reptilien, die die Erde im Zeit alter der Dinosaurier bevölkert hatten. Der Stamm war so dick, daß zwanzig Männer mit ausgestreckten Armen ihn nicht hät ten umfassen können. Die oberen Äste waren unbelaubt und trocken, und es sah aus, als seien sie schon vor hundert Jahren abgestorben. Nur die schweren samtigen Schoten zeigten, daß der Baum noch am Leben war. Sie hingen dicht nebeneinander an den oberen Zweigen, und wenn sie aufplatzten, zeigten sich die schwarzen, mit Weinstein überzogenen Samenkörner. »Die Zulus sagen, Nkulu Kulu, der Große Geist, habe den Affenbrotbaum verkehrt herum mit den Wurzeln nach oben in die Erde gepflanzt, um ihn zu bestrafen«, sagte Nicholas, als er und Royan den Riesenbaum bewunderten. »Warum hätte er das tun sollen?« wollte sie wissen. »Was hatte der arme alte Affenbrotbaum denn so Schlimmes getan?« »Er prahlte damit, daß er der höchste und dickste Baum im Walde sei, und deshalb beschloß Nkulu Kulu, ihm die notwen dige Demut beizubringen.« Einer der riesigen Äste war unter seinem eigenen Gewicht abgebrochen und lag nun auf dem felsigen Boden neben dem Stamm. Das Holz war weiß, faserig und so leicht wie Kork. Nicholas ließ den Ast von den Holzfällern in handliche Stücke zerlegen. Dann ließ er sie in den Schacht zur Senkgrube brin gen. Sapper fügte sie zu einem Floß zusammen, das er auf bei den Seiten an der Felswand verankerte. Darüber legte er einen Steg aus Bambuspfählen. Die Brücke aus dem Holz des Affen brotbaums trug, obwohl sie heftig schwankte, ohne weiteres das Gewicht von zwölf Männern. Nicholas ging als erster hinüber. Er stellte eine behelfsmäßi ge Leiter an die hohe senkrechte Wand und stieg hinaus zur Öffnung des Stollens auf der anderen Seite des Wasserlochs.
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Royan folgte ihm. Nun standen sie beide an der Schwelle des weiterführenden Schachts, und als Nicholas die Wände mit seiner Taschenlam pe anleuchtete, stellten sie fest, daß diese hier ganz anders aus sahen. Sie waren nicht vom Wasser ausgewaschen, denn das Wasser war offenbar schon vorher durch die Senkgrube abge laufen. Die Ausmaße waren die gleichen, drei Meter breit und zwei Meter hoch, aber sie lagen genau im rechten Winkel zu einander, und obwohl Wände und Decke wie in einem Berg werk eine rauhe Oberfläche hatten, zeigten sich sehr deutlich die Spuren der Werkzeuge, mit denen sie ausgemeißelt worden waren. Der Boden des Tunnels war mit grob bearbeiteten Steinplatten ausgelegt. Der Tunnel war in seiner ganzen Länge ebenfalls über schwemmt gewesen, denn er lag unterhalb der Ebene, in der der Fluß verlaufen war, bevor er durch den Damm aufgestaut worden war. Das Pflaster unter ihren Füßen war naß und mit Schlamm bedeckt, der noch nicht hatte trocknen können, seit das Wasser zurückgegangen war. Auch die Decke und die Wände des Tunnels waren naß, und die Luft war feucht, kalt und roch nach Schlamm und Moder. Sie warteten, bis Sapper die elektrischen Leitungen für die Lampen im Tunnel gelegt hatte. Nachdem die Lampen einge schaltet waren, stellten sie fest, daß der Schacht vor ihnen in einem Winkel von etwa zwanzig Grad anzusteigen begann. »Sie können sehen, was der alte Teufel Taita hier vorhatte. Er hat uns an eine Stelle weit unterhalb des Wasserstandes ge führt, um den Tunnel in einer solchen Länge und Tiefe überflu ten zu können, daß es unmöglich sein würde, diese Strecke schwimmend zu bewältigen. Von hier aus hat er den Tunnel wieder ansteigen lassen«, erklärte Nicholas. Nun gingen sie langsam in dem nach oben führenden Schacht weiter, und Ni cholas zählte laut jeden seiner Schritte.
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»Einhundertundacht, einhundertundneun, einhundertundzehn –«. Nun kamen sie in die Höhe des gegenwärtigen niedrigen Wasserstands. Er wurde deutlich markiert durch die Linie, über der die Wände des Tunnels trocken waren. Auch der Fels unter ihren Füßen war trocken und nicht mehr mit Schlamm bedeckt. Nach weiteren fünfzig Schritten erreichten sie das Niveau des Hochwassers. Dahinter war der Tunnel noch nie über schwemmt gewesen, und die Wände befanden sich in dem Zu stand, in dem die ägyptischen Sklavenarbeiter sie vor viertau send Jahren zurückgelassen hatten. Die Spuren, die ihre Bron zemeißel hinterlassen hatten, waren so frisch, als seien sie erst wenige Tage alt. Nur zehn Fuß hinter dem höchsten Punkt, den das Flußwas ser jemals erreicht hatte, kamen sie an eine Stufe, von der aus der Tunnel in einem Bogen wieder in die Richtung zurücklief, aus der sie gekommen waren. »Lassen sie uns einen Augenblick stehenbleiben und überle gen, wie er dieses technische Meisterwerk zustandegebracht hat.« Nicholas nahm Royan beim Arm und wies hinunter in den Schacht. »Taita hat diese Stufe, auf der wir stehen, genau oberhalb der Hochwassermarkierung des Flusses angelegt. Wie hat er diese Stelle so genau finden können? Er hatte keine Te leskopgeräte und auch sonst nur die primitivsten Meßinstru mente. Und doch hat er alles präzise berechnet. Das ist eine großartige Leistung.« »Nun, in seinen Schriftrollen behauptet er immer wieder, ein Genie zu sein. Ich denke, wir müssen es ihm jetzt glauben.« Sie zog ihn weiter. »Gehen wir. Ich muß sehen, was hinter dieser Kurve liegt«, drängte sie ihn. Nebeneinander folgten sie dem Schacht, der in weitem Bo gen von einhundertachtzig Grad zurückführte. Nicholas hielt die Handlampe in die Höhe und zog dabei den Leitungsdraht hinter sich her durch den Schacht. Plötzlich ergriff Royan die
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freie Hand von Nicholas, und beide blieben überrascht stehen. Taita hatte diesen Schacht so angelegt, daß jeder, der ihm folgte, an dieser Stelle von einem unerwarteten Anblick beein druckt werden mußte. Der untere Teil des Schachts, den sie hinter sich gelassen hatten, hatte unebene Wände, und die Dek ke war rauh und von Rissen durchzogen. Taita hatte den jewei ligen Wasserstand so genau berechnet, daß er gewußt hatte, daß er auf den tiefer gelegenen Strecken überflutet und vom Wasser ausgewaschen werden würde. Deshalb hatte er keinen Wert daraufgelegt, etwas für seine Verschönerung zu tun. Jetzt lag eine breite Treppe vor ihnen, die in einem Bogen anstieg, so daß sie von der Rampe, auf der sie standen, nicht erkennen konnten, wohin sie führte. Jede Stufe war so breit wie der Tunnel und nur etwa zehn Zentimeter hoch. Es waren Plat ten aus gesprenkeltem, glattem Gneis und so präzise zusam mengefügt, daß man die Fugen kaum erkennen konnte. Die Decke des Tunnels war dreimal so hoch wie die im unteren Teil des Schachts, mit einer glatten, sauber ausgearbeiteten Wölbung. Die Wände und die gewölbte Decke bestanden aus präzisen und symmetrisch zusammengefügten, blauen Granit blöcken. Das Ganze war ein Meisterstück der Baukunst und wirkte majestätisch und beeindruckend. Dieser Vorraum zum Unbekannten wirkte zugleich vielversprechend und bedrohlich. Seine Einfachheit und der Verzicht auf jedes Ornament erhöh ten diesen Eindruck. Royan faßte Nicholas bei der Hand, und sie stiegen beide auf die erste Stufe der Treppe, auf der eine dünne Staubschicht lag, weich und weiß wie Talkumpuder. Der Staub wirbelte bis zu ihren Knien auf, setzte sich aber wieder, als sie weiter nach oben gingen. Er dämpfte das grelle Licht der elektrischen Lampe, die Nicholas mit der rechten Hand in die Höhe hielt. Während sie langsam weiter nach oben gingen, öffnete sich vor ihnen die Aussicht auf den oberen Teil der Treppe. Royan
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drückte Nicholas ihre Fingernägel in die Handfläche, als sie sah, was vor ihr lag. Die Treppe endete an einem ebenen Trep penabsatz. Unmittelbar dahinter lag eine offene, rechtwinklige Tür. Sie stiegen bis zu dem Absatz hinauf und blieben vor der Tür stehen. Sie konnten beide nicht mit Worten beschreiben, was sie in diesem beglückenden Augenblick erlebten: Sie stan den schweigend, und wie es ihnen schien, eine ganze Ewigkeit davor und hielten einander fest an den Händen. Schließlich wandte Nicholas seinen Blick von der Öffnung ab und schaute Royan an. Er sah, wie sich seine Gefühle in ihrem Gesicht widerspiegelten. Ihre Augen leuchteten, als würden sie von einer glühenden Leidenschaft entflammt. Es gab keinen anderen Menschen, mit dem er diesen Augenblick hätte teilen wollen. Er wünschte, er würde ewig dauern. Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Sie schauten einander verständnisvoll in die Augen und waren sich bewußt, daß dies ein Höhepunkt in ihrem Leben war, der sich nie wiederholen würde. Sie ergriff seine Hand und sah wieder auf die vor ihnen liegende Öffnung. Die Schwelle war bedeckt mit einer elfen beinfarbenen Tonschicht aus dem Fluß. Die glatte Fläche zeig te keinen Riß und nicht die geringste Verunreinigung. Sie betrachteten aufmerksam die beiden in der Mitte der hel len Tonschicht eingedrückten Siegel. Das obere zeigte die kö nigliche Hieroglyphe, das Rechteck mit dem Skarabäus dar über, den gehörnten Käfer, der den großen Kreis der Ewigkeit symbolisierte. Royan bewegte nur die Lippen, als sie den Wortlaut der Hie roglyphen las, ohne die Worte laut auszusprechen. »Der All mächtige. Der Göttliche. Der Beherrscher des oberen und des unteren Königreichs von Ägypten. Der Schutzgeist des Gottes Horus. Der Geliebte von Osiris und Iris. Mamose, möge er ewig leben!« Unter diesem prächtigen königlichen Siegel sah man die
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kleineren und einfacheren Umrisse eines Falken mit einem gebrochenen Flügel über der gestreiften Brust, und darunter die Worte: »Ich, Taita der Sklave, habe deinen Befehl befolgt, gött licher Pharao.« Unter dem verletzten Falken waren in einer Zeile die Hieroglyphen mit der strengen Warnung eingeprägt: »Fremdling! Die Götter schauen auf dich. Störe die ewige Ru he des Königs auf eigene Gefahr!« Es war eine folgenschwere Entscheidung, die Siegel zu dem geschlossenen Durchgang zu brechen, und obwohl es bis zum Beginn der Regenzeit nicht mehr lange dauern würde, waren sie beide nicht bereit, es ohne weiteres zu tun. Sie mußten alles, was sie entdeckten, gewissenhaft dokumentieren und, während sie weiter vordrangen, nach Möglichkeit keinen Schaden an richten. Einen der wenigen Tage, die ihnen noch blieben, brachten sie damit zu, das Öffnen der Grabkammer sorgfältig vorzube reiten. Die Hauptsorge von Nicholas galt natürlich der Sicher heit des Bereiches um das Königsgrab. Er bat Mek Nimmur, einen bewaffneten Posten am Übergang über die Senkgrube zu dem Tunnel aufzustellen, und der Zugang zu dem Tunnel über diesen Punkt hinaus wurde gesperrt. Nur Nicholas, Royan, Sapper, Mek Nimmur, Tessay und vier von Nicholas ausge wählte Mönche durften die Brücke überschreiten. Hansith Sherif hatte sich wiederholt beim Ausräumen des unteren Teils des Tunnels bewährt. Er war ein kräftiger, hilfs bereiter und intelligenter Mann, und Nicholas glaubte, sich auf ihn verlassen zu können. Hansith trug das Stativ und die Foto ausrüstung, während Nicholas den Tunnel und den versiegelten Zugang fotografierte. Er verbrauchte dabei drei Rollen licht empfindlichen Film, um die unverletzten Siegel und die ganze Umgebung des noch geschlossenen Zugangs dokumentieren zu
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können. Erst nachdem die Aufnahmen gemacht worden waren, erlaubte Nicholas den drei Mönchen und Hansith, ihm die Werkzeuge zu bringen, die er für das Aufbrechen der Grab kammer brauchen würde. Um zu vermeiden, daß zuviel Strom verbraucht wurde, brachte Sapper den Hondagenerator nach vorn auf die oberste Stufe der Treppe und richtete ihn auf die helle Fläche der unter einer Tonschicht liegenden Tür. Nun standen sie alle an der Schwelle und warteten auf das Öffnen dieses Eingangs. Obwohl die Grabkammer schon vor Jahrtausenden eingerichtet worden war, empfanden sie das Eindringen in das Königsgrab irgendwie als Entweihung. Roy an hatte Sapper, Mek und Tessay die in Hieroglyphen abgefaß te Warnung vorgelesen, und die ernsten Worte Taitas hatten sie beeindruckt. Nun markierte Nicholas die rechteckige Öffnung, von der er zunächst die Tonschicht ablösen wollte. Sie war groß genug, um durch sie die Grabkammer zu betreten, aber in den Ton waren auch das königliche Wappen und Taitas Siegel mit dem flügellahmen Falken eingeprägt. Er beabsichtigte, das Ganze in einem Stücke herauszuschneiden, ohne es dabei zu zerbrechen. Er stellte sich schon vor, wie er es in seinem Museum in Quen ton Park an einer dafür geeigneten Stelle anbringen würde. Nicholas begann an der rechten oberen Ecke der Öffnung. Zuerst stach er mit einer langen dünnen Ahle hinein. Er drückte und drehte die Spitze dieser Ahle durch den trockenen Ton und versuchte so, festzustellen, was unter der Tonschicht lag. Wie er sehr bald merkte, war es eine aus Riedgras geflochtene Matte. »Das erleichtert uns die Arbeit erheblich«, sagte er zu Roy an. »Die Riedmatte wird die Tonschicht zusammenhalten und verhindern, daß sie Risse bekommt und zerbröckelt.« Er stieß die Ahle immer weiter in die Tür hinein, bis sie plötzlich auf keinen Widerstand mehr stieß, sondern leicht in
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ihrer ganzen Länge hindurchglitt. »Die Tür ist sechs Zoll dick«, sagte er. »Taita gibt sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Das ist ein solides Stück Arbeit.« Nun bohrte er mit der Ahle in jede der vier Ecken des vorge zeichneten Vierecks ein Loch. Dann trat er zurück und bat Hansith, ihm den schweren Vierzollbohrer zu bringen, mit dem er die Löcher erweitern wollte. Es war ein Bohrer, wie ihn Angler benutzen, wenn sie auf einem zugefrorenen See im Winter Löcher ins Eis bohren. Als das erste Loch gebohrt war, schob Nicholas Hansith un geduldig zur Seite und schaute hinein. Dahinter war es stock dunkel, aber er spürte einen leichten Luftzug, der durch das Loch nach außen drang. Die Luft war trocken und der Geruch herb und abweisend und erinnerte an eine längst vergangene Zeit. »Was sehen Sie?« wollte Royan wissen, die neben ihm stand. »Die Lampe! Geben Sie mir die Lampe!« sagte er, und als Sapper sie ihm reichte, hielt er sie vor die Öffnung. »Sagen Sie es mir!« Royan konnte sich kaum beherrschen. »Was sehen Sie jetzt?« »Farben!« flüsterte er. »Die prächtigsten, unbeschreiblich schönen Farben.« Er trat zurück und hob sie in die Höhe, so daß auch sie durch die Öffnung sehen konnte. »Schön!« rief sie. »Es ist wunderschön.« Sapper richtete den starken elektrischen Ventilator her, um den Schacht zu belüften, während Nicholas die Kettensäge in Ordnung brachte. Als er fertig war, gab er Royan eine Schutz brille und eine Atemschutzmaske und half ihr, sie anzulegen. Dann steckte sie sich zwei mit Wachs getränkte Wattepropfen in die Ohren.
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Bevor er die Kettensäge einschaltete, schickte er die anderen den Tunnel hinunter bis zu dem Steg. In dem engen Raum des Schachts würden die Auspuffgase des Motors der Kettensäge und der Staub sowie das laute Knattern des Benzinmotors uner träglich sein, aber außerdem wollte er, daß nur Royan mit ihm das Öffnen der Tür in die Gruft erlebte. Als sie allein waren, schaltete Nicholas den Ventilator ein und ließ ihn auf der höchsten Stufe laufen. Dann setzte auch er die Schutzbrille auf, legte sich die Maske vors Gesicht und verstopfte seine Ohren. Er zog an der Anlasserschnur des Mo tors der Kettensäge, der mit lautem Knattern startete und eine blaue Rauchwolke ausstieß. Nun drückte er die Säge in das Bohrloch an der rechten obe ren Ecke des rechtwinkligen Einstiegs. Die Säge durchschnitt die dicke helle Tonschicht und die darunterliegende Matte wie ein Messer, das eine Hochzeitstorte zerteilt. Vorsichtig führte er die Säge entlang der vorgezeichneten Linie nach unten. Eine Wolke aus weißem Tonstaub erfüllte die Luft und nach wenigen Sekunden konnten sie nur noch anderthalb Meter weit sehen. Doch Nicholas ließ sich nicht beirren, sondern führte die Säge auf der rechten Seite bis zum Boden, dann von rechts nach links, von der linken unteren Ecke hinaus und schließlich am oberen Rand wieder nach rechts. Als das ausgesägte Rechteck sich unter seinem eigenen Ge wicht nach vorn neigte, schaltete er den Motor der Kettensäge aus und stellte sie zur Seite. Royan stellte sich neben ihn, um ihm zu helfen, und gemein sam hielten sie das Rechteck fest, damit es nicht auf den Boden fiel und zerbrach. Vorsichtig hoben sie es aus der Öffnung und stellten es unversehrt an die Wand neben der obersten Stufe. Hinter der Öffnung war es stockfinster. Nicholas leuchtete mit dem Scheinwerfer hinein, aber die dichte Staubwolke im Raum hinter der Öffnung ließ noch nichts erkennen.
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Nun kletterte Nicholas durch die Öffnung in den geschlosse nen Raum, aber auch das Licht seiner Taschenlampe war zu schwach, um die Staubwolke zu durchdringen. Er versuchte nicht, das Innere des Raumes weiter zu erkun den, sondern drehte sich um und half Royan. durch die Öff nung hereinzukommen. Sie hatte das Recht, alles, was er hier entdeckte, mit ihm zu teilen. Zunächst blieben sie ruhig stehen und warteten darauf, daß der Staub sich setzte. Zuerst sahen sie sich den Fußboden an, auf dem sie standen. Er war nicht mehr mit Steinfliesen belegt, sondern bestand aus poliertem, gelbem Achat. Die Achatfliesen waren so sauber zusammengefügt, daß die Fugen nicht zu sehen waren. Es sah aus wie eine geschlossene Schicht aus glattem, undurchsichti gem Glas, dessen Glanz nur durch den feinen Staub getrübt wurde. Dort, wo sie die Staubschicht mit ihren Füßen aufge wirbelt hatten, glänzte der Achat im Licht des Scheinwerfers. Allmählich lichtete sich die Staubwolke, und sie erkannten überall an den Wänden wunderschöne farbige Wandmalereien. Royan nahm ihre Schutzmaske vom Gesicht und ließ sie auf den Achatboden fallen. Nicholas folgte ihrem Beispiel und atmete die Luft ein, die diesen Raum seit Jahrtausenden erfüllt hatte. Dabei spürte er den modrigen Geruch der Leinenbinden, in die der einbalsamierte Körper eines Toten eingewickelt war. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, öffnete sich vor ihnen ein langer, gerader Durchgang, dessen Ende sich im dunklen Schatten verlor. Nicholas ging zur Einstiegsöffnung zurück und holte den auf einem Stativ stehenden Scheinwerfer herein, um damit den Durchgang auszuleuchten. Auf dem Weg in die Tiefe des Durchgangs wurden sie auf allen Seiten von den alten Götterbildern begleitet. Von den Wänden und der gewölbten Decke über ihnen schauten sie mit großen und feindselig blickenden Augen auf die Eindringlinge herunter. Nicholas und Royan gingen nur langsam weiter. Das
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Geräusch ihrer Schritte auf den Fliesen aus Achat wurde durch den Staub gedämpft, und die noch in der Luft schwebenden Staubpartikel reflektierten das Licht, das sie in einen märchen haften Schimmer hüllte. Jede freie Stelle an den Wänden und an der gewölbten Decke über ihnen war ausgefüllt mit Inschriften. Es waren lange Zita te mystischen Inhalts aus dem Buch des göttlichen Odems, dem Buch der Pylone und dem Buch der Weisheit. Dann wieder berichteten die Hieroglyphen über Ereignisse aus dem Leben des Pharao Mamose auf dieser Erde und priesen die Tugenden, die ihn zum Liebling der Götter gemacht hatten. Beim Weitergehen kamen sie aus den ersten von acht, in die Wände des langen Prozessionsweges eingebauten Heiligen schreinen. Dieses war das Heiligtum des Osiris. Es war eine kreisrunde Vertiefung, die Rundung der Innenwand war ge schmückt mit Texten zum Lobe des Gottes, und in der Nische stand eine kleine Statue von Osiris mit einer hohen, mit Federn geschmückten Krone auf dem Kopf. Die Augen aus Onyx und Bergkristall starrten sie so unversöhnlich an, daß es Royan schauderte. Nicholas streckte die Hand aus und berührte einen Fuß des Gottes. Er sagte nur ein Wort: »Gold!« Dann betrachtete er das Wandgemälde, das die Wand und die Hälfte der Wölbung um und über dem Schrein einnahm. Es war die Darstellung der riesigen Gestalt des Vaters von Osiris, des Gottes der Unterwelt, mit grünem Gesicht und falschem Bart. Er hatte die Arme vor der Brust gekreuzt, hielt den Dreschflegel und den Krummstab in den Händen, und an der Stirnseite seines gefiederten Kopfschmucks ragte die heilige Uräusschlange heraus. Sie verneigten sich ehrfürchtig vor dem Götterbild. Da das Lampenlicht in der staubigen Luft flimmer te, hatte man den Eindruck, daß der Gott lebendig wurde und sich vor ihren Augen bewegte.
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Sie blieben jedoch nicht an diesem ersten Heiligenschrein stehen, denn der Prozessionsweg führte geradeaus weiter wie ein auf ein fernes Ziel abgeschossener Pfeil. Sie folgten ihm. Der nächste in die Wand eingebaute Schrein war der Göttin geweiht. Die goldene Gestalt der Isis saß in ihrer Nische auf dem Thron, der zugleich ihr Symbol war. Sie hielt ihren kindli chen Sohn Horus an der Brust und säugte ihn. Ihre Augen wa ren aus Elfenbein und blauem Lapislazuli. Das ihre Nische umgebende Wandgemälde zeigte sie als Mutter mit großen, kohlschwarz umrandeten Augen und der Sonnenscheibe mit den Hörnern der heiligen Kuh auf dem Kopf. Die Wand rings um ihre Gestalt zeigte hieroglyphische Symbole, die leuchteten wie eine Wolke aus Glühwürmchen, denn sie bezeichneten die ungezählten Namen der Göttin. Das waren zum Beispiel die Namen Ast, Net und Bast. Sie hieß auch Ptah, Seker, Mersekert und Rennut. Jeder dieser Namen war ein Machtwort, denn ihre Heiligkeit und ihre die Menschen beglückende Ausstrahlung waren lebendig geblieben, wogegen die meisten alten Götter aus Mangel an andächtigen Verehrern, die sie mit solchen mystischen Namen hätten anrufen können, vergessen wurden und an Bedeutung verloren. Im alten Byzanz und später im christlichen Ägypten hat man die Tugenden und Attribute dieser Göttin auf die Jungfrau Ma ria übertragen. Das Bild der ihren Sohn Horus säugenden Isis erkennt man in den Ikonen der Madonna mit dem Kinde wie der. So war die Göttin auch für Royan die Verkörperung alles Mütterlichen, und da in ihrem Blut das geistige Erbe ihrer Vor fahren fortlebte, verehrte sie sowohl die Göttin Isis als auch die Gottesmutter Maria. Dieses Erbe und die Wahrheit bildeten in ihrem Herzen eine unauflösliche Einheit, und so empfand sie zugleich die Schuld des sündigen Menschen und die religiöse Ekstase tiefer Gläubigkeit. Im nächsten Schrein stand die goldene Statue des falkenköp
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figen Horus, des letzten Gottes der heiligen Trinität. In der rechten Hand hielt er den Bogen des Kriegers und in der linken den Ankh, das Henkelkreuz als Symbol des ewigen Lebens, denn er herrschte über Leben und Tod. Seine Augen waren rote Karneole. Die Statue war umgeben von Porträts seiner anderen Er scheinungsformen: Horus als Säugling an der Brust der Isis, Horus als stolzer, kräftiger und schöner Jüngling Harpokrates, der in einer rituellen Geste mit einem Finger das Kinn berührte und bekleidet mit einem kurzen Faltenrock und Sandalen an den Füßen mit gespreizten Beinen dastand. Der falkenköpfige Horus hatte entweder den Körper eines Löwen oder den eines jungen Kriegers und trug die hohe Krone zum Zeichen seiner Herrschaft über das südliche und nördliche ägyptische Reich. Unter ihm stand die Inschrift: »Großer Gott und Herr des Himmels, Offenbarung der Macht, mächtigster aller Götter, der mit seiner Stärke die Feinde seines göttlichen Vaters, Osi ris, besiegt hat.« Im vierten Schrein stand Seth, der Erzfeind und Satan, der Gott der Gewalt und der Zwietracht. Sein Körper war aus Gold, aber sein Kopf war der Kopf einer schwarzen Hyäne. Im fünften Schrein stand der Gott der Toten und der Gräber, der schakalköpfige Anubis. Er überwachte das Einbalsamieren der Verstorbenen, und seine Pflicht war es, die Waage zu hal ten, mit der das Herz des Verstorbenen gewogen wurde. Wenn beide Waagschalen einander horizontal gegenüberstanden, dann war der Verstorbene würdig, in die Ewigkeit einzugehen, aber wenn sich die Schale auf seiner Seite neigte, warf er das Herz dem Krokodilungeheuer zum Fraß vor. Der sechste Schrein war dem Gott des Schreibens, Thoth, geweiht. Er hatte den Kopf des heiligen Ibis und hielt den Grif fel in der Hand. Im siebenten Schrein stand die schwarz- und weißgescheckte, heilige Kuh Hathor fest auf allen vier Beinen.
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Sie hatte ein freundlich blickendes menschliches Gesicht, aber große, trompetenförmige Ohren. Der achte Schrein war der größte und prächtigste, denn er war Amon-Ra, dem Vater der ganzen Schöpfung, geweiht. Er war die Sonne, eine riesige goldene Scheibe, von der goldene Strahlen ausgingen. Hier blieb Nicholas stehen und schaute zurück in den langen Gang. Die acht heiligen Statuen, die hier standen, stellten einen Schatz dar, der den gleichen Wert hatte wie alles, was Howard Carter und Lord Carnarvon in der Grabkammer des Tut-enchAmun entdeckt hatten. Er hielt es für töricht und lächerlich, an den Geldwert dieser Schätze auch nur zu denken. Dennoch war er sich der Tatsache bewußt, daß der Wert auch nur eines die ser unvergleichlichen Kunstwerke das Vielfache dessen betrug, was er brauchen würde, um seine Schulden zu bezahlen. Aber er schob den Gedanken beiseite und wandte sich noch einmal der geräumigen Kammer am Ende des Prozessionsweges zu. »Die Grabkammer«, flüsterte Royan ehrfürchtig. »Das Mau soleum.« Als sie darauf zugingen, wichen die Schatten vor ihnen zu rück, als folgten sie dem Geist des längst verstorbenen Pharaos, zu dem Ort, an dem er die ewige Ruhe zu finden hoffte. Jetzt konnten sie auch in die Grabkammer hineinschauen. An den Wänden erstrahlten noch prächtigere Wandgemälde. Obwohl sie schon manches dieser Art gesehen hatten, hatten sie sich noch nicht so daran gewöhnt, daß es ihnen gleichgültig gewor den wäre. An der gegenüberliegenden Wand sahen sie eine hochge wachsene, bis zur Decke reichende Gestalt. Es war der schlan ke, sehnige Körper der Göttin Nut bei der Geburt der Sonne. Die goldenen Strahlen ergossen sich aus ihrem offenen Schoß, hüllten den Sarkophag des Pharao ein und spendeten dem toten König neues Leben. Der aus einem mächtigen Granitblock ausgemeißelte Sarko
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phag stand in der Mitte des Raumes. Nicholas überlegte, wie viele Sklaven diesen gewaltigen Stein durch die engen unterir dischen Gänge geschleppt haben mochten. Er konnte sich vor stellen, wie ihre schweißbedeckten Leiber im Lampenlicht ge glänzt und die hölzernen Rollen unter dem gewaltigen Gewicht des Sarges geknirscht hatten. Dann schaute Nicholas in den Sarg hinunter und konnte kaum glauben, was er sah. Der Sarg war leer. Man hatte den schweren Granitdeckel abgehoben und mit solcher Wucht zur Seite geworfen, daß er zerbrochen war und in zwei Stücken neben dem Sarg lag. Zutiefst enttäuscht gingen sie langsam weiter, schauten aber noch einmal in den offenen Sarkophag. Er enthielt nur die Scherben der vier Alabasterkrüge, in denen die Eingeweide, die Leber und andere innere Organe des Königs beigesetzt werden sollten. Die zerbrochenen Deckel zeigten die Reliefs der Köpfe von Göttern und Fabelwesen aus der Welt jenseits des Grabes. »Leer!« flüsterte Royan. »Der Körper des Königs ist ver schwunden.« Während sie an den folgenden Tagen die Wandgemälde fo tografierten und die Statuen der acht Götter und Göttinnen, die in den Nischen gestanden hatten, verpackten, sprachen Royan und Nicholas über das Verschwinden der königlichen Mumie aus dem Sarkophag. Royan wies immer wieder darauf hin, daß die Siegel am Eingang zum Mausoleum noch intakt gewesen waren. »Dafür gibt es vielleicht eine Erklärung«, sagte Nicholas. »Es könnte sein, daß Taita selbst den Schatz und die Mumie herausgebracht hat. In der siebenten Schriftrolle schreibt er wiederholt, daß es bedauerlich wäre, wenn ein solcher Schatz verlorenginge. Er sagt, daß es sehr viel besser wäre, ihn zum
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Schutz und für die Ernährung der Nation und ihrer Menschen auszugeben.« »Nein«, widersprach Royan, »es wäre sinnlos gewesen, sich die Mühe zu machen, einen Damm durch den Fluß zu bauen und einen Tunnel unter dem Wasserbecken zu graben, um eine so prächtige Grabkammer einzurichten, und dann die königli che Mumie herauszunehmen und zu vernichten. Taita ist ein logisch denkender Mensch gewesen. Er hat auf seine Weise die ägyptischen Götter verehrt. Das beweisen alle seine Schriften. Er hätte nie die religiösen Traditionen verleugnet, von deren Wert er zutiefst überzeugt war. Irgend etwas an diesem Mauso leum kommt mir verdächtig vor: das mysteriöse, unerklärliche Verschwinden der Mumie und sogar die Gemälde und Inschrif ten an den Wänden.« »Was das Verschwinden des Toten betrifft, bin ich der glei chen Meinung wie Sie, aber was ist nach Ihrer Auffassung un logisch an den Dekorationen?« wollte Nicholas wissen. »Nun, nehmen wir zuerst die Gemälde.« Sie zeigte auf das Bild der Isis. »Sie sind schön und offenbar das Werk eines be gabten, klassischen Künstlers, aber sie fallen in Form und Far be aus dem Rahmen. Man vermißt den Funken der Genialität, die das Grabmahl der Königin Lostris auszeichnet, wo wir die Schriftrollen in den Alabasterkrügen entdeckt haben.« Nicholas überlegte, welchen Eindruck die Wandgemälde auf ihn gemacht hatten. »Ich sehe, was Sie meinen. Sogar die Wandgemälde im Grab des Tanus im Kloster haben eine ganz andere Qualität.« »Das stimmt!« sagte sie entschieden. »Sie wurden von Taita selbst gemalt, diese aber nicht. Sie sind wahrscheinlich das Werk eines seiner Schüler.« »Und weshalb gefallen Ihnen die Inschriften nicht?« »Haben Sie je von einer Grabkammer gehört, in der die In schriften nicht auch aus Zitaten aus dem Ägyptischen Toten
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buch bestehen oder in der die Reise des Toten durch die sieben Eingangstore ins Jenseits nicht bildlich dargestellt werden?« Nicholas sah sie überrascht an. Daran hatte er noch nicht ge dacht. Ohne sich zu dieser Frage zu äußern, ließ er sie stehen und ging zurück, angeblich, um das Verpacken der Götterstatu en zu überwachen, aber in Wirklichkeit wollte er über das, was sie eben gesagt hatte, noch einmal nachdenken. Vor der Abreise aus England hatte Nicholas dafür gesorgt, daß alle zerbrechlichen Ausrüstungsgegenstände und Werk zeuge, die aus dem Flugzeug an Fallschirmen in die Schlucht abgeworfen werden sollten, in feste Eisenblechkisten verpackt wurden. Die Deckel dieser Kisten waren mit Gummi abgedich tet und mit haltbaren Hebelverschlüssen versehen. Das Innere der Kisten war mit Schaumstoff ausgepolstert. Als sie aus Äthiopien abreisten, wurde dieses Material zurückgelassen, aber die Kisten waren zusammen mit dem Verpackungsmateri al für den Transport der Kunstschätze, die sie in der Grabkam mer zu finden hofften, bereitgestellt worden. Sechs der Götterstatuen paßten sehr gut in diese Kisten, aber die heilige Kuh Hathor und der satanische Seth waren zu groß. Doch Nicholas stellte fest, daß sie aus mehreren Teilen bestan den. Die Köpfe ließen sich abnehmen, und die doppelhufigen Beine Hathors wurden im Körper durch hölzerne Keile fest gehalten, die inzwischen zu Staub zerfallen waren. In ihre Teile zerlegt, hatten auch diese beiden großen Statuen Platz in den eisernen Munitionskisten. Nicholas sah zu, wie Hansith den grimmigen Kopf Seths, der aus mit schwarzem Harz überzogenem Ebenholz bestand, in eine der Kisten verpackte. Dann ging er wieder zu Royan zu rück, die damit beschäftigt war, die Inschriften auf der Wand über dem leeren Sarkophag zu übersetzen. »Sehr gut. Ich stimme Ihnen zu. Sie haben recht, wenn Sie das Fehlen der Inschriften aus dem Ägyptischen Totenbuch
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bemängeln. Das ist in der Tat seltsam. Aber müssen wir es nicht als ein Rätsel hinnehmen, das wir wahrscheinlich niemals lösen können?« »Nicky, das ist noch nicht alles. Ich fühle es ganz deutlich, daß wir irgend etwas übersehen haben.« »Wie könnte ich, der ich doch nur ein Mann bin, an der Richtigkeit des weiblichen Instinkts zweifeln?« »Spielen Sie sich nicht auf«, fuhr sie ihn an. »Wieviel Zeit habe ich noch, um an den Inschriften auf der Stele zu arbei ten?« »Eine oder höchstens zwei Wochen. Ich muß noch einen Treffpunkt mit Jannie vereinbaren. Wir müssen am Behelfs flugplatz von Roseires sein, wenn er uns dort abholen kann. Diese Verabredung dürfen wir nicht versäumen.« »Mein Gott, ich glaubte, Sie hätten das schon längst mit ihm besprochen. Wie werden Sie ihn denn von hier aus erreichen?« »Das ist ganz einfach«, lächelte Nicholas. »Auf dem Postamt in Debra Maryam gibt es ein öffentliches Telefon. Tessay kann sich hier überall frei bewegen. Sie wird in Begleitung von ein paar Mönchen hinaufgehen und Geoffrey Tennant in der Briti schen Botschaft in Adis Abeba anrufen. Ich habe das schon mit Geoffrey besprochen, und er wird sich dann mit Jannie in Ver bindung setzen.« »Wird Tessay das für Sie tun?« Er nickte. »Sie hat sich bereit erklärt, morgen nach Debra Maryam zu gehen. Jannie muß rechtzeitig unterrichtet werden, damit er sich auf den Flug von Malta hierher vorbereiten kann. Wir müssen alle gleichzeitig am Flughafen sein. Es kann er hebliche Schwierigkeiten geben, wenn einige von uns zu lange in Roseires auf die anderen warten müssen.«
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»Im Morgengrauen des ersten April.« Nicholas bat Tessay, Jannie mitzuteilen, daß sie am ersten April alle auf ihn warten würden. »Dieses Datum wird niemand so leicht vergessen.« Tessay machte sich, von einigen Mönchen begleitet, auf den Weg, und Royan fragte Mek Nimmur: »Machen Sie sich keine Sorgen darum, daß sie jetzt so lange allein unterwegs sein wird?« »Sie ist eine sehr tüchtige Frau und überall im Gojam be kannt und beliebt. Sie ist hier so sicher, wie man es in einem Land nur sein kann, wo das Leben eines jeden ständig gefähr det ist.« Mek behielt Tessay im Auge, deren schlanke Gestalt in Lederjacke und Reithosen mit der Entfernung immer kleiner wurde und schließlich verschwand. »Ich wünschte, ich könnte sie begleiten, aber –« Mek zuckte mit den Schultern. Plötzlich rief Royan: »Ich habe vergessen, sie etwas zu fragen.« Sie ließ Nicholas und Mek stehen, lief den Pfad hinunter und rief nach ihr. Ihre Stimme war auch dort noch zu hören, wo Nicholas stand und ihr hinterherschaute. »Tessay! Warte! Komm zurück!« Tessay drehte sich um und wartete, bis Royan sie eingeholt hatte. Während die beiden Frauen miteinander sprachen, verlor Nicholas das Interesse und blickte hinüber zum fernen Hori zont jenseits der Steilwand, und mit einem unangenehmen Ge fühl erkannte er, daß sich die Gewitterwolken über den Bergen immer mehr zusammenzogen. Jetzt würde es sehr bald anfan gen zu regnen. Er fragte sich, ob ihnen wirklich noch so viel Zeit bleiben würde, wie er gehofft hatte, bevor der Damm vom Hochwasser bedroht wurde und sie die Schlucht räumen muß ten. Dann schaute er wieder auf den Pfad und sah gerade noch, wie Royan Tessay etwas gab, diese nickte und es in eine Hosen tasche steckte. Schließlich umarmten sich die beiden Frauen, und Tessay ging weiter. Royan stand in der Mitte des Pfades und
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sah ihr nach, bis sie um eine Wegbiegung verschwunden war. Dann kehrte sie langsam zu dem wartenden Nicholas zurück. »Worum ging es denn?« wollte er wissen, aber sie lächelte nur vielsagend. »Weibliche Geheimnisse. Es gibt gewisse Dinge, von denen ihr ungeschliffenen Kerle am besten nichts erfahrt.« Aber als Nicholas eine Augenbraue hochzog und sie von der Seite an schaute, gab sie nach und sagte: »Tessay wird Geoffrey Ten nant bitten, meiner Mutter zu sagen, daß es mir gutgeht. Ich möchte nicht, daß sie sich Sorgen um mich macht.« Während sie das Gerüst bis zu dem Felsvorsprung neben Taitas Wasserbecken hinunterkletterten, auf dem sie das be helfsmäßige Camp eingerichtet hatten, mußte Nicholas daran denken, wie gut es war, daß Royan die Telefonnummer ihrer Mutter Tessay gegeben hatte, und er fragte sich, weshalb Roy an gerade jetzt ihrer Mutter mitteilen ließ, wo sie sich befand. Ich möchte wissen, was sie wirklich vorhat, überlegte er. Ich werde versuchen, es aus Tessay herauszubekommen, sobald sie wieder hier ist. Royan hätte es vorgezogen, in dem Grabgewölbe zu über nachten, um in der Nähe der Inschriften zu bleiben, an denen sie arbeitete. Aber Nicholas bestand darauf, daß sie beide drau ßen an der frischen Luft schliefen, und die Plattform unmittel bar vor dem Eingang in den Tunnel eignete sich am besten da zu und lag zudem ganz in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. »Höchstwahrscheinlich ist die modrige Luft in der Grabkam mer auch ungesund«, sagte er. »Man kann sich in diesen alten und lange von der Außenwelt abgeschlossenen Räumen allzu leicht die Höhlenkrankheit holen. Man behauptet, daß einige von den Leuten, die mit Howard Carter im Höhlengrab des Tut-ench-Amun gearbeitet haben, daran gestorben seien.« »Die Pilzsporen, die diese Krankheit verursachen, entstehen im Dung von Fledermäusen«, erwiderte sie. »Im Grab von
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Mamose gibt es keine Fledermäuse. Taita hat alle Zugänge fest verschlossen.« »Tun Sie mir den Gefallen«, bat er sie. »Sie können nicht ta gelang ununterbrochen in dieser Hitze arbeiten. Mir wäre es lieber, wenn sie sich jeden Tag ein paar Stunden außerhalb des Mausoleums aufhalten würden.« Sie zuckte die Schultern, erklärte sich schließlich aber doch einverstanden. »Nur Ihnen zuliebe«, sagte sie, aber als sie über das Gerüst bis zu ihrer neuen Schlafstelle hinuntergeklettert waren, warf sie nur kurz einen Blick darauf und ging sofort weiter zu dem Steg. Sie hatten die Plattform über der Treppe und vor dem Ein gang zum Mausoleum jetzt als Arbeitsplatz eingerichtet. Royan legte ihre Zeichnungen, Fotos und Fachbücher auf den Tisch, den Hansith für sie aus ungehobelten Brettern gezimmert hatte. Sapper hatte über diesem behelfsmäßigen Arbeitstisch einen der Scheinwerfer angebracht, so daß sie genügend Licht für ihre Arbeit hatte. An einer Wand neben der Plattform hatten sie die Munitionskisten mit den acht Götterstatuen aufgestapelt. Nicholas hatte verlangt, daß alle von ihnen entdeckten Kunst gegenstände so gelagert würden, daß er sie nicht aus den Au gen verlor. Mek hatte zudem bewaffnete Posten aufgestellt, die den Steg Tag und Nacht bewachten. Während Nicholas die langen Wände des Tunnels und der leeren Grabkammer fotografierte, saß Royan stundenlang über ihren Aufzeichnungen und trug die daraus gewonnenen Er kenntnisse in ihr Notizbuch ein. Ein paarmal sprang sie auf, schlüpfte durch die Öffnung, die sie in die Tür geschnitten hat ten, und lief in den langen Gang, um sich noch einmal ein De tail an den bemalten Wänden anzusehen. Wenn das geschah, blickte Nicholas von seiner Kamera auf und sah ihr zu. Dabei ergriff ihn, wie so oft in ihrer Gegenwart, ein Gefühl der Zärtlichkeit und des tiefen Verständnisses. Sie
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war so sehr in ihre Arbeit vertieft, daß sie weder ihn noch sonst irgend jemanden zu bemerken schien. So hatte sie Nicholas bisher noch niemals erlebt, und er war tief beeindruckt von ihrer Konzentrationsfähigkeit. Nachdem sie ununterbrochen fünfzehn Stunden gearbeitet hatte, ging er hinauf auf die Plattform und brachte sie, obwohl sie sich zunächst dagegen wehrte, hinaus an den Rand des Beckens, wo eine warme Mahlzeit auf sie wartete. Und als sie gegessen hatten, begleitete er sie zu ihrer Hütte und bestand darauf, daß sie sich zum Schlafen auf ihre Luftmatratze legte. »Sie werden jetzt schlafen, Royan«, sagte er energisch. Als er aufwachte, hörte er, wie sie leise aus ihrer Hütte zum Eingang des Grabmals schlich. Er sah auf die Uhr und konnte es kaum glauben, daß sie nur dreieinhalb Stunden geschlafen hatten. Er rasierte sich in aller Eile, aß schnell ein Toastbrot und trank eine Tasse Tee, bevor er ihr in das Gewölbe folgte. Sie stand in der langen Galerie vor der leeren Nische, in der die Statuette von Osiris gestanden hatte, und war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie ihn nicht kommen hörte, und erschrak, als er ihren Arm berührte. »Ich bin erschrocken«, schalt sie ihn. »Was schauen Sie sich da an?« fragte er. »Was haben Sie entdeckt?« »Nichts«, erwiderte sie rasch und korrigierte sich dann: »Ich weiß es nicht. Es ist nur eine Idee.« »Nun sagen Sie schon! Worauf wollen Sie hinaus?« »Es ist leichter zu erklären, wenn ich es Ihnen zeige.« Sie führte ihn an den Tisch auf dem Treppenabsatz und legte ihre Notizbücher nebeneinander auf die Tischplatte. Dann sagte sie: »In den letzten Tagen habe ich das ganze Material über die Stele in der Grabkammer des Tanus durchgesehen und dabei alle Zitate herausgesucht, die ich aus der klassischen mysti schen Literatur kenne, aus dem Buch des göttlichen Odems,
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dem Buch der Pylonen und dem Buch des Thoth, und habe sie auf die eine Seite gelegt.« Sie zeigte ihm fünfzehn Seiten in ihrer sauberen, gut leserlichen Handschrift. »Das alles stammt aus der ägyptischen Frühzeit und nicht aus der Feder von Taita. Ich habe es zunächst unbeachtet gelassen.« Sie legte das erste Notizbuch zur Seite und schlug das zweite auf. »Das ist die Übersetzung des Textes auf der vierten Seite der Stele. Ich habe nichts davon wiedererkannt, es scheint aber nur eine lange Liste von Zahlen und Ziffern zu sein. Vielleicht ist es eine Art Geheimschrift? Ich kann es nicht genau sagen, aber ich habe bestimmte Vorstellungen, auf die ich noch zu rückkommen werde.« Sie zeigte ihm das nächste Notizbuch und sagte: »Das alles ist neueres Material, und ich kann mich nicht erinnern, etwas davon in den alten klassischen Schriften gelesen zu haben. Das meiste davon ist wahrscheinlich von Taita verfaßt. Wenn er uns irgendwelche Hinweise hinterlassen hat, dann werden wir sie, glaube ich, hier finden.« Er grinste. »Wie zum Beispiel das wunderbare Zitat, in dem die rosafarbenen Geschlechtsteile der Göttin beschrieben wer den. Meinen Sie das?« »Ich bin überzeugt, Sie werden das nicht vergessen.« Sie er rötete und vermied es, ihn anzusehen. »Sehen Sie sich dieses Zitat aus dem oberen Teil der dritten Seite der Stele an. Taita hat diesen Text mit dem Wort ›Herbst‹ überschrieben. Diese Zitate sind mir als erste aufgefallen.« Nicholas beugte sich nach vorn und übersetzte die Hierogly phen laut: »›Der große Gott Osiris macht den ersten Zug unter Beachtung des Gesetzes der vier Stiere. Am ersten Tempeltor legt er Zeugnis ab für das ewig geltende Gesetz.‹« Er sah sie an. »Ja, ich erinnere mich an dieses Zitat. Hier bezieht sich Taita auf das Baospiel, das den alten Teufel so fasziniert hat.« »Das ist richtig.« Royan schien die Sache irgendwie peinlich
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zu sein. »Erinnern Sie sich aber auch noch daran, daß ich Ihnen den Traum geschildert habe, in dem ich in einer Kammer des Mausoleums auf Duraid gestoßen bin?« »Ja, ich erinnere mich.« Er mußte lachen, als er sah, wie un angenehm es ihr war, das alles erwähnen zu müssen. »Er hat Ihnen etwas über das Gesetz der vier Sterne gesagt. Nun müs sen wir uns also damit beschäftigen, Träume zu deuten?« Sie ärgerte sich offenbar darüber, daß er diese Dinge so leicht nahm. »Ich will nur sagen, daß mein Unterbewußtsein diese Zitate verarbeitet und nun eine Erklärung gefunden hat, die ich in meinem Traum Duraid in den Mund gelegt habe. Können Sie vielleicht einen Augenblick ernst bleiben?« »Ich bitte um Verzeihung.« Er hatte sie nicht kränken wol len. »Wiederholen Sie bitte noch einmal, was Duraid Ihnen gesagt hat.« »In dem Traum sagte er mir: ›Erinnere dich an das Gesetz der vier Stiere – beginne am Anfang!‹« »Ich bin kein geübter Baospieler. Was hat er damit sagen wollen?« »Die Regeln und Feinheiten dieses Spiels sind im Lauf der Jahrtausende verlorengegangen. Aber wie Sie wissen, hat man in den Grabkammern der Pharaonen von der elften bis zur siebzehnten Dynastie neben den Grabgottheiten auch Baobret ter gefunden, und wir können nur vermuten, daß das Baospiel eine frühe Form des Schachspiels gewesen ist.« Sie nahm einen Stift und skizzierte auf einer leeren Seite ihres Notizbuchs ein solches Brett. Das hölzerne Baobrett war eingeteilt wie ein Schachbrett mit jeweils acht, aus einzelnen Feldern bestehenden, waagerechten und senkrechten Reihen. Sie nahm ihren Kugelschreiber und zeichnete das ganze mit ein paar kräftigen Strichen auf. »Man spielte mit farbigen Steinen, die nach bestimmten Regeln ge zogen wurden. Ich möchte mich nicht mit Einzelheiten aufhal
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ten, aber das Gesetz der vier Stiere war ein Eröffnungsgambit, mit dem intelligente Leute wie Taita das Spiel einleiteten. Da bei wurden Opfer gebracht mit dem Ziel, die stärksten Steine in die erste Reihe zu manövrieren, von wo aus sie die wichtigen Felder in der Mitte des Bretts beherrschen konnten.« »Mir ist noch nicht ganz klar, worauf das hinaus soll, aber bitte fahren Sie fort.« Nicholas versuchte, nicht zu verwirrt auszusehen. »Dies ist das erste Feld auf dem Brett.« Sie zeigte es auf ih rer Skizze, als hätte sie es mit einem kleinen Kind zu tun. »Es ist der Anfang. Duraid sagte: ›Beginne am Anfang!‹ Taita sagt: ›Der große Gott Osiris macht den Eröffnungszug.‹« »Ich kann Ihnen immer noch nicht folgen«, sagte Nicholas und schüttelte den Kopf. »Kommen Sie mit.« Sie nahm ihre Notizbücher, führte ihn durch die Öffnung, die sie in die Tür geschnitten hatten, und stellte sich neben ihn vor den Schrein des Osiris. »Der Eröff nungszug. Der Anfang.« Sie wandte sich um und sah die Galerie hinunter. »Dies ist der erste Schrein. Wie viele Schreine haben wir hier?« »Drei für die Dreieinigkeit, dann je einen für Seth, Thoth, Anubis, Hathor und Ra. Im ganzen sind es also acht.« »Großartig!« lachte sie. »Der Junge kann zählen! Wie viele Felder finden wir in den Reihen des Baobretts?« »Acht waagrecht und acht senkrecht –« Er unterbrach sich und sah sie an. »Sie glauben –?« Sie antwortete nicht, sondern schlug ihr Notizbuch auf. »All diese Zahlen und äußeren Symbole ergeben keine zusammen hängenden Werte. Sie haben keinerlei Beziehung zueinander, nur daß keine der hier genannten Zahlen höher ist als acht.« »Ich glaubte schon, ich hätte Ihnen jetzt folgen können, aber nun habe ich Sie wieder nicht verstanden.« »Wenn jemand nach viertausend Jahren die Aufzeichnung
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eines Schachspiels lesen würde, was würde ihm das sagen?« fragte sie. »Wäre das für ihn nicht nur eine Aufzählung von Zahlen und äußeren Symbolen? Sie sind wirklich sehr schwer von Begriff.« »Mein Gott!« Jetzt schien er sie zu begreifen. »Was sind Sie doch für eine intelligente junge Dame! Taita spielt Bao mit uns.« »Und dies ist das erste Tempeltor, an dem es beginnt.« Sie zeigte auf den Schrein. »Hier macht der große Gott Osiris den Eröffnungszug. Hier auf dem ersten Feld des Baobretts müssen auch wir beginnen, denn von hier aus machen wir den Gegen zug.« Sie standen eine ganze Weile vor dem offenen Schrein und sahen sich die abgerundeten Wände und das hohe Gewölbe darüber an. Dann brach Nicholas das Schweigen und sagte: »Auch wenn Sie mich für begriffsstutzig halten, darf ich Sie etwas fragen? Wie, zum Teufel, sollten wir uns auf ein Spiel einlassen, dessen Regeln wir nicht kennen?« Oberst Nogo stolzierte gelassen und selbstsicher in den Kon ferenzraum und ging auf Schiller zu, der ihn hatte rufen lassen. Nahoot Guddabi folgte ihm, um sich nichts von der wahr scheinlich wichtigen Besprechung entgehen zu lassen. Auch er versuchte, zuversichtlich und bedeutend zu wirken, aber in Wirklichkeit wußte er, daß seine Position durchaus nicht gesi chert war und er sein Verhalten vor seinem Herrn und Meister rechtfertigen mußte. Schiller war damit beschäftigt gewesen, Utte Kemper einige Briefe zu diktieren, aber als die beiden hereinkamen, stand er auf und stellte sich auf sein Podest. »Sie wollten mir schon gestern Bericht erstatten«, fuhr er Nogo an, ohne sich um Nahoot zu kümmern. »Haben Sie denn
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noch nichts von Ihrem Informanten in der Schlucht gehört?« »Verzeihen Sie bitte, daß ich Sie habe warten lassen, Herr von Schiller.« Der scharfe Ton hatte ihn irritiert und verunsi chert. Er fürchtete diesen Deutschen. »Die Frauen sind einen Tag später aus Harpers Camp zurückgekommen. Diese Dorf leute sind sehr unzuverlässig. Sie haben keinerlei Zeitgefühl.« »Ja, ja.« Schiller war ungeduldig. »Ich kenne die Schwächen Ihrer schwarzen Brüder, und ich darf wohl sagen, daß auch Sie nicht ganz frei davon sind, Nogo. Aber sagen Sie mir, welche Neuigkeiten Sie für mich haben.« »Harper hat die Arbeiten am Damm vor sieben Tagen abge schlossen. Dann hat er sofort sein flußabwärts gelegenes Camp bezogen, das er an einer neuen Stelle oberhalb der Schlucht eingerichtet hat. Anschließend hat er eine Art Bambusleiter bauen lassen, die entlang der Steilwand in die Schlucht hinun terführt. Mein Informant berichtet, daß sie jetzt damit beschäf tigt sind, ein Loch am Boden des leeren Beckens auszuräumen –« »Ein Loch? Was ist das für ein Loch?« Schiller wurde blaß, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Fühlen Sie sich ganz wohl, Herr von Schiller?« fragte Nogo besorgt. Der Deutsche sah sehr elend aus, als werde er jeden Augenblick zusammenbrechen. »Es geht mir glänzend«, schrie Schiller ihn an. »Was ist das für ein Loch? Beschreiben Sie es mir.« »Die Frau, die es mir gesagt hat, ist ein primitives Bauern mädchen.« Nogo wußte nicht recht, wie er auf die bohrenden Fragen Schillers reagieren sollte. »Sie sagt nur, als der Wasser stand im Fluß fiel, habe sich am Boden ein mit Steinen und Schutt gefülltes Loch gezeigt, das sie jetzt ausgeräumt hätten.« »Ein Tunnel!« Nahoot konnte sich nicht mehr beherrschen. »Es muß der Eingang zu einem Tunnel sein, der in die Grab kammer führt.«
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»Halten Sie den Mund!« fuhr ihn Schiller wütend an. »Es gibt keine Tatsachen, mit denen Sie Ihre Vermutungen belegen können. Lassen Sie Nogo seinen Bericht beenden.« Er wandte sich wieder an den Oberst. »Fahren Sie fort. Was hat die Frau noch gesagt?« »Die Frau sagt, am Ende dieses Loches sei eine Höhle wie ein in den Fels gehauener Schrein mit Bildern an den Wänden –« »Mit Bildern? Was sind das für Bilder?« »Die Frau sagt, es seien Bilder der Heiligen.« Nogo machte eine abwertende Handbewegung. »Es ist eine ganz ungebildete Frau. Dumm –« »Christliche Heilige?« wollte Schiller wissen. »Das ist nicht möglich, Herr von Schiller«, erwiderte Na hoot. »Ich sage Ihnen, daß Harper das Grabmal des Mamose entdeckt hat. Sie müssen sofort etwas unternehmen.« »Ich werde Sie nicht noch einmal warnen, Sie elender klei ner Kerl«, knurrte Schiller ihn an. »Halten Sie den Mund.« Er wandte sich erneut an Nogo. »Befindet sich in dieser Höhle sonst noch etwas? Sagen Sie mir alles, was diese Frau erzählt hat.« »Gemälde und Statuen der Heiligen.« Nogo hob die Hände. »Es tut mir leid, Herr von Schiller, aber das hat sie gesagt, ich weiß, es ist alles Unsinn, aber das hat mir die Frau gesagt.« »Ich werde selbst beurteilen, was Unsinn ist und was nicht«, sagte Schiller. »Hat die Frau gesagt, was mit den Heiligensta tuen geschehen ist?« »Harper hat sie in Kisten verpackt.« »Hat er sie aus der Höhle herausgebracht?« »Das weiß ich nicht, Herr von Schiller. Die Frau hat es nicht gesagt.« Schiller stieg von seinem Podest, ging von einem Ende des Raumes zum anderen und führte ein leises Selbstgespräch.
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»Herr von Schiller –«, sagte Nahoot, aber der Deutsche winkte ab. Schließlich blieb er vor Nogo stehen und starrte ihn an. »Hat man in dem Schrein eine Mumie, einen Toten, gefun den?« wollte er wissen. »Ich weiß es nicht, Herr von Schiller. Die Frau hat es nicht gesagt.« »Wo ist sie?« Schiller war so erregt, daß er Nogo an seiner Uniformjacke packte. Er stellte sich auf die Fußspitzen und sah ihm ins Gesicht. »Wo ist diese Frau? Haben Sie sie gehen las sen?« Winzige Speicheltröpfchen flogen Nogo ins Gesicht. Er schloß die Augen und versuchte sich abzuwenden, aber Schil ler ließ ihn nicht los. »Nein, Sir. Ich wollte sie nicht hereinbringen –« »Sie Narr. Sie erzählen mir nur, was Sie vom Hörensagen wissen. Lassen Sie die Frau sofort hereinholen. Ich werde sie selbst fragen.« Er schob Nogo beiseite und sagte: »Gehen Sie und holen Sie die Frau.« Nach ein paar Minuten erschien Nogo wieder und zerrte die Frau an einem Arm ins Zimmer. Sie war jung und sah trotz der blauen Tätowierung auf ihren Wangen sehr hübsch aus. Sie trug ein langes schwarzes Gewand und die Kopfbedeckung der Verheirateten. Auf der Hüfte hielt sie einen Säugling. Als Nogo sie losließ, sank sie zu Boden und wimmerte vor Angst. Auch das Kind fing an zu weinen, dessen Nase mit wei ßem Nasenschleim verklebt war. Die Frau griff mit zitternder Hand unter das Oberteil ihres Gewandes, holte eine pralle Brust heraus und steckte dem Kind die Brustwarze in den Mund. Das Kind und die Mutter starrten Schiller mit erschreck ten Augen an. »Fragen Sie, ob sie in dem Schrein einen Sarg oder die Mu mie eines Heiligen gesehen hat«, sagte Schiller und sah die Frau angewidert an.
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Nogo befragte sie eine Minute lang und schüttelte den Kopf. »Sie weiß nichts von einem Toten. Sie ist sehr töricht. Sie hat nicht begriffen, was wir von ihr wollen.« »Fragen Sie sie nach den Statuen der Heiligen. Was hat Har per mit ihnen getan? Wo sind sie jetzt? Hat er sie aus dem Ge wölbe herausgenommen?« Nachdem er längere Zeit mit der Frau gesprochen hatte, schüttelte Nogo wieder den Kopf. »Nein, Sie sagt, die Statuen befinden sich immer noch im Grabgewölbe. Der weiße Mann habe sie in Kisten verpackt, und sie würden von Soldaten bewacht.« »Soldaten? Was für Soldaten?« »Soldaten von Mek Nimmur. Das ist der Anführer dieser Räuberbande, von der ich Ihnen erzählt habe. Er ist noch bei Harper.« »Wie viele Kisten sind es?« In seiner Ungeduld trat Schiller neben die Frau und stieß ihr mit der Stiefelspitze in die Seite. »Wie viele Statuen sind es?« Die Frau schrie auf und rückte von ihm ab. Auch Schiller trat angeekelt zurück. »Gott im Himmel!« Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und betupfte sich Mund und Nase. »Sie stinkt wie ein Vieh. Fragen Sie, wie viele Kisten es sind.« »Nicht viele«, übersetzte Nogo, »vielleicht fünf, aber nicht mehr als zehn. Sie kann es nicht genau sagen.« »Wie groß sind die Kisten?« Die Frau zeigte auf ihren Arm und sagte: »Etwa so lang.« Schiller machte ein enttäuschtes Gesicht. »So wenige Stücke! Das hat nicht viel zu bedeuten.« Er wandte sich von der Frau ab, ging ans Fenster und schaute hin unter in die wildzerklüftete Schlucht. »Wenn dieses Wesen die Wahrheit sagt, dann hat Harper den Schatz des Mamose noch nicht gefunden. Das kann nicht alles sein. Da müßte es noch sehr viel mehr geben.« Nogo sprach noch einmal längere Zeit
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mit der Frau und sagte dann zu Schiller. »Sie sagt, jemand aus Harpers Gruppe habe das Camp in der Schlucht verlassen und sei nach Debra Maryam gegangen.« Schiller drehte sich erschreckt um und starrte ihn an. »Je mand aus seiner Gruppe? Wer ist das gewesen?« »Es ist eine äthiopische Frau. Die Konkubine von Mek Nimmur. Sie heißt angeblich Woizero Tessay. Ich kenne sie. Sie war mit dem russischen Jäger verheiratet, bevor sie Mek Nimmurs Hure wurde.« Schiller stürzte durch das Zimmer, faßte die Frau bei ihrem Gewand und zog sie so plötzlich auf die Füße, daß das Kind auf den Boden fiel und anfing zu weinen. »Fragen Sie, wo diese Frau jetzt ist«, sagte Schiller. Die Mutter riß sich von ihm los und versuchte, ihr Kind auf zuheben und zu trösten. Doch Nogo faßte sie am Arm, schlug ihr ins Gesicht und brüllte sie an, sie solle ihm zuhören. Sie drückte ihr Kind an die Brust und stammelte ein paar unver ständliche Worte. »Sie hat keine Ahnung«, mußte Nogo zugeben. »Sie glaubt, Tessay sei noch in Debra Maryam.« »Bringen Sie dieses dreckige Weibsbild hinaus!« Schiller hob den Kopf, schaute die Frau und das Kind an, und Nogo zerrte sie aus der Hütte. »Was wissen Sie noch über diese Frau von Mek Nimmur?« fragte er in einem etwas freundlicheren Ton, als Nogo zurück kam. »Sie stammt aus einer vornehmen Adelsfamilie in Adis Abe ba und ist eine Blutsverwandte von Ras Tafari Makonnen, dem alten Kaiser Haile Selassie.« »Wenn sie Mek Nimmurs Frau ist und aus Harpers Camp kommt, dann wird sie die Fragen beantworten können, auf die wir von dieser Frau keine Antwort bekommen konnten.« »Das ist richtig, Herr von Schiller. Aber sie wird uns viel
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leicht nichts sagen wollen.« »Ich will sie sehen. Bringen Sie sie her«, sagte Schiller. »Helm wird mit ihr sprechen, und ich bin überzeugt, er wird sie schon zur Vernunft bringen.« »Sie ist eine angesehene Persönlichkeit und gehört zu einer einflußreichen Familie.« Nogo dachte einen Augenblick nach. »Aber andererseits hat sie sich mit einem notorischen Banditen zusammengetan. Das ist Grund genug, sie herzubringen. Ich werde eine Abteilung meiner Männer unter der Führung eines zuverlässigen Offiziers beauftragen, sie festzunehmen.« Er zögerte. »Wenn wir die Frau einem strengen Verhör unterzie hen, dann wird es vielleicht besser sein, sie nicht zu ihren Freunden nach Adis Abeba zurückkehren zu lassen. Sie könn ten uns allen, und auch Ihnen, Herr von Schiller, erhebliche Schwierigkeiten bereiten.« »Was schlagen Sie vor?« wollte Schiller wissen. »Wenn sie Ihre Fragen beantwortet hat, müßte es zu einem kleinen Unfall kommen«, meinte Nogo. »Tun Sie, was Sie für notwendig halten«, sagte Schiller. »Ich werde Ihnen die Einzelheiten überlassen, aber sorgen Sie dafür, daß es in der richtigen Weise geschieht, wenn es notwendig werden sollte, die Frau loszuwerden. Ich habe schon genug Stümperei erleben müssen.« Dabei sah er Nahoot Guddabi an, der die Augen niederschlug und dem die Zornesröte ins Ge sicht stieg. Sie verbrachten fast zwei ganze Tage am Schrein des Osiris in dem langen Gang. Kein Andächtiger hatte in jenen längst vergangenen Tagen die Texte auf den Wänden so gründlich studiert wie Nicholas und Royan oder die in leuchtenden Far ben gemalten, bildlichen Darstellungen des großen Gottes auf merksamer betrachtet.
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Abwechselnd rezitierten sie laut die in Royans Notizbüchern aufgezeichneten Übersetzungen der Hieroglyphen auf der Stele des Tanus und wiederholten sie so lange, bis sie sie auswendig hersagen konnten. Während der eine die Zitate laut vorlas, konzentrierte sich der andere auf die Wände und versuchte, Zusammenhänge zwischen diesen Zitaten zu finden. »›Meine Liebe ist eine Flasche voll kühlen Wassers in der Wüste. Meine Liebe ist ein Banner, das sich im Winde entfaltet. Meine Liebe ist der erste Schrei des neugeborenen Kindes‹«, las Nicholas. Die vor dem Schrein sitzende Royan blickte zu ihm auf und lächelte. »Manchmal ist Taita wirklich ganz entzückend«, sagte sie, »ein richtiger Romantiker.« »Konzentrieren Sie sich, um Himmels willen. Hier geht es nicht darum, den ästhetischen Wert eines Gedichts zu beurtei len. Wir wollen uns ernsthaft um die Lösung wichtiger Pro bleme bemühen.« »Sie sind ein Barbar!« sagte sie leise, wandte sich dann aber wieder den Inschriften auf der Wand zu. »Versuchen wir es noch einmal mit folgendem«, sagte Ni cholas und las: »›Vier liegen im Tal der tausend Beziehungen, des Kindes zur Mutter, des Mannes zur Frau, des Freundes zum Freund, des Lehrers zum Schüler, des Geschlechts zum Geschlecht.‹« »Zum dritten Mal zitieren Sie heute morgen gerade diesen Text. Was gefällt Ihnen daran so besonders?« Sie schaute nicht zu ihm auf, aber er sah, daß sich ihr Nacken rötete. »Es tut mir leid. Ich dachte, Sie würden ihn für ebenso ro mantisch halten wie den vorigen«, murmelte er. »Versuchen wir es also mit einem anderen Zitat. ›Ich habe gelitten und ge liebt. Ich habe dem Wind und dem Sturm widerstanden. Der Pfeil hat mein Fleisch durchbohrt, hat mich aber nicht verletzt.
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Ich habe den falschen Pfad vermieden, der gerade vor mir liegt. Ich bin auf der verborgenen Leiter hinaufgestiegen zum Sitz der Götter.‹« Royan beugte sich ein wenig zurück und schaute den langen Gang hinunter. »Vielleicht ist es irgendwo dort, ›der falsche Pfad, der gerade vor mir liegt. Die verborgene Leiter‹?« »Wir übertreiben es ein wenig und schnappen wie hungrige Forellen nach Mücken.« Sie stand auf und wischte sich eine schweißnasse Strähne aus der Stirn. »Oh Nicky. Es ist so entmutigend. Wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen.« »Nur Mut, meine Liebe.« Er täuschte ihr fröhliche Zuver sicht vor, die er selbst nicht empfand. »Wir beginnen am An fang, wie es uns Ihr Freund Taita lehrt. Lassen Sie es mich noch einmal versuchen.« Er legte die Hand auf das Herz wie ein viktorianischer Schauspieler und deklamierte: »›Der Geier erhebt sich auf mächtigen Schwingen, die Sonne zu begrüßen‹ –« Sie mußte über dieses Possenspiel lachen, aber als sie über seine Schulter auf die Wand schaute, fuhr sie zusammen. »Der Geier!« rief sie und zeigte in die Richtung. Er drehte sich um und sah sofort, was sie meinte. Es war der Geier, ein großartiges Bild dieses prächtigen Vo gels mit durchdringenden Augen und dem gebogenen, spitzen gelben Schnabel. Er hatte die Schwingen ausgebreitet, und jede Feder leuchtete in den schönsten Farben. Er war so groß wie Nicholas, aber die Schwingen waren über die halbe Wand aus gebreitet. Wie verzaubert sahen sie beide auf das Bild, doch dann richtete Royan ihren Blick auf die Decke über ihnen. Sie berührte seinen Arm und deutete hinauf. »Die Sonne!« flüsterte sie. In die Mitte der hohen Wölbung über ihnen hatte der Künstler die goldene Sonnenscheibe des Ra gemalt. Mit ihrem warmen Licht schien sie alle Schatten zu
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vertreiben. Ihre Strahlen breiteten sich nach allen Seiten aus, aber einer von ihnen folgte der Rundung der Wand, umfing den Geier und hüllte ihn in das lebenspendende Licht. »›Der Geier erhebt sich, die Sonne zu begrüßen‹,« sagte sie. »Meint Taita das wörtlich?« Er trat näher an das Wandgemälde heran und untersuchte es genau. Er strich mit den Händen über die Schwingen und den Bauch hinunter bis zu den gekrümmten Fängen, doch die Ober fläche der Wand unter der Farbe war glatt. Nichts ragte heraus, keine rauhe Stelle. »Der Kopf, Nicky. Schauen Sie sich den Kopf des Vogels an!« Sie sprang auf und versuchte, ihn zu erreichen, aber sie war nicht groß genug. »Tun Sie es«, sagte sie ungeduldig. »Sie sind größer als ich.« Erst jetzt sah er auf der einen Seite des vom Scheinwerfer beleuchteten Kopfes einen schmalen Schatten, und als er ihn berührte, stellte er fest, daß er als Relief aus der Wand heraus ragte. Er strich mit den Fingern über den ganzen Kopf und fühlte, daß auch der Schnabel Teil des Reliefs war. »Können Sie in der Wand eine Fuge feststellen?« wollte Royan wissen. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist absolut glatt. Alles scheint Teil der Wand zu sein.« »›Der Geier steigt auf, die Sonne zu begrüßen‹.« Sie ließ, sich von ihrem Gedanken nicht abbringen. »Können Sie irgend etwas Bewegliches entdecken? Versuchen Sie den Kopf in Richtung auf die gemalte Sonne nach oben zu drücken.« Er legte den Handballen unter die Rundung des Kopfes und drückte nach oben. »Nichts!« brummte er. »Der Geier ist dort schon seit fast viertausend Jahren.« Un geduldig hüpfte sie auf und ab. »Verdammt, Nicky, jedes ur sprünglich bewegliche Teil wird im Lauf der Jahrtausende festgebacken sein. Drücken Sie stärker auf den Kopf!«
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Er stellte sich senkrecht unter den Geierkopf und legte beide Hände darunter. Dann versuchte er einmal mit aller Kraft, ihn zu bewegen. »Stärker!« forderte sie ihn auf, aber schließlich ließ er die Arme sinken und trat zurück. »Nein«, sagte er mit vor Anstrengung rauher Stimme. »Es ist fest und rührt sich nicht.« »Heben Sie mich hoch. Ich werde nachsehen.« »Mit dem größten Vergnügen. Jeder Anlaß ist mir recht, der es mir erlaubt, Sie mit meinen unzüchtigen Händen zu berüh ren.« Er trat hinter sie, legte ihr beide Arme um die Taille und hob sie in die Höhe, bis sie an den Kopf des Geiers greifen konnte. Schnell tastete sie alles mit den Fingerspitzen ab und ließ dann einen kleinen Triumphschrei hören. »Nicky! Sie haben etwas in Bewegung gesetzt. Die Farbe um den ganzen Kopf herum ist gerissen. Ich kann es fühlen. Heben Sie mich etwas höher!« Es fiel ihm nicht ganz leicht, sie noch dreißig Zentimeter höher zu heben, aber dann rief sie: »Tat sächlich! Irgend etwas hat sich bewegt. Auch über dem Kopf fühle ich einen feinen Riß in der Wand. Sie müssen sich das ansehen!« Er holte von draußen eine leere Munitionskiste und stellte sie unter das Bild des Geiers. Auf der Kiste stehend, konnte er dem Geier in die Augen sehen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er nahm sein Ta schenmesser aus der Hosentasche, klappte es auf und kratzte vorsichtig um den ganzen Geierkopf herum. Winzige Färb- und Tonsplitter lösten sich und fielen heraus. »Es sieht wirklich so aus, als sei der Kopf zuletzt in die Wand eingefügt worden«, gab er zu. »Sehen Sie, ob Sie darüber an der Wand noch etwas finden können. Dort, entlang des Sonnenstrahls. Können Sie den ver tikal verlaufenden Riß erkennen?«
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»Sie haben tatsächlich recht«, sagte er. »Aber wenn ich ver suche, diesen Riß zu erweitern, werde ich das Wandgemälde beschädigen. Soll ich das tun?« Sie zögerte einen Augenblick. »Diese Grabkammer wird bei Hochwasser überschwemmt werden und deshalb werden wir sie ohnedies verlieren. Wir müssen es riskieren. Tun Sie es, Nicky!« Er steckte die Messerspitze in den feinen Spalt und bewegte sie vorsichtig hin und her. Ein handflächengroßes Stück brach aus der Wand und fiel auf die staubbedeckten Achatfliesen. Er schaute in die Öffnung, die entstanden war. »Es sieht aus wie eine Art Rinne oder Furche in der Wand«, sagte er. »Ich werde sie in ihrer ganzen Länge auskratzen.« Vorsichtig holte er Staub und Mörtel aus der Rinne, und Roy an, die darunterstand, mußte niesen, wich aber keinen Schritt zurück. »Ja«, sagte er schließlich. »Das ist eine senkrecht nach oben verlaufende Rinne.« »Kratzen Sie auch den Mörtel aus dem Spalt um den Kopf des Geiers«, verlangte sie. Er wischte die Klinge seines Mes sers am Hosenbein ab und arbeitete weiter. »Die Rinne ist frei«, sagte er schließlich. »Es hat den An schein, als ließe sich der Kopf durch diese Rinne nach oben bewegen. Ich werde es jedenfalls versuchen. Treten Sie ein paar Schritte zurück und machen Sie mir Platz zum Arbeiten.« Er drückte mit beiden Händen den Kopf des Geiers nach oben. Royan hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und machte ein Gesicht, als sei sie es, die sich abmühte. Mit einem leicht knirschenden Geräusch begann sich der Kopf in der Rinne ruckweise nach oben zu bewegen. Als er am oberen Ende der Öffnung angekommen war, sprang Nicholas von der Munitionskiste herunter. Beide starrten gespannt auf den verunstalteten Kopf des Geiers, von dem ein Teil der Mör
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telschicht abgeplatzt war. Nachdem sie lange atemlos gewartet hatten, flüsterte Royan enttäuscht: »Nichts! Es hat sich nichts geändert.« »Vergessen Sie nicht den Rest des Zitats auf der Stele«, er innerte er sie. »Da war nicht nur vom Geier und der Sonne die Rede.« »Sie haben recht.« Sie sah sich die Wand noch einmal ge nauer an. »›Der Schakal heult und dreht sich nach seinem Schwanz um‹.« Sie deutete erregt auf die kleine, fast unscheinbar wirkende Gestalt des schakalköpfigen Anubis, des Gottes der Gräber und der Toten, auf der Wand gegenüber dem Geier, dessen Kopf sie verstümmelt hatten. Er stand am Fuß des alles überragenden Osiris und war nur wenig größer als der mit Ringen und Juwe len verzierte große Zeh des Gatten der Isis und Vaters von Ho rus. Royan lief zu der Wand hinüber, und im gleichen Augen blick, als sie das Bild des Anubis berührte, hatte sie das Gefühl, daß es ebenfalls nach oben strebte. Sie warf sich mit aller Kraft gegen das winzige Abbild des Gottes und versuchte, es nach links oder rechts zu verschieben. »›Der Schakal wendet sich nach seinem Schwanz um‹,« keuchte sie. »Er muß sich umdrehen!« »Schon gut«, sagte er, »ich werde es versuchen.« Nicholas schob sie sanft zur Seite und kniete sich vor das Bild des Got tes mit dem schwarzen Kopf. Auch hier kratzte er mit dem Ta schenmesser den Mörtel und die dicke Farbschicht rings um die Figur ab. »Es sieht so aus, als sei diese Figur aus hartem Holz ge schnitzt und dann mit einer Schicht Mörtel überzogen wor den«, sagte er und tastete das Götterbild mit der Klingenspitze seines Taschenmessers ab. Als er den Mörtel rings um das Bild entfernt hatte, versuchte
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er, es im Uhrzeigersinn zu drehen, aber es gelang ihm nicht. »Nein!« sagte er und gab den Versuch auf. »Im alten Ägypten gab es noch keine Uhren mit Zifferblät tern«, sagte sie erregt. »Drehen Sie es linksherum.« Als er versuchte, es gegen den Uhrzeigersinn zu drehen, war hinter der Wand ein kratzendes, knirschendes Geräusch zu hö ren. Die winzige Gestalt drehte sich langsam nach links, bis der schwarze Kopf nach unten auf die gelben Fliesen zeigte. Sie traten beide ein Stück von der Wand zurück und warteten gespannt darauf, daß irgend etwas geschehen würde, aber nach einiger Zeit gab sich sogar Nicholas geschlagen und sagte ent mutigt: »Ich weiß nicht, was ich erwarte, aber was es auch ist, es geschieht nicht.« »Wir sollten aber auch den letzten Teil des Zitats berück sichtigen«, flüsterte Royan. »›Der Fluß fließt zur Erde. Nehmt euch in acht, die ihr die heiligen Stätten entweiht, daß der Zorn aller Götter nicht über euch komme!‹« »Der Fluß?« fragte Nicholas. »Sapper würde vielleicht sagen, ich sehe keinen untergehenden Fluß.« Dabei imitierte Nicholas den Cockney-Akzent von Sapper. Aber selbst damit konnte er Royan kein Lächeln entlocken. Statt dessen suchte sie in der Vielzahl der Texte und Bilder an den Wänden nach einem Hinweis, der ihnen weiterhelfen könnte. Dann fand sie ihn. »Hapi!« rief sie erregt. »Der Gott des Nil! Der Fluß!« Hoch oben an der Wand in gleicher Höhe wie der Kopf des großen Gottes Osiris schaute der Gott des Flusses auf sie her unter. Hapi war ein Hermaphrodit mit den Brüsten einer Frau und den Genitalien eines Mannes unter seinem Hängebauch. Er hatte den Kopf eines Flußpferdes mit weitgeöffnetem Maul und großen gebogenen Stoßzähnen. Nicholas hatte sich auf einen Stapel von Munitionskisten ge stellt und konnte so das Bild des Hapi mit ausgestreckten Ar
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men erreichen. Als er es berührte, rief er: »Auch dieses Götter bild hat sich nach oben verschoben.« »›Der Fluß fließt zur Erde hinab‹«, rief sie ihm zu. »Der Flußgott muß sich nach unten verschieben lassen. Versuchen Sie es, Nicky.« »Lassen Sie mich zuerst die Ränder auskratzen.« Mit der Spitze seines Taschenmessers entfernte er den Mörtel am Rande des Götterbildes und fand dabei einen senkrecht nach unten führenden Spalt im Verputz. »Jetzt können wir es versuchen.« Er klappte das Messer zu und steckte es in die Tasche. »Halten Sie den Atem an und sprechen Sie ein kleines Gebet für mich«, sagte er. Er legte beide Hände auf das Götterbild und fing an, es nach unten zu ziehen. Allmählich verstärkte er den Druck und häng te sich schließlich mit seinem ganzen Gewicht daran, aber nichts rührte sich. »Es geht nicht«, brummte er. »Warten Sie!« rief sie, »ich komme hinauf.« Sie kletterte auf die Kisten, legte ihm beide Arme um den Hals und rief: »Halten Sie fest!« »Ich denke, das könnte helfen«, sagte er, als sie sich mit ih rem ganzen Gewicht auf seine Schultern stützte. »Es bewegt sich!« rief er. Das Götterbild des Hapi gab unter seinen Händen nach und rutschte mit einem laut knarrenden Geräusch hinunter bis zum Ende des Spalts in der Wand. Nicholas rutschte von den glatten, abgerundeten Rändern ab, als das Götterbild hart auf dem unteren Ende des Spalts auf stieß. Die aufeinandergestellten Kisten kamen ins Wanken, und Nicholas und Royan fielen auf den Boden. Sie hatte immer noch die Arme um seinen Hals geschlungen, und er verlor das Gleichgewicht, als sie ihn nach rückwärts zog. Nun lagen sie beide mit verschränkten Armen und Beinen auf den Achat fliesen. Nicholas rappelte sich auf und half ihr, aufzustehen.
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»Was ist passiert?« keuchte sie, schaute hinauf zu dem be schädigten Götterbild und sah sich dann die Wände der Galerie an. »Nichts«, sagte er. »Es hat sich nichts gerührt.« »Vielleicht gibt es noch etwas anderes –«, erwiderte sie, un terbrach sich aber, da sie ein Geräusch in der gewölbten Decke über ihnen gehört hatte. Beide starrten ängstlich nach oben, denn es hörte sich an, als bewege sich dort ein schwerfälliges Ungetüm. »Was ist das?« flüsterte Royan. »Es klingt so, als sei es ein lebendiges Wesen.« Ein Riese war nach Jahrtausenden aus dem Schlaf erwacht und streckte nun die Glieder. »Ist es –?« Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Sie hatte die Vorstellung, daß der große Gott selbst in einer Felsenhöhle erwacht war, seine finster blickenden, geschlitzten Augen öff nete, sich gestützt auf einen Ellbogen aufrichtete, um zu sehen, wer ihn aus seinem ewigen Schlummer aufgestört hatte. Nun hörten sie ein neues Geräusch, ein Krachen und Rum peln, als bewege sich eine riesige Waagschale über ihnen, weil das Gleichgewicht der Waage gestört worden war. Das Kra chen wurde lauter, während sich die Bewegung beschleunigte wie beim Abgang einer Lawine in den Bergen. Dann ertönte ein Knall wie ein Kanonenschuß. In der Decke über ihnen öffnete sich auf der ganzen Länge der Galerie ein Spalt. Aus dem Spalt quoll eine Staubwolke, und dann begann die Decke sich langsam wie in einem Alp traum auf sie herabzusenken. Wie gelähmt konnten sie sich nicht von dem Anblick der langsam und unerbittlich auf sie heruntersinkenden Decke losreißen. Dann wurde Nicholas von einem herabfallenden großen Stück Mörtel an der Wange ge troffen, das ihm die Haut aufriß und ihn rückwärts an die Wand taumeln ließ. Der Schock und der Schmerz weckten ihn aus
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seiner Erstarrung. »Die Warnung!« rief er. »Taitas Warnung. Der Zorn der Götter.« Er griff Royan bei der Hand. »Lauf!« Er zog sie hinter sich her. »Taita hat hier eine versteckte Falle eingebaut!« Sie liefen, so schnell sie konnten, den Gang hinunter zu der Öffnung in der Eingangstür. Steine und Mörtel regneten auf sie herab, und sie konnten in den dichten Staubwolken kaum etwas erkennen. Das dumpfe Krachen über ihnen wurde immer lau ter, während die Decke hinter ihnen herabstürzte. Sie wagten es nicht mehr, sich umzusehen, als das Geräusch der einstürzen den Wände immer näher kam und drohte, sie zu überholen, bevor sie den Ausgang erreicht hatten. Ein scharfkantiger, kopfgroßer Stein traf Royan an der Schulter, und sie knickte in den Knien ein. Sie wäre zu Boden gestürzt, wenn er sie nicht mit einem Arm umfaßt und weiter gezogen hätte. Der Staub war so dicht, daß sie die quadratische Öffnung am Ausgang, ihre einzige Fluchtmöglichkeit, kaum erkennen konnten. »Weiter!« schrie er sie an. »Wir sind fast da.« Im gleichen Augenblick brach ein großes Stück Felsen der Wand heraus und fiel auf das Stativ mit dem Scheinwerfer. Es wurde stock dunkel, und ohne etwas sehen zu können, versuchte Nicholas zunächst, sich an der Wand entlangtastend zu orientieren. Aber immer mehr Trümmer prasselten von oben auf sie herunter, und er wußte, daß das Dach schon in wenigen Sekunden herab stürzen und sie unter sich begraben konnte. Deshalb lief er ein fach weiter und zog Royan hinter sich her und stieß unvermit telt auf das Ende des Ganges. Erschöpft und außer Atem blieb er stehen, denn nun konnte er durch die Staubwolke die recht eckige Öffnung vor sich erkennen, die von den Lampen auf der Plattform über der Treppe von außen erleuchtet wurde. Er faßte Royan um die Taille, hob sie hoch, schob sie durch die Öffnung und hörte sie aufschreien, als sie auf der anderen
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Seite zu Boden stürzte. Ein Felsbrocken traf ihn am Hinterkopf und warf ihn auf die Knie. Er hatte Angst, im nächsten Augen blick das Bewußtsein zu verlieren, kroch aber weiter und griff verzweifelt nach dem Rand der Öffnung. So gelang es ihm, sich durch die Öffnung zu zwängen, und im gleichen Augen blick stürzte die Decke über der gesamten Länge des Ganges herunter. Auf der Plattform über der letzten Treppenstufe lag Royan auf den Knien. Als sie ihn im Licht der Lampen herauskom men sah, kroch sie auf ihn zu und fragte besorgt: »Haben Sie alles gut überstanden?« Aus einer Wunde am Haaransatz lief ein dünnes dunkles Rinnsal über ihre Wange. Er beantwortete ihre Frage nicht, sondern stand mühsam auf und half auch ihr auf die Füße. »Hier können wir nicht blei ben«, krächzte er. Aus der Türöffnung quoll eine dicke, weiße Staubwolke, die ihnen den Atem nahm und das Scheinwerfer licht dämpfte. »Wir sind noch nicht sicher.« Er zog sie von der Öffnung fort. »Das Ganze hier könnte einstürzen«, sagte er mit rauher Stimme. Gemeinsam kletterten sie die Treppe hinunter, wobei sie Mühe hatten, auf den unteren, algenüberwachsenen Stufen nicht auszurutschen. In der Staubwolke vor ihnen tauchte plötzlich die kräftige, breitschultrige Gestalt von Sapper auf. »Was, zum Teufel, ist hier los?« brüllte er erleichtert, als er sie sah. »Kommen Sie und helfen Sie uns«, rief Nicholas. Sapper nahm Royan auf die Arme, gemeinsam liefen sie durch den Tunnel zurück und blieben erst stehen, um Atem zu schöpfen, als sie an dem Steg angekommen waren.
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Das Postamt im Dorf Debra Maryam war ein kleines Gebäu de an einer staubigen Straße hinter der Kirche. Seine Wände bestanden aus unverputzten rohen Lehmziegeln, und das Dach aus verzinktem Eisenblech glänzte wie ein Spiegel in der hel len Sonne. Das Telefon in der Zelle vor dem Postamt war schon lange verschwunden – gestohlen, mutwillig zerstört oder wahrscheinlich sogar vom Militär entfernt, um zu verhindern, daß es von politischen Gegnern und Rebellen benutzt wurde. Tessay hatte damit gerechnet und schaute nur im Vorüberge hen kurz hinein, bevor sie den kleinen Raum betrat, in dem die Post abgefertigt wurde. Hier drängten sich Bauern und Dorf bewohner in einer langen Reihe vor dem einzigen Schalter, um sich von dem Posthalter abfertigen zu lassen. Einige von ihnen hatten sich auf den Boden auf ihre ausgebreiteten Umhänge niedergelassen und vertrieben sich die lange Wartezeit schwat zend und rauchend, während ihre Kinder um sie herumtollten und -krabbelten. Die meisten der geduldig wartenden Menschen erkannten Tessay sofort, als sie den Raum betrat. Sogar diejenigen, die schon fast den ganzen Vormittag gewartet hatten, begrüßten sie ehrfürchtig und rückten zur Seite, um ihr den Vortritt am An fang der Reihe einzuräumen. Obwohl der Sozialismus in Afri ka seit zwei Jahrzehnten zahlreiche Anhänger gefunden hatte, war der Einfluß der feudalen Traditionen bei der ländlichen Bevölkerung immer noch sehr stark. Tessay stammte aus einer adeligen Familie, und daher gebührte ihr dieser Vorzug. »Vielen Dank, liebe Freunde«, lächelte sie und schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr freundlich, aber ich werde warten, bis ich an der Reihe bin.« Die Leute wollten diese Weigerung nicht akzeptieren, und als der alte Posthalter sich vorbeugte und die Aufforderung der anderen wiederholte, faßte eine der älteren Frauen Tessay am Arm und zog sie nach vorn.
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»Der Segen Jesu und aller Heiligen sei mit Ihnen, Woizero Tessay«, sagte der Posthalter und verneigte sich mit zusam mengelegten Händen ehrfürchtig vor ihr. »Seien Sie willkom men in Debra Maryam. Womit darf ich der gnädigen Frau die nen?« Die Menschen drängten sich heran, um zu erfahren, was Tessay verlangen würde. »Ich wollte ein Telefongespräch nach Adis anmelden«, sagte sie zu dem Posthalter. Die Leute reagierten mit zustimmendem Gemurmel, denn das war eine ungewöhnliche, aber wichtige Angelegenheit. »Ich werde Sie zur Telefon Vermittlung begleiten«, antwor tete der Posthalter und setzte seine blaue Dienstmütze auf. Er kam in den Warteraum heraus, schob die ihm im Weg stehen den Menschen beiseite und machte ihr Platz. Dann führte er sie in die Telefonvermittlung im hinteren Teil des Gebäudes, einen engen, quadratischen Raum. Auch hierher waren Tessay und dem Posthalter viele Neu gierige gefolgt. Der Mann an der Vermittlung fühlte sich hoch geehrt, der schönen Tessay behilflich sein zu dürfen, und gab seinen Auftrag an die Zentralvermittlung in einem Befehlston weiter wie ein Feldwebel. »Sofort!« strahlte er Tessay an. »Nur noch einen Augen blick. Dann sprechen Sie mit Britischer Botschaft in Adis.« Tessay, die wußte, was ein Augenblick bedeuten konnte, zog sich auf die Veranda des Postamts zurück und schickte einen der sie begleitenden Mönche in den Ort, um etwas zu essen und zu trinken zu besorgen. Und damit feierte sie mit den Mönchen und der Hälfte der Bevölkerung von Debra Maryam ein fröhli ches Picknick und überbrückte die Zeit, bis die Verbindung zur Hauptstadt über ein halbes Dutzend antiquierter Vermittlungen in den dazwischenliegenden Dörfern hergestellt war. Der Schnaps und das gute Essen sorgten für eine hervorragende
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Stimmung aller Beteiligten. Nach einer Stunde kam endlich der Posthalter heraus und meldete stolz, daß ihr Gesprächspartner am Apparat in der Telefonvermittlung auf sie wartete. Tessay, die Mönche und fünfzig Dorfleute folgten dem Post halter in die Vermittlung und drängten sich schwatzend in den engen Raum. Wer nicht mehr hineinkam, wartete in der Schal terhalle davor. »Hier spricht Geoffrey Tennant.« Der typische Akzent des gebildeten Engländers klang blechern, war aber trotz der Ne bengeräusche und der weiten Entfernung noch deutlich zu ver stehen. »Mr. Tennant, hier ist Woizero Tessay.« »Ich habe Ihren Anruf erwartet.« Geoffreys Stimme wurde hörbar sanfter, als er feststellte, daß er mit einer schönen jun gen Frau sprach. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?« Tessay richtete ihm die Wünsche von Nicholas aus. »Sagen Sie Nicky, es ist schon so gut wie geschehen«, erwi derte Geoffrey und hängte den Hörer auf. Tessay wandte sich an den Posthalter und sagte: »Und jetzt möchte ich noch ein zweites Gespräch nach Adis anmelden – zur Ägyptischen Botschaft.« Ihre Zuhörer waren begeistert zu hören, daß das Vergnügen für diesen Tag noch nicht beendet war. Alles kam hinaus auf die Veranda, um weiterzutrinken und sich zu unterhalten. Diesmal dauerte es noch länger, bis die Verbindung herge stellt war, und erst nach fünf Uhr konnte Tessay mit dem Kul turattaché an der Ägyptischen Botschaft sprechen. Hätte sie ihn nicht schon auf einer der in Diplomatenkreisen häufigen Cock tailpartys in Adis Abeba kennengelernt, wo sie einen nachhal tigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, dann hätte er ihren Anruf jetzt wahrscheinlich nicht angenommen. »Sie haben Glück, mich so spät noch zu erreichen«, sagte er. »Gewöhnlich ist bei uns schon um vier Uhr dreißig Dienst
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schluß, aber gegenwärtig findet eine Konferenz der Organisati on für afrikanische Einheit statt, und ich bin länger in meinem Büro. Was also kann ich für Sie tun, Woizero Tessay?« Als sie ihm Namen und Rang der Person nannte, der im Na men von Royan etwas ausgerichtet werden sollte, änderte sich sofort sein hochmütiger, herablassender Ton, er wurde über schwenglich höflich und versprach, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Er notierte alles, bat sie, die Namen der Menschen und Orte zu wiederholen und zu buchstabieren, und las ihr schließlich das Ganze vor, um sich die Richtigkeit bestätigen zu lassen. Am Ende des langen Gesprächs sprach er ihr sein Beileid aus und sagte: »Es hat mich zutiefst bewegt, von dem Verlust zu hören, der Sie kürzlich getroffen hat. Oberst Brusilow war ein von mir hochgeschätzter Mann. Vielleicht werden Sie mir, wenn Sie das nächste Mal nach Adis Abeba kommen, die Ehre geben, einmal mit mir zu Abend zu essen.« »Das ist sehr freundlich und verständnisvoll von Ihnen«, sagte Tessay in bemüht herzlichem Ton. »Es würde mich sehr freuen, Ihre charmante Frau wiederzusehen.« Sie legte den Hörer auf, während er noch irgendwelche Entschuldigungen stammelte. Inzwischen ging die Sonne schon hinter den hohen Kumu luswolken unter, und die Luft roch nach Regen. Es war zu spät, um noch am gleichen Abend in die Schlucht hinunterzusteigen, und deshalb war Tessay erleichtert, als der Bürgermeister von Debra Maryam eine seiner jungen Töchter schickte und sie einladen ließ, die Nacht als Gast in seinem Hause zuzubringen. Das Haus des Bürgermeisters war eines der schönsten im Dorf, keine runde Lehmhütte, sondern ein rechteckiges, aus Lehm ziegeln errichtetes Gebäude mit einem Dach aus verzinktem Eisenblech. Seine Frau und die Töchter hatten zu Tessays Eh ren ein Festmahl zubereitet und alle Honoratioren des Dorfes,
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darunter auch die Priester der Kirche, dazu eingeladen. Deshalb konnte sich Tessay auch erst nach Mitternacht in das elterliche Schlafzimmer zurückziehen, das der Bürgermeister und seine Frau für sie geräumt hatten. Kurz bevor sie einschlief, hörte sie, wie die schweren Regen tropfen auf das Blechdach über ihr prasselten. Es war ein beru higendes Geräusch, doch sie dachte an den Damm und hoffte, daß dieser Regenschauer nur ein Vorläufer und noch nicht der wirkliche Beginn der Regenzeit war. Als sie aufwachte, hatte es aufgehört zu regnen. Durch die klaren Fensterscheiben sah sie hinaus in die mondlose Nacht. Außer dem Heulen eines Straßenköters unten im Dorf war alles still. Sie fragte sich, wovon sie aufgeweckt worden war, und plötzlich hatte sie das beunruhigende Gefühl, daß ihr irgendein Unheil drohte. Es erinnerte sie an die Regierungszeit von Men gistu, als man bei jedem nächtlichen Geräusch befürchten muß te, von der Sicherheitspolizei überrascht zu werden. Dieses Gefühl war so stark, daß sie nicht wieder einschlafen konnte. So stand sie leise auf und fing an, sich im Dunkeln anzuziehen. Sie beschloß, die Mönche zu wecken und sich mit ihnen im Dunkeln auf den Weg in die Schlucht zu machen. Erst an der Seite von Mek Nimmur würde sie sich wieder sicherfühlen. Sie hatte gerade ihre Reithosen angezogen und suchte unter dem Bett nach den Sandalen, als sie in der Ferne das Motoren geräusch eines Lastwagens hörte. Sie öffnete das Fenster und lauschte. Nach dem Regen hatte sich die Luft abgekühlt, sie spürte die Kälte auf ihren nackten Armen und der Brust. Es hörte sich so an, als käme der Lastwagen von Süden her auf dem Weg am Flußufer entlang zum Dorf. Er näherte sich sehr schnell, und das beunruhigte sie. Die Dorfleute hatten mit den Mönchen gesprochen, und jeder wußte, daß sie Mek Nim murs Geliebte war und Mek wurde von den Behörden gesucht. Plötzlich fühlte sie sich sehr allein und verlassen.
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In aller Eile zog sie sich den wollenen Umhang über den Kopf und schlüpfte in die Sandalen. Sie schlich aus dem Zim mer und hörte den Bürgermeister in dem Raum schnarchen, wo er und seine Frau für diese Nacht schliefen. Durch einen schmalen Gang ging sie in die Küche. Das Herdfeuer war he runtergebrannt, aber sie konnte die schlafenden Mönche auf dem Lehmfußboden erkennen. Sie hatten sich ihre Umhänge über die Köpfe gezogen und lagen vollständig zugedeckt da wie Leichen auf einem Seziertisch. Sie kniete sich neben dem ersten auf den Boden und versuchte ihn wachzurütteln, aber offenbar hatte er beim Essen reichlich Schnaps getrunken und ließ sich daher nicht so leicht wecken. Inzwischen war das Motorengeräusch des Lastwagens sehr viel lauter geworden, und ihre Befürchtungen wurden fast zur Panik. Es war ihr klar, daß ihr die Mönche im Notfall nicht helfen könnten. Deshalb stand sie auf und tastete sich zur Hin tertür. Jetzt war der Lastwagen vor dem Haus angekommen. Die Scheinwerfer leuchteten im Vorbeifahren kurz in die Fenster an der Vorderseite des Hauses und auf den Flur. Das Motorenge räusch wurde zu einem leisen Brummen, als der Fahrer den Fuß vom Gashebel nahm, und sie hörte das Quietschen der Bremsen und das Knirschen der Reifen auf dem Kiesweg. Dann hörte sie Stimmengewirr und lautes Getrappel, als meh rere Männer aus dem vor dem Haus abgestellten Lastwagen sprangen. Tessay, die in der Küche stand, erstarrte und neigte den Kopf vor, um genau zu hören, was draußen vorging. Plötzlich pochte es laut an die Haustür, und sie hörte ernüchternd vertraute Ru fe: »Aufmachen! Geheimer Nachrichtendienst! Öffnen Sie die Tür! Niemand verläßt das Haus!« Tessay lief zur Hintertür, stolperte in der Dunkelheit aber über einen niedrigen Tisch, auf dem das ungewaschene Ge
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schirr vom Abendessen stand. Sie fiel hin, und die Schüsseln und Flaschen polterten auf den Fußboden und zerbrachen. Die Männer vor dem Haus stemmten die Schultern gegen die Haus tür und hoben sie aus den Angeln. Laut schreiend stürmten sie ins Haus, zerschlugen die Möbel und durchsuchten mit ihren elektrischen Lampen die vorderen Zimmer. Auch der Bürger meister und seine Familie waren aus dem Schlaf gerissen wor den, und man hörte schwere Schläge mit Knüppeln und Ge wehrkolben, gefolgt von lauten Angst- und Schmerzensschreien. Tessay huschte zur Hintertür und bemühte sich zunächst vergeblich, sie aufzuschließen. Sie hörte, wie andere Männer durch den Garten zur Rückseite des Hauses liefen. Endlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. In der Dunkelheit wußte sie nicht, wohin sie sich wenden sollte, doch sie hörte ganz in der Nähe das Rauschen des Flusses. Wenn ich nur das Ufer erreichen könnte, dachte sie und lief in diese Richtung. Auf dem Weg dorthin wurde sie plötzlich vom hellen Licht einer Stablaterne geblendet, und eine rauhe Stimme brüllte: »Da ist sie!« Jetzt wußte sie, daß man es auf sie abgesehen hatte, und lief wie ein aufgeschreckter Hase vor einer Hundemeute davon. Als sie ans Flußufer kam, lief sie nach rechts stromabwärts weiter. Hinter ihr wurde eine Pistole abgefeuert, und die Kugel ging unmittelbar an ihrem Kopf vorbei. »Nicht schießen, ihr Affen!« brüllte jemand in scharfern Ton. »Wir wollen sie noch verhören.« Im Licht der Stablampe flatterte ihr weißer Umhang wie die Flügel einer Motte im Kerzenlicht. »Haltet sie fest!« rief der Offizier hinter ihr. »Laßt sie nicht entkommen.« Aber flink wie eine Gazelle sprang sie in den leichten Sanda len über den unebenen Boden, während die Soldaten mit ihrer
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schweren Ausrüstung hinter ihr herstolperten. Sie war erleich tert, als sie feststellte, daß ihre Verfolger das Tempo nicht mit halten konnten und zurückblieben. Das Getrappel der Männer wurde immer leiser, und auch das Licht ihrer Stablampe konnte sie nicht mehr erreichen, als sie plötzlich in einen rostigen Stacheldrahtzaun hineinlief. Sie ver fing sich in den übereinandergespannten Drähten. Der oberste Draht drückte ihr die Luft aus den Lungen, und die spitzen Sta cheln drangen durch ihre Kleidung bis ins Fleisch. Wie ein Fisch, der sich in einem Netz verhangen hat, blieb sie hilflos hängen. Grobe Hände griffen nach ihr und rissen sie los. Die scharfen Drahtzinken rissen ihr die Haut auf, und sie wimmerte vor Schmerzen. Einer der Soldaten erfaßte sie am Handgelenk, drehte den Arm zurück zwischen die Schulterblätter und lachte höhnisch, als sie vor Schmerzen aufschrie. Nun kam auch der Offizier keuchend heran. Es war ein be leibter Mann, der selbst in der kalten Nachtluft schwitzte wie ein Ringkämpfer. Seine schweißnassen dicken Wangen glänz ten im Licht der Stablaterne. »Tun Sie ihr nicht weh, Sie Dummkopf«, keuchte er. »Sie hat nichts verbrochen. Sie ist eine vornehme Dame. Bringen Sie sie zum Lastwagen, aber behandeln Sie sie anständig.« Zwei Männer nahmen sie in die Mitte und führten sie zum Lastwagen. Dabei hielten sie Tessay so fest, daß ihre Füße kaum den Boden beruhten. Dann halfen sie ihr ins Fahrerhaus auf den Sitz neben den uniformierten Fahrer. Der dicke Offi zier zwängte sich noch neben sie, so daß sie sich, fest zwischen den beiden Männern eingeklemmt, kaum rühren konnte. Die Soldaten kletterten auf die Ladefläche des Lastwagens, und der Fahrer ließ, nachdem er den Motor gestartet hatte, die Kupp lung kommen. Tessay schluchzte leise, und der Offizier schaute sie von der Seite an. In dem von der Straße reflektierten Licht der Schein
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werfer sah sie, daß er sie freundlich und verständnisvoll an blickte und ihm das, was er tat, offenbar nicht gefiel. »Wohin bringen Sie mich?« fragte sie leise und hörte auf zu schluchzen. »Was habe ich Unrechtes getan?« »Ich habe den Befehl, Sie zu Oberst Nogo, dem Bezirks kommandanten, zu bringen. Dort sollen Sie zu den Aktivitäten der Räuberbanden im Gojam vernommen werden«, sagte er, während sie auf der holperigen Piste weiterfuhren. Beide schwiegen eine Zeitlang, und dann sagte der Offizier auf Englisch: »Der Fahrer spricht nur amharisch. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihren Vater, Alto Zemen, gekannt habe. Er war ein guter Mann. Ich bedauere, was heute hier geschieht, aber ich bin nur ein Leutnant. Ich muß tun, was man mir be fiehlt.« »Es ist mir klar, daß Sie es nicht aus eigenem Antrieb tun, und deshalb habe ich Ihnen auch nichts vorzuwerfen.« »Mein Name ist Hammed. Wenn ich kann, werde ich Ihnen helfen. Das bin ich Alto Zemen schuldig.« »Vielen Dank, Leutnant Hammed. In dieser Situation bin ich auf die Hilfe guter Freunde angewiesen.« Während sie darauf warteten, daß sich der Staub, der beim Einsturz des Tunnels entstanden war, setzte und noch lose Steine herunterfielen, kümmerte sich Nicholas um die kleinen Verletzungen, die sich Royan zugezogen hatte. Die Wunde über ihrer Schläfe war nicht tief, kaum mehr als ein Kratzer. Nicholas sah, daß sie nicht genäht werden mußte. Er desinfi zierte und verpflasterte sie. Doch ihre von dem schweren Steinbrocken getroffene Schulter zeigte erhebliche Prellungen und blaue Flecken. Er massierte sie mit Arnikasalbe. Seine eigenen Verletzungen nahm er weniger ernst. Eine Stunde nach dem Einsturz entschloß er sich, noch einmal in
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den Tunnel einzusteigen. Royan und Sapper sollten auf dem Steg bleiben, während er allein zur Plattform über der Leiter hinaufstieg. Dazu nahm er eine Bambusstange und eine Hand lampe mit, die er über eine elektrische Leitung an den Honda generator angeschlossen hatte. Nicholas machte sich mit äußerster Vorsicht auf den Weg. Bei jedem Schritt suchte er mit der Bambusstange nach Schwachstellen an der Decke des Tunnels. Als er an der Platt form angekommen war, sah er sofort, daß beim Einsturz des Tunnels die ganze Tür am Eingang zur Grabkammer herausge rissen worden war. Die Munitionskisten, von denen acht die Götterstatuen aus den Nischen in der Galerie enthielten, waren umgeworfen worden, und einige von ihnen lagen unter herab gefallenen Gesteinstrümmern. Er stellte sie wieder an ihre Plät ze und öffnete sie, um festzustellen, ob ihr Inhalt beschädigt worden war. Mit großer Erleichterung sah er, daß die festen Eisenbehälter alles gut überstanden und die wertvollen Statuen nicht gelitten hatten. Er brachte sie einzeln hinaus bis zu dem Steg und übergab sie Sapper. Als er zu der Plattform vor der Grabkammer zurückkehren wollte, verlangte Royan, ihn begleiten zu dürfen. Selbst mit einer sehr deutlichen Beschreibung der Gefahren, denen sie sich bei einem neuen unerwarteten Felssturz aussetzen würde, konnte er sie von ihrer Absicht nicht abbringen. Als sie schließlich am Eingang stand, starrte sie voller Entsetzen auf die in der Galerie angerichtete Verwüstung. »Alles ist zerstört«, flüsterte sie. »Alle diese wunderbaren Kunstwerke. Ich kann es nicht glauben, daß Taita das gewollt hat.« »Nein«, stimmte ihr Nicholas traurig zu. »Er hatte vor, uns eine beeindruckende Abschiedsvorstellung zu geben, nachdem wir die sieben zu den ewigen Jagdgründen führenden Tempel tore durchschritten hatten, und das ist ihm verdammt gut ge
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lungen.« »Es wird ein hartes Stück Arbeit sein, diese Trümmer fortzu schaffen«, sagte sie. »Um Himmels willen, wovon reden Sie?« Er war entsetzt. »Wir haben die Statuen gerettet, und das ist alles, worauf wir hoffen durften. Ich glaube, wir dürfen uns auf keine verlustrei chen Abenteuer mehr einlassen und müssen Abschied nehmen von diesem Ort.« »Abschied nehmen? Sind Sie wahnsinnig«, rief sie empört. »Haben Sie den Verstand verloren?« »Mit dem Erlös aus dem Verkauf der Statuen werden wir zumindest die Kosten der Expedition bezahlen können«, erklär te er ruhig, »und vielleicht wird sogar noch etwas übrigbleiben, das wir vereinbarungsgemäß miteinander teilen.« »Wie können Sie auch nur davon träumen, jetzt aufzugeben, da wir unserem Ziel schon so nahe sind?« sagte sie vorwurfs voll. »Der Gang ist vernichtet –«, versuchte er sie von der Rich tigkeit seines Standpunkts zu überzeugen, aber sie stampfte wütend auf den Boden und schrie ihn an. »Die Grabkammer ist immer noch da. Verdammt, Nicky, sonst wäre Taita niemals so weit gegangen. Wir sind ihm dicht auf den Fersen – deshalb hat er uns mit diesem Warnschuß abschrecken wollen. Sehen Sie nicht, daß wir ihn jetzt wirklich beunruhigt haben? Unser Ziel liegt greifbar vor uns, und des halb dürfen wir jetzt nicht aufgeben.« »Royan, seien Sie vernünftig.« »Nein! Nein! Seien Sie vernünftig.« Sie wollte nicht auf ihn hören. »Sie müssen sofort anfangen, die Trümmer aus dem Gang herauszuräumen. Ich weiß, der Zugang ist jetzt offen. Wir müssen nur den Weg dorthin freimachen. Dann werden wir hinter dem Geröll, mit dem uns Taita überschüttet hat, den richtigen Zugang zur Grabkammer finden.«
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»Ich fürchte, bei dem Schlag auf Ihren Kopf haben sich eini ge Schrauben gelöst.« Er hob resigniert die Hände. »Aber es hat keinen Sinn, mit einer Frau zu streiten, die sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Um Ihnen zu beweisen, daß es dort nichts mehr zu entdecken gibt, werden wir das Geröll bis ans Ende des Gangs forträumen.« »Dabei wird der Staub unser Hauptproblem sein.« Sapper sah sich den von Trümmern versperrten Zugang zur Galerie an, während sie ihm sagten, was sie vorhatten. »Wenn wir diese Trümmer bewegen, wird unser kleiner Ventilator zu schwach sein, um mit der dabei entstehenden Staubwolke fertigzuwer den.« »Das ist richtig«, stimmte Nicholas zu. »Deshalb müssen wir den Staub mit Wasser binden. Die Männer müssen sich in zwei Reihen entlang des Tunnels bis zur Senkgrube aufstellen. Auf der einen Seite werden sie die Wassereimer nach vorn reichen und auf der anderen Seite den Schutt herausschaffen.« »Das bedeutet harte Arbeit.« Sapper biß sich auf die Unter lippe. »Damit haben Sie von vornherein rechnen müssen«, erinner te ihn Nicholas. »Jetzt ist es zu spät, sich darüber zu beschwe ren.« Die Mönche waren immer noch davon überzeugt, daß alles, was sie hier taten, zur Ehre Gottes geschah, und deshalb gingen sie freudig an ihre neue Aufgabe. Singend beförderten sie auf der einen Seite die Mauerreste und Gesteinstrümmer hinaus und reichten sich auf der anderen die mit Wasser aus der Senk grube gefüllten Keramikkrüge zu. Nicholas beteiligte sich mit der Gruppe der Büffel unter der Führung von Hansith an dieser anstrengenden, schmutzigen und gefährlichen Arbeit, denn jeder Gesteinsbrocken mußte, bevor er aus dem Trümmerhau fen herausgehebelt und weitergereicht werden konnte, mit Wasser übergossen werden. Schon bald lief das schlammige
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Wasser die Treppe hinunter, und die Stufen wurden so schlüpf rig, daß man leicht darauf ausrutschen konnte. Die Gesteins brocken lagen lose aufeinander, und sie mußten jederzeit mit einem neuen Einsturz rechnen. Der schwache Ventilator konnte den engen, heißen und stik kigen Raum nicht ausreichend belüften, und die nackten Ober körper der nur im Lendenschurz arbeitenden Männer waren naßgeschwitzt. Die Gesteinstrümmer aus dem Tunnel wurden in die Senkgrube geworfen und verschwanden spurlos in der Tiefe des schwarzen Wassers, ohne daß sich der Wasserstand veränderte. Nicholas war von der Arbeit in der feuchten Hitze so er schöpft, daß er beim ersten Schichtwechsel, wenn auch nur für ein paar Minuten, frische Luft schöpfen mußte. Da er so lange in der Enge des Tunnels gearbeitet hatte, war eine Pause im düsteren Hohlraum von Taitas Becken eine Erholung für ihn. Als er über den Staudamm kletterte, wartete Mek Nimmur schon auf der Rampe neben dem Wasserbecken auf ihn. Er machte ein besorgtes Gesicht und fragte: »Nicholas, ist Tessay wieder da? Sie hätte schon gestern aus Debra Maryam zurück sein müssen.« »Ich habe sie nicht gesehen, Mek. Ich dachte, sie sei bei Ih nen.« Mek schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich vergewissern, daß sie nicht zurückgekommen ist, ohne daß meine Männer sie gesehen haben, bevor ich eine Streife den Pfad hinaufschicke, sie zu suchen.« »Es tut mir leid, Mek. Ich hatte nicht geglaubt, daß es ge fährlich sein könnte, sie den Hang hinaufzuschicken.« Irgendwie fühlte sich Nicholas für ihr Ausbleiben verantwortlich. »Wenn ich es für gefährlich gehalten hätte, dann hätte ich ihr nicht erlaubt zu gehen«, stimmte Mek ihm zu. »Ich habe einige meiner Leute losgeschickt, um sie zu suchen.«
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Die Sorge um Tessays Verschwinden war für Nicholas ne ben der Tatsache, daß das Ausräumen des Gangs nach seinem Geschmack viel zu lange dauerte, eine zusätzliche Belastung. Royan beteiligte sich ebensolange wie Nicholas an den Auf räumungsarbeiten, und beide machten sich dabei ebenso schmutzig wie die Männer neben ihnen. Ihr tat es leid um jedes Fragment der auseinandergerissenen Wandgemälde, und bevor alles in die Senkgrube geworfen wurde, versuchte sie die Stük ke zu retten, auf denen noch wesentliche Teile der Wandge mälde zu erkennen waren. Auf einem war der schöne Kopf der Göttin Isis noch unversehrt, und auf einem anderen war es die ganze Gestalt des Gottes der Schreiber, Thoth. Bei der Arbeit in der langen Galerie verloren sie jedes Zeit gefühl und konnten nicht mehr sagen, ob es Nacht oder Tag war. Es war jedesmal eine Überraschung, beim Verlassen des Tunnels festzustellen, daß in der schmalen Öffnung über Taitas Becken die Sterne schienen oder die strahlende afrikanische Sonne vom wolkenlosen blauen Himmel auf sie herunterbrann te. Sie aßen und schliefen nur, wenn es nötig war, nicht aber zu bestimmten Stunden. Als sie eines Tages nach wenigen Stun den Schlaf auf dem Steg über die Senkgrube gingen, hörten sie aus dem Schacht vor ihnen einen lauten Schrei. Es folgte ein Stimmengewirr von Fragen und Antworten der Männer, die im oberen Bereich des Tunnels arbeiteten. »Hansith hat irgend etwas gefunden«, rief Royan. »Ver dammt, Nicky, ich wußte doch, wir hätten unten bleiben sollen –« Sie rannte los, und er folgte ihr. Auf der Plattform vor der Galerie hatten sich aufgeregt schwatzende und gestikulierende, halbnackte Arbeiter ver sammelt. Nicholas drängte sich hindurch und zog Royan hinter sich her. Sie stellten fest, daß Hansith die Galerie bis zu der Nische freigeräumt hatte, in der die Statue des Osiris gestanden hatte. Im Dach darüber befand sich nun ein unregelmäßiges
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gezacktes Loch, und darunter lag zwischen den Gesteinstrüm mern auf den zerkratzten Achatfliesen ein Teil des Mechanis mus, den Taita in das Dach eingebaut hatte und der zu dem Einsturz geführt hatte. Der Hauptteil war ein riesiges, an ein Mühlrad erinnerndes, tonnenschweres steinernes Rad. Nicholas trat heran, um es sich genauer anzusehen. »Bei der Lektüre des Buches Das Grabmahl des Pharao werden Sie feststellen, daß Taita eine besondere Vorliebe für das Rad hatte«, sagte er zu Royan. »Es waren vor allem die Räder der Streitwagen, Wasserräder und dann dieses große Steinrad, das seine heimtückische Menschenfalle in Bewegung setzte. Als wir die verschiedenen Hebel in Bewegung setzten, haben wir die Keile gelöst, die diesen monströsen Mechanis mus festhielten, und als das Rad anfing zu rollen, warf es die steinernen Bremsen um, die er über die Decke der Galerie an gebracht hatte.« Er schaute hinauf zu der Öffnung in der Dek ke. »Nicht jetzt, Nicky!« unterbrach ihn Royan ungeduldig. »Ih re Vorlesung können Sie später halten. Taitas Todesfalle ist es nicht, was Hansith erregt hat. Er hat etwas ganz anderes gefun den. Kommen Sie mit!« Sie drängten sich zwischen den Arbeitern bis zu Hansith vor. »Was ist es?« rief Nicholas über die Köpfe der anderen hin weg. »Was haben Sie gefunden, Hansith?« »Hier, Effendi«, rief Hansith. »Kommen Sie schnell.« Sie zwängten sich weiter nach vorn bis ans Ende der freigeräumten Strecke und blieben bei den letzten beiden Mönchen stehen. »Dort!« sagte Hansith stolz. Nicholas ließ sich vor der auseinandergebrochenen Nische auf die Knie nieder. Kleine Stücke des bemalten Verputzes hafteten noch an der rissigen Felswand. Hansith zog einen grö ßeren Steinsplitter aus einem Spalt in der Wand und deutete
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darauf. Nicholas schaute hinein und spürte, wie sein Puls zu rasen anfing. Er erkannte eine Öffnung und sah auf den ersten Blick, daß es die Einmündung in einen Tunnel war, der im rechten Winkel von der langen Galerie abzweigte. Er war hin ter der Abbildung des großen Gottes auf dem Verputz der Ni sche verborgen gewesen. Während er mit ungläubigem Staunen hineinschaute, fühlte er Royans Hand auf seinem Arm und ihren warmen Atem auf der Wange. »Das ist es, Nicky. Der Zugang zur wirklichen Grabkammer des Mamose. Diese Galerie war ein Bluff, Taitas Ablenkungsmanöver. Dies ist die Grabkammer, die wir gesucht haben.« »Hansith!« rief Nicholas mit vor Erregung rauher Stimme. »Holen Sie Ihre Männer und lassen Sie diesen Durchgang frei legen.« Während die Arbeiter die Steinbrocken beiseite räumten, hockten Nicholas und Royan hinter ihnen, um zu sehen, welche Form der Zugang in die Grabkammer hatte. Zunächst zeigte sich ein dunkles Rechteck. Es hatte die gleiche Dimensionen wie der von der Senkgrube ausgehende Tunnel, drei Meter breit und zwei Meter hoch. Der Türsturz und die Pfosten be standen aus gemeißeltem Stein, und als Nicholas mit seiner Stablampe in die Öffnung leuchtete, sah er die Stufen einer nach oben führenden Steintreppe. Er ließ die elektrischen Leitungen bis hierher verlegen und stellte die Scheinwerfer vor diese neue Türöffnung, aber als Nicholas den Fuß auf die erste Stufe stellte, stand Royan schon neben ihm. »Ich komme mit«, sagte sie entschlossen. »Wahrscheinlich hat Taita uns auch hier noch eine Falle ge stellt«, warnte er sie. »Er lauert schon hinter der nächsten Ecke auf uns.« »Versuchen Sie das doch nicht schon wieder. Es wird Ihnen
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nichts nützen, mein Herr! Ich komme mit.« Langsam kletterten sie die steilen Stufen hinauf, blieben kurz auf jeder stehen und sahen sich dabei die Wände und die weiter nach oben führende Treppe an. Nach den ersten zwanzig Stufen kamen sie auf ei nen Treppenabsatz, und von hier aus führten zwei Türöffnun gen nach links und nach rechts, aber die Treppe selbst ging geradeaus weiter nach oben. »Wohin jetzt?« fragte Nicholas. »Gehen wir nach oben«, drängte Royan. »Wir können uns diese Abzweigungen später ansehen.« Vorsichtig stiegen sie weiter, und nach zwanzig Stufen kamen sie erneut auf einen Treppenabsatz, von dem wieder auf beiden Seiten je eine Tür öffnung abzweigte, während die Treppe selbst weiter nach oben führte. »Weiter hinauf«, sagte Royan, ohne auf seine Frage zu war ten. Nach zwanzig weiteren Stufen kamen sie wieder auf einen Treppenabsatz, von dem aus nach beiden Seiten Öffnungen abzweigten. »Das ist mir unverständlich«, protestierte Nicholas, aber sie gab ihm einen leichten Stoß in den Rücken. »Wir sollten weiter nach oben gehen«, sagte sie, und er wi dersprach ihr nicht mehr. Sie kamen wieder an einen Absatz und dann an noch einen, aber jedesmal war es das gleiche wie bisher. »Endlich!« rief Nicholas, als sie oben an der Treppe anka men. Wieder gab es zwei seitliche Abzweigungen, davor aber eine feste Wand. »Bis hierher und nicht weiter.« »Wie viele Treppenabsätze sind es im ganzen?« fragte sie. »Acht«, erwiderte er. »Acht«, wiederholte sie. »Haben wir es nicht schon häufiger mit dieser Zahl zu tun gehabt?« Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Sie meinen –«
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»Ich meine die acht Schreine in der langen Galerie, diese acht Treppenabsätze und die acht Felder auf dem Baobrett.« Sie standen schweigend und unentschlossen auf dem obersten Absatz und sahen sich um. »Gut«, sagte er schließlich, »wenn Sie so klug sind, dann sa gen Sie mir noch, wohin wir jetzt gehen sollen.« »Wir können es uns ja an den Fingern abzählen«, sagte sie. »Rechts, links, rechts, links, rechts. Versuchen wir es also mit dem rechten Ausgang.« Nachdem sie der rechten Abzweigung eine kurze Strecke ge folgt waren, stießen sie wieder auf eine Wand und je eine Ab zweigung nach links und rechts. »Gehen wir wieder nach rechts«, sagte sie, und sie taten es. Als sie jedoch erneut vor einer geschlossenen Wand und zwei Abzweigungen standen, sagte Nicholas: »Wissen Sie, was hier geschieht? Dies ist eines der von Taita so geschätzten Täuschungsmanöver. Er hat uns in ein Laby rinth geführt. Wenn wir nicht das elektrische Kabel mitge nommen hätten, dann hätten wir uns schon verirrt.« Nachdenklich schaute sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und dann in die Abzweigungen nach rechts und nach links. »Als Taita dieses Labyrinth baute, ahnte er noch nichts von den Möglichkeiten der Menschen in einem Zeitalter, in dem es elektrische Leitungen geben würde. Er glaubte, die Grabräuber, die er in die Irre führen wollte, würden sich den Weg im Licht einer Öllampe suchen müssen. Man stelle sich vor, wir wären ohne das elektrische Kabel hier hineingeraten und wollten nun auf dem Weg, den wir gekommen sind, den Ausgang finden«, sagte Nicholas leise. »Stellen Sie sich vor, Sie hätten nur eine Öllampe. Was würden Sie tun, wenn das Öl heruntergebrannt wäre und Sie sich hier im Stockdunkeln zurechtfinden müß ten.«
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Royan schauderte es, und sie griff nach seinem Arm. »Das wäre entsetzlich!« flüsterte sie. »Taita fängt jetzt an, Ernst zu machen«, sagte Nicholas ru hig. »Ich hatte schon eine gewisse Schwäche für den alten Bur schen entwickelt, aber jetzt werde ich meine Meinung wohl ändern müssen.« Wieder überlief es sie eiskalt. »Lassen Sie uns zurückge hen«, flüsterte sie. »Wir hätten hier nicht so rasch eindringen sollen. Wir müssen zurückgehen und alles besser vorbereiten. Das haben wir nicht getan. Ich habe das Gefühl, daß wir uns in Gefahr begeben haben. Ich meine, wirkliche Gefahr, wie wir sie in der langen Galerie erlebt haben.« Als sie sich an der elektrischen Leitung über die verschlun genen Durchgänge zurücktasteten, wurde die Versuchung, los zulaufen, mit jedem Schritt stärker. Royan hielt sich am Arm von Nicholas fest. Sie hatten beide das Gefühl, daß irgendein bösartiges Ungeheuer sie aus dem Dunkel, das hinter ihnen lag, verfolgte, um sich im richtigen Augenblick auf sie zu stürzen. Der Armeelastwagen, der Tessay mitgenommen hatte, fuhr durch das Dorf Debra Maryam zurück und bog dann auf den Weg ein, der dem Dandera-Fluß stromabwärts zur Böschung der Abbay-Schlucht folgte. »Hier geht es aber nicht zum Hauptquartier«, sagte Tessay zu Leutnant Hammed auf dem Fahrersitz neben ihr. »Oberst Nogo ist jetzt nicht in seinem Stabsquartier. Ich ha be den Auftrag, Sie an einen anderen Ort zu bringen.« »In dieser Richtung liegt nur das Basislager der ausländi schen Firma Pegasus, die hier nach Kupfervorkommen sucht.« »Oberst Nogo hat hier eine militärische Einheit zur Bekämp fung der Banditen in diesem Gebirgstal untergebracht«, erklär te er. »Ich habe Befehl, Sie dort hinzubringen und ihm zu
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übergeben.« Auf der Weiterfahrt über den unebenen, steinigen Gebirgspfad sprachen sie nicht mehr miteinander. Gegen Mit tag erreichten sie endlich den oberen Rand der Böschung und bogen auf den Weg zum Pegasus-Camp ab. Die in Tarnanzüge gekleideten Wachen am Tor salutierten, als sie Hammed erkannten. Der Lastwagen fuhr hinein und hielt vor einer der langen Nissenhütten in der Mitte des Camps. »Bitte warten Sie hier«, sagte Hammed, stieg aus und ging in die Hütte. Er ließ sie nur wenige Minuten warten. »Bitte kommen Sie mit, Lady Sun.« Er wirkte verlegen und verwirrt und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen, als er ihr beim Aussteigen half. Dann führte er sie an die Tür der Nis senhütte, öffnete sie und ließ ihr den Vortritt. Dieser sparsam möblierte Raum war offensichtlich das Ver waltungszentrum der Firma. In der Mitte stand ein langer Kon ferenztisch und an den Seitenwänden standen Aktenschränke und zwei Schreibtische. An den kahlen Wänden hingen nur eine Landkarte der Gegend und einige Grafiken. Am Tisch saßen zwei Männer, die sie sofort erkannte. Oberst Nogo hob den Kopf und sah sie durch seine Nickel brille mit eiskalten Augen an. Der schlanke Offizier trug wie immer eine gutsitzende, makellose Uniform. Sein kastanien braunes Barett lag vor ihm auf dem Tisch. Jake Helm hatte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurückgelehnt. Mit seinen kurzgeschnittenen Haaren hätte man ihn auf den ersten Blick für einen Jungen von etwa sechzehn oder siebzehn Jah ren halten können. Erst als sie näher hinschaute, bemerkte sie seine wettergebräunte Gesichtshaut und die Krähenfüße in sei nen Augenwinkeln. Er trug ein Hemd mit offenem Kragen und fast weißgebleichte Bluejeans. Seine silberne Gürtelschnalle war eine indianische Handarbeit und zeigte den Kopf eines wilden Mustang. Er hatte die Ärmel seines Baumwollhemds bis zu den kräftigen Oberarmen aufgerollt. Nun kaute er am
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Mundstück eines billigen holländischen Stumpens, und der Geruch des starken Tabaks war scharf und aufdringlich. »Sehr gut, Leutnant«, sagte Nogo auf amharisch und entließ Hammed. »Warten Sie draußen. Ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche.« Als Hammed gegangen war, fragte Tessay: »Warum haben Sie mich festnehmen lassen, Oberst Nogo?« Keiner der beiden Männer ging auf die Frage ein, sie über hörten sie einfach. »Ich will wissen, woher Sie sich das Recht nehmen, mich so geringschätzig zu behandeln«, sagte sie. »Sie stecken mit einer Bande notorischer Terroristen unter einer Decke«, erwiderte Nogo leise. »Mit Ihrem Verhalten be weisen Sie, daß Sie ein Mitglied dieser Räuberbande sind.« »Das ist nicht wahr.« »Sie sind in das Gebiet einer Firma eingedrungen, die im Abbay-Tal Schürfrechte erworben hat«, sagte Helm. »Und Sie und Ihre Komplizen haben in dem Gebiet, das dieser Firma gehört, mit Bergwerksarbeiten begonnen.« »Das sind keine Bergwerksarbeiten«, widersprach sie. »Uns liegen entsprechende Berichte vor. Sie besagen, daß Sie einen Staudamm über den Dandera-Fluß gebaut haben –« »Das hat nichts mit mir zu tun.« »Sie bestreiten also nicht, daß dort ein Damm gebaut worden ist?« »Es hat nichts mit mir zu tun«, wiederholte sie. »Ich gehöre zu keiner Terroristengruppe, und ich habe nicht an irgendwel chen Bergwerksarbeiten teilgenommen.« Beide Männer nahmen ihre Worte schweigend zur Kenntnis. Nogo schrieb etwas in sein Notizbuch. Helm stand auf und trat an das Fenster hinter ihrer rechten Schulter. Sie konnte das lange Schweigen nicht mehr ertragen, und obwohl sie wußte, daß sie mit dieser Taktik zum Nachgeben gezwungen werden
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sollte, unterbrach sie es. »Ich bin fast die ganze Nacht in einem Armeelastwagen ge fahren«, sagte sie, »und jetzt bin ich müde. Außerdem muß ich auf die Toilette gehen.« »Wenn es so dringend ist, dann können Sie das, was Sie tun wollen, auch dort tun, wo Sie stehen. Mr. Helm und mich wird das nicht stören.« Nogo kicherte wie ein junges Mädchen, blickte aber nicht auf. Sie sah über die Schulter zur Tür hinüber, aber Helm schloß sie ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Sie wußte, sie durfte jetzt nicht schwach werden, und obwohl sie müde war, sich fürchtete und ihre Blase schmerzte, gab sie sich selbstsi cher und ruhig und ging an den nächsten Stuhl. Sie rückte ihn vom Tisch ab und setzte sich. Nogo sah sie mißbilligend an. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie so reagieren würde. »Sie kennen den Banditen Mek Nimmur«, fuhr er sie an. »Nein«, erwiderte sie kühl. »Ich kenne den Patrioten und demokratischen Führer Mek Nimmur. Er ist kein Bandit.« »Sie sind seine Konkubine, seine Hure. Deshalb sagen Sie das.« Sie wandte sich verächtlich von ihm ab, und er brüllte sie an: »Wo ist Mek Nimmur? Aus wie vielen Männern besteht seine Gruppe?« Ihre Gelassenheit machte ihn nervös. Sie beantwortete die Frage nicht, und Nogo fuhr böse fort: »Wenn Sie sich weigern, mit uns zusammenzuarbeiten, dann werde ich Sie mit schärferen Methoden zwingen, meine Fragen zu beantworten.« Sie drehte sich um und sah schweigend aus dem Fenster. Nach einiger Zeit ging Jake Helm an die Tür hinter Nogo, die in die Räume auf der Rückseite der Nissenhütte führte. Er ver schwand und schloß die Tür hinter sich. Die Wände der Hütte waren dünn, und Tessay konnte die Stimmen aus dem Neben
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zimmer hören. Der Tonfall sagte ihr, daß dort weder amharisch noch englisch gesprochen wurde. Es war eine Fremdsprache, die Tessay nicht kannte. Sie vermutete, daß Helm von seinem Vorgesetzten Anweisungen erhielt und dieser nicht wollte, daß sie ihn bei einer späteren Begegnung wiedererkannte. Nach ein paar Minuten kam Helm zurück und machte die Tür hinter sich zu, aber ohne sie mit dem Schlüssel zu ver schließen. Er nickte Nogo zu, der nun aufstand. Beide Männer kamen zu ihr herüber und stellten sich vor sie hin. »Ich glaube, es wird besser für uns alle sein, wenn wir unser Gespräch so bald wie möglich beenden«, sagte Helm leise. »Dann können Sie ins Badezimmer gehen, und ich kann früh stücken.« Sie hob das Kinn und sah ihn herausfordernd an, sagte aber nichts. »Oberst Nogo hat versucht, vernünftig mit Ihnen zu reden. Seine offizielle Stellung verlangt von ihm eine gewisse Zu rückhaltung. Für mich gelten solche Anstandsregeln glückli cherweise nicht. Ich werde Ihnen die gleichen Fragen stellen wie er, aber diesmal werden Sie sie beantworten.« Er nahm den Stumpen aus dem Mund, sah sich das Mund stück an und warf ihn fort. Dann zog er ein flaches silbernes Etui aus der Tasche und entnahm ihm eine frische, schwarze lange Zigarre. Er hielt das brennende Streichholz daran und zog, bis der Stumpen gleichmäßig brannte. Er blies das Streichholz mit einer Wolke beißenden Zigarrenrauchs aus und fragte: »Wo ist Mek Nimmur?« Sie zuckte die Schultern und schaute aus dem Seitenfenster der Hütte. Unvermittelt und ohne seine Absicht auch nur angedeutet zu haben, schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schlag war so kräftig, daß ihr Kopf zur Seite flog. Bevor sie
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sich davon erholen konnte, holte er noch einmal aus und schlug ihr mit der geballten Faust gegen den Unterkiefer. Dabei wurde ihr Kopf in die entgegengesetzte Richtung zurückgerissen, und sie fiel vom Stuhl. Nogo beugte sich zu ihr hinunter, packte sie bei den Armen und verdrehte sie ihr hinter dem Rücken. Dann setzte er sie wieder auf den Stuhl und stellte sich hinter sie. Er hatte sie so fest im Griff, daß sie deutlich den schmerzhaften Druck seiner Finger auf den bloßen Armen spürte. »Ich werde keine Zeit mehr verschwenden«, sagte Helm ru hig, nahm die glühende Zigarre aus dem Mund und sah sich die Glut an. »Fangen wir noch einmal an. Wo ist Mek Nimmur?« Tessay hatte das Gefühl, daß ihr unter den schweren Schlä gen das linke Trommelfell geplatzt war. Im Ohr summte und pfiff es. Die Zähne waren ihr in die Schleimhaut der Wange getrieben worden, und ihr Mund hatte sich mit einem Gemisch aus Blut und Speichel gefüllt. »Wo ist Mek Nimmur?« wiederholte Helm und beugte sein Gesicht ganz nah vor das ihre. »Wozu haben Ihre Freunde den Damm durch den Dandera-Fluß gebaut?« Sie ließ Speichel und Blut in ihrem Mund zusammenfließen und spuckte ihm das Gemisch ins Gesicht. Er zuckte zurück und wischte sich die klebrige Masse mit der Handfläche aus den Augen. »Halten Sie sie fest!« sagte er zu Nogo, griff ihr in den Blu senausschnitt und riß die Bluse bis zur Gürtellinie auf. Nogo kicherte, beugte sich über ihre Schulter und schaute hinunter auf ihre Brüste. Er kicherte wieder, als Helm eine von ihnen in die Hand nahm und die Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger quetschte. Sie war dunkelrot wie eine reife Maul beere. Er drückte ihr die Fingernägel ins Fleisch, bis das Blut her austropfte und ihm über den Daumen floß. Dann nahm er mit
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der anderen Hand die glühende Zigarre aus dem Mund und blies auf die Glut, um sie anzufachen. »Wo ist Mek Nimmur?« fragte er und hielt ihr den glühenden Stumpen an die Brust. »Was tun seine Leute im DanderaFluß?« Sie starrte entsetzt hinunter, als er ihr mit dem glühenden Stumpen immer näher kam, und versuchte ihm auszuweichen. Aber Nogo hielt sie eisern fest. Sie schrie vor Schmerzen laut auf, als die Glut des Stumpens die Brustwarze berührte und sich eine Brandblase auf der zarten Haut bildete. »Winter«, sagte Royan und breitete die Vergrößerung des Fotos der vierten Seite der Stele aus dem Grab des Tanus unter dem hellen Scheinwerferlicht aus. »Dies ist die Seite mit den Aufzeichnungen Taitas, die sich, wie ich glaube, auf das Bao brett beziehen. Ich habe nicht alles verstanden, bin aber, nach dem ich auf einige, weniger wahrscheinliche Übersetzungs möglichkeiten verzichtet habe, zu dem Schluß gekommen, daß das erste Symbol eine der vier Seiten oder, wie er sie nennt, der vier Burgen auf dem Brett bezeichnet.« Sie zeigte ihm die Seiten in ihrem Notizbuch, auf denen sie ihre Überlegungen festgehalten hatte. »Sehen Sie hier: der sitzende Pavian ist die nördliche Burg, die Biene ist die südliche, der Vogel die westliche und der Skorpion die östliche.« Sie zeigte ihm die gleichen Symbole auf dem Foto der Stele. »Die zweiten und dritten Hieroglyphen sind Zahlen – ich glaube, sie bezeichnen die einzelnen Reihen und Quadrate auf dem Brett. Mit ihnen können wir verfolgen, wie er während des Spiels die roten Steine setzt. Die roten Steine haben bei diesem Spiel den höchsten Rang.« »Und was bedeuten die Verse zwischen den einzelnen Auf zeichnungen?« fragte Nicholas. »Ich meine zum Beispiel den
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Vers über den Nordwind und den Sturm.« »Das kann ich nicht genau sagen. Soweit ich Taita kenne, könnten auch das Ablenkungsmanöver sein. Er wird es uns nie erleichtern, ihm zu folgen. Vielleicht haben diese Verse aber auch eine Bedeutung. Wir dürfen nur hoffen, diese Rätsel zu lösen, wenn wir die einzelnen Züge des Spiels verfolgen.« Nicholas sah sich ihr Zahlenspiel eine Zeitlang an und lä chelte dann wehmütig. »Überlegen Sie nur, wie unwahrschein lich es war, daß irgend jemand die Hinweise, die Taita hinter lassen hat, richtig würde deuten können. Dazu müßte er sowohl den Text der siebenten Schriftrolle als auch die Bedeutung der Hieroglyphen auf der Stele des Tanus kennen. Erst dann hätte er die Möglichkeit, den Schlüssel zum Grabmal des Mamose zu finden.« Sie lachte – ein dunkles, zufriedenes Lachen. »Ja, er muß geglaubt haben, daß niemand ihm auf die Schliche kommen würde. Nun, jetzt werden wir es erleben, Meister Taita. Wir werden sehen, wie klug Sie wirklich waren.« Dann schaute sie nüchtern und sachlich auf die Steintreppe, die zu Taitas Laby rinth hinaufführte. »Jetzt müssen wir feststellen, ob meine Zahlen und Theorien mit den harten Steinen und Wänden der Architektur Taitas übereinstimmen. Aber wo sollen wir beginnen?« »Am Anfang«, schlug Nicholas vor. »Der Gott macht den ersten Zug. Das hat Taita uns gesagt. Wenn wir hier am Schrein des Osiris unterhalb der Treppe beginnen, dann werden wir vielleicht feststellen können, wie die Linien auf seinem Baobrett verlaufen.« »Auch ich habe mir das so vorgestellt«, stimmte sie ihm zu. »Nehmen wir an, dies sei das nördliche Feld auf Taitas Brett. Dann können wir versuchen festzustellen, wie die vier Stiere von hier aus gesetzt werden müssen.« Es kostete einige Mühe, sich allmählich in die Gedankenwelt
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des alten Schreibers zurückzuversetzen, denn dazu war es not wendig, zu erkennen, welche Bedeutung dieses vor viertausend Jahren von ihm gebaute, aus verdeckten Durchgängen und Tunneln bestehende Labyrinth hatte. Diesmal bereiteten sie sich sehr viel gründlicher auf ihren Erkundungsgang vor. Ni cholas hatte sich getrocknete weiße Tonstücke in die Taschen gesteckt, um damit alle Abzweigungen und Weggabelungen an den Wänden der Tunnel zu kennzeichnen. Dabei ging er von den Hinweisen auf der Winterseite der Stele aus und zeichnete überall Wegweiser an die Wände, die es ihnen nicht nur er leichtern würden, wieder hinauszukommen, sondern die dann auch zu dem Modell in Beziehung gebracht werden konnten, das Royan in ihrem Notizbuch aufzeichnete. Nun glaubten sie, die Bestätigung dafür gefunden zu haben, daß der Schrein des Osiris das nördliche Spielfeld auf dem Baobrett war, und freuten sich, damit den Schlüssel gefunden zu haben, der es ihnen erlauben würde, das Spiel mit den näch sten Zügen zu Ende zu bringen. Aber diese Hoffnungen zer schlugen sich bald, als sie erkannten, daß Taita nicht nur in den zwei Dimensionen des konventionellen Spielbretts dachte. Er hatte seiner mathematischen Gleichung eine dritte Dimension hinzugefügt. Die vom Schrein des Osiris gerade nach oben führende Treppe war nicht die einzige Verbindung zwischen den acht Treppenabsätzen. Jede der von diesen Absätzen ausgehende Abzweigung führte in einem flachen Winkel entweder aufwärts oder abwärts. Beim Verfolgen aller Windungen und Kurven dieser Tunnel war es ihnen nicht bewußt geworden, daß sie dabei auf verschiedenen Ebenen hinauf- oder hinabstiegen. Plötzlich fanden sie sich auf der gerade nach oben führenden Treppe wieder, aber auf einem Absatz, der höher lag als der, von dem aus sie den Seitengang betreten hatten. Nun standen sie da und starrten einander irritiert an, weil sie
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nicht begreifen konnten, wie das geschehen war. Royan äußerte sich als erste dazu. »Ich hatte nicht einmal das Gefühl, daß es bergauf ging«, flüsterte sie. »Das Ganze ist sehr viel komplexer, als ich zunächst geglaubt hatte.« »Das Labyrinth muß ähnlich konstruiert sein wie die Modelle des komplizierten Kohlenstoffatoms«, stimmte ihr Nicholas zu. »In diesem Modell sind alle acht Ebenen miteinander ver bunden. Offen gesagt, es ist beängstigend.« »Jetzt könnte ich mir vorstellen, was diese Symbole zwi schen den Texten bedeuten«, sagte Royan. »Sie bezeichnen die Ebenen. Wir werden das ganze Konzept noch einmal überden ken müssen.« »Es ist ein dreidimensionales Bao, das nach geheimen Re geln gespielt werden muß. Welche Chance haben wir, dieses Spiel gegen ihn zu gewinnen?« Nicholas schüttelte nachdenk lich den Kopf. »Was wir brauchen, ist ein Computer. Taita hat sich nicht grundlos über seine eigenen Fähigkeiten lustig ge macht. Der alte Schurke war wirklich ein mathematisches Ge nie.« Er leuchtete mit dem Scheinwerfer den Tunnel hinunter, aus dem sie gekommen waren. »Selbst wenn man weiß, daß sich der Boden vor einem senkt, kann man es nicht sehen. Und dabei hat er dieses technische Meisterwerk mit Sicherheit ohne Rechenschieber oder Wasserwaage gebaut.« »Sie können ihren Fanklub später gründen«, erwiderte sie. »Jetzt sollten wir uns noch einmal diesem Zahlenspiel zuwen den.« »Ich werde die Lampen und die Schreibtische auf diesen Ab satz in der Mitte der Treppe heraufbringen lassen«, stimmte Nicholas ihr zu. »Ich glaube, wir sollten von der Mitte des Baobretts ausgehen, und von da aus werden wir vielleicht einen besseren Überblick gewinnen. Im Augenblick habe ich jede Orientierung verloren.«
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Man hörte nur das leise Schluchzen der Frau, die in ihrem eigenen Blut und Urin zusammengekrümmt am Boden lag. Oberst Nogo saß an dem langen Konferenztisch und zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten leicht, und er machte ein angewidertes Gesicht. Er war Soldat und hatte die Zeit der Schreckensherrschaft von Mengistu miterlebt. Er war ein harter Mann und an Gewalt und Grausamkeit gewöhnt, doch was eben geschehen war, hatte ihn zutiefst erschüttert. Jetzt wußte er, weshalb sich Schiller auf die Fähigkeiten von Helm verließ. Dieser Mann hatte keine menschlichen Gefühle. Jake Helm stand vor dem kleinen Waschbecken und wusch sich die Hände. Dann trocknete er sie sorgfältig ab, wischte mit dem Handtuch die Flecken von seinem Anzug, kam zurück und beugte sich über Tessay. »Ich glaube nicht, daß sie uns noch irgend etwas sagen kann«, sagte er ruhig. »Ich denke, sie hat uns nichts verschwie gen.« Nogo beugte sich über die Frau und betrachtete die Brand male auf ihrer Brust und ihren Wangen, die aussahen wie große offene Pockennarben. Sie hatte die Augen geschlossen, die Wimpern waren verbrannt. Sie hatte sich tapfer gehalten. Erst als Helm ihre Augenlider mit der Glut des Stumpens berührte, hatte sie ihren Widerstand aufgegeben und seine Fragen be antwortet. Nogo war es zum Kotzen zumute, aber er war froh, daß sie die Augen nicht geöffnet hatte, als Helm es von ihr verlangte, und er nicht hatte zusehen müssen, wie er ihre tränenden Aug äpfel mit der Glut seines Stumpens ausbrannte. »Sehen Sie sich vor dieser Frau vor«, sagte Helm und streifte sich die Ärmel hinunter. »Sie ist hart im Nehmen. Geben Sie ihr keine Chance, sich zu wehren.« Helm ging an ihm vorbei zur Tür am anderen Ende des
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Raumes. Er ließ die Tür offen, und Nogo konnte die Stimmen im benachbarten Zimmer hören, verstand aber nichts, denn die Leute sprachen deutsch. Jetzt begriff er, weshalb Schiller dar auf verzichtet hatte, bei dem Verhör zugegen zu sein. Offenbar kannte er Helms Arbeitsmethoden. Helm kam zurück und nickte Nogo zu. »Sehr gut. Wir sind fertig mit ihr. Sie wissen, was Sie zu tun haben.« Nogo stand auf und tastete nervös nach seinem Pistolenhalf ter. »Hier?« fragte er. »Jetzt?« »Seien Sie kein Idiot«, fuhr Helm ihn an. »Bringen Sie sie fort, und zwar möglichst weit, und dann lassen sie diesen Dreck hier wegräumen.« Nogo stand auf und ging zur Tür. Dabei machte er einen weiten Bogen um Tessay, um seine Stiefel nicht zu beschmutzen. »Leutnant Hammed!« rief er durch die Tür. Hammed und Nogo hoben Tessay auf und stellten sie auf die Füße. Schweigend und peinlich berührt, ja fast gedemütigt, halfen sie ihr in ihre zerrissenen und blutverschmierten Klei der. Hammed wendete den Blick von ihrem nackten Körper mit den Brandmalen und anderen Verletzungen ab. Er legte ihr den wollenen Umhang über die Schultern und führte sie zur Tür. Als sie stolperte, fing er sie auf und stützte sie mit einer Hand unter dem Ellbogen und half ihr die Stufen hinunter zum Last wagen. Sie bewegte sich unbeholfen und langsam wie eine alte Frau. Sie setzte sich auf die Sitzbank und hielt beide Hände vor das verbrannte und geschwollene Gesicht. Nogo nahm Hammed zur Seite und sprach leise mit ihm. Hammed machte ein entsetztes Gesicht, als er hörte, was von ihm verlangt wurde, und versuchte dagegen zu protestieren, aber Nogo knurrte ihn wütend an. So biß er sich schweigend auf die Unterlippe. »Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe!« sagte No go. »Auf keinen Fall in der Nähe eines Dorfes. Es darf keine
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Zeugen geben. Melden Sie sich dann sofort bei mir zurück.« Hammed richtete sich auf, grüßte militärisch, ging zum Last wagen zurück und setzte sich neben Tessay. Er gab dem Fahrer eine kurze Anweisung, und sie fuhren aus dem Camp hinaus und folgten dann dem nach Debra Maryam führenden Weg. Tessay war so verwirrt und hatte so starke Schmerzen, daß sie jedes Zeitgefühl verlor, sie wurde auf der Fahrt über den unebenen, steinigen Weg durchgerüttelt und konnte den Kopf kaum geradehalten. Ihr Gesicht war so geschwollen, daß sie Mühe hatte, die Augen zu öffnen, und wenn sie es tat, glaubte sie, erblindet zu sein. Aber dann wurde ihr klar, daß die Sonne untergegangen und es dunkel geworden war. Sie mußte also mit Helm den ganzen Tag in der Hütte zugebracht haben. Erleichtert stellte sie fest, daß ihre Augen beim Abbrennen der Wimpern nicht stärker beschädigt worden waren. Zumin dest konnte sie noch sehen. Sie schaute durch die Windschutz scheibe, erkannte aber die im Licht der Scheinwerfer vor ihr liegende Straße nicht. »Wohin bringen Sie mich?« flüsterte sie. »Dieser Weg führt nicht zurück ins Dorf.« Leutnant Hammed saß zusammengesunken neben ihr und antwortete nicht. Vor Erschöpfung und Schmerzen fiel Tessay in einen Dämmerzustand. Plötzlich schrak sie auf, als der Lastwagen bremste und der Fahrer die Zündung ausschaltete. Grobe Hände zogen sie aus dem Führerhaus heraus in das helle Licht der Scheinwerfer. Irgend jemand band ihr die Handgelenke hinter dem Rücken mit einem Lederriemen zusammen. »Sie tun mir weh«, wimmerte sie. »Sie schnüren mir die Handgelenke ab.« Sie war am Ende ihrer Kräfte und nicht mehr fähig, sich zu wehren. Einer der Soldaten zerrte an den zusammengebundenen Handgelenken und schob sie von der Straße hinunter. Zwei
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andere folgten mit Schaufeln und Spaten in den Händen. Der Mond schien so hell, daß sie in einer Entfernung von etwa hundert Metern von der Straße eine Gruppe von Eukalyptus bäumen sehen konnte. Dorthin wurde sie geführt. Sie mußte sich mit dem Rücken an den Stamm eines dieser Bäume auf den Boden setzen, und der Mann, der ihre Handgelenke zu sammengebunden hatte, stand neben ihr, richtete sein Gewehr auf sie und rauchte eine Zigarette. Die anderen stellten ihre Gewehre zusammen und fingen an zu graben. Sie schienen sich nicht für sie zu interessieren, sondern unterhielten sich über das bevorstehende Spiel um die afrikanische Fußballmeisterschaft, die demnächst in Lusaka ausgetragen werden sollte, und die Chancen des äthiopischen Teams, ins Endspiel zu kommen. Allmählich begriff Tessay, daß diese Männer dabei waren, ihr Grab zu graben. Sie saß mit trockenem Munde da und sah sich verzweifelt nach Leutnant Hammed um, der aber beim Lastwagen geblieben war. »Bitte –«, flüsterte sie, aber der Mann mit dem Gewehr trat ihr, bevor sie noch etwas sagen konnte, in den Bauch. »Halt die Schnauze!« Er redete sie an wie einen Menschen, der es nicht wert ist, daß man sich um ihn kümmert. Während sie zusammengekrümmt am Boden lag, mußte sie erkennen, daß es keinen Sinn hatte, diesen Menschen um irgend etwas zu bitten. In ihrer Hilflosigkeit gab sie jede Hoffnung auf und weinte still vor sich hin. Als sie ihre geschwollenen Lider öffnete, sah sie im hellen Mondlicht, daß das Grab schon so tief war, daß sie die Männer, die darin arbeiteten, nicht mehr sehen konnte, und neben dem Grab lag bereits ein großer Haufen Erde. Der Mann, der sie bewacht hatte, ging an den Rand der Grube, schaute hinunter und brummte. »Gut. Das ist tief genug. Ruft den Leutnant.« Die beiden Soldaten kletterten aus dem Grab, nahmen
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Schaufeln, Spaten und Gewehre, gingen schwatzend in Rich tung auf den Lastwagen fort und ließen Tessay mit ihrem Be wacher allein. Sie lag da und zitterte vor Angst und Kälte, während der Soldat am Rand des Grabes hockte und an seiner Zigarette zog. Sie dachte, wenn sie jetzt aufstehen könnte, dann würde sie ihn mit einem Fußtritt in das Erdloch befördern und dann durch die Bäume fortlaufen. Doch als sie versuchte, sich aufzusetzen, stellte sie fest, daß ihre Glieder steif waren und sie kein Gefühl in Händen und Füßen hatte. Sie versuchte noch einmal sich zu bewegen, aber im gleichen Augenblick hörte sie Leutnant Hammed vom Lastwagen auf sie zukommen, und ließ sich ver zweifelt zurückfallen. Hammed leuchtete mit einer elektrischen Taschenlampe in die Grube hinein. »Gut«, sagte er laut. »Das ist tief genug.« Er schaltete die Taschenlampe aus und sagte zu dem Bewa cher: »Keine Zeugen. Gehen Sie zurück und warten Sie am Lastwagen. Wenn Sie die Schüsse hören, kommen Sie mit den anderen her und helfen mir, die Grube zuzuschütten.« Der Soldat hängte sich das Gewehr über die Schulter und verschwand zwischen den Bäumen. Hammed wartete, bis der Mann außer Hörweite war, kam dann zu Tessay, hob sie auf und stellte sie auf die Füße. Dann schob er sie bis an den Rand des Grabes und machte sich an ihren Kleidern zu schaffen. Sie versuchte sich zu wehren, aber ihre Arme waren immer noch hinter ihrem Rücken zusammengebunden. »Ich brauche Ihren wollenen Umhang.« Er zog ihr die weiße Wolldecke von den Schultern, ging an das Grab, sprang hinun ter, und sie hörte, wie er sich unten bewegte. Dann sagte er so leise, daß sie es kaum hören konnte: »Sie müssen hier unten irgend etwas sehen, einen menschlichen
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Körper –« Schweratmend kletterte er wieder heraus und stellte sich hin ter sie. Sie fühlte an der Innenseite ihres Handgelenks einen kalten Metallgegenstand. Es war eine Säge, mit der er die Le derfesseln durchsägte. Sie fielen zu Boden, und sie stöhnte vor Schmerzen, als das Blut wieder in ihre abgestorbenen Hände floß. »Was tun Sie?« flüsterte sie verwirrt. Sie schaute hinunter in das Grab und sah die helle wollende Decke, die so zusammen gelegt war, als umhülle sie einen menschlichen Körper. »Werden Sie –« »Bitte sprechen Sie nicht«, sagte er leise, nahm sie bei der Schulter und führte sie zurück zu der Baumgruppe. »Legen Sie sich hier hin.« Er drückte sie mit dem Gesicht nach unten flach auf den Boden und bedeckte sie mit trockenen Blättern und abgebrochenen Zweigen. »Bleiben Sie hier! Versuchen Sie nicht, fortzulaufen. Bewe gen Sie sich nicht und sagen Sie kein Wort, bis wir weg sind.« Im Licht seiner Taschenlampe vergewisserte er sich noch einmal, daß sie gut zugedeckt war. Dann lief er zurück zum Grab und zog die Pistole aus dem Halfter. Zwei Pistolenschüs se krachten so laut und unerwartet durch die Nacht, daß sie zusammenzuckte und ihr Puls zu rasen begann. Dann hörte sie Hammed rufen: »Kommt, Männer. Laßt uns die Sache zu Ende bringen.« Die Soldaten liefen zum Grab zurück, und sie hörte, wie sie die Erde in das Grab schaufelten. »Ich kann nicht sehen, was ich tue, Herr Leutnant«, be schwerte sich einer von ihnen. »Wo ist Ihre Taschenlampe?« »Sie brauchen kein Licht, um Erde in ein Loch zu schau feln«, knurrte Hammed ihn an. »Machen Sie weiter und treten Sie die lockere Erde fest. Ich will nicht, daß irgend jemand über diese Stelle stolpert.«
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Sie lag still da und versuchte, das angstvolle Zittern zu un terdrücken, das ihren Körper schüttelte. Schließlich hatten die Männer das Grab zugeschaufelt, und sie hörte Hammeds Stimme: »Das reicht. Paßt auf, daß ihr nichts liegen laßt. Und jetzt zu rück zum Lastwagen!« Die Schritte und Stimmen der Soldaten wurden leiser. Sie hörte, wie der Motor des Lastwagens angelassen wurde, und sah, wie das Licht der Scheinwerfer die Bäume streifte, als der Wagen wendete und in die Richtung davonfuhr, aus der er ge kommen war. Obwohl von dem Motorengeräusch schon lange nichts mehr zu hören war, blieb sie noch eine Zeitlang in ihrem Versteck liegen. Immer noch zitterte sie vor Kälte und weinte leise. Sie war völlig erschöpft, und auch die Schmerzen hatten nicht nachgelassen, aber irgendwie fühlte sie sich erleichtert. Lang sam schob sie die Zweige, unter denen sie lag, zur Seite und kroch zum Stamm des nächsten Baumes. Sie zog sich daran in die Höhe und stand dann schwankend im Dunkeln da. Erst jetzt überkam sie ein schreckliches Schuldgefühl. »Ich habe Mek verraten«, dachte sie verzweifelt. »Ich habe seinen Feinden alles gesagt. Ich muß ihn warnen. Ich muß zu ihm zurück und ihn warnen.« Sie ließ den Baumstamm los und stolperte durch die Dun kelheit zurück auf den Weg. Wenn sie feststellen wollten, ob es ihnen gelungen war, den Geheimcode von Taita zu entschlüsseln, dann mußten sie die von ihm genannten Züge nachspielen. Sehr vorsichtig gingen sie durch die Tunnel des Labyrinths, führten dabei die von ihm vorgezeichneten Züge durch und schrieben die entsprechenden Zahlen mit weißem Ton an die Wände.
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Auf der Winterseite der Stele waren achtzehn Züge aufge zeichnet. Gemäß der ersten Interpretation der Symbole durch Royan konnten sie zwölf dieser Züge folgen, gerieten dann aber in eine Sackgasse, denn sie standen plötzlich vor einer Felswand, ohne den nächsten Zug machen zu können. »Verdammt!« rief Nicholas und stieß mit dem Fuß gegen die Felswand. Als sich daraufhin nichts rührte, warf er das Stück weißen Ton dagegen. »Ich wünschte, ich könnte den alten Teu fel zu fassen kriegen. Kastriert zu sein, wäre dann seine gering ste Sorge.« »Es tut mir leid«, sagte Royan und wischte sich eine Haar strähne aus den Augen. »Ich glaubte, ich hätte recht. Es müssen die Zahlen in der zweiten Kolonne gewesen sein. Wir werden sie umstellen müssen.« »Wir müssen noch einmal anfangen«, stöhnte Nicholas. »Und zwar ganz am Anfang«, stimmte sie ihm zu. »Woran können wir erkennen, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« wollte er wissen. »Wenn wir bei der Verwendung unseres errechneten Schlüs sels genau nach dem achtzehnten Zug bei der Kombination ankommen, die beim Baospiel dem Schachmatt entspricht. Da nach wird es keine Möglichkeit mehr geben, einen vernünfti gen Zug zu machen, und wir werden zu dem Schluß kommen, daß wir das Spiel korrekt nachgespielt haben.« »Und was werden wir finden, wenn wir an diese Stelle kommen?« »Das werde ich Ihnen sagen, wenn wir dort sind.« Sie lächel te freundlich. »Nur Mut, Nicky. Unsere Schwierigkeiten fan gen gerade erst an.« Royan vertauschte die Werte der zweiten und dritten Zahlen der Aufzeichnungen von Taita und setzte die erste für den Wert des Feldes und die zweite für den der Reihe ein. Diesmal gerie ten sie schon nach fünf Zügen in eine Sackgasse.
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»Vielleicht haben wir uns geirrt, als wir glaubten, daß wir nach dem dritten Zug auf eine neue Ebene geraten würden«, sagte Nicholas. »Beginnen wir noch einmal, und zwar mit dem zweiten Wert.« »Nicky, wissen Sie, wie viele mögliche Kombinationen es gibt, wenn wir mit drei Variablen arbeiten?« Jetzt wurde auch sie unsicher. »Taita verlangt eine sehr genaue Kenntnis der Spielregeln, und die fehlt uns. Es ist so, als wollte ein Groß meister einem Neuling im Schachspiel die Feinheiten der indi schen Verteidigung erklären.« »Und zwar auf Russisch!« schmückte Nicholas den Gedan ken aus. »In diesem Tempo werden wir nicht weiterkommen. Es muß noch eine andere Möglichkeit geben, das Problem zu lösen. Sehen wir uns noch einmal die Epigramme an, die Taita zwischen seinen Anweisungen eingefügt hat.« »Sehr gut. Ich werde sie vorlesen, und Sie hören zu.« Sie beugte sich über ihre Notizen. »Das Schlimme ist nur, daß schon ganz feine Unterschiede in der Übersetzung den Sinn verändern können. Taita war ein Freund von Wortspielen, und in einem Wortspiel kann ein einziges Wort den Sinn total ver ändern. Schon die falsche Betonung eines Wortes kann das bewirken.« »Wir können es trotzdem versuchen«, ermutigte Nicholas sie. »Auch Taita hatte vorher noch nie ein dreidimensionales Bao gespielt. Wenn er uns einen Hinweis hinterlassen hat, dann müßten wir ihn am Beginn der Stele finden. Wir müssen uns also auf die beiden ersten Aufzeichnungen und die dazwischen liegenden Epigramme konzentrieren.« »Das können wir versuchen«, sagte Royan. »Die erste Hie roglyphe ist die der Biene von den Zahlen Fünf und Sieben gefolgt und der ägyptischen Handrassel.« Nicholas lachte. »Sehr gut, das habe ich schon so oft gehört, daß ich es nie vergessen werde. Und was folgt?«
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»Das erste Zitat.« Sie fuhr mit dem Finger über die Hiero glyphen. »›Was man benennen kann, kann man auch wissen. Was namenlos ist, kann nur gefühlt werden. Ich segle mit den Gezeiten hinter mir und dem Wind, der mir ins Gesicht weht. Oh, mein Geliebter, dein Geschmack ist süß auf meinen Lip pen.‹« »Ist das alles?« fragte er. »Ja, und dann kommt die nächste Aufzeichnung. Der Skor pion und die Zahlen Zwei und Drei und wieder die ägyptische Handrassel.« »Langsam! Langsam! Alles zu seiner Zeit. Was können die Worte ›Segeln‹ und der ›Geliebte‹ bedeuten?« So rätselten sie an dem Text der Stele herum, bis ihnen die Augen brannten und sie nicht mehr wußten, ob es Tag oder Nacht war. Schließlich wurden sie durch Sappers Stimme auf geschreckt, der ihnen von der Treppe her etwas zurief. Nicho las stand auf, streckte sich und schaute auf die Uhr. »Acht Uhr. Aber ich kann nicht sagen, ob es morgens oder abends ist.« Er erschrak, als er Sapper völlig durchnäßt die Treppe he raufkommen sah. »Was ist mit Ihnen passiert?« fragte Nicholas. »Sind Sie in die Senkgrube gefallen?« Sapper fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Hat es Ihnen denn niemand gesagt? Draußen regnet es in Strömen.« Sie starrten einander entsetzt an. »Jetzt schon?« flüsterte Royan. »Bis zum Beginn der Regen zeit sollten es doch noch ein paar Wochen sein.« »Man hat vergessen, es dem Wettermann zu sagen«, sagte Sapper achselzuckend. »Hat es wirklich schon angefangen?« fragte Nicholas. »Wie sieht der Fluß aus? Ist der Wasserstand bereits gestiegen?« »Deswegen bin ich ja gekommen. Ich gehe jetzt zum Damm
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und nehme die Büffel mit. Ich werde die Entwicklung genau beobachten, und sobald es gefährlich wird, werde ich Sie be nachrichtigen. Wenn mein Bote kommt, halten Sie sich nicht lange auf. Kommen Sie sofort heraus, denn das bedeutet, daß wir schon im nächsten Augenblick mit einem Dammbruch rechnen müssen.« »Nehmen Sie Hansith jetzt nicht mit«, sagte Nicholas. »Ich brauche ihn hier.« Als Sapper gegangen war und die meisten Arbeiter aus dem Tunnel mitgenommen hatte, sahen sich Roy an und Nicholas besorgt an. »Die Zeit läuft uns davon, und Taita hat uns in eine gefährli che Situation gebracht«, sagte Nicholas. »Ich muß Sie warnen. Wenn der Wasserstand im Fluß anfängt zu steigen –« Sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Der Fluß!« rief sie. »Nicht das Meer! Ich habe mich bei der Übersetzung geirrt. Ich habe von den Gezeiten gesprochen, weil ich annahm, Taita hätte das Meer gemeint, aber es hätte ›Strömung‹ heißen sol len. Die alten Ägypter verwendeten für beide Begriffe dasselbe Wort.« Sie liefen zurück zu dem Tisch mit den Notizbüchern. »›Die Strömung hinter mir und der Wind in meinem Gesicht‹«, korri gierte Nicholas das Zitat. »Auf dem Nil kommt der Wind immer aus dem Norden und die Strömung aus dem Süden«, rief Royan. »Taita schaute nach Norden, auf das nördliche Quadrat am Rande des Spielfelds.« »Wir glaubten, das Symbol für den Norden sei der Pavian«, erinnerte er sie. »Nein! Da habe ich mich geirrt.« Sie sah ihn mit blitzenden Augen an. »›O mein Geliebter, dein Geschmack ist süß auf meinen Lippen.‹ Honig! Die Biene! Ich hatte die Symbole für den Norden und den Süden vertauscht.« »Und was sagt Taita über den Osten und den Westen? Was finden wir zu diesem Thema?« Er konzentrierte sich mit neuer
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Begeisterung auf die Texte. »›Meine Sünden sind rot wie die Karneole. Sie binden mich wie Ketten aus Bronze. Sie stechen mir ins Herz wie Feuer, und ich richte meine Augen auf den Abendstern.‹« »Ich verstehe nicht –« »›Stechen‹ ist falsch«, mußte er zugeben. »Es sollte heißen ›verbrennen‹. Der Skorpion blickt auf den Abendstern. Der Abendstern liegt immer im Westen. Der Skorpion ist das west liche Spielfeld und nicht das östliche.« »Das Baobrett lag verkehrt herum.« Sie sprang erregt auf. »Beginnen wir nun das Spiel auf dem richtig liegenden Brett.« »Wir haben noch nicht die verschiedenen Ebenen berück sichtigt«, wandte er ein. »Liegt nun die Rassel am oberen Rand, oder sind es die drei Schwerter?« »Nun, da uns dieser Durchbruch gelungen ist, haben wir nur noch diese beiden Möglichkeiten. Wir haben entweder recht, oder wir irren uns. Wir werden das Spiel so beginnen, daß die Rassel oben liegt, und wenn uns das nicht weiterbringt, können wir es von der anderen Seite her versuchen.« Jetzt war alles sehr viel leichter, denn sie hatten sich mit dem Verlauf des Labyrinths im einzelnen vertraut gemacht. Nicho las hatte jede Ecke und alle Weggabelungen und Abzweigun gen in den Tunnels mit weißem Ton gekennzeichnet. So kamen sie durch die komplexe Anlage voran, und ihre Erregung stei gerte sich, während sie den Hinweisen an den Wänden folgten und nach jeder Richtungsänderung feststellten, daß der Weg noch offen vor ihnen lag. »Der achtzehnte Zug«, sagte Royan mit bebender Stimme. »Halten Sie die Daumen. Wenn wir jetzt in eine der offenen Reihen kommen, die die südliche Stellung des Gegners bedro hen, dann haben wir ihn mattgesetzt.« Sie atmete tief durch und las weiter. »Der Vogel, die Zahlen Drei und Fünf. Mit dem Symbol der drei Schwerter auf der unteren Ebene.«
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Sie schritten die Strecke ab, kamen an fünf Kreuzungen vor bei und auf die unterste Ebene des Labyrinths. Bei jeder Weg gabelung konnten sie an den Markierungen auf den Steinwän den ablesen, an welcher Stelle sie sich befanden. »Da sind wir!« sagte Nicholas, sie blieben stehen und sahen sich um. »An dieser Stelle fällt mir nichts Besonderes auf«, sagte Royan enttäuscht. »Wir sind hier schon fünfzigmal vorbeige kommen. Es sieht genauso aus wie bei jeder anderen Wegbie gung.« »Genau das hat Taita wahrscheinlich beabsichtigt. Zum Teu fel! Er würde doch keinen Wegweiser aufgestellt haben, der uns sagt, ›hier ist die Stelle‹, nicht wahr?« »Was sollen wir also tun?« Sie sah ihn unschlüssig an. »Lesen Sie das letzte Epigramm auf der Stele.« Sie hielt ihr Notizbuch in der Hand. »›Die schwarze und hei lige Erde dieses wahren Ägyptens beschert uns eine reiche Ernte. Ich peitsche die Flanken meines Esels, und die hölzerne Pflugschar bricht den jungfräulichen Boden auf. Ich säe die Saat und ernte die Traube und die Kornähren. Wenn die Zeit reif ist, trinke ich den Wein und esse das Brot. Ich folge dem Rhythmus der Jahreszeiten und bestelle die Erde.‹« Sie sah zu ihm auf. »Der Rhythmus der Jahreszeiten? Meint er damit die vier Wände der Stele? Die Erde?« fragte sie und sah hinunter auf die Fliesen, auf denen sie stand. »Sagt er uns, daß die Erde uns belohnen wird? Liegt die Belohnung viel leicht unter unseren Füßen?« Er stampfte mit einem Fuß auf die Fliesen, aber es klang dumpf und fest. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das festzustel len.« Mit lauter Stimme rief er, »Hansith! Kommen Sie herun ter!« und das Echo seines Rufs hallte durch das ganze Laby rinth.
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Sapper saß im Regen auf seinem gelben Frontlader und überschüttete sein Team der Büffel mit Beschimpfungen, wuß te allerdings genau, daß die Männer kein Wort davon verstan den. Bis jetzt waren es nur einzelne Regenschauer, die von den hohen Bergen herangetrieben wurden, und noch nicht der rich tige Dauerregen der nassen Jahreszeit. Aber der Fluß schwoll allmählich an und verfärbte sich mit dem Schlamm und den Sedimenten, die er mitführte, schmutzig blaugrau. Sapper wußte, daß dies noch nicht der Beginn der richtigen Regenzeit war. Das unheilverkündende Donnergrollen entlang der Bergkette, das wie das Gebrüll eines jagenden Löwenrudels klang, war nur das Vorspiel dessen, was der Wettergott schon sehr bald über das Land hereinbrechen lassen würde. Obwohl der Fluß bereits bis an den oberen Rand der Schanzkörbe reich te, die Sapper in den Damm eingefügt hatte, und sich durch die Lücke, die er offengelassen hatte, in das Seitental ergoß, hielt der Damm dem Wasserdruck noch stand. Seine Leute füllten weitere Drahtkörbe mit Gesteinsschutt und verbrauchten dabei den letzten Vorrat an Maschendraht im Steinbruch. Sobald ein solcher Korb gefüllt und mit Draht zu gebunden war, nahm Sapper ihn mit seinem Frontlader auf und fuhr damit das Ufer des Danera-Flusses hinunter. Zunächst verstärkte er alle Schwachstellen am Damm und baute dann hinter dem Damm eine zweite Reihe von Schanzkörben auf. Er wußte, was geschehen würde, wenn das Wasser den Damm überflutete: die Wassermassen würden die mit Steinen gefüll ten Schanzkörbe fortreißen wie den Ast eines Affenbrotbaums. Wenn der Damm nur an einer Stelle brach, würde alles zu sammenstürzen und flußabwärts getrieben werden. Er machte sich keine Illusionen darüber, wie schnell es zu einer solchen Katastrophe kommen konnte. Er wußte, daß er Nicholas und Royan im stromabwärts gele genen Tunnel vor der bevorstehenden Katastrophe warnen
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mußte, bevor der Damm an einer Stelle gebrochen war. Die Strömung würde wahrscheinlich schneller sein als jeder Bote, den er ihnen schickte, und wenn die erste Bresche entstanden war, würde es bereits zu spät sein. Er kniff die Augen zusam men, als ein Windstoß ihm den Regen ins Gesicht blies, und sein Instinkt sagte ihm, daß es jetzt Zeit für sie sei, aus der Schlucht herauszukommen. Das Wasser war schon bis auf we niger als zwölf Zoll unter dem Rand des Schutzwalls angestie gen. Er wußte allerdings auch, daß sich Nicholas furchtbar ärgern würde, wenn er seine Arbeit vorzeitig abbrechen müßte, denn dann wäre alles, was er bisher erreicht hatte, vergeblich gewe sen. Sapper kannte aber auch die finanziellen Risiken, die Ni cholas auf sich genommen hatte, um soweit zu kommen. Schon vor der Abreise aus England hatte er angedeutet, daß er Schwierigkeiten hatte, den Forderungen der Versicherungsge sellschaft Lloyd’s nachzukommen. Auch aus den Berichten britischer Zeitungen wußte er, daß Nicholas mit einem Kon kursverfahren rechnen müßte, wenn er hier scheiterte – und Nicholas war sein Freund. Der Regenguß war vorüber, die Wolken rissen auf, und im nächsten Augenblick lag die ganze Landschaft im strahlenden Licht der heißen Sonne. Augenscheinlich führte der Fluß im mer noch die gleichen Wassermengen zu Tal, aber zumindest der Wasserstand oberhalb des Dammes stieg nicht mehr an. »Ich werde noch eine Stunde warten«, brummte Sapper und fuhr langsam das Flußufer hinunter, um einen neuen Schanz korb aufzustellen. Nicholas arbeitete Schulter an Schulter mit den Männern von Hansith, die nun begannen, die Fliesen des Labyrinths an der am tiefsten gelegenen Stelle herauszureißen. Die einzelnen
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Fliesen waren so fest aneinandergefügt, daß es auch mit einem Brecheisen ziemliche Mühe machte, sie herauszubekommen. Um Zeit zu sparen, entschloß sich Nicholas, mit roher Gewalt vorzugehen, und ließ den Bodenbelag mit einem behelfsmäßi gen Vorschlagshammer zerschlagen, so daß sich die einzelnen Stücke leichter herausnehmen ließen. Zwar tat es ihm leid, an dieser Stelle des Labyrinths einen solchen Schaden anrichten zu müssen, aber nun ging die Arbeit sehr viel schneller voran. Allmählich ließen die gute Laune und der Arbeitseifer der Männer deutlich nach. Sie hatten zu lange in der bedrückenden Enge des Labyrinths gearbeitet und waren sich des allmähli chen Ansteigens des Wassers im Fluß und auch der tödlichen Gefahr eines Dammbruchs durchaus bewußt. Sie arbeiteten ruhig weiter, aber kaum jemand lachte oder machte einen Witz. Noch besorgniserregender war für Nicholas die Tatsache, daß Hansith ihm gemeldet hatte, daß sich sechzehn seiner Leute bei Beginn der Schicht nicht zur Arbeit gemeldet hatten. Sie hatten in der Nacht stillschweigend ihre Decken zusammengerollt und waren mit allem, was sie an nützlichen Dingen im Camp finden konnten, in der Dunkelheit davongeschlichen. Nicholas wußte, daß es keinen Sinn hatte, irgend jemanden hinter ihnen herzuschicken, denn sie hatten einen zu großen Vorsprung. Hier herrschten afrikanische Verhältnisse, und Ni cholas war überzeugt, daß die Disziplinlosigkeit, die jetzt be gonnen hatte, nur noch schlimmer werden konnte. Er versuch te, sie bei Laune zu halten und sich seine Befürchtungen nicht anmerken zu lassen. Er arbeitete und schwitzte genauso wie sie, um sie anzuspornen und zu veranlassen, seinem Beispiel zu folgen. Aber er wußte, wenn er unter diesen Fliesen keine neue Entdeckung machte, die ihr Interesse und ihre Erwartungen wachhielt, würde er vielleicht morgen aufwachen und feststel len, daß sogar die Mönche und der treue Hansith verschwunden waren.
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Mit dem Herausreißen der Fliesen hatte er an der Stelle an gefangen, wo zwei Abzweigungen im Winkel aufeinanderstie ßen, und er setzte diese Arbeit nun in beiden Richtungen fort. Doch allmählich verlor er den Mut, als er feststellen mußte, daß sich unter den Fliesen nichts anderes verbarg als der bloße Fels und daß nichts eine neue Nahtstelle oder Öffnung vermu ten ließ. »Es sieht nicht sehr vielversprechend aus«, sagte er, als Roy an ihn enttäuscht ansah, und nahm einen Schluck aus einer der Wasserflaschen. Sie goß ihm etwas Wasser in die hohlen Hände, und er wischte sich damit den Schweiß und Schmutz aus dem Gesicht. »Vielleicht habe ich die Symbole für die einzelnen Ebenen falsch gedeutet«, sagte sie. »Es wäre typisch für die Art von Taita, uns dadurch in die Irre zu führen, daß er zwei verschie dene Kombinationen erfindet, die eine logische Lösung erge ben.« Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie ihn bat, ihr einen Rat zu geben. »Glauben Sie, ich sollte die zweite Kombination zurückverfolgen –« Sie wurde unterbrochen, als Hansith laut rief: »Im Namen der heiligen Jungfrau, Effendi, kommen Sie schnell!« Sie drehten sich beide um, und Royan ließ vor Schreck die Flasche fallen, die zu ihren Füßen zersplitterte. Sie schien gar nicht zu bemerken, daß ihr das Wasser an die Beine gespritzt war, sondern lief zu Hansith hinüber, der mit dem Hammer in der Hand dastand und ausholte, um weitere Fliesen zu zer schlagen. »Worum geht es?« fragte sie, doch nun sahen sie beide, daß Hansith unter den Fliesen noch eine Schicht sauber bearbeiteter Steinwellen freigelegt hatte. Sie lagen dicht nebeneinander, bedeckten den ganzen Boden des Tunnels von einer Wand zur anderen und reichten bis in die Felswände hinein, und die Fugen zwischen ihnen waren
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etwa so eng wie ein Messerrücken. Ihre Seiten waren glatt und gerade und wiesen keinerlei Schriftzeichen oder Markierungen auf. »Was ist das, Nicky?« fragte Royan. »Entweder ist es ein zweiter Bodenbelag oder eine Schutz schicht über einer Öffnung im Boden«, sagte er. »Das werden wir erst wissen, wenn wir eine dieser Schwellen herausge nommen haben.« Die Steinschwellen waren zu dick und zu schwer, um mit dem Hammer zerschlagen zu werden, obwohl Hansith es ver suchte. Schließlich mußten sie den Boden um die erste Schwelle lockern und sie herausheben. Erst fünf Männern gelang es, die Schwelle an einem Ende anzuheben und aus ihrer Verankerung zu lösen. Royan kniete sich hin und schaute in die entstandene Lücke hinein. »Ich sehe eine Öffnung, eine Art offenen Schacht!« Nachdem sie die erste Schwelle herausgenommen hatten, war es leichter, auch die anderen, die die rechteckige Öffnung versperrten, wegzuräumen. Als das geschehen war, leuchtete Nicholas mit der Taschenlampe in den dunklen Schacht. Er reichte von einer Wand des Tunnels zur anderen, und als Ni cholas hineinstieg, konnte er auf den Stufen der Treppe, die in einem Winkel von fünfundvierzig Grad nach unten führte, auf recht stehen. »Wieder eine Treppe«, rief er. »Jetzt haben wir sicher die richtige Stelle gefunden. Auch Taita kann nicht noch mehr Irr wege angelegt haben.« Die Arbeiter drängten sich hinter Nicholas und Royan, denn ihre schlechte Laune war angesichts der neuen Entdeckung und der Aussicht auf eine Sonderprämie in Silbertalern verflogen. »Gehen wir hinunter?« fragte Royan. »Ich weiß, wir sollten vorsichtig sein, um nicht in eine Falle zu geraten, aber es bleibt uns nur noch wenig Zeit, Nicky.«
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»Sie haben recht wie immer. Jetzt müssen wir uns beeilen.« »Schlagen wir also alle Vorsicht in den Wind.« Sie nahm seine Hand und lachte. »Lassen Sie uns zusammen hinunterge hen.« Sie stiegen nebeneinander vorsichtig die Stufen hinunter, und im Licht der Stablaterne wichen die Schatten vor ihnen zurück. »Dort unten ist eine Kammer«, rief Royan. »Es sieht aus wie ein Vorratsraum – was sind das für Gegen stände an den Wänden? Es müssen Hunderte sein. Sind es Särge, Sarkophage?« Es sah aus, als seien es menschliche Gestalten, die Schulter an Schulter in mehreren Reihen vor den Wänden der quadratischen Kammer standen. »Nein, ich glaube, auf der einen Seite sind es Getreide körbe«, sagte sie, »und auf der anderen Seite könnten es Wein amphoren sein. Wahrscheinlich Grabbeigaben für die Toten.« »Wenn dies die Vorratskammer für die Grabbeigaben ist«, sagte Nicholas erregt, »dann sind wir schon ganz in der Nähe der Grabkammer selbst.« »Ja!« rief sie. »Sehen Sie – auf der anderen Seite dieser Vor ratskammer ist noch eine Tür. Richten Sie Ihre Lampe darauf.« Im Licht des Scheinwerfers sahen sie an der gegenüberlie genden Wand der Vorratskammer eine quadratische Öffnung. Sie liefen den abschüssigen Boden hinunter auf die Wand zu, vor der die aus Schilf geflochtenen Körbe und die Weinkrüge standen. Aber als sie auf die ebene Fläche kurz vor der Öff nung kamen, stießen sie auf ein unsichtbares Hindernis, vor dem sie beide zurücktaumelten. »Mein Gott!« Nicholas griff sich an die Kehle und konnte kaum noch atmen. »Kommen Sie zurück! Zurück, sage ich!« keuchte er. Auch Royan war auf die Knie gesunken und rang nach Luft. »Nicky!« versuchte sie zu rufen, aber der Atem stockte in
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ihren Lungen. Sie hatte nicht mehr die Kraft, aufzustehen, und vor ihren Augen fing es an zu flimmern. Er beugte sich über sie und versuchte sie aufzuheben, war aber zu schwach. Er fühlte, wie seine Knie nachgaben und er kaum noch in der Lage war, sein eigenes Gewicht zu tragen. »Noch vier Minuten«, dachte er verzweifelt und glaubte zu ersticken. »Mehr Zeit haben wir nicht. Noch vier Minuten bis zur Bewußtlosigkeit und zum Hirntod. Wir brauchen frische Luft.« Von hinten schob er ihr die Arme unter die Achselhöhlen und faltete die Hände über ihren Brüsten. Erneut versuchte er, sie hochzuheben, aber es gelang ihm nicht. Er zog sie mühsam zurück zu den Stufen, über die er so leichtfüßig herunterge sprungen war, aber jetzt bedeutete jeder Schritt eine gewaltige Anstrengung. Sie hatte das Bewußtsein verloren und lag reglos in seinen Armen. Während er sie mühsam nach hinten zog, schleiften ihre Beine kraftlos über den Steinfußboden. Als er mit den Fersen gegen die unterste Treppenstufe stieß, wäre er fast gestürzt. Er konnte gerade noch das Gleichgewicht halten und zog sie die Stufen hinauf, wobei ihre Füße auf jeder einzelnen Stufe aufprallten. Er wollte Hansith zu Hilfe rufen, aber er hatte nicht genug Luft in den Lungen, um auch nur ei nen Laut hervorzubringen. Wenn du sie jetzt fallen läßt, dann wird sie sterben, sagte er sich und kämpfte sich fünf Stufen weiter nach oben, wahrend er vergeblich versuchte, seine Lungen mit der kostbaren Luft zu füllen. Er war so erschöpft, daß er kaum noch etwas sehen konnte, und es flimmerte ihm vor den Augen. »Laß mich atmen«, flehte er. »Lieber Gott, ich bitte dich, laß mich atmen.« Und nun geschah ein Wunder. Wie eine unmittelbare Ant wort auf sein Gebet erlebte er, wie seine Lungen den kostbaren Sauerstoff einsogen und sich damit füllten. Gleichzeitig kehr
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ten seine Kräfte wieder, und es gelang ihm, Royan hochzuhe ben und sie über die restlichen Stufen hinaufzutragen. Am Ausgang aus dem Schacht legte er sie Hansith vor die Füße. »Was ist geschehen, Effendi? Was ist mit Ihnen und der La dy geschehen?« Nicholas war immer noch so außer Atem, daß er nicht ant worten konnte. Er legte Royan auf den Rücken, um sie von Mund zu Mund beatmen zu können, und klopfte ihr auf die Wangen. »Wach auf!« rief er ihr zu. »Sag etwas! Sprich mit mir!« Aber sie reagierte nicht. So kniete er sich über sie, drückte seinen Mund auf ihre offenen Lippen und blies ihr die Luft in die Lungen, bis er aus dem Augenwinkel sehen konnte, wie sich ihre Brust hob und senkte. Er setzte sich auf und zählte bis drei. »Bitte, mein Liebling, bitte, atme!« Ihr Gesicht war leichenblaß. Wieder beugte er sich über sie, und als er ihre Lungen mit seinem Atem füllte, spürte er, wie sie sich unter ihm regte. »Sehr gut, mein Liebling«, sagte er. »Atme! Tu es für mich.« Beim nächsten Atemzug schob sie ihn von sich und setzte sich noch halbbetäubt auf. Sie erkannte die Gesichter, die sich über sie beugten. »Nicky! Was ist geschehen?« »Das kann ich nicht sagen – aber was es auch gewesen sein mag, es hätte uns fast das Leben gekostet. Wie fühlen Sie sich jetzt?« »Es war, als hätte mich eine unsichtbare Hand an der Kehle gepackt und mich erwürgt. Ich konnte nicht mehr atmen und verlor dann das Bewußtsein.« »Es muß irgendein Gas im unteren Teil des Durchgangs ge wesen sein. Sie haben weniger als zwei Minuten nicht atmen können«, beruhigte er sie. »Erst wenn das Gehirn vier Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt wird, stirbt der Mensch.«
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»Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.« Sie drückte die Fingerspitzen an ihre Schläfen. »Ich habe Ihre Stimme gehört, als Sie mich riefen. Sie haben ›mein Liebling‹ zu mir gesagt.« Sie schlug die Augen nieder. »Das war nur ein kleiner Versprecher.« Er hob sie hoch und stellte sie auf die Füße. Einen Augenblick lang lehnte sie sich an ihn, und er spürte ihre warme Brust an seiner. »Noch einmal muß ich Ihnen von ganzem Herzen danken, Nicky. Ich stehe so tief in Ihrer Schuld und weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen soll.« »Ich bin überzeugt, wir werden schon eine Lösung finden.« Plötzlich wurde ihr bewußt, daß auch die anderen Männer sie ansahen, und sie löste sich von ihm. »Was ist das für ein Gas gewesen? Und wie ist es dort hingekommen? Glauben Sie, daß auch das eine von Taitas Fallen gewesen ist, Nicky?« »Höchstwahrscheinlich ist es ein durch Fäulnis entstandenes Gas«, erwiderte er. »Da wir im unteren Teil des Durchgangs darauf gestoßen sind, muß es schwerer sein als Luft. Ich ver mute, es ist Kohlendioxyd. Es könnte aber auch Methangas sein. Ich glaube, auch Methangas ist schwerer als Luft. Ist das richtig?« »Hat Taita das absichtlich getan?« Sie erholte sich zuse hends, und auch ihre Wangen zeigten wieder eine natürliche, frische Farbe. »Ich weiß es nicht, aber diese Körbe und Krüge kommen mir verdächtig vor. Ich werde diese Frage erst beantworten können, wenn wir die Möglichkeit gehabt haben, ihren Inhalt zu unter suchen.« Er streichelte ihr zärtlich die Wange. »Wie fühlen Sie sich? Was machen Ihre Kopfschmerzen?« »Es geht mir schon viel besser. Und was machen wir jetzt?« »Wir müssen das Gas aus der Kammer pumpen«, sagte er, »und zwar so schnell wie möglich.« Er nahm eine Kerze aus seiner Tasche, um mit der Kerzen
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flamme festzustellen, bis wohin der Schacht mit Gas gefüllt war. Mit der brennenden Kerze ging er langsam die Treppe hinunter und hielt sie dabei so niedrig wie möglich über jeder einzelnen Stufe. Die Kerzenflamme brannte hell und flackerte im leichten Luftzug. Dann wurde die Flamme auf der sechsten Stufe über dem Boden der Kammer plötzlich gelb und ver losch. Er markierte das Niveau des Gases mit einem weißen Kreidestrich an der Wand und rief Royan, die am Eingang des Schachts stand, zu: »Nun, wenigstens ist es kein Methan. Ich bin noch hier. Es muß Kohlendioxyd sein.« »Ein recht überzeugender Test«, lachte sie. »Wäre es Me than, dann hätte es gekracht.« »Hansith, bringen Sie den Ventilator herunter«, rief Nicholas dem großen Mönch zu. Mit angehaltenem Atem, als müsse er unter Wasser schwimmen, brachte Nicholas den Ventilator die letzten Stufen hinunter und stellte ihn auf den Boden der Kammer. Er schalte te ihn auf Höchstgeschwindigkeit ein, lief schnell die wenigen Stufen hinauf und holte tief Atem, als er über dem Kreidestrich angekommen war. »Wie lange wird es dauern, das Gas herauszubringen?« frag te Royan besorgt und sah auf ihre Armbanduhr. »Ich werde es alle fünfzehn Minuten mit der Kerze nachprü fen.« Erst nach einer Stunde konnte Nicholas in den Schacht hin untersteigen und unten frei atmen. Nun bat er Hansith, ein Bündel Feuerholz herunterzubringen und in der Mitte des Steinfußbodens ein Feuer zu entfachen, um die Zirkulation der Luft zu beschleunigen. Während Hansith damit beschäftigt war, sahen sich Nicholas und Royan einen an der Wand aufgestapelten Korb an. »Der hinterhältige alte Schweinehund!« brummte Nicholas
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halb verärgert und halb bewundernd. »Es sieht aus wie eine Mischung aus Dung, Gras und vertrockneten Blättern wie in einem Komposthaufen.« Dann nahm er einen der Tonkrüge, kippte ihn um und sah sich das Pulver an, das er ausgeschüttet hatte. Er nahm eine Handvoll, rieb es zwischen den Fingern und roch vorsichtig daran. »Zerriebener Ton!« murmelte er. »Zwar ist er schon lange ausgetrocknet und hat jeden eigenen Geruch verloren, aber Taita hat ihn wahrscheinlich mit irgendeiner Art Säure ge tränkt. Vielleicht war es Essig oder sogar Urin. Als die Flüs sigkeit den Ton zersetzte, entstand dabei das Gas Kohlendi oxyd.« »So war es also tatsächlich eine von Taita aufgestellte Fal le«, rief Royan. »Schon vor viertausend Jahren muß Taita den Vorgang der biologischen Zersetzung sehr genau gekannt haben. Er wußte, welche Gase sich entwickeln würden, wenn man diese Stoffe miteinander vermischt. Neben allem anderen muß er auch ein sehr guter Chemiker gewesen sein.« »Außerdem hat er offenbar gewußt, daß sich diese schweren Gase über eine unbegrenzt lange Zeit in der Kammer halten würden, wenn sie nicht durch einen Luftzug fortgeweht wür den«, stimmte sie ihm zu. »Ich nehme an, dieser Schacht ist angelegt wie eine U-förmige Falle. Ich möchte wetten, daß der Tunnel wieder ansteigt –« Sie zeigte auf die geheimnisvolle Öffnung in der gegenüberliegenden Wand. »Ich kann von hier aus sogar schon die ersten Stufen erkennen.« »Wir werden sehr bald feststellen, ob Sie recht haben«, sagte er, »denn genau dorthin werden wir jetzt gehen – wir werden diese Stufen hinaufsteigen.«
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Sapper hatte am Rand der Strömung Steine aufgeschichtet, um daran zu sehen, wie rasch der Wasserstand stieg. Er beo bachtete diesen Vorgang wie ein Börsenmakler den Papierstrei fen am Börsentelegraphen. Seit dem letzten Regenguß waren sechs Stunden vergangen. Die Wolken über dem Tal hatten sich in der heißen Sonne auf gelöst, aber dichte Regenwolken hingen schwarz und drohend über der Gebirgskette am nördlichen Horizont und ließen die Bergkette darunter fast verschwinden. Im Gebirge konnte der Dauerregen zu jeder Zeit beginnen. Sapper überlegte sich, wie lange es dann noch dauern würde, bis die Flut sie hier unten in der Abbay-Schlucht erreichte. Steif und unbeholfen kletterte er von seinem Traktor und ging zum Flußufer hinunter, um sich die Steine dort anzusehen. Der Wasserstand war in einer Stunde um fast dreißig Zentime ter gefallen. Er wollte es kaum glauben, denn schließlich hatte es nur fünfzehn Minuten gedauert, bis er um die gleiche Höhe angestiegen war. Was, längerfristig gesehen, geschehen würde, ließ sich nicht vermeiden. Der Regen würde einsetzen, und das Hochwasser würde den Damm durchbrechen. Er schüttelte resigniert den Kopf. Er hatte alles getan, diesen Augenblick hinauszuzögern. Da zu hatte er den Damm um etwa einen Meter erhöht und dahin ter eine zweite Reihe von Schanzkörben aufgestellt. Jetzt konn te er nur noch warten. Er lehnte sich erschöpft an den gelben Traktor und blickte hinüber zu seinen Leuten, die wie die Gefallenen auf einem Schlachtfeld weit verstreut am Flußufer lagen. Sie hatten zwei Tage gearbeitet, um das Wasser aufzuhalten, und jetzt waren sie vollkommen erschöpft. Mehr konnte er nicht von ihnen verlangen. Das nächste Mal würde der Fluß mit seinem Hoch wasser ihre Arbeit zunichte machen. Er sah, wie einige von ihnen sich aufsetzten und stromauf
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wärts blickten, und der Wind trug ihm das leise Echo ihrer Stimmen zu. Irgend etwas erregte ihr Interesse. Er kletterte wieder auf den Traktor und hielt sich die Hand über die Augen. Die unverkennbare, breitschultrige Gestalt von Mek Nimmur näherte sich entschlossenen Schrittes auf dem Pfad, der die Böschung hinunterführte, und er war in Begleitung von zwei seiner Kompanieführer. Mek rief Sapper auf Arabisch zu: »Wird Ihr Damm halten?« Obwohl Sapper kein Arabisch verstand. »Bald wird der Regen im Gebirge beginnen, und Sie werden nicht mehr lange dort bleiben können.« Aber er zeigte zum Himmel hinauf und dann zum Fluß hinunter, so daß Sapper sofort verstand, was er sagen wollte. Sapper sprang auf, lief ihm entgegen, und sie schüttel ten sich zur Begrüßung freundschaftlich die Hände. Jeder schätzte in seinem Gegenüber die Tüchtigkeit und Energie, Eigenschaften, die sie aneinander bewunderten. Mek faßte den Kompanieführer, der englisch sprach, am Arm, und er übernahm sofort die gewohnte Aufgabe des Dol metschers. »Ich mache mir nicht nur Sorgen um das Wetter«, vertraute ihm Mek an. »Man hat mir gemeldet, daß die Regierungstrup pen sich zum Angriff gegen uns bereitstellen. Soweit ich weiß, befindet sich ein kriegsstarkes Bataillon aus Debra Maryam auf dem Marsch hierher. Ein zweiter Verband nähert sich unterhalb des Klosters des heiligen Frumentius am Ufer des AbbayFlusses.« »Also eine Zangenbewegung?« fragte Sapper. Mek nickte und machte ein ernstes Gesicht. »Es sind weit überlegene Kräfte, und ich weiß nicht, wie lange ich den An griff werde abwehren können. Meine Männer sind Untergrund kämpfer. Sie sind es nicht gewohnt, im Stellungskrieg zu kämpfen. Nicholas hat seine Boote im Kloster untergebracht. Dort werden wir uns aufstellen.«
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»Okay, Mek –« Sapper unterbrach sich, und alle drei schau ten den Pfad hinauf, wo die Männer am Flußufer offenbar et was entdeckt hatten. »Was geht da vor?« »Einer meiner Spähtrupps kommt zurück«, sagte Mek. »Wahrscheinlich haben die Männer eine wichtige Meldung mitgebracht.« Er hörte auf zu sprechen, als er feststellte, daß Sapper ihn nicht verstanden hatte. Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als er sah, daß die Männer auf einer behelfsmäßigen Bahre eine kleine schlanke Gestalt trugen. Als Tessay ihn auf sich zulaufen sah, richtete sie sich müh sam auf. Die Männer setzten die Bahre ab, Mek kniete sich daneben und umarmte sie. Sie hielten einander lange schwei gend in den Armen. Dann nahm Mek vorsichtig ihr Gesicht in beide Hände und sah sich die Schwellungen und Wunden an. Die Brandmale waren entzündet und eiterten, und ihre ge schwollenen Augenlider waren zu Schlitzen zusammengezo gen. »Wer hat dir das angetan?« fragte er leise. Mit ihren schwarzverkrusteten Lippen konnte sie kaum ein verständliches Wort herausbringen. »Sie haben mich gezwun gen –« »Nein! Versuche nicht, zu sprechen.« Aber schließlich ließ er es doch zu, da ihre Unterlippe aufplatzte und das rubinrote Blut am Kinn hinuntertropfte. »Ich muß es dir sagen«, flüsterte sie. »Sie haben mich ge zwungen, ihnen alles zu gestehen. Die Zahl deiner Männer, was du und Nicholas hier tun. Alles. Vergib mir, Mek. Ich habe dich verraten.« »Wer war das? Wer hat dir das angetan?« »Nogo und dieser Amerikaner Helm«, sagte sie, und obwohl er sie so zart umarmte wie ein Vater sein kleines Kind, waren seine Augen von Zorn erfüllt.
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Endlich war es gelungen, die Luft vollständig vom Gas zu reinigen. Hansiths Feuer brannte hell und stetig in der Mitte der tiefsten Kammer, und die aufsteigende heiße Luft nahm die giftigen Dämpfe durch die oberen Gänge des Labyrinths mit hinaus, wo sie sich mit der sauberen, sauerstoffreichen Außen luft vermengte und ihre Toxizität verlor. Inzwischen hatte sich Royan von den schädlichen Auswirkungen des Gases erholt, aber ihr Selbstvertrauen hatte gelitten, und sie erlaubte es Ni cholas, ihr auf den Stufen, die von der gegenüberliegenden Seite der Kammer nach oben führten, vorauszugehen. »Das ist die perfekte Gasfalle«, erklärte Nicholas ihr, als sie vorsichtig weitergingen. »Zweifellos hat Taita genau gewußt, was er tat, als er diesen Teil des Tunnels baute.« »Sicher hat er damit gerechnet, daß jeder Eindringling in der damaligen Zeit entweder in einer der teuflischen Fallen zugrunde ginge, sich in diesem Labyrinth verirrte oder den Versuch aufgäbe, weiter vorzudringen«, sagte sie. »Wollen Sie mir damit sagen, daß dies Taitas letzte Ab wehrmaßnahme ist und wir mit keinen weiteren Überraschun gen rechnen müssen? Glauben Sie das wirklich?« fragte Nicho las, als er den Fuß auf die nächste Treppenstufe setzte. »Nein. Zunächst habe ich versucht, es mir einzureden, aber das ist mir nicht gelungen. Ich traue ihm jetzt ebensowenig wie zu Beginn unseres Unternehmens und erwarte nur noch das Schlimmste von ihm. Ich muß jeden Augenblick damit rech nen, daß die Decke über mir einstürzt oder sich der Boden öff net und uns in die Hitze eines Backofens oder in noch etwas Schlimmeres fallen läßt.« Sie waren über vierzig Stufen in die Kammer hinuntergestie gen, und die Treppe, die sie jetzt hinaufstiegen, war das Spie gelbild der ersten. Sie führte im gleichen Winkel nach oben, und jede Stufe war ebenso tief und breit. Als sie an der vierzig
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sten Stufe angekommen waren, leuchtete Nicholas mit seiner Stablampe in die, auf der gleichen Ebene vor ihnen liegende, geräumige Arkade hinein, und sie wurde geblendet von einer verwirrenden Vielfalt der schönsten Farben und Formen, die ihnen entgegenstrahlten. Die Gemälde an den Wänden und der Decke der Arkade waren überwältigend in ihrer Vielfalt und Präzision der Ausführung. »Taita!« rief Royan mit bebender Stimme. »Das hat er ge malt! Es gibt keinen Künstler, der sich mit ihm vergleichen läßt. Seine Arbeiten sind unverwechselbar, und ich würde sie überall wiedererkennen.« Sie standen auf der obersten Treppenstufe und sahen sich tiefbeeindruckt um. Im Vergleich mit diesen wirkten die Wandgemälde in der langen Galerie blaß und ausdruckslos. Sie waren nichts weiter als billige Imitationen. Doch dies waren die Arbeiten eines großen Meisters, eines genialen Künstlers, dessen Werke den Betrachter heute ebenso begeistern und hin reißen konnten wie die Menschen vor viertausend Jahren. Sie gingen langsam, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, durch die Arkade. Auf beiden Seiten öffneten sich kleine Ni schen wie die Verkaufsstände in einem orientalischen Basar. Ihre Eingänge wurden jeweils von hohen, bis zur Decke rei chenden Säulen flankiert. Jede dieser Säulen stellte eine der Gottheiten des ägyptischen Pantheons dar. Gemeinsam trugen sie die hochgewölbte Decke. Als Nicholas und Royan an den ersten beiden, einander ge genüberliegenden Nischen stehenblieben, faßte er sie am Arm. »Die Schatzkammern des Pharao«, flüsterte er. Die Nischen waren vom Boden bis zur Decke mit den präch tigsten Gegenständen angefüllt. »Hier lagern die Möbel des Pharao.« Royan war ebenso be eindruckt wie er, als sie die Stühle, Schemel, Betten und Sofas sah. Sie ging zur nächsten Nische und berührte den Thron des
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Herrschers. Die Armlehnen waren sich windende Schlangen aus Bronze und Lapislazuli. Die Beine bestanden aus Löwen beinen mit goldenen Klauen, und auf dem Sitz und der Rückenlehne waren Jagdszenen dargestellt, und über der Rückenlehne breiteten sich goldene Flügel aus. Hinter dem Thron waren zahlreiche andere Möbel aufgesta pelt, darunter ein mit Stoff bezogener Diwan mit geschnitzten Armlehnen aus Ebenholz und Elfenbein, aber auch Dutzende von anderen Gegenständen, die meisten von ihnen in Einzeltei le zerlegt, so daß man auf den ersten Blick nicht sagen konnte, wie sie zusammengehörten. Vieles davon war aus Edelmetall und mit farbigen Steinen besetzt. Die Alkoven auf beiden Sei ten der Arkade waren angefüllt mit diesen Kostbarkeiten. Roy an konnte nur staunen, als Nicholas sie weiterführte. Die Wandgemälde zwischen den Alkoven zeigten Szenen aus dem Ägyptischen Totenbuch wie etwa die Reise des Pharao durch die ägyptischen Tempeltore mit den Gefahren und Prüfungen, den Dämonen und Ungeheuern, denen er auf diesem Wege begegnete. »Das sind die Wandgemälde, die in der falschen Grabkam mer an der langen Galerie fehlten«, sagte Royan. »Aber sehen Sie nur das Gesicht des Königs. Sie erkennen sofort, daß es das Porträt eines lebendigen Menschen ist. Alle diese Darstellun gen sind von Meisterhand gemalte Porträts fürstlicher Persön lichkeiten.« Auf dem Wandgemälde, vor dem sie jetzt standen, reichte der große Gott Osiris dem Pharao die Hand und schützte ihn vor den Ungeheuern, die links und rechts neben ihm auf die Gelegenheit warteten, ihn zu verschlingen. Der König selbst war offenbar so dargestellt, wie er wirklich ausgesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren die eines freundlichen und gütigen, aber irgendwie charakterschwachen Menschen. »Sehen Sie sich die menschlichen Gestalten an«, sagte Ni
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cholas. »Es sind keine hölzernen Puppen, die steif dastehen und den rechten Fuß nach vorn setzen. Es sind lebendige Män ner und Frauen. Sie sind anatomisch korrekt gezeichnet, und der Künstler verstand etwas von Perspektive und den Funktio nen des menschlichen Körpers.« Dann kamen sie zu den nächsten beiden Nischen und schau ten hinein. »Waffen«, sagte Nicholas. »Schauen Sie sich den Streitwa gen an!« Die Holzteile des Streitwagens waren mit glänzendem Blatt gold überzogen. Das Geschirr und die Zügel schienen nur auf die Pferde zu warten, die den Wagen in die Schlacht ziehen sollten, und die an den Seitenwänden angebrachten Köcher hinter den großen Rädern waren gefüllt mit Pfeilen und Spee ren. Auf den Seitenwänden prangte das Wappen des Mamose. Daneben lagen die mit Draht aus Bronze und Gold umwik kelten Bogen sowie zahlreiche Dolche mit Elfenbeingriffen und Schwerter mit Klingen aus glänzender Bronze. An die Wände gelehnt, standen Speere und Spieße sowie Bronzeschil de mit Schlachtenszenen auf den Wölbungen, die mit dem Na men des göttlichen Mamose gezeichnet waren. Vor den Wän den der Nischen standen reihenweise lebensgroße Holzfiguren des Königs mit den Helmen und Brustpanzern aus Krokodille der und den Uniformen und Insignien der berühmten ägypti schen Regimenter. Sie gingen den langen Gang auf und ab und betrachteten die Wandgemälde mit den Darstellungen des Lebens und Sterbens des Königs. Hier zeigte ihn der Künstler beim Spiel mit seinen Töchtern und mit seinem jüngsten Sohn auf dem Arm, beim Fischen, Jagen und bei der Falkenbeize, bei Beratungen mit seinen Ministern und Provinzgouverneuren, beim Scherzen mit seinen Frauen und Konkubinen und beim Festmahl mit den Tempelpriestern.
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»Eine unvergleichliche Chronik des Lebens in alter Zeit«, sagte Royan. Was sie hier sah, beeindruckte sie zutiefst. »Bis her ist etwas Ähnliches noch nirgends entdeckt worden.« Der Künstler hatte offenbar jede der hier dargestellten Per sönlichkeiten gekannt und nach dem Leben gezeichnet. Es wa ren lebendige Männer und Frauen, jedes Gesicht und jeder Ausdruck einmalig und unverwechselbar, erfaßt mit dem schar fen Auge, dem Humor und der großen Menschlichkeit des Künstlers. »Das muß Taita sein.« Royan zeigte auf das Selbstporträt des Eunuchen auf einem der großen Gemälde. »Ich frage mich, ob er sich hier eine gewisse künstlerische Freiheit genommen oder wirklich so schön und edel ausgesehen hat.« Bewundernd sahen sie sich das Gesicht Taitas, ihres Ge gners, an und blickten in seine durchdringenden, intelligenten Augen. Der Künstler hatte ihn so lebendig dargestellt, daß der Betrachter den Eindruck bekam, selbst von ihm in Augen schein genommen zu werden. Ein geheimnisvolles, kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um Taitas Lippen. Das Gemäl de war mit einer Firnisschicht überzogen und so gut erhalten, als sei es erst gestern gemalt worden. Seine Lippen sahen aus, als seien sie feucht, und seine Augen leuchteten wie die eines lebendigen Menschen. »Er hat eine helle Gesichtshaut und blaue Augen!« rief Roy an. »Sein rotes Haar ist allerdings höchstwahrscheinlich mit Henna gefärbt.« »Es ist eigenartig, daß es ihm, obwohl er vor so langer Zeit gelebt hat, fast gelungen wäre, uns umzubringen«, sagte Nicho las. »In welchem Land wurde er geboren? In den Schriftrollen sagt er das nicht. Wir werden nie erfahren, ob er aus Griechen land oder Italien stammte, ein alter Germane oder ein Wikinger war, denn wahrscheinlich hat er es selbst auch nicht gewußt.«
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»Da ist er wieder auf dem nächsten Wandgemälde«, sagte Nicholas und zeigte auf das unverwechselbare Gesicht des Eu nuchen, der in einer Reihe anderer Personen ehrfürchtig vor dem Thron kniete, auf dem der Pharao und seine Königin sa ßen. »Wie Hitchcock scheint er eine besondere Vorliebe dafür gehabt zu haben, in seinen eigenen Schöpfungen auch selbst aufzutreten.« Sie gingen weiter an den offenen Schatzkammern vorbei, in denen Teller, Pokale und Schüsseln aus Alabaster und versil berter oder vergoldeter Bronze, glänzende Bronzespiegel und Ballen aus wertvoller Seide und Leinen sowie Wollstoff auf bewahrt wurden, die längst zu unansehnlichen schwarzen Hau fen verrottet waren. An den Wänden zwischen den einzelnen Nischen war die Schlacht gegen die Hyxos dargestellt, die mit dem Tod des Pharao endete, der vom Pfeil des Königs der Hy xos in die Brust getroffen worden war. Auf dem nächsten Bild beugte sich der Arzt Taita mit einem chirurgischen Instrument in der Hand über ihn und entfernte die tief im Fleisch sitzende, blutige Pfeilspitze. In den nächsten Nischen waren Hunderte von Kisten aus Ze dernholz gestapelt. Sie waren mit dem königlichen Wappen des Mamose gekennzeichnet und zeigten den König bei der Toilet te, wie er die Augenlider mit schwarzem Antimonpulver färbte, das Gesicht weiß und scharlachrot schminkte, von seinen Bar bieren rasiert und von seinen Kammerdienern angekleidet wur de. »Einige dieser Kisten werden die Kosmetika des Königs ent halten«, sagte Royan, »und in anderen befinden sich wahr scheinlich die Kleidungsstücke des Pharao, die er zu den ver schiedensten Gelegenheiten im Leben nach dem Tode tragen sollte. Ich würde sie gerne auspacken und ansehen.« Die nächsten Wandgemälde zeigten die Hochzeit des Königs mit der jungendlichen Jungfrau, der Herrin Taitas. Das Gesicht
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der Königin Lostris war mit besonderer Sorgfalt und Liebe gemalt. Der Künstler hatte ihre Schönheit bewundert, hatte mit zärtlichem Pinselstrich ihre nackten Brüste und die weiblichen Formen ihres Körpers gestaltet und damit das Abbild einer in jeder Hinsicht vollkommenen Weiblichkeit geschaffen. »Wie sehr hat Taita sie geliebt«, flüsterte Royan, und in ihrer Stimme schwang ein wenig Eifersucht mit. »Sie sehen es an jedem Pinselstrich.« Nicholas lächelte liebevoll und legte ihr den Arm um die Schultern. Auch in den nächsten Nischen waren Hunderte von Holzki sten aufgestapelt. Die Deckel waren bemalt mit Miniaturen des mit kostbarsten Juwelen geschmückten Pharao. An seinen Fin gern und Zehen trug er goldene Ringe, auf der Brust kostbare Brustmedaillons, während goldene Reifen Arme und Handge lenke schmückten. Auf einem Porträt trug er die doppelte Kro ne der beiden vereinigten ägyptischen Königreiche, die rote und die weiße Krone mit den Köpfen des Geiers und der Kobra über der Stirn. Auf einem zweiten Porträt hatte er die blaue Kriegskrone auf und auf einem dritten die Nemesiskrone mit den ausgebreiteten Schwingen aus Gold und Lapislazuli. »Wenn jede dieser Truhen die Schätze enthält, die auf dem Deckel abgebildet sind –« Nicholas unterbrach sich, unfähig, sich die damit gegebenen Möglichkeiten vorzustellen. Ein sol cher Reichtum war unvorstellbar, und seine Phantasie schreck te vor dieser Vorstellung zurück. »Wissen Sie noch, was Taita in den Schriftrollen schreibt? ›Ich kann nicht glauben, daß ein solcher Schatz jemals an ir gendeinem Ort angehäuft worden ist‹?« fragte Royan. »Es scheint, daß alles noch da ist, jeder Edelstein und jedes Gran Gold. Der Schatz des Mamose liegt unversehrt vor uns.« An den Wänden einer der Nischen waren Regale angebracht, auf denen ushabti-Figuren standen: Puppen, aus Porzellan ge
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gossen oder aus Zedernholz geschnitzt. Es war eine ganze Ar mee winziger Figuren, Männer und Frauen aus allen Berufen und Lebensbereichen: Priester und Schreiber, Rechtsgelehrte und Ärzte, Gärtner und Bauern, Bäcker und Brauer, Hausmäd chen und Tänzerinnen, Näherinnen und Wäscherinnen, Solda ten und Barbiere und gewöhnliche Arbeiter. Jeder trug die für seinen Beruf typischen Werkzeuge und Kleider. Sie begleiteten den König ins Jenseits, um dort für ihn zu arbeiten, und wenn andere Götter bestimmte Dienstleistungen von ihm verlangten, dann mußten sie an seiner Stelle diesem Verlangen nachkom men. Am Ende dieses phantastischen Säulengangs stießen Nicho las und Royan schließlich auf eine Reihe hoher, freistehender Wandschirme, die ursprünglich aus einem feinen weißen Leinengewebe bestanden hatten, aber jetzt zerschlissen und schmutzig wie alte, verstaubte Spinnweben aussahen. Aber dennoch hingen die goldglänzenden Sterne und Rosetten, die diese Vorhänge einmal geziert hatten, immer noch in dem lo sen Geflecht wie Fische in einem Fischernetz. Durch dieses zarte Gewebe aus feinen Seidenfäden und goldenen Sternen erkannten sie die Umrisse einer Öffnung. »Das muß der Zugang zur Grabkammer sein«, flüsterte Roy an. »Jetzt sind wir nur noch durch einen dünnen Schleier von dem König getrennt.« An der Schwelle blieben sie stehen. Eine seltsame Scheu hinderte sie daran, den entscheidenden Schritt zu tun. Als alter Krieger hatte Mek Nimmur die meisten Verwun dungen gesehen und behandelt, mit denen ein Soldat auf dem Schlachtfeld rechnen mußte. Seine kleine Partisanengruppe hatte keinen Arzt oder Sanitäter. Mek behandelte seine Ver wundeten selbst und hatte stets das notwendige Verbandszeug
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bei sich. Seine Männer brachten Tessay in eine der Hütten in der Nähe des Steinbruchs, wo er ihr im Schutz einer Bodenwel le die zerrissenen Kleider auszog und ihre Verletzungen be handelte. Er reinigte ihre Brandwunden und Abschürfungen mit einem Desinfektionsmittel und legte ihr an den schlimm sten Stellen Notverbände an. Dann legte er sie vorsichtig auf den Bauch, nahm eine mit einem Breitbandantibiotikum gefüll te Spritze und gab ihr eine Injektion. Als sie beim Einstich der Nadel zusammenzuckte, sagte er: »Es tut mir leid, ich bin kein sehr guter Arzt.« »Ich möchte keinen anderen haben. Mek! Ich glaubte schon, ich würde dich nie wiedersehen. Das habe ich mehr gefürchtet als den Tod.« Mek holte aus seinem Gepäck ein frisches Sweatshirt und einen Arbeitsanzug für sie und half ihr beim Anziehen. Beide Kleidungsstücke waren allerdings viel zu groß, und deshalb rollte er ganz vorsichtig die Ärmel und Hosenbeine auf. Seine Hände waren die eines Geliebten und nicht die eines Soldaten. »Ich muß sehr häßlich aussehen«, flüsterte sie und bewegte dabei kaum die geschwollenen, schwarzverkrusteten Lippen. »Du bist schön«, widersprach er. »Für mich wirst du immer eine Schönheit sein.« Ganz vorsichtig streichelte er ihre Wan ge, ohne dabei die offenen Brandwunden zu berühren. In diesem Augenblick hörten sie weit im Norden das schwa che Echo der Kanonenschüsse. Mek stand sofort auf. »Es hat angefangen. Nogo greift jetzt an.« »Es ist meine Schuld. Ich habe ihm gesagt –« »Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Es ist nicht deine Schuld. Du hast getan, was du tun mußtest, sonst hätten sie dich noch mehr gequält. Sie hätten uns auch angegriffen, wenn du ihnen nichts erzählt hättest.« Er nahm seinen Pistolengurt und legte ihn an. Wieder hörten
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sie in der Ferne die Detonationen der Mörsergranaten. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Ich weiß. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu ma chen.« »Ich werde mir immer Sorgen um dich machen. Meine Män ner werden dich zum Kloster hinuntertragen, in unseren Bereit stellungsraum. Warte dort auf mich. Ich werde Nogo wahr scheinlich nicht lange Widerstand leisten können. Er ist zu stark. Ich werde sehr bald zu dir zurückkommen.« »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Ich werde auf dich warten, solange ich lebe.« »Du bist meine Frau«, sagte er mit seiner tiefen, sanften Stimme, dann ging er zum Eingang der Hütte und verschwand. Als Nicholas den Rahmen des Wandschirms berührte, ge nügte diese geringe Bewegung, das feine Gewebe abzureißen, das nun auf den Boden fiel. Die Rosetten aus Blattgold, die an diesem feinen Netz befestigt waren, klimperten leise auf den Steinen. Die Öffnung in dem Vorhang war groß genug, um hindurchzugehen, und sie standen vor der inneren Tür. Auf der einen Seite wurde sie bewacht von einer mächtigen Statue des großen Gottes Osiris mit über der Brust gekreuzten Armen, der Hirtenstab und Dreschflegel in den Händen hielt. Gegenüber stand seine Gattin Isis mit der gehörnten Mondkrone auf dem Kopf. Ihre weitgeöffneten Augen blickten heiter und gelassen in die Ferne. Nicholas und Royan gingen zwischen diesen bei den, vier Meter hohen Statuen hindurch und befanden sich nun endlich im Grab des Mamose. Das Dach war gewölbt, und die Wandgemälde zeigten die klassischen ägyptischen Formen. Die Farben waren kräftiger und dunkler und die Komposition komplexer. Die Grabkammer war kleiner, als sie erwartet hatten. Sie bot gerade genug Platz
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für den riesigen Granitsarkophag des göttlichen Pharao Mamose, dessen Deckel ihnen bis an die Brust reichte. An den Seitenwän den befanden sich Flachreliefs, die den Pharao und andere Göt ter zeigten. Der steinerne Deckel hatte die Form des auf dem Rücken liegenden Königs. Nicholas und Royan erkannten so fort, daß er noch nie geöffnet worden war. Die von den OsirisPriestern zu seiner Sicherung angebrachten Tonsiegel waren noch intakt. Bisher hatte noch niemand die Grabkammer betre ten, und die Mumie hatte über die Jahrtausende ungestört in ihrem Grab gelegen. Doch das war es nicht, was sie in Erstaunen versetzte. In der im übrigen korrekt ausgestatteten, klassischen Grabkammer sahen sie zwei Gegenstände, die nicht hier hergehörten: Auf dem Deckel des Sarkophags lag ein prächtiger Kriegsbogen. Er war fast so lang wie ein ausgewachsener Mann und mit glän zendem Draht aus Elektron umwickelt, eine Legierung aus Gold und Silber, deren genaue Zusammensetzung schon im Altertum nicht mehr bekannt war. Der zweite Gegenstand, der auf keinen Fall in eine königli che Grabkammer gehörte, stand am Fuß des Sarkophags: Es war eine kleine menschliche Figur, eine jener ushabti-Puppen. Schon auf den ersten Blick sahen sie, daß es ein kleines Mei sterwerk war, und erkannten die ihnen vertrauten Gesichtszüge. Erst vor wenigen Minuten hatten sie das gleiche Gesicht auf den Wandgemälden außerhalb der Grabkammer im Säulengang gesehen. Die Worte Taitas aus den Schriftrollen schienen in der Grab kammer widerzuhallen und wie glühende Funken in der Luft über dem Sarkophag herumzuschwirren: Als ich zum letzten Mal neben dem königlichen Sarkophag stand, schickte ich alle Arbeiter fort. Ich wollte der letzte sein, der die Grabkammer verließ, und hinter mir würde sie ver schlossen und versiegelt werden.
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Als ich allein war, öffnete ich das lange Bündel, das ich mit gebracht hatte, und entnahm ihm den langen Bogen Lanata. Tanus hatte ihn nach meiner Herrin so genannt, denn als Kind war ihr Name Lanata gewesen. Ich hatte den Bogen für ihn gemacht. Er war das letzte Geschenk von uns beiden. Ich legte ihn auf den geschlossenen Deckel seines Sarges. In dem Bündel befand sich auch ein anderer Gegenstand. Es war die hölzerne, von mir geschnitzte ushabti-Figur. Ich stellte sie am Fuß des Sarkophags auf den Boden. Als ich sie schnitz te, hatte ich drei kupferne Spiegel so aufgestellt, daß ich meine Gesichtszüge von allen Seiten betrachten konnte, um sie natur getreu wiederzugeben. Die kleine Figur war ein Ebenbild des Taita. Auf den Sockel schrieb ich die Worte – Royan kniete sich vor den Sarg auf den Boden und nahm die kleine Holzfigur in die Hand. Sie betrachtete die Figur andäch tig von allen Seiten und sah sich dann die Hieroglyphen auf ihrem Sockel an. Nicholas kniete neben ihr. »Lesen Sie es mir vor«, sagte er. Mit leiser Stimme las sie: »›Mein Name ist Taita. Ich bin ein Arzt und ein Dichter. Ich bin ein Architekt und ein Philosoph. Ich bin dein Freund. Ich werde vor dir Rechenschaft able gen.‹« »So ist also alles wahr«, sagte Nicholas leise. Royan stellte die kleine Figur an die Stele zurück, wo sie ge standen hatte, und wandte ihm, immer noch kniend, ihr Gesicht zu. »Ich habe noch nie einen Augenblick erlebt wie diesen«, flü sterte sie. »Ich wünschte, er würde nie enden.« »Er wird niemals enden, mein Liebling«, erwiderte er. »Du und ich fangen gerade erst an.«
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Mek Nimmur sah sie den Hang herunterkommen. Mit dem geübten Auge des Freischärlers erkannte er, wie sie sich den Weg durch das dichte Dornengestrüpp bahnten. Er schätzte ihren Kampfwert ab und empfand dabei eine gewisse Wehmut. Es waren prächtige und kampferprobte Soldaten, und vor nicht allzulanger Zeit hatte er an ihrer Seite gegen die Tyrannei von Mengistu gekämpft. Wahrscheinlich hatte er sogar viele der Männer, die ihm nun gegenüberstanden, selbst ausgebildet, jetzt rückten sie gegen ihn vor. Das war der Irrsinn des Krieges und der Gewalt auf diesem, von soviel Unheil heimgesuchten Kontinent, wo die endlosen kriegerischen Auseinandersetzun gen durch die alten Stammeszwiste und die Habgier und Kor ruption der modernen Politiker und ihrer längst überholten Ideologien genährt und angeheizt wurden. Aber jetzt war nicht die Zeit für dialektische Überlegungen, dachte er verbittert und konzentrierte sich auf die Frage, wel che Taktik in dem vor ihm liegenden Gelände die günstigste für ihn sei. Ja, das waren tüchtige Soldaten. Er sah es an der Art ihres Vorgehens. Unsichtbar wie Gespenster schlichen sie durch das Gestrüpp. Auf jeden, den er ausmachen konnte, ka men sicher noch zwölf andere, die er nicht sah. »Kompaniestärke«, dachte er und schaute sich nach seiner eigenen kleinen Kampfgruppe um. Vierzehn Mann lagen hinter den Gesteinstrümmern, und sie konnten nur hoffen, den Gegner hart zu treffen, solange das Überraschungsmoment auf ihrer Seite war, und sich zurückzuziehen, bevor Nogo sich mit sei nen Granatwerfern auf den Berggipfel eingeschossen hatte, auf dem sie lagen. Er schaute nach oben und überlegte sich, ob Nogo Unterstüt zung aus der Luft anfordern würde. Eine Gruppe der in Adis Abeba stationierten, sowjetischen Tupolews könnte in fünf unddreißig Minuten hier sein, und er glaubte schon fast, den süßlichen Geruch des Napalm im feuchten Wind wahrzuneh
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men und zu sehen, wie der Rauch und die Flammen des bren nenden Unterholzes auf ihn zukamen. Das war das einzige, was seine Männer wirklich fürchteten. Aber es würde keinen Luft angriff geben – nicht diesmal; davon war er überzeugt. Nogo und der deutsche Schiller, der ihn bezahlte, waren scharf auf die Schätze aus der Grabkammer, die Nicholas QuentonHarper in dieser Schlucht entdeckt hatte. Sie hatten nicht die Absicht, sie mit den vollgefressenen Aristokraten in Adis Abe ba zu teilen. Deshalb wollten sie auch die Regierung nicht auf sich und ihren kleinen Privatkrieg in der Abbay-Schlucht auf merksam machen. Er schaute wieder den Hang hinunter. Der Feind ging recht geschickt vor und umging die Anhöhe, um dann den am Dan dera-Fluß entlangführenden Pfad zu überqueren. Sehr bald würden sie einen Spähtrupp heraufschicken, um ihre Flanke zu sichern, bevor sie weiter vorrückten. Ja, da waren sie. Acht, nein, neun Mann hatten den Verband verlassen und kamen jetzt vorsichtig auf ihn zu. Ich werde sie ganz nah heranlassen, beschloß er. Am besten wäre es, wenn ich sie alle erledigen könnte, aber das wäre wohl zuviel verlangt. Ich würde mich mit vier oder fünf zufrieden geben, und es wäre gut, wenn im Busch ein paar Verwundete um Hilfe schreien würden. Er grinste schadenfroh. Nichts ent mutigt die Soldaten so wie das Geschrei eines Verwundeten, der einen Bauchschuß bekommen hat. Dann gehen sie sofort in volle Deckung. Er blickte noch einmal zu dem steinigen Abhang hinüber und brachte sein leichtes Maschinengewehr vom Typ RPD so in Stellung, daß es den vorrückenden Feind sofort unter Be schuß nehmen konnte. Sein Maschinengewehrschütze Salim verstand es hervorragend, mit dieser Waffe umzugehen. Viel leicht würde es doch gelingen, mehr als fünf feindliche Solda ten zu treffen.
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Wir werden sehen, dachte Mek, aber ich muß das Feuer ge nau im richtigen Augenblick eröffnen. Er sah, daß in dem Felsgrat unter ihm eine Lücke war. Sie werden sich beim Überklettern des Felsgrats nicht unse rem Feuer aussetzen wollen, dachte er. Wahrscheinlich werden sie versuchen, rasch durch die Lücke zu kommen. In diesem Augenblick müssen wir das Feuer eröffnen. Er sah, wie Salim mit dem Maschinengewehr im Anschlag auf sein Zeichen wartete. Dann blickte er wieder hinunter auf den Hang. Ja, dachte er. Die Gruppe rückt jetzt zusammen. Der große Mann links hat schon die Richtung gewechselt. Die beiden diesseits von ihm nähern sich der Lücke. Die Farbe der Tarnanzüge von Nogos Soldaten war hervor ragend der Landschaft angepaßt, und ihre Gewehrläufe waren mit Lumpen und Tarnnetzen umwickelt, so daß sie nicht das Sonnenlicht reflektieren konnten. Im dichten Unterholz waren sie praktisch unsichtbar. Sie verrieten sich nur durch ihre Be wegungen und ihre Hautfarbe. Inzwischen waren sie schon so nah, daß Mek sehen konnte, wie ihre Augäpfel glänzten, aber er hatte noch nicht den Maschinengewehrschützen ausmachen können. Er mußte das MG mit dem ersten Feuerstoß zum Schweigen bringen. Ach ja, dachte er erleichtert. Da ist er. An der rechten Flanke. Ich hätte ihn fast übersehen. Es war ein kleiner untersetzter Mann mit breiten Schultern und langen Armen wie ein Affe. Er trug sein Maschinengewehr lässig auf der Hüfte, eine sowjetische 7.62 mm RPD. Mek hatte ihn am Aufblitzen der Patronenhülsen aus Messing erkannt, die er in einem Patronengurt über der Schulter trug. Mek rutschte vorsichtig um den Felsblock herum, hinter dem er gelegen hatte, stellte sein Sturmgewehr auf Schnellfeuer ein und preßte seine Wange an den hölzernen Kolben. Es war seine
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persönliche Waffe. Ein Waffenschmied in Adis Abeba hatte das Gewehr für ihn zusammengebaut, justiert und den Schaft, in dem der Lauf lag, zur Abdämpfung mit Glaswolle gefüttert. Das alles war geschehen, um die Treffsicherheit dieser Waffe zu verbessern. Damit war es noch immer nicht das Gewehr eines Scharfschützen, aber nachdem diese Verbesserungen vorgenommen worden waren, durfte er damit rechnen, daß auf hundert Meter jeder Schuß die Scheibe innerhalb eines Kreises mit einem Durchmesser von etwa fünf Zentimetern traf. Der Mann mit dem sowjetischen Maschinengewehr war wei ter den Hang hinaufgestiegen und jetzt bis auf fünfzig Meter an ihn herangekommen. Mek blickte nach rechts, um sich zu ver gewissern, daß die drei anderen auf die Lücke zugingen, in der Salim sie mit einem Feuerstoß erledigen konnte. Dann richtete er sein Zielfernrohr auf die Gürtelschnalle über dem Bauch des Maschinengewehrschützen und feuerte einen kurzen Feuerstoß mit drei Schüssen ab. Der Lauf des Sturmgewehrs wurde nach oben gerissen, und das Krachen der Schüsse dröhnte Mek in den Ohren, aber er sah, wie seine Geschosse in den Oberkörper des Mannes ein schlugen. Das erste traf ihn unten im Bauch, das zweite in das Zwerchfell und das dritte am Halsansatz. Er wirbelte herum, warf die Arme in die Höhe und stürzte rückwärts ins Gebüsch. Zugleich feuerten auch Meks Männer auf die angreifenden Soldaten. Er hatte nicht gesehen, wie viele Salim mit seinem Maschinengewehr erledigt hatte, denn sie waren alle in Dek kung gegangen. Der Pulverdampf zog als blauer Schleier durch die Luft, als sie das Feuer erwiderten, und Gras und Buschwerk zitterten im Luftzug der feindlichen Geschoßgarben. In diesem Gefechtslärm und obwohl die von den Felswänden abprallenden Querschläger laut pfeifend durch die Luft flogen, hörte Mek plötzlich das klägliche Wimmern eines Verwunde ten.
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»Ich bin getroffen. In Allahs Namen, helft mir.« Die Schreie hallten schaurig durch das Tal, und das feindliche Feuer ließ merklich nach. Mek schob ein neues Magazin in sein Sturm gewehr. »Sing, kleiner Vogel, sing!« brummte er grimmig. Nicholas, Hansith und acht starke Männer mußten ihre ganze Kraft einsetzen, um den Deckel des Steinsarkophags abzuhe ben und ihn dann vorsichtig an die Wand der Grabkammer zu lehnen. Als das geschehen war, stiegen Royan und Nicholas auf den Sockel des Sarkophags und schauten hinein. Dort stand ein großer Holzsarg, der das Innere des Steinsar kophags vollständig ausfüllte. Auch sein Deckel zeigte das Abbild des auf dem Rücken liegenden Pharao. Er lag in der Haltung eines Toten da, hatte die Arme über die Brust gekreuzt und hielt den Dreschflegel und den Krummstab in den Händen. Der Sarg war vergoldet und mit Halbedelsteinen besetzt. Der Gesichtsausdruck des Königs zeigte heitere Gelassenheit. Sie hoben den Sarg, der leichter war als der Steindeckel, aus dem Sarkophag. Vorsichtig entfernte Nicholas die goldenen Siegel und das getrocknete Harz zwischen Sarg und Deckel. In dem ersten Holzsarg lag ein zweiter, der genau hineinpaßte. Als sie ihn öffneten, kam ein dritter zum Vorschein, und so ging es weiter wie bei den russischen Puppen in der Puppe. Am Schluß waren es sieben Särge, und jeder neue Sarg war schöner und kostbarer als der vorige. Der siebente Sarg war aus purem Gold und nur wenig länger als ein auf dem Rücken lie gender Mann. Seine goldene Oberfläche reflektierte das Licht der Lampen wie tausend Spiegel, so daß der ganze Innenraum der Grabkammer von seinen Strahlen erhellt wurde. Als sie den goldenen Sarg öffneten, sahen sie, daß er mit Blumen gefüllt war. Die Blüten waren vertrocknet, hatten ihre
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ursprüngliche Farbe verloren und zeigten nur noch ein stump fes Braun. Ihr Duft war längst verflogen, und es roch nur noch leicht nach Moschus. Die Blütenblätter waren so trocken und dünn, daß sie bei der leisesten Berührung zu Staub zerfielen. Sie lagen auf einem Leinentuch, das ursprünglich weiß gewe sen sein mußte. Mittlerweile aber eine bräunliche Farbe ange nommen hatte. Unter den Falten des Leinens sahen sie einen goldenen Schimmer. Nicholas und Royan standen sich an den beiden Seiten des Sarges gegenüber und nahmen mit spitzen Fingern das papier dünne Leinentuch heraus, das leise knisterte und sich nur stückweise entfernen ließ. Und als die darunterliegende golde ne Totenmaske des Pharao auftauchte, stockte ihnen der Atem. Sie war nur wenig größer als der Kopf eines Mannes, aber ein in allen Einzelheiten sorgfältig gearbeitetes Porträt. In diesem einmaligen Kunstwerk waren die Gesichtszüge des Pharao für alle Ewigkeit festgehalten. In stiller Bewunderung schauten sie dem Pharao in die Augen aus Obsidian und Bergkristall, und der Pharao erwiderte ihre Blicke mit einem schwermütigen, fast vorwurfsvollen Lächeln. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie den Mut fanden, die Maske hochzuheben und sich den Kopf der Mumie anzusehen. Und als sie es taten, fanden sie sich in ihrer Vermutung bestä tigt, daß die einbalsamierten Leichen des Pharao und seines Feldherrn Tanus gegeneinander ausgetauscht worden waren. Die vor ihnen liegende Mumie war offensichtlich zu groß für den Sarg, in dem sie lag. Man hatte die Leinenbandagen zum Teil abgewickelt und den Toten in den zu kleinen Sarg hinein gezwängt. »Unter den Binden einer königlichen Mumie würde man Hunderte von Talismanen und Amuletten finden«, flüsterte Royan. »Dies ist die ganz schlicht beigesetzte Leiche eines Adeligen und nicht die eines Königs.«
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Nicholas entfernte vorsichtig die Bandage um den Kopf des Toten, und darunter zeigte sich ein dicker geflochtener Zopf. »Auf den Porträts des Pharao Mamose an den Wänden des Säulengangs hat er rote, mit Henna gefärbte Haare«, sagte Ni cholas. »Aber sehen Sie sich diesen Zopf an.« Das Haar hatte die Farbe des winterlichen Grases auf der afrikanischen Savanne, gold- und silberfarben. »Jetzt besteht kein Zweifel mehr. Dies ist die Mumie von Tanus, des Freundes von Taita und des Geliebten der Köni gin.« »Ja«, sagte Royan mit Tränen in den Augen. »Er ist der wirkliche Vater des Sohnes von Lostris, des späteren Pharao Mamose, und Vorfahre einer Reihe bedeutender, ägyptischer Könige. Dies ist also der Mann, dessen Nachkommen eine be deutende Rolle in der Geschichte des alten Ägypten gespielt haben.« »Auf seine Weise war er ebenso bedeutend wie jeder Pha rao«, sagte Nicholas ruhig. Es war Royan, die empört ausrief: »Der Fluß! Wir können das alles doch nicht aufgeben, weil der Fluß bald Hochwasser führt.« »Wir dürfen aber auch nicht hoffen, alles retten zu können. Es ist einfach zu viel. Eine fast unübersehbare Menge von Schätzen. Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, und deshalb müssen wir die schönsten und wertvollsten Stücke in die Muni tionskisten verpacken. Gott allein weiß, ob uns dafür noch ge nug Zeit bleibt.« Also arbeiteten sie unermüdlich, solange es ihnen noch mög lich war. Sie konnten nicht einmal daran denken, die Statuen und Wandgemälde, die Möbel und Waffen, das Geschirr und die zahlreichen Bekleidungsstücke zu retten. Der große goldene
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Streitwagen mußte stehen bleiben, wo er schon seit viertausend Jahren gestanden hatte. Sie nahmen die goldene Totenmaske vom Kopf des Tanus, ließen aber seine Mumie im goldenen Sarg liegen. Dann ließ Nicholas Mai Metemma zu sich bitten. Der alte Abt kam mit zwanzig Mönchen, um die Reliquie des alten Heiligen in Emp fang zu nehmen, die man ihm zur Belohnung versprochen hat te. Unter feierlichen liturgischen Gesängen trugen sie den Sarg des Tanus fort und brachten ihn zu seinem neuen Ruheplatz im Allerheiligsten des Klosters. »Endlich wird der alte Held mit dem ihm gebührenden Re spekt behandelt«, sagte Royan leise. Dann sah sie sich in der Grabkammer um. »Wir dürfen die Särge und ihre Deckel hier nicht so unordentlich herumliegen lassen«, sagte sie. »Es sieht aus, als hätten Grabräuber hier ihr Unwesen getrieben.« »Wir sind doch Grabräuber«, sagte Nicholas und lächelte sie an. »Nein, wir sind Archäologen«, widersprach sie ihm heftig, »und wir müssen versuchen, uns entsprechend zu verhalten.« Also legten sie die sechs übriggebliebenen Särge wieder in der richtigen Reihenfolge in den großen Steinsarkophag und deckten ihn mit dem schweren Deckel zu. Erst jetzt erklärte sich Royan bereit, die Schätze, die sie mitnehmen wollten, aus zusuchen und zu verpacken. Die goldene Totenmaske war zweifellos der wertvollste Ge genstand in der Grabkammer. Sie und die hölzerne ushabti von Taita paßten sehr gut in eine der Munitionskisten und wurden sicher in Styropor verpackt. Auf den Deckel der Kiste schrieb Royan mit einem wasserfesten Wachsstift: »Maske Taita ushabti«. Das Auswählen und Verpacken der übrigen Kunstgegen stände mußte gezwungenermaßen in großer Eile vorgenommen werden. Sie konnten nicht jede der Zedernholzkisten öffnen,
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die in den Nischen entlang des Säulengangs aufgestapelt wa ren. Allein diese vergoldeten und bemalten Kisten waren unbe zahlbare Kunstwerke und hätten entsprechend behandelt wer den müssen. Sie entschieden sich nach den auf den Deckeln dargestellten Gegenständen und stellten fest, daß diese Darstel lungen dem Inhalt der Kisten entsprachen. In der Kiste, die den Pharao mit der blauen Kriegskrone auf dem Kopf zeigte, fan den sie diese Krone, eingebettet in vergoldete Lederkissen. Trotz der kurzen Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, be trachteten sie überwältigt die Pracht und Schönheit der Kunst werke in den Zedernholzkisten. Sie fanden nicht nur die blaue Krone, sondern auch die rotweiße Krone der beiden Königrei che und die prächtige Nemes-Krone, und zwar alle drei so gut erhalten, als habe der Pharao sie noch am gleichen Morgen getragen. Es war ihnen von vornherein klargewesen, daß sie nur Kunstgegenstände mitnehmen konnten, die in die Munitionski sten paßten. Wenn etwas zu groß war, dann mußte es ungeach tet seines künstlerischen oder historischen Werts in der Grab kammer zurückgelassen werden. Zum Glück paßten viele der Zedernholzkisten mit den königlichen Juwelen sehr gut in die Munitionskisten, so daß nicht nur der Inhalt, sondern auch die Zedernholzkisten selbst gerettet werden konnten. Doch die größeren Gegenstände wie die großen, mit Juwelen besetzten Brustschilde mußten umgepackt werden. Nachdem die Munitionskisten vollgepackt waren, wurden sie hinuntergetragen und auf den Treppenabsatz vor der geschlos senen Tür zum Abtransport bereitgestellt. Einschließlich der Kisten mit den acht Götterstatuen aus der langen Galerie, hat ten sie achtundvierzig Munitionskisten vollgepackt und katalo gisiert, als sie Sappers Stimme auf der Treppe hörten. »Herr Major, wo, zum Teufel, bleiben Sie? Sie dürfen hier nicht mehr länger herumkramen. Kommen Sie mit, Mann! Be
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wegen Sie Ihren verdammten Arsch und kommen Sie heraus. Der Fluß führt schon Hochwasser, und der Damm kann jede Minute brechen.« Sapper kam die Treppe heraufgesprungen, aber selbst er blieb staunend stehen, als er zum ersten Mal die ganze Pracht der letzten Ruhestätte des Pharao Mamose sah. »Ich meine es ernst, Herr Major! Jetzt geht es um Minuten und nicht um Stunden. Der verdammte Damm wird brechen. Und außerdem ist Mek in den Bergen am Ende der Schlucht in ein Gefecht verwickelt. Man kann das Gewehrfeuer sogar un ten in Taitas Becken hören. Sie und Royan müssen sofort he rauskommen, das ist kein Scherz!« »Okay, Sapper, wir sind schon unterwegs. Gehen Sie hinun ter bis zu der Kammer unterhalb der Treppe. Haben sie dort die Munitionskisten gesehen?« Sapper nickte, und Nicholas fuhr fort: »Lassen Sie die Kisten von Ihren Männern zum Kloster bringen. Diesen Transport müssen Sie persönlich überwachen. Wir werden Ihnen mit den anderen folgen.« »Halten Sie sich nicht auf, Herr Major. Ihr Leben ist dieses alte Gerumpel nicht wert. Kommen Sie schon!« »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, Sapper. Aber sagen Sie zu Royan nicht, daß es altes Gerumpel sei. Das würde Ihnen nicht gut bekommen.« Nachdem Sapper gegangen war, lief Nicholas wieder hinun ter in den Säulengang, wo Royan immer noch in der Schatz kammer arbeitete. »Genug!« schrie er sie an. »Keine Zeit mehr. Wir müssen jetzt gehen.« »Nicky, wir können das nicht liegenlassen –« »Hinaus!« Er faßte sie am Arm. »Wir gehen jetzt, es sei denn, Sie wollen auf ewig bei Tanus in seiner Grabkammer bleiben.« »Kann ich nicht nur –«
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»Nein, Sie verrücktes Weib! Jetzt! Der Damm kann jeden Augenblick brechen.« Sie riß sich von ihm los, griff in die neben ihr stehende offe ne Kiste und steckte sich einige Handvoll der darin liegenden Juwelen in die Taschen. »Ich kann das doch nicht zurücklassen.« Er faßte sie um die Taille und nahm sie auf die Schulter. »Ich habe doch gesagt, ich meine es ernst«, sagte er streng und lief mit ihr den Säulengang hinunter. »Nicky! Lassen sie mich los!« Sie strampelte wütend, aber er lief weiter bis zu der Kammer unterhalb der Treppe. Hansith und seine Männer schleppten die letzten vollgepack ten Munitionskisten die Treppe auf der anderen Seite der Kammer hinauf. Sie trugen die Kisten auf den Köpfen und kletterten leichtfüßig die Stufen nach oben. Hier stellte Nicholas Royan wieder auf die Füße. »Wollen Sie mir jetzt versprechen, sich künftig besser zu benehmen? Das ist kein Kinderspiel. Wir sind in tödlicher Gefahr – und das heißt, es wird uns das Leben kosten, wenn wir hier nicht mehr herauskommen.« »Ich weiß«, sagte sie reumütig. »Ich konnte das alles nicht einfach so liegenlassen.« »Genug davon. Gehen wir.« Nicholas packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Nach ein paar Schritten entzog sie ihm die Hand und fing an zu laufen, überholte ihn und erreichte ein paar Stufen vor ihm das obere Ende der Treppe. Die Träger mit ihren schweren Lasten kamen gut voran. Ni cholas und Royan mußten sich auf dem Weg durch das Laby rinth in ihre lange Kolonne einreihen und waren dankbar für die Wegweiser an jeder Ecke. So kamen sie auf der direkt nach unten führenden Treppe in der verwüsteten langen Galerie an, ohne irgendwo in die falsche Richtung gegangen zu sein. Sapper wartete auf sie an den Trümmern des bereits verschlossenen
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Zugangs und brummte erleichtert, als er sie unter den Trägern sah. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten vorausgehen und die Boote fertig machen«, rief Nicholas ihm zu. »Ich konnte mich nicht darauf verlassen, daß Sie keine Dummheiten machen würden«, erwiderte Sapper mißmutig. »Ich wollte mich vergewissern, daß Sie mir auch wirklich nachkamen.« »Ich bin gerührt, Sapper«, sagte Nicholas und klopfte ihm auf die Schulter. Dann liefen sie weiter durch den Tunnel und überquerten die über die Senkgrube führende Brücke. »Wo ist Mek?« rief Nicholas dem vor ihm laufenden Sapper zu. »Haben Sie Tessay gesehen?« »Tessay ist wieder da. Sie hat Schlimmes durchgemacht. Of fenbar ist sie furchtbar gefoltert worden.« »Was ist mit ihr geschehen?« fragte Nicholas entsetzt. »Wo ist sie?« »Es sieht so aus, als sei sie Schillers Gorillas in die Hände gefallen, die sie fürchterlich zugerichtet haben. Meks Männer bringen sie hinunter ins Kloster. An den Booten wird sie auf uns warten.« »Gott sei Dank«, murmelte Nicholas und fragte dann: »Und was macht Mek?« »Er versucht, einen Angriff Nogos abzuwehren. Ich habe schon den ganzen Morgen Gewehrfeuer und die Detonationen von Artillerie und Mörsergranaten gehört. Auch er wird sich zurückziehen und an den Booten auf uns warten.« Die letzten Meter, bevor sie den Tunnel verließen, liefen sie durch knöcheltiefes Wasser und Schlamm und kletterten dann über den Staudamm auf den Steinsims. Von hier aus sah Ni cholas, wie Hansiths Träger mit den Munitionskisten das Bam busgerüst zum oberen Rand der Klippe hinaufkletterten. In diesem Augenblick hörte er ein ihm bekanntes Geräusch.
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Er neigte den Kopf zur Seite, um genauer hinzuhören, und wandte sich dann an Royan. »Geschützfeuer! Das ist Mek im Kampf gegen Nogos Soldaten, aber es ist schon verdammt nah.« »Mein Brotbeutel!« rief Royan und wollte zu ihrer Grashütte am Fuß der Klippe laufen. »Ich brauche meine Handtasche.« »Jetzt werden Sie weder Ihren Schlafanzug, noch Ihr Make up brauchen. Ihren Paß habe ich in der Tasche.« Er packte sie am Arm und zog sie zurück zur untersten Stufe der Leiter. »Das einzige, was Sie jetzt brauchen, ist ein möglichst großer Abstand zu Oberst Nogo. Kommen Sie, Royan!« Sie kletterten das Bambusgerüst hinauf, und als sie oben an kamen, war Royan überrascht, festzustellen, daß die heiße Sonne hoch am Himmel stand, denn in dem kalten düsteren Labyrinth hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Nun wendete sie das Gesicht dankbar der Sonne zu und genoß die Wärme, wäh rend Nicholas sich vergewisserte, daß alle Träger mit den Mu nitionskisten aus der Schlucht herausgekommen waren. Sapper setzte sich an die Spitze der Reihe von Trägern, die ihm auf dem Pfad durch die Akazien folgten. Nicholas und Royan warteten, bis die ganze Kolonne an ihnen vorüber war, und schlossen sich an. Der Gefechtslärm war jetzt beunruhi gend nah, und sie hatten den Eindruck, daß schon unmittelbar hinter ihnen in einer Entfernung von weniger als achthundert Metern gekämpft wurde. Das Geknatter der automatischen Waffen trieb die Träger zur Eile an, und die Kolonne durch querte den Akazienwald im Laufschritt, um den zum Kloster hinunterführenden Pfad zu erreichen, bevor Nogo ihnen den Weg abschneiden konnte. Bevor sie an die Wegkreuzung ka men, stießen sie auf ein paar Männer mit einer Tragbahre. Auch sie wollten zum Kloster hinunter. Zunächst glaubte Ni cholas, sie trügen einen Verwundeten aus der Kampfgruppe von Mek. Doch selbst als er sie eingeholt hatte, dauerte es ei
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nen Augenblick, bis er das geschwollene und verbrannte Ge sicht Tessays erkannte. »Tessay!« Er beugte sich über sie. »Wer hat Ihnen das ange tan?« Sie sah ihn mit den traurigen, dunklen Augen eines verletz ten Kindes an und schilderte stotternd, was geschehen war. »Helm!« rief Nicholas wütend. »Ich wünschte, ich könnte dieses Scheusal zu fassen kriegen.« Im gleichen Augenblick kam auch Royan heran und schrie entsetzt auf, als sie Tessays Gesicht sah. Sie übernahm es sofort, weiter für Tessay zu sor gen. Nicholas kannte einen der Männer, die Tessay hergebracht hatten, und erkundigte sich bei ihm: »Mezra, wie steht es da draußen?« »Nogo hat uns mit einer Kampfgruppe aus der Gegend öst lich der Schlucht umgangen, und wir ziehen uns jetzt zurück. Das ist nicht unsere Art zu kämpfen.« »Ich weiß«, sagte Nicholas. »Untergrundkämpfer müssen in Bewegung bleiben. Wo ist Mek Nimmur?« »Er weicht dem Gegner aus und geht mit seinen Leuten über den östlichen Hang in die Schlucht hinunter.« Während Mezra sprach, hörten sie den Gefechtslärm hinter sich. »Das ist er«, nickte Mezra. »Er wird hart von Nogo bedrängt.« »Welchen Befehl haben Sie?« »Wir sollen Lady Sun zu den Booten bringen und dort auf Mek Nimmur warten.« »Sehr gut!« sagte Nicholas. »Wir werden Ihnen folgen.« Der Jet Ranger flog sehr niedrig, hielt sich dabei an die Kon turen des Geländes und wich jeder größeren Bodenerhebung aus. Helm wußte, daß die Männer von Mek Nimmur mit Boden luftraketen ausgerüstet waren. In den Händen gut ausgebildeter
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Soldaten waren das tödliche Waffen gegen einen langsamen, unbewaffneten Hubschrauber, wie es der Jet Ranger war. Der Pilot konnte sich nur dadurch schützen, daß er geschickt das Gelände ausnutzte und alle Schleifen und Windungen in den Flußtälern entlangflog, um nicht in das Schußfeld der Raketen zu geraten. Obwohl die Regenwolken bereits bis in die Abbay-Schlucht hinunterreichten, blieb der Hubschrauber noch ein gutes Stück darunter. Trotzdem wurde er immer wieder von heftigen Wind stößen gefährlich durchgerüttelt, und schwere Regentropfen prasselten gegen die Windschutzscheibe. Der Pilot lehnte sich in seinen Sicherheitsgurten nach vorn und richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, den Hubschrauber trotz diesen ungün stigen Bedingungen unter Kontrolle zu behalten. Helm saß rechts neben dem Piloten. Schiller und Nahoot Gudabi hatten hinter ihnen in der Fahrgastkabine Platz ge nommen. Sie beide schauten nervös aus den Fenstern, während sie so nah an den bewaldeten Hängen vorbeiflogen, daß sie fürchteten, die Rotoren könnten sich in den Zweigen der Bäu me verfangen. In Abständen von wenigen Minuten hörten sie in ihrem Funkgerät, wie die Männer Nogos um Artillerieunterstützung baten oder meldeten, ein bestimmtes Ziel erreicht zu haben. Der Pilot übersetzte Schiller die Funksprüche: »Über der Schlucht ist es zu einem heftigen Feuergefecht gekommen, aber die Banditen weichen zurück. Nogo hat seine Leute fest in der Hand. Sie haben eben eine starke Gruppe von der Anhöhe östlich von uns vertrieben«, sagte er und wies mit der Hand nach links, »und sie beschießen die zurückweichenden Bandi ten mit Granatwerfern.« »Haben sie schon die Stelle in der Schlucht erreicht, wo Quenton-Harper gearbeitet hat?« »Das ist noch nicht ganz klar. Es herrscht ein ziemliches
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Durcheinander.« Der Pilot hörte einen Funkspruch in arabi scher Sprache. »Ich glaube, eben hat Nogo selbst gesprochen.« Schiller drehte sich zu Helm um und befahl: »Fragen Sie, ob Nogos Männer schon bis zur Grabkammer vorgedrungen sind.« Helm nahm das Mikrofon von dem Haken unter dem Arma turenbrett. »Bismarck ruft Rosenblatt. Hören Sie mich?« Zunächst waren nur atmosphärische Störungen zu hören. Dann antwortete Nogo auf Englisch: »Sprechen Sie, Bis marck.« »Haben Sie das erste Ziel erreicht? Bitte kommen.« »Das haben wir, Bismarck. Alles in unserer Hand. Wider stand gebrochen. Schicke meine Männer die Leiter hinunter mit dem Auftrag, alles aufzuräumen.« Helm drehte sich in seinem Sitz um und meldete Schiller: »Nogos Männer sind in der Schlucht. Wir können jetzt lan den.« »Sagen Sie ihm, keiner seiner Männer dürfe die Anlage be treten, bevor ich da bin.« Triumphierend fügte Schiller hinzu: »Ich muß der erste sein. Sagen Sie ihm das.« Während Helm die Befehle an Nogo weitergab, klopfte Schiller dem Piloten auf die Schulter. »Wie lange wird es dau ern, bis wir dort sind?« »Etwa fünf Minuten Flugzeit, Sir.« »Wenn wir dort sind, kreisen Sie zunächst über der Stelle. Landen Sie nicht, bevor wir uns vergewissert haben, daß Nogo alles in der Hand hat.« Der Pilot betätigte die Steigungssteuerung, und das Geräusch der Rotoren änderte sich zugleich mit dem Neigungswinkel. Der Hubschrauber drosselte die Geschwindigkeit und blieb dann über Taitas Becken in der Luft stehen. Der Pilot deutete nach unten. »Was ist das?« fragte Schiller. »Was sehen Sie?« »Den Damm«, erwiderte Helm. »Quenton-Harpers Damm.
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Das hat viel Arbeit gekostet.« Das zurückgestaute Wasser lag grau und schmutzig unter ih nen, getrübt vom Schlamm des Flusses. Das in den Seitenkanal abgeleitete Wasser strömte schäumend in das Tal hinunter. »Verlassen!« sagte Helm. »Harper hat seine Männer abgezo gen.« »Was ist das für ein gelber Gegenstand am Flußufer?« wollte Schiller wissen. »Das ist der Bagger. Sie erinnern sich doch? Mein Informant hat uns darüber berichtet.« »Verschwenden wir keine Zeit mehr«, sagte Schiller. »Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Vorwärts!« Helm klopfte dem Piloten auf die Schulter und deutete stromabwärts. Sapper wartete an der Wegegabelung an der Stelle auf sie, wo der umgeleitete Fluß ins Tal toste und der Pfad verschwun den war. So mußten sich die Träger, die in einer langen Reihe mit den Munitionskisten auf den Köpfen das Tal herunterka men, einen neuen Weg suchen. Die Tragbahre mit Tessay befand sich am Ende der Kolonne. Royan und Nicholas gingen links und rechts neben ihr her und halfen den Trägern bei den schwierigen Stellen. »Wo ist Hansith?« rief Nicholas Sapper zu, legte sich eine Hand schützend über die Augen und versuchte, den großen Mönch in der langen Reihe der Träger zu erkennen. »Ich dachte, er sei bei Ihnen«, rief Sapper zurück. »Ich habe ihn nicht gesehen, seit wir die Schlucht verlassen haben.« Ni cholas schaute zurück auf den Fußweg, der durch die Akazien führte, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Verdammter Kerl«, brummte er. »Wir können doch nicht zurückgehen und nach ihm suchen. Jetzt wird er allein ins Klo
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ster zurückfinden müssen.« Im gleichen Augenblick hörten sie das schwache, aber un verkennbar flatternde Geräusch der Hubschrauberrotoren in der heißen, feuchten Luft unter den tiefhängenden Wolken. »Der Pegasus-Hubschrauber! Wahrscheinlich fliegt Schiller jetzt zu Taitas Becken. Er muß schon die ganze Zeit genau ge wußt haben, wo wir arbeiteten«, sagte Nicholas verbittert. »Er verschwendet keine Zeit. Wie ein Geier wittert er das Aas.« Auch Royan schaute nach oben und versuchte, den Hub schrauber vor den dunklen Wolken auszumachen. Ihre Wangen waren gerötet, und schweißnasse Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. »Wenn diese Schweine in unsere Grabkammer ein dringen, dann werden sie diesen heiligen Ort entweihen«, sagte sie wütend. Plötzlich faßte sie Nicholas über die Tragbahre hinweg am Arm und sagte ernst und entschlossen: »Sie haben recht. Be gleiten Sie Tessay zum Kloster. Ich werde später nachkom men.« Bevor sie ihm widersprechen oder etwas fragen konnte, ging er hinüber zu Sapper. »Ich lasse die beiden Frauen in Ihrer Obhut, Sapper. Küm mern Sie sich um sie.« »Wohin gehen Sie, Nicky?« Royan war ihm nachgekommen und hatte gehört, was er zu Sapper sagte. »Was werden Sie tun?« »Nur eine Kleinigkeit. Es wird nicht lange dauern.« »Sie werden doch nicht dorthin zurückgehen?« Sie war ent setzt. »Man wird Sie umbringen, oder Sie werden das gleiche erleben wie Tessay. Sie haben gesehen, was Helm ihr angetan hat –« »Reg dich nicht auf, mein Liebling«, lachte er, und noch be vor sie merkte, was er vorhatte, gab er ihr einen zärtlichen Kuß auf den Mund. Irgendwie war es ihr peinlich, daß er ihr seine Zuneigung vor all diesen Männern so deutlich gezeigt hatte. Er
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schien das zu spüren und ließ sie sofort wieder los. »Kümmern Sie sich um Tessay. Wir treffen uns dann an den Booten.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, lief er mit langen Schritten über das unebene Gelände davon und ließ ihr keine Möglich keit, ihn zurückzuhalten. »Nicky!« rief sie verzweifelt, aber er tat so, als höre er sie nicht, lief weiter und folgte dem alten Bett des Flusses strom aufwärts zum Damm zurück. Der Jet Ranger folgte dem gewundenen Verlauf des Flusses unterhalb des Damms. Manchmal konnten sie direkt zwischen die hohen Klippen in die schattige, trockengelegte Schlucht sehen. »Dort sind sie!« Helm zeigte geradeaus auf eine kleine Gruppe von Männern am Rand der Schlucht. »Vergewissern Sie sich, daß es keine Banditen sind!« Offen bar fürchtete Schiller, in eine Falle zu geraten. »Nein!« beruhigte ihn Helm. »Ich erkenne Nogo, und der große Mann neben ihm mit dem weißen Umhang ist unser In formant, der Mönch Hansith Sherif.« Er rief dem Piloten zu: »Sie können jetzt tiefer gehen und landen. Dort! Nogo winkt Sie ein!« Als die Kufen des Helikopters den Boden berührten, kamen Nogo und Hansith auf ihn zugelaufen. Gemeinsam halfen sie Schiller beim Aussteigen und begleiteten ihn aus dem Bereich der sich drehenden Rotoren. »Meine Männer haben das Gebiet abgesichert«, erklärte No go. »Wir haben die Banditen weiter in das Flußtal getrieben. Dieser Mann ist Hansith Sherif. Er hat mit Harper in der Grab kammer gearbeitet und kennt jeden Winkel in den Tunnels.« »Spricht er Englisch?« fragte Schiller und blickte zu dem hochgewachsenen Mann auf. »Ein wenig«, antwortete Hansith.
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»Gut! Gut!« Schiller sah ihn freundlich an. »Zeigen Sie mir den Weg. Ich werde Ihnen folgen. Kommen Sie, Guddabi, es wird Zeit, daß Sie etwas für das Geld tun, das ich Ihnen zahle.« Hansith führte sie zu dem an der Steilwand verankerten Ge rüst, wo Schiller stehenblieb und nervös in die Schlucht hinun terblickte. Das Gestell aus Bambusstangen sah schwach und zerbrechlich aus, und die Vorstellung, beim Abstieg in die Tie fe stürzen zu können, ängstigte Schiller. Er wollte sich schon weigern, weiterzugehen, als Nahoot Guddabi hinter ihm wim merte. »Er erwartet doch nicht von uns, daß wir hier hinunterklet tern?« Diese Ängstlichkeit ermutigte Schiller, er drehte sich nach Nahoot um und sagte schadenfroh: »Es ist der einzige Zugang zu der Grabkammer. Folgen Sie dem Mann nach unten. Ich werde unmittelbar hinter Ihnen bleiben.« Als Nahoot zögerte, stieß ihm Helm seine schwielige Hand in den Rücken und schob ihn nach vorn. »Los, weiter! Verschwenden Sie keine Zeit.« Widerwillig kletterte Nahoot hinter dem Mönch das Gerüst hinunter, und Schiller folgte ihm. Das Bambusgestell schwank te unter dem Gewicht der drei Männer, aber schließlich standen sie auf dem Steinsims neben Taitas Becken und schauten sich staunend um. »Wo ist der Tunnel?« wollte Schiller wissen, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, und Hansith führte ihn weiter zu dem kleinen Damm. Hier blieb Schiller noch einmal stehen und sah sich nach Helm und Nogo um. »Sie bleiben jetzt hier, und ich werde mit Guddabi und diesem Mönch in die Grabkammer gehen. Wenn ich Sie brauche, werde ich Sie holen lassen.« »Ich würde Sie gern begleiten, um Ihnen zu helfen, Herr von Schiller –«, sagte Helm, aber der alte Mann sah ihn mißbilli
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gend an. »Tun Sie, was ich Ihnen sage!« Mit Hilfe von Hansith klet terte er mühsam den Damm hinunter zum Eingang des Tun nels. Nahoot Guddabi folgte ihm. »Woher kommt der elektrische Strom für diese Lampen?« wollte Schiller wissen. »Da steht ein Gerät«, erklärte Hansith, und nun hörten sie auch das leise Surren des Generators. Schweigend folgten sie Hansith durch den Tunnel bis zu der Brücke, die über die Senkgrube führte. »Eine sehr nachlässig gebaute Anlage«, murmelte Nahoot. Sein Interesse als Fachmann überwog jetzt seine Bedenken. »Sie läßt sich nicht mit anderen ägyptischen Grabkammern vergleichen, die ich gesehen habe. Vielleicht irren wir uns, und es ist das Werk irgendwelcher Äthiopier.« »Seien Sie nicht voreilig mit Ihrem Urteil«, ermahnte ihn Schiller. »Warten Sie, bis wir alles gesehen haben, was dieser Mann uns zu zeigen hat.« Schiller stützte sich mit einer Hand auf die Schulter von Hansith, als er die schwankende Brücke aus dem Holz des Af fenbrotbaums überquerte, und er war erleichtert, als er auf der anderen Seite stand. Dann gingen sie in dem Tunnel weiter bis zur Hochwassermarkierung an der Wand. Als sie an die aus sauber behauenen Steinen gemauerten Wände kamen, sagte Nahoot: »Ah! Zuerst war ich enttäuscht. Ich glaubte, wir seien in die Irre geführt worden, aber jetzt er kennt man deutlich den ägyptischen Einfluß.« Sie erreichten den Treppenabsatz vor der eingestürzten Galerie. Dort stand auch der Hondagenerator. Schiller und Nahoot waren völlig erschöpft und schwitzten, aber jetzt zitterten sie vor Erregung. »Das sieht vielversprechend aus. Es könnte sehr wohl eine königliche Grabkammer sein«, rief Nahoot begeistert. Schiller zeigte auf die an die Wand gelehnten Tonsiegel, die Nicholas
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und Royan dort zurückgelassen hatten, und Nahoot kniete sich davor auf den Boden und sah sie sich genau an. Erregt rief er: »Die Kartusche des Mamose und das Siegel des Schreibers Taita!« Er sah Schiller mit leuchtenden Augen an. »Jetzt kann es keinen Zweifel mehr geben. Ich habe Sie – wie versprochen – zu der Grabkammer geführt.« Schiller war sprachlos angesichts einer solchen Arroganz. Dann knurrte er verärgert, bückte sich und schaute durch den offenen Eingang in die lange Galerie. »Alles ist vernichtet!« schrie er entsetzt. »Die Grabkammer ist eingestürzt.« »Nein, nein!« beruhigte Hansith ihn. »Kommen Sie mit, auf der anderen Seite geht es in einem neuen Tunnel weiter.« Während sie sich über den Schutt und die Gesteinstrümmer weitertasteten, erzählte ihnen Hansith in gebrochenem Eng lisch, wie das Dach eingestürzt war und wie er, Hansith, in den Ruinen den richtigen Eingang gefunden hatte. Nahoot blieb immer wieder stehen und sah sich die Bruchstücke des bemalten Verputzes an, die den Einsturz über standen hatten. »Es müssen großartige Wandgemälde gewesen sein, klassische Werke höchster Qualität –« »Ich werde Ihnen noch mehr zeigen, sehr viel mehr«, ver sprach Hansith. »Wir sollten jetzt weitergehen, denn wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch die Grabkammer erreichen wollen.« Hansith führte sie die Treppe hinauf in das Labyrinth des Baospiels und dann weiter bis zur untersten Ebene. »Wie haben sich Harper und die Frau hier zurechtfinden können?« fragte Schiller verwundert. »Es ist wie ein Kanin chenbau.« »Eine neue, verborgene Treppe!« stotterte Nahoot erregt, als sie in die Gasfalle hinunterstiegen, in der die Amphoren unge stört seit Jahrtausenden gestanden hatten, und kletterten dann
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die letzten Treppenstufen hinauf bis zum Beginn des Säulen gangs mit den Grabkammern. Nahoot und Schiller waren sprachlos angesichts der Pracht der Wandgemälde und der ma jestätischen Götterbilder, die hier die Wände schmückten. Sie blieben wie angewurzelt stehen und sahen sich überrascht um. »So etwas hätte ich nie erwartet«, flüsterte Schiller. »Das übertrifft alles, was ich je zu finden gehofft habe.« »Die Räume auf beiden Seiten sind angefüllt mit den kost barsten Kunstschätzen«, sagte Hansith. »Es sind Dinge darun ter, die Sie sich auch im Traum nicht hätten vorstellen können. Harper hat nur sehr wenig davon mitgenommen, ein paar klei ne Kisten. Er hat ganze Berge solcher Schätze zurückgelas sen.« »Wo ist der Sarg? Wo ist der Tote aus der Grabkammer?« wollte Schiller wissen. »Harper hat den Toten in seinem goldenen Sarg dem Abt übergeben. Man hat ihn ins Kloster gebracht.« »Nogo wird ihn schon sehr bald dort herausholen und herbringen. Darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Herr von Schiller«, versuchte Nahoot ihn zu beruhigen. Nach dieser Zusage war der Bann gebrochen, und sie gingen weiter. Schiller lief aufgeregt auf seinen alten steifen Beinen in die nächste Kammer und kicherte wie ein Kind, als er die Schätze sah. »Unglaublich!« Er nahm eine der Kisten aus Zedernholz von dem Stapel herunter und riß den Deckel mit zitternden Fingern auf. Als er den Inhalt sah, brachte er kein Wort heraus. Er kniete vor der Kiste auf dem Boden und fing vor Freude an zu weinen. Nicholas rechnete damit, daß Nogos Männer den Weg zu Taitas Becken über die Anhöhen oberhalb der Schlucht neh men würden und daß er deshalb ungehindert den Damm errei
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chen könnte. Um nicht unvorbereitet auf sie zu stoßen, blieb er alle paar Minuten stehen, sah sich um und horchte auf etwaige verdächtige Geräusche. Er wußte, daß er nicht viel Zeit hatte. Seine Leute würden nicht lange auf ihn warten, wenn sie die Boote erreicht hatten. Zweimal hörte er in der Ferne das Feuer automatischer Waf fen aus der Schlucht. Aber er hatte sich nicht geirrt und erreich te den Damm, ohne von Nogos Soldaten aufgehalten worden zu sein. Er wollte jedoch nicht zu viel riskieren, und bevor er ohne Deckung zum Damm hinüberging, kletterte er ein Stück die Böschung hinauf und sah sich die ganze Umgebung noch einmal an und vergewisserte sich, daß Nogo keine Wachen am Damm zurückgelassen hatte. Er sah, daß der gelbe Traktor immer noch am Hang über dem Damm stand, wo Sapper ihn abgestellt hatte. Äthiopische Soldaten konnte er nirgends entdecken. Er atmete erleichtert auf und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß aus den Augen. Mit bloßem Auge konnte er erkennen, daß das Wasser be reits fast bis zum oberen Rand der Staumauer gestiegen war und durch die Lücken und Spalten zwischen den Schanzkörben drang. Von der Stelle aus, an der er stand, hatte er den Ein druck, daß die Staumauer halten würde und das Wasser noch etwa dreißig Zentimeter steigen mußte, bevor es den oberen Rand des Damms erreichte. »Gute Arbeit, Sapper«, dachte er und grinste. »Das hat viel Mühe gekostet.« Dann schaute Nicholas nach Norden, aber die Gebirgskette lag in dunklen Gewitterwolken. Er mußte sich beeilen und lief stolpernd und rutschend auf den Damm zu. Am Traktor angekommen, kletterte er auf den Fahrersitz. Ei nen Augenblick fürchtete er, Sapper könnte den Schlüssel aus dem Versteck unter dem Sitz weggenommen haben. Er tastete
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danach, und als er ihn fand, atmete er erleichtert auf. Sapper, einen Augenblick bist du dem Tod sehr nahe gewe sen. Ich hätte dir mit meinen eigenen Händen das Genick ge brochen. Er steckte den Schlüssel in das Zündschloß, drehte ihn um und wartete darauf, daß das Zündlicht am Armaturenbrett von rot auf grün umsprang. »Nun komm schon!« brummte er ungeduldig. Die wenigen Sekunden, die er warten mußte, erschienen ihm wie eine Ewig keit. Endlich leuchtete das grüne Licht auf, und er startete den Motor. Beim ersten Kolbenhub knallte eine Fehlzündung, doch dann lief der Motor, und Nicholas murmelte befriedigt: »Hervorra gend, Sapper. Alles ist vergeben.« Er ließ den Motor eine Zeitlang warmlaufen und sah sich nach allen Seiten um, da er befürchtete, daß das Motorenge räusch Nogos Leute alarmiert haben könnte. Doch an den Hän gen war kein Lebenszeichen zu entdecken. Er schaltete in den niedrigsten Gang und ließ den Traktor den Hang hinunterrollen. Unterhalb des Damms reichte das Wasser nur bis zu den Radachsen. Der Traktor holperte über den steinigen Boden, bis Nicholas ihn in der Mitte des Fluß betts anhielt, um festzustellen, welches die schwächste Stelle an der stromabwärts gelegenen Seite des Staudamms war. Dann fuhr er weiter bis zur Mitte des Damms, wo Sapper das Floß mit einigen Reihen von Schanzkörben abgestützt hatte. »Es tut mir leid, daß deine ganze Arbeit hier umsonst gewe sen ist«, entschuldigte er sich halblaut bei Sapper, als er die stählernen Greifarme des Traktors in die richtige Höhe brachte, um den ersten Schanzkorb aus der Staumauer herauszubrechen. Er mußte den Traktor ein paarmal vor und zurück setzen, bis er die Greifarme darunterschieben und den Korb herausziehen konnte. Er fuhr damit bis an den Wasserfall und ließ ihn hin
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einrutschen. Dann fuhr er wieder zurück und setzte die Arbeit fort. Er kam nur langsam voran, denn durch den Wasserdruck hat ten sich die Drahtkörbe fest miteinander verkeilt, und es dauer te zehn Minuten, bis er den zweiten Schanzkorb freibekommen hatte. Als dieser den Wasserfall hinunterglitt, schaute Nicholas zum ersten Mal auf das Armaturenbrett, um festzustellen, wie viel Kraftstoff er noch im Tank hatte. Zu seinem Entsetzen sah er, daß der Tank leer war. Sapper hatte offenbar versäumt, sein Fahrzeug aufzutanken. Entweder hatte er keine Kraftstoffreser ven mehr gehabt oder nicht damit gerechnet, den Traktor noch einmal benutzen zu müssen, als er ihn abstellte. Im gleichen Augenblick, als Nicholas sich das überlegte, fing der Motor an zu stottern und blieb stehen. Er ließ den Traktor ein kleines Stück weiterrollen, bis er sich nach vorn neigte und der restliche Kraftstoff im Tank nach vorne floß. Er startete erneut den Motor, der nun wieder ruhig arbeitete, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr dann wieder vor die Staumau er. Keine Zeit für Feinheiten, dachte er. Jetzt hilft nur noch rohe Gewalt und Muskelkraft. Mit dem Herausreißen der beiden Schanzkörbe war eine Ek ke des Gitters frei geworden, und zwar die Schwachstelle in der Staumauer. Nicholas hob nun die Greifarme des Traktors in die oberste Position, dann senkte er sie langsam, bis sie das Ende des stärksten Baumstamms in dem Gitter erfaßten. Er ließ die Hydraulik einrasten, legte den Rückwärtsgang ein und gab Vollgas. Aber nichts bewegte sich. Der Baumstamm saß fest, und die Staumauer wurde durch die ineinander verklemmten Schanz körbe zusammengehalten. Verzweifelt trat Nicholas immer wieder auf das Gaspedal. Die Räder des Traktors drehten sich wie wild, rutschten über den steinigen Boden und wirbelten
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Wasser und Kies in hohem Bogen in die Luft. »Nun komm schon!« redete Nicholas dem Motor zu. »Komm schon! Du wirst es schon schaffen.« Wieder fing der Motor an zu spucken und wäre fast stehen geblieben. »Ich bitte dich!« rief Nicholas laut. »Versuchen wir es nur noch einmal.« Als hätte er es gehört und verstanden, sprang der Motor wie der an, lief stockend ein paar Sekunden, dann aber wieder mit voller Kraft. »Recht so, mein Freund«, rief Nicholas, als der Traktor noch einmal gegen die Mauer prallte. Es klang wie ein Kanonen schuß, als der Stamm auseinanderbrach und sich in der Mauer ein langes Loch öffnete, durch das sich ein dicker Strahl schmutziggrauen Wassers ergoß. »Endlich kommt es!« schrie Nicholas und sprang vom Fah rersitz hinunter ins Wasser. Er wußte, er hatte keine Zeit mehr, den Traktor aus dem Flußbett herauszufahren, zu Fuß würde er schneller sein. Die Strömung erfaßte seine Beine und riß ihn fast mit sich fort. Es war wie in einem Traum, in dem man von Ungeheuern verfolgt wird, aber die Beine einem nicht mehr gehorchen. Er blickte über die Schulter zurück und sah, daß in diesem Au genblick der Mittelteil der Staumauer herausbrach und eine riesige Welle auf ihn zukam. Er kam nur noch wenige Schritte weit, bevor er von der Strömung ergriffen und über den Was serfall in die Tiefe gerissen wurde. »Hier haben wir den königlichen Krummstab und das Szep ter des Pharao«, rief Schiller erregt, als er beides aus der Ze dernholzkiste nahm. »Und dies ist sein falscher Bart und der zeremonielle Brust
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schild.« Nahoot kniete neben Schiller auf dem Boden der Grabkammer vor der großen Statue des Osiris. In diesem, an gesichts der unvergleichlichen Schätze des alten Ägypten erhe benden Augenblick, war jede Verstimmung, die es zwischen ihnen gegeben hatte, verflogen. »Das ist die bedeutendste archäologische Entdeckung aller Zeiten«, flüsterte Schiller mit zitternder Stimme. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß ab, der ihm über das Gesicht lief. »Das bedeutet jahrelange Arbeit«, sagte Nahoot nüchtern. »Diese einzigartige Sammlung wird katalogisiert und beurteilt werden müssen. Sie wird als Schiller-Schatz in die Kunstge schichte eingehen und mit Ihrem Namen verbunden bleiben. Das entspricht dem ägyptischen Traum von der Unsterblich keit. Sie werden nie vergessen werden, sondern ewig weiterle ben.« Verzückt schaute Schiller Nahoot an. An diese Möglichkeit hatte er nicht gedacht. Bis zu diesem Augenblick wäre er nicht bereit gewesen, diesen Schatz mit irgend jemandem zu teilen, es sei denn mit Utte Kemper, aber Nahoots Worte hatten ihn an den alten Traum vom ewigen Leben erinnert. Vielleicht würde er sich entschließen, seine Sammlung der Öffentlichkeit zu gänglich zu machen – aber natürlich erst nach seinem Tod. Doch dann dachte er empört, daß er diese Kostbarkeiten nicht dadurch entweihen würde, indem der dem gemeinen Pö bel erlaubte, sie zu sehen. Sie waren für das Grab eines Pharao zusammengetragen worden, und Schiller hielt sich selbst für einen modernen Pharao. »Nein!« sagte er empört. »Das alles gehört mir, mir allein. Wenn ich sterbe, werden mich all diese Schätze begleiten. Ich habe das schon in meinem Testament festgelegt, und meine Söhne wissen, was sie zu tun haben. Diese Schätze werden mit mir beigesetzt werden in meinem königlichen Grab.«
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Nahoot starrte ihn entsetzt an. Es war ihm nicht klargewesen, daß der alte Mann verrückt war, daß seine Besessenheit ihn in den Wahnsinn getrieben hatte. Aber der Ägypter wußte auch, daß es keinen Sinn hatte, ihm jetzt zu widersprechen. Irgendwann würde er eine Möglichkeit finden, dafür zu sorgen, daß dieser unvergleichliche Schatz nicht noch einmal in einem Grab verschwand. Deshalb verneigte er sich zustimmend. »Sie haben recht, Herr von Schiller. Das ist die einzig mögli che Art, darüber zu verfügen. Sie haben eine solche Beisetzung verdient. Doch zunächst müssen wir den Schatz in Sicherheit bringen. Helm hat uns vor den Gefahren des Hochwassers und eines Dammbruchs gewarnt. Wir müssen ihn und Nogo rufen, und Nogos Männer sollen die Grabkammer ausräumen. Wir können die Kunstschätze dann im Hubschrauber zum PegasusCamp bringen, und dort werde ich sie für die Reise nach Deutschland sicher verpacken.« »Ja, ja.« Schiller rappelte sich mühsam auf und wußte nicht, was er sagen sollte. Gepeinigt von der Angst, daß das Hoch wasser ihn um diesen wunderbaren Schatz bringen könnte, sag te er schließlich: »Schicken Sie den Mönch, wie heißt er doch, Hansith, schicken Sie ihn zu Helm. Er muß sofort herkom men.« Nahoot sprang auf. »Hansith!« rief er. »Wo sind Sie?« Der Mönch hatte am Eingang zur Grabkammer gewartet und kniend vor dem leeren Sarkophag gebetet, in dem die Mumie des Heiligen gelegen hatte. Er wurde zwischen seiner religiö sen Überzeugung und seiner Habgier hin und her gerissen, und als er hörte, daß er gerufen wurde, bekreuzigte er sich, stand auf und lief zu Schiller und Nahoot. »Gehen Sie zurück zu dem Becken, wo wir uns von den an deren getrennt haben.« Noch während Nahoot das sagte, horch te Hansith plötzlich auf und hob die Hand, um Nahoot auf ein Geräusch aufmerksam zu machen, das er hörte.
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»Was ist los?« fragte Nahoot ärgerlich. »Was hören Sie?« Hansith schüttelte den Kopf. »Seien Sie still! Hören Sie! Können Sie es hören?« »Es ist nichts –«, fing Nahoot an und schaute sich entsetzt um. Es war nur ein ganz leises Geräusch, sanft wie ein Wind hauch im Sommer, beruhigend und tief. »Was hören Sie?« wollte Schiller wissen, denn er war schon lange schwerhörig. »Wasser!« flüsterte Nahoot. »Fließendes Wasser!« »Der Fluß!« schrie Hansith. »Der Tunnel wird überflutet!« Er wirbelte herum und lief in langen, raumgreifenden Schritten den Säulengang hinunter auf den Ausgang zu. »Wir sind in eine Falle geraten!« schrie Nahoot und lief hin ter ihm her. »Warten Sie auf mich«, schrie Schiller und versuchte, ihnen zu folgen. Aber sehr bald blieb er hinter den beiden jüngeren Männern zurück. Der Mönch hatte bereits einen großen Vorsprung vor den beiden anderen Männern, als er die Treppe hinter der Gasfalle hinaufstürmte. »Hansith! Kommen Sie zurück! Ich befehle es Ihnen«, rief Nahoot verzweifelt, aber er sah nur noch den weißen Umhang des Mönchs, als dieser hinter der ersten Ecke im Labyrinth verschwand. »Guddabi, wo sind Sie?« hallte die zittrige Stimme von Schiller durch die steinernen Korridore. Aber Nahoot antworte te nicht, während er in der gleichen Richtung weiterlief, die der Mönch eingeschlagen hatte. Er kam bis zur ersten Biegung des Labyrinths, beachtete aber nicht die weiße Markierung an der Wand. Er glaubte, Hansith vor sich laufen zu hören, aber als er um die dritte Ecke kam, wurde es ihm klar, daß er sich verirrt hatte. Er blieb stehen, sein Puls raste, und die panische Angst
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schnürte ihm die Kehle zu. »Hansith! Wo sind Sie?« kreischte er wütend. Aber er hörte nur die ängstliche Stimme von Schiller: »Gud dabi! Guddabi! Verlassen Sie mich nicht.« »Maul halten!« schrie er. »Sei still, du alter Narr!« Schweratmend versuchte er, die Schritte von Hansith zu hö ren. Aber er hörte nur das sanfte Rauschen des Flusses, als käme es unmittelbar aus den Felswänden. »Nein! Verlaßt mich nicht«, schrie er und begann in pani scher Angst ziellos durch das Labyrinth zu laufen. In seiner Todesangst fand Hansith den richtigen Weg aus dem Labyrinth heraus. Doch oben an der Treppe verstauchte er sich den Knöchel, stürzte, rutschte die Treppe hinunter und schlug auf den Achatfliesen der langen Galerie auf. Mit großer Mühe richtete er sich auf und versuchte weiterzu laufen, aber die Schmerzen in seinem Knöchel waren so stark, daß er zum zweiten Mal hinfiel. Trotzdem gelang es ihm, noch einmal aufzustehen, und er humpelte, an der Wand entlangta stend, durch die Galerie. An der Öffnung angekommen, kroch er auf den Treppen absatz, auf dem der Generator stand. Er hörte das Rauschen des Wassers im Tunnel, das mittlerweile sehr viel lauter geworden war und das leise Summen des Generators übertönte. »Geliebter Christus, heilige Jungfrau, rettet mich!« betete er verzweifelt, während er den Tunnel hinunterstolperte und noch zweimal hinfiel, bevor er an der tiefsten Stelle ankam. Auf den Knien liegend, schaute er nach vorn und sah im Licht der elektrischen Lampen die Senkgrube unter sich. Hier hatte sich alles verändert: Das Wasser stand höher als die Rie sen, auf denen er kniete, und in einem mächtigen Strudel wurde es ebensoschnell, wie es aus dem gegenüberliegenden Tunnel
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herausschoß, in den Abfluß hineingesogen. Die Pontonbrücke lag halb unter Wasser und zerrte an den geflüchteten Draht seilen wie ein wildes Pferd. Brausend strömte das Wasser über die Senkgrube hinweg in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite, in dem das Was ser bereits bis zur Hälfte der Tunnelwände reichte. Hansith wußte, daß dies der einzige Fluchtweg war, aber in jedem Au genblick, den er zögerte, wurde die Strömung reißender. Mit einem großen Schritt gelangte er auf die Brücke, die hef tig schwankte. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder, zog sich kriechend von einem Ponton zum anderen vorwärts. »Lieber Gott und heiliger Michael, helft mir. Laßt mich hier nicht sterben«, betete er laut. Nachdem er die Senkgrube hinter sich gelassen hatte, versuchte er, sich an den Unebenheiten der Tunnelwand festzuklammern. Mit den Fingerspitzen hielt er sich fest und zog sich in den Tunneleingang, aber seine Beine wurden von der reißenden Strömung erfaßt, und er sah keine Möglichkeit mehr, weiterzukommen. Er wußte, wenn er den Halt verlor, würde er in die Senkgrube gerissen werden und in der unheimlichen schwarzen Tiefe verschwinden. Die elektrischen Lampen am Dach des Tunnels vor ihm brannten immer noch hell, so daß er fast bis zur Wasserfläche von Taitas Becken sehen konnte, wo er über das Bambusgerüst den Hang hinaufklettern und entkommen konnte. Bis dahin waren es nur noch etwa sechzig Meter. Er nahm alle Kraft zu sammen und zog sich weiter durch die starke Strömung, krallte sich verzweifelt an jede Unebenheit, riß sich dabei die Finger kuppen auf und kam langsam voran. Schließlich sah er vor sich das Tageslicht über Taitas Bek ken. Noch zwölf Meter, und er würde es geschafft haben und aus der tödlichen Falle herausgekommen sein. Doch nun hörte er ein neues Geräusch, ein lautes Brausen, mit dem das Wasser durch den geborstenen Damm in Taitas Becken stürzte. Die
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Fluten zerrissen die elektrische Leitung, und rings um Hansith wurde es stockdunkel. Die Welle erfaßte ihn, als sei es nicht Wasser, sondern eine Steinlawine, und er konnte sich nicht dagegen wehren. Er wur de zurückgeschleudert und durch den ganzen Schacht mitgeris sen. Kopfüber wirbelte er in den Fluten herum und wußte schließlich nicht mehr, wo oben und wo unten war. In der Senkgrube wurde er in die Tiefe hinuntergezogen. Der Wasserdruck war so stark, daß ihm die Trommelfelle zerrissen, und als er den Mund öffnete, um vor Schmerzen zu schreien, drang ihm das Wasser in die Lungen. Er fühlte nur noch, wie er von der Strömung gegen die Wand der Senkgrube geschleudert wurde und die Knochen seiner rechten Schulter zersplitterten. Bald hörten die Schmerzen auf, und er wurde bewußtlos. Seine Leiche wurde an den Felsvorsprüngen zerfetzt, und das, was von ihm übrigblieb und an der Schmetterlingsquelle ans Tages licht kam, war nicht mehr als der Körper eines Menschen zu erkennen. Die Reste von Hansith wurden vom Dandera-Fluß mitgenommen und schließlich von dem ruhiger fließenden Wasser des Blauen Nil fortgetragen. Das durch die Lücke im Damm strömende Wasser erfaßte den gelben Traktor und riß ihn über den Wasserfall in die Tiefe der Schlucht mit, als sei er ein Kinderspielzeug. Nicholas konnte gerade noch sehen, wie er durch die Luft flog. Wäre er sitzen geblieben, dann hätte ihn das schwere Fahrzeug unter sich zermalmt, das in einer Fontäne auf dem Wasser aufschlug und versank. Nicholas wurde nach unten gerissen, doch ihm gelang es, in der Strömung den Kopf oben zu behalten und die Füße nach unten auszustrecken. Erst etwa fünfzig Meter stromabwärts tauchte er wieder auf, strich sich das nasse Haar aus den Augen
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und sah sich um. Der Traktor war im tiefen Wasser unterhalb des Wasserfalls verschwunden, aber vor ihm in der Mitte des Flußbetts war eine kleine felsige Insel. Mit ein paar kräftigen Stößen schwamm Nicholas zu ihr und hielt sich an der Felskante fest. Er schaute den steilen Felsabhang hinauf und erinnerte sich daran, wie er das letzte Mal hier hineingeraten war. Seine Freude darüber, daß es ihm gelungen war, den Damm aufzu brechen und das Pharaonengrab zu überfluten, war verflogen. Er würde den Steilhang nicht hinaufklettern können, denn die Felswand war vom Wasser ausgewaschen und so glatt, daß er nirgends Halt finden würde. Nun überlegte er, ob es nicht möglich war, stromaufwärts bis an den Wasserfall zu kommen. Es sah so aus, als gäbe es an der Ostseite des Wasserfalls einen größeren Spalt in der Felswand, an dem man sich hinaufarbei ten könnte, aber das wäre ein schwieriges und gefährliches Unternehmen. Ich muß den Wasserfall umgehen, dachte er verzweifelt, als er sich vorstellte, von den Wassermassen ergriffen zu werden, die sehr bald in die Schlucht herunterstürzen würden. Viel leicht gelingt es mir, auf die andere Seite zu kommen und dort einen Sims über dem Wasser zu finden. Aber er wußte, daß es eine vergebliche Hoffnung war. Er war schon einmal die ganze Schlucht hinabgeschwommen, ohne an den glatten Wänden irgendwo Halt zu finden. Vielleicht kann ich der Flut voranschwimmen! überlegte er. Das ist die einzige, wenn auch sehr geringe Chance, die ich habe. Er zog die Stiefel aus und wollte ins Wasser springen, doch plötzlich hörte er, wie hoch über ihm der Staudamm aus einanderbrach: ein donnerndes Tosen, das Krachen zerbre chender Baumstämme, das Knirschen der schweren Schanz körbe, die wie leere Abfalltonnen herumgeschleudert wurden, und dann ergoß sich plötzlich eine Riesenwelle grauen Wassers
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in den Wasserfall. Lieber Himmel! Zu spät. Jetzt kommt die große Flut. Er stieß sich von dem Steinsims, auf dem er stand, ab und schwamm mit kräftigen Stößen stromabwärts. Er hörte das Brausen der näherkommenden Flutwelle und sah sich um. Sie füllte die ganze Schlucht bis zu einer Höhe von fünf Metern aus und kam auf ihn zu. Die Situation erinnerte ihn an seine Jugend, als er am Cape St. Vincent gesurft war und hinter sich die riesige Brandungswelle gesehen hatte, die drohte, über ihn zu kippen. Versuche darauf zu schwimmen wie auf einem Surfbrett, sagte er sich. Er schwamm weiter und wartete auf den Augenblick, in dem er sich dem Wellenberg anvertrauen konnte. Dann spürte er, wie er hochgehoben wurde, so daß es ihm fast den Magen um drehte, und war dann unvermittelt am Scheitelpunkt der Welle. Er krümmte den Rücken und streckte die Arme nach hinten aus wie beim Surfen ohne Brett. Dabei beugte er den Kopf leicht nach unten. Und während der Oberkörper halb aus dem Wasser herausragte, steuerte er mit den Beinen in die von ihm ge wünschte Richtung. Schon nach wenigen Sekunden stellte er fest, daß es viel besser ging, als er befürchtet hatte. Er war stolz auf seine Leistung und erlebte ein unbeschreibliches Glücksge fühl. Zwanzig Knoten! schätzte er seine Geschwindigkeit, als er die Felswände links und rechts an sich vorübergleiten sah. Er steuerte in die Mitte des Flußbetts und wurde von der Welle und von dem erregenden Gefühl der Geschwindigkeit und der Gefahr fortgetragen. Das zunehmend höher steigende Wasser in der Schlucht überflutete jetzt die gefährlichen, messerscharfen Felsbrocken im Flußbett, denen er nun ohne Probleme ausweichen konnte. Auch die kleineren Wasserfälle und Stromschnellen glätteten
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sich, so daß er nicht mehr hinunterstürzte und unter die Was seroberfläche geriet, sondern diese kurzen Strecken mit ein paar kräftigen Stößen schwimmend überwinden konnte. Zum Teufel! Das ist ja ein richtiges Vergnügen! Er lachte laut. »Mancher würde viel Geld dafür zahlen, sich an diesem Sport zu beteiligen. Jedenfalls ist es viel aufregender als Bun gee-Jumping.« Nachdem er etwa anderthalb Kilometer geschwommen war, glättete sich die Welle, und das Wasser breitete sich gleichmä ßig über die ganze Schlucht aus. Sehr bald würde er mit dem Surfen nicht mehr weiterkommen, und deshalb überlegte er sich eine andere Möglichkeit. Etwa mit der gleichen Ge schwindigkeit schwamm ein Stück neben ihm einer der Baum stämme, aus denen Sapper das Gitter gebaut hatte. Er steuerte hinüber zu dem mächtigen, etwa zehn Meter lan gen Stamm, der tief im Wasser lag und dessen Oberfläche aus sah wie der Rücken eines Wals. Seine Äste waren von den Holzarbeitern abgehackt worden, und man konnte sich gut an den Stummeln festhalten. Nicholas zog sich auf den Baum stamm hinauf, legte sich mit dem Gesicht stromabwärts auf den Bauch und ließ die Beine ins Wasser hängen. Sehr bald konnte er wieder ruhig atmen und fühlte sich stark genug, die bevor stehenden Strapazen durchzustehen. Obwohl sich das Wasser geglättet hatte, floß es mit hoher Geschwindigkeit durch die Schlucht. Nicht sehr viel weniger als zehn Knoten, schätzte Nicholas. Wenn diese Wassermenge Taitas Becken überschwemmt, dann müssen Schiller und seine Dreckskerle die nächsten viertausend Jahre in der Grabkammer bleiben. Nicholas warf den Kopf zurück und lachte triumphie rend: Es hat funktioniert! Ich will verdammt sein, wenn es nicht genau so gekommen ist, wie ich es geplant habe. Plötzlich bemerkte er, daß der Baumstamm auf die Felswand zusteuerte. Er rutschte auf eine Seite des Baumstamms und
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versuchte, mit den Beinen die Richtung zu ändern. Es gelang ihm, den Stamm wieder in die Mitte des Flusses zu lenken. Allmählich hatte er sich an sein unhandliches Wasserfahr zeug gewöhnt und beherrschte es recht gut: So werde ich bis zum Kloster hinunterfahren können! dachte er begeistert. Mit dieser Geschwindigkeit werde ich vielleicht noch vor Sapper und Royan bei den Booten sein. Er erkannte, an welcher Stelle der Schlucht er sich befand: Dies ist die Krümmung des Flußbetts über Taitas Becken, und in ein oder zwei Minuten werde ich dort sein. Wahrscheinlich hat das Hochwasser inzwischen das Bambusgerüst fortgerissen. Er richtete sich auf, soweit das möglich war, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, wischte sich das Wasser aus den Augen und schaute nach vorn. Er sah, daß er sich mit hoher Geschwindigkeit dem Wasserfall über Taitas Becken näherte, und hielt sich krampfhaft fest. Vor ihm öffnete sich die breite, glatte Fläche des Wassers, das mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefe strömte, und bevor er seinen Baumstamm abwärts gleiten ließ, warf er noch kurz einen Blick in das Becken darunter und erkannte sofort, daß er sich getäuscht hatte: Das Bambusgerüst war nicht vollständig zerstört worden, wohl aber stark beschädigt. Der untere Teil war von den Fluten mitgerissen worden, aber der obere Teil hing an der Felswand und berührte gerade noch die Oberfläche des vorbeirauschenden Wassers und schwang lose hin und her. Zu seiner Überraschung sah Nicholas zwei Männer, die sich verzweifelt an das wackelige Gerüst klammerten und versuch ten hinaufzuklettern. Im Bruchteil einer Sekunde sah Nicholas das Aufblitzen ei ner Brille unter einem braunen Barett und erkannte, daß der Mann, der den oberen Rand der Klippe schon fast erreicht hatte, Tuma Nogo war. Oben angekommen verschwand Nogo sofort hinter der Klippe. Mehr konnte Nicholas nicht beobachten,
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bevor sein Baumstamm vom Wasserfall mitgerissen wurde und sich unten im Becken fast überschlug. Doch Nicholas klam merte sich fest, und der Baumstamm richtete sich wieder auf und schwamm in der gleichen Richtung weiter. Zunächst hatte sich der Stamm im Strudel unterhalb des Wasserfalls ein paar mal um die eigene Achse gedreht, wurde aber sofort wieder von der Strömung erfaßt und glitt durch das Becken Taitas so ruhig und gelassen wie ein hölzernes Kriegsschiff. Jetzt hatte Nicholas genügend Zeit, sich noch einmal umzu sehen. Der Eingang des Tunnels zum Pharaonengrab lag etwa fünfzehn Meter unter der Wasseroberfläche. Für Nicholas war es ein Triumph, zu wissen, daß das Pharaonengrab vor dem Zugriff neuer Grabräuber geschützt war. Dann schaute er hinauf zu dem stark beschädigten Bambus gerüst und sah den zweiten Mann, der sich etwa sechs Meter über dem Wasser daran festklammerte. In diesem Augenblick bemerkte Nicholas, daß sein Baum stamm erneut von der Strömung ergriffen wurde und in Rich tung auf das Gerüst getrieben wurde. Er wollte den Stamm schon daran vorbeisteuern, als der Mann den Kopf drehte und zu ihm heruntersah. Nicholas sah sein bleiches Gesicht im Dämmerlicht der Schlucht, und als er ihn erkannte, ging ihm ein Stich durchs Herz. »Helm!« rief er. »Jake Helm.« Er dachte an Tamre, den epileptischen Jungen, der bei dem Felssturz erschlagen worden war, und an Tessays verbranntes, durch Schläge verunstaltetes Gesicht. In unbändigem Zorn und Haß lenkte er den Stamm gegen die Klippe. Er fürchtete schon, das Gerüst nicht zu treffen, aber im letzten Augenblick stieß der Stamm mit großer Kraft gegen die herabhängenden Bam busstangen. Sie zersplitterten wie trockenes Feuerholz, das Gerüst löste sich von der Felswand und krachte herunter auf den Baum
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stamm. Helm hatte sich bis zuletzt an einer der Stangen festge klammert, sprang aber dann unmittelbar neben dem Baum stamm mit den Füßen voraus ins Wasser. Der Strudel riß ihn zunächst in die Tiefe. Nicholas setzte sich rittlings auf den Baumstamm und nahm eine der Bambusstangen, die neben ihm im Wasser schwamm, in die Hand. Der Baumstamm war im Rückstau des Flusses gefangen und begann, sich im strudelnden Wasser langsam zu drehen. Nicho las saß rittlings darauf, hatte die Bambusstange in der Hand und schwang sie wie einen Baseballschläger, um sich an ihr Gewicht zu gewöhnen. Dann legte er sie über die Schulter und wartete darauf, daß Helm sich zeigte. Nach einer Sekunde tauchte der nasse Kopf des Texaners auf. Er hatte die Augen fest geschlossen, spuckte Wasser und versuchte, tief durchzuatmen. Nicholas hob die Bambusstange und schlug mit aller Kraft zu, aber im gleichen Moment öffnete Helm die Augen und sah den Schlag kommen. Geschickt wie eine Wasserschlange wich er der Stange aus, die seinen kurzhaarigen blonden Schädel nur noch an der Seite streifte. Nicholas verlor das Gleichgewicht, und noch bevor er sich wieder zurechtgesetzt hatte, tauchte Helm nach einem kur zen Atemzug wieder unter. Erneut hob Nicholas die Bambusstange, um zum zweiten Mal zuzuschlagen. Er starrte auf das dunkle Wasser und ärgerte sich, daß er das Überraschungsmoment nicht ausgenutzt und seinen Gegner nicht schon mit dem ersten Schlag getroffen hatte. Nun, da Helm gewarnt war, wußte Nicholas genau, was ihm bevorstand. Es vergingen Sekunden, ohne daß Helm sich zeigte, und Ni cholas schaute sich besorgt um und überlegte, wo er auftauchen könnte. Eine ganze Minute lang geschah nichts. Nervös senkte er den Bambusstock und nahm ihn so in die Hand, daß er mit einer scharfen Spitze in jede Richtung stechen konnte.
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Plötzlich wurde sein rechter Knöchel gepackt und rückwärts in den Fluß gezogen. Unter Wasser fühlte Nicholas Helms Fin ger in seinem Gesicht. Er ergriff einen der Finger, bog ihn zu rück und spürte, wie er aus dem Gelenk sprang. Aber das schmerzende Fingergelenk elektrisierte Helm, der nun mit ei nem seiner muskulösen Arme wie ein Tintenfisch mit seinem Tentakel Nicholas den Hals zudrückte. Im nächsten Augenblick kamen beide an die Oberfläche, holten rasch Atem, Helm drückte Nicholas den Kopf nach hin ten, und das Wasser floß ihm in den offenen Mund. Der Druck auf seine Halswirbel verstärkte sich. Wenn er sich nicht davon befreien konnte, würde er ersticken, und wenn Helm jetzt all seine Kräfte aufbot, konnte er ihm das Genick brechen. Nicho las gab ihm so weit nach, daß dies Helm nicht gelang, und als er sich umdrehte, sah er Helms Gesicht, das ihn, verzerrt durch das trübe Wasser, anstarrte. Er sah aus wie ein wutschäumendes, böses Ungeheuer. Als sich Helm auf ihn stemmte, hielt Nicholas ihn mit beiden Händen am Gürtel fest und stieß ihm sein rechtes Knie zwi schen die Beine in die Genitalien. Helm krümmte sich vor Schmerzen, und sein Griff um den Hals von Nicholas lockerte sich. Nicholas nutzte diesen Augenblick aus, griff nach den schmerzenden Hoden seines Gegners und drückte sie mit aller Kraft zusammen. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Schmerzen, Helm löste sich von Nicholas und packte mit bei den Händen sein Handgelenk. Wieder tauchten beide neben dem schwimmenden Baum stamm auf, und Nicholas sah, daß die Strömung sie erfaßt hatte und sie durch den Abfluß aus Taitas Becken in den Fluß mit nahm. Nun ließ er Helms Hoden los und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, aber sie waren so nah beieinander, daß er nicht richtig ausholen konnte und der Schlag an Helms Wange abrutschte. Nicholas versuchte jetzt, Helm in den Würgegriff
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zu nehmen, doch Helm duckte sich rasch und vereitelte diesen Versuch. Dann schnellte er mit dem Kopf vor wie eine angrei fende Giftschlange und biß Nicholas ins Kinn. Die Überraschung war perfekt und der Schmerz unerträglich, als Helms Zähne die Haut von Nicholas durchbohrten. Nicho las schrie auf, griff Helm ins Gesicht, versuchte, seinem Geg ner die Finger in die Augen zu stoßen. Aber Helm schloß die Augen und drückte Nicholas die Zähne noch tiefer ins Fleisch, bis das Blut Helm aus den Mundwinkeln tropfte. Der Baumstamm schwamm immer noch neben ihnen, weni ge Zentimeter hinter dem Hinterkopf von Helm. Nicholas packte Helms Ohren und drehte ihn so im Wasser herum, daß er selbst über Helms Kopf sehen konnte, während Helm nichts erkennen konnte. Aus dem Baumstamm ragte der kurze Stumpf eines schräg abgeschnittenen Asts mit einer scharfen Spitze heraus. Während Nicholas vor Schmerz die Augen tränten, drehte er Helms Hinterkopf in Richtung auf diese Astspitze. Dabei fühlte er, daß die Zähne von Helm in seinem Gesicht schon fast aufeinanderstießen. Er hatte ihm die Unterlippe durchgebissen, so daß sich sein Mund mit Blut füllte. Dabei schüttelte Helm den Kopf von Nicholas hin und her wie ein Kampfhund seine Beute. Sehr bald würde sich auch Helms Mund mit Blut gefüllt haben. Mit der Kraft der Verzweiflung warf sich Nicholas nach vorn und stieß Helms Kopf gegen die scharfe Spitze des abge sägten Asts, die genau in die Stelle zwischen der Halswirbel säule und dem Schädel von Helm glitt. Von einem Krampf geschüttelt, öffnete Helm den Mund. Nicholas richtete sich auf, an seinem Kinn hing ein Fetzen Fleisch, und er blutete stark aus der Wunde in seiner Wange. Helm hing an der scharfen Spitze des abgesägten Asts wie ein geschlachtetes Tier am Fleischerhaken. Seine Glieder zuck ten, seine Gesichtsmuskeln verzogen sich, seine Augenlider
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zitterten, und seine Augen hatten sich so verdreht, daß nur noch der weiße Augapfel zu sehen war – ein unheimlicher Anblick im Dämmerlicht der Schlucht. Nicholas kletterte wieder auf den Baumstamm neben die Leiche des Texaners und atmete schwer, während ihm das Blut das Kinn hinunterlief. Da das Gewicht ungleichmäßig verteilt war, begann sich der Baumstamm langsam um sich selbst zu drehen, und Helm rutschte von der scharfen Spitze des abge sägten Asts ab. Dabei riß seine Haut, und seine Rückenwirbel glitten knirschend über das Holz. Dann rutschte er mit dem Gesicht nach unten ins Wasser und begann zu sinken. Doch Nicholas wollte Helm nicht so ohne weiteres davon schwimmen lassen. »Wollen wir doch mal sehen, was wirklich mit dir los ist, alter Junge«, krächzte er. Er spuckte einen Mundvoll Blut und Speichel aus, beugte sich vor, griff nach dem Kragen von Helm und schob ihn mit dem Gesicht nach unten unter den Baumstamm. Obwohl sich die Strömungsge schwindigkeit auf der letzten Strecke in der Schlucht erhöhte, hielt Nicholas Helm eisern fest, bis er sicher war, daß der letzte Lebensfunke den Körper Helms verlassen hatte. Dann wurde er ihm von der Strömung aus der Hand gerissen, und Nicholas sah nur noch, wie er von dem schmutziggrauen Wasser in die Tiefe gezogen wurde. Nicholas setzte sich ans Flußufer, riß einen Stoffstreifen aus seinem Hemd, verband damit sein verletztes Kinn und verkno tete den Verband am Hinterkopf. Das Blut drang durch den dünnen Baumwollstoff und ließ sich erst stillen, als er den Knoten fester zog. Er stand mühsam auf und suchte sich seinen Weg durch das dichte Gebüsch, bis er schließlich auf dem Weg zum Kloster stand. Barfuß humpelte er weiter und blieb nur einmal stehen, als er hörte, wie der Hubschrauber weit hinter ihm von der Klippe über der Schlucht startete.
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Er schaute zurück: »Es hört sich so an, als hätte Tuma Nogo es geschafft – sehr bedauerlich. Wer weiß, was mit Schiller und dem Ägypter geschehen ist«, brummte er grimmig und faßte sich an sein verletztes Gesicht. »Jedenfalls werden die Kerle nicht mehr in die Grabkammer hineinkommen, es sei denn, sie bauen einen neuen Damm.« Doch plötzlich überlegte er, daß Schiller vielleicht schon darin gewesen war, als der Fluß die Tunnel überflutete. Er lachte leise, schüttelte aber dann den Kopf: Das wäre zu viel verlangt. Mit einer ausgleichenden Gerechtigkeit darf man nicht rechnen. Er legte eine Hand auf das verletzte Kinn und lief weiter, bis er auf die gepflasterte, zum Kloster hinunterfüh rende Straße kam. Als er im Labyrinth um eine Ecke bog, stieß Nahoot Gudda bi plötzlich auf Schiller, und eigenartigerweise beruhigte ihn die Gegenwart des alten Mannes, obwohl er ihm in dieser kriti schen Situation nicht helfen konnte, und seine panische Angst, die ihn fast überwältigt hätte, verringerte sich. Ohne Hansith war das Labyrinth unheimlich, und er fühlte sich von aller Welt verlassen. Hier einem menschlichen Wesen zu begegnen, war ein Segen. Die beiden Männer klammerten sich aneinander wie Kinder, die sich im dunklen Wald verirrt haben. Schiller hatte einen Teil der Kunstschätze mitgenommen, als Hansith in panischer Angst davongelaufen war. Er hatte den goldenen Krummstab des Pharao in der einen und den rituellen Dreschflegel in der anderen Hand. »Wo ist der Mönch?« schrie er Guddabi an. »Warum sind Sie fortgelaufen und haben mich alleingelassen? Wir müssen sehen, daß wir hier herauskommen, Sie Idiot. Wissen Sie nicht, in welcher Gefahr wir uns befinden?« »Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß ich mich hier zu
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rechtfinden könnte –«, erwiderte Nahoot wütend, unterbrach sich aber, als er hinter Schillers Schulter die weißen Markie rungen an der Wand sah und zum ersten Mal begriff, was sie bedeuteten. »Das ist es!« rief er erleichtert. »Es sind die Wegweiser, die Harper oder diese Frau Al Simma hier angebracht hat. Kom men Sie mit!« Er ging weiter und folgte den Markierungen. Doch als sie an der obersten Stufe der nach unten führenden Treppe ankamen, war bereits eine Stunde vergangen, seit Han sith sie verlassen hatte, und als sie die Stufen in die lange Gale rie hinunterliefen, wurde das Rauschen des Flusses immer lau ter. Nahoot lief immer schneller, und Schiller konnte ihm in sei ner Angst kaum folgen. »Warten Sie!« rief er, aber Nahoot hörte nicht auf ihn, son dern schlüpfte durch die quadratische Öffnung des Ausgangs. Der Ventilator auf dem Treppenabsatz summte leise; Nahoot kümmerte sich nicht darum und lief den abschüssigen Schacht im hellen Licht der elektrischen Scheinwerfer weiter. An der nächsten Ecke blieb er stehen, als er sah, daß der Tunnel unter ihm bis zur Hochwassermarkierung überflutet war, auch die Senkgrube und die Pontonbrücke waren nicht mehr zu sehen. Der Dandera-Fluß, der die Grabkammer in den vergangenen Jahrtausenden vor Grabräubern geschützt hatte, erfüllte jetzt von neuem diese Aufgabe. Dunkel und unerbittlich versperrte er den Zugang zum Pharaonengrab wie in den letzten viertau send Jahren. »Allah!« flüsterte Nahoot. »Allah sei uns gnädig.« Als Schiller ihn eingeholt hatte, blieb er neben ihm stehen, und beide starrten entsetzt auf den überfluteten Schacht. Dann lehnte sich Schiller erschöpft an die Wand und flüsterte: »Wir sind in eine Falle geraten.«
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Nahoot stöhnte leise, sank auf die Knie und begann, mit win selnder Stimme zu beten. Doch Schiller brüllte ihn wütend an: »Das wird uns nicht helfen. Hören Sie auf!« Er versetzte Na hoot mit dem goldenen Dreschflegel in seiner rechten Hand einen heftigen Schlag auf den Rücken. Nahoot schrie vor Schmerzen auf und kroch ein Stück zur Seite. »Wir müssen einen anderen Ausgang finden«, sagte Schiller, der sich inzwischen beruhigt hatte. Er war es gewöhnt, zu be fehlen, und übernahm jetzt das Kommando. »Es muß hier noch einen Ausgang geben«, sagte er, »und wir werden danach suchen. Wenn es noch eine Öffnung gibt, dann müßte man einen Luftzug spüren.« Seine Stimme klang jetzt sicherer und überzeugter. »Ja! Das werden wir tun. Schalten Sie diesen Ventilator aus, und wir werden sehen, ob wir ir gendeine Luftbewegung feststellen können.« Nahoot beeilte sich gehorsam, den Ventilator auszuschalten. »Sie haben doch ein Feuerzeug«, sagte Schiller. »Wir wer den Papierstreifen anzünden.« Er wies auf die Papiere und Fo tos, die Roy an auf dem Tisch am Ausgang liegenlassen hatte. »Der Rauch wird uns zeigen, wo es einen Luftzug gibt.« Während der folgenden zwei Stunden durchstreiften sie noch einmal das ganze Labyrinth, zündeten die Papierstreifen an und beobachteten den Rauch. Doch nirgends in den Tunneln ließ sich eine Luftbewegung erkennen. Schließlich kamen sie zu dem überfluteten Schacht zurück und starrten verzweifelt auf die schwarze Wasserfläche, die den Zugang versperrte. »Das ist der einzige Ausweg«, flüsterte Schiller. »Ich frage mich, ob der Mönch hier hinausgekommen ist«, sagte Nahoot und lehnte sich an die Wand. »Es gibt keine andere Möglichkeit.« Schweigend standen sie eine ganze Weile nebeneinander, ohne etwas zu unternehmen. In dieser Abgeschiedenheit fiel es ihnen schwer, zu schätzen, wieviel Zeit inzwischen vergangen
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war. Da der Fluß mittlerweile ein bestimmtes Niveau erreicht hatte, bewegte sich das Wasser in dem Schacht nicht mehr, und das ferne Rauschen der Strömung durch die Senkgrube ver stärkte den Eindruck der Stille. Sie hörten nur noch ihren eige nen Atem. Schließlich sagte Nahoot: »Der Kraftstoff im Generator. Er muß allmählich zur Neige gehen. Ich habe keine Reserven ge sehen –« Sie überlegten, was geschehen würde, wenn der Kraftstoff vorrat verbraucht war und es dunkel werden würde. Plötzlich schrie Schiller: »Sie müssen durch den Schacht schwimmen und Hilfe holen. Ich befehle es Ihnen.« Nahoot starrte ihn ungläubig an. »Der Tunnel ist mehr als hundert Meter lang, und der Fluß führt Hochwasser.« Schiller sprang auf und stand drohend über Nahoot. »Der Mönch ist auf diesem Weg entkommen. Es ist die einzige Möglichkeit. Sie müssen durch den Tunnel zu Helm und Nogo schwimmen. Helm wird wissen, was zu tun ist und wie man mich hier herausholen kann.« »Sie sind verrückt.« Nahoot wich ein paar Schritte vor ihm zurück, aber Schiller folgte ihm. »Ich befehle es Ihnen!« »Sie wahnsinniger alter Mann!« Schiller versetzte Nahoot mit dem schweren goldenen Dreschflegel einen Schlag ins Gesicht, der ihn zurücktaumeln ließ, ihm die Lippen zerriß und zwei Vorderzähne einschlug. »Sie sind wahnsinnig!« jammerte er. »Sie dürfen das nicht tun –« Aber Schiller schlug immer wieder zu, traf das Gesicht und die Schultern, und das schwere Ende des goldenen Dresch flegels zerriß Nahoots dünnes baumwollenes Hemd. »Ich werde dich umbringen«, kreischte Schiller und schlug weiter auf ihn ein. »Wenn du nicht gehorchst, werde ich dich töten.«
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»Aufhören!« winselte Nahoot. »Nein, bitte hören Sie auf. Ich werde es tun, aber schlagen Sie mich nicht mehr.« Er kroch auf dem Boden des Tunnels weiter und saß schließlich bis zum Gürtel im Wasser. »Lassen Sie mir etwas Zeit. Ich muß mich darauf vorberei ten«, flehte er Schiller an. »Beeilen Sie sich!« herrschte Schiller ihn an und hob den Dreschflegel. »Höchstwahrscheinlich werden Sie in dem Tun nel auf eine größere Luftblase stoßen. Sie werden schon wei terkommen. Also los!« Nahoot spülte sich mit einer Handvoll Wasser das Blut aus dem Gesicht. »Ich muß zuerst meine Kleider und Schuhe ausziehen«, jammerte er und flehte Schiller an, ihm die Zeit dafür zu las sen. Aber Schiller erlaubte ihm nicht, aus dem Wasser heraus zukommen. »Tun Sie es dort, wo Sie jetzt sind«, befahl er ihm und droh te erneut mit dem Dreschflegel. In der anderen Hand hielt er den schweren goldenen Krummstab. Nahoot wußte, daß er ihm damit den Schädel spalten konnte. Er stand knietief im Wasser und zog sich die Schuhe aus. Dann entledigte er sich widerwillig und langsam seiner Kleider und stand schließlich in Unterhosen da. Er blutete aus tiefen Rissen an den Schultern, und das Blut floß in roten Rinnsalen seinen Rücken hinunter. Irgendwie mußte er diesen wahnsinnigen alten Mann besänf tigen. Er würde in das Wasser tauchen, eine kurze Strecke den Tunnel hinunterschwimmen, sich, solange er den Atem anhal ten konnte, an der Tunnelwand festklammern, und dann zu rückschwimmen. »Also los!« schrie Schiller ihn an. »Sie verschwenden nur unsere Zeit. Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen erlauben werden, sich zu drücken.« Nahoot watete immer tiefer in den Schacht hinein, bis das
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Wasser ihm an die Brust reichte. Dann blieb er noch ein paar Minuten stehen und atmete tief durch, hielt den Atem an und tauchte unter. Schiller stand wartend am Rande des Beckens und starrte hinunter, konnte aber nicht genug sehen, was unter der schwarzen Wasseroberfläche geschah. Im Licht der Scheinwerfer konnte er nur erkennen, daß sie sich vom Blut Nahoots rot verfärbt hatte. Eine Minute lang wartete Schiller vergeblich, aber dann ent stand ein heftiger Wirbel im Wasser und ein menschlicher Arm tauchte auf, dessen Hand und Finger sich spreizten, als wollte der Mensch um etwas bitten. Schließlich versank er wieder. Schiller beugte sich nach vorn. »Guddabi!« rief er ärgerlich. »Was ist das für ein Theater?« Die heftige Bewegung im Wasser wiederholte sich, und in der Tiefe leuchtete irgend etwas auf wie ein Spiegel. »Guddabi!« rief Schiller ungeduldig. Fast so, als reagierte er auf den Ruf, erschien Nahoots Kopf an der Oberfläche. Seine Gesichtshaut war wachsgelb und blut los. Und sein Mund öffnete sich zu einem gräßlichen, lautlosen Schrei. Das Wasser um ihn her kochte, als würde ein Schwarm großer Fische gefüttert. Schiller riß verständnislos die Augen auf, als sich das Wasser um Nahoots Kopf dunkelrot verfärbte, und zunächst war sich Schiller nicht klar darüber, daß es Na hoots Blut war. Dann sah er die langen, geschmeidigen Riesenaale rings um Nahoot, die ihm das Fleisch von den Gliedern rissen. Wieder streckte ihm Nahoot flehentlich die Hand entgegen. Sein Arm war zerfleischt und zeigte tiefe halbmondförmige Wunden, wo die Fische ganze Fetzen herausgerissen hatten. Schiller schrie entsetzt auf und trat einen Schritt zurück. Na hoot sah ihn vorwurfsvoll aus seinen weitaufgerissenen schwarzen Augen an. Dabei entrang sich seiner Kehle ein nicht mehr menschlicher, heiser krächzender Laut.
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Noch während Schiller hinunter ins Wasser blickte, steckte einer der riesigen tropischen Aale den Kopf heraus, und seine Zähne glänzten wie Glassplitter in dem geöffneten Maul, das sich über Nahoots Kehle schloß. Nahoot kämpfte nicht, er hatte schon fast das Bewußtsein verloren. Er starrte Schiller die gan ze Zeit an, während der Aal an seiner Kehle hing. Langsam versank Nahoots Kopf wieder im Wasser. Minu tenlang wurde das Wasser noch von den Bewegungen der schlangenartigen Fische aufgewühlt, deren glatte Leiber gele gentlich dicht unter der Oberfläche sichtbar wurden. Dann glät tete sich die Oberfläche des Wassers und sah wieder aus wie eine dünne Scheibe aus schwarzem Glas. Schiller lief den schräg ansteigenden Schacht hinauf, vorbei an dem Treppenabsatz, auf dem der Generator noch tuckerte, und versuchte, das Wasserbecken so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Er war sich nicht bewußt, wohin er ging, son dern folgte jedem Tunnel, der sich vor ihm öffnete. Am Fuß der nach oben führenden Treppe stieß er an eine Mauerecke, fiel auf die Achatfliesen und blieb dort liegen, während sich an seiner Stirn eine große purpurfarbene Beule bildete. Nach einiger Zeit rappelte er sich wieder auf und taumelte die Treppe hinauf. Er war verwirrt und wußte nicht mehr, wo er war. Dem Delirium nahe und fast wahnsinnig vor Furcht und Schrecken, stürzte er erneut und kroch auf Händen und Knien den Tunnel entlang bis zur nächsten Ecke des Labyrinths. Erst dort konnte er wieder aufstehen, um weiterzutorkeln. Der steile Schacht nach unten in Taitas Gasfalle öffnete sich vor seinen Füßen, ohne daß er es bemerkte. Er stürzte die Stu fen hinunter und verletzte sich die Beine und die Brust, konnte aber wieder aufstehen und schwankte weiter, vorbei an den Schatzkammern und den Amphoren, die Treppe auf der gege nüberliegenden Seite hinauf und in den Säulengang, der zur Grabkammer des Pharao Mamose führte.
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Er war in einem völlig aufgelösten und verwirrten Zustand bis zur Mitte des Säulenganges gekommen, als das elektrische Licht plötzlich anfing zu flackern, dann aber wieder aufleuch tete. Schiller blieb stehen und schaute verzweifelt nach oben. Er wußte, was jetzt geschehen würde. Die Birnen brannten noch ein paar Minuten normal weiter, fingen dann aber wieder an zu flackern und verlöschten. Die Dunkelheit legte sich über ihn wie ein schweres Lei chentuch. Sie schien in seinen Körper einzudringen und ihm den Atem zu nehmen. Blind tastete er sich weiter. Er hatte jede Orientierung verlo ren, prallte mit dem Kopf gegen einen Stein und stürzte halb betäubt zu Boden. Er fühlte, wie das warme Blut ihm über das Gesicht lief, und rang nach Atem. Wie ein Fötus im Mutterleib lag er zusammengekrümmt am Boden. Er überlegte sich, wie lange es dauern würde, zu sterben, und der Gedanke, daß er sich noch Tage, ja vielleicht sogar Wochen würde quälen müssen, ließ ihn verzweifeln. Er rückte etwas näher an den Gegenstand heran, mit dem er zusammengestoßen war. In der Dunkelheit hatte er nicht erkannt, daß es der große Steinsarkophag des Mamose war, neben dem er jetzt Schutz suchte. So lag er in der Finsternis mitten unter den kostbaren Grabbeigaben des toten Königs und wartete auf seinen eigenen Tod. Die Mönche hatten das Kloster des heiligen Frumentius ver lassen. Als sie das Geschützfeuer und den Gefechtslärm in der Schlucht hörten, hatten sie ihre Schätze zusammengepackt und waren geflohen. Nicholas lief durch das leere Kloster und blieb kurz auf der obersten Stufe der Treppe stehen, die zum Blauen Nil und dem Epiphanias-Schrein hinunterführte, wo er die Schlauchboote untergebracht hatte.
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Schweratmend versuchte er, in der Tiefe, in die nur selten ein Sonnenstrahl drang, etwas zu erkennen, aber der weiße Gischt, der von Wasserfällen aufstieg, versperrte ihm die Sicht. So konnte er nicht sagen, ob Sapper und Royan dort unten noch auf ihn warteten oder auf dem Weg dorthin in Schwierigkeiten geraten waren. Er schob den blutigen Verband an seinem Kinn zurecht und lief die Stufen hinunter. Dann hörte er Royans Stimme, die seinen Namen rief. Sie stürmte ihm über die schlüpfrigen, mit Algen bewachsenen Stufen entgegen. »Nicholas! O Gott sei Dank! Ich hatte schon geglaubt, du würdest nicht kommen.« Am liebsten hätte sie sich von ihm in die Arme nehmen lassen, aber dann sah sie sein verbundenes, blutverschmiertes Gesicht und starrte ihn entsetzt an. »Großer Gott!«, flüsterte sie. »Was ist geschehen, Nicky?« »Eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Jake Helm. Es ist nur ein Kratzer, aber leider hindert der Verband mich daran, dir jetzt einen Kuß zu geben«, sagte er leise und versuchte, sie anzulächeln. »Darauf wirst du noch etwas warten müssen.« Er legte ihr einen Arm um die Schulter, und zusammen gin gen sie die Treppe hinunter. »Wo sind die anderen?« fragte er. »Sie sind alle hier«, erwiderte sie. »Sapper und Mek pumpen die Schlauchboote auf und beladen sie.« »Tessay?« »Sie ist in Sicherheit.« Sie stiegen die letzten Stufen hinunter zur Anlegestelle un terhalb des Epiphanias-Schreins. Der Nil war, seit Nicholas zum letzten Mal hier gestanden hatte, um drei Meter gestiegen. Das Wasser war schmutzig und die Strömung reißend, und durch den Gischt konnte er kaum die Klippen am anderen Ufer erkennen. Die fünf Schlauchboote lagen am Ufer bereit. Vier von ihnen waren schon aufgeblasen, und das fünfte war an den Druck
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luftbehälter angeschlossen und füllte sich allmählich. Mek und Sapper verluden die Munitionskisten in die bereitstehenden Boote und sicherten sie mit grünen Nylonnetzen. Sapper schaute zu Nicholas auf, und sein gutmütiges Gesicht verzog sich zu einem überraschten Staunen. »Was, zum Teufel, haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?« »Das werde ich Ihnen ein anderes Mal erzählen«, versprach Nicholas, ging auf Mek zu und umarmte ihn. »Herzlichen Dank, alter Freund«, sagte er. »Ihre Männer ha ben tapfer gekämpft, und Sie haben auf mich gewartet.« jetzt entdeckte Nicholas auch die Verwundeten, die unter der Klippe am Boden lagen. »Wie hoch waren Ihre Verluste?« »Drei Tote und diese sechs Verwundeten. Wahrscheinlich wären es mehr, wenn Nogo härter zugeschlagen hätte.« »Und doch sind es zuviele«, sagte Nicholas. »Auch einer ist schon zuviel«, erwiderte Mek in barschem Ton. »Wo sind Ihre anderen Männer?« »Auf dem Weg zur Grenze. Ich habe nur die behalten, die ich als Besatzungen für die Boote brauche.« Mek wickelte den schmutzigen Verband von Nicholas’ Kinn, und Royan war ent setzt, als sie die Wunde sah. Aber Mek grinste nur. »Es sieht aus, als seien Sie von einem Haifisch gebissen worden.« »Ja, das stimmt. Es war auch einer«, erwiderte Nicholas. Mek zuckte mit den Achseln. »Die Wunde muß genäht wer den. Mindestens ein Dutzend Stiche.« Er schickte einen seiner Männer los, seinen Brotbeutel zu holen. »Es tut mir leid, aber ich habe kein Betäubungsmittel«, warnte er Nicholas, der sich auf das Heck eines Schlauchboots gesetzt hatte. Dann goß er aus einer Flasche Alkohol auf die Wunde. Nicholas zuckte zusammen. »Es brennt, nicht wahr?« beru
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higte ihn Mek. »Aber warten Sie nur, bis ich anfange zu nä hen.« »Ihre freundliche Fürsorge wird ewig unvergessen bleiben«, sagte Nicholas, und mit einem frechen Grinsen riß Mek ein Verbandspäckchen auf. Während Mek die Wunde versorgte und die Fäden festzog, sagte er leise, so daß nur Nicholas es hören konnte. »Nogo hat mindestens eine ganze Kompanie eingesetzt, den Unterlauf des Flusses zu überwachen. Meine Spähtrupps haben mir gemeldet, daß er sie an den beiden Wegen am Flußufer entlang postiert hat.« »Weiß er denn, daß wir über Schlauchboote verfügen, um den Fluß hinunterzufahren?« fragte Nicholas mit zusammenge bissenen Zähnen. »Das halte ich für unwahrscheinlich, aber er weiß eine ganze Menge über das, was wir bisher unternommen haben. Viel leicht hat er einen Informanten unter ihren Arbeitern.« Mek setzte einen neuen Stich und fuhr dann fort: »Außerdem hat Nogo immer noch den Hubschrauber. Wenn die Wolken sich verzogen haben, wird er uns auf dem Fluß sehen können.« »Der Fluß ist unser einziger Fluchtweg. Beten wir, daß das Wetter so feucht und diesig bleibt.« Als Mek den letzten Knoten abgebunden und die Naht an Nicholas’ Kinn mit einem sterilen Pflaster verklebt hatte, war auch Sapper mit dem Aufblasen und Beladen des letzten Boo tes fertig. Vier von Meks Männern brachten Tessay auf der Tragbahre zu einem der Boote. Mek half ihr, sich auf die Bahre zu legen, und zeigte ihr, wie sie im Notfall die Sicherheitsgurte lösen konnte. Dann lief er hinüber zu den Verwundeten und ließ auch sie zu den Booten bringen. Die meisten konnten gehen, aber zwei mußten getragen werden. Danach kam er zu Nicholas zurück. »Ich sehe, Sie haben
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noch Ihr Funkgerät«, sage er, denn Nicholas hatte sich das Ge rät in einer mit Glaswolle ausgestopften Schachtel an einem Lederriemen über die Schulter gehängt. »Wenn wir das nicht hätten, wären wir jetzt in großen Schwierigkeiten«, erwiderte Nicholas. »Ich werde in Tessays Boot das Kommando übernehmen«, sagte Mek. »Gut!« erklärte sich Nicholas einverstanden. »Und ich werde mit Royan im ersten Boot vorausfahren.« »Lassen Sie lieber mich die Führung übernehmen«, erwider te Mek. »Was verstehen Sie schon vom Befahren eines solchen Flus ses?« fragte Nicholas. »Ich bin hier der einzige, der diesen Fluß schon einmal hinuntergefahren ist.« »Das war vor zwanzig Jahren«, sagte Mek. »Heute bin ich sogar noch leistungsfähiger als damals«, grinste Nicholas. »Wir wollen uns nicht streiten, Mek. Sie kommen als nächster, und Sapper folgt Ihnen. Sind unter Ihren Leuten Männer, die den Fluß gut genug kennen, um das Kom mando in den anderen beiden Booten zu übernehmen?« »Alle meine Männer kennen den Fluß«, erwiderte Mek und verteilte die Männer auf die einzelnen Boote. Nicholas half Royan ins Boot und schob es dann mit Hilfe seiner Leute über das steinige Ufer ins Wasser. Als es frei im Wasser lag, stiegen sie alle ein, und jeder Mann ergriff ein Paddel. Nicholas erkannte sofort, daß seine Mannschaft aus erfahre nen Ruderern bestand. Mek hatte recht gehabt. Sie paddelten kräftig und gleichmäßig, und das leichte Schlauchboot schoß hinaus in die Mitte der Strömung. Jedes Schlauchboot hatte Platz für zwölf Personen, und kei nes war schwer beladen. Die Munitionskisten mit den Schätzen aus dem Pharaonengrab waren zwar relativ groß, wogen aber nicht viel, und in keinem Boot befanden sich mehr als zwölf
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Personen. Die Boote lagen alle hoch im Wasser und ließen sich leicht dirigieren. »Bis zur sudanesischen Grenze ist dieser Fluß ein schwierig zu befahrendes Gewässer«, sagte Nicholas. Er stand im Heck am Ruder und hatte freie Sicht nach vorn. Royan hockte zu seinen Füßen, hielt sich an einem der Sicherheitsgurte fest und versuchte, die Ruderer nicht zu behindern. Sie durchquerten die Strömung, die sich unterhalb der Was serfälle durch das Felsenbecken wand, und Nicholas steuerte auf die schmale Lücke zu, durch die der Fluß nach Westen strömte. Er blickte hinauf zum Himmel auf die tiefhängenden, purpurfarbenen Regenwolken, die den gezackten oberen Rand der Klippen einhüllten. »Das Glück ist offenbar auf unserer Seite«, sagte er Royan. »Bei diesem Wetter werden sie uns mit dem Hubschrauber nicht finden können.« Er sah auf seine Armbanduhr: »Noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Vielleicht können wir noch ein paar Meilen hinter uns bringen, bevor wir an einem geeigneten Platz für die Nachtruhe anlegen müssen.« Er schaute zurück auf die anderen Boote, die ihm in einer Reihe folgten. Die Schlauchboote waren leuchtendgelb ange strichen und selbst in der nebligen, düsteren Schlucht gut zu erkennen. Er hob die geballte Faust und gab das Zeichen zum Weiterfahren. Der im nächsten Boot sitzende Mek gab das Zei chen weiter und grinste mit seinem bärtigen Gesicht zu ihm herüber. Die Boote wurden von der Strömung ergriffen und schossen durch die schmale Lücke hinunter in die enge Flußschleife des Nil. Die Männer zogen ihre Paddel ein und überließen sich der Strömung. Jetzt mußten sie Nicholas nur noch dabei helfen, das Boot über gefährliche Stellen hinwegzusteuern, und um das Gleichgewicht zu halten, kauerten sie sich auf den Boden des
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Schlauchboots. Bei Hochwasser waren viele große Felsbrocken im Flußbett überflutet, aber die Stellen, an denen man ihnen ausweichen konnte, waren durch die starken Strudel zu erkennen, und in den Engstellen dazwischen bildeten sich hohe, weiß schäu mende Wellen. Der Wasserstand war an beiden Ufern stark gestiegen, und das Wasser floß mit hoher Geschwindigkeit an der Felswand entlang. Falls ein Schlauchboot kenterte oder ein Mann der Besatzung über Bord ginge, dann könnte keines der Schlauchboote beidrehen, um die Schiffbrüchigen zu retten. Nicholas stand hochaufgerichtet da und schaute nach vorn auf die zu befahrende Strecke. Er mußte sich rechtzeitig ent schließen, welche Route er nehmen wollte, um das Schlauch boot entsprechend steuern zu können. Dabei kam es darauf an, den Fluß und die Besonderheiten seiner Strömung richtig zu beurteilen. Er war außer Übung und hatte jetzt, da er zum er sten Mal die Stromschnellen über eine längere Stecke überwin den mußte, ein unangenehmes Gefühl im Magen. Nicholas steuerte das Schlauchboot mit kaum wahrnehmbaren Bewe gungen des Ruders, und alle anderen Boote folgten ihm. »Nichts dabei!« lachte Royan. »Das darfst du nicht sagen!« warnte Nicholas sie. »Der ge fallene Engel hört mit.« Damit bereitete er sich auf die näch sten Stromschnellen vor, denen sie sich mit rasender Ge schwindigkeit näherten. Nicholas steuerte sein Schlauchboot zwischen zwei Fels blöcken hindurch und wurde von der Strömung mit erhöhter Geschwindigkeit mitgerissen. Sie hatten die Rinne erst zur Hälfte passiert, als er die hohe, sich aufbäumende Welle vor sich sah. Er versuchte, sie zu umfahren, aber die Strömung hat te das Boot fest im Griff. Wie ein Jagdpferd, das über einen Zaun springt, nahm das Boot die Welle und klatschte auf der anderen Seite in das Wel
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lental. Dabei wurde das Schlauchboot so weit zusammengefal tet, daß Bug und Heck sich fast berührten, während es aus dem Wellental wieder herausgeschleudert wurde. Die Männer im Boot purzelten übereinander, und Nicholas wäre hinauskatapultiert worden, wenn er sich nicht ange schnallt und das Ruder fest in der Hand behalten hätte. Royan lag flach auf dem Boden des Schlauchboots und hielt sich mit aller Kraft am Sicherheitsgurt fest, während das Schlauchboot durch die Luft flog und beim Aufprall auf das Wasser wieder seine normale Form annahm. Es schwankte ein paarmal und wäre fast gekentert, als es mit der linken Seite auf dem Wasser aufschlug. Einer der Männer war über Bord gegangen und hatte sich seitlich an das Schlauchboot gehängt. Er wurde mit der glei chen Geschwindigkeit mitgezerrt, so daß seine Kameraden ihn packen und wieder in das Boot hineinziehen konnten. Auch die Munitionskisten waren durcheinandergeraten, aber die Netze hatten dafür gesorgt, daß sie nicht über Bord gingen. »Warum hast du das getan?« schrie Royan ihn an. »Ausge rechnet jetzt, da ich anfange, dir zu vertrauen.« »Ich wollte dich nur testen«, rief er zurück. »Ich wollte se hen, wie hart und ausdauernd du bist.« »Ich gebe es ja zu, ich bin eine schwache Frau«, erwiderte sie. »Du mußt es wirklich nicht noch einmal tun.« Nicholas schaute zurück und sah, wie Meks Boot ebenso in das Wellen tal geschleudert wurde. Aber die Männer im nachfolgenden Boot hatten alles beobachtet und konnten das Hindernis seitlich umfahren. Nicholas sah wieder nach vorn und konnte an nichts anderes mehr denken als an das wild schäumend durch die Schlucht rasende Wasser. Das war jetzt seine Welt, und er lebte nur noch dafür, die Schlauchboote unversehrt über die Strom schnellen des Blauen Nil zu bringen. Er wußte nicht mehr, ob
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die Tropfen, die gegen seine Wangen und das verletzte Kinn in seine Augen prasselten Regentropfen waren oder die auf schäumende Gischt. Nach einer Stunde irrte sich Nicholas erneut beim Durchfah ren von Stromschnellen. Das Schlauchboot wurde seitlich hi neingezogen und kenterte beinahe. Zwei seiner Männer gingen über Bord. Er konnte das Schlauchboot so lenken, daß es den anderen gelang, einen von ihnen aus dem Wasser in das Boot zu ziehen, aber der zweite wurde gegen einen Felsblock ge schleudert, und bevor sie ihn packen konnten, ging er unter und tauchte nicht wieder auf. Niemand sagte ein Wort des Bedau erns, denn sie alle waren zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Einmal hörte er neben dem lauten Rauschen des Wassers Royans Stimme, die ihm zurief: »Hubschrauber! Kannst du ihn hören?« Nicholas schaute hinauf zu den grauen Wolken und hörte in der Ferne das flatternde Geräusch der Rotoren. »Über den Wolken!« rief er zurück und wischte sich mit dem Handrücken das Wasser aus den Augen. »Hier werden sie uns nicht entdecken.« Der Beginn der afrikanischen Nacht beschleunigte sich unter den tiefhängenden Wolken. Mit Einbruch der Dunkelheit wur de die Fahrt über die Stromschnellen zu einem gefährlichen Unternehmen. Eine Zeitlang fuhren sie ein ganzes Stück unbe hindert den Fluß hinunter, und im nächsten Augenblick kamen sie an einen Wasserfall und wurden in die Tiefe gerissen. Sie hatten das Gefühl, in den freien Raum hinausgeschleudert zu werden, obwohl der Höhenunterschied nur etwa zehn Meter betrug. Sie schlugen unterhalb des Wasserfalls auf, wo Men schen und Boote in einem großen Strudel durcheinandergewir belt wurden. Eines der Schlauchboote war gekentert und schwamm kiel
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oben weiter. Die Mannschaften der anderen Schlauchboote paddelten hin, zogen die Überlebenden aus dem Wasser und sammelten die Paddel und andere, auf dem Wasser schwim mende Gegenstände ein. Mit großer Mühe gelang es ihnen, das gekenterte Schlauchboot wieder umzudrehen. Als sie es end lich geschafft hatten, war es bereits stockdunkel. »Zählen sie die Kisten!« rief Nicholas. »Wie viele haben wir verloren?« Er konnte es kaum glauben, als Sapper ihm zurief: »Elf sind noch an Bord. Alle vollzählig und in Ordnung.« Die Netze hat ten sich bewährt. Aber die Männer und Frauen waren er schöpft, durchnäßt und zitterten vor Kälte. Jeder Versuch, im Dunkeln weiterzufahren, wäre verantwortungslos gewesen. Nicholas schaute zu Mek hinüber, der ihm mit seinem Boot gefolgt war, und schüttelte den Kopf. »Hinter der Klippe dort ist die Strömung nicht so stark.« Mek zeigte auf die Stelle. »Vielleicht können wir die Boote über Nacht dort festmachen.« Aus einer vertikalen Felsspalte ragte ein kleiner verkrüppel ter, aber kräftiger Baum heraus. Diesen Baum benutzten sie als Poller und machten die Boote daran fest, in denen sie in aller Ruhe übernachten konnten. An eine warme Mahlzeit oder ein heißes Getränk war allerdings nicht zu denken, und sie mußten sich mit kalten Fleischkonserven und aufgeweichtem injeraBrot begnügen. Mek kam aus seinem Boot zu Nicholas herüber, legte sich neben ihn und zog ihn zu sich heran. Dann flüsterte er ihm ins Ohr: »Ich habe noch einmal abzählen lassen. Am letzten Was serfall haben wir wieder einen Mann verloren. Jetzt werden wir ihn nicht finden können.« »Mir geht es nicht besonders gut«, mußte Nicholas zugeben. »Vielleicht könnten Sie morgen die Führung übernehmen.« »Das ist nicht Ihre Schuld.« Mek drückte ihn kurz an sich.
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»Niemand hätte es bessermachen können. Es war dieser letzte Wasserfall –« Er unterbrach sich, und sie hörten, wie das Was ser donnernd in die Tiefe stürzte. »Wie weit sind wir heute gekommen?« fragte Nicholas. »Und wie weit geht die Reise noch?« »Das ist schwer zu sagen, aber ich schätze, die Hälfte der Strecke bis zur Grenze liegt hinter uns. Wir müßten sie ir gendwann morgen nachmittag erreichen.« Sie schwiegen eine Zeitlang, und dann fragte Mek: »Welches Datum haben wir heute? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.« »Mir geht es genauso.« Nicholas schaute auf das Leuchtzif ferblatt seiner Armbanduhr. »Guter Gott! Heute ist schon der Dreißigste.« »Das Flugzeug, das Sie abholen soll, wird übermorgen auf dem Behelfsflughafen Roseires auf Sie warten.« »Ja, am ersten April«, bestätigte Nicholas. »Werden wir es bis dahin schaffen?« »Diese Frage müssen Sie sich selbst beantworten.« Mek grinste in sich hinein, ohne daß Nicholas es im Dunkeln sehen konnte. »Glauben Sie, daß sich Ihr dicker Freund verspäten könnte?« »Jannie ist ein Profi. Er verspätet sich nie«, erwiderte Nicho las. Nach einiger Zeit fragte er. »Wenn wir nach Roseires kommen, was soll ich dann mit Ihrem Anteil an der Beute ma chen?« Nicholas stieß mit dem Fuß an eine Munitionskiste. »Wollen Sie es mitnehmen?« »Sobald Sie mit Ihrem dicken Freund abgeflogen sind, wer den wir uns vor Nogo in Sicherheit bringen müssen. Dazu darf ich mich nicht mit zuviel Gepäck belasten. Nehmen Sie meinen Anteil mit. Verkaufen Sie die Dinge für mich – ich brauche das Geld, um meinen Kampf hier fortzusetzen.« »Und Sie vertrauen mir?« »Sie sind mein Freund.«
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»Freunde lassen sich am leichtesten betrügen«, sagte Nicho las, und Mek gab ihm einen Stoß gegen die Schulter und lachte. »Aber jetzt müssen wir schlafen. Wir werden morgen unsere Kräfte für das Paddeln brauchen.« Mek stand in dem schau kelnden Schlauchboot auf und sagte: »Schlafen Sie gut, alter Freund.« Dann kletterte er hinüber in das andere Boot, wo Tes say schon auf ihn wartete. Nicholas lehnte sich mit dem Rücken an die weiche Innen wand des Schlauchboots und nahm Royan in die Arme. Sie saß zwischen seinen Knien und lehnte sich, in ihren durchnäßten Kleidern vor Kälte zitternd, an seine Brust. Nach einiger Zeit hörte sie auf zu zittern und flüsterte: »Du bist ein ausgezeichnetes Heizkissen.« »Das ist einer der Gründe dafür, daß wir auf Dauer zusam menbleiben sollten«, erwiderte er und streichelte ihr nasses Haar. Sie antwortete nicht, sondern schmiegte sich enger an ihn, und schon bald zeigte ihr ruhiges Atmen, daß sie einge schlafen war. Obwohl er steifgefroren dalag, seine Schultern und die Bla sen an den Handflächen, die er sich am Steuerruder geholt hat te, schmerzten, konnte er nicht so rasch einschlafen wie sie. Nun, da er damit rechnen durfte, schon bald auf dem Flughafen von Roseires zu sein, beschäftigten ihn andere Probleme, und nicht die Schwierigkeiten bei der Überwindung der Strom schnellen oder die Gefahr, den Männern Nogos in die Hände zu fallen. Denn dies waren Hindernisse und Feinde, die er er kennen und bekämpfen konnte. Es gab aber auch noch andere Entscheidungen, die er demnächst würde treffen müssen. Royan regte sich in seinen Armen und hatte offenbar einen sehr lebhaften Traum, denn sie sprach im Schlaf, aber er konn te ihre Worte nicht verstehen. Er drückte sie zärtlich an sich, und sie beruhigte sich wieder. Er wäre selbst fast eingeschlafen, als sie wieder anfing zu spre
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chen, diesmal ganz deutlich. »Es tut mir leid, Nicky. Nimm es mir nicht übel. Ich konnte es dir nicht erlauben –« Aber was nun folgte, konnte er nicht mehr verstehen. Er war hellwach. Ihre Worte verstärkten seine Zweifel und Befürchtungen. Nach einiger Zeit schlief er ein, wachte aber immer wieder auf, denn seine Träume waren ebenso beunruhi gend, wie die ihren es gewesen sein mußten. Im Dunkeln, kurz vor dem Morgengrauen entschloß er sich, Royan vorsichtig wachzurütteln, die nur zögernd wach wurde. Sie aßen ein wenig von den kalten Konserven, die vom ver gangenen Abend übriggeblieben waren. Und sobald sie nach Sonnenaufgang den Fluß und die Hindernisse darin erkennen konnten, steuerten sie die gelben Schlauchboote wieder in die Strömung und setzten die Fahrt flußabwärts fort. Über ihnen hing immer noch eine geschlossene Wolkendek ke, aus der in kürzeren Abständen heftige Regenschauer auf sie herunterprasselten. Sie fuhren den ganzen Vormittag weiter, und allmählich verlor der Ruß seine Schrecken. Die Strömung war nicht mehr so reißend und gefährlich, und die Ufer nicht mehr so hoch und zerklüftet. Am späten Nachmittag, der Himmel war immer noch wol kenverhangen, begann ein Streckenabschnitt, wo sich der Fluß zwischen Felsvorsprüngen und Landzungen hindurch winden mußte, und die nun folgenden Stromschnellen bereiteten Ni cholas keine Schwierigkeiten mehr. Vielleicht hatte er es auf der langen Fahrt gelernt, diese Technik besser zu beherrschen, aber er hatte auch den Eindruck, daß die Strömung jetzt nicht mehr so reißend war wie zu Beginn der Fahrt. »Ich glaube, das Schlimmste liegt jetzt hinter uns«, sagte er zu Royan, die vor ihm saß. »Das Gefälle ist jetzt, da wir uns dem sudanesischen Flachland nähern, nicht mehr so stark.«
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»Wie weit ist es noch nach Roseires?« fragte sie. »Das kann ich nicht genau sagen, aber wir müßten schon sehr bald an der Grenze sein.« Nicholas und Mek hatten die Abstände zwischen den einzel nen Booten so weit verringert, daß sie einander in Rufweite folgten und alle Anweisungen sofort weitergegeben werden konnten. Nicholas steuerte sein Boot in den tieferen äußeren Bereich der nächsten großen Flußbiegung, und als er diese durchfahren hatte, konnte er auf der vor ihm liegenden Strecke keine Stromschnellen oder Untiefen mehr entdecken. Entspannt lä chelte er Royan an. »Wie wäre es, wenn wir uns für den Sonntag einen Tisch im Dorchester Grill bestellen würden? In ganz London gibt es kein besseres Beefsteak.« Er glaubte, einen flüchtigen Schatten in ihren Augen gesehen zu haben, bevor sie ihn strahlend anlächelte und sagte: »Das klingt sehr gut.« »Und anschließend können wir nach Hause gehen, uns ge mütlich vor die Glotze setzen und das Spiel des Tages ansehen oder eine Partie Schach spielen.« »Du nimmst dir allerhand heraus«, lachte sie, »aber es klingt sehr verlockend.« Er wollte sich gerade über sie beugen und ihr einen Kuß ge ben, denn es war so reizend, wenn sie dabei errötete. Doch plötzlich sah er vor dem Bug seines Schlauchbootes das Was ser aufspritzen und hörte das typische Knattern eines sowjeti schen Sturmgewehrs. Er warf sich über Royan, um sie mit seinem Körper zu schützen, und hörte Mek aus dem hinteren Boot rufen: »Erwi dert das Feuer! Köpfe einziehen!« Die Ruderer legten die Paddel ins Boot und griffen nach ih ren Waffen. Sie schossen auf das Flußufer, von wo die Schüsse
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kamen. Die Angreifer hatten sich zwischen den großen Steinen und im dichten Gebüsch versteckt, so daß man sie nicht einzeln aufs Korn nehmen konnte. Aber bei einem Überfall wie diesem kam es darauf an, den Gegner zu Boden zu zwingen und am sicheren Zielen zu hindern. Ein Geschoß schlug dicht neben Royans Kopf in die Wand des Schlauchboots ein und traf eine Munitionskiste, denn die dünnen Seitenwände der Schlauchboote gewährten bei Schüs sen keinerlei Schutz. Einer der Ruderer wurde in den Kopf ge troffen. Das Geschoß durchschlug ihm den Schädel, und der Mann wurde auf den Bootsrand geschleudert. Royan schrie entsetzt auf, und Nicholas ergriff das Sturmgewehr des Toten und leerte das ganze Magazin mit kurzen Feuerstößen auf das Gebüsch am Ufer, in dem sich die Angreifer versteckt hatten. Das steuerlose Schlauchboot drehte sich im Kreis und wurde in der starken Strömung flußabwärts gerissen. In weniger als ei ner Minute hatte es die Flußbiegung und die Angreifer hinter sich gelassen. Nicholas legte das leergeschossene Gewehr beiseite und rief hinüber zu Mek: »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« »Ein Verwundeter«, rief Mek zurück. »Nicht allzu schwer.« Nun meldeten auch die anderen Boote ihre Verluste. Im gan zen waren es ein Toter und drei Verwundete, die nicht lebens gefährlich verletzt waren. Auch die Boote selbst waren getrof fen worden, aber da die Schläuche aus einzelnen wasserdichten Teilen bestehen, waren sie alle noch schwimmfähig. Mek steuerte sein Boot neben das von Nicholas und rief: »Ich glaubte schon, wir seien unbemerkt an Nogos Leuten vor beigekommen.« »Diesmal haben wir noch Glück gehabt«, rief Nicholas zu rück. »Wahrscheinlich haben wir sie überrascht. Sie haben wohl nicht damit gerechnet, daß wir den Fluß hinunterfahren
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würden.« »Nun, Überraschungen gibt es jetzt nicht mehr für ihn. Sie können sicher sein, daß er die Nachricht schon über Funk wei tergegeben hat. Nogo weiß genau, wo wir sind und wohin wir wollen.« Er blickte nach oben. »Hoffen wir, daß wir unsere Reise im Schutz der tiefhängenden schweren Regenwolken fortsetzen können.« »Wie weit ist es noch bis zur sudanesischen Grenze?« »Mit Sicherheit kann ich das nicht sagen, aber länger als zwei Stunden wird es nicht mehr dauern.« »Ist der Grenzübergang bewacht?« fragte Nicholas. »Nein. Auf beiden Seiten gibt es nichts als menschenleeres Buschland.« »Hoffen wir, daß es dabei bleibt«, brummte Nicholas. Eine halbe Stunde später hörten sie wieder den Hubschrau ber. Er flog, ohne daß sie ihn zu Gesicht bekamen, über sie hinweg stromabwärts weiter. Nach etwa zwanzig Minuten kam er zurück und kehrte nach kurzer Zeit, noch immer über den Wolken, um und flog stromabwärts davon. »Was, zum Teufel, hat Nogo vor?« rief Mek zu Nicholas hinüber. »Es sieht so aus, als wollte er den Flußlauf überwa chen. Aber unter den Wolken kann er nicht fliegen.« »Ich nehme an, er bringt seine Männer in einen neuen Hin terhalt stromabwärts. Da er jetzt weiß, daß wir in Booten un terwegs sind, ist ihm auch klar, daß wir nur in einer Richtung weiterkommen können. Nogo ist nicht der Mann, der sich un bedingt an internationale Vereinbarungen hält, und eine Grenz verletzung wird ihm nichts ausmachen. Er wird sich denken können, daß unser nächstes Ziel Roseires ist. Vielleicht wird er auf uns warten, wenn wir versuchen, dort an Land zu gehen.« Mek kam mit seinem Schlauchboot näher an das von Nicho las heran, warf eine Leine hinüber, und sie banden beide Boote zusammen, um im normalen Ton miteinander sprechen zu
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können. »Mir gefällt die Sache nicht, Nicholas. Wenn wir weiterfah ren, werden wir mit Sicherheit angegriffen werden. Was schla gen Sie vor?« Nicholas überlegte lange, bevor er antwortete: »Kennen Sie diesen Teil des Flusses? Wissen Sie genau, wo wir jetzt sind?« Mek schüttelte den Kopf. »Ich vermeide es jedesmal, wenn wir die Grenze überschreiten, dem Fluß zu nahe zu kommen. Aber ich würde die alte Zuckerfabrik bei Roseires wiederer kennen. Sie liegt vom Flughafen etwa fünf Kilometer flußauf wärts.« »Unbeaufsichtigt?« fragte Nicholas. »Ja. Sie wurde vor zwanzig Jahren bei Kriegsbeginn aufge geben.« »Unter dieser schweren Wolkendecke wird es in einer Stun de dunkel sein«, sagte Nicholas. »Die Strömung ist jetzt nicht mehr so reißend und gefährlich. Wir können es riskieren, nach Einbruch der Dunkelheit weiterzufahren. Vielleicht rechnet Nogo nicht damit, dann könnten wir im Dunkeln an ihm vor beikommen.« »Halten Sie das für die beste Möglichkeit?« lachte Mek. »Ist es nicht etwas gewagt, einfach zu sagen, ›Augen zu und durch‹?« »Nun, wenn irgend jemand mir sagen könnte, wo wir jetzt sind und wann Jannie morgen eintreffen wird, dann könnte ich mich vielleicht etwas ausführlicher zu dieser Frage äußern«, erwiderte Nicholas grinsend. »Bis dahin kann ich nur hoffen, daß uns das Glück nicht im Stich läßt.« Nervlich aufs äußerste angespannt, paddelten sie in der Dun kelheit unter den niedrig hängenden Regenwolken weiter fluß abwärts. Obwohl sie kaum noch etwas sehen konnten, hielten sie ihre Waffen schußbereit, um jederzeit auf einen Angriff reagieren zu können.
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»Wir müssen die Grenze vor etwa einer Stunde überquert haben«, sagte Mek. »Die alte Zuckerfabrik kann nicht mehr weit sein.« »Wie werden Sie sie im Dunkeln finden?« »Am Ufer steht noch eine steinerne Mole, ein Anlegeplatz, an dem die Lastkräne, die den Zucker nach Khartum mitnah men, beladen wurden.« Es wurde sehr schnell dunkel, und es beruhigte Nicholas, daß auch der Feind sie vom Flußufer aus nicht mehr erkennen könnte. Sie banden die Schlauchboote zusammen, um zu ver hindern, daß sie auseinandergetrieben wurden, und ließen sich so, ohne zu paddeln, von der Strömung mitnehmen. Unerwartet tauchte plötzlich die steinerne Mole von Roseires auf, und es gelang Nicholas nicht, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Seine Männer sprangen sofort hinaus in das brusthohe Wasser und zogen das Boot ans Ufer. Mek und zwanzig seiner Männer verteilten sich sofort am Rand der ehemaligen Zuckerrohrfelder, um einen Überraschungsangriff Nogos abwehren zu können. Nicholas ärgerte sich über das Durcheinander und den Lärm beim Festmachen der Boote, konnte aber nichts dagegen unter nehmen. Nun wurden die Verwundeten an Land gebracht und die Munitionskisten ausgelassen. Nicholas trug Royan hucke pack ans Ufer und ging zurück, um Tessay zu holen. Es ging ihr schon viel besser. Sie hatte sich während der Fahrt etwas erholt und konnte jetzt ohne Hilfe aufstehen, um sich von Ni cholas auf den Rücken nehmen und an Land bringen zu lassen. Dort glitt sie von seinem Rücken herunter und stand aufrecht da. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Nicholas. »Vielen Dank, Nicholas, schon sehr viel besser.« Er stützte sie noch einen Augenblick, dann sagte er schnell: »Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, Sie zu fragen, worum Sie Royan seinerzeit gebeten hat, als Sie nach Debra Maryam
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gingen, um zu telefonieren? Haben Sie ihre Bitte erfüllen kön nen?« »Ja natürlich«, erwiderte Tessay, ohne mißtrauisch zu sein. »Ich habe Royan gesagt, ich hätte ihre Bitte an Moussad von der ägyptischen Botschaft weitergegeben. Hat sie es Ihnen nicht erzählt?« Nicholas zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen, lächelte aber und sagte ruhig: »Wahr scheinlich hat sie nicht mehr daran gedacht. Es ist auch gar nicht so wichtig. Noch einmal vielen Dank, Tessay.« Im gleichen Augenblick tauchte Mek plötzlich aus dem Dunkel auf und flüsterte ärgerlich: »Hier ist es so laut wie auf dem Kamelmarkt. Nogo wird uns noch in acht Kilometer Ent fernung hören können.« Dann übernahm er das Kommando und wies jedem seine Arbeit zu. Nachdem die letzten Munitionskisten ausgeladen worden waren, wurden die Boote in das Zuckerrohrfeld gezogen, die Ventile auf die Schläuche aufgeschraubt und die Luft herausge lassen. Zur Tarnung wurden sie mit trockenem Zuckerrohr zu gedeckt. Noch im Dunkeln verteilte Mek die Munitionskisten an seine Männer. Auch Sapper nahm einen Kasten unter jeden Arm. Nicholas hängte sich das Funkgerät über eine Schulter und den Verbandskasten über die andere. Auf dem Kopf balan cierte er den Kasten mit der goldenen Totenmaske des Pharao und der kleinen, Taita darstellenden Statuette. Mek schickte seine Spähtrupps zum Flughafen mit dem Auf trag, festzustellen, ob sie auf dem Weg dorthin in einen Hinter halt geraten könnten. Schließlich setzte er sich an die Spitze seiner Männer, die ihm in einer Reihe hintereinander folgten. Sie waren kaum anderthalb Kilometer weit gekommen, als die Wolkendecke aufriß und sie im Licht der Mondsichel und der Sterne den hohen Schornstein der alten Zuckerfabrik erkennen
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konnten. Doch selbst im Mondschein kamen sie nur langsam weiter und mußten immer wieder lange Pausen einlegen, weil es den Trägern der Krankenbahren schwerfiel, mit den anderen Schritt zu halten. Sie erreichten den Flughafen erst nach drei Uhr mor gens, nachdem der Mond aufgegangen war. Nun stapelten sie die Munitionskisten in dem Akazienwald am Ende der Start bahn auf, wo sie zu Beginn ihrer Mission die Paletten beladen und den gelben Traktor bereitgestellt hatten. Obwohl sie alle ziemlich erschöpft waren, stellte Mek noch Vorposten um das ganze Lager auf, und die beiden Frauen ver sorgten im Licht eines abgeschirmten Feuers die Verwundeten und verbrauchten dabei den Rest der Verbände und Medika mente aus Meks Verbandskasten. Mit der einzigen elektrischen Stablampe, deren Batterien noch nicht aufgebraucht waren, beleuchtete Sapper das Funk gerät, das Nicholas ausgepackt hatte und das zu seiner Freude nicht naß geworden war. Als er es einschaltete, leuchtete die Kontrollampe auf. Er stellte die Kurzwellenfrequenz ein und hörte nach einigem Su chen eine Werbesendung von Radio Nairobi. Der Gesang von Yvonne Chaka Chaka gefiel ihm sehr, aber er schaltete das Gerät sofort wieder aus, um die Batterie zu schonen. Dann lehnte er sich gegen den Stamm der Akazie und versuchte, bis zum Tagesanbruch noch etwas zu ruhen. Aber er konnte nicht einschlafen – das Gefühl, hintergangen worden zu sein, beunruhigte und ärgerte ihn zu sehr. Tuma Nogo beobachtete, wie der große feurige Sonnenball vor ihnen über dem Nil aufstieg. Sie flogen nur wenige Meter über dem Fluß, um nicht von einem Radargerät der sudanesi schen Armee erfaßt zu werden. Er wußte, daß es in Khartum
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eine Radarstation gab, die ihn auch auf diese Entfernung orten konnte. Die Beziehungen zwischen der sudanesischen und der äthiopischen Regierung waren gespannt, und die Sudanesen würden auf jede Grenzverletzung sofort und sehr heftig reagie ren. Nogo war verunsichert und machte sich große Sorgen. Seit der Katastrophe in der Schlucht des Dandera-Flusses hatte sich die Lage zu seinen Ungunsten entwickelt, und er hatte alle Verbündeten verloren. Bis dahin war es ihm nicht bewußt ge wesen, wie weit er bereits in die Abhängigkeit von Helm und Schiller geraten war. Jetzt war er ganz auf sich selbst gestellt und hatte schon manchen Fehler begangen. Doch trotzdem war er entschlossen, die Flüchtlinge zu ver folgen und zu Tode zu hetzen, gleichgültig, wie weit er auf sudanesischem Gebiet vorstoßen mußte. In den vergangenen Wochen hatte er den Gesprächen zwischen Schiller und dem Ägypter entnehmen können, daß Harper und Mek Nimmur über unvorstellbar kostbare Kunstschätze verfügten. Er konnte sich von ihrem Geldwert kaum eine Vorstellung machen, aber er hatte gehört, daß es sich um viele Millionen Dollar handelte. Schon eine Million war eine Riesensumme für ihn, mit der er sich, wie er glaubte, jeden Luxus leisten und jede Frau kaufen könnte. Ebensolange dauerte es, bis er auf den Gedanken kam, er könnte nach dem Tod von Schiller und Helm selbst versuchen, sich diesen Schatz anzueignen. Außer den Untergrundkämp fern von Mek Nimmur und dem Engländer, stand ihm niemand mehr im Weg. Und er hatte weit überlegene, militärische Kräf te und einen Hubschrauber zur Verfügung. Nogo war überzeugt, er könnte die Flüchtlinge vernichtend schlagen, wenn es ihm gelang, sie in die Enge zu treiben. Dabei durfte es keine Überlebenden geben, die in Adis Abeba über diese Ereignisse berichten könnten. Wenn Mek, der Engländer
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und alle, die ihm folgten, tot waren, dann wäre es eine Kleinig keit, die Beute im Hubschrauber außer Landes zu bringen. Es gab zwei Männer, und zwar in Nairobi und Khartum, mit denen er schon die verschiedensten Geschäfte abgewickelt hatte. Sie hatten Elfenbein, dessen Ausfuhr verboten war, und Haschisch von ihm gekauft. Sie würden wissen, wie man diese Schätze am besten zu Geld machen könnte. Es waren allerdings ver schlagene Burschen, und deshalb hatte er beschlossen, nicht alles nur einer Person anzuvertrauen, sondern das Risiko zu verteilen, für den Fall, daß einer ihn betrog. Er hatte bereits die wildesten Fantasien, was er mit all die sem Reichtum kaufen würde: teure Anzüge und Autos, Grund und Boden, Vieh und Frauen – weiße Frauen, schwarze und braune Frauen, für jeden Tag eine andere. Er unterbrach seine Tagträume, denn er mußte herausfinden, wohin die Flüchtlinge entkommen waren. Er hatte nicht gewußt, daß Harper und Mek Nimmur irgendwo in der Nähe des Klosters Schlauchboote versteckt hatten. Hansith hatte ihm das nicht gemeldet. Er und Helm hatten ge glaubt, sie würden versuchen, auf dem Landweg zu entkommen, und alle Pläne, sie abzufangen, bevor sie an die sudanesische Grenze kamen, basierten auf dieser Annahme. Auf Anordnung von Helm hatte er sogar dort, wo Mek Nimmur voraussichtlich die Grenze überqueren würde, Kraftstoffreserven gelagert, um den Hubschrauber auftanken zu können. Ohne diesen zusätzli chen Kraftstoff hätte er die Verfolgung längst aufgeben müssen. Seine Männer hatte Nogo an den Wegen neben dem Fluß po stiert, aber nicht daran gedacht, auch den Fluß selbst über wachen zu lassen. Es war ein reiner Zufall, daß einer seiner Spähtrupps gesehen hatte, wie die gelben Schlauchboote in der reißenden Strömung den Fluß hinunterfuhren. Er hatte aber keine Zeit mehr gehabt, seine Männer an eine andere Stelle zu verlegen, sondern hatte die Schlauchboote nur kurz unter Feuer
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genommen, bevor sie um die nächste Flußbiegung verschwan den. Dabei waren die Boote nicht sehr stark beschädigt wor den, jedenfalls nicht stark genug, um sie an der Weiterfahrt zu hindern. Der Kompanieführer hatte die Gefechtsübung mit Mek Nimmur sofort über Funk gemeldet, und Nogo hatte einige seiner Männer stromabwärts zur sudanesischen Grenze geflo gen, um die Schlauchboote dort abzufangen. Doch der Hub schrauber konnte nicht mehr als sechs bewaffnete und voll ausgerüstete Männer gleichzeitig mitnehmen, und ihre Verle gung hatte viel Zeit beansprucht. Bis zum Einbruch der Nacht hatte er nur sechzig seiner Leute in die neuen Stellungen brin gen können. Nun fürchtete er, daß die Schlauchboote im Dunkeln unbe merkt an ihm vorübergekommen sein könnten, und startete mit seinem Hubschrauber bereits im Morgengrauen. Hoch über dem Fluß hingen noch einige Cumuluswolken, aber er konnte jetzt das ganze Flußtal im Tiefflug überfliegen, um festzustel len, wo Mek Nimmur mit seinen Schlauchbooten geblieben war. Zuerst waren sie im äthiopischen Luftraum über dem Flußtal bis zu der Stelle zurückgeflogen, an der Nogos Männer Mek Nimmur und Harper beschossen hatten. Dabei hatten sie die Schlauchboote nicht entdecken können, und deshalb zwang Nogo den Piloten, umzukehren, die Grenze zu überfliegen und den Flußlauf des Blauen Nil auf sudanesischem Territorium abzusuchen. Aber nachdem der Pilot über dem Niltal sechzig Seemeilen im sudanesischen Luftraum zurückgelegt hatte, weigerte er sich, weiterzufliegen. Obwohl Nogo ihm eine To karewpistole an den Kopf hielt, hatte er den Hubschrauber ein hundertachtzig Grad gewendet und war über dem Flußtal zu rückgeflogen. Inzwischen wußte Nogo, daß sein Versuch gescheitert war.
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Verärgert saß er neben dem Piloten im Hubschrauber und über legte sich, wo Harper, Mek Nimmur und ihre Leute geblieben sein könnten. Er sah den hohen Schornstein der verlassenen Zuckerfabrik in Roseires, an der sie schon auf dem Flug strom abwärts vorbeigekommen waren, und befahl dem Piloten: »Fliegen Sie jetzt zum Nordufer hinüber.« Der Mann zögerte und sah ihn fragend an, bevor er gehorchte. Sie überflogen das Fabrikgebäude, und zwar so niedrig, daß sie dem Schornstein ausweichen mußten. Das Dach war abge deckt, und die Fenster waren nur noch leere Rechtecke in den Resten der Außenmauer. Die Kessel und die übrige Einrich tung waren schon vor zwanzig Jahren entfernt worden, und in den leeren Räumen unter ihm hätte Nogo jeden gesehen, der versuchte, sich dort zu verstecken. Der Pilot ließ den Hub schrauber über den Ruinen stehen, bis Nogo den Kopf schüttel te und sagte: »Nichts! Wir haben ihre Spur verloren. Fliegen Sie stromaufwärts zurück.« Während der Pilot erleichtert den Hubschrauber wendete, schaute Nogo noch einmal hinunter auf das Zuckerrohrfeld und entdeckte etwas Gelbes. »Warten Sie!« rief er in sein Mikrophon. »Da ist was. Zu rück!« Der Hubschrauber schwebte über dem Feld, und Nogo zeigte erregt nach unten. »Hinunter! Setzen Sie uns hier ab.« Sobald die Kufen des Hubschraubers den Boden berührten, sprangen sechs schwerbewaffnete Soldaten aus der Kabine und bildeten einen Sicherheitsring um die Stelle, an der sie gelandet waren. Nogo kletterte aus der vorderen Tür und lief auf die Stelle zu, an der er glaubte, etwas entdeckt zu haben. Ein Blick genügte: Man hatte die Luft aus den gelben Schlauchbooten abgelassen, sie zusammengeschnürt und oberflächlich zuge deckt. Auf dem weichen Ackerboden sah er die frischen Spu ren schwerer Armeestiefel. Sie führten weiter landeinwärts. Die Männer, von denen sie stammten, hatten offenbar schwere
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Lasten getragen, denn sie hatten in dem weichen Sandboden tiefe Abdrücke hinterlassen. Nogo lief zurück zum Hubschrauber, steckte den Kopf in die offene Kabinentür und brüllte den Piloten an: »Gibt es in der Nähe einen Behelfsflughafen?« Der Pilot schüttelte den Kopf. »Auf meiner Karte ist nichts eingezeichnet.« »In der Nähe der Zuckerfabrik muß es aber eine Landebahn gegeben haben.« »Wenn das so ist, dann ist sie schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb.« »Wir werden sie finden«, erklärte Nogo. »Mek Nimmurs Spuren werden uns hinführen.« Er überlegte sich die Sache noch einmal und sagte: »Aber dazu muß ich noch mehr Solda ten herbringen. Nach den Spuren zu urteilen, verfügt Mek Nimmur über mindestens fünfzig Banditen.« Er ließ seine Männer bei der Zuckerfabrik zurück und flog mit leerem Passagierraum an die Grenze, um die erste Verstär kung zu holen. »Big Dolly! Bitte kommen, Big Dolly. Dies ist Pharao. Hö ren Sie mich?« Nicholas setzte seinen ersten Funkspruch eine Stunde vor Sonnenaufgang ab. »Wie ich Jannie kenne, und ich glaube, ich kenne ihn sehr gut, dann wird er sich uns im Dunkeln nähern und hier sein, sobald es hell genug ist, um die Landebahn zu erkennen und zu landen.« »Wenn der Dicke überhaupt kommt«, sagte Mek Nimmur. »Er wird kommen«, erwiderte Nicholas zuversichtlich. »Jan nie hat mich noch nie im Stich gelassen.« Er nahm noch einmal das Mikrophon in die Hand und ging auf Sendung: »Big Dolly! Bitte kommen, Big Dolly.« Aber Nicholas hörte nur das atmo sphärische Knistern und überprüfte noch einmal die Wellen
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länge, auf der er seine Funksprüche abgab. Alle fünfzehn Mi nuten versuchte er, die Verbindung herzustellen, während sie im Dunkeln unter den Akazien vor dem Funkgerät hockten. Plötzlich sprang Royan auf und rief erregt. »Da ist er. Hören Sie doch! Das sind die Motoren von Big Dolly.« Nicholas und Mek liefen hinaus ins Freie und schauten in nördlicher Richtung nach oben. »Das ist nicht die Herkules«, rief Nicholas plötzlich. »Das ist ein anderes Flugzeug.« Er schaute nach Süden Richtung Fluß. »Jedenfalls kommt es aus der falschen Richtung.« »Sie haben recht«, sagte Mek. »Es ist eine einmotorige Ma schine, und zwar kein Flugzeug mit festen Tragflächen. Man hört die Rotoren.« »Der Pegasus-Hubschrauber!« rief Nicholas enttäuscht. »Sie suchen nach uns.« Die Rotorgeräusche wurden schwächer, und Nicholas sagte erleichtert: »Sie haben uns nicht gefunden. Sie können auch die Schlauchboote nicht gesehen haben.« Sie gingen zurück unter die Akazien, und Nicholas versuchte noch einmal, die Verbindung zu Jannie aufzunehmen. Nach zwanzig Minuten hörten sie wieder das Geräusch der Rotoren und verfolgten es aufmerksam. »Nicht mehr zu hören«, sagte Nicholas nach einiger Zeit, aber nach zwanzig Minuten hörten sie es erneut. »Nogo hat irgend etwas vor.« Mek war sichtlich beunruhigt. »Was, glauben Sie, könnte es sein?« Auch Nicholas hatte ein ungutes Gefühl. Wenn Mek sich Sorgen machte, dann hatte er gute Gründe dafür. »Ich weiß es nicht«, mußte Mek zugeben. »Vielleicht hat Nogo die Schlauchboote entdeckt und bringt Verstärkung her an, bevor er uns weiter verfolgt.« Er ging hinaus in das Zucker rohrfeld und horchte angestrengt. Dann kam er zu Nicholas zurück, der immer noch neben seinem Funkgerät saß.
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»Versuchen Sie weiter, die Verbindung zu Jannie herzustel len«, sagte er. »Ich werde hinausgehen und feststellen, ob mei ne Männer bereit sind, einen Angriff von Nogo abzuwehren, wenn er kommen sollte.« Während der folgenden drei Stunden flog der Hubschrauber in kurzen Abständen den Nil hinauf und hinunter, da sich aber sonst nichts ereignete, beruhigten sie sich, und Nicholas blickte kaum noch vom Funkgerät auf, wenn er in der Ferne die Roto ren hörte. Plötzlich knisterte es im Funkgerät, und Nicholas fuhr erschreckt auf. »Pharao! Hier spricht Big Dolly. Hören Sie mich?« Nicholas war erleichtert und antwortete: »Hier ist Pharao. Wir möchten freundliche Worte von Ihnen hören, Big Dolly.« »Eintreffen in einer Stunde dreißig Minuten.« Jannies Ak zent war unverkennbar. Er legte das Mikrophon aus der Hand und strahlte die beiden Frauen an. »Jannie ist schon unterwegs und wird –« Er hielt inne, und sein Lächeln verwandelte sich in Sorge, denn aus der Richtung des Flusses hörte er das unverkennbare Knattern eines Sturmgewehrs AK-47, dem nach wenigen Se kunden das Krachen einer detonierenden Granate folgte. »O verdammt!« stöhnte er. »Nogo ist auf der Bildfläche er schienen.« Er nahm das Mikrophon in die Hand und sagte mit dumpfer Stimme: »Big Dolly! Eben sind die Allerhäßlichsten aufge taucht. Wir müssen mit einer unangenehmen Auseinanderset zung rechnen.« »Halten Sie Ihre Krone fest, Pharao!« hörte er Jannies Stim me. »Bin schon unterwegs.« In der nächsten halben Stunde verstärkte sich der Gefechts lärm am Fluß, die Schnellfeuergewehre knatterten ununterbro chen, und allmählich näherte sich der Gefechtslärm der Start bahn. Offenbar mußte sich die dünne Postenkette, die Mek als
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Sicherung über das Gelände verteilt hatte, vor den angreifen den Männern Nogos zurückziehen. Alle zwanzig Minuten hörte man den Hubschrauber, mit dem Nogo Verstärkung heranflog. Außer Nicholas und Sapper, die noch im Akazienwäldchen zurückgeblieben waren, um die Munitionskisten an den Rand des Wäldchens zu bringen, beteiligten sich alle waffenfähigen Männer an dem Gefecht. Nicholas stellte die Munitionskisten in der Reihenfolge auf, in der sie verladen werden sollten. Ihren Inhalt hatte Royan jeweils auf den Deckeln notiert. Die Kiste mit der Totenmaske und der hölzernen Statuette von Taita sollte als erste an Bord genommen werden. Die nächsten waren die Kisten mit den drei Kanonen. Der Wert des Inhalts dieser Kisten überstieg wahr scheinlich den der gesamten übrigen Schätze. Nachdem Nicholas die Ladung bereitgestellt hatte, ging er zu den Verwundeten und sprach mit jedem einzelnen. Zunächst dankte er ihnen für ihre Hilfe und Opferbereitschaft und bot ihnen an, sie in der Hercules mitzunehmen, um sie dann ärzt lich versorgen zu lassen. Er versprach ihnen, wenn sie auf sein Angebot eingingen, werde er dafür sorgen, daß sie anschlie ßend nach Äthiopien zurückkehren könnten. Sieben von ihnen – es waren die weniger schwer verwunde ten, die noch gehen konnten – weigerten sich, Mek Nimmur zu verlassen. Ihre Loyalität war ein überzeugender Beweis der Hochachtung, die sie Mek entgegenbrachten. Die anderen gin gen nur widerwillig auf das Angebot von Nicholas ein und stimmten ihm erst zu, nachdem Tessay ihnen versichert hatte, daß Nicholas sein Versprechen halten würde. Dann trugen er und Sapper sie an den Rand des Wäldchens, wo Jannie mit Big Dolly halten würde, um sie und die Kisten zu verladen. »Was werden Sie tun?« fragte Nicholas Tessay. »Werden Sie mitkommen? Man hat Sie übel zugerichtet, auch Sie brau chen einen Arzt.«
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Tessay lachte. »Solange ich auf meinen zwei Beinen stehen kann, werde ich Mek Nimmur nicht verlassen.« »Ich kann gar nicht verstehen, was Sie an diesem alten Va gabunden fesselt«, sagte Nicholas lachend. »Ich habe mit Mek gesprochen, und er hat mich gebeten, seinen Anteil an der Beu te mitzunehmen. Er kann sich jetzt nicht mit zusätzlichem Ge päck belasten.« »Ja, ich weiß. Mek und ich haben darüber gesprochen. Wir brauchen das Geld, um den Kampf hier fortzusetzen.« Sie duckte sich automatisch, als eine starke Detonation ihnen fast die Trommelfelle zerriß und eine Staubwolke am Rand des Wäldchens die Stelle anzeigte, wo eine Granate eingeschlagen war. Die Granatsplitter rissen Laub und Zweige über ihnen von den Bäumen, die nun auf sie herabregneten. »Heilige Maria! Was war das?« rief Tessay. »Ein Zweizoll-Granatenwerfer«, antwortete Nicholas. Er war stehen geblieben und hatte nicht versucht, in Deckung zu ge hen. »Bellende Hunde beißen nicht. Nogo muß das Ding auf seinem letzten Flug mitgebracht haben.« »Wann wird die Hercules hier sein?« »Ich werde noch einmal bei Jannie anfragen.« Nicholas ging hinüber zum Funkgerät, und Tessay flüsterte Royan zu: »Seid Ihr Engländer immer so kaltschnäuzig?« »Mich darfst du das nicht fragen – ich bin eher eine Ägypte rin, und ich fürchte mich.« Royan lächelte und umarmte Tes say. »Ich werde dich vermissen, Lady Sun.« »Vielleicht werden wir uns in glücklicheren Zeiten wieder sehen.« Tessay küßte sie impulsiv, und Royan umarmte ihre Freundin noch einmal. »Das hoffe ich. Ich hoffe es von ganzem Herzen.« Nicholas nahm noch einmal das Mikrophon in die Hand. »Big Dolly, hier Pharao. Melden Sie bitte Ihre Position.« »Pharao, wir sind in zwanzig Minuten da und beeilen uns.
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Haben Sie Bohnen gegessen, oder ist es Granatwerferfeuer, das ich im Hintergrund höre?« »Mit Ihren witzigen Einfallen hätten Sie Schauspieler wer den sollen«, antwortete Nicholas. »Die Schmutzfinken haben das südliche Ende des Landestreifens in Besitz genommen. Fliegen Sie von Norden ein. Wir haben Westwind mit etwa fünf Knoten. Auf jeden Fall werden Sie mit Seitenwind rech nen müssen.« »Verstanden, Pharao. Wie viele Passagiere und welche La dung haben Sie für mich?« »Die Passagiere sind sechs Verwundete und drei andere. Die Ladung besteht aus zweiundfünfzig Kisten, Gewicht eine Vier teltonne.« »Es lohnt sich kaum, für so wenig einen so langen Flug zu unternehmen, Pharao.« »Big Dolly. Über uns kreist ein Jet-Ranger-Hubschrauber. Farbe grün und rot. Feindlich, aber unbewaffnet.« »Verstanden, Pharao. Rufe kurz vor Eintreffen zurück.« Nicholas ging zu den beiden Frauen, die bei den Verwunde ten warteten. »Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte er. Er mußte sehr laut sprechen, damit sie ihn bei dem immer stärker werdenden Gefechtslärm verstanden. »Wir haben gerade noch Zeit für eine Tasse Tee«, sagte er. Er schob ein paar Zweige in die Glut des Feuers, das in der vergangenen Nacht gebrannt hatte, und suchte in seinem Not gepäck nach dem letzten Teebeutel, während Sapper den rauchgeschwärzten Wasserkessel auf das Feuer stellte. Der Tee reichte nur noch für einen Becher. »Die Damen zuerst«, sagte Nicholas und gab Royan den Becher. Sie trank einen Schluck und verbrühte sich fast die Lippen. »Gut!« Dann hob sie den Kopf. »Diesmal ist es bestimmt Big Dolly, die ich höre.«
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Nicholas lauschte und nickte. »Ich glaube, du hast recht.« Er stand auf und ging an das Funkgerät. »Big Dolly. Wir hören Sie.« »Fünf Minuten bis zur Landung, Pharao.« Nicholas schaute hinüber zum Landestreifen. Meks Männer waren auf dem Rückzug durch das Dornengebüsch und erwi derten das feindliche Feuer, das ihnen vom Fluß her entgegen schlug. Nogo war ihnen hart auf den Fersen. »Beeile dich, Jannie«, murmelte er und beruhigte dann die Frauen: »Zeit genug, den Tee auszutrinken. Verschüttet nichts.« Die Motoren von Big Dolly waren jetzt lauter als der Ge fechtslärm, und plötzlich tauchte sie auf und flog so niedrig über den Baumwipfeln, daß sie fast die Äste berührte. Sie war so groß, daß sie mit ihren Tragflächen die gesamte Breite des Landestreifens benötigte. Jannie ließ sie noch ein Stück tiefer sinken, und als er abbremste, stieß das Flugzeug eine schwarze Rauchwolke aus. Als Big Dolly unmittelbar neben dem Akazienwäldchen vorbeiflog, winkte ihnen Jannie aus dem Cockpit zu. Nachdem er die Geschwindigkeit gedrosselt hatte, trat er noch einmal kräftig auf die Bremse. Big Dolly wirbelte in der Luft herum, und während das Flugzeug sich näherte, ließ er noch vor der Landung die Laderampe herunter. Fred wartete an der offenen Ladeluke und lief dann hinunter, um Sapper und Nicholas beim Verladen der Tragbahren mit den Verwundeten zu helfen. Es dauerte nur ein paar Minuten, um sie die Rampe hinaufzutragen, und dann begannen sie mit dem Verladen der Munitionskisten. Hundertfünfzig Meter neben der geparkten Hercules schlug eine Granate ein. Die nächste landete nur noch hundert Meter daneben. »Sie schießen sich ein«, brummte Nicholas, nahm eine Kiste
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unter jeden Arm und lief die Rampe hinauf. »Jetzt haben sie uns im Visier«, rief Fred. »Wir müssen star ten. Lassen Sie den Rest der Ladung liegen. Es ist Zeit!« Unter der Akazie lagen nur noch vier Munitionskisten, und Nicholas und Sapper ließen die Anweisung von Fred unbeach tet. Sie liefen mit den vier Kisten unter den Armen über die Rampe nach oben, und während die Hercules bereits anrollte, warfen sie die Kisten in den Laderaum, um dann selbst hinein zuspringen. Nicholas war der erste, reichte Sapper die Hand und zog ihn nach. Als er sich umblickte, sah er Tessay allein unter den Akazien stehen. »Grüßen Sie Mek und sagen Sie ihm, ich lasse ihm herzlich danken«, rief er ihr zu. »Sie wissen, wie Sie die Verbindung zu uns aufnehmen kön nen«, rief sie zurück. »Lebe wohl, Tessay«, aber Royans Stimme ging in dem lau ten Knattern der Motoren unter, und in den von der startenden Maschine aufgewirbelten Staubwolken verschwand Tessay. Die hydraulisch betätigte Rampe schloß sich mit lautem Zi schen und versperrte ihnen die Sicht. Nicholas legte einen Arm um Royans Schultern und führte sie durch den Laderaum zu einem der Notsitze an der Tür zum Cockpit. »Schnall dich an!« rief er und lief die Stufen zum Cockpit hinauf. »Ich dachte schon, Sie hätten beschlossen, dort zu bleiben«, begrüßte ihn Jannie, ohne vom Armaturenbrett aufzublicken. »Halten Sie sich fest! Es geht jetzt los.« Nicholas packte die Rückenlehne des Pilotensitzes, während Jannie und Fred die Starthebel nach vorn auf Vollgas schoben und Big Dolly mit zunehmender Geschwindigkeit über die Startbahn schoß.
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Durch die Windschutzscheibe sah Nicholas zwischen den Dornbüschen am Ende der Startbahn ein paar Männer in Tarn anzügen. Einige von ihnen eröffneten das Feuer auf das riesige Flugzeug, das auf sie zukam. »Diese lächerlichen Spielzeuggewehre können ihr nicht viel anhaben«, brummte Jannie. »Big Dolly ist eine hartgesottene, alte Dame.« Er ließ die Maschine über den Köpfen der feindli chen Soldaten steil nach oben steigen. »Willkommen an Bord, meine Damen und Herren, und vie len Dank dafür, daß Sie mit Africair fliegen. Wir landen erst wieder auf Malta«, sagte Jannie ruhig, aber dann wurde seine Stimme plötzlich lauter. »O weh! Woher kommt denn dieses kleine Mistvieh?« Unmittelbar vor ihnen stieg der Jet Ranger aus den dichten Büschen am Ufer des Nil auf. Der Steigungswinkel des Hub schraubers war so steil, daß der Pilot die entgegenkommende Hercules nicht sehen konnte und deshalb direkt auf sie zuflog. »Nur fünfhundert Fuß und einhundertzehn Knoten«, warnte Fred seinen Vater. »Zu niedrig, um zu wenden.« Der Jet Ranger war so nah, daß Nicholas Tuma Nogo auf dem Vordersitz deutlich erkennen konnte, und als dieser die große Maschine auf sich zukommen sah, verzerrte sich sein Gesicht zu einer angstvollen Grimasse. Im letztmöglichen Au genblick drückte der Pilot den Hubschrauber nach unten und versuchte, der Hercules auszuweichen. Es schien unmöglich, den Zusammenstoß zu vermeiden, aber es gelang ihm, den leichten und manövrierfähigen Hubschrauber so weit zur Seite zu ziehen, daß er sich fast auf den Rücken legte. Er schlüpfte unter den Rumpf der Hercules, und die Männer im Cockpit spürten kurz die leichte Berührung. Sie genügte jedoch, den Hubschrauber so weit vom Kurs ab zubringen, daß er mit der Nase nach unten auf den Boden zu steuerte. Während Big Dolly weiterflog und allmählich an Höhe
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gewann, versuchte der Pilot des Hubschraubers verzweifelt, den Sturzflug abzubremsen. Sechzig Meter über der Erde wurde er jedoch von den Luftturbulenzen der starken Turbopropmoto ren der Hercules erfaßt. Wie ein trockenes Blatt im Herbstwind überschlug sich der Hubschrauber mehrmals in der Luft, und als er auf dem Boden aufgeschlagen war, heulten seine Motoren mit Vollgas weiter. Der Rumpf faltete sich zusammen, als sei er aus leichter Alu miniumfolie, und Nogo war schon tot, als die Kraftstofftanks explodierten und der Jet Ranger in Flammen aufging. Als Jannie den freien Luftraum über dem Flußtal erreicht hatte, nahm er Kurs nach Norden. Sie schauten sich noch ein mal um und sahen, wie die schwarze, vom brennenden Hub schrauber aufsteigende Rauchwolke vom Westwind erfaßt und abgetrieben wurde. »Haben Sie nicht gesagt, das seien die Bösen gewesen?« fragte Jannie. »Gut, daß es sie erwischt hat und nicht uns.« Als Big Dolly auf sicherem Kurs nach Norden in geringer Höhe über die offene, menschenleere sudanesische Savanne flog, ging Nicholas zurück in den Stauraum. »Wollen wir uns jetzt um die Verletzten kümmern und dafür sorgen, daß sie es möglichst bequem haben«, schlug er vor. Sapper und Royan lösten ihre Sicherheitsgurte und gingen mit ihm zu den Männern, die noch dort auf ihren Tragbahren lagen, wo man sie vor dem Abflug von Roseires in aller Eile hinge stellt hatte. Nach einiger Zeit überließ Nicholas die Sorge für die Ver wundeten den beiden anderen und ging zurück in die Kombüse. Hier öffnete er ein paar Suppenkonserven und schnitt ein paar Scheiben von den frischen Broten ab. Während das Teewasser kochte, holte er aus seinem Notgepäck die kleine Nylontasche
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mit dem Verbandszeug und den Medikamenten. Einem Glas röhrchen entnahm er fünf weiße Tabletten. In der Kombüse zerstieß er die Tabletten zu Pulver, goß den Tee in zwei Becher und verrührte das Pulver darin. Royan hatte so viel englisches Blut in den Adern, daß sie es nie abgelehnt hätte, einen Becher heißen Tee zu trinken. Nachdem sie den Verwundeten die Suppe und das mit Butter bestrichene Brot gegeben hatte, nahm Royan dankbar den Be cher Tee, den Nicholas ihr anbot. Während sie und Sapper den Tee tranken, ging Nicholas zurück zum Cockpit und fragte Jannie: »Wann werden wir an der ägyptischen Grenze sein?« »Nach vier Stunden und zwanzig Minuten«, erwiderte Jannie. »Können wir es vermeiden, in den ägyptischen Luftraum zu geraten?« wollte Nicholas wissen. Jannie drehte sich um und sah ihn erstaunt an. »Wir könnten vielleicht nach Westen ausweichen und den Umweg über Gad daffi-Land machen. Damit würde sich unsere Flugzeit aller dings um sieben Stunden verlängern, und dafür reicht unser Kraftstoffvorrat nicht. Wahrscheinlich müßten wir irgendwo in der Sahara notlanden.« Er warf Nicholas einen fragenden Blick zu. »Sagen Sie mir, alter Junge, wie kommen Sie auf diese dumme Frage?« »Es war nur so eine Idee, lassen Sie es dabei bewenden.« Nicholas klopfte ihm auf die Schulter. »Vergessen Sie es.« Als er in den Stauraum zurückkam, saßen Sapper und Royan auf zwei am Längsschott befestigten Kojen. Royans leerer Be cher stand zu ihren Füßen auf dem Boden. Nicholas setzte sich neben sie, und sie betastete den blutgetränkten Verband an sei nem Kinn. »Laß mich das in Ordnung bringen«, sagte sie, und es war gut, ihre kühlen Finger auf der heißen entzündeten Haut zu fühlen, als sie die Naht mit einem Wattebausch, den sie mit Alkohol getränkt hatte, betupfte und dann neu verpflasterte.
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Bei Sapper zeigte sich zuerst die Wirkung des Schlafmittels im Tee. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und fing an zu schnarchen. Wenige Minuten später lehnte sich Royan schläf rig an Nicholas’ Schulter. Nachdem sie fest eingeschlafen war, ließ er sie vorsichtig zurückgleiten auf die Koje. Als er sie mit einem Teppich zudeckte, rührte sie sich nicht mehr, und einen Augenblick fürchtete er, das Schlafmittel könnte zu stark ge wesen sein. Er küßte sie zärtlich auf die Stirn. »Wie habe ich dich jemals hassen können?« fragte er leise. »Was immer du auch getan haben magst.« Dann ging er in den Waschraum und verschloß die Tür. Er hatte reichlich Zeit. Sapper und Royan würden erst nach Stun den aufwachen, und Jannie und Fred hatten es sich im Cockpit bequem gemacht und hörten Kassetten von Dolly Parton. Als Nicholas fertig war, sah er auf seine Armbanduhr und stellte fest, daß inzwischen fast zwei Stunden vergangen waren. Er legte den Deckel auf den Toilettensitz, sah sich in der win zigen Kabine noch einmal um und schloß die Tür. Sapper und Royan schliefen immer noch fest auf ihren Ko jen. Er ging nach vorn zum Cockpit. Fred nahm den Kopfhörer ab und grinste ihn an. »Nilwasser. Das ist giftig. Sie sind zwei Stunden auf dem Klo gewesen. Erstaunlich, daß noch etwas von Ihnen übrigge blieben ist.« Nicholas ging auf die Neckerei nicht ein, sondern lehnte sich über die Rückenlehne des Pilotensitzes und fragte Jannie: »Wo sind wir jetzt?« Mit seinem dicken Zeigefinger klopfte er auf die Karte, die auf seinen Knien lag. »Wir haben es fast geschafft«, sagte er selbstzufrieden. »In einer Stunde und zwölf Minuten sind wir an der ägyptischen Grenze.« Nicholas blieb hinter ihm stehen, bis Jannie brummte und das Mikrophon in die Hand nahm. »Es wird Zeit, das kleine
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Verwirrspiel zu beginnen.« »Hallo, Abu Simbel Anflugkontrolle!« sagte er in dem dort geläufigen Dialekt. »Dies ist Zulu Whisky Uniform Five Zero Zero.« Die ägyptische Flugkontrolle antwortete eine lange Zeit nicht. Jannie brummte: »Wahrscheinlich hat er ein Weib auf den Kontrollturm mitgenommen. Wir müssen ihm Zeit lassen, bis er sich wieder die Hosen angezogen hat.« Die Flugkontrolle von Abu Simbel antwortete erst auf den fünften Anruf. Jannie spielte in flüssigem Arabisch den hilflo sen Fremden. Nach fünf Minuten gab Abu Simbel ihm den Flug in nördli cher Richtung frei und wies ihn an: »Assuan zurückrufen.« Sie flogen unbehelligt eine Stunde weiter, aber Nicholas wurde von Minute zu Minute nervöser. Plötzlich und ohne die geringste Vorwarnung entdeckten sie vor sich einen silberglänzenden Abfangjäger, der unter ihrem Bug vorbeiflog. Jannie schimpfte wütend, als zwei weitere Dü senjäger so nah an ihnen vorbeiflogen, daß sie durch die Tur bulenzen durchgerüttelt wurden. Sie alle erkannten den Flugzeugtyp. Es waren sowjetische, der ägyptischen Luftwaffe zur Verfügung gestellte MiG21, ausgerüstet mit Luft-Raketen unter den rückwärtigen Tragflä chen. »Nicht identifiziertes Flugzeug!« rief Jannie in sein Mikro phon. »Sie sind auf Kollisionskurs. Geben Sie Ihr Rufzeichen!« Sie alle schauten hinauf durch das transparente Kabinendach des Cockpit und sahen hoch über sich drei MiG-Jagdflugzeuge, die in Dreiecksformation im blauen afrikanischen Himmel ihre Kreise zogen. »ZWU500. Dies ist Red Leader von der ägyptischen Volks luftwaffe. Sie werden meine Anweisungen befolgen.« Jannie schaute sich verzweifelt nach Nicholas um. »Irgend
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etwas ist schiefgegangen. Wie, zum Teufel, sind sie plötzlich auf uns gestoßen?« »Du wirst schon tun müssen, was der Mann dir sagt, Dad«, meinte Fred, »sonst wird er Kleinholz aus uns machen.« Jannie zuckte hilflos mit den Schultern und sprach dann ins Mikrophon: »Red Leader. Dies ist ZWU500. Wir werden Ihren Anweisungen folgen. Bitte teilen Sie uns Ihre Absichten mit.« »Ihr neuer Kurs ist 053. Gehen Sie sofort auf diesen Kurs!« Jannie steuerte Big Dolly nach Osten und sah dann auf seine Karte. »Assuan!« sagte er mißmutig. »Diese Zigeuner nehmen uns nach Assuan mit. Zum Teufel, ich könnte mich mit dem Kon trollturm in Assuan in Verbindung setzen und ihnen mitteilen, daß wir Verwundete an Bord haben.« Nicholas ging zurück zur Koje, auf der Royan lag, und schüttelte sie wach. Sie war noch halb betäubt von dem Schlafmittel und taumelte mit unsicheren Schritten zum Waschraum. Doch als sie nach zehn Minuten zurückkam, hatte sie sich das Haar gekämmt und machte einen frischen und er holten Eindruck. Vor ihnen lag wieder der Nil mit der Stadt Assuan an beiden Ufern unterhalb des ersten Katarakts und des gestauten Was sers. Kitcheners Insel schwamm wie ein grüner Fisch in der Strommitte. Auf Anweisung des militärischen Beobachters auf dem Kon trollturm des Flughafens von Assuan schwenkte Big Dolly würdevoll ein, um auf dem Rollfeld zu landen. Die MiG-Jäger, die sie aus der Wüste hierhergeleitet hatten, waren nicht mehr zu sehen, daß sie das Landemanöver aber aus großer Höhe überwachten, erkannte Jannie an den kurzen Funksprüchen, mit denen sie ihn der Bodenkontrolle übergaben.
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Big Dolly überflog den Zaun vor der Rollbahn, setzte auf und erhielt vom Kontrollturm die Anweisung: »Wenden Sie am ersten Taxiway nach rechts.« Jannie gehorchte, und als er von der Rollbahn einbog, sah er vor sich ein kleines Fahrzeug mit einer Tafel auf dem Dach, auf der in englischer und arabischer Sprache zu lesen war: »FOLGEN SIE MIR«. Das Fahrzeug führte sie zu einer Reihe getarnter betonierter Flugzeugschuppen, vor denen das Bodenpersonal in braunen Arbeitsanzügen sie mit ihren rotweißen Kellen in eine Parklük ke einwies. Sobald Jannie auf die Bremsen getreten war und Big Dolly zum Halten gebracht hatte, wurde sie von vier Pan zerspähwagen umstellt, die ihre Turmgeschütze auf das große Flugzeug richteten. Gemäß den Anweisungen vom Kontrollturm schaltete Jannie die Motoren aus und ließ die Rampe am hinteren Ende des Flugzeugs hinunter. Nach der Landung hatte niemand im Cockpit ein Wort gesprochen. Sie standen mit bedrückten Ge sichtern zusammen und schauten aus den Fenstern. Plötzlich fuhr ein von bewaffneten Motorradfahrern begleite ter Cadillac, dem ein militärischer Krankenwagen und ein Dreitonnerlastwagen folgten, durch das Tor im Außenzaun und hielt unmittelbar vor der Laderampe des Hercules’. Der Fahrer sprang heraus und öffnete einem Mann die Tür, der, als er im heilen Licht der Nachmittagssonne auf sie zukam, den Ein druck einer würdigen und selbstsicheren Respektsperson mach te. Er trug einen leichten Tropenanzug, weiße Schuhe, einen Panamahut und eine dunkle Brille. Ihm folgten zwei Sekretäre. Er nahm die dunkle Brille ab und steckte sie in die Brustta sche. Als er Royan sah, lächelte er und nahm den Hut ab. »Dr. Al Simma – Royan! Sie haben es geschafft. Herzlichen Glück wunsch!« Er schüttelte ihr die Hand und ließ sie nicht los, als er zu Nicholas hinüberblickte.
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»Sie müssen Sir Nicholas Quenton-Harper sein. Ich habe mich ganz besonders darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Wol len Sie uns bitte miteinander bekanntmachen, Royan?« Royan wich dem vorwurfsvollen Blick von Nicholas aus, als sie sagte: »Darf ich Ihnen Seine Exzellenz, Atalan Abou Sin, den Minister für Kultur und Tourismus in der ägyptischen Re gierung vorstellen?« »Das dürfen Sie«, sagte Nicholas kühl. »Welch ein unerwar tetes Vergnügen, Herr Minister.« »Ich möchte den Dank des Präsidenten und des ägyptischen Volkes dafür zum Ausdruck bringen, daß Sie unserem Land diese kostbaren Zeugnisse unserer alten und ruhmreichen Ge schichte zurückgewonnen haben.« Er wies auf die Munitions kisten. »Aber bitte, das ist doch nicht der Rede wert«, sagte Nicho las und schaute zu Royan hinüber. Sie erwiderte seinen Blick aber nicht. »Im Gegenteil, was Sie getan haben, ist nach unserer Mei nung eine großartige Leistung, Sir Nicholas«, sagte Abou Sin mit einem gewinnenden Lächeln. »Wir sind uns durchaus be wußt, daß Sie mit Ihrem großzügigen Verhalten eine erhebliche materielle Belastung auf sich genommen haben, und möchten nicht, daß Sie aus diesem Grunde in finanzielle Schwierigkei ten geraten. Dr. Al Simma hat mir gesagt, die Expedition zur Wiederbeschaffung dieser Schätze hat Sie eine Viertelmillion Pfund Sterling gekostet.« Er nahm einen Briefumschlag aus seiner Brusttasche und reichte ihn Nicholas. »Dies ist eine Zahlungsanweisung auf die Zentralbank von Ägypten über die Summe von zweihundertfünfzigtausend Pfund. Sie ist unwiderruflich und kann überall in der Welt ein gelöst werden.« »Sehr großzügig von Ihnen, Exzellenz.« Das klang ironisch. Nicholas steckte den Umschlag ein und sagte: »Ich nehme an,
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Dr. Al Simma hat Ihnen diesen Vorschlag gemacht?« »Aber ja«, strahlte Abou Sin. »Royan schätzt Sie außeror dentlich.« »Tut Sie das wirklich?« murmelte Nicholas und sah mit gleichgültigem Blick zu ihr hinüber. »Doch dieses andere kleine Zeichen unserer Dankbarkeit und Anerkennung darf ich Ihnen auf Vorschlag des ägypti schen Präsidenten persönlich überreichen.« Der Minister wink te einen seiner Sekretäre heran, der ihm ein geöffnetes, mit Leder bezogenes Metallkästchen brachte. Darin lag auf rotem Samt ein prächtiger Orden, ein mit Per len und winzigen Diamanten besetzter Stern mit einem golde nen Löwen in der Mitte. Abou Sin nahm den Orden aus dem Kästchen und ging auf Nicholas zu. »Der Orden des Großen Löwen von Ägypten er ster Klasse«, sagte er und hängte Nicholas das scharlachrote Ordensband um den Hals. Nun lag der prächtige Orden auf der verschwitzten, mit Staub und Nilschlamm verschmutzten Hemdbrust von Nicholas. Dann trat der Minister einen Schritt zur Seite und winkte dem Oberst, der vor der Rampe auf seinen Befehl wartete. Sofort liefen einige Uniformierte die Rampe hinauf. Offensichtlich kannten die Soldaten bereits ihre Befehle. Zuerst trugen sie die auf den Tragbahren liegenden, verwundeten Äthiopier heraus. »Ich bin froh, daß Ihr Pilot so vernünftig war, uns über Funk mitzuteilen, daß Sie Verwundete an Bord haben. Sie können jetzt mit der bestmöglichen ärztlichen Versorgung rechnen«, versprach Atalan Abou Sin, während sie zu dem wartenden Krankenwagen getragen wurden. Dann brachten die Soldaten die Munitionskisten die Rampe herunter und verluden sie in dem Dreitonner. Nach zehn Minu ten war der Laderaum von Big Dolly geräumt und leer. Die Ladung wurde mit einer Segeltuchplane abgedeckt und ver
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schnürt. Begleitet von einer Eskorte schwerbewaffneter Motor radfahrer setzte sich das Fahrzeug in Bewegung und entfernte sich laut hupend. »Nun, Sir Nicholas, es tut mir leid, daß ich Sie so lange habe aufhalten müssen«, sagte Abou Sin und reichte Nicholas höf lich die Hand, der seine Enttäuschung nicht ganz verbergen konnte. »Ich weiß, sie wollen Ihre Reise so bald wie möglich fortsetzen, deshalb werde ich Sie nicht länger aufhalten. Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor Sie sich auf den Weg ma chen? Haben Sie genügend Treibstoff mitgenommen?« Nicholas schaute zu Jannie hinüber, der achselzuckend sagte: »Wir haben reichlich Sprit. Vielen Dank, Sir.« Abou Sin wandte sich noch einmal an Nicholas. »Wir wollen in einem Nebengebäude des Museums in Luxor die Kunst schätze des Pharao Mamose ausstellen, die Sie entdeckt und unserem Land zurückgegeben haben. Dr. Al Simma ist, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, zur Direktorin der Abteilung für Altertümer ernannt worden und wird die Leitung des Museums übernehmen. Ich bin überzeugt, es wird ihr ein besonderes Vergnügen sein, Ihnen die Ausstellungsstücke zu zeigen, wenn Sie zurückkommen.« Er verbeugte sich vor Sapper und den beiden Piloten. »Gott schütze Sie«, sagte er und ging die Rampe hinunter. Royan wollte ihm folgen, aber Nicholas rief leise: »Royan!« Sie blieb wie erstarrt stehen, drehte langsam den Kopf und sah ihn zum ersten Mal an, seit sie gelandet waren. »Ich habe das nicht verdient«, sagte er und war erschüttert, zu sehen, daß sie anfing zu weinen. Ihre Lippen bebten, und die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. »Tut mir leid, Nicky«, flüsterte sie, »aber du mußt gewußt haben, daß ich keine Diebin bin. Das alles gehört Ägypten, nicht uns.« »Also war alles, was zwischen uns geschah, eine Lüge?«
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fragte er erbarmungslos. »Nein!« sagte sie. »Ich –« Sie unterbrach sich, lief die Ram pe hinunter in den Sonnenschein, wo der Fahrer die Wagentür offenhielt, und setzte sich neben Abou Sin, ohne sich umzuse hen, und der Cadillac fuhr zum Tor hinaus. »Machen wir, daß wir fortkommen, bevor sich diese Zigeu ner die Sache noch einmal überlegen«, sagte Jannie. »Eine glänzende Idee«, bestätigte Nicholas verbittert. Nach dem Start gab der Fluglotse auf dem Kontrollturm des Flughafens von Assuan die direkte Route zur Mittelmeerküste frei. Aus dem Cockpit schauten Jannie, Fred, Sapper und Ni cholas unter der rechten Tragfläche auf den Nil, der sich wie eine lange grüne Schlange durch die Schluchten wand. Zunächst saßen sie lange schweigend nebeneinander. Dann sagte Jannie leise: »Mein Honorar kann ich wohl in den Schornstein schreiben.« »Auch ich bin nicht des Geldes wegen mitgekommen«, sagte Sapper, »aber es wäre nicht schlecht, wenn ich etwas dafür bezahlt bekäme. Das Baby braucht neue Schuhe.« »Möchte irgend jemand eine Tasse Tee?« fragte Nicholas und tat so, als habe er nichts gehört. »Gute Idee«, erwiderte Jannie, »zwar nicht so gut wie die Sechzigtausend, die Sie mir schuldig sind, aber immerhin nicht schlecht.« Sie überflogen das Schlachtfeld von El Alamein, und dann tauchte am Horizont die weite blaue Fläche des Mittelmeers auf. Nicholas wartete, bis die ägyptische Küste hinter ihnen lag, und sagte dann nach einem tiefen Seufzer: »Oh, ihr Kleingläubigen, habe ich euch denn schon jemals betrogen? Ihr werdet alle das bekommen, was ich euch schul dig bin.« Sie sahen ihn ungläubig an, und dann fragte Jannie: »Und wie wird das möglich sein?«
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»Helfen Sie mir, Sapper«, sagte Nicholas und ging die Stu fen hinunter. Jannie konnte seine Neugier nicht beherrschen und übergab Fred den Steuerknüppel. Dann folgte er den bei den Engländern in den Waschraum. Sapper und Jannie blieben in der Tür stehen und sahen zu, wie Nicholas sein Sattlerwerkzeug aus der Tasche nahm und den Deckel von der Spülung abhob. Jannie grinste, als Nicho las die Platte an der Rückseite der Spülung abschraubte. Er und Fred hatten das Flugzeug vor allem zum Schmuggeln benutzt und hatten die verschiedensten Verstecke im Motorraum und an anderen geeigneten Stellen eingebaut. Aus Libyen hatten sie die Bronzen aus der Zeit Hannibals im gleichen Versteck mitgebracht. Da es sich in einer Toilette be fand, hätte sich ein islamischer Zollbeamter wahrscheinlich gescheut, an einem so unreinen Ort nach Schmuggelware zu suchen. »Also damit haben Sie sich hier so lange beschäftigt«, lachte Jannie, als Nicholas das Brett entfernte. Doch als er in das Ver steck griff und einen ganz ungewöhnlichen Gegenstand her ausholte, konnte er nur noch staunen. »Mein Gott, was ist das?« »Die blaue Kriegskrone des alten Ägypten«, sagte Nicholas. Er gab sie Sapper. »Legen Sie das in die Koje, aber gehen Sie vorsichtig damit um.« Er griff noch einmal hinein. »Und das ist die Nemes-Krone.« Er gab sie Jannie. »Und dies ist die rotweiße Krone der beiden Königreiche. Und dies ist die Totenmaske des Pharao Mamose. Und da ist schließlich auch die nicht weniger wertvolle, hölzerne Statuette des Schreibers Taita.« Nun lagen all diese Gegenstände auf dem Feldbett vor ihnen, und sie bestaunten sie ehrfürchtig. »Ich habe Ihnen geholfen, Flachreliefs und Bronzestatuetten
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herauszubringen«, sagte Jannie, »aber so etwas noch nie.« Sapper schüttelte den Kopf. »Aber was war denn in den Mu nitionskisten, die in Assuan ausgeladen wurden?« »Fünf Flaschen mit jeweils viereinhalb Liter Chemikalien für die Flugzeugtoilette und ein halbes Dutzend Sauerstofffla schen«, sagte Nicholas. »Das entsprach etwa dem ursprüngli chen Gewicht.« »Sie haben den Inhalt vertauscht«, strahlte Sapper. »Aber woher, zum Teufel, haben Sie gewußt, daß Royan uns im Stich lassen würde?« »Sie hatte recht, als sie sagte, ich hätte wissen müssen, daß sie keine Diebin ist. Sie wollte mit diesem ganzen Spaß nichts zu tun haben. Sie ist«, und er suchte nach den richtigen Wor ten, »viel zu aufrichtig und ehrlich – ganz anders als die hier Anwesenden.« »Vielen Dank für das Kompliment«, erwiderte Jannie trok ken, »aber Sie sind doch wahrscheinlich auch aus anderen Gründen mißtrauisch gewesen.« »Ja, natürlich«, antwortete Nicholas. »Zum ersten Mal habe ich Verdacht geschöpft, als wir aus Äthiopien nach England zurückkamen und sie sofort wieder nach Kairo fliegen mußte. Mir kam die Sache nicht ganz geheuer vor. Aber daß sie etwas im Schilde führte, wurde mir erst klar, als ich erfuhr, daß sie der ägyptischen Botschaft in Adis Abeba durch Tessay etwas hatte mitteilen lassen, jetzt war mir klar, daß sie die Botschaft auf unseren Rückflug aufmerksam gemacht hatte.« »So ein hinterhältiges kleines Biest«, lachte Jannie. »Vorsicht!« sagte Nicholas streng. »Sie ist eine anständige, ehrliche, patriotische junge Frau, warmherzig und –« »Schon gut, schon gut!« lenkte Jannie ein und zwinkerte Sapper zu. »Bitte entschuldigen Sie diesen Ausrutscher.«
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Nur zwei der prächtigen altägyptischen Kronen standen auf dem Konferenztisch aus poliertem Nußholz. Nicholas hatte sie zwei römischen Marmorbüsten auf die Köpfe gesetzt, die er von einem Kunsthändler in Zürich ausgeliehen hatte, mit dem er schon seit langer Zeit geschäftliche Beziehungen unterhielt. Er hatte die Rolladen an den hohen Fenstern heruntergelassen und die Kronen so beleuchtet, daß ihre Schönheit am besten zur Wirkung kam. Der Konferenzraum, den er zu diesem Zweck gemietet hatte, befand sich im Gebäude der Leu-Bank in der Bahnhofstraße. Während er auf das Eintreffen der geladenen Gäste wartete, überprüfte er noch einmal das Arrangement, ging dann zu dem hohen Spiegel an der einen Wand und zog den Knoten seiner alten Sandhurstkrawatte zurecht. Er hatte sich die Fäden an seinem Kinn bereits ziehen lassen, und Mek hatte die Wunde fachmännisch vernäht, so daß die Wunde sauber verheilt war. Nicholas trug einen Maßanzug seines Schneiders in der Savile Row. Es war ein schlichter Nadelstreifenanzug, den er schon seit längerer Zeit besaß und der so salopp wirkte, wie der An laß es erforderte. Das einzig Auffallende an seinem Aufzug waren die Maßschuhe von Lobb in der St. James’s Street. Das Haustelefon summte diskret, und Nicholas nahm den Hörer ab. »Ein Mr. Walsh möchte Sie sprechen, Sir Nicholas«, sagte die Empfangsdame, die unten im Vorzimmer der Bank an ih rem Schreibtisch saß. »Lassen Sie ihn bitte heraufkommen.« Nicholas öffnete die Tür auf das erste Klingelzeichen, und Walsh sah ihn mürrisch an. »Ich hoffe, ich vergeude nicht meine Zeit mit Ihnen, Harper. Nur Ihretwegen bin ich von Fort Worth hierhergeflogen.« Erst vor dreißig Stunden hatte Nicholas ihn auf seiner Ranch in Texas angerufen. Walsh hatte sich offenbar sofort in seinen
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Privatjet gesetzt, sonst hätte er noch nicht dasein können. »Nicht Harper. Quenton-Harper«, sagte Nicholas. »Okay, Quenton-Harper. Aber kommen wir zur Sache«, sag te Walsh ungehalten. »Was haben Sie für mich?« »Auch ich freue mich, Sie wiederzusehen, Mr. Walsh.« Ni cholas trat einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie bitte herein.« Walsh betrat das Zimmer: ein hochgewachsener Mann mit runden Schultern, schlaffen, faltigen Wangen und einer spitzen Nase. Er hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet und sah aus wie ein Bussard auf einem Zaunpfahl. Das Forbes Magazin schätzte sein Vermögen auf knapp zwei Milliarden Dollar. Zwei Männer folgten ihm. Nicholas kannte sie beide, denn die Welt der Sammler von Altertümern war sehr klein, und jeder kannte jeden. Einer von ihnen war Professor für alte Ge schichte an der Universität von Dallas und hatte den Lehrstuhl Walsh zu verdanken. Der andere war einer der angesehensten und bestinformierten Antiquitätenhändler in den Vereinigten Staaten. Walsh blieb so plötzlich stehen, daß die beiden anderen fast über ihn gestolpert wären. »Zum Teufel!«, sagte er leise, und seine Augen leuchteten auf. »Sind sie echt?« »Ebenso echt wie die Bronzen Hannibals und das Hammura bi-Flachrelief, die ich Ihnen verkauft habe«, erwiderte Nicho las. Walsh ging auf die Kronen zu wie ein Erzbischof, der sich in einer Kathedrale ehrfürchtig dem Altar nähert. »Sie müssen gerade erst entdeckt worden sein«, flüsterte er, »sonst müßte ich von ihnen gehört haben.« »Sie sind erst kürzlich ausgegraben worden«, bestätigte Ni cholas. »Sie sind der erste, der sie zu sehen bekommt.« »Mamose!« las Walsh auf der Kartusche der Uräusschlange an der Nemes-Krone. »Dann stimmen also diese Gerüchte, wonach Sie ein neues Grabmal entdeckt haben.«
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»Wenn Sie damit sagen wollen, ein viertausend Jahre altes Grabmal sei neu.« Walsh und seine Berater standen bleich und sprachlos um den Tisch herum. »Lassen Sie uns jetzt allein, Harper«, sagte Walsh. »Ich wer de Sie rufen lassen, sobald ich bereit bin, alles Nähere mit Ih nen zu besprechen.« »Sir Nicholas«, korrigierte er den Amerikaner. Nicholas wußte, daß er seinem Verhandlungspartner die Bedingungen diktieren konnte. »Bitte lassen Sie uns jetzt allein, Sir Nicholas«, wiederholte Walsh. Nach einer Stunde kam Nicholas in das Konferenzzimmer zurück. Die drei Männer saßen um den Tisch, als könnten sie sich nicht von den beiden prächtigen Kronen trennen. Walsh nickte den beiden anderen zu, die nun aufstanden und gehor sam, aber widerwillig das Zimmer verließen. Sobald sich die Tür geschlossen hatte, fragte Walsh schroff: »Wieviel?« »Fünfzehn Millionen US-Dollar«, erwiderte Nicholas. »Das sind siebeneinhalb Millionen für jede.« »Nein, das sind fünfzehn Millionen für jede. Dreißig Millio nen für beide.« Walsh rutschte auf seinem Stuhl herum und rief: »Sind sie wahnsinnig oder was?« »Es gibt Leute, die das glauben«, antwortete Nicholas und lächelte. »Gehen sie um die Hälfte herunter«, sagte Walsh. »Zwei undzwanzigeinhalb.« Nicholas schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage.« »Seien Sie vernünftig, Harper!« »Vernunft ist niemals eine meiner Untugenden gewesen. Es tut mir leid.«
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Walsh stand auf. »Auch mir tut es leid. Vielleicht ein ande res Mal, Harper.« Er legte die Hände auf den Rücken und ging zur Tür. Als er sie öffnete, rief Nicholas ihm nach. »Mr. Walsh!« Er wandte sich erwartungsvoll um. »Ja?« »Das nächste Mal dürfen Sie mich Nicholas nennen, und ich werde Peter zu Ihnen sagen, denn dann werden wir gute Freun de sein.« »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« »Allerdings. Was gibt es denn noch?« Nicholas machte ein erstauntes Gesicht. »Verdammt«, sagte Walsh, kam zurück zum Tisch und setzte sich. »Zur Hölle mit Ihnen!« Er atmete tief durch und spitzte die Lippen. Dann fragte er: »Okay. Wie wollen Sie das Geld haben?« »Zwei unwiderrufliche Zahlungsanweisungen Ihrer Bank über jeweils fünfzehn Millionen.« Walsh nahm den Hörer des Haustelefons auf. »Bitten Sie Ih ren Chefbuchhalter, Monsieur Montfleuri, zu mir heraufzu kommen«, sagte er mißmutig. Nicholas saß an seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszim mer in Quenton Park. Er schaute auf die Täfelung an der Wand vor sich. Diese Täfelung stammte aus einem der Klöster, die Heinrich VIII. 1536 aufgelöst hatte. Sein Großvater hatte sie vor fast hundert Jahren gekauft, doch hier hatte sie Nicholas erst kürzlich einbauen lassen. Er drückte auf einen elektrischen Knopf unter der Schreib tischplatte, und ein Teil der Täfelung glitt geräuschlos zur Seite und gab das Panzerglasfenster vor einer in die Wand eingebau ten Vitrine frei. Zugleich schalteten sich die Scheinwerfer an der Decke ein und beleuchteten den Inhalt der Vitrine. Sie wa
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ren so eingestellt, daß sie sich nicht in der Glasscheibe spiegel ten, sondern die doppelte Krone und die goldene Totenmaske des Mamose in ihrer ganzen Pracht zur Wirkung brachten. Er goß einen Schluck Whisky in ein Kristallglas, nippte dar an und genoß das Vergnügen, diese Kostbarkeiten zu besitzen. Aber nach einiger Zeit wurde er sich der Tatsache bewußt, daß ihm noch etwas fehlte. Er nahm die kleine hölzerne Statuette Taitas, die vor ihm auf dem Schreibtisch gestanden hatte, in die Hand und sprach mit ihr, als sei es Taita selbst. »Du hast gewußt, was Einsamkeit wirklich bedeutet, nicht wahr?« fragte er leise. »Du wußtest, wie es ist, einen Menschen zu lieben, auf den man für immer verzichten muß.« Er stellte die Statuette wieder auf den Schreibtisch zurück und nahm den Telefonhörer auf. Er wählte eine ausländische Nummer, es läutete dreimal, und dann antwortete ein Mann auf Arabisch. »Dies ist das Büro des Direktors der Abteilung für Altertü mer. Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ist Dr. Al Simma zu sprechen?« fragte er ebenfalls auf Arabisch. »Bitte bleiben Sie am Apparat. Ich verbinde Sie!« »Dr. Al Simma.« Als er ihre Stimme hörte, lief Nicholas ein Schauer den Rücken hinunter. »Royan«, sagte er und konnte sich vorstellen, wie überrascht sie war, denn es folgte ein langes Schweigen. »Du!« flüsterte sie. »Ich habe nicht geglaubt, jemals wieder etwas von dir zu hören.« »Ich rufe dich nur an, um dir zu deiner Ernennung zu gratu lieren.« »Du hast mich betrogen«, sagte sie. »Du hast den Inhalt von drei Munitionskisten ausgewechselt.« »Ein weiser Mann hat einmal gesagt, Freunde lassen sich am leichtesten betrügen. Gerade du solltest das wissen, Royan.« »Du hast sie natürlich verkauft. Peter Walsh soll zwanzig
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Millionen dafür gezahlt haben.« »Dreißig Millionen«, erwiderte Nicholas. »Aber nur für die blaue und die Nemes-Krone. Die rotweiße Krone und die To tenmaske liegen jetzt, während ich mit dir spreche, vor mir.« »So kannst du also deine Schulden bei Lloyd’s bezahlen, und damit bist du eine große Sorge los.« »Du wirst es nicht glauben, aber das Lloyd’s Syndikat, an dem ich beteiligt bin, hat sehr viel höhere Gewinne erzielt, als vorausberechnet. Ich war also gar nicht pleite.« »Meine Mutter würde dich dazu beglückwünschen.« »Die Hälfte ist schon an Mek Nimmur und Tessay überwie sen.« »Dann dient das Geld wenigstens einer guten Sache«, sagte sie höhnisch. »Ist das alles, was du mir sagen wolltest?« »Nein, es gibt noch eine Neuigkeit, die dich amüsieren wird. Dein Lieblingsautor Wilbur Smith hat sich bereit erklärt, die Geschichte unserer Entdeckung des Pharaonengrabes zu schreiben. Das Buch wird den Titel Die siebente Schriftrolle haben. Wahrscheinlich wird es Anfang nächsten Jahres heraus kommen, und ich werde dir ein Exemplar mit dem Autogramm des Verfassers schicken.« »Ich hoffe, er wird sich diesmal an die Tatsachen halten«, sagte sie trocken. Beide schwiegen eine Weile, dann sagte Royan: »Ich habe einen Berg Arbeit vor mir. Wenn es also sonst nichts mehr gibt –« »Es gibt durchaus noch etwas.« »Ja?« »Ich würde mich freuen, wenn du mich heiraten würdest.« Er hörte, wie sie tief einatmete, und dann fragte sie nach ei ner langen Pause leise: »Wie kommst du auf eine so unwahr scheinliche Idee?« »Ich weiß jetzt, wie sehr ich dich liebe.«
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Wieder schwieg sie eine Weile und sagte dann fast unhörbar: »Sehr gut.« »Was meinst du mit ›sehr gut‹?« »Ich meine, sehr gut, ich werde dich heiraten.« »Und wie kommst du darauf, einem so unwahrscheinlichen Vorschlag zuzustimmen?« fragte er. »Ich habe – was auch geschehen sein mag – erkennen müs sen, wie sehr ich dich liebe.« »Um siebzehn Uhr dreißig startet eine Maschine von Air Egypt in Heathrow, und wenn ich mich sehr beeile, bekomme ich sie noch. Ich werde aber erst spät in Kairo sein.« »Ich werde am Flughafen auf dich warten, gleichgültig, wie spät es werden wird.« »Ich bin schon unterwegs!« Nicholas legte den Hörer auf und ging zur Tür, aber dann lief er noch einmal zurück zum Schreibtisch und nahm die kleine Taita-Statuette in die Hand. »Komm mit, alter Schurke«, lachte er triumphierend. »Du fliegst nach Hause, als Hochzeitsgeschenk.«
Epilog In der Abenddämmerung schlenderten sie die Mauerbrüstung entlang. Unter ihnen floß langsam der ewig grüne, unerforsch liche Nil und enthüllte ihnen die Geheimnisse längst vergange ner Zeiten. Am Flußufer unterhalb der Ruinen des Tempels der Ramessiden bei Luxor, wo die große Barke des Pharao Mamo se mit Taita und seiner geliebten Herrin im Bug angelegt hatte, blieben sie eine Zeitlang stehen und lehnten sich an die Krone der steinernen Brüstung. Sie schauten hinüber zu den Bergen, die sich jenseits des Flusses dunkel vor dem Horizont abzeich neten. 779
Die Ruinen des Totentempels und der große Damm des Mamose waren längst verschwunden, und andere Könige hat ten auf den Fundamenten neue Baudenkmäler errichtet. Bisher hatte niemand sein Grabmal entdeckt, in dem er dann doch nicht beigesetzt worden war, aber es mußte in der Nähe der geheimen Öffnung im Felsen gelegen haben, durch die Duraid Al Simma die Grabkammer der Lostris betreten und die Schriftrollen des Taita in den Alabasterkrügen entdeckt hatte. In der heraufziehenden Dämmerung schwiegen die vier Menschen im Bewußtsein der Freundschaft, die sie fest mitein ander verband. Ein Vergnügungsdampfer fuhr stromaufwärts an ihnen vorüber, und die sich an Deck drängenden Touristen waren nach einer zehntägigen Reise von Kairo bis hierher im mer noch lebhaft interessiert an allem, was sie an den Ufern dieses rätselhaften Gewässers wahrnahmen. Sie zeigten einan der die hohen Säulen und die bemalten Wände des RamsesTempels, und man hörte in der Stille des Wüstenabends aus der Ferne ihr belangloses Geschwätz. Royan und Tessay gingen Arm in Arm voraus. Es war ein schöner Anblick; zwei schlanke junge Frauen mit honigfarbe ner Haut, mit deren dunklen Haaren der Wind spielte und die fröhlich miteinander scherzten und lachten. Nicholas und Mek Nimmur folgten den beiden, und jeder hatte nur Augen für die Frau, die ihm gehörte. »Also, Sie sind jetzt eine der Respektspersonen in Adis Abe ba, Sie, der harte Mann, der Untergrundkämpfer sind jetzt Poli tiker geworden. Ich kann es kaum glauben, Mek.« »Es gibt eine Zeit, zu kämpfen, und eine Zeit, Frieden zu schließen.« Mek meinte es ernst, aber Nicholas machte sich ein Vergnügen daraus, ihn ein wenig zu necken. »Ich sehe, daß Sie jetzt als Politiker gewisse Regeln befolgen und abgedroschene Halbwahrheiten von sich geben müssen.« Nicholas versetzte ihm einen leichten Faustschlag auf den
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Arm. »Aber wie haben Sie das geschafft, Mek? Vom verachte ten Banditen zum Verteidigungsminister, das ist ein gewaltiger Sprung.« »Das Geld aus dem Verkauf der blauen Krone hat mir ein wenig geholfen. Damit ließen sich die letzten Schwierigkeiten aus dem Weg räumen«, mußte Mek zugeben, »aber sie wußten, wenn ich mich nicht als Kandidat zur Verfügung stellte, hätten sie keine demokratischen Wahlen abhalten können. Deshalb lag ihnen viel daran, mich für ihre Sache zu gewinnen.« »Was ich an diesem Geschäft nicht verstehen kann, ist die Tatsache, daß Sie ihnen dieses sauer verdiente Geld überlassen haben«, beschwerte sich Nicholas. »Zum Teufel, Mek, fünf zehn Millionen fallen einem nicht täglich in den Schoß.« »Ich habe ihnen das Geld nicht überlassen«, erwiderte Mek. »Ich habe es dem Staat zur Verfügung gestellt, um jederzeit feststellen zu können, was damit geschieht.« »Immerhin, fünfzehn Millionen sind eine ansehnliche Sum me«, seufzte Nicholas. »Eine solche Verschwendung kann ich beim besten Willen nicht gutheißen, ich muß aber zugeben, daß ich mit der Auswahl Ihrer Mitkandidatin bei den bevorstehen den Präsidentschaftswahlen durchaus einverstanden bin.« Sie schauten beide auf Tessays schlanken Rücken, ihre schwarzen Haarlocken und die wohlgeformten braunen Beine. »Auch wenn ich nicht davon überzeugt bin, daß Sie der rich tige Verteidigungsminister sind, kann ich mir doch vorstellen, daß Tessay eine sehr charmante Ministerin für Kultur und Tou rismus wäre.« »Wenn wir die Wahlen im August gewinnen, dann wird sie eine noch tüchtigere Vizepräsidentin sein«, erwiderte Mek überzeugt. Im gleichen Augenblick schaute sich Royan nach ihnen um und rief: »Wir überqueren hier die Straße.« Nicholas war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, um zu bemerken, daß
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sie gegenüber dem neuen Anbau des Museums von Luxor an gekommen waren. Die beiden Frauen warteten auf sie und überquerten dann, jede am Arm ihres Mannes, den breiten Boulevard. Während sie sich den Weg zwischen den langsam vorbeitra benden Pferdedroschken suchten, beugte sich Nicholas zu Royan hinunter und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wan ge. »Sie sind wirklich ein entzückendes Geschöpf, Lady Quen ton-Harper.« »Sie lassen mich erröten, Sir Nicky«, kicherte sie. »Wissen Sie, ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnen können, so genannt zu werden.« Nachdem sie die Straße überquert hatten, blieben sie vor dem Eingang des Anbaus stehen. Das schräge Dach ruhte auf hohen Säulen, verkleinerte Nachbildungen der Säulen am Tempel von Karnak. Die Mauern waren aus massiven gelben Sandsteinquadern, und das ganze Gebäude beeindruckte durch seine klaren, einfachen Linien. Royan führte sie zum Eingang des für die Öffentlichkeit noch geschlossenen Museums. Der Präsident würde am Mon tag zur offiziellen Eröffnung einfliegen, und Mek und Tessay sollten als Vertreter der äthiopischen Regierung an den Eröff nungsfeierlichkeiten teilnehmen. Die Wachen, die Royan sofort erkannten, verneigten sich höflich vor ihr und beeilten sich, die schweren messingbeschlagenen Türflügel zu öffnen, um sie einzulassen. Im Inneren war es still und kühl. Eine Klimaanlage sorgte dafür, daß Temperatur und Luftfeuchtigkeit den wertvollen Ausstellungsstücken nicht schaden konnten. Die Schaukästen waren in die Sandsteinmauern eingebaut und wurden von ge schickt angebrachten Scheinwerfern beleuchtet. So konnte man die kostbaren Grabbeigaben des Mamose in ihrer ganzen Schönheit auf sich wirken lassen. Die einzelnen Stücke waren
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in der Reihenfolge ihres künstlerischen und archäologischen Werts geordnet und lagen auf Satinkissen im königlichen Blau des Pharao Mamose. Still und ehrfürchtig gingen die vier Besucher durch die Ausstellungsräume, und wenn sie Royan etwas fragten, dann nur flüsternd. Was sie hier sahen, beeindruckte sie zutiefst. An der Tür, die in den letzten Ausstellungsraum führte, blieben sie stehen. Hier befanden sich die prächtigsten und wertvollsten Gegenstände der ganzen Sammlung. »Und das ist nur ein kleiner Teil der Kostbarkeiten, die im Grabmal des Mamose zurückgeblieben sind, das wir nicht mehr betreten können, weil uns das Wasser des DanderaFlusses daran hindert«, flüsterte Tessay. »Voller Spannung warte ich darauf, daß das Abenteuer weitergeht.« »Ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu erzählen!« sagte Mek, und sein triumphierendes Lächeln zeigte deutlich, daß er in Wirklichkeit nichts vergessen, sondern nur auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, um diese Neuigkeit zu verkünden. »Die Smithsonian Institution hat bestätigt, daß sie sich an der Finanzierung des Baus eines neuen Staudamms beteiligen wird, um den Zugang zum Grabmal des Mamose zu ermöglichen. Es wird ein gemeinsames Unternehmen der Institution und der Regierungen von Ägypten und Äthiopien sein.« »Das ist ja herrlich!« rief Royan begeistert. »Das Grabmal wird eine der bedeutendsten archäologischen Anlagen der Welt werden, und die vielen Touristen werden wesentlich zur Erhö hung der äthiopischen Staatseinnahmen beitragen –« »Nicht so schnell«, unterbrach sie Mek. »Das Unternehmen wird nur unter einer Bedingung finanziert werden.« Royan sah ihn enttäuscht an. »Und was ist diese Bedin gung?« »Sie verlangen, daß Sie, Royan, die Leitung des Projekts übernehmen.«
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Sie klatschte vor Freude in die Hände und sagte dann mit ernster Miene: »Aber auch ich muß, bevor ich auf diesen Vor schlag eingehe, eine Bedingung stellen.« »Und die wäre?« wollte Mek wissen. »Daß ich mir meinen Assistenten selber aussuchen darf.« Mek lachte schallend. »Wir wissen doch alle, wer das sein wird.« Er schlug Nicholas auf den Rücken. »Passen Sie nur auf, daß nichts von diesen Kunstschätzen an seinen klebrigen Fingern hängenbleibt!« warnte er sie. Royan umarmte Nicholas. »Er hat sich gebessert, und zwar von Grund auf, und ich werde Ihnen das beweisen.« Am Arm ihres Mannes führte sie die Gäste in den letzten Ausstellungs raum. Mek und Tessay blieben auf der Schwelle stehen und schau ten mit ehrfürchtigem Staunen auf einen, in der Mitte des Zimmers stehenden Schaukasten mit Panzerglas. Im Licht der Deckenscheinwerfer glänzten darin die rotweiße Krone des vereinigten Königreichs von Oberund Unterägypten und die goldene Totenmaske des Pharao Mamose. Nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte, ging Mek Nimmur langsam auf den Schaukasten zu, bückte sich und las laut die Inschrift auf dem Messingschild am Sockel. »›Dau erleihgabe von Sir Nicholas und Lady Quenton-Harper‹.« Er starrte Nicholas ungläubig an. »Und ausgerechnet Sie ha ben mir Vorwürfe gemacht, weil ich den Erlös für den Verkauf der blauen Krone fortgegeben habe!« warf er ihm vor. »Wie haben Sie sich nur von Ihrem Anteil an der Beute trennen kön nen, Nicholas?« »Es war nicht leicht«, mußte Nicholas zugeben, »aber je mand hat mir ein Ultimatum gestellt.« »Bemitleiden Sie den armen Jungen nicht zu sehr«, lachte Royan. »Er hat noch einen großen Teil des Geldes, das Peter Walsh ihm für die Nemes-Krone gezahlt hat, auf einem Num
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mernkonto in der Schweiz. Ich habe ihn nicht überreden kön nen, alles herzugeben.« »Jetzt will ich aber keine weiteren Enthüllungen aus meinem Privatleben hören«, sagte Nicholas streng. »Die Sonne ist längst untergegangen, und es wird Zeit für einen Whisky. Ich glaube, ich habe in der Hotelbar eine Flasche Laphroaig gese hen. Gehen wir hinüber und schauen, ob ich mich geirrt habe.« Er nahm Royan am Arm und führte sie zur Bar. Mek und Tessay folgten ihm und amüsierten sich köstlich über das Unbehagen, das ihm die Erwähnung gewisser Schwächen bereitete.
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