R. A. Lafferty: Die sechs Finger der Zeit Es begann an jenem Morgen damit, dass ihm die Dinge unter den Fingern zerbrach...
15 downloads
857 Views
342KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
R. A. Lafferty: Die sechs Finger der Zeit Es begann an jenem Morgen damit, dass ihm die Dinge unter den Fingern zerbrachen. Zum Beispiel das Wasserglas auf seinem Nachttisch: Er stieß verrückterweise so unglücklich dagegen, dass es an die gegenüberliegende Wand krachte und in tausend Stücke zersprang. Aber es zersprang nur langsam. Und wäre er nicht noch so schlaftrunken gewesen, so hätte er sich bestimmt darüber gewundert, denn er hatte ganz ohne Hast und Kraft danach gegriffen. Er war auch nicht, wie gewöhnlich, vom Schrillen des Weckers erwacht, sondern von einem langsamen, tiefen Dröhnen. Doch auf dem Zifferblatt war es Punkt sechs - genau die Zeit, auf die er den Wecker eingestellt hatte. Und das tiefe Dröhnen schien, als es sich wiederholte, tatsächlich von seiner Uhr zu kommen. Er streckte die Hand aus und berührte sie vorsichtig; doch bei der Berührung fiel sie vom Nachttisch und sank langsam auf den Fußboden hinab. Und als er sie wieder aufhob, war sie stehengeblieben und wollte sich auch durch kräftiges Schütteln nicht wieder in Gang bringen lassen. Er sah nach der elektrischen Uhr in der Küche. Auch sie stand auf sechs, doch der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Im Wohnzimmer auf der Radiouhr war es ebenfalls sechs, und der Sekundenzeiger schien ebenfalls stillzustehen. »Aber das Licht brennt doch in beiden Zimmern«, wunderte sich Vincent. »Wie kommt es dann, dass beide Uhren stehengeblieben sind? Ob sie von einem anderen Stromkreis gespeist werden?« Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und nahm seine Armbanduhr. Sie stand auf sechs. Und ihr Sekundenzeiger bewegte sich nicht. »Jetzt wird es mir aber wirklich zu bunt! Was könnte denn bloß sowohl elektrische als auch mechanische Uhren zum Stillstand bringen?« Er trat ans Fenster und blickte auf die Reklameuhr am Mutual Insurance Building. Sie stand auf sechs, und der Sekundenzeiger rückte nicht weiter. »Na ja, vielleicht beschränkt sich die Störung nicht auf mich allein. Ich habe einmal von einer ziemlich unwahrscheinlichen Theorie gehört, nach der eine kalte Dusche den Kopf klarmachen soll. Bei mir war das zwar nie der Fall, aber ich kann es ja mal versuchen. Ich kann mir dann immer noch einreden, ich hätte es wegen der Sauberkeit getan.« Die Dusche funktionierte nicht. Das heißt, doch - sie funktionierte: Jetzt kam das Wasser, aber es kam nicht wie Wasser; es kam wie sehr dicker Sirup, der zäh in der Luft hängenblieb. Er langte hinauf, wollte es anfassen, wie es da hing und sich in die Länge zog. Doch als er es anfasste, zersprang es wie Glas und trieb in phantastisch geformten Tropfen langsam durchs Bad. Aber es fühlte sich an wie Wasser: Nass und angenehm kühl. Und nach ungefähr fünfzehn Sekunden war es auf seinen Schultern und seinem Rücken angelangt, und er genoss dieses herrliche Gefühl mit Behagen. Er ließ sich den Kopf richtig durchweichen, und schon nach kurzer Zeit waren seine Gedanken klar. »Mir fehlt überhaupt nichts. Mir geht es großartig. Es ist nicht meine Schuld, dass heute Morgen das Wasser so langsam fließt und manche Dinge anscheinend verrücktspielen.« Er griff nach dem Handtuch, und es zerriss ihm unter den Fingern wie poröses, feucht gewordenes Papier. Jetzt wurde er vorsichtig. Er nahm alle Gegenstände nur sehr, sehr langsam, sehr, sehr behutsam und sehr, sehr geschickt in die Hand, damit er nur ja nichts zerbrach. Und es gelang ihm auch, sich trotz des im Waschbecken ebenfalls langsam fließenden Wassers ohne Zwischenfälle zu rasieren. Dann kleidete er sich mit größter Behutsamkeit und Umsicht an und zerriss dabei lediglich seine Schnürsenkel - ein Missgeschick, das jedem Mann mal passieren kann. »Da mir persönlich also nichts fehlt, werde ich jetzt zunächst nachsehen gehen, ob mit der Welt irgendetwas nicht stimmt. Als ich hinaussah, war es schon beinahe ganz hell geworden, wie es sich um diese Zeit auch gehört. Seither sind etwa zwanzig Minuten vergangen, und außerdem ist es ein klarer Tag: Die Sonne müsste jetzt also bereits auf mehrere Stockwerke des Insurance Building scheinen.« Das war aber nicht der Fall. Es war zwar noch immer ein klarer Tag, aber die Helligkeit hatte in diesen zwanzig Minuten nicht zugenommen. Und die große Reklameuhr zeigte noch immer auf sechs. Es hatte sich nichts an ihr verändert. Aber ja
doch, es hatte sich etwas verändert! Dabei spürte er ein ganz merkwürdiges Gefühl. Er stellte sich das Zifferblatt vor, wie er es zuletzt gesehen hatte. Jawohl, der Sekundenzeiger hatte sich bewegt! Er war um etwa zwanzig Sekunden weitergewandert. Also zog Vincent sich einen Stuhl ans Fenster und beobachtete den Zeiger. Und merkte, dass dieser weiterlief, wenngleich diese Bewegung praktisch nicht zu erkennen war. Er wartete ungefähr fünf Minuten. In dieser Zeit legte der Zeiger eine Strecke von etwa fünf Sekunden zurück. »Nun ja, das ist nicht mein Problem, sondern das eines Uhrmachers, eines irdischen oder eines himmlischen.« Aber trotzdem verließ er seine Wohnung ohne ein gutes Frühstück und außerdem ungewöhnlich früh. Woher er wusste, dass es noch ungewöhnlich früh sein musste, wo doch mit der Zeit etwas durcheinandergeraten war? Nun ja, wenigstens nach der Sonne und nach den Uhren zu urteilen, war es noch früh, wenn auch Sonne und Uhren heute nicht richtig zu funktionieren schienen. Und ohne ein gutes Frühstück ging er fort, weil der Kaffee nicht kochen, der Speck nicht braten wollte. Um ganz genau zu sein: Der Herd wollte nicht heiß werden. Das Gas entzündete sich an der Stichflamme wie ein sich langsam ausfächernder Strom oder wie eine sich langsam entfaltende Blüte. Und dann brannte es viel zu still. Als er die Pfanne aufsetzte, blieb sie kalt, und auch das Wasser wollte nicht mal lauwarm werden. Außerdem hatte er mindestens fünf Minuten gebraucht, um überhaupt genug Wasser aus dem Hahn zu bekommen. Er aß nur ein, zwei übriggebliebene Scheiben Brot und ein paar Stücke Fleisch. Auf der Straße entdeckte er nicht die geringste Bewegung — richtige Bewegung. Ein Lastwagen, der anfangs stillzustehen schien, bewegte sich nur sehr langsam weiter. Es gab überhaupt keinen Gang, mit dem er so langsam fahren konnte. Und dann kroch da ein Taxi die Straße entlang, doch Vincent musste schon eine geraume Weile hinsehen, um sicher zu sein, dass es sich wirklich bewegte. Und gleich darauf traf ihn ein schwerer Schock. Im frühen Morgenlicht stellte er fest, dass der Fahrer des Taxis tot hinter dem Steuer saß. Tot - mit weit geöffneten Augen! Der Wagen musste unbedingt angehalten werden, ganz gleich, wie langsam er fuhr und von welcher Kraft er angetrieben wurde! Vincent ging hin, öffnete die Tür und zog die Handbremse an. Dann sah er dem Toten genau in die Augen. War der Mann tatsächlich tot? Schwer zu sagen. Er war noch warm. Doch während Vincent ihn ansah, begann der Tote die Augen zu schließen. Schloss sie wirklich und öffnete sie dann auch wieder - im Ablauf von ungefähr zwanzig Sekunden. Das war unheimlich! Das langsame Schließen und öffnen der Augen bewirkte, dass Vincent eiskalte Schauer über den Rücken liefen. Und nun begann sich der Tote auf seinem Sitz vorzubeugen. Vincent legte dem Mann die Hand auf die Brust, um ihn zu stützen, aber der Druck nach vorn mochte zwar langsam sein, war aber einfach unwiderstehlich. Vincent konnte den Toten nicht auf seinen Sitz zurückdrücken. Also ließ er ihn los und wartete neugierig ab. Innerhalb weniger Sekunden lag der Chauffeur mit dem Gesicht auf dem Lenkrad. Aber es sah beinahe so aus, als habe er nicht die Absicht, dort haltzumachen. Mit hartnäckiger Gewalt presste sich sein Gesicht immer fester gegen das Rad. Der Mann würde sich unweigerlich die Nase brechen. Vincent versuchte den Toten mit verschiedenen Griffen festzuhalten und diesem Druck irgendwie entgegenzuwirken. Die Nase aber brach trotz alledem, und im Normalfall wäre jetzt Blut geflossen. Dieser Mann war jedoch schon so lange tot, dass sich sein Blut, obwohl er noch warm war, irgendwie verdickt haben musste, denn es dauerte ganze zwei Minuten, bis es zu fließen begann. »Was immer ich auch getan habe, ich habe genug Schaden angerichtet«, sagte sich Vincent. »Und gleichgültig, in was für einem Alptraum ich mich befinde - wenn ich mich weiter einmische, werde ich nur noch mehr zerstören. Am besten, ich halte mich da ganz raus.« Er ging die Straße entlang. Doch alle Fahrzeuge, die er sah, bewegten sich mit unvorstellbarer Langsamkeit; es schien, als würden sie mit einer ganz und gar unwahrscheinlichen Übersetzung angetrieben. Und die Menschen, die es vereinzelt gab, schienen festgefroren zu sein, obwohl der Morgen zwar recht frisch, aber doch nicht so eisig war. Sie standen reglos, in den verschiedensten Bewegungen zu Salzsäulen erstarrt - wie Kinder, die »Statuen«
spielen. »Wie kommt es nur«, fragte Charles Vincent sich, »dass dieses junge Mädchen, das, wie ich glaube, uns gegenüber arbeitet, aufrecht und mitten im Schritt gestorben ist? Aber nein! Sie ist gar nicht tot. Und wenn sie es doch ist, dann ist sie mit einem überaus lebendigen Ausdruck auf dem Gesicht gestorben. Und . . . Oh, du mein Gott, die macht das ja auch!« Denn er entdeckte, dass sich die Augenlider des Mädchens schlössen, die Bewegung nach einigen Sekunden beendeten und sich wieder öffneten. Außerdem - und das war noch weitaus merkwürdiger - hatte sie sich weiterbewegt. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er mit einer Stoppuhr die Zeit gemessen. Aber wie konnte er das, wenn alle Uhren der Welt auf einmal verrücktspielten? Immerhin, sie musste ungefähr zwei Schritte in der Minute zurückgelegt haben. Vincent betrat die Cafeteria. Hier saßen die Frühaufsteher, die er so oft schon durchs Fenster beobachtet hatte. Das Mädchen, das hinter der Scheibe Pfannkuchen buk, hatte gerade einen hochgeworfen. Er hing in der Luft, drehte sich dann, wie von einer sanften Brise erfasst, um sich selber und sank ganz langsam wieder zurück, als werde er unter Wasser bewegt. Die Frühstückenden waren, genau wie die Menschen auf der Straße, alle auf diese seltsame Art tot, bewegten sich mit einer nahezu unmerklichen Geschwindigkeit. Und alle waren anscheinend beim Kaffeetrinken, beim Eieressen oder beim Toastkauen gestorben. Und wenn nur genügend Zeit verstrich, bestand die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit dem Trinken, Essen und Kauen auch fertig wurden, denn er entdeckte an allen eine Andeutung von Bewegung. Die Kassiererin hatte die Kassenschublade geöffnet und hielt das Wechselgeld in der Hand, nach dem ein Kunde gerade greifen wollte. Irgendwann in dieser neuen, gemächlichen Zeit, ganz allmählich, würden die Hände einander treffen, das Geld den Besitzer wechseln. Und so geschah es dann auch. Es mochte anderthalb, zwei oder zweieinhalb Minuten gedauert haben. Es ist eigentlich immer sehr schwer, einen Zeitraum exakt zu schätzen, jetzt aber war es praktisch unmöglich geworden. »Ich habe Hunger«, sagte Charles Vincent. »Aber es wäre dumm, hier auf Bedienung zu warten. Soll ich mich selber bedienen? Wenn diese Leute wirklich tot sind, kann es ihnen nichts ausmachen. Und wenn sie nicht tot sind, so scheine ich jedenfalls für sie unsichtbar zu sein.« Er verschlang mehrere Brötchen. Er öffnete eine Flasche Milch und hielt sie umgekehrt über ein Glas, während er noch ein weiteres Brötchen aß. Sämtliche Flüssigkeiten waren so unnatürlich träge geworden! Aber er fühlte sich besser, nach diesem Stehfrühstück. Er hätte es ja auch gern bezahlt - aber wie? Also verließ er die Cafeteria und spazierte, weil es noch sehr früh zu sein schien, in der Stadt herum. Obwohl man sich, was die Zeit anging, weder auf die Sonne noch auf eine Uhr verlassen konnte. Die Verkehrsampeln wechselten das Licht nicht. Lange blieb er in einem kleinen Park sitzen und beobachtete die Stadt und die große Uhr am Turm des Commerce Building; doch wie alle anderen Uhren, war sie entweder stehengeblieben, oder der Zeiger kroch so langsam voran, dass man es nicht feststellen konnte. Es dauerte, wie ihm schien, ungefähr eine Stunde, bis die Verkehrsampeln umsprangen, doch immerhin taten sie es schließlich. Indem er einen Punkt des Gebäudes auf der anderen Straßenseite anvisierte und genau beobachtete, was daran vorbeikam, stellte er fest, dass sich der Verkehr tatsächlich weiterbewegte. Ein Wagen passierte den Punkt in seiner ganzen Länge ungefähr innerhalb einer Minute. Jetzt fiel ihm ein, dass er mit seiner Arbeit im Rückstand war, eine Tatsache, die ihm große Sorgen bereitete. Deswegen beschloss er nun, ohne Rücksicht darauf, wie früh es noch war - oder zu sein schien —, sofort ins Büro zu gehen. Mit seinem Schlüssel öffnete er die Tür. Niemand da. Er nahm sich vor, nicht auf die Uhr zu sehen und wegen seiner neuen Neigung, die Dinge zu zerbrechen, alle Gegenstände mit größter Vorsicht zu behandeln. Abgesehen davon, schien hier alles normal zu sein. Am Tag zuvor hatte er noch gesagt, dass er seine Arbeit kaum aufholen würde, und wenn er zwei Tage lang ununterbrochen schuftete. Jetzt fasste er den Entschluss, wenigstens so lange ununterbrochen zu arbeiten, bis irgendetwas - gleichgültig was geschah. Stunde um Stunde arbeitete er an seinen Aufstellungen und Berichten. Niemand kam.
Stimmte vielleicht etwas nicht? Nun, einiges stimmte mit Sicherheit nicht. Aber ein Feiertag war heute nicht. Das konnte es nicht sein. Wie lange kann ein verbissener, verwirrter Mann an der Arbeit sitzen? Stunde um Stunde. Er wurde weder hungrig noch übermäßig müde. Und schaffte eine ziemliche Menge. »Jetzt habe ich mindestens die Hälfte erledigt. Wie immer es kommt, ich habe die Arbeit eines ganzen Tages aufgeholt. Ich werde weitermachen.« Er musste weitere acht bis zehn Stunden gearbeitet haben. Dann hatte er seine Arbeit ganz aufgeholt. »Na ja, bis zu einem gewissen Grad kann ich ja vorarbeiten. Dann brauche ich später nur noch die Zahlen in die Berichte einzusetzen.« Er tat es. »Über den Kopf wachsen wird mir die Arbeit von nun an wohl kaum. Eigentlich könnte ich einen Tag faulenzen. Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist, aber ich muss zwanzig Stunden hintereinander gearbeitet haben, und kein Mensch ist gekommen. Vielleicht kommt überhaupt niemand mehr. Wenn sie sich mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Leute in dem Alptraum da draußen bewegen, dann ist es kein Wunder, dass niemand kommt.« Er legte die Arme auf den Schreibtisch und bettete den Kopf darauf. Das letzte, was er sah, bevor er die Augen schloss, war sein verwachsener linker Daumen, den er, wenn er die Hände bewegte, stets zu verbergen trachtete. »Zumindest weiß ich, dass ich noch ich selber bin. Daran erkenne ich mich immer wieder.« Und schon war er am Schreibtisch eingeschlafen. Jenny betrat das Büro. Vom eiligen Klickklack ihrer hohen Absätze wachte er auf. »Wieso schlafen Sie an ihrem Schreibtisch, Mr. Vincent? Sind Sie die ganze Nacht hier gewesen?« »Ich weiß es nicht, Jenny. Ehrlich nicht.« »Ich habe nur Spaß gemacht. Manchmal, wenn ich etwas zu früh hier bin, leiste ich mir selber ein Nickerchen.« Die Uhr zeigte auf sechs Minuten vor acht, und der große Zeiger bewegte sich ganz normal. Die Zeit war wieder in die Welt zurückgekehrt. Oder zu ihm. Aber war dieser ganze Morgen ein Traum gewesen? Dann immerhin ein überaus ergiebiger. Er hatte ein Arbeitspensum geschafft, das er in zwei Tagen kaum hätte bewältigen können. Und immer noch war es derselbe Tag, der es hätte sein müssen. Er ging an den Wasserbehälter. Das Wasser verhielt sich völlig normal. Er trat ans Fenster. Der Verkehr verhielt sich, wie es sein soll. Obwohl er gelegentlich langsamer wurde und hin und wieder ganz stehenblieb, lief er jetzt im gewohnten Tempo ab. Die anderen Kollegen kamen. Sie waren zwar nicht gerade geölte Blitze, aber man brauchte auch keinen von ihnen minutenlang zu beobachten, um sicher zu sein, dass er nicht gestorben war. »Es hatte ja auch gewisse Vorteile«, fand Charles Vincent. »Ich hätte zwar Angst, ständig damit zu leben, aber es wäre recht praktisch, für einige Minuten am Tag in diesem Zustand zu sein und dann die Arbeit von Stunden zu tun. Vielleicht bin ich ein Fall für den Doktor. Doch wie soll ich dem Arzt überhaupt klarmachen, was mit mir los war?« Nun waren mit Gewissheit nicht einmal zwei Stunden zwischen seinem Erwachen im Bett und dem Erwachen bei Jennys Eintritt vergangen. Und wie lange der zweite Schlaf gedauert oder in welcher Zeitdimension er sich abgespielt hatte, ahnte er nicht. Aber wie sollte er sich das alles erklären? Er hatte in seiner Verwirrung viel Zeit in seiner Wohnung verbracht, viel mehr als gewöhnlich. Er war, vollkommen verstört, kilometerweit in der Stadt herumgewandert, hatte stundenlang in jenem kleinen Park gesessen und die Lage studiert. Und eine ungewohnt lange Zeit an seinem Schreibtisch gesessen und gearbeitet. Na schön, er würde den Arzt aufsuchen. Der Welt im allgemeinen gegenüber ist der Mensch gezwungen, sich nicht wie ein Narr aufzuführen; seinem Anwalt, Priester oder Arzt gegenüber jedoch muss er gelegentlich als Narr auftreten. Die sind durch ihren Beruf verpflichtet, sich des Spotts zu enthalten. In der Mittagspause ging er also zum Arzt. Als Freund konnte er Dr. Mason eigentlich nicht bezeichnen. Voll Unbehagen erkannte Charles Vincent auf einmal, dass er im Grunde gar keine Freunde hatte, höchstens Bekannte und Kollegen. Es war, als gehöre er einer anderen Spezies an als seine Mitmenschen. Er wünschte jetzt fast, einen Freund zu haben. Immerhin war Dr. Mason ein langjähriger Bekannter. Er stand in dem Ruf, ein hervorragender Arzt zu sein, und außerdem war Vincent bereits in seiner Praxis und wurde ins Sprechzimmer geführt. Er musste also
entweder . . . Nun ja, dieser Anfang war auch nicht schlechter als irgendein anderer. »Doktor, ich bin in einer üblen Lage. Ich muss jetzt entweder Symptome erfinden, um meinen Besuch bei Ihnen zu rechtfertigen, mir eine Ausrede einfallen lassen und kneifen oder Ihnen erzählen, was es mit meinem Problem tatsächlich auf sich hat - auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich dann für eine ganz neue Art von Idioten halten werden.« »Vincent, es geschieht jeden Tag, dass Leute Symptome erfinden, um ihren Besuch bei mir zu rechtfertigen, während ich ganz genau weiß, dass sie sich nur scheuen, mir den wahren Grund ihres Kommens zu nennen. Und es geschieht jeden Tag, dass Leute sich Ausreden einfallen lassen und kneifen. Die Erfahrung jedoch sagt mir, dass ich ein höheres Honorar herausschlagen kann, wenn Sie die dritte Verhaltensweise wählen. Und, Vincent: Es gibt keine neue Art von Idioten.« »Wenn ich es schnell erzähle, klingt es vielleicht etwas wahrscheinlicher«, meinte Vincent. »Als ich heute Morgen erwachte, hatte ich ein paar sehr merkwürdige Erlebnisse. Es war, als sei die Zeit stehengeblieben, oder als sei die gesamte Welt auf Zeitlupentempo heruntergeschaltet. Das Wasser wollte weder fließen noch kochen, das Gas wollte das Essen nicht wärmen. Die Uhren, von denen ich anfangs glaubte, sie seien stehengeblieben, krochen in der Stunde um vielleicht eine Minute weiter. Die Leute, die ich auf der Straße sah, wirkten wie tot, erstarrt in lebensechten Positionen. Nur wenn ich sie sehr lange beobachtete, konnte ich wahrnehmen, dass sie sich doch bewegten. Ein Taxi, das mir begegnete, kroch langsamer als die unterentwickeltste Schnecke und hatte einen Toten am Steuer. Ich ging hinüber, öffnete die Tür und zog die Handbremse an. Nach einer Weile merkte ich, dass der Mann gar nicht tot war. Er beugte sich langsam vornüber und brach sich am Lenkrad das Nasenbein. Es muss eine volle Minute gedauert haben, bis sich sein Kopf um etwa dreißig Zentimeter bewegt hatte, und trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass er auf das Lenkrad schlug. Anschließend tat ich noch mehr seltsame Dinge in dieser unbegreiflichen Welt, die mitten in der Bewegung gestorben schien. Ich wanderte zum Beispiel kilometerweit durch die Stadt und saß dann ungezählte Stunden in einem Park. Ich ging ins Büro und erledigte Arbeiten, für die ich mindestens zwanzig Stunden gebraucht haben muss. Dann schlief ich am Schreibtisch ein. Als ich erwachte, weil meine Kollegen kamen, war es erst sechs Minuten vor acht Uhr am Morgen desselben Tages - heute. Nicht einmal zwei Stunden waren seit meinem Aufstehen vergangen, und die Zeit lief wieder völlig normal Und doch waren in diesem Zeitraum Dinge geschehen, die einfach in zwei Stunden nicht alle geschehen können.« »Zuerst eine Frage, Vincent. Haben Sie tatsächlich diese Arbeit erledigt, die Arbeit von vielen Stunden?« »Das habe ich, und zwar in diesem Zeitraum. Als dann die Zeit wieder normal wurde, war diese Arbeit noch immer getan.« »Eine zweite Frage: Haben Sie sich wegen der Arbeit Sorgen gemacht? Ich meine, weil Sie so viel aufzuholen hatten?« »Jawohl. Und wie!« »Dann gibt es eine durchaus plausible Erklärung dafür. Sie gingen gestern Abend zu Bett. Kurz darauf jedoch standen sie im Schlaf wieder auf. Das Schlafwandeln enthält Faktoren, die wir noch nicht alle richtig begreifen. Der Faktor etwa, dass die Zeit für Sie in Unordnung geriet, ist Teil dieses Wachtraums, den Sie hatten. Es ist durchaus möglich, dass man im Zustand des Schlafwandelns Routineangelegenheiten so schnell, fast hektisch erledigt, dass sie wie Wunder aussehen. Als Sie dann fertig waren, sind Sie entweder in normalen Schlaf gefallen, oder das Eintreffen Ihrer Kollegen hat Sie direkt aus Ihrer Trance geweckt. Beim Auftreten scheinbar unnatürlicher Ereignisse ist es immer gut, wenn man eine rationale Erklärung zur Hand hat. Das beruhigt den Patienten und verschafft ihm Erleichterung. Doch mich stellt so eine Erklärung sehr häufig nicht zufrieden.« »Mich stellt Ihre Erklärung beinahe zufrieden, und Erleichterung verschafft sie mir durchaus, Mr. Mason. Ich bin überzeugt, dass ich binnen kurzem in der Lage sein werde, sie ganz und gar zu akzeptieren. Warum aber sind Sie nicht damit zufrieden?« »Ein Grund dafür ist, dass ich heute Morgen sehr früh einen Mann behandelt habe, einen Taxifahrer. Er hatte sich das Nasenbein gebrochen und einen Geist gesehen - oder vielmehr, beinahe gesehen: einen so
unglaublich flinken Geist, dass er ihn eher ahnte als sah. Der Geist öffnete die Tür seines Wagens, während das Taxi mit Höchstgeschwindigkeit fuhr, zog die Handbremse an und bewirkte so, dass er mit dem Kopf aufschlug. Der Mann war benommen und hatte eine leichte Gehirnerschütterung. Ich habe ihn überzeugt, dass er keinen Geist gesehen hat, sondern am Steuer eingeschlafen und in irgendetwas hineingefahren sein muss. Wie gesagt, ich bin schwerer zu überzeugen als meine Patienten. Doch das kann natürlich auch Zufall sein.« »Hoffen wir es. Aber was meinen Fall anbelangt, da scheinen Sie noch weitere Vorbehalte zu haben?« »Nach langjähriger Praxis sehe und höre ich selten etwas, das mir ganz neu wäre. Schon zweimal zuvor hat man mir von Ereignissen oder Träumen berichtet, die mit dem, was Sie erlebt haben, auf einer Linie lagen.« »Haben Sie Ihre anderen Patienten davon überzeugt, dass es sich nur um Träume handelt?« »Gewiss. Beide. Das heißt, ich konnte sie bei ihren ersten Besuchen davon überzeugen.« »Und gaben sie sich damit zufrieden?« »Anfangs ja. Später nicht mehr so ganz. Aber beide sind innerhalb eines Jahres nach ihrem ersten Besuch bei mir gestorben.« »Ach! Na ja, dafür bin ich jedenfalls noch zu jung.« »Vincent, ich möchte, dass Sie in ungefähr einem Monat wiederkommen.« »Das werde ich. Falls sich die Halluzination oder der Traum wiederholt, auch wenn ich mich ganz wohl fühlen sollte.« In der Folgezeit begann Charles Vincent den Zwischenfall allmählich zu vergessen. Nur manchmal, wenn er mit seiner Arbeit im Rückstand war, erinnerte er sich lächelnd daran. »Na ja, wenn es sehr schlimm wird, kriege ich vielleicht wieder so einen Schlafwandelanfall und kann alles aufarbeiten. Doch wenn es tatsächlich eine andere Zeitdimension gibt und ich nach Belieben in sie eintreten könnte, dann käme mir das wahrscheinlich recht oft sehr gelegen.« Das Gesicht des Mannes bekam Charles Vincent niemals zu sehen. Es ist gewöhnlich sehr dunkel in diesen Klubs, und im »Coq Bleu« ist es geradezu wie in einer Gruft. Vincent besuchte derartige Etablissements höchstens etwa einmal im Monat, zumeist nach dem Kino, wenn er noch keine Lust hatte, zu Bett zu gehen, oder manchmal, wenn er ganz einfach ruhelos war. Die Bürger glücklicherer Staaten sind vielleicht mit den Mysterien dieser Klubs nicht so vertraut. In Vincents Staat darf in den Bars als einziges alkoholisches Getränk Bier ausgeschenkt werden, und einen richtigen Drink bekommt man nur in den Klubs, wo allerdings ausschließlich Mitglieder zugelassen sind. Zwar hatten sogar so kleine Klubs wie der »Coq Bleu« schon dreißigtausend Mitglieder, und das brachte bei einem Dollar pro Jahr schon einen ganz hübschen Profit, denn die kleinen, nummerierten Mitgliedskarten kosteten im Druck einen Penny pro Stück, und das Mitglied trug seinen Namen selber ein. Aber jedes Mitglied musste eben so eine Karte besitzen oder, um eingelassen zu werden, einen Dollar dafür bezahlen. Ein Unterhaltungsprogramm gab es in diesen Klubs nicht. Es gab überhaupt nichts als einen winzigen Barraum, der in fast vollständiger Dunkelheit lag. Diese fast vollständige Dunkelheit war bei den Klubs eigentlich nur eine Gewohnheit, doch eine Gewohnheit, die zwingend war. Der Mann war da, dann war er nicht da, dann war er wieder da. Und immer war es dort, wo er saß, zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen. »Ich wüsste gern«, sagte er zu Vincent (und der Bar allgemein, obgleich keine anderen Gäste da waren und der Barmixer schlief), »ich wüsste gern, ob Sie Zubarins Buch über den Zusammenhang zwischen Extradigitalismus und Genie gelesen haben.« »Nie gehört«, erwiderte Vincent. »Weder von dem Buch noch von dem Mann. Glaube auch kaum, dass eines von beiden existiert.« »Ich bin Zubarin«, erklärte der Mann. Instinktiv versteckte Vincent seinen missgestalteten linken Daumen. Aber den hätte man bei dieser Beleuchtung ohnehin nicht sehen können, und er war ja verrückt, wenn er tatsächlich glaubte, dass zwischen dem Daumen und der Bemerkung des Mannes ein Zusammenhang bestand. Es war im Grunde auch gar kein doppelter Daumen. Er war also weder extradigital noch ein Genie. »Ich denke nicht daran, mich für Sie zu interessieren«, sagte Vincent. »Ich hatte gerade vor, aufzubrechen. Ich wollte den Barmixer nicht wecken, obwohl ich gern noch einen Drink gehabt hätte.« »Schneller getan als gesagt.« »Wie bitte?« »Ihr Glas ist voll.« »Wirklich?
Ja, stimmt. Ist das ein Trick?« »Trick ist eine Bezeichnung für etwas, das für unseren Verstand entweder zu unlogisch oder zu verwirrend ist. An einem langen, frühen Morgen vor ungefähr einem Monat jedoch hätten auch Sie diesen Trick ausführen können, und zwar ebenso geschickt.« »Wirklich? Wieso wissen Sie etwas von meinem langen, frühen Morgen, angenommen, es hätte tatsächlich so etwas gegeben?« »Ich habe Sie eine Zeitlang beobachtet. Nur wenige andere Menschen haben die Fähigkeit, Sie zu beobachten, wenn Sie sich in der anderen Dimension befinden.« Nun schwiegen sie eine Weile; Vincent sah auf die Uhr und wollte gehen. »Ich wüsste gern«, sagte da der Mann im Dunkeln, »ob Sie das Buch von Schimmelpenninck über das Sexagintal und das Duodezimal in den Chaldäer-Mysterien gelesen haben.« »Ich habe es nicht gelesen, und ich bezweifle, dass es überhaupt jemand gelesen hat. Ich nehme an, dass Sie auch Schimmelpenninck sind und dass Sie den Namen gerade eben erst erfunden haben.« »Stimmt, ich bin Schimm, aber ich habe den Namen schon vor vielen Jahren erfunden.« »Sie langweilen mich ein bisschen, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihren Glasfüll-Trick noch einmal anbrächten«, sagte Vincent. »Soeben geschehen. Und Sie langweilen sich nicht - Sie haben Angst.« »Wovor?« fragte Vincent, dessen Glas sich wahrhaftig wieder gefüllt hatte. »Vor dem Wiedereintritt in einen Traum, von dem Sie nicht sicher sind, ob es sich überhaupt um einen Traum handelt. Aber es hat oft seine Vorteile, unsichtbar und unhörbar zu sein.« »Können Sie sich unsichtbar machen?« »Habe ich das nicht gerade getan, als ich hinter die Bar ging und Ihnen einen Drink einschenkte?« »Wie haben Sie das gemacht?« »Ein rasch ausschreitender Mensch bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr acht Kilometer pro Stunde. Vervielfältigen Sie das mit Sechzig, der Zahl der Zeit. Wenn ich meinen Hocker verlasse und hinter die Bar gehe, bewege ich mich mit einer Geschwindigkeit von vierhundertachtzig Kilometer pro Stunde. Deswegen bin ich für Sie unsichtbar - vor allem, wenn ich mich bewege, während Sie blinzeln.« »Aber eins kann da nicht stimmen. Sie mögen hinter die Bar gegangen und wieder zurückgekommen sein. Aber Sie hätten nicht einschenken können.« »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Beherrschung der Flüssigkeiten und anderer Gegenstände dem Anfänger noch nicht gegeben ist? Für uns hingegen gibt es viele Möglichkeiten, die Trägheit der Materie zu überlisten.« »Ich halte Sie für einen Schwindler. Kennen Sie Dr. Mason?« »Ich habe von ihm gehört, und auch davon, dass Sie ihn aufgesucht haben. Ich weiß von seinen vergeblichen Versuchen, in ein bestimmtes Geheimnis einzudringen. Aber ich habe mit ihm noch nicht über Sie gesprochen.« »Ich halte Sie noch immer für einen Scharlatan. Können Sie mich in den Traumzustand von vor einem Monat zurückversetzen?« »Das war kein Traumzustand. Aber ich kann Sie wieder hineinversetzen.« »Beweisen Sie es.« »Behalten Sie die Uhr im Auge. Glauben Sie, dass ich mit dem Finger drauf zeigen und sie für Sie anhalten kann? Für mich ist sie bereits stehengeblieben.« »Nein, das glaube ich nicht. Doch, ich muss es wohl glauben, denn wie ich sehe, haben Sie es bereits getan. Aber das kann einfach ein weiterer Trick von Ihnen sein. Ich weiß nicht, an welcher Steckdose die Uhr angeschlossen ist.« »Ich auch nicht. Kommen Sie mit an die Tür. Schauen Sie sich alle Uhren an, die von hier aus zu sehen sind. Stehen sie nicht allesamt still?« »Ja. Aber vielleicht ist in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen.« »Sie wissen genau, dass das nicht der Grund sein kann. Da drüben, in den Gebäuden, sind trotz der späten Stunde noch ein paar Fenster hell.« »Warum treiben Sie Ihren Scherz mit mir? Ich bin weder drinnen noch draußen. Entweder Sie verraten mir das Geheimnis, oder Sie erklären, dass Sie es mir nicht sagen werden.« »Das Geheimnis ist nicht so einfach. Man kommt nur dahinter, wenn man die ganze Philosophie und die Wissenschaften erarbeitet hat.« »Das kann man in einem Menschenleben unmöglich schaffen.« »In einem gewöhnlichen nicht, da haben Sie recht. Aber das Geheimnis des Geheimnisses, wenn ich mich mal so ausdrücken darf, besteht darin, dass man einen Teil davon als Hilfsmittel zum Lernen benutzen muss. Sie könnten während Ihrer normalen Lebensspanne das niemals alles verarbeiten; doch wenn Ihnen der erste Schritt gewährt
wird, wenn Sie, sagen wir, sechzig Bücher in derselben Zeit lesen könnten, die Sie normalerweise brauchen, um eins zu lesen; wenn Sie eine Minute nachdenken und dabei nur eine Sekunde verbrauchen könnten; wenn Sie Ihre Tagesarbeit in acht Minuten erledigen und somit Zeit für andere Dinge finden könnten - auf diese Weise könnte ein Anfang gemacht werden. Ich muss Sie allerdings warnen. Es ist ein Wettrennen, selbst für die Intelligentesten.« »Ein Wettrennen? Was für ein Wettrennen?« »Ein Wettrennen zwischen Erfolg, will sagen, dem Leben, und Misserfolg, will sagen, dem Tod.« »Kommen Sie mir doch nicht so dramatisch! Aber wie kann ich mich in den Zustand versetzen und wieder herauskommen?« »Oh, das ist einfach - so leicht, dass es tatsächlich wie ein Trick aussieht. Warten Sie - hier; ich zeichne Ihnen zwei Diagramme auf. Prägen Sie sich die Zeichnungen sorgfältig ein. Rufen Sie sich die erste vor Ihr inneres Auge, und Sie befinden sich im Zustand. Nun rufen Sie sich die zweite ins Gedächtnis, und Sie sind wieder heraus.« »So einfach ist das?« »So täuschend einfach. Der Trick besteht darin, zu lernen, warum es funktioniert - falls Sie Erfolg haben, das heißt also, leben wollen.« Und so verließ Charles Vincent den Mann und begab sich nach Haus. Er legte die Strecke in weniger als fünfzehn Sekunden zurück. Das Gesicht des Mannes aber hatte er immer noch nicht gesehen. Es hat seine Vorteile - intellektueller, finanzieller und amouröser Art -, wenn man sich nach Belieben in den beschleunigten Zustand versetzen kann. Es ist ein Geschicklichkeitsspiel. Man muss gut achtgeben, dass man dabei nicht erwischt wird und das, was sich im Normalzustand befindet, weder zerbricht noch beschädigt. Vincent fand immer acht oder zehn Minuten, in denen er unbeobachtet war, um sein Tagespensum zu erledigen. Und die fünfzehn Minuten der Kaffeepause benutzte er zu einem fünfzehnstündigen Streifzug durch die Stadt. Er empfand kindliches Vergnügen daran, Gespenst zu spielen: vor einem heranbrausenden Zug aufzutauchen, regungslos dazustehen, bis die Dampfpfeife schrillte, und dennoch nicht in Gefahr zu schweben, weil er ja fünf- bis zehnmal so schnell war wie der Zug; urplötzlich inmitten einer geschlossenen Personengruppe zu sitzen, zu sehen, wie sie ihn anstarrten, und dann wieder ebenso plötzlich zu verschwinden; in sportliche Wettkämpfe und Spiele einzugreifen, in den Boxring zu steigen und dem unbeliebten Boxer ein Bein zu stellen, ihn zu behindern oder gar niederzuschlagen; wie der Blitz, mit einer Geschwindigkeit von zweitausend Stundenkilometer, über ein Eishockeyfeld zu jagen und Dutzende von Toren auf jeder Seite zu schießen, während die Leute ringsum nur merkten, dass irgendetwas Seltsames geschah. Es machte Spaß, durch einfaches Absingen kleiner Liedchen Fensterscheiben zum Bersten zu bringen, denn im beschleunigten Zustand liegt die Stimme für die Umwelt in der Frequenz sechzigmal höher, als sie wirklich ist, auch wenn sie in den eigenen Ohren völlig normal klingen mag. Aus diesem Grund war er für die anderen Menschen unhörbar. Auch kleinere Diebstähle und Tricks belustigten ihn. Er konnte einem Mann die Brieftasche aus dem Anzug stibitzen und schon zwei Straßenecken weiter sein, wenn sich das Opfer auf die Berührung hin endlich umdrehte. Und während der Mann noch nach der Polizei plärrte, konnte er wiederkommen und ihm die Brieftasche kurzerhand in den offenen Mund stopfen. Er konnte in die Wohnung einer Dame eindringen, die eben einen Brief schrieb, das Blatt nehmen, drei Zeilen darauf kritzeln und wieder verschwunden sein, ehe der Schrei aus ihrer Kehle drang. Er konnte einem gehenden Mann Schuh und Strumpf vom Fuß ziehen. Noch nie, seit Anbeginn aller Zeiten, hat ein Mensch ein so dummes, verblüfftes Gesicht gemacht wie derjenige, dem dieses zuerst passierte. Sich plötzlich, mitten auf einer belebten Straße, halb barfuß zu finden ist wahrlich ein nie dagewesenes Erlebnis. Vincent konnte die Brille eines Mannes dunkelgrün anmalen und damit irgendwie die gesamte Persönlichkeit dieses Mannes verändern, denn dieser fing plötzlich krampfhaft an zu schlucken, wedelte sinnlos mit den Armen und entwickelte ganz neue Verhaltensweisen. Oder Vincent nahm einem armen Opfer beim ersten Zug die Zigarette aus dem Mund, rauchte sie rasch bis zum glühenden Ende und steckte sie ihm dann wieder zwischen die Lippen. Er nahm den Essenden auf
dem Weg vom Teller zum Mund den Bissen von der Gabel oder legte ihnen zwischen zwei Löffeln Suppe Schildkrötenbabys oder lebende Fische auf den Teller. Und einmal, als eine Köchin gerade ein Ei über der Pfanne aufschlug, fing er das Dotter und Eiweiß in der Luft auf und setzte statt dessen eine voll ausgewachsene, schnatternde Ente hinein. Zum größten Unbehagen von Köchin und Tier. Er fesselte die Hände von Menschen, die sich begrüßten, mit einer kräftigen Kordel zusammen und verknotete die Schnürsenkel von Tanzenden. Er entfernte während des Spielens Gitarrensaiten und stahl das Mundstück eines Horns, als der Bläser mal Luft holen musste. Er zog Personen beiderlei Geschlechts die Reißverschlüsse auf, wenn sie in ihrer feierlichsten Pose dastanden, und ihm war es (vermutlich) auch zuzuschreiben, dass Feldman nicht zum Bürgermeister gewählt wurde. Dieser Vorfall ereignete sich übrigens in aller Öffentlichkeit, und Feldman war anschließend restlos erledigt. Diese Fähigkeiten können für eine ziemlich lange Zeit neu und interessant sein. Schwierig war es natürlich nur, größere Gegenstände zu bewegen. Vincent hatte immer schon mal ein Pferd mitten in eine bestimmte Versammlung bringen wollen. Ein Pferd ist jedoch zu schwer, um im beschleunigten Zustand transportiert zu werden. Vincent zeichnete das Diagramm auf, das ihm der Gesichtslose gegeben hatte, und hielt es dem einzigen Pferd vor die Nase, das ihm bekannt war. Aber das Pferd kapierte nicht. Es wollte und wollte nicht in den beschleunigten Zustand gelangen. »Ich muss entweder ein klügeres Pferd auftreiben oder eine neue Methode zur Fortbewegung schwerer Gegenstände finden«, sagte sich Charles Vincent. Vincent fesselte zwei völlig Fremde aneinander, die an einer Verkehrsampel auf Grün warteten. Haltsuchende, die sich an Laternenpfähle lehnten, band er an den Pfosten fest und stahl den Ärmsten, die falsche Zähne tragen mussten, die Prothese aus dem Mund. Mit Fettstift schrieb er verwirrende, beängstigende Worte auf den Teller, den ein Speisender sich gerade füllen wollte. Beim Kartenspiel vertauschte er den Spielern die Karten, die sie schon in der Hand hielten, und manipulierte hinterlistig sogar mit Billardkugeln. Golfbälle entfernte er, während der Spieler zum Schlag ausholte, und spießte statt dessen einen Zettel mit der Aufschrift »Du hast danebengehauen« in den Boden. Basebälle stibitzte er im Augenblick des Auftreffens aus dem Handschuh des Fängers und deponierte statt dessen lebendige Spatzen, die noch nicht flügge waren. In den Spielregeln fand man über derartige Vorkommnisse nichts. Er rasierte Schnurrbärte und Haarschöpfe. Mehrmals suchte er eine Frau auf, die er nicht leiden konnte, schor sie kahl und vergoldete ihr dann die Glatze. Während Bankkassierer Geld zählten, drang er in aller Ruhe bei ihnen ein, um sich auf unrechtmäßige Art zu bereichern. Er zerschnitt Zigaretten mit der Schere oder blies Streichhölzer und Feuerzeug aus, bis der verwirrte Raucher schließlich einen Nervenzusammenbruch bekam und anfing zu weinen, weil er es offensichtlich nicht fertigbrachte, sich eine Zigarette anzuzünden. Er zog den Polizisten die Schusswaffen aus den Holstern und schob an ihrer Stelle Wasserpistolen hinein. Und freute sich diebisch, wenn er einem Gehenden einen Ärmel vom Mantel riss. Ein Mantel mit fehlendem Ärmel wirkt irgendwie komischer als mit zwei. Er hakte Hunde von ihrer Leine los und vertauschte sie mit Spielzeughunden auf vier Rädern. Er setzte Frösche in Wassergläser und deponierte auf Bridgetischen angezündete Feuerwerkskörper. Er stellte Armbanduhren an Handgelenken falsch ein und spielte den Besuchern der Herrentoilette üble Tricks, indem er sie dazu brachte, sich nass zumachen. »Im Herzen bin ich immer ein Junge geblieben«, meinte Charles Vincent selber dazu. Außerdem suchte er sich in jenen ersten Tagen der frisch gewonnenen Kontrolle über diesen, seinen neuen Zustand in materieller Hinsicht zu sichern, das heißt, er verschaffte sich auf unrechtmäßige Art und Weise Geldmittel und eröffnete, um für eine potentielle Notzeit vorzusorgen, in verschiedenen Städten unter verschiedenen Namen mehrere Bankkonten. Er schämte sich auch der Streiche nicht, die er der unbeschleunigten Menschheit spielte. Denn die Leute wirkten, wenn er sich in seinem Zustand befand, wie Statuen auf ihn: kaum lebendig, kaum beweglich, sowohl blind als auch taub. Und es so komischen Statuen gegenüber an
Respekt mangeln zu lassen ist etwas, dessen man sich gewiss nicht zu schämen braucht. Überdies und ebenfalls, weil er im Herzen ein Junge geblieben war - trieb er seine Scherze auch mit den Mädchen. »Ich bestehe nur noch aus grünen und blauen Flecken«, beklagte sich Jenny eines Tages. »Meine Lippen sind wund, meine Vorderzähne wackeln. Wenn ich nur wüsste, was das eigentlich ist!« Dabei hatte er ihr gar nicht weh tun wollen. Er hatte sie nämlich aufrichtig gern und beschloss, in Zukunft behutsamer vorzugehen. Trotzdem war es lustig, sie hier und dort, an den unmöglichsten Stellen zu küssen und ihr auch andere kleine Beweise seiner Zuneigung zu geben, wenn er sich im Zustand befand und wegen seiner Geschwindigkeit für sie unsichtbar war. Sie war eine wirklich sehr hübsche Statue und durchaus kein Spielverderber. Doch außer ihr gab es noch einige andere. »Sie sehen auf einmal viel älter aus«, stellte einer seiner Kollegen eines Tages fest. »Achten Sie nicht auf Ihre Gesundheit? Haben Sie Sorgen?« »Im Gegenteil«, antwortete Vincent. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich.« Aber er hatte jetzt Zeit für so viele Dinge - eigentlich für alles. Er sah nicht ein, weshalb er nicht alles lernen sollte, was es auf der Welt gab, solange er sich fünfzehn Minuten frei nehmen und damit fünfzehn Stunden gewinnen konnte. Vincent war ein schneller, aber gründlicher Leser. Er konnte jetzt hundertzwanzig bis zweihundert Bücher an einem Abend und in einer Nacht durchlesen; außerdem schlief er auch in beschleunigtem Zustand und war innerhalb von acht Minuten vollkommen erholt. Zuerst lernte er Sprachen. Man kann das fließende Lesen einer Sprache in dreihundert Stunden Weltzeit oder dreihundert Minuten (fünf Stunden) beschleunigter Zeit erlernen. Und wenn man die Sprachen der Reihe nach nimmt, wenn man bei denen der eigenen Sprache ähnlichsten beginnt und nach und nach zu den fremdartigeren übergeht, besteht überhaupt keine ernsthafte Schwierigkeit. Als Grundlage eignete er sich zunächst einmal fünfzig an; weitere konnte er, je nach Bedarf, am einen oder anderen Abend hinzufügen. Gleichzeitig begann er Wissen zu sammeln und zu konsolidieren. In der Weltliteratur gibt es, genau genommen, nicht mehr als zehntausend Bücher, die wirklich des Lesens und Liebens wert sind. Diese arbeitete er mit größtem Vergnügen durch, und zwei- oder dreitausend davon schienen ihm sogar bedeutend genug, um für ein späteres Wiederfesen beiseitegelegt zu werden. Die Weltgeschichte jedoch unterliegt größeren Schwankungen. Hier ist es notwendig, Werke und Quellen zu lesen, die ihrer Form nach des Lesens nicht wert wären. Das gleiche ist es bei der Philosophie. Mathematik, Geistes- und Naturwissenschaften konnte er natürlich nicht ganz so schnell verarbeiten. Dennoch - bei der vielen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, konnte er praktisch alles beherrschen lernen. Noch nie hat ein Menschenverstand einer Idee Ausdruck verliehen, die nicht von einem anderen normalen menschlichen Verstand erfasst werden kann, wenn dieser genügend Zeit zur Verfügung hat und seine Aufgabe in der entsprechenden Reihenfolge, im richtigen Zusammenhang und nach ausreichender Vorbereitung angeht. Und oft und immer öfter hatte Vincent das Gefühl, an die Finger des Geheimnisses zu rühren. Und jedes Mal, wenn er ihm nahekam, nahm er ganz schwach den Geruch des Höllenpfuhls wahr. Denn er hatte alle Hauptpunkte der Menschheitsgeschichte oder vielmehr die meisten der vertretbaren oder wenigstens denkbaren Theorien der Menschheitsgeschichte eingehend untersucht. Es war sehr schwierig, die Hauptlinie nicht zu verlieren, jenen Doppelpfad von Rationalismus und Offenbarung, der eigentlich doch stets zu immer vollerer Entwicklung, zu Entfaltung, Wachstum und Vollkommenheit führen soll. Bisweilen hatte er das Gefühl, unberechtigt in die Geschichte von etwas anderem als nur der Menschheit einzudringen. Denn die Hauptlinie dieses Themas war oft sehr undeutlich, ja beinahe ausgelöscht; sie führte durch Nebel und Miasma. Als Kardinalpunkte der Menschheitsgeschichte hatte Vincent von jeher den Sündenfall und die Erlösung akzeptiert. Jetzt aber gewann er das Gefühl, dass keines von beiden nur ein einziges Mal geschehen war, sondern dass beide sich ununterbrochen wiederholten; dass eine Hand aus dem uralten Pfuhl heraufgriff und ihren Schatten über die Menschen warf. Und in seinen Träumen —
wenn er im Zustand war, träumte er stets besonders lebhaft - sah er diese Hand als sechsfingriges Ungeheuer, das nach ihm langte. Und musste allmählich erkennen lernen, dass dieses Abenteuer, in dem er sich gefangen hatte, gefahrvoll und tödlich war. Sehr gefahrvoll. Sehr tödlich. Ein schicksalhaftes Buch, das er sich immer wieder vornahm und das ihn ständig vor neue Rätsel stellte, war »Der Zusammenhang zwischen Extradigitalismus und Genie«, das Werk jenes Mannes, dessen Gesicht er, in einer seiner Manifestationen, niemals gesehen hatte. Es versprach mehr, als es hielt, und es deutete mehr an, als es sagte. Die darin entwickelte Theorie war langweilig und dürftig, künstlich gestützt von Bergen unverdauter, zweifelhafter Angaben. Es konnte Vincent nicht davon überzeugen, dass geniale Persönlichkeiten - selbst wenn Übereinstimmung darüber herrschte, wer oder was sie waren - oftmals eine Missbildung in Gestalt überzähliger Finger oder Zehen zumindest in rudimentärer Form besaßen. Und er zerbrach sich den Kopf über die Frage, wieso das einen Unterschied machen sollte. Dennoch, da gab es Hinweise auf einen Korsen, der stets eine Hand versteckt hielt; auf einen noch früheren und noch seltsameren Befehlshaber, der stets einen eisernen Handschuh trug; auf einen weiteren Mann mit Handschuh zwischen diesen beiden. Es gab Hinweise, die vermuten ließen, dass jener vielseitig begabte Mann, dass Leonardo selber, der manchmal die Hände seiner Menschen und häufig auch die von Ungeheuern mit sechs Fingern zeichnete, mit dieser Missbildung behaftet war. Eine Gleiches andeutende Bemerkung über Caesar fand Vincent nicht schlüssig. Bekannt ist, dass Alexander eine geringfügige Missbildung hatte. Nicht bekannt ist, welcher Natur diese war. Der Autor deutete an, dass es sich um eben diese gehandelt habe. Dasselbe wurde von Gregor und Augustinus, von Benedikt, Albertus und Aquino behauptet. Aber ein Mann mit einer Missbildung durfte nicht Priester werden; falls diese also doch eine gehabt hatten, so musste sie sehr rudimentär gewesen sein. Es wurden Argumente für Carolus Magnus und Mohammed, für Saladin, den Reiter, und für Echnaton, den König, angeführt; für Homer: eine seleukidisch-griechische Statuette zeigt ihn, wie er seine Erzählung mit sechs Fingern auf einem unbekannten Saiteninstrument begleitet; für Pythagoras; für Buonototti, Santi, Theotokopolous, van Rijn, Robusti. Und noch weiter in der Vergangenheit, und daher weniger stichhaltig beweisbar, wurden die Beispiele immer zahlreicher. Zubarin führte achttausend auf. Er behauptete, dass es sich um geniale Menschen gehandelt habe. Und um extradigitale. Charles Vincent betrachtete grinsend seinen missgestalten gespaltenen Daumen. »Zumindest befinde ich mich in guter, wenn auch etwas eintöniger Gesellschaft. Aber auf was, im Namen der dreifachen Zeit, will er eigentlich hinaus?« Nicht lange darauf begann Vincent im State Museum Keilschrifttafeln zu untersuchen. Es handelte sich um eine bruchstückhafte, nicht fortlaufende Serie über die Theorie der Zahlen, die für den jetzt enzyklopädisch gebildeten Charles Vincent nicht allzu schwer zu entziffern war. Ein Teil der Inschrift lautete: »Über die Divergenz der Grundzahl selber und die Verwirrung, entstanden durch - Denn es ist die Fünf, oder es ist die Sechs, oder die Zehn oder die Zwölf, oder die Sechzig oder die Hundert, oder die Dreihundertsechzig oder die Doppelhundert, die Tausend. Der Grund, von den Menschen nicht klar verstanden, liegt darin, dass die Sechs und das Dutzend zuerst kommen, und die Sechzig ist ein Kompromiss, ein Zugeständnis an die Menschen. Denn die Fünf und die Zehn kommen erst später und sind nicht älter als die Menschen selbst. Es wird gesagt und anerkannt, dass die Menschen nach der Zahl der Finger an ihren Händen mit Fünf und Zehn zu zählen begannen. Doch vor den Menschen zählten die . . ., weil sie ... hatten, mit Sechs und Zwölf. Sechzig jedoch ist die Zahl der Zeit, teilbar durch beide, denn beide müssen zusammen in der Zeit leben, wenn auch nicht auf derselben Ebene der Zeit . . .« Die übrigen Schriften waren zum großen Teil überall verstreut. Und während Charles Vincent versuchte, die Hunderte von ungeordneten Tontafeln in die richtige Reihenfolge zu bringen, kreierte er die Legende vom Gespenst im Museum. Denn dort verbrachte er seine vielstündigen Nächte mit Studieren und Klassifizieren. Er konnte natürlich nicht ohne Licht arbeiten, und wenn er
still über seinen Studien saß, war er für alle deutlich zu sehen. Doch wenn die langsamen Wärter versuchten, ihn zu fassen, musste er sich, um ihnen auszuweichen, bewegen, und dann machte ihn die Geschwindigkeit für sie unsichtbar. Sie waren wirklich ungemein lästig und mussten unbedingt abgeschreckt werden. Vincent erteilte ihnen eine kräftige Lektion, woraufhin sich der Eifer, mit dem sie ihn einzufangen suchten, ein wenig abkühlte. Er fürchtete nur, sie würden eines Tages auf ihn schießen, um festzustellen, ob er ein Mensch war oder ein Geist. Einem Schuss, den er sah, konnte er mühelos ausweichen, denn eine Kugel kam nicht schneller als mit dem Zweieinhalbfachen seiner eigenen Höchstgeschwindigkeit. Ein von ihm unbemerkter Schuss jedoch konnte ihn lebensgefährlich, ja sogar tödlich verletzen, bevor er in der Lage war, sich aus der Schussbahn zu drehen. Auf Vincent war auch die Entstehung weiterer Gespenstersagen zurückzuführen, wie etwa die des Gespenstes der Central Library, der University Library und der John Charles Underwood Jr. Technical Librarv. Das Auftauchen einer derartigen Vielzahl von Geistern jedoch bewirkte, dass sie sich gegenseitig unglaubhaft machten und diejenigen, die doch daran glaubten, der Lächerlichkeit preisgaben. Selbst jene, die ihn tatsächlich als Gespenst gesehen hatten, mochten nicht zugeben, an Geister zu glauben. Charles Vincent war wieder einmal zur allmonatlichen Untersuchung bei Dr. Manson. »Sie sehen erschreckend aus«, sagte der Arzt. »Ich weiß nicht wie, aber irgendwie haben Sie sich verändert. Wenn Sie die Möglichkeit dazu haben, sollten Sie eine längere Erholungspause einlegen.« »Ich habe die Möglichkeit«, erwiderte Vincent. »Und ganz genau das werde ich jetzt auch tun. Ich werde ein bis zwei Jahre pausieren.« Denn er begann sich über die Zeit zu ärgern, die er in der Normalgeschwindigkeit der Welt verbringen musste. Von nun an galt er überall als Eremit, denn er war ungesellig und schweigsam, weil er es lästig fand, zum Zweck der Konservation in den Normalzustand zurückkehren zu müssen. In seinem Spezialzustand nämlich klangen die Stimmen der anderen Menschen so tief, dass sie nicht an sein Ohr drangen. Bis auf die Stimme des Mannes, dessen Gesicht er niemals sah. »Sie machen sehr langsame Fortschritte«, sagte der Mann. Sie „saßen wieder in einem dunklen Klub. »Diejenigen, die keine besseren Fortschritte machen, können wir nicht gebrauchen. Schließlich sind Sie ja nur ein Rudimentärer. Vermutlich haben Sie sehr, sehr wenig der uralten Rasse in sich. Zum Glück vernichten sich diejenigen, die keine Fortschritte machen, selber. Sie hatten doch nicht etwa geglaubt, dass es nur zwei Zeitphasen gibt, oder?« »Seit einer Weile vermute ich, dass es viel mehr gibt«, antwortete Charles Vincent. »Und Sie sind sich klar darüber, dass ein Schritt allein nicht zum Erfolg führen kann?« »Ich bin mir klar darüber, dass dieses Leben, das ich jetzt führe, allem widerspricht, was wir über die Gesetze von Masse, Kraft und Beschleunigung wissen, und außerdem den Gesetzen von der Erhaltung der Energie, den Fähigkeiten des Menschen, der moralischen Kompensation, der Goldenen Mitte und der Kapazität der menschlichen Organe. Ich weiß, dass ich Energie und Erleben nicht um das Sechzigfache steigern kann, ohne entsprechend mehr Nahrung zu mir zu nehmen, und dennoch tue ich eben das. Ich weiß, dass ich von acht Minuten Schlaf in vierundzwanzig Stunden nicht existieren kann, und dennoch tue ich das ebenfalls. Ich weiß, dass ich logischerweise nicht viertausendjährige Erfahrung in eine Lebensspanne hineinzwängen kann, doch unlogischerweise sehe ich nicht ein, was mich daran hindern sollte. Sie aber sagen, dass ich mich selbst vernichten werde?« »Diejenigen, die nur den ersten Schritt tun, werden sich selbst vernichten.« »Und wie tut man den zweiten Schritt?« »Man wird Sie im gegebenen Moment vor die Wahl stellen.« »Ich habe das unheimliche Gefühl, dass ich diese Wahl verweigern werde.« »Ganz recht. Nach den augenblicklichen Anzeichen zu urteilen, werden Sie sie verweigern. Sie sind sehr anspruchsvoll.« »Sie haben einen gewissen Geruch an sich, alter Mann ohne Gesicht. Ich kenne diesen Geruch. Es ist der Geruch des Pfuhls.« »Haben Sie so lange zu dieser Erkenntnis gebraucht? Aber es stimmt, so lautet der Name.« »Es ist der Schlamm dieses Pfuhls, der gleiche, aus dem die Tontafeln geformt wurden, der Schlamm des uralten Landes
zwischen den Strömen. Ich habe von einer sechsfingrigen Hand geträumt, die aus dem Pfuhl emporwuchs und ihren Schatten über die Menschen warf aus diesem Schlamm!« »Vergessen Sie nicht, dass es in einem anderen Buch heißt, ein anderer habe den Menschen aus diesem Schlamm geschaffen.« »Und ich, alter Mann, habe gelesen: >Zuerst zählten die Menschen nach der Zahl der Finger an ihren Händen mit Fünf und mit Zehn. Doch vor den Menschen zählten die . . ., weil sie ... hatten, mit Sechs und mit Zwölf.< Leider hat die Zeit auf jenen Tafeln Lücken hinterlassen.« »Das stimmt. Die Zeit hat, in einer ihrer Manifestationen, geschickt und absichtsvoll diese Lücken hinterlassen.« »Ich kann den Namen desjenigen, der in eine dieser Lücken gehört, nicht finden. Können Sie es?« »Ich bin ein Teil des Namens, der in eine dieser Lücken gehört.« »Und Sie sind der Mann ohne Gesicht. Aber warum überschatten und beherrschen Sie die Menschen? Zu welchem Zweck?« »Es wird sehr lange dauern, bis Sie die Antwort auf diese Fragen erfahren.« »Wenn ich vor die Wahl gestellt werde, dann werde ich sehr vorsichtig abwägen. Aber sagen Sie mir, Mann ohne Gesicht, der aus dem Pfuhl kommt: Gehören Pfuhl und Männer ohne Gesicht nicht eigentlich in die Romantik des 19. Jahrhunderts?« »In jenem Jahrhundert herrschte ein Wesenszug, der uns beinahe entlarvt hätte.« Nun legte sich eine Gewisse Kälte über Charles Vincents Leben, obgleich er noch immer seine außergewöhnlichen Kräfte besaß. Und selten nur noch trieb er seinen Schabernack mit den anderen Menschen. Nur noch mit Jennifer Parkey. Seltsam, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte! In der normalen Welt kannte er sie nur oberflächlich, und außerdem war sie um mindestens fünfzehn Jahre älter als er. Jetzt aber wirkte sie wegen ihrer Jugendlichkeit anziehend auf ihn, und alle Streiche, die er ihr spielte, waren nur zärtlicher Natur. Denn erstens hatte diese alte Jungfer keine Angst, und da sie es zuvor niemals getan hatte, begann sie auch jetzt nicht, ihre Tür zu verschließen. Manchmal trat er dann hinter sie, strich ihr über das Haar, und sie sagte dann ruhig, aber -mit einem etwas rascheren Pulsschlag in ihrer Stimme: »Wer bist du? Warum lässt du dich nicht vor mir sehen? Du bist doch ein Freund, nicht wahr? Bist du ein Mensch oder etwas anderes? Wenn du mich streicheln kannst, warum kannst du dann nicht mit mir sprechen? Bitte, zeige dich mir. Ich schwöre, dass ich dir nicht weh tun werde.« Es war, als könne sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass irgendetwas Unbekanntes ihr Schaden zufügen könnte. Oder sie rief, wenn er sie umarmte oder sie in den Nacken küsste: »Wer immer du bist, du musst ein kleiner Junge sein, oder wenigstens genau wie ein kleiner Junge! Es ist sehr lieb von dir, dass du meine Sachen nicht zerbrichst, wenn du dich bewegst. Komm her, ich möchte dich in meine Arme schließen.« Nur sehr, sehr gute Menschen fürchten sich nicht vor dem Unbekannten. Wenn Vincent Jennifer in der normalen Welt begegnete, wozu er nun immer häufiger Gelegenheit hatte, musterte sie ihn nachdenklich, als ahne sie einen Zusammenhang. Und eines Tages sagte sie: »Ich weiß, dass es sehr unhöflich ist, aber ich muss Ihnen einfach sagen, dass Sie ganz und gar nicht gut aussehen. Waren Sie schon beim Arzt?« »Schon mehrere Male. Aber ich glaube eher, dass es mein Arzt ist, der sich untersuchen lassen sollte. Er hat schon immer so sonderbare Bemerkungen gemacht, doch jetzt scheint er wirklich ein bisschen aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.« »Wenn ich Ihr Arzt wäre, dann würde ich wahrscheinlich auch ein bisschen aus dem Gleichgewicht geraten. Aber Sie sollten unbedingt feststellen lassen, was mit Ihnen los ist. Sie sehen fürchterlich aus.« Er sah nicht fürchterlich aus. Er hatte zwar seine Haare verloren, aber sehr viele Männer verlieren mit dreißig Jahren die Haare, wenn möglicherweise auch nicht so plötzlich wie Vincent. Er beschloss, den Haarausfall dem Luftwiderstand zuzuschreiben. Wenn er in seinem Zustand war, schritt er schließlich mit einer Geschwindigkeit von über dreihundert Kilometern pro Stunde dahin. Das genügt durchaus, um einem die Haare vom Kopf zu blasen. Und könnte das nicht auch der Grund dafür sein, dass seine Haut faltiger und seine Augen müder wurden? Aber er wusste, dass das eigentlich Unsinn war. Denn in seinem Spezialzustand fühlte er keinen stärkeren Luftwiderstand als sonst. Er hatte seinen Ruf bekommen. Und
beschlossen, ihm nicht zu folgen. Er wollte nicht vor die Wahl gestellt werden; er hegte nicht den geringsten Wunsch, sich mit denen im Pfuhl gemein zu machen. Aber er beabsichtigte auch nicht, die großen Vorteile aufzugeben, die er der Natur gegenüber noch immer genoss.»Ich will beides«, sagte er sich. »Ich bin bereits ein Widerspruch und eine Unmöglichkeit an sich. >Man kann den Kuchen nicht gleichzeitig essen und ihn aufheben.< Dies Sprichwort ist nur die erste Fassung des Gesetzes vom moralischen Ausgleich. >Man kann nicht mehr aus einem Korb nehmen, als er enthalte Ich aber lebe seit langem im Verstoß gegen die Naturgesetze. >Es gibt keinen Weg ohne Biegung.< >Wer tanzen will, muss die Musik bezahlen.< >Alles, was hochsteigt, kommt wieder herunter.< Aber sind Sprichwörter tatsächlich allgemeingültige Gesetze? Gewiss. Ein wahres Sprichwort besitzt die Kraft eines allgemeingültigen Gesetzes, ist lediglich eine andere Fassung desselben. Ich aber habe mich gegen die allgemeingültigen Gesetze vergangen. Bleibt abzuwarten, ob ich mich straflos gegen sie vergangen habe. >Auf jede Aktion folgt eine Reaktion.< Wenn ich mich weigere, auf sie zu hören, werde ich eine heftige Reaktion auslösen. Der Mann ohne Gesicht hat mir gesagt, dass es auf ewig ein Wettrennen zwischen dem umfassenden Wissen und der Vernichtung sein wird. Nun gut, ich werde den Kampf mit ihnen aufnehmen.« Nun begannen sie ihn zu verfolgen. Er wusste, dass sie sich in einem Zustand befanden, der seinem gegenüber um ebenso viel beschleunigt war. wie seiner gegenüber dem Normalzustand. Für sie war er die fast reglose Statue, die man von einem Toten kaum unterscheiden konnte. Für ihn waren sie durch ihre Geschwindigkeit unsichtbar und unhörbar. Sie fügten ihm Schmerzen zu und ließen nicht ab von ihm. Er aber weigerte sich immer noch, ihrem Rufe zu folgen. Als sie dann schließlich doch zusammentrafen, waren sie es, die zu ihm kamen. Sie materialisierten sich mitten in seinem Zimmer -Männer ohne Gesicht. »Die Wahl«, sagte einer. »Sie zwingen uns, geschmacklos zu sein und es auszusprechen.« »Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben«, antwortete Charles Vincent. »Sie riechen alle nach dem Pfuhl, nach jenem uralten Schlamm der Keilschrifttafeln aus dem Land zwischen den Strömen, nach den Wesen, die vor den Menschen waren.« »Er hat eine lange Zeit überdauert, und wir halten ihn für ewig. Aber der Garten, der ganz in der Nähe lag - wissen Sie, wie lange der Garten dauerte?« »Ich weiß es nicht.« »Nicht einen Tag. Alles hat sich an einem einzigen Tag abgespielt, und vor Einbruch der Nacht mussten sie hinaus. Sie selber hätten es doch sicher gern etwas dauerhafter, nicht wahr?« »Nein, nein. Das glaube ich nicht.« »Was haben Sie zu verlieren?« »Nur die Hoffnung auf die Ewigkeit.« »Aber Sie glauben doch nicht daran. Noch kein Mensch hat wirklich an die Ewigkeit geglaubt.« »Noch kein Mensch 'hat entweder ganz oder gar nicht daran geglaubt«, sagte Charles Vincent. »Zumindest kann sie niemals bewiesen werden«, stellte einer der Gesichtslosen fest. »Nichts ist bewiesen, bis es vorüber ist. Und wenn es vorüber ist, dann ist es auch aus mit dem Beweis. Und die ganze Zeit wäre man versucht zu fragen: >Was ist, wenn sie schließlich doch im nächsten Augenblick endet?<« »Ich denke -mir, wenn wir das Fleisch überleben, werden wir irgendeine Art von Gewissheit erlangen«, sagte Vincent. »Aber ihr könnt niemals ganz sicher sein, weder des Überlebens noch des Erlangens; und auch die Gewissheit könnt ihr nicht als gewiss akzeptieren. Wir aber, wir erfreuen uns eines Zustandes, der dem der Ewigkeit sehr nahe kommt. Wenn man die Zeit mit sich selber multipliziert und diesen Vorgang endlos wiederholt -- ist das nicht ein Zustand, der der Ewigkeit gleicht?« »Das glaube ich nicht. Aber ich will nicht so werden wie Sie. Einer von Ihnen hat mir gesagt, ich sei zu anspruchsvoll. Wollen Sie mir jetzt sagen, dass Sie mich vernichten werden?« »Nein. Wir werden nur zusehen, wie Sie vernichtet werden. Sie allein können das Wettrennen mit der Vernichtung nicht gewinnen.« Von da an hatte Charles Vincent das Gefühl, reifer geworden zu sein. Er wusste jetzt, dass er in Wahrheit nicht dazu bestimmt war, ein Poltergeist oder ein sechsfingriges Wesen aus dem Pfuhl zu sein. Er wusste, dass er in irgendeiner Form für jede Minute und jede Stunde, die er gewonnen hatte, bezahlen musste. Doch was er gewonnen hatte, das würde er bis zur Neige auskosten. Und was
überhaupt durch reines Aneignen menschlichen Wissens erreicht werden konnte, das würde er zu erreichen versuchen. Und nun verblüffte er Dr. Mason mit dem medizinischen Fachwissen, das er sich angeeignet hatte, während der Arzt ihn durch die Besorgnis, die er für Vincent zeigte, zum Lächeln brachte. Denn Vincent fühlte sich großartig. Möglich, dass er nicht mehr so aktiv war wie früher, aber das kam nur davon, dass er jetzt nicht mehr so viel von zielloser Tätigkeit hielt. Er war noch immer das Gespenst der Bibliotheken und Museen, musste aber zu seinem Erstaunen feststellen, dass Zeitungsberichte andeuteten, ein altes Gespenst habe das junge verdrängt. Seine geheimnisvollen Besuche bei Jennifer Parkey wurden jetzt auch seltener. Denn es bestürzte ihn jedes Mal, wenn er sie zu sich als Gespenst sagen hörte: »Deine Berührungen haben sich sehr verändert. Du Armer! Kann ich dir nicht irgendwie helfen?« Daraufhin entschied er, dass sie zu unreif war, um ihn jemals verstehen zu können, schätzte sie jedoch immer noch sehr. Seine Zuneigung dagegen übertrug er auf Mrs. Milly Maltby, eine Witwe, die mindestens dreißig Jahre älter war als er. Trotzdem entdeckte er an ihr eine Mädchenhaftigkeit, die ihn anzog. Sie war eine sehr kluge, sehr liebevolle Frau, und nach einer kleinen Panik beim erstenmal akzeptierte auch sie seine Besuche ohne Furcht. Sie trieben Schreibspiele miteinander, denn sie verständigten sich schriftlich. Milly schrieb eine Zeile und hielt dann den Zettel hoch in die Luft, wo er ihn verschwinden ließ. Nach einer halben Minute oder, nach ihrer Zeit, einer halben Sekunde, gab er ihn ihr mit seiner Antwort wieder zurück. Er war ihr' gegenüber zwar zeitlich stark im Vorteil, weil er weit mehr Gelegenheit hatte, sich Antworten auszudenken, doch sie war ihm an angeborener Geistesschärfe überlegen und daher von ihm nur schwer zu besiegen. Außerdem spielten sie Dame miteinander, wobei er sich zwischen den einzelnen Zügen häufig zurückziehen und ein Kapitel eines Kunstbuches lesen musste. Trotzdem schlug sie ihn immer wieder, denn ein Naturtalent kann sich mit angelerntem Wissen und festgelegten Verfahrensweisen durchaus messen. Doch Milly wurde er auf seine eigene Art ebenfalls untreu und interessierte sich nun - verlieben oder begeistern konnte er sich jetzt nicht mehr - für eine gewisse Mrs. Roberts, Urgroßmutter und mindestens fünfzig Jahre älter als er. Er hatte alle vorhandenen Fakten über die Anziehungskraft gelesen, die alte Menschen auf junge ausüben, konnte sich seine Zuneigung zu diesen drei Frauen aber dennoch nicht recht erklären. Schließlich befand er, dass diese drei Beispiele genügten, um ein allgemeingültiges Gesetz aufzustellen: Frauen haben einfach keine Angst vor einem Gespenst, auch wenn es sie berührt, unsichtbar ist und ohne Hände Zettel beschreibt. Verliebte Gemüter mögen dies schon seit langem gewusst haben, Charles Vincent jedoch mache diese Entdeckung vollkommen selbständig. Wenn man über ein Thema genügend Wissen gesammelt hat, enthüllt sich einem manchmal plötzlich das Gesamtschema - etwa wie ein Umriss auf einem Bild, den man zuvor nicht erkennen konnte. Und wenn man genug Wissen über alle Themen gesammelt hat, besteht dann nicht die Möglichkeit, dass sich ein Schema zeigt, das alle Themen regiert? Charles Vincent erlebte eine letzte Woge von Begeisterung. In einer langen Nacht, als er eine Quelle nach der anderen durchforschte und sie in seinen Gedanken ordnete, kam es ihm vor, als zeichne sich plötzlich das Schema ab - trotz all seiner überwältigenden Fülle der Einzelheiten klar und deutlich. »Jetzt weiß ich alles, was die im Pfuhl auch wissen«, sagte sich Vincent. »Und außerdem kenne ich ein Geheimnis, das sie nicht kennen. Ich habe das Wettrennen nicht verloren; ich habe es gewonnen. Ich kann sie in einem Punkt schlagen, in dem sie sich unüberwindlich glauben. Falls wir von heute an noch beherrscht werden müssen, dann wenigstens nicht mehr von denen. Jetzt fügt sich alles ineinander. Ich habe die endgültige Wahrheit gefunden, und sie sind es, die das Wettrennen verloren haben. Ich habe den Schlüssel. Jetzt kann ich alle Vorteile genießen, ohne den Preis der Niederlage und Vernichtung oder der Zusammenarbeit mit ihnen bezahlen zu müssen. Ich brauche mein Wissen jetzt nur noch zu vervollständigen, die Tatsachen zu veröffentlichen, und wenigstens ein Schatten wird von der Menschheit genommen werden. Draußen, in der normalen
Welt, dämmert nun beinahe der Morgen. Ein wenig werde ich noch hier sitzenbleiben und ausruhen. Dann werde ich hinausgehen und den Kontakt mit den richtigen Leuten aufnehmen, die diese Angelegenheit für mich erledigen können. Doch erst noch will ich hier ein wenig sitzenbleiben und ruhen.« Und als er da saß, in seinem Sessel, schlummerte er friedlich hinüber. Dr. Mason machte die folgende Eintragung in seinem privaten Tagebuch: »Charles Vincent, ein einwandfrei verbürgter Fall vorzeitigen Alterns, einer der eindeutigsten Fälle der gesamten Gerontologie. Ich kannte den Mann seit vielen Jahren und bezeuge an dieser Stelle, dass er vor einem Jahr, was seine äußere Erscheinung wie auch seinen Gesundheitszustand betrifft, völlig normal war. Da ich außerdem seinen Vater kannte, weiß ich, dass seine Altersangabe korrekt ist. Ich untersuchte den Patienten während der Zeit seiner Krankheit; es kann hinsichtlich seiner Identität, die außerdem durch Fingerabdrücke und andere Erkennungsmittel bestätigt wurde, keinerlei Zweifel geben. Hiermit bezeuge ich, dass Charles Vincent im Alter von dreißig Jahren an Altersschwäche starb; er wies das äußere Erscheinungsbild sowie den körperlichen Zustand eines Neunzigjährigen auf.« Dann fügte der Arzt noch weitere Notizen hinzu. »Wie in zwei anderen Fällen, die ich beobachten konnte, wurde die Krankheit von gewissen Halluzinationen und Träumen begleitet, die sich bei den drei Männern so stark glichen, dass man es beinahe nicht für möglich halten sollte. Für die Akten, und zweifellos zum Schaden meines ärztlichen Rufes, möchte ich dieselben hier festhalten.« Als Dr. Mason dies jedoch niedergeschrieben hatte, dachte er eine Weile darüber nach. »Nein, ich werde es doch nicht tun«, sagte er dann und strich die letzten Zeilen wieder aus. »Schlafende Drachen soll man nicht wecken.« Und irgendwo lächelten die Gesichtslosen mit dem Geruch des Pfuhles und nickten einander stumm, aber ironisch zu.
Aus dem Amerikanischen von Gisela Stege