Tausendmal Frieden Zitate • Gedanken • Impulse aus 27 Jahrhunderten Herausgegeben mit einem Vorwort von Ursula Eichelbe...
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Tausendmal Frieden Zitate • Gedanken • Impulse aus 27 Jahrhunderten Herausgegeben mit einem Vorwort von Ursula Eichelberger 320 Seiten • Pappband mit Schutzumschlag 9,- M
Was ist das Leben der Menschen ohne den Frieden? Nichts als Gefahr, ständige Angst und eine traurige Werkstatt tiefer Bitternis. Francesco Petrarca (1304 bis 1374) Neun Monate sind nötig, um einen Menschen zu schaffen; aber ein einziger Tag genügt, ihn zu töten. Andre Malraux (1901 bis 1976) Mehr als 1000 Äußerungen zum Thema Krieg und Frieden von rund 300 Autoren enthält dieses Nachschlagewerk, das nach den Lebensdaten — vom 8. Jahrhundert v. u. Z. bis ins 20. Jahrhundert - mit biographischen Kurznotizen gegliedert ist. Der Quellennachweis erfolgt alphabetisch. „Denkimpulse wollen die Texte vermitteln, Bestätigung für die eigenen Gedanken sein oder auf dem Wege des Widerspruchs, den die Zitate herausfordern, zu neuen Erkenntnissen hinführen."
Verlag Neues Leben Berlin 3-355-00918-0
32 706
Peter Müller
Die Silikaten
Verlag Neues Leben Berlin
Illustrationen von Günther Lück
ISBN 3-355-00918-0
© Verlag Neues Leben, Berlin 1989 Lizenz-Nr. 303(305/119/89) LSV 7503 Umschlag: Günther Lück Typografie: Walter Leipold Schrift: 10 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 697 2 00025
Sie saßen zu zweit im Booster, Anatoli und Jon, Erkunder in den mittleren Jahren, von kräftiger Statur, mit hart und kantig wirkenden Gesichtern. Männer ihres Schlages würden kaum noch benötigt. Stärke war längst kein Kriterium mehr, nach dem ein Mann beurteilt wurde. Für ihre Tätigkeit aber lag die Sache anders. Wenn es darauf ankam, wurden sie gefordert bis zürn Äußersten, so wie früher die Kumpel im Schacht oder die Stahlwerker am Hochofen. Sie mußten hart sein, um unter allen Umständen zu bestehen. In ihnen lebte noch etwas von dem, was die ersten Weltumsegier, Fliegerkosmonauten gefühlt haben mußten. Ihre Marotten, ihre Spaße waren rauh, nicht jedermanns Sache - für Außenstehende oft befremdlich. Längst hatte man erkennen müssen, daß selbst die besten Maschinen, die höchstentwickelten Roboter einfach nicht die Vielseitigkeit und Wendigkeit, die Intuition eines Menschen ersetzen konnten. Anatoli galt als gewissenhaft, als ruhig und kameradschaftlich. Er hatte sich bereit erklärt, zusammen mit diesem Jon den Flug zu übernehmen. Dieser Auftrag war eine eigenartige Sache, eine gefährliche; mit vielen Fragezeichen. Zwei Erkunder wie sie selbst verschwanden mit all ihrer Technik spurlos auf einem Basaltplaneten. Sie sollten nach ihnen suchen. Als Anhaltspunkt hatten sie nur diese mysteriöse Tonaufzeichnung für den Landeanflug, die plötzlich abbrach. Noch hatten die beiden nichts zu tun, das festgelegte Frogramm bestimmte den Ablauf. Anatoli schaute vor sich auf den Schirm, wie zufällig fiel sein Blick auf Jon, einen etwas verschlossenen Menschen. Auf ihrem bisherigen Flug hatte dieser Jon kein unnötiges Wort verloren. Einesteils war ihm solch ein Typ lieber als ein redseliger Mensch, doch so extrem wollte es ihm auch nicht gefallen. Sicher, man hatte ihn gewarnt vor Jon, wegen irgendeiner Angelegenheit vor zwei Jahren. Wahrscheinlich handelte es sich nur um wilde Spekulationen oder um Unterstellungen. Anatoli wollte sich nicht davon beeinflussen lassen. 3
Jon beobachtete schon längere Zeit den Bildschirm. Die helle Scheibe des Planeten füllte ihn fast schon zu einem Viertel. Ihr Zielort rückte näher und näher. Dieses silbrige Leuchten stammte jedoch nicht von der Oberfläche des Planeten, sondern von der ihn total umhüllenden dichten Wolkendecke, die keinem Strahl der hiesigen Sonne den Zutritt zur Oberfläche erlaubte. Nur bestimmte Frequenzen ihres Radars würden in der Lage sein, die Atmosphäre zu durchdringen. Es war soweit, das Radar schaltete auf die Bildwandler. Anatoli berührte den Sensor für die Speicher und ließ ältere Panoramaaufnahmen im Vergleich zu den neuen projizieren. Da sich die Bilder farblich unterschieden, fielen ihnen die Veränderungen sofort auf. Als er zu Jon schaute, bemerkte er, wie auch der die Aufnahmen sehr intensiv betrachtete und dabei fast unmerklich sein Gesicht verzog, aber nichts sagte. Auf dem Schirm zeigte sich ein erdmondartiges Relief, ohne die typischen Krater und Ringgebirge. Diese eigenartige Planetenoberfläche schien fast nur aus hohen, spitzen Felsenketten zu bestehen. Anatolis Erinnerungen eilten zurück zur fernen Basis. "Er dachte an Lina, war mit seinen Gedanken bei ihr, bei ihrem gemeinsamen Rückflug zur Erde. Er freute sich auf das, was er mit dem Kommandanten des Linienkreuzers fernschriftlich abgemacht hatte - Lina und ihn zu trauen. Es war da nur noch diese letzte Aufgabe, die er zusätzlich übernommen hatte. Ihre fünf Jahre auf der Fernbasis der Erde, für die sie sich damals freiwillig meldeten, gingen ihrem Ende entgegen. Strenggenommen waren es nur zwei Jahre, denn drei Jahre dauerte der Hin- und Rückflug. Er schaute wieder zu Jon, jahrelang war der nur mit Rex zusammen gewesen, der ihn gekannt haben mußte wie kein anderer - doch der war tot, umgekommen in den Sümpfen von Eon 3. Ob und inwieweit Jon damit zu tun hatte, konnte mit letzter Sicherheit nicht geklärt werden. Zeugen des Vorfalles gab es keine, nicht einmal Roboter. Jon spürte die kritischen Blicke von Anatoli. Oder bildete er sich das nur ein? Er war sich unsicher. Was wohl sein jetziger Partner, Anatoli, dachte? 4
Noch zwei Stunden bis zum Umsteigen. Sie hatten noch die letzte Aufzeichnung ihrer Vorgänger in den Ohren: „Setzen planmäßig zur Landung an!" Das war alles, danach nur noch das alles überdeckende intergalaktische Rauschen. Seitdem fehlte von ihnen jede Spur. „Sag mal, Anatoli, da ist doch eine Ungereimtheit... Die Erkunder, nach denen wir suchen sollen, sind verschollen, mitsamt ihren Landern und dem Booster, denke ich - woher stammt dann diese Aufzeichnung?" Anatoli war verwundert, und das in doppeltem Sinn. Einerseits wußte er, daß doch fast alle auf der Basis den genauen Grund für ihren Flug kannten - nur offenbar Jon nicht... Andererseits war Anatoli überrascht von seinem immer so wortkargen Nebenmann, der nun plötzlich Fragen stellte. Doch einerlei, er erklärte es ihm: „Du hast wohl bei der Einweisung geschlafen. Also, das alles ist nur einem Zufall zu verdanken. Man hatte kürzlich alle automatischen 5
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Funkaufzeichnungssatelliten in diesem Raumbezirk abgerufen und stieß dabei auf ebendiesen Funkspruch. Sicher war die Sendung gar nicht für den Satelliten gedacht - es handelte sich vielmehr um eine automatisch aufgezeichnete Funknachricht zwischen ihrem Lander und dem Booster im Orbit!" Und trotzdem wollte es Jon nicht einleuchten, daß zwei Erkunder, Männer von ihrem Schlage, reich an Erfahrungen, Beherrscher ihrer Technik und all der Hilfsmittel, einfach so verschwinden sollten, ohne Spuren eines Kampfes, ohne auch nur irgend etwas zu hinterlassen, so als hätte es sie niemals gegeben ... Noch unverständlicher war ihm, daß offenbar auch ihr Booster aus der Umlaufbahn verschwunden war, wo es doch die Pflicht eines Erkunders war, ihn unter allen Umständen im Orbit zu belassen. Gewiß hatte er diese Regel auch schon oft verletzt, zumindest aber hatte er dann einen Funksatelliten an gleicher Stelle postiert. Das aber, was hier geschehen sein mußte, konnte man nur als sträflichen Leichtsinn bezeichnen. Wenn nun ihre Vorgänger plötzlich überrascht wurden, daß sie zu keiner Gegenreaktion mehr fähig waren? Sie könnten doch in Panik geraten sein. Und die Lander, wo waren die geblieben? Hätten nicht -wenigstens Trümmer, Einschlagkrater oder Reste übrigbleiben müssen? Wenn sogar der Booster mit seinen mächtigen Plasmatriebwerken gelandet war, hätten doch typische Brenn- und Schmelzspuren zurückbleiben müssen! Konnte überhaupt ein metallener Körper von fast tausend Meter Länge auf einem erdmondgroßen Planeten einfach verlorengehen? Ihre Sensortechnik war durchaus in der Lage, fingergroße Bruchstücke aufzuspüren, doch sie fanden absolut nichts. Etwas konnte da nicht stimmen, nicht mit rechten Dingen zugehen, aber was? Wirkten hier unbekannte Naturerscheinungen? Bestimmte Säuren organischer Herkunft konnten durchaus Metalle zersetzen, auch ihre superfesten Legierungen. Vielleicht doch etwas völlig Unbekanntes. Merkwürdig! Sie würden auf der Hut sein müssen. Unmittelbare Gefahr für sie in den Landern bestand nicht, ihre Technik würde das selbständig regeln. Doch was, wenn sie den Planeten betreten würden? Es war soweit. Der Landevorgang begann. Sie sahen sich in die Augen, sagen konnten sie nichts in diesem Moment. 6
Jeder saß in seinem Lander. Um sich herum die Stille und all die Technik, die mit hundert Augen auf sie herabsah. Zwischen ihren Landern, welch ein beruhigendes Gefühl, der riesige Metallkörper des Boosters. Gleich wie nebenan, zum Greifen nah, die graue Krümmung des Planeten vor der Schwärze des Weltraumes. Gleißend und fremd die grelle, schweißbrennerflammenähnliche bläuliche Sonne, die trotz der Filter in die Augen stach. Die nötigen Handgriffe waren schnell getan, fast mechanisch, ungezählte Male geübt. „Systeme aktiviert, bin bereit", donnerte Jons Stimme in den Hörern. Anatoli zuckte zusammen. „Programmstart aktiviert. Hals- und Beinbruch!" Anatoli riß die Plombe heraus ... Der Booster schien sich langsam von ihnen zu lösen, sie. flogen langgestreckte Kurven, trafen sich zum Parallelflug. Der Booster wurde kleiner, wie ein Stern unter Sternen, und verschwand. Die Höhenmesser zeigten zweihundertfünfzig Kilometer an, Wolken nahmen ihnen jede Sicht, hüllten sie ein, Blindflug! Nicht gerade erfreulich bei solch fremden Planeten. Ein unangenehmes Gefühl, trotz Automatik! „He, Jon, auch bei dir diese Suppe?" „Ja, auch, aber noch etwas anderes. Schau mal, was sagt dein Bodenradar?" „Nichts!" „Genau das meine ich, dachte schon an einen Defekt. Bei neunzigtausend ist das doch recht ungewöhnlich, zumal von weit draußen das Bodenrelief klar zu sehen war." „Ionisierende Schichten." „Ja, vermutlich, dein Lander aber liegt scharf in der Ortung!" „Soll uns nicht weiter stören. Wie weit gehen wir runter, was meinst du?" „Na, höchstens auf zwanzigtausend, es gibt da Berge bis fünfzehntausend!" „Was tun wir, weün die Wolken tiefer reichen?" „Ja, was dann? Gefällt mir gar nicht. Bleibe du auf Höhe, ich versuche es mal weiter unten." „Bin jetzt bei zwanzigtausend, sinke weiter: neunzehn, achtzehn, 7
siebzehn - jetzt! Bodenrelief im Radar - eine große Ebene, direkt unter uns. Jetzt auch klare Sicht, nur etwas dunkel." „Ich komme." „Vorsicht, Jon!" „Was ist?" „Ich bin mir nicht sicher, ich glaubte auf dem Radar etwas gesehen zu haben." „Bei mir war nichts!" „Da, schon wieder!" „Bleibe, wo du bist, ich komme näher." „Ja - jetzt auch bei mir, du hattest recht, ich aktiviere die Abwehr, melde mich später." Ein greller Blitz, heftige Druckwellen durchschüttelten Anatoli, Gesteinstrümmer prasselten gegen den Lander. „Was war das?" Jon erhielt keine Antwort. Wieder traten seine Laserwerfer in Aktion ... „Ein Angriff, Anatoli?" meldete er sich jetzt wieder. „Nein, ich habe eben eine Analyse durchführen lassen, es handelt sich um Steine, jedoch mit erheblichen Abmessungen und Geschwindigkeiten - wie eine Lawine." Ungeschoren gingen ihre Lander einige Kilometer entfernt auf der Hochebene nieder. Automaten begannen mit ihren Probenentnahmen. Die beiden Männer hatten noch etwas Zeit. Klar war ihnen, diese Steine blieben hier immer eine ernst zu nehmende Gefahr. Die Strahler der Lander konnten beide schützen im Nahbereich. Was aber, wenn sie zu Fuß längere Strecken zurücklegen müßten. Selbst die schweren Handstrahler würden nichts ausrichten gegen tonnenschwere Brocken. Nach Aktivierung sämtlicher Sicherheitssysteme stieg Anatoli aus. Sein Blick suchte Jons Lander, er fand ihn etwa zweihundert Meter entfernt. Über Funk meldete er sich. Anatoli war beruhigt. Erst jetzt ließ er die so fremde Welt auf sich wirken. Unter einem alles überspannenden bleigrauen Himmel, Ohne jede sichtbare Strukturierung, stand dieses graue, diffuse, unwirkliche Licht. Ohne Kontraste, ohne Schatten. Es umspülte den schwarzgrauen Basalt. 8
Irgendwie drückte die Umgebung auf Anatolis Befinden. Ob Jon ähnlich fühlte.? Voreinander würden sie sie wohl kaum zugeben, diese unterschwellige Angst. Außer diesem dumpfen, urtümlichen, unbestimmten Gefühl war da noch etwas sehr Reelles, das die negativen Empfindungen noch verstärkte. Diese Bodenvibrationen, verbunden mit einem fernen Grollen, das sich keiner bestimmten Richtung zuordnen Heß. Ob ihre Vorgänger auch so empfunden hatten? Wahrscheinlich waren sie unvorbelastet und nüchtern oder auch sorgloser an ihre Aufgabe herangegangen. Oder wirkte dieser düstere Planet auf das menschliche Gemüt? Sollten sie nun nicht vorsichtiger sein und dieses Verschwinden als Vorwarnung betrachten? Bestand denn vielleicht noch eine andere Gefahr, außer diesen Steinkugeln? Wenn aber, von wo drohte sie ihnen, wie sollten sie sich ihr stellen? Leben, wie sie es kannten, existierte mit Sicherheit nicht, vielleicht aber unbekannte Formen? Leben außerhalb der Eiweißstrukturen, außerhalb der Kohlenstoffketten - kann es solch eine Art von Leben praktisch überhaupt geben? Noch nie hatte man Beweise gefunden. Als Anatoli seinen Lander verließ, winkte er zu Anatoli hinüber, konzentrierte sich dann aber sofort noch auf seine Aufgabe. Selbst wenn es wider Erwarten Bakterien oder andere primitive Lebensformen gab, würde es doch unter all den Materialien sicher solche geben, die für eine wie auch immer geartete Lebensform nicht geeignet wären, zum Beispiel bestimmte Plaste oder Elaste. Um wirklich jede Spur von Menschen und ihrer Technik zu tilgen, bedarf es einer komplexen, zielgerichteten Lebensform, Tiere wären dazu wohl kaum in der Lage, wohl aber eine Quasiintelligenz. Vielleicht lebten sie versteckt, unsichtbar. Steckte das Geheimnis etwa in den Steinen selbst? Halt, da war noch etwas Wesentliches, etwas, was sie bisher beide außer acht gelassen hatten. Wie auch immer die Lander, der Booster, die Menschen verschwunden waren, was war mit 4en beiden Golems? Sie konnte nur ein Mensch besiegen. Andere Lebensformen hatten da gar keine Chance. Ein Golem war das wehrhafteste technische Gerät, das Menschen je erdacht und konstruiert hatten. Bei Gefahr für das Leben eines Menschen, den er zu schützen hatte, würde er mit allen Mitteln dieses Leben bewahren. Sein Antimateriestrahl 9
und die durch ihn verursachten Zerstörungen wären doch recht erheblich und wohl kaum zu übersehen gewesen. Den Fall aber, daß ein Golem einen Menschen im Stich ließ, hatte es noch niemals gegeben. Auf diesem Planeten konnte kein Antimateriekampf stattgefunden haben, die radioaktiven Zerfallsprodukte fehlten. Wie also war ihre Situation? Die ihnen antrainierte Strategie des logischen Ausschließens führte offenbar in eine Sackgasse. Was wäre denn auszuschließen? Höchstens Dinge, die ohnehin schon offen lagen. Was gab es denn hier außer diesem schwarzgrauen Basalt in dieser trüben Lichtbrühe? Anatolis Gedanken erhärteten allmählich den Verdacht, auf dem falschen Planeten zu sein. Wie aber dann die Ähnlichkeiten der alten Aufzeichnungen? Für ihn jedenfalls blieb es äußerst unwahrscheinlich, daß hier zwei Erkunder mit all ihrer hochentwickelten Technik verschwunden sein sollten. Oder beruhte alles nur auf einem Navigationsfehler ihrer Vorgänger? Dann aber waren sie vielleicht lichtjahreweit von hier entfernt verunglückt, oder sie kämpften ganz woanders noch um ihr Leben, während sie hier sinnlos suchten. Doch hatten sie denn eine andere Wahl, ehe sie nicht mit absoluter Sicherheit sagen konnten, alles menschenmögliche getan, einen Irrtum ausgeschlossen zu haben? Nun standen sie beide, Anatoli und Jon, auf diesem grauen, farblosen Planeten mit seiner hochgiftigen, zyanhaltigen Atmosphäre, in ihren grellgelben Skaphandern. Vor ihnen die rotweißen Lander. Sie bildeten die einzigen farbigen Punkte in dieser Einöde. Unsichtbar hinter der dichten Wolkendecke umkreiste ihr Booster den Planeten, ihre Brücke zum Leben. Dieses Planetensystem befand sich ziemlich weit draußen im Raum. Ein vorgeschobener Posten am Rande der Unendlichkeit, schon außerhalb des Empfangsbereiches der Basis. Dieser Planet war der vierte der Sonne Ra 2. Das gesamte System galt seit seiner Entdeckung vor fast vierzig Jahren als frei von irgendwelchen Lebensformen. Und trotzdem war diese Region für die Bewohner der Erde von Interesse, gab es doch viele seltene und edle Metalle, allerdings nicht auf diesem Planeten. Oft lösten die beiden Erkunder schon ähnliche Aufgaben, zwar nicht zusammen, sondern mit einem anderen Partner. Ähnliches wie hier hatten sie in den verschiedensten Nuancen schon erlebt. Dies10
mal aber war es trotz gewisser Ähnlichkeiten ganz anders. Trug die Schuld daran wirklich nur diese mystisch wirkende Welt? Das Hochplateau wirkte ja noch relativ gastlich, gewiß, weil man weite Flächen gut übersehen konnte. Innerhalb der spitzen Felsengruppen würde es bestimmt wesentlich ungemütlicher werden. ^ „Alarm!" Die Stimme des Computers im Skaphander dröhnte. „Sofort in Deckung, sofort in Deckung, sich nähernde Gesteinstrümmer." Es blitzte auch schon grell aus den Landern. Anatoli stand an der Treppe, sprang die Stufen hoch, in die Schleuse. Jon hatte noch fast fünfzig Meter zu laufen, als es blitzte. Er rannte um sein Leben, warf sich nach den letzten Metern mit Schwung unter seinen Lander, gerade als der Steinhagel herunterprasselte. Die Lawine dauerte eine knappe Minute, ehe die Stimme des Computers „Entwarnung" meldete. „Hallo, Jon, alles in Ordnung?" „Bestens." Jon kroch unter dem Lander hervor, klopfte sich ab, trat ein paar Steinbrocken mit seinen schweren Stiefeln beiseite. „Schwein gehabt! Sieh mal bei dir nach, Anatoli, ich glaube, unsere Lander haben Beulen bekommen." „Ja, du hast recht, ganz winzige, aber immerhin ... Nicht gerade eine freundliche Begrüßung. Wir dürfen uns dieser Gefahr nicht weiter aussetzen. Wir brauchen einen ständigen Schutz. Wir werden die Golems montieren müssen; die Gefahr, hier erschlagen zu werden, ist einfach zu groß." Aus dem Lander rollten später die schweren Kettenfahrzeuge mit den Bauteilen der Golems. Sicherheitshalber dirigierten die Männer die ganze Technik aus ihren Landern, durch die Panzerscheiben geschützt. Das war auch gut so, es gab bald darauf noch einen Abschuß mit all seinen Folgen. Stunden später standen die beiden Golems zwischen ihren Landern. Immer wieder ein imposanter Anblick, die beiden mächtigen, unförmig scheinenden, über sechs Meter hohen Schreitapparate mit den hutartigen Abdeckungen über ihren Antennenplattfbrmen, die ihnen im Halbdunkel ein menschenähnliches Aussehen verliehen. 11
Die Golems hatten inzwischen gebohrt und die seismischen Sprengungen vorbereitet. Jon hatte die Ergebnisse der chemischen Bodenanalysen vorliegen und hielt sie Anatoli vor die Sichtscheibe. „Fällt dir was auf?" „Sicher, das Basaltgestein besteht wie auch auf der Erde, aus Plagioklas und Pyroxen, die Komponenten sind homogen verteilt, und doch breiten sich die Bodenwellen überwiegend asymmetrisch aus. Hm, vielleicht eine kristalline Anomalie - oder aber falsche Eingaben!" „Wenn du Zweifel hast, Anatoli, werden wir alles wiederholen! Aber was, wenn die Ergebnisse stimmen?" Die Nacht kam wie überall in Bergregionen recht schnell. Sie hatten es sich in einem der Lander bequem gemacht, wechselten ein paar notwendige Worte und legten sich zur Ruhe. Von Vibrationen und fernem Grollen gestört, hatten sie einen unruhigen Schlaf und fühlten sich am Morgen wie gerädert. Nach obligater Tagesplanung trennten sie sich, um jeweils die Planquadrate abzusuchen. Vorher setzte Anatoli noch die Tagesnachricht zum Booster-ab. Sie warteten auf die automatische Bestätigung und nahmen die Sitzplätze auf den geschützten Auslegern ihrer Golems ein. Die auf zwei Beinen laufenden Roboter gingen die vorgeschriebenen fünfzig Meter weit auseinander und inspizierten die wie eine bearbeitete Steinplatte wirkende Hochebene. Eigentlich gab es dort nichts von Bedeutung. Das wirklich geologisch Interessante lag kilometerweit entfernt, außerhalb des Plateaus. Die Felsen in der Ferne, das wußten sie schon, erhoben sich fünfzehntausend Meter und mehr vom Grund. Über Helmfunk verabschiedeten sie sich, um sich entgegengesetzt zu entfernen. Langsam erweiterten die Golems ihre Schrittlänge auf vier bis fünf Meter und verfielen in einen leichten Trab. Die Weg-Zeit-Funktionen vermaßen sie selbständig, die Männer gaben ihnen nur die mündlichen Befehle dazu. Auf dem Plateau erreichten sie gute siebzig Kilometer je Stunde, eine völlig ausreichende Geschwindigkeit, um die Gegend noch gut übersehen zu können. Jon war froh, endlich den mißtrauischen Blicken Anatolis entgangen zu sein. Nach dreißig Minuten schnellen Laufens meldete sein Golem, daß er unter den gegebenen Umständen die Grenze eines mögli12
chen Funkkontaktes erreicht hatte. Recht früh zwar, aber Jon wußte, warum. Er stoppte den Golem, um Anatoli zu rufen. Von Krachen, Knistern und Pfeifgeräuschen überlagert, war das Gespräch kaum zu verstehen. Anatoli mußte auf den Booster schalten, um über das Relais im Orbit die Verständigung noch einmal zu verbessern. Minuten später erreichte Jon den Rand des Plateaus, er meldete sich bei Anatoli. Erstaunlicherweise stimmte das, was sie jeweils sahen, überein. Etwa achtzig Meter steil abfallender Basalt, gerade so, als wären die Kanten mit Werkzeugen bearbeitet worden. Warum ihnen das nur nicht aus der Höhe aufgefallen war? Doch einerlei, sie konnten geradg noch ein paar Meßdaten austauschen, als die Funkverbindung endgültig zusammenbrach. Jon befahl seinem Golem umzudrehen. Wieder bemühte er sein Funkgerät. Knistern, Rauschen - doch er hörte, Anatoli rief nach ihm. „Hier Jon. Anatoli, was gibt es?" „Schlimm, diese elektromagnetischen Störungen. Wir treffen uns 13 I
bei den Landern wieder, sagen wir in vierundzwanzig Stunden." „Einverstanden, im Notfall haben wir noch die Raketen. Ende!" Nun war Jon wirklich allein mit seinem Golem - vor sich den Abgrund. Sicher hätte er noch gleich den Abstieg beginnen können, doch irgendein Gefühl hinderte ihn daran. Er befahl seinem Golem stehenzubleiben und öffnete die kleine, unscheinbare Luke der Luftschleuse, die zu der winzigen Koje von zwei Metern mal zwei Metern führte. Dieser Raum reichte aus, um sich seines Raumanzuges zu entledigen, sich gemütlich zu setzen, etwas zu essen und sich hinzulegen, auszustrecken ... Wichtiger jedoch war die Sicherheit, die dieser kleine Raum einem Menschen bot. Noch einmal ließ er das Tagesgeschehen an seinem geistigen Auge vorüberziehen. Er machte das immer, auch wenn es nichts Aufregendes gegeben hatte. Unmerklich schlief er darüber ein, zum erstenmal wieder ruhig. Die außergewöhnliche Situation, die er zum Teil selbst heraufbeschworen hatte, gab ihm irgendwie Kraft, so seltsam das auch erscheinen mochte. Er fühlte, jetzt endlich bekam er seine Chance. Der Weckton am Morgen schreckte ihn hoch, er war sofort hellwach und fragte nach Neuigkeiten, doch die Automatik schwieg sich aus. Die hiesige Sonne mußte bereits aufgegangen sein, denn auf dem Monitor sah er dieses unwirkliche Leuchten über dem dunklen Gestein. Bedächtig zog er seinen Anzug an, kontrollierte den Werfer und die Sauerstoffvorräte und stieg aus. Der Golem wurde aktiv und begann mit den Bohrungen für die Anker zum Abseilen. Jon trat dicht vor den Abgrund und schaute in das Halbdunkel der Tiefe. Dieser Anatoli, ob der bisher mehr erreicht hatte als er? Ihn kribbelte es wieder. Wenn er nur so könnte, wie er wollte. Diese Zwangsunterbrechung war ihm nicht unlieb. Kurz vor der Landung hatte er etwas gesehen, aber es für sich behalten. Er würde Anatoli erst rufen, wenn er seine Entdeckung gemacht hatte. Der Golem unterbrach seine Gedanken. „Das Hochplateau ist wahrscheinlich nicht natürlichen Ursprunges!" 14
„Ich weiß", antwortete er wie abwesend ... Sein Abstieg verlief problemlos. Unten angekommen, wartete er mit seinem Strahler auf den Golem. Der Basalt war gar nicht so sehr zerklüftet, wie es zuerst von oben ausgesehen hatte. Sein Golem jedenfalls würde gut vorankommen. Jon bestieg wieder den Ausleger seines Golems und ließ ihn in Richtung der Berge voll ausschreiten. Einige Kilometer weiter begann die Umgebung eintönig zu werden. Das Panorama wiederholte sich ständig. Nach einem flachen Paß tauchte vor ihm wieder das Felsplateau auf, wenigstens sah es so aus. „Identisches Gebilde mit unterschiedlichen Lagekoordinaten", plapperte der Roboter. „Danke", brummte Jon. Er hatte schon manches erlebt, viele trostlose Landschaften gesehen, das hier überstieg in seiner Gleichförmigkeit alles Bisherige. Nirgends gab es etwas, was als Anhaltspunkt hätte herhalten können. Vor dem dritten Plateau fragte er, nun vorsichtiger geworden: „Wieder ein neues Plateau?" Der Golem bestätigte. Obwohl sich Jon der Gleichförmigkeit sicher war, ließ er immer wieder Bodenproben nehmen. Er hatte einen bestimmten Verdacht, und so gab er schließlich Anweisungen für atomare Strukturanalysen. Seine Vermutung bestätigte sich: neunundneunzig komma neun Prozent reiner Basalt, ohne irgendwelche meßbaren Verunreinigungen. Sollte die Natur so etwas fertigbringen? Er versuchte Anatoli zu erreichen, diesmal mit der intakten Antenne. Allerdings bekam er auch damit keine Verbindung. Das wunderte ihn, Anatoli müßte sich doch melden! Allmählich sorgte er sich. Was, wenn Anatoli nun wirklich etwas zugestoßen wäre? Er ging vorerst weiter, ließ den Golem ausschreiten. Nach einer guten halben Stunde erschien ihm die Stimme seines Golems so eigenartig trocken, als er zu ihm sagte: „Weiterhin kein Funkkontakt!" Zum erstenmal fluchte er auf diesem Planeten, doch es erleichterte ihn nicht. Anatoli hatte es weitaus schlechter getroffen, sein Golem steckte oft fest. Mal klemmte es hier, mal dort, des öfteren mußte er Felszacken wegbrennen. Es belastete ihn auf eine unerklärliche Weise - er geriet 15
in einen inneren Spannungszustand, der ihn seine Umgebung immer negativer erleben ließ. Er kannte so etwas sonst nicht von sich. Wütend fluchte er über sein vermeintliches Mißgeschick. Besonders die gestörte Funkverbindung zu Jon begann ihn zu ärgern. Was war nur mit ihm? Geriet er in Panik? Als dann noch etwas geschah, was anscheinend im Widerspruch zu seinen Erfahrungen stand, gingen die Nerven mit ihm durch, er setzte das Notsignal. Jon bewegte sich noch immer zwischen den Plateaus, als sein Golem ihn auf etwas aufmerksam machte ... Ein schwaches Rot begann den sonst grauen Himmel zu färben, und ging bald schon in ein grellflackerndes Leuchten über - es geschah noch zweimal hintereinander ... Das Notsignal! , Endlich geschieht etwas - nur gerade jetzt, es paßte Jon gar nicht in den Kram. Konnte er es einfach ignorieren, jetzt, da er so dicht vor seinem Ziel war? Wenn dem anderen nun etwas Ernsthaftes zustieße? Wann würde er ein Notsignal setzen? Was sollte er tun? Ihn fröstelte bei dem Gedanken, zu spät zu kommen, schließlich hatte er so etwas schon einmal erlebt. Er beeilte sich, schaltete den Golem auf Alarm, es bedeutete optimale Leistung im Rahmen noch vertretbarer Sicherheiten. Der Golem steigerte auf fast hundert Kilometer je Stunde - in diesem Gelände eine arge Tortur für Jon. Die Stoßdämpfer wurden überfordert und schlugen oft hart durch. Doch was waren schon ein paar Beulen und blaue Flecken, wenn es vielleicht um das Leben eines Menschen ging? Es verflossen mehrere Stunden, bis er das betreffende Plateau erreichte, beinahe genau an der Stelle, wo Anatoli seinen Abstieg begonnen hatte, die Anker verrieten es. Und trotzdem wurde sein Suchen zur Sisyphusarbeit, die Basaltformationen bildeten zahlreiche Pseudoechos. Eigentlich unverständlich bei dieser Reinheit. Im Augenblick aber maß er dem keine weitere Bedeutung zu. Bald schon mußte er seine Geschwindigkeit drastisch verringern, die Felsen behinderten ein schnelles Vorankommen, so als hätten sie sich gegen ihn verschworen. Dem Echo nach war er schon ganz nah ... Der Golem bremste scharf. Anatoli stand armwedelnd vor ihnen, er war überaus aufgeregt. Was Anatoli da berichtete, konnte Jon kaum glauben. Er folgte 16
aber der Empfehlung, seinen Golem nicht einfach abzustellen, sondern ihn im Kreis laufen zu lassen. Sie gingen zu Fuß weiter. Ein grotesker Anblick, der zurückgelassene, im Kreis laufende Golem und die beiden über die Steine stolpernden grellgelben Kosmonauten. Sie mußten mehr als zwei Kilometer laufen, bis Anatoli aufgeregt nach vom zeigte, wo sein Golem laufend kleiner wurde. Beim Näherkommen bemerkte Jon die Ursache, das letzte Viertel der Golembeine versank im Gestein ... „Warum benutzt er seinen Antimateriebrenner nicht?" „Ich habe ihn ausgeschaltet, Jon!" „Bist du des ..." „Aber wenn du nur gesehen hättest, wie sich seine Beine auflösten!" „Auflösten. Bist du sicher?" „Ja, zersetzt, wie durch Verdauungsenzyme!" „Verdauung bedeutet Leben, Anatoli!" „Ja eben, genau das meine ich!"
„Lebende Steine, warum nicht mal was Neues, das jedenfalls hatten wir noch nicht." „Ja, witzle mal noch, Jon. Was wäre, wenn unsere Lander...?" Jon schaute ihn verblüfft an. „Das wäre nicht auszudenken, Anatoli!" „Hast du die Fernbedienung?" Ein häßlicher gelber Strahl zischte aus dem vorgebeugten Kopf des' Golems und stach senkrecht in den Boden. Verdampfendes Gestein hüllte ihn für Minuten ein. Krachend barsten Steine, und aus der Wolke stieg der Golem ohne sichtbaren Schaden ... „Jon, wie ist das nur möglich? Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen..." „Ja sicher, schon, daß er versank, aber nicht, daß sich seine Beine auflösten!" Anatoli schaute noch immer fassungslos auf den Golem. „Ist schon gut - die Aufregung und der gestörte Funkkontakt", tröstete ihn Jon. „Doch jetzt komm, wir sollten uns wirklich beeilen. Was ist eigentlich mit deinem Funkgerät?" „Nichts, ich hatte es abgestellt, es war ohnehin nutzlos!" Jon nickte, innerlich aber bezweifelte er Anatolis Notlage - alles kam ihm wie gespielt vor. Vielleicht auch nur deshalb, weil er selbst ganz anders reagiert hätte. Oder wollte ihn Anatoli nur auf die Probe stellen? Bei seinem im Kreis laufenden Golem gab es dann allerdings eine weitere Merkwürdigkeit, die ihn an seinen eben gemachten Gedanken doch wieder zweifeln ließen. Dort, wo der Roboter seinen Kreis gelaufen war, hatte sich ein Trampelpfad von mindestens dreißig Zentimeter Tiefe gebildet. Für solch kompaktes Basaltgestein doch offenbar ein Widerspruch. Der Golem wog rund drei Tonnen, seinem Gewicht nach durfte er niemals solch tiefe Abdrücke im Gestein hinterlassen. Sie benutzten die Golems wieder in Alarmstellung. Zumindest dort, wo es das Gelände zuließ, rasten sie mit Höchstgeschwindigkeit ihrem Landeplatz entgegen. Doch die Raserei wurde ihnen fast zum Verhängnis. Anatoli spürte eine ungewöhnliche Erschütterung. Arbeitete das Gleichgewichtszentrum des Golems nicht ordentlich? Dann ein 18
mächtiger Hieb, er fühlte sich fortgeschleudert, bersten, etwas krachte, ein dumpfer Schmerz. Sein Aufschlag raubte ihm für Sekunden den Atem. Etwas Rotes sickerte über seine Augen. Blut! Seine Stirn schmerzte, er wagte sich kaum zu rühren, probierte ganz langsam seine Gliedmaßen, doch sie waren anscheinend noch alle intakt. Sein Anzug? Auch der hatte gehalten ... Was war geschehen? Er stützte sich,ab, versuchte hochzukommen. Da, fünfzig Meter zurück bewegte sich der Golem am Boden wie eine Spinne, die versucht, mit nur drei Beinen zu laufen. Der Vergleich war gut - tatsächlich fehlte dem Golem ein Bein, es war gleich unter dem oberen Gelenk abgebrochen. Anatoli hatte Glück im Unglück, das wurde ihm gleich bewußt, er hätte ja auch unter den stürzenden Golem geraten können. Über Helmfunk rief er den Golem und befahl: „Hinlegen und warten, ich komme!" Anatoli erhob sich taumelnd, fast ohne Sicht, weil nun schon beide Augen blutverklebt waren. Doch es half ja nichts, den Raumanzug konnte er erst im Golem ausziehen, in seiner kleinen Kabine, hoffentlich war sie noch dicht. Er schaffte es und hatte wieder Glück, konnte seinen Helm abnehmen, auf der Stirn klaffte eine breite Platzwunde, aus der noch immer Blut sickerte. Er wusch sich, behandelte seine Wunde und betrachtete seine Schwellungen, es würden sicher alles blaue Stellen werden, doch das war kein Problem, er hatte oft schon schlimmer ausgesehen. • Die große Funkanlage, mit der er Jon erreichen konnte, schwieg. Defekt? Ob Jon sein Fehlen bald bemerken würde? Wenn er ihn aber allein ließe? Unsinn! Wie konnte er nur so etwas denken. Jon wird schon kommen. Notfalls würde er die vielleicht sechzig Kilometer auch zu Fuß schaffen. Jon war längst aus Anatolis Sichtweite. Erst einige Kilometer weiter entdeckte er, daß Anatoli fehlte. Erschrocken kehrte er wieder um. Er mußte gründlich suchen, um nichts zu übersehen. So dauerte es eine ganze Weile, bis er ihn fand. Glücklicherweise war ihm nichts Ernsthaftes zugestoßen. Er lud Anatoli zu sich. Beengt und viel Jangsamer ging es weiter. Als sie nach Stunden den Standort der zurückgelassenen Lander erreicht hatten, war da nichts mehr als kahler grauer Fels. 19
„Anatoli - sie sind weg!" „Blödsinn, sicher sind wir an der falschen Stelle!" „Nein, Anatoli, wir sind richtig, unsere Abweichung ist geringer als zehn Meter!,Es besteht kein Zweifel, ich vermute ..." „Eingesunken?" „Ich befürchte es!" Jon schaltete das Neutrinoradar ein, richtete es nach unten. „Da, die Lander, direkt unter uns, ohne Hohlraum, völlig vom Gestein eingeschlossen." Jon überlegte nicht lange, und das war auch gut so, denn mit jeder Minute sanken die Lander weiter ab. Er ließ den Golem mit seinem Plasmabrenner schneiden. Tiefer und tiefer fraß sich der Strahl in das Gestein. Bruchstück für Bruchstück zog der Golem aus dem Schacht. In vier Meter Tiefe hatte er dann endlich einen Lander freigelegt. Die anschließende Funktionsprobe war erfolgreich, auch der nachfolgende Probestart. Schwierigkeiten sollten sich erst viel später einstellen. Den anderen Lander mußten sie im Gestein zurücklassen, die Energie hätte nicht mehr ausgereicht, ihn zu holen. . Ihre Situation war schon irgendwie merkwürdig. Obwohl sie sich in keiner unmittelbaren Gefahr befanden, fühlten sie sich doch deprimiert. Beide natürlich aus ganz unterschiedlichen Gründen. Anatolis Prellungen schmerzten, und er schämte sich vor Jon, denn den eingesunkenen Golem hätte er auch selbst befreien können. Ihm wären der Sturz und der nun defekte Golem erspart geblieben. Auch Jon gingen mehrere Gedanken durch den Sinn. Wieso war Anatolis Golem eingesunken, warum brach ein Bein. Wie war es möglich, daß diese superfeste Sonderlegierung überhaupt brechen konnte? Warum verursachte sein eigener, im Kreis gelaufener Golem einen Trampelpfad? Fragen, auf die er keine Antwort wußte. So ganz zu'Unrecht hatte Anatoli wohl doch den Notruf nicht abgesetzt. Ihm kam ein Gedanke, er bediente den Computer des Landers, gab die Werte ein. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Das Golembein brach, weil sich das Materialgefüge verändert hatte, ganz sicher auch beim Lander. Offenbar mußte beim Aufenthalt im Gestein etwas geschehen sein. Aber war das nicht zu weit hergeholt? Ihm war klar, was das bedeuten würde. Angst kam in ihm auf. ,Und jetzt, was sollte er nur tun? Er könnte Anatoli täuschen, könnte ihm sagen, daß 20
er-zum Booster müsse, unter irgendeinem Vorwand, um doch noch schnell zu der vermeintlichen Fundstelle-zu kommen. Aber sollte er das wirklich, lohnte das denn? Sollte er sie beide in weitere Gefahren verstricken? Nein, Anatoli sollte nichts davon merken, nicht die ganze Kcfhsequenz begreifen. Er sagte zu ihm nur, gespielt gelassen: „Das Material wird gepreßt worden sein." Doch Anatoli setzte sich nun selbst an den Computer, gab schnell die Werte ein. Als er sich nach einigen Minuten umdrehte, wirkte er bleich und eingefallen. „Aus! Wir sind am Ende, die Festigkeit beträgt nur noch null Komma drei vom Ausgangswert. Wir können mit den Landern im gekoppelten Zustand nicht einmal mehr ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit erreichen. Das bedeutet, daß wir die Basis und damit unser Linienraumschiff nicht mehr rechtzeitig erreichen!" Es traf ihn schwer. Seine Pläne mit Lina ... Würde sie noch Jahre auf ihn warten? Wer hätte auch ahnen können, daß dieser letzte Auftrag so enden würde? „Noch ist nichts verloren, Anatoli", tröstete ihn Jon, „schlimmstenfalls sind wir für Jahre auf den Basisstützpunkt A 3 fixiert!" Anatoli nickte traurig, A 3, ja, da gab es auch Menschen... Aber er würde warten müssen auf den nächsten Linienkreuzer, fast fünf Jahre ... Jon schimpfte mit sich, weil Anatoli es nun doch selbst gemerkt hatte, aber er wußte mehr - es gab da noch eine weitere Möglichkeit. Er war sich fast sicher, einer von ihnen könnte rechtzeitig zurückkehren, aber wirklich nur einer. Nur er selbst könnte es nicht sein - keiner würde ihm sonst noch etwas glauben, wenn er ein zweites Mal allein zurückkäme. Man würde ihn wieder überschütten mit Mißtrauen und Verdächtigungen, die ihn wieder Tag und Nacht verfolgten, sein ganzes Wesen überschütteten - alles begänne von vorn. Nein, so nicht! Diesmal würde er es schaffen. Er würde beweisen, daß auch ein Mann allein auf einem solchen Planeten überdauern könnte, wenn nötig, auch für Jahre. Und wenn er den Beweis nur vor sich selbst antreten müßte. Sein Partner Rex damals hätte nicht sterben müssen, hätte er nur weiter versucht, sich selbst aus seiner Lage zu befreien, statt weiterzuforschen und abzuwarten, bis es für jede andere Hilfe zu spät war! Anatoli hatte sich inzwischen etwas von seinem Schrecken erholt 21
und begann nüchterner zu denken. Er ertappte sich dabei, daß er Jon wieder beobachtete. Nicht absichtlich, nein, rein zufällig, es ergab sich so. Die Ruhe von Jon verwirrte ihn irgendwie. Er selbst jedenfalls hatte Angst, und er machte kein Hehl daraus. Oder sollte sich dieser Jon nur so gut verstellen können? Unsinn, alles Unsinn! Geriet er etwa in Panik? Was sollten diese Grübeleien um Jon? Der erfüllte doch seine Aufgabe, genau wie er selbst. Auf Gerede hatte er doch sonst nie etwas gegeben. Langsam gewann er die Gewalt über sich zurück. Seltsam, was es wohl gewesen sein mochte, das ihn so aus der Fassung brachte. Sollte es nur an diesem beständigen Grau liegen? Er zwang sich, Jon nur noch nach seinem Verhalten ihm gegenüber zu beurteilen. Wäre denn ein Mensch überhaupt in der Lage, seinen in Not geratenen Partner absichtlich im Stich zu lassen? Es sei denn, einer wäre psychisch krank ... Jon hatte einen Plan. Er mußte Schicksal spielen, auch auf die Gefahr hin, sein Leben zu riskieren. Das wichtigste war, Anatoli zu überzeugen, daß sie beide noch rechtzeitig zurückkehren könnten. Anatoli konnte den Booster unmöglich so genau kennen wie er, schließlich hatte er, Jon, vor Jahren schon an seiner Konstruktion mitgearbeitet. Er wußte, daß der Flug zur Basis nur einem Menschen gelingen konnte, der sehr geringe Platz schloß jede andere Möglichkeit aus. Selbst für eine Person bliebe es dennoch eine Tortur, so eingezwängt zwischen all den Aggregaten. Nach langer, schwieriger Überzeugungsarbeit-von Jon entschloß sich Anatoli endlich für die von Jon propagierte Möglichkeit, zu zweit mit dem Booster zu fliegen. Sie einigten sich, daß Jon die nötigen Vorbereitungen im Orbit zu treffen hatte und Anatoli auf dem Planeten alles in Ordnung bringen sollte, einschließlich des Sammeins von weiteren Meßdaten und der eventuellen Reparatur des beschädigten Golems. Zusammen installierten sie noch zusätzliche Notraketen, für alle Fälle. Jon bestieg den Lander, um sich in die Orbitale des Planeten zu schwingen. Ihn erwartete Schwerstarbeit, aber er hatte völlig freie Hand. Aus Ersatzteilen baute er ein komplettes Steuerpult in den Booster ein und speicherte alle kritischen Flugphasen. Er teilte die Vorräte' nach Bedarf und Notwendigkeit. In vier Tagen war er fertig. 22
Anatoli wartete schon ungeduldig, als Jon wieder auf grauem Basalt landete. Es hatte merkwürdigerweise keine weiteren Zwischenfälle gegeben. Weder die Golems noch die aufgestellten Geräte waren auch nur Millimeter eingesunken. Das Gestein verhielt sich so, wie man es normalerweise von Basalt zu erwarten hatte. Selbst die Bodenvibrationen und das ferne Grollen hatten sich merklich abgeschwächt. Anatoli hatte sogar den zweiten Golem reparieren können und die meisten der geplanten Meßreihen realisiert. Er war offenbar wieder ganz der alte. Zusammen bestiegen sie den Lander. Jon gab vor, ihm die neuen Errungenschaften zu zeigen ... Im Orbit war fast alles fertig, geplant und programmiert, geprüft und repariert. Anatoli war begeistert, besonders als er die beiden Sitzplätze im Booster sah, geriet er in Hochstimmung wie ein Kind zu Weihnachten. Was er nicht wußte, war die Tatsache, daß der zweite Sitzplatz nur eine Attrappe war, an deren Stelle noch wichtige Apparate aufgestellt werden mußten. Jons Plan gelangte nun in seine kritische Phase. Zusammen mit Anatoli transportierte er die letzten mannsgroßen Geräte vom Lander zum Booster, natürlich nur bis zur Schleuse, sonst wäre sein „Betrug" sicher aufgefallen. Mit der Begründung, daß er die nun nutzlose Landefähre versiegeln wolle, schwamm Jon noch einmal die zweihundert Meter durch den Raum ... Das Aufblitzen der Triebwerke des Landers erreichte Anatoli gerade, als ihn eine Ahnung durchzuckte. Vielleicht aber war es auch umgekehrt? Doch was änderte das schon. Schnell schloß Anatoli die Schleusentür, zwängte sich zwischen die Aggregate - sollte er den Booster landen? Das grelle Leuchten der Taste für wichtige Aufzeichnungen stach ihm in die Augen. Er drückte sie ... „Anatoli, ich mußte so handeln! Wir hätten zusammen niemals eine echte Chance. Du wirst allein zurückfliegen, deine Lina erwartet dich. Was sind für mich schon ein paar Jahre mehr oder weniger. Außerdem ist unsere Aufgabe hier noch nicht erfüllt, ich werde hier alles tun, um sie zu Ende zu führen. Versuche bitte nichts zu ändern, mein Entschluß ist endgültig und steht lange schon fest. Du ahnst nicht, wie belastend das sein kann. Um mich mache dir keine Sorgen, ich schaffe es schon. Der Booster ist startbereit, deine Reise programmiert, ich habe eine optimale Variante berechnet!" 23
Es folgten genaue technische Angaben. Jon hatte wirklich an alles gedacht. Seine Aufzeichnungen endeten mit dem Satz: „Grüß mir die Erde, die Basis und Lina ..." Es waren noch drei Stunden bis zum Automatenstart. Bis dahin hatte Anatoli die vorgeschriebenen Checks durchzuführen und noch ein paar Geräte anzuschließen. Jon hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Das eigenartige aber war, er verstand Jon sogar. Es schnürte ihm die Kehle zu, als er an Jons Schicksal auf dem Planeten dachte. Als Jon auf dem Rückflug vom Booster die Wolkendecke durchstoßen hatte, seinem Felsplateau entgegensteuerte, hoffte und wünschte er nichts mehr, als daß Anatoli sein Angebot annehmen würde und er nicht etwa versuchte, mit dem Booster zu landen, denn dann wäre all seine Mühe umsonst gewesen. Ihn durchzuckte ein anderer Gedanke: Vielleicht haben gerade ihre Vorgänger diesen Fehler gemacht? Es wäre zumindest eine Erklärung für das Verschwinden des Boosters aus der Umlaufbahn. Jon richtete seinen Radar auf die dichte Wolkendecke. Ja, dort oben mußte der Booster sein, die Silhouette zeichnete sich bald klar im Radar ab. Die Zeit lief, nur noch ein paar Minuten, dann würde die Automatik die Triebwerke zünden ... Jon wartete, jede Minute dehnte sich zur Ewigkeit. Doch dann: pünktliche Zündung. Anatoli war also bereit, die Hand, die er ihm gereicht hatte, zu ergreifen. Jon hatte alles, was er brauchte, auf dem Planeten. Verpflegung, Sauerstoff, selbst die Brennstoffvorräte des Reaktors würden für Jahre reichen, wenn es keine Pannen geben würde. Welche Überraschungen aber hielt der Planet noch für ihn bereit? Was wäre, wenn plötzlich seine Aggregate angegriffen würden? Wie sollte er dann mit der eingeplanten Energie seine Technik und sich selbst verteidigen? Die Nacht verbrachte er im Lander, die beiden Golems hielten Wache. Er hatte ihre Programme so geändert, daß sie sofort Alarm geben würden, wenn sich auch nur das Geringste veränderte. Doch nichts in der Art geschah, noch nicht. In den nächsten Tagen führte er alle Messungen in Sichtweite des Landers aus, immer in Erwartung etwas Unvorhersehbaren. Nichts, nicht einmal eine fliegende Steinkugel, wurde mehr registriert. Auch das Grollen und die Boden24
Vibrationen hatten sich weiter abgeschwächt. Lediglich die empfindlichen Seismometer zeichneten noch etwas auf, wobei die Epizentren weit ab von seinem Aufenthaltsort lagen. Doch dann, in einer der folgenden Nächte, gab es Alarm, sein Seismometer führte wahre Tänze auf. Jon sprang auf, hastete zum Tiefenradar. Unter ihm, Dutzende Meter tief, genau dort, wo damals die Lander versunken waren, tat sich etwas. Er ließ die Golems das Gelände beleuchten, zog seinen Skaphander über und eilte auf den lichtüberfluteten Platz. Von überall wogte und toste es. Krachend barsten Steine, millimeterweise rückten Bruchkanten auseinander, Splitter flogen ... Was da vor seinen Augen ablief, erschien ihm grotesk und unglaubwürdig, mehr wie ein Traumerlebnis. Nicht objektiv gefährlich oder angsteinflößend - nur eben nicht mit den menschlichen Erfahrungen vereinbar. Obwohl Jon außer den aufbrechenden Steinen nichts weiter sehen konnte, hatte er so eine Ahnung. Langsam öffnete sich ein Krater, in dessen Mitte sich der vermißte Lander hervorhob, einen Moment verharrte, so als würde er schweben, während sich der Basalt unter ihm zu schließen begann. Kristalline Vernetzungen überzogen den Schauplatz des Geschehens. Minuten nur, und der Spuk war vorbei. Er stand da wie angewurzelt, es dauerte eine Weile, bis er sich wieder richtig zurechtfand. „Golem, erbitte Analyse!" Einer der Golems stapfte dem Lander entgegen und betastete ihn mit seinen Mikrosensoren. Er erstattete Meldung: „Lander zwei entspricht dem Normalaufbau - keine Differenzen, getreues Abbild in verkieselter Gestalt!" Diese Bemerkung des Golems durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag, sie rührte ihn bis ins Innerste. Wieso das? Warum tauchte der Lander wieder auf? Wollte sich jemand über ihn lustig machen? Die Ereignisse um das-Auftauchen des Landers gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Sollte es wirklich nur eine Zufälligkeit sein, eine Laune der unbelebten Natur? Oder doch eine bewußt gesteuerte Demonstration von Macht? Steckte vielleicht eine Intelligenz hinter allem? Am nächsten Tag unternahm er mehrere kurze Rundflüge, jedoch ohne den geringsten Anhaltspunkt für seinen Verdacht zu finden. 26
Außer weiteren, ähnlichen Plateaus und den immer wiederkehrenden grauen Felsenketten entdeckte er nichts. Als er auf der Suche nach einem vermuteten Epizentrum auf einem weiter entfernten Plateau landete, stellte er dann doch einen Unterschied fest. Das Grollen und die Bodenschwingungen waren hier um ein vielfaches heftiger. Sogar fliegende Steinkugeln tauchten wieder auf. Sie flogen zwar mindestens fünfzig Kilometer nördlich, aber immerhin ... Nachdenklich geworden, flog er zurück. Auf seinem Plateau hatte sich nicht das geringste verändert. Er stieg aus, fühlte sich aber sogleich irgendwie beklommen, er spürte, daß etwas geschehen würde. Diese eigenartige Stille ging ihm auf die Nerven. Wie vor einem stärken Gewitter auf der Erde. Beunruhigt stieg er noch einmal in seinen Lander und flog diesmal über hundert Kilometer weit nach Norden, dorthin, wo die meisten Steinkugeln auftraten. Er mußte die Gefahr auf sich nehmen. Auf einem einzeln stehenden Plateau bemerkte er einen Felsen, einer aufgeklappten Apfelblüte nicht unähnlich, nur eben grau und groß. Zu seiner Überraschung konnte er zum erstenmal solch ein Gebilde aus der Nähe betrachten, ohne daß Steinkugeln seinen Weg gekreuzt hätten. Er umflog es mehrmals und setzte zur Landung an. Als er ausstieg, war die seismische Aktivität erheblich. Ein besonders heftiger Stoß riß ihn fast um. Als Epizentrum bezeichnete seine Anzugautomatik gerade jene Steinblume dort vor ihm. Er blieb stehen, wagte sich nicht weiter vor. Wieder dieses merkwürdige Phänomen. Große Mengen von Stein rückten im Zentrum der Blume auseinander, gaben langsam eine runde Öffnung frei, wie eine altertümliche Kommode. Jon zögerte, der Boden wankte ... Er wich zurück. Ein heftiger Stoß, er stürzte, rappelte sich auf und rannte auf schwankendem Grund die letzten fünfzig Meter bis zum Lander, hastete die kleine Rampe herauf, eilte zum Kommandopult, stellte sich vor die Sichtscheibe aus Panzerglas. Draußen trat Ruhe ein, aber nur scheinbar. Da geschah es auch schon. Ein trockener Knall, da schoß eine jener tonnenschweren Steinkugeln mit hoher Geschwindigkeit aus der Blume. Donnergrollen, die Apparate und Armaturen klirrten ... Der automatische Alarmstart riß seinen Lander auf Höhe und ihn unsanft in die Polster. Auf seinen Anzeigen las er ab: „Überschallgeschwindigkeit für das unbekannte Objekt." 27
Das war der Grund für das ferne gewitterartige Grollen auf diesem Planeten. Sein Leichtsinn hätte ihm fast das Leben gekostet. Seitlich versetzt, hoch über dem Ort des Geschehens, schwebte er in seinem Lander - gerade in diesem Augenblick konnte er den Anflug einer Steinkugel beobachten, sie schlug direkt neben seinem vorherigen Standort ein. Explosionsartig bildete sich ein recht ansehnlicher Krater, dessen nähere Umgebung sich schwarz zu verfärben begann. Seinen Lander trafen heftige Druckwellen. Unten begann ein giftgrüner Nebel über die Kraterböschung zu fließen und verteilte sich weit über das Gelände. Kochend und brodelnd schien das ganze Plateau in sich zusammenzusacken. „Unbekannte organische Säure", meldeten die Anzeigen. In ihm wuchs eine vage Ahnung. Konnten das hier nicht Kämpfe sein, kriegerische Auseinandersetzungen, in die er zufällig hineingeraten war, die mit seiner Gegenwart überhaupt nichts zu tun hatten? Die Geschichte der Erde kannte viele Beispiele ... Wenn ja, wer aber waren die Kontrahenten? Die Waffen hatte er ja nun kennengelernt. Oder handelte es sich gar um programmgesteuerte Automaten, die hier in irgendeinem Auftrag einen sinnlos gewordenen Kampf führten? Sie hatten vielleicht schon längst ihr Ziel erreicht und alles Leben vernichtet... Wenn es so wäre, sollte man nicht die selbständig -gewordenen Waffen vernichten? Doch wem schadeten sie hier? Ihn selbst schützten Automaten, und andere Lebewesen existierten offenbar nicht. Jon flog weiter, die großen Steinblumen sah er immer häufiger. Die fliegenden Steinkugeln allerdings auch. Langsam zog er sein • Fluggerät höher ... Er spürte mit einem Male ein unbezähmbares Verlangen, die Sonne zu sehen, auch wenn sie ihm fremd sein würde. Nur einmal heraus aus diesem Grau ... In flachem Winkel stieß er in die undurchsichtige Wolkendecke. Minuten verstrichen, ehe es heller wurde und schließlich gleißendes Licht hervorbrach. Geblendet schloß er seine Augen und drückte den Lander in eine weite Kurve, die den Feuerball hinter ihm verschwinden ließ. Die bläulichweißen Strahlen beleuchteten die wabernde Wolkendecke. An einigen weit in den Raum herausragenden Zipfeln brach sich das Licht in den Farben des Regenbogens - und das vor der Schwärze des Weltraumes mit seinen zahlreichen Lichtpunkten. Das Band der Milchstraße, ein paar Planeten des Systems und die 28
noch aus der Antike der Menschheit stammenden Namen der Sternbilder fielen ihm ein ... Eigenartig, daß dieses Sammelsurium von nachtschwarzem Weltraum, greller Sonne und dieser buntschillernden Wolkendecke ihn so erheiterte. Er genoß das farbige Schauspiel. Einer plötzlichen Laune folgend, schaltete er an seinem Panoramaempfänger und hatte ungewollten Erfolg. Die Basis suchte. Doch nein, es war eine Information für den herannahenden Anatoli. Wenn es anfangs auch nur so eine Laune war, die Atmosphäre zu verlassen, so war Jon jetzt in einer selten erlebten Hochstimmung. Mit dem Eintauchen in die graue Wolkendecke überkamen ihn wieder erste düstere Gedanken. Seine Euphorie konnte sehr, sehr schnell in eine Depression umschlagen, dessen war er sich wohl bewußt, schließlich war er nicht zu irgendeinem Ausflug hier, um sich an Naturschönheiten zu erfreuen, nein, er war, wie man es auch sehen wollte, ein Gefangener! Als er seinem Plateau näher kam, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Hatte er Besuch? Wie Wachsoldaten umschritten seine zwei Golems den Ort. Beim Näherkommen erkannte er die Technik der Geräte, es war der fast tausend Meter lange Booster, zwei Lander und zwei Golems. Alles, was da lag, war jedoch nicht metallen, es handelte sich um Fossilien ihrer Vorgängertechnik. Also doch, er hatte sie gefunden, obwohl das nun sicher nicht sein Verdienst war. Wessen dann? Wo waren die beiden Kosmonauten? Vor zwei Jahren waren sie hier gelandet, um diesen Planeten gründlich zu untersuchen, zu kartographieren, es war ein reiner Routineauftrag. Doch der Booster, wieso wurde er nur gelandet? Es widersprach eindeutig den Bestimmungen. Jon landete, bereitete sich zum Aussteigen vor. Er war irgendwie verwirrt. Keines klaren Gedankens fähig, kramte er in seiner Werkzeugkiste, ergriff einen Hammer und trat hinaus, lief die paar Meter hinüber. Sein Herz pochte wild, er faßte das Werkzeug fester, mußte sich überwinden und zerschlug die Undurchsichtige, verkieselte ehemalige Sichtscheibe des Landers. Er schloß die Augen vor dem, was er zu sehen bekam ... Grauen, Haß und Wut vermischten sich zu einem Fluch. Jo"h benötigte mehrere Minuten, um sich soweit zu beruhigen, damit er überhaupt hinsehen konnte. Da drinnen saßen die beiden verschollenen Erkunder in ihren 29
Raumanzügen, mit abgenommenen Helmen - zu Stein gewordene Menschen. Obwohl er sie nur auf Bildschirmfotos gesehen hatte, erkannte er ihre Gesichter sofort, selbst die Details stimmten. Taumelnd und wankend stolperte er zurück zu seinem Lander, er riß sich den Raumanzug herunter und ließ sich in die Polster fallen. Sollte auch er so enden? Er lenkte die Außenkamera so, daß er die Roboter, den Booster und die verkieselten Lander im Sichtbereich hatte. Immer wieder mußte er sich zwingen hinzuschauen, bis es aus ihm herausbrach: seine ganze Wut, all die Enttäuschung. Er schlug mit aller Kraft auf sein Kommandopult, immer wieder, seine Hände bluteten, er heulte, schluchzte, schrie. Als er dann langsam ruhiger wurde, apathisch, besah er seine Hände wie etwas Fremdes, das gar nicht mehr zu ihm gehörte, er schlief ein wie ein Kind, das sich ausgetobt hatte. In der folgenden Nacht dann sah er furchtbare Steinungetüme mit stechenden rubinfarbenen Augen. Er ließ die Golems schießen, schießen, schießen - immer und immer wieder auf Steinmonster, Spinnen, Kraken, Saurier. Überall formten sich diese Steinblumen und gebaren noch schrecklichere Kreaturen. Sie zerschmetterten sich gegenseitig, griffen auch ihn an. Es tobten erbitterte Kämpfe, der ganze Planet schien in Aufruhr geraten zu sein. Der Boden wankte, es splitterte, krachte ... Jon fand keine Ruhe mehr. Warum nur befolgten die Golems auf einmal nicht mehr seine Befehle? Immer wieder mußte er neue präzise Zielangaben machen. Oft weigerten sie sich und versuchten sogar, ihn zu behindern. Immer öfter mußte er ihnen Redeverbot erteilen. Essen und trinken konnte er nur noch flüchtig, überall im Lander war Unordnung. Er fand keine ruhige Minute mehr, dämmerte in den Ruhepausen nur so dahin. Tage oder Wochen dauerten diese Kämpfe. Jon hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die Energievorräte der Golems und- auch die des Landers näherten sich ihrem Ende ... Als Anatoli an der Basis A 3 anlegte, wurde er wie ein Held gefeiert. Er mußte zwar ärztlich behandelt werden, weil seine Muskulatur rückgebildet und einige Wirbel gestaucht waren, doch war er außer jeder Gefahr. Auf der Basis herrschte Spannung und Erstaunen, als Anatoli über 30
Jon berichtete. Besonders bei denjenigen, die Jon seit seinem „Unfall" mißtrauten. Der Kapitän des Linienkreuzers hatte die oberste Raumbehörde befragt und bekam die Erlaubnis, zu warten, bis sie auch Jon geholt hätten. Die drei Rettungsbooster kamen dem Basaltplaneten nahe, sie schwenkten in seine Orbitale. Sechs Lander bewegten sich durch die Wolkenwatte des Planeten - das Plateau fanden sie schon bald ... Zwei Lander waren das einzig Intakte in einer wüsten, verbrannten, zerschmolzenen, radioaktiv "verseuchten Kraterlandschaft. Die Golems lagen zerstört zwischen tonnenschweren Gesteinsbrocken. Die sechs Männer mußten ziemlich weit entfernt landen, um dann in schweren Schutzanzügen das Gelände zu betreten. Nach Stunden erreichten sie erst die Lander - einer war leer, verkieselt. Als sie den anderen betraten, fanden sie ein entsetzliches 31
Chaos, einen spindeldürren, übernächtigten, ausgehungerten Menschen mit tiefliegenden, blutunterlaufenen Augen, zwischen Exkrementen und Essensresten, der etwas von Angriff und versteinerten Menschen faselte ... Es war wirklich Jon, an der Grenze zwischen Leben und Tod, ein Bündel Mensch mit verwirrten Sinnen - ein Jemand, der nicht mehr zu unterscheiden vermochte zwischen Wahn und Wirklichkeit. Später stellte sich heraus, daß Jon wirklich eine Lebensform auf Silikatbasis gefunden hatte. Danach aber mußte eine Veränderung mit ihm vorgegangen sein -: er begann Dinge zu bekämpfen, die nur in seiner übersteigerten Phantasie existierten. War er vielleicht von den Silikaten beeinflußt worden, oder hatte er die Entdeckung der verschollenen Expedition einfach nicht verkraftet? Die letzten Geheimnisse würde eine nächste Expedition zu lösen haben ...
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EINSTIEG Geschichten neuer Autoren 224 Seiten • Ganzleinen 7,80 M
Welche Einstiege finden sich für Leute zwischen 25 und 45: Wie sieht ihr Alltag aus, was macht Mut, und was macht angst, welchen Verlust gibt es und welchen Gewinn, wo wollte man hin, und wo ist man jetzt? ... Einstiege - Vater werden, eine Leitungsfunktion übernehmen, eine ganz neue Arbeit beginnen, eine sinnlos scheinende Ehe aufgeben ... Konflikte im Erwachsenwerden, schwierige Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ... Hohe Ansprüche an die Ausprägung der eigenen Persönlichkeit wie auch an den Partner ..., die Schwierigkeit, miteinander darüber zu sprechen ... Wege von Menschen der gleichen Generation, die ähnlich begannen und jetzt unterschiedliche Lebensformen anstreben ..., sind Themen der dreiundzwanzig Geschichten von zweiundzwanzig Autoren. Berliner Zeitung
Verlag Neues Leben Berlin