Flor Fernandez Barrios Die Stimme des Donners Meine Kindheit auf Kuba corrected by monja
Glücklich verbringt Flor Teres...
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Flor Fernandez Barrios Die Stimme des Donners Meine Kindheit auf Kuba corrected by monja
Glücklich verbringt Flor Teresa Fernandez Barrios die ersten Jahre ihrer Kindheit auf Kuba. Liebevoll lehrt ihre Großmutter sie die Geheimnisse und Mythen der traditionellen Heilkunst. Doch Flors Leben ändert sich schlagartig, als 1959 Fidel Castro an die Macht kommt. Ihre Großeltern werden enteignet, ihr Vater wird in ein Arbeitslager gesteckt und sie selbst muss unter härtesten Bedingungen Tabak ernten, bis ihre Hände bluten. Die Spiritualität ihrer Ahnen jedoch gibt ihr die Kraft, das Leid zu ertragen.
Flores Fernandez Barrios Die Stimme des Donners Titel der Originalausgabe: Blessed by Thunder Übersetzung aus dem Amerikanischen von Gertrud Bauer Umschlaggestaltung: Christof Berndt &. Simone Fischer, Berlin Titelabbildung: David Alian Harvey/MAGNUM/AG. FOCUS
© 2000 Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München ISBN 3-548-36228-1
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch Kurz nach Mitternacht, während eines mächtigen Donnerschlages, erblickt Flor Teresa Fernandez Barrios auf Kuba das Licht der Welt. Laut ihrer Großmutter verleiht Donner eine besondere Gabe – die magische Kraft des Heilens. Sie führt ihre Enkelin in die Tradition der Spiritualität und Heilkunst ein. Umsorgt und geliebt wächst Flor im Kreise ihrer Familie auf, bis Fidel Castro an die Macht kommt. Ihre Eltern lehnen die neue Regierung ab und stellen einen Ausreiseantrag. Die Familie wird daraufhin beschimpft und geächtet, die Großeltern verlieren ihre hart erarbeitete Plantage und die zehnjährige Flor wird in ein Arbeitslager geschickt. Erst Jahre später darf die Familie endlich nach Amerika auswandern. Doch Flor fällt trotz allem der Abschied von ihrer Heimat schwer. Im Exil besinnt sie sich auf ihre kubanischen Wurzeln und schöpft daraus die Kraft, sich in der Neuen Welt zu behaupten. Die eindrucksvollen Lebenserinnerungen einer Frau auf der Suche nach ihrer kulturellen Identität.
Die Autorin Flor Teresa Fernandez Barrios wurde in Cabaigüán auf Kuba geboren. 1970 emigrierte sie im Alter von vierzehn Jahren mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten. Heute lebt sie in Seattle und arbeitet dort als Psychotherapeutin.
Flor Fernandez Barrios
DIE STIMME DES DONNERS
Meine Kindheit auf Kuba Aus dem Amerikanischen von Gertrud Bauer
Ullstein
Ullstein Taschenbuchverlag 2000 Der Ullstein Taschenbuchverlag ist ein Unternehmen der Econ Ullstein List Verlag GmbH &. Co. KG, München Deutsche Erstausgabe © 2000 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München © 1999 by Flor Fernandez Barrios Titel der amerikanischen Originalausgabe: Blessed by Thunder (Seal Press, Seattle) Übersetzung: Gertrud Bauer Umschlagkonzept: Lohmüller Werbeagentur GmbH & Co. KG, Berlin Umschlaggestaltung: Christof Berndt &. Simone Fischer, Berlin Titelabbildung: David Alian Harvey/MAGNUM/AG. FOCUS Gesetzt aus der Goudy, Linotype Satz: Josefine Urban - KompetenzCenter, Düsseldorf Druck und Bindearbeiten: Eisnerdruck, Berlin Printed in Germany ISBN 3-548-36228-1
Für alle Doñas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
DANKSAGUNG
In meiner kubanischen Kindheit gab es viele dunkle Stunden. Die Inspiration zu diesem Buch bekam ich durch all die Menschen, die mit ihrer Liebe dafür sorgten, dass mir diese Zeit doch in heller und freundlicher Erinnerung bleibt. In diesem Buch möchte ich von ihrer Weisheit, ihrem Mut und ihrer Menschlichkeit berichten. Von ihnen habe ich gelernt, dass der Mensch die Kraft hat, Leiden zu ertragen und zu heilen. Ich achte und ehre alles, was ich von meinen Großmüttern Patricia Hernández und Petra Alvarez empfangen und gelernt habe. Ich danke meinen Großvätern José Maria Barrios und Victor Fernandez. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an die tröstende und heilende Gegenwart Carmens, an die weisen Alten Graciela und Salvador, an die Fürsorge unserer Nachbarn Nena und Veita. Die Freundinnen meiner Kinderzeit, Maria Victoria Rodriguez und Mariluz Nieda, sowie mein Freund Enrique Evelio haben mir mit ihrer Liebe und Treue Kraft gegeben. Besonderen Dank bin ich meinem Vater Antonio Fernandez schuldig, dessen Traum von Freiheit mich in ein neues Land voller Chancen und Möglichkeiten gebracht hat. Danke, Vater, für deinen Mut und dafür, dass du auch mir immer Mut gemacht hast, meine eigenen Träume zu verwirklichen. Meine Mutter Felicia Barrios hat mit ihrer Kraft und Wärme unsere Familie in den Wechselfällen des Exils zusammengehalten. Ich danke dir, Mutter, dass du mir geholfen und an mich geglaubt hast. Auch
mein Bruder José Antonio Fernandez, dem ich durch die gemeinsamen Schrecken einer Kindheit in der Zeit der Revolution eng verbunden bin, gehört hierher, desgleichen meine Nichte Danielle Fernandez, eine junge Curandera, und mein liebenswürdiger Neffe Esteban Fernandez. Alle diese Menschen waren für mich eine Quelle der Liebe und der Inspiration. Meine Tanten – Ana, Caridad, Herlinda, Juana, Mensa und Nelda – haben mir immer wieder bewusst gemacht, worin die Stärke der Frauen besteht. Ich verdanke ihnen viel.
1
ZWEI GEBURTEN
ICH WURDE IN DER Stadt Cabaigüán geboren, und zwar während eines Hurrikans. Gerade als ich die Welt betrat, ein paar Minuten nach Mitternacht, schlug ein Blitz in der Nähe mit solcher Wucht ein, dass in der Klinik alle Lichter ausgingen. So hat es mir jedenfalls Großmutter Patricia erzählt. »Negrita«, sagte sie immer zu mir, »du hast ein Geschenk, eine Gabe. Vergiss nie, dass der Donner dich auf der Welt begrüßt hat.« Dann erklärte sie, Donner und Blitz seien die Kräfte der YorubaGottheit Changó, die in der katholischen Religion als heilige Barbara bekannt sei. Ich heiße Flor Teresa, aber meine Großmutter Patricia nannte mich immer negrita, das heißt »kleine Schwarze«. So drückte sie ihre Liebe zu mir, ihrer Lieblingsenkelin, aus. Sie glaubte, ich würde die Tradition des Heilens weiterführen und eine curandera, eine Heilerin, werden wie sie. Ihre Aufgabe war es, mich auf den Gebrauch dieser Gabe vorzubereiten. Aus diesem Grund war Großmutter Patricia für mich mehr als nur eine Großmutter. Sie war meine Beschützerin und Lehrerin und brachte viel Zeit damit zu, mich in die Geheimnisse des Lebens einzuweihen, von den trivialen Dingen, wie man zum Beispiel den Fliesenboden ihrer Küche richtig sauber machte, bis hin zu den bedeutenden Fragen von Spiritualität und Heilkunst. Großmutter war eine geborene Erzählerin und verstand es, in ihre Geschichten eine Art von Weisheit hineinzuflechten, -9-
die magisch und praxisnah zugleich war. Doña Patricia, wie sie in der Stadt respektvoll genannt wurde, war überzeugt, in der stürmischen Nacht meiner Geburt die Zeichen erkannt zu haben, die bestätigten, ich sei dazu bestimmt, ihre Schülerin in der Kunst des Curanderismo zu werden. Für mich ist diese Geschichte eine wichtige Verbindung zu meinen Wurzeln – nicht nur zu meinem Geburtsort, sondern auch zu einer ganzen Ahnenreihe von Frauen, die sich als Heilerinnen verstanden und in einer Welt lebten, wo man Frauen für weise hielt. Zum letzten Mal hörte ich Großmutters Erzählungen über meine Geburt, direkt bevor ich mit meiner Familie Kuba für immer verließ. Ich war vierzehn und besuchte sie an einem Sonntagnachmittag. Sie begrüßte mich mit dem üblichen Kuss auf die Stirn und dem Segenswunsch »Dios te bendiga«. Dann schaute sie mich eine Weile an. Ohne ein Wort gab sie mir zu verstehen, ich solle ihr in die Küche folgen. Großmutter ging langsam vor mir her und es war, als ob plötzlich die Jahre ihres Lebens schwer auf ihr lasteten. Sie rückte zwei Stühle zurecht. »Komm, negrita, setz dich.« Sie legte mir die Hand aufs Knie. »Ich bin jetzt fünfundsechzig Jahre alt, aber die Bilder deiner Geburt stehen mir so lebendig vor Augen, als wäre noch kein Jahr seither vergangen. In der Hurrikan-Saison sind die Stürme so stark, dass die schlanken Palmen wie Pendel schwingen. Der Regen stürzt vom Himmel und die Flüsse schwellen gewaltig, bis die Täler schließlich mit einem braunen Gemisch aus Erde und Wasser gefüllt sind. In der Nacht, in der du geboren wurdest, erreichte der Wirbelsturm seinen Höhepunkt. Er kam von Osten, über die Provinz Oriente. Auch bei uns in Cabaigüán, im Mittelteil des Landes, hatte der Wind noch Geschwindigkeiten von bis zu neunzig Stundenkilometern. Erbarmungslos stürzten in der Dunkelheit die Wassermassen herab. Es gab ein gewaltiges Gewitter, das den Himmel mit der wilden Leidenschaft von Changó erhellte. -10-
Ich wusste, dass du, meine sehnlich erwartete Enkelin, etwas Besonderes sein musstest, wenn du in einer solchen Nacht auf die Welt kamst. Ich sagte zu deiner Mutter: ›Dein Kind hat eine starke Seele, Felicia.‹« Großmutter machte eine Pause, und ihre Augen blickten in meine, um zu sehen, ob ich auch zuhörte. »Du weißt, negrita, dass deine Mutter Felicia nicht die Schwiegertochter war, die ich mir gewünscht hätte. Ich glaubte nicht, dass es gut gehen könnte. Sie war ein verwöhntes Mädchen. Die Familie Barrios war steinreich und wir waren arm. Als ich deine Mutter zum ersten Mal sah, hatte sie manikürte Hände wie eine Prinzessin – mit langen roten Fingernägeln! Felicia verbrachte ihre Nachmittage meist damit, in den Modemagazinen zu blättern – Vanidades, La Familia und Ella… Aber der Wahrheit die Ehre – als sie verheiratet war, hielt sie das Haus sauber und kochte für meinen Pepe wie für einen König.« Großmutter schlug die Augen nieder, als schämte sie sich für das, was sie eben gesagt hatte. Sie klopfte mir sacht aufs Knie. »In der Nacht deiner Geburt«, fuhr sie fort, »wollte ich bei ihr sein, im Kreißsaal unserer kleinen städtischen Klinik, und ihr die Hand halten. Ihr Gesicht war bleich und der Schweiß lief ihr in dicken Tropfen auf das weiße Leintuch. Ich fuhr ihr mit den Fingern durch das feuchte Haar und betete zur Virgen del Cobre, sie möge Felicia Kraft geben. In einer solchen Situation, wenn man Zeuge ist, wie ein anderer leidet, vergeht die Zeit schrecklich langsam. Ich möchte schwören, dass die Zeiger der alten Wanduhr um Mitternacht stehen blieben.« Ich bat Großmutter, mir den Raum näher zu beschreiben. Ich wollte den Platz, wo ich geboren wurde, genau kennen lernen. »Ich erinnere mich an ein kleines Fenster an der westlichen Wand, vielleicht einen Meter auf einen Meter zwanzig groß, durch das man die Straßen der Umgebung sehen konnte. Das -11-
war die einzige Öffnung in die Außenwelt. Draußen flackerten die Straßenlampen im Sturm. Neben dem Bett war ein Metalltisch, auf dem scharfe und blitzende Geräte lagen – Scheren, Messer, Nadeln –, die mich schaudern ließen. Für mich riechen Krankenhäuser nach Tod, nach kranken Körpern, die in sterilen Betten verwesen. Geisterhäuser, mi niña. Wenn die Menschen sterben, hilft ihnen niemand, den Körper zu verlassen. Dann wandern ihre Seelen verwirrt durch Gänge und Räume und suchen einen Ausgang. Für mich ist ein Krankenhaus nicht der richtige Ort zum Gebären, aber deine Mutter bevorzugte, wie alle Frauen ihrer Generation, die moderne Methode. Aber sie wollte auch, dass ich dabei sei, wie in alten Zeiten, als die Frauen über alle Frauensachen Bescheid wussten. Damals wäre es undenkbar gewesen, zur Entbindung in ein Krankenhaus zu gehen. Die Frauen gebaren ihre Kinder in ihrem vertrauten Heim und die Männer warteten draußen, bis man ihnen sagte, sie könnten kommen.« Ich unterbrach Großmutter und fragte sie, bei wie vielen Geburten sie dabei gewesen sei. »Ach… ich kann mich nicht erinnern, so viele waren es. Aber deine Geburt werde ich nie vergessen – es war nach Mitternacht, als Dr. Gamboa sagte: ›Das Baby kommt, das Baby kommt!‹ Und genau in diesem Moment fuhr der Blitz in einen Leitungsmast und im Krankenhaus fiel der Strom aus. Oh, mein liebes Kind! Ich konnte es kaum glauben. Dein Eintritt in die Welt war begleitet vom donnernden Toben der Natur. Ich fasste das als eine Botschaft vom Himmel auf. Ein so günstiges Vorzeichen wie Donner und Blitz kann man nicht ignorieren. Es war stockdunkel im Raum. Zuerst konnte ich nur Schatten sehen. Dann gewöhnten sich meine Augen allmählich an die Finsternis und ich sah, wie Dr. Gamboa mit seinen dünnen Fingern auf dem Tisch herumtastete und die Instrumente, die er -12-
suchte, dabei herunterstieß. Die Schwester wollte ihm zu Hilfe kommen, aber er war so jung und unerfahren, dass er sich darüber ärgerte. ›Warten Sie gefälligst, bis ich Sie um Hilfe bitte!‹ schrie er. Ich wusste, er hatte Angst, es könnte dir etwas passieren. Dann hörte ich deine Mutter schreien. ›Doña Patricia, ahhhh, Patricia, ich halte es nicht mehr aus! Diese Schmerzen! Ich glaube, ich sterbe… helft mir! Warum ist es hier so dunkel?‹ Felicia bäumte sich auf und packte mich so fest am Arm, dass ich dachte, sie würde ihn ausreißen. ›Beruhige dich, alles wird gut‹, sagte ich. ›Tief atmen.‹ ›Wo ist Pepe?‹ Ich versicherte ihr, dein Vater sei im Warteraum wie alle Männer. Sie gingen dort auf und ab und rauchten ihre Zigarren. ›Ich fürchte, wir verlieren dieses Kind!‹, hörte ich Dr. Gamboa sagen. Ich begann leise zu beten. ›Hören Sie auf mit der Beterei!‹, bellte der junge Doktor. ›Patricia… ah, oh, lass mein Baby nicht sterben!‹, schrie deine Mutter.« Großmutters Stimme war lauter geworden. Ich sah mich selbst, wie ich mich mitten in Sturm, Unwetter und Dunkelheit durch den Geburtskanal kämpfte und eine Öffnung zur Welt suchte. Ich sah auch das schmerzverzerrte Gesicht meiner Mutter und ich sah, wie Dr. Gamboa nervös versuchte, unter den Leintüchern, die über den Beinen meiner Mutter ein Zelt bildeten, etwas zu sehen. »Es war genau in diesem Augenblick.« Großmutter stand auf und schaute hinaus auf den Mangobaum vor dem Küchenfenster. »Es war genau in diesem Augenblick, dass ich eine starke Gegenwart im Raum spürte. Ich wandte den Kopf zum Fenster. Zuerst war nur ein schwaches Leuchten zu sehen, dann nahm es allmählich die Gestalt einer jungen Frau an. Die Erscheinung war durchsichtig, aber sehr lebendig. Die Frau war wie eine Nonne gekleidet, mit einem langen schwarzen Gewand, einem -13-
hohen weißen Kragen und einem schwarzen Schleier über dem Kopf. Ich war so hingerissen von dem Glanz, der von ihr ausging, dass ich vergaß, wo ich war. ›Oh, mi Dios! Was ist das? Bin ich etwa eingeschlafen?‹, fragte ich mich.« Großmutter machte eine Pause. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie ließ sich immer von der Dramatik ihrer eigenen Geschichten mitreißen. Wie eine gute Schauspielerin erlaubte sie es den Stimmen der beteiligten Personen, durch sie hindurch zu gehen und ihre Gefühle auszudrücken. »Und dann, negrita, du wirst es nicht glauben. Die junge Frau sagte zu mir: ›Erkennst du mich nicht, Patricia? Ich bin die heilige Teresa von Avila.‹« Ich glaubte das nicht und ich sagte es Großmutter. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass die heilige Teresa in den Kreißsaal kam. »Du kannst glauben, was du willst, negrita, aber so war es. Ich fragte sie, was sie wolle. Und was meinst du, hat sie gesagt? ›Ich konnte doch die Geburt deines ersten Enkelkinds nicht versäumen!‹ Sie tadelte mich sogar, weil ich mich nicht als Geburtshelferin betätigte. Sie sagte, Dr. Gamboa sei völlig verstört, und es sei meine Pflicht als Hebamme einzugreifen.« Großmutter kam zu ihrem Stuhl zurück und nahm meine Hände in die ihren. »Ich kann es dir nicht anders erklären, aber du musst wissen, dass sie gekommen war, um dich zu beschützen. Sie war da! Ich konnte sie so deutlich sehen wie dich jetzt. Und ein paar Minuten später warst du aus dem Bauch deiner Mutter hervorgekrochen und hast aus Leibeskräften geschrien und ich habe dich im Arm gehalten.« Sie sah mich mit dem gleichen Ausdruck liebevoller Hingabe an, den sie damals wohl gehabt hat, als sie mich zum ersten Mal im Arm hielt. -14-
»Mein Herz war voller Freude, als ich dich sah, Teresa«, fuhr Großmutter mit einem leichten Zittern in der Stimme fort. »Du warst nicht einmal fünf Pfund schwer, aber hübsch und wohlgeformt und mit weit geöffneten dunklen Augen. Obwohl deine Haut bläulich und runzlig war, hast du ausgesehen wie eine Puppe, mit dichtem schwarzem Haar und einer runden kleinen Nase, genau wie die deiner Mutter. Ich schaute mir deine Finger und Zehen an, die Ohren und den Mund, die Arme und Beine, den Rücken und den Popo. Alles war so, wie es sein muss. Dann wandte ich mich zum Fenster, wo ich die heilige Teresa gesehen hatte. Sie war immer noch da. Ich streckte ihr den kleinen Körper in meinen Armen entgegen und bat sie um ihren Segen. Sie lächelte und hob die rechte Hand. Sie schickte einen Lichtstrahl aus, der deine Stirn traf, und dann verschwand sie so schnell, dass ich ihr nicht einmal danken konnte.« Die Geschichte meiner Großmutter bewegte mich, aber ich wusste schließlich, dass sie eine talentierte Erzählerin war, und fragte mich, ob sie nicht aus ihrer Phantasie heraus zu den wirklichen Geschehnissen etwas hinzugefügt hatte. »Man kann mich ruhig eine Verrückte nennen«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen, »aber ich weiß, dass die heilige Teresa in jener Nacht da war. Und deshalb habe ich dich Teresa genannt, ihr zu Ehren.« »Und warum gerade sie?«, wollte ich wissen. »Santa Teresa ist die Heilige, die wir curanderas in schwierigen Lagen anrufen. Aber in deinem Fall kam sie, ohne dass ich sie gerufen hätte, und das heißt, dass sie deine Beschützerin und Führerin ist. Sie hat dich gesegnet. Ich weiß noch gut, wie ich deinen kleinen Körper im lauwarmen Wasser gebadet habe. Im Licht einer Kerze wusch ich sanft deine zarte Haut. Was für ein wunderbarer Augenblick in meinem Leben!« -15-
Selbst meine Mutter hatte noch nie mit so viel Leidenschaft und Liebe über meine Geburt gesprochen. Mit meinen vierzehn Jahren fühlte ich mich unbehaglich wegen der großen Aufmerksamkeit, die die alte Frau mir schenkte, und wegen der Last einer unbekannten Verantwortung, die zu erfassen ich noch nicht reif genug war. »Ich war so glücklich, dass du ein Mädchen warst. Und als ich deine winzigen Finger wusch«, sagte Großmutter und drehte meine Handflächen nach oben, »konnte ich meine Erregung kaum noch beherrschen. Ja… ja… hier ist alles. Ich habe es damals gesehen und ich sehe es jetzt. Du bist dazu bestimmt, eine curandera zu werden. Dein Weg ist der einer Heilerin. Der curanderismo vererbt sich und du bist von meinem Blut. Meine Mutter war eine Yerbera, das heißt eine curandera, die die Menschen mit Kräutern und Pflanzen heilte. Meine Mutter lehrte mich, was sie wusste, und in der Nacht, als du geboren wurdest, erkannte ich, dass der Geist dich erwählt hatte, meine Schülerin zu werden. Ich merkte es in dem Augenblick, als jener Blitz den Himmel erleuchtete. Die heilende Kraft, die Gott mir gegeben hat, ist wie die Energie des Gewitters. Das ist meine Gabe. Du hast sie auch, Teresa! Eines Tages wirst du berufen werden, alles über diese Gabe zu lernen, und es ist sehr wichtig, dass du den Ruf hörst.« »Und was ist, wenn ich ihn nicht höre?« Großmutter runzelte die Stirn. Sie stand von ihrem Stuhl auf und stand mitten in der Küche, die Hände in ihren Rocktaschen. Dann kam sie mit dramatischer Gebärde auf mich zu und hob mein Kinn in die Höhe. »Negrita.« Sie sah mir fest in die Augen. »Vergiss niemals, dass du vom Donner gesegnet bist. Wo du auch hingehst, du musst dich an meine Worte erinnern! Die alte Frau, die du vor dir siehst, weiß, wie gefährlich diese Gabe des Donners sein kann. Sie hat mich beinahe das Leben gekostet.« -16-
Ich erkannte meine Großmutter nicht wieder. Die Frau, die vor mir stand, war so wild wie ein Donnerschlag. Durch meinen Kopf schossen Bilder von Feuer und zuckenden Blitzen. Großmutter ging zu ihrem Stuhl zurück. Lange Zeit saßen wir schweigend da. Dann legte sie mir wieder die Hand aufs Knie. »Hab keine Angst, negrita. Blitz und Donner töten nicht nur. Sie heilen auch.« Großmutter lehnte sich im Stuhl zurück und begann mir die Geschichte zu erzählen, wie sie selbst die Gabe des Donners empfangen hatte. Mit zweiundzwanzig war sie immer wieder sehr krank geworden. Sie wurde sehr schwach, hatte hohes Fieber und magerte stark ab. Die Ärzte fanden trotz aller Bemühungen die Ursache nicht heraus. Als Doña Antonia, ihre Mutter, alle ihre Kräuterheilmittel ohne Erfolg ausprobiert hatte, entschloss sie sich, ihre Freundin Doña Mariana zu rufen, eine alte curandera von großer Weisheit. Die Heilerin kam am frühen Morgen. Sie war nicht größer als einen Meter fünfzig und so dünn wie ein Bambusrohr. »Ihre Bluse war so weiß, dass sie zu strahlen schien. Und sie trug einen Strohhut mit einer roten Stoffblume auf einer Seite«, erinnerte sich Großmutter. »Doña Mariana sah mehr wie eine Bauersfrau aus als wie eine curandera. Sie nahm ihren Hut ab, setzte sich an mein Bett und schaute mich mit ihren tiefen, schwarzen Augen durchdringend an.« Großmutter legte den Kopf zurück und beschrieb mit halb geschlossenen Augen, sie habe unter Doña Marianas Blick das Gefühl gehabt, das warme, lindernde Wasser des Meeres wasche die Krankheit von ihrem fiebrigen Körper. »Doña Mariana sah so alt aus!« sagte Großmutter mit leiser Stimme. »Tiefe Falten durchzogen ihre Stirn wie trockene Flussbetten das Land. Ihre Augen mit den schweren Lidern waren von einem Spinnennetz von Falten umgeben und die Zeit -17-
hatte tiefe Furchen in ihre Wangen und um ihren Mund gegraben.« Die weise Frau erzählte dem kranken Mädchen von der heilenden Kraft von Donner und Blitz und zog aus ihrer alten Ledertasche ein Bündel frischer Kräuter, das mit einem weißen Band zusammengebunden war. Mit diesem Bündel strich sie langsam und rhythmisch über Großmutters Körper. »Diese Gabe ist so mächtig, dass sie dich töten wird, wenn du nicht lernst, sie richtig zu gebrauchen«, sagte Doña Mariana. Die alte curandera hieß Großmutter die Augen schließen und sprach ein paar Gebete. Und Großmutter hatte bald das Gefühl, immer leichter zu werden, bis sie sich vorkam wie eine Feder, die in der Luft schwebt. »Plötzlich traf mich ein Lichtstrahl direkt auf die Brust. Zuerst war ich sehr erschrocken. Ich spürte, wie ein Energiestrom durch meinen Körper floss. Selbst mit geschlossenen Augen konnte ich zuckende Blitze am Himmel sehen.« Nach diesem Besuch von Doña Mariana erholte sich die junge Patricia schnell. Nach wenigen Tagen schon half sie ihrer Mutter beim Kochen und Putzen. Eines Nachmittags, nicht lang nach ihrer Genesung, verdunkelte sich der Himmel und regenschwere Wolken zogen auf. Die Arbeiter sahen den Sturm kommen und eilten von den Feldern ins Haus, um Schutz zu suchen. Es gab für jeden etwas zu tun – manche rollten Zigarren, andere flickten die Fischernetze, mit denen man Forellen im Fluss fing, und der alte Armando flocht sich einen neuen Hut aus Palmblättern. Arturo spielte leise auf seiner Gitarre, als plötzlich ein Blitz über den Himmel zuckte. Wenige Sekunden später erschütterte ein gewaltiger Donner das Haus, zerbrach ein paar leere Gläser auf dem Küchentisch und jagte allen einen riesigen Schrecken ein, auch den Pferden im Stall. Großmutters Vater bemerkte als Erster, dass Elias, ein junger -18-
Cowboy, fehlte. Ein anderer Cowboy, Alberto, erwähnte, er habe ihn am frühen Nachmittag zum Fluss reiten sehen. Doña Antonia zog ihren Rosenkranz heraus und setzte sich damit in eine Ecke, um für Elias zu beten. Großmutter ging in ihr Zimmer und zündete für die heilige Barbara, die bei Blitz und Donner Schutz verleiht, eine Kerze an. Sie schaute in die Flamme, und der leuchtende Tanz der verschiedenen Farben – Orange, Gelb, Rot und Blau – faszinierte sie und zog sie mitten ins Herz des Feuers. Großmutter erzählte mir, sie habe in der Flamme gesehen, dass Elias vom Blitz getroffen und durch die Wucht des Stromstoßes vom Pferd geschleudert worden war. Sie konnte sehen, dass er etwa eine Meile vom Haus entfernt in der Nähe des Maisfelds lag. Großmutter verließ sich auf ihre Intuition, ging wieder in den Raum, wo alle versammelt waren, und erzählte, was sie gesehen hatte. Die Männer sprangen auf die Pferde und zogen aus, um Elias zu suchen. Als sie ihn brachten, war er so blass, dass er wie ein Toter wirkte. Aber Patricia erkannte an der leichten Bewegung seiner Brust, dass er lebte. Sie hörte eine innere Stimme, die ihr sagte, sie solle ihre Hände auf sein Herz legen. Sie tat es, und ihre Hände wurden sehr heiß. Energie strömte durch ihren Körper. Es war das gleiche Gefühl, das sie bei Doña Mariana gehabt hatte. Sowohl Elias als auch Patricia zitterten so heftig, als wäre das Unwetter vom Himmel herunter in sie gefahren. Langsam öffnete Elias die Augen. Alle, Großmutter eingeschlossen, waren von diesem Wunder überrascht. Nun begann Patricia Doña Marianas Worte zu verstehen. Die Existenz einer Kraft, die größer war als sie selbst, wurde ihr bewusst, einer Energiequelle, die sie zum Zweck der Heilung in ihre Hände bringen konnte. »Ich nannte sie ›espíritu divino‹, die Medizin, die Seele und Körper heilt.« Mit diesen Worten beendete Großmutter ihre Geschichte und ich bemerkte, dass die Furchen um ihre Augen und -19-
in ihren Wangen noch tiefer waren als sonst. Ich fragte sie, ob sie sich wohl fühlte. »Ja, niña querida. Körperlich fühle ich mich wohl… aber das Herz tut mir weh, wenn ich daran denke, dass du bald abreist. Du wirst so weit weg sein von mir, von diesem Land. Ich habe Angst, dass dein Geist an deinem neuen Wohnort, unter lauter Menschen, die eine andere Sprache sprechen, verloren geht. Ich bin traurig, weil du diese Geschichten vielleicht vergessen wirst.« Ich versuchte Großmutter zu trösten und versprach, ihr von meinem neuen Heim in El Norte, wie wir in Kuba die USA nennen, jede Woche einen Brief zu schreiben. »Es wird nie wieder so sein, wie es ist, negrita. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich bin schon eine alte Frau, aber du, negrita, du hast einen langen Weg vor dir.« »Was ist mit dir, Großmutter?«, unterbrach ich sie. Großmutter schaute aus dem Fenster. Sie machte einen gedankenverlorenen Eindruck. »Ich werde hier bleiben. Wie dieser alte Baum.« Sie deutete auf den Mangobaum im Hof. »Wie dieser Baum habe ich lange Jahre Früchte getragen. Jetzt ist für mich die Zeit gekommen, wo ich still im Haus sitzen werde. Dieser Baum, Negrita, hat viele Menschen gesehen und gehört, die in seinem Schatten gerastet haben. Er muss nicht weggehen, weil die Geschichten zu ihm kommen.« Großmutter machte eine Pause und nahm meine Hände ein letztes Mal in die ihren. »Negrita, ich werde hier sein und meine Wurzeln reichen tief in die Erde Kubas. Ich werde der Anker sein, der Halt gibt, während du auf Reisen gehst und dich änderst.« Bei diesen Worten meiner Großmutter wallte eine große Traurigkeit in meiner Brust auf. Sie schmeckte den bitteren Geruch der bevorstehenden Abreise in der Luft. Sie spürte diesen Schlag auf uns zukommen wie den rasenden Wind eines Hurrikans. -20-
Unsere gemeinsame Zeit näherte sich ihrem Ende. Wenn ich ging, würden die Lehren, die sie an mich weitergeben sollte, in ihr vertrocknen, wie die Milch in den geschwollenen und schmerzenden Brüsten einer Mutter vertrocknet, die plötzlich ihr Kind verloren hat.
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2
LA REVOLUCIÓN
»VIVA LA REVOLUCIÓN!« Diese Worte dröhnten mir im Ohr wie das laute Summen wütender Bienen, deren Stock zerstört wurde, oder wie ein Tornado, dessen langer schwarzer Schwanz im Begriff ist, den Boden zu berühren. Obwohl ich 1956, als die kubanische Revolution begann, noch sehr jung war, hat sie mein Leben doch stark beeinflusst. Noch heute, vierzig Jahre später, erstarre ich vor Entsetzen, wenn ich einen Hubschrauber höre. Der ohrenbetäubende Lärm des Motors und das Knattern der Rotorblätter beschwören Bilder des Schreckens herauf, an die ich mich auch heute noch nicht gewöhnt habe. Dieses Geräusch! Sie kommen wieder! Sofort bin ich wieder ein kleines Kind, das sich die Ohren zuhält, um den erschreckenden Lärm nicht mehr zu hören. Mein Magen krampft sich zusammen, meine Augen suchen nach einem Versteck… mein Herz schlägt hart gegen die Rippen und der Schweiß bricht mir aus. Die Beine zittern mir so sehr, dass ich jeden Augenblick befürchten muss, zu Boden zu fallen und von meinem eigenen Schrecken verschlungen zu werden. Meine frühe Kindheit fand im Wirbelsturm des politischen Wechsels statt. Das Volk hatte die geldgierigen Politiker und ihre gebrochenen Versprechungen satt. Überall um mich herum träumten Revolutionäre davon, ein neues, diktatorenfreies Kuba zu schaffen. Ich war ein Jahr alt, als im Dezember 1956 Fidel Castro und sein Bruder Raúl zusammen mit Ernesto »Che« Guevara und neunundsiebzig weiteren Gefährten mit dem Kreu-22-
zer Granma in der Provinz Oriente landeten, um mit der Revolution zu beginnen. Viele dieser Kämpfer wurden schnell von Regierungstruppen getötet. Die Überlebenden flohen in die Berge und errichteten in der Sierra Maestra eine Basis. Von dort aus bemühten sie sich, einen Aufstand gegen Fulgencio Batista, der seit den dreißiger Jahren als Diktator über Kuba herrschte, zu organisieren. Radio Rebelde wurde gegründet, über das Fidel zu den Menschen im ganzen Land sprach. Fidel war ein charismatischer Führer, und obwohl er weit entfernt und von den Menschen isoliert hauste, gelang es ihm, das Volk mit seinen Reden von der Hoffnung und seinen Versprechungen von Veränderungen, die unsere Insel zum Wohle aller durchmachen werde, im Innersten zu bewegen. Ich kann mich noch an Bruchstücke dieser eindringlichen Reden erinnern, die ständig durch die Luft schwirrten, als ich drei und vier Jahre alt war. Fidel Castro würde armen Kindern und ihren Familien helfen. Er würde dafür sorgen, dass die Schwarzen überallhin gehen durften, wo die Weißen hingingen. Fidel wurde von seinen zwei besten Freunden unterstützt: Ernesto oder »El Che« und Camilo Cienfuegos. Über der ganzen Insel lag eine Spannung wie vor einem Hurrikan. Fulgencio Batista war allgemein verhasst – sogar die Reichen hätten ihn gern los gehabt. Aber viele waren auch Castro und seiner Revoluzzerschar gegenüber misstrauisch. Zum Beispiel mein Vater. Er sagte, Castro mache zu viele Versprechungen. Auch in unserer Nachbarschaft gingen die Meinungen auseinander. Wenn abends Domino gespielt wurde, konnte man von der Straße her laute Diskussionen hören. Gelegentlich wurden diese Streitereien durch Radio Rebelde unterbrochen, mit einer Sondersendung von Fidel Castro direkt aus der Sierra Maestra. Jeder ließ sofort alles liegen und stehen und sogar die Kinder scharten sich um das Radio, um Castros Rede zu hören. Gegen Ende des Jahres 1958 gewann der politische Hurrikan an Stärke und die Dominospiele wurden häufig durch Stromaus-23-
fälle unterbrochen, während deren die Stadt stundenlang im Dunkeln lag. Ich hörte die Erwachsenen sagen, die Stromausfälle seien das Werk von Castros Leuten. So könnten sie im Schutz der Dunkelheit bei ihren Verbündeten Lebensmittel und Waffen holen. In einer dieser langen Nächte wurde mein Vater beinahe von den Batista-Milizen erschossen. Wie Vater erzählte, war er um neun Uhr nach einem Dominospiel auf dem Heimweg, als die Lichter ausgingen. Er begann zu laufen, weil ihm die Gefährlichkeit seiner Lage klar war, aber als er um eine Ecke bog, schoss ein Soldat auf ihn. Vater rannte zu einer hohen Ziegelmauer, die ein altes Kloster umgab, und schwang sich mit der Behendigkeit einer Katze darüber. Er landete im hohen Gras eines ungepflegten Gartens. Unglücklicherweise waren unter den Säulen des Gebäudes Soldaten postiert, die ihn gefangen nahmen. Man verdächtigte ihn, ein Verbündeter Castros zu sein; er wurde ins Gefängnis gebracht und verhört. Ich war damals noch nicht einmal vier Jahre alt, aber ich erinnere mich lebhaft an diese Nacht. Mutter und einige Nachbarn gingen von Haus zu Haus und fragten, ob jemand meinen Vater gesehen hätte. Diese Gespräche wurden nur im Flüsterton geführt. Meine Mutter rechnete mit dem Schlimmsten. In jenen Zeiten kam es nicht selten vor, dass Leute auf verlassenen Straßen oder am Rande der Stadt tot aufgefunden wurden. Mutter bemühte sich sehr, ruhig zu bleiben, und versicherte mir, Papa werde bald heimkommen, aber ich wusste, dass etwas sehr Ernstes passiert war. Dann hörte ich Onkel Manolo sagen: »Wenn Pepe tot ist, werden wir ihn bald finden, aber wenn er im Gefängnis ist, werden wir vermutlich einige Zeit nichts erfahren. Sie werden ihn foltern, wenn sie denken, dass er mit den Revolutionären etwas zu tun hat.« Ich war entsetzt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater tot war oder irgendwo ganz allein. Papa... Papa, komm bald heim. -24-
Zwei Tage später kamen zwei schwerbewaffnete Offiziere zu uns. Sie stießen uns zur Seite und durchsuchten das Haus. Ihre Grobheit erschreckte mich so, dass ich in einen Winkel des Spielzimmers floh und mich hinter einem alten braunen Ledersessel verkroch. In meinem Versteck konnte ich hören, wie Sachen auf den Boden geworfen, Schubladen herausgerissen und Türen geöffnet und zugeschlagen wurden. Ich hörte, wie Mutter fragte: »Was tun Sie? Wonach suchen Sie? Wo ist Pepe?« Sie folgte ihnen durchs ganze Haus, meinen zweijährigen Bruder José auf dem Arm. Sie bekam keine Antwort. Die Soldaten stöberten in unseren Sachen herum, bis sie jeden Raum und jeden Winkel durchsucht hatten. Schließlich hörte ich, wie sie zu meiner Mutter sagten: »Hören Sie, Lady, wenn Sie Schusswaffen im Haus haben, sagen Sie es uns lieber. Ihr Mann ist im Gefängnis, weil er verdächtigt wird, mit den Rebellen in den Bergen in Verbindung zu stehen.« Mutter rief: »Gott sei Dank, dass er am Leben ist! Glauben Sie mir, mein Mann ist kein Revolutionär und wir haben keine Waffen im Haus.« Als die Soldaten endlich weg waren, wagte ich mich aus meinem Versteck. Das Haus sah aus, als wäre ein Tornado durchgebraust. Der Inhalt von Schränken, Truhen und Nachtkästchen lag auf dem Boden verstreut. Die Matratzen waren aus den Betten gerissen, Kissen waren aufgeschlitzt worden, so dass die Federn im ganzen Schlafzimmer umherwirbelten. Ich wanderte herum und hob ein paar Spielsachen auf. Meine Mutter stand mitten im Wohnzimmer. Sie hielt immer noch José auf dem Arm und sagte erschöpft: »Teresa, komm her, mein Kleines. Dein Vater wird bald wieder daheim sein. Komm… komm, mein Kleines, hab keine Angst!« Vater kam noch am gleichen Tag heim. Er war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein weißes Hemd war zerrissen und mit Schmutz und Blut befleckt. Das Blut stammte wahrscheinlich von seiner Unterlippe, die blaurot und geschwollen war. Auf der rechten Seite war sein Gesicht übel zerschunden. -25-
Er umarmte und küsste Mama, dann nahm er José auf den Arm und kam zu mir. Er kniete sich auf den Boden, legte mir den anderen Arm um die Schultern und drückte uns beide fest an sich. Er weinte. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen. »Ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen, meine lieben Kinder, pequeños de mi corazón.« Seit mein Vater verschwunden gewesen war, hatte ich ständig Angst um meine Eltern. Ich wich ihnen nicht von der Seite. Immer wenn sie aus dem Haus gingen, fürchtete ich, sie würden getötet. Vor lauter Angst bekam ich Magenschmerzen und eine chronische Verstopfung. Wochenlang musste meine Mutter mir schmerzhafte Einläufe machen. Sobald ich sie morgens mit diesem grässlichen roten Gummiballon kommen sah, lief ich davon und versteckte mich unter meinem Bett. Mutter bat mich, herauszukommen: »Es ist zu deinem Besten, Teresa. Du wirst dich hernach besser fühlen. Komm, hab keine Angst. Diesmal wird es bestimmt nicht so wehtun.« Lügen! Ich wusste, dass es wehtun würde – ich würde mich in schrecklichen Krämpfen winden und nur noch ins Bad kriechen können. Das Ganze dauerte ungefähr eine Stunde und hernach war ich völlig erschöpft. Ich hasste diesen roten Ballon, genauso, wie ich Jahre später Fidel Castro und seine roten kommunistischen Insignien hassen lernte. In den nächsten Monaten, während die Revolution allmählich unserer Stadt näher rückte, kamen neue Ängste zu den alten. Eines Morgens weckte uns das Stakkato von Maschinengewehrfeuer. Meine Mutter kam in mein Zimmer gestürzt, José auf dem Arm. »Schnell, Teresa… schnell, leg dich auf den Boden!« Ihre Stimme klang rau und angstvoll. Mutter zog mich zu Boden, legte José zu mir und schützte uns beide mit ihrem Körper. José schrie, weil die Schüsse ihn erschreckt hatten. Ich krümmte mich zusammen und hielt den Atem an, weil ich dachte, wenn -26-
ich mich still hielte, würden uns die Kugeln nicht finden. Die Schießerei dauerte, wie uns schien, eine Ewigkeit. Dann war plötzlich wieder Ruhe, und man hörte eine Fliege im Raum summen. Wir zitterten noch, aber Mutter stand auf und schaltete den Radioapparat ein: Batistas Truppen hatten sich mit den Revolutionären ein Gefecht geliefert. Als wir uns allmählich wieder beruhigten, hörte man eine laute Sirene auf der Straße. José versteckte sich schnell hinter Mutter. »Felicia! Felicia!«, schrie eine Nachbarin von der Straße herein. »Qué pasa?«, fragte meine Mutter und ging zur Tür. »Felicia… Miguelito ist getötet worden, als er zur Arbeit ging. Gleich um die Ecke.« »Oh, por Dios, qué desgracia!« Meine Mutter hob verzweifelt die Hände. Miguelito war der Sohn von Carmela, Mutters bester Freundin. Von diesem Morgen an wurden mir die Sätze »Soundso wurde getötet« und »Soundso ist im Gefängnis« sehr vertraut. Der Terror erfüllte die Luft. Er wurde zum Ungeheuer unter meinem Bett, das des Nachts hervorkroch und mich in Albträumen verfolgte. Der Tod betrat die Welt meiner Kinderspiele. Meine Puppen wurden »erschossen« und in rasender Eile ins Krankenhaus gebracht. Eines Tages spielten José und ich im Wohnzimmer mit seinen Bauklötzchen, als wir wieder das Geräusch eines Hubschraubers hörten, gefolgt von Maschinengewehrfeuer. Wir hörten zu spielen auf und José krabbelte zu mir und suchte Schutz in meinen Armen. Die Schießerei ging weiter. Durch das große Fenster, das auf die Straße hinausging, konnten wir die Menschen in alle Richtungen davonlaufen und Deckung suchen sehen. Ich sah, wie eine Frau mit einem kleinen Kind unter ein Milchauto kroch. Kugeln schlugen in der Fahrbahn, in den Bäumen und in den Mülleimern vor den Häusern ein. Plötzlich stoppte das Feu-27-
er. Auf der Straße wurde es ruhig, so ruhig, dass man beinahe den Herzschlag deren hörte, die sich versteckt hatten. Auf einmal durchbrach das Geräusch eines Motorrads die Stille. Dann eine Explosion. Unser Haus erzitterte. Erst dachte ich, bei uns hätte eine Bombe eingeschlagen. Aber aus dem Fenster sah ich, wie ein Feuerball die Straßen herangerast kam und plötzlich zu Boden fiel. Ich musste erkennen, dass das, was da brannte, der Körper des Motorradfahrers war. Teile des Motorrads waren über die ganze Straße verstreut. Der durchdringende Geruch von brennendem Gummi und verkohltem Fleisch stieg uns in die Nase. Die Frau unter dem Milchwagen kroch heraus und rannte zum Unglücksort. Ihr kleines Kind, allein gelassen, begann zu schreien. Die Frau schaute sich nicht um. Sie riss sich den Rock herunter und versuchte, das Feuer auf dem, was von dem Motorradfahrer noch übrig war, zu löschen. Aus dem Haus gegenüber kam eine Frau mit einer großen weißen Decke, um den Verbrannten zuzudecken. Die Nachbarn bildeten einen Kreis um den Toten und nahmen mir so die Sicht. Aber das half nichts mehr. Das Bild der verkohlten Leiche hatte sich in mein Gedächtnis gefressen. José, der arme José, klammerte sich noch immer an mich. Er hielt mich so fest umfangen, dass ich kaum atmen konnte. Ich umarmte ihn auch. Ich weiß nicht mehr, ob wir weinten. Mit geschlossenen Augen standen wir da, eng umschlungen, und wiegten uns hin und her. Seitdem rannten wir immer davon, wenn wir einen Hubschrauber hörten, und versteckten uns unter unseren Betten. Am Morgen des 1. Januar 1959 drangen die Revolutionäre unter dem Kommando von Che Guevara in die Provinz Santa Clara ein, wo wir lebten. Mein Vater sagt, wir seien in jener Silvesternacht überhaupt nicht zu Bett gegangen. Unser traditionelles Familientreffen mit Abendessen und Tanz wurde durch eine Radiomeldung unterbrochen. Die Stimme des Sprechers zitterte vor Aufregung, als er bekannt gab, General Fulgencio Batista habe abgedankt und sei außer Landes geflohen. -28-
Die Weingläser wurden gehoben und man trank auf die lang erwartete Befreiung von Batistas Herrschaft. Familienmitglieder und Freunde scharten sich um den Fernsehapparat, um Bilder einer Insel im Freudentaumel über den Sieg der Revolution zu sehen: Die Leute feierten auf den Straßen, schwenkten kubanische Flaggen und Poster von Fidel Castro, Che Guevara und Camilo Cienfuegos, sangen die Nationalhymne und riefen: »Viva la Revolución!« Als ich älter wurde, erfuhr ich von meiner Mutter Einzelheiten über jenen Neujahrstag. Ihre Erzählung beginnt immer so: »Alle Nachbarn besuchten sich gegenseitig, tranken Kaffee und unterhielten sich darüber, dass viele Kubaner, die Castro nicht schätzten, sich eilends zu den Flughäfen begaben, in der Hoffnung, einen Flug nach Miami zu bekommen.« In einer Pause zwischen den Besuchen war Mutter in der Küche und Vater saß im Wohnzimmer wie festgebannt am Radio. Ich spielte neben Papa mit meinen Plastiksoldaten, als unsere Freundin von nebenan, Nena, durch die Haustür hereingestürzt kam. »Felicia! Die Milizen erschießen unschuldige Menschen!« »Was sagst du da?«, fragte meine Mutter und trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. »An der großen Mauer beim Friedhofstor. Sie töten alle, die gegen Castro sind, alle, die sie konterrevolutionärer Umtriebe verdächtigen.« An dieser Stelle vergisst Mutter nie zu erwähnen, wie Nenas Hände zitterten. Sie konnte kaum die kleine Kaffeetasse halten, die Mutter ihr gereicht hatte. »O Felicia, du hättest sehen sollen, wie diese Männer an die Wand gestellt wurden. Die Augen wurden ihnen verbunden, dann wurden sie von den Kugeln aus den Maschinenpistolen dieser Kriminellen durchsiebt. O mein Gott!« Nena brach schluchzend zusammen. »Die weiße Mauer wurde rot von ihrem Blut. Ich konnte schier nicht glauben, was ich sah.« -29-
Mutter und Vater fürchteten für unser Leben. Sie entschieden, es wäre das Beste für uns alle, wenn wir auf die Farm meiner Großeltern mütterlicherseits gingen und dort blieben, bis sich die Lage in der Stadt beruhigt hätte. Mutter packte unverzüglich das Nötigste an Kleidung in einen kleinen Koffer und wir machten uns auf den über zwölf Kilometer langen Weg. »Bei dieser verrückten Schießerei ist es zu gefährlich, mit dem Auto zu fahren«, sagte sie. Sie vermutete, die Revolutionäre nähmen die »Flüchtlinge« aufs Korn, die zu den Flughäfen fuhren, um Familie und Vermögen in den USA in Sicherheit zu bringen. Wir brachen auf. Die Eltern trugen abwechselnd meinen Bruder; mich nahmen sie an der Hand. Für mich war diese Wanderung zuerst ein Abenteuer, aber als wir aus der Stadt hinauskamen, bot sich uns ein trauriges Bild. Was gestern noch eine Zuckerrohrplantage gewesen war, war jetzt ein Haufen rauchender Ruinen. Graue Asche senkte sich auf uns herab und die Luft roch nach verbranntem Gras und Zuckerrohrsaft. »Das ist Luis’ Ruin. Diese Jahr braucht er sich nicht um Arbeiter zu bemühen, die ihm das Zuckerrohr schneiden; diese Sorge hat ihm das Feuer gründlich abgenommen«, sagte Vater. Wir gingen immer weiter, die Hauptstraße entlang, und gelegentlich trafen wir Menschen, die auf dem Weg in die Stadt waren und uns mit Viva la Revolución grüßten. Ungefähr eineinhalb Kilometer vor der Farm meiner Großeltern kamen wir zu einem Orangenhain. Da sah ich, dass zwei Männer an einem langen Ast des großen Ateje-Baums hingen, der am Straßenrand stand. »Papa, schau! Da hängen zwei Männer am Baum«, sagte ich, verstand aber nicht, was ich sah. Vater und Mutter blieben abrupt stehen und ich begriff, dass da etwas ganz und gar nicht stimmte. Die Gesichter der Männer waren aufgedunsen und dunkelrot, ihre Gesichter verzerrt. Die Zungen hingen ihnen aus dem Mund. Die Köpfe waren zur Seite geneigt, die Augen standen weit offen und schauten zum Himmel hinauf. -30-
»O Gott!«, hörte ich meinen Vater sagen. »Pepe, komm, lass uns gehen«, bat meine Mutter und zog mich mit ihrer freien Hand weg. Vater gab keine Antwort; er ging zu den Männern hin. »Arme Kerle«, sagte Vater und nahm seinen Hut ab. Einer der Männer war gekleidet wie die Bauern aus der Gegend; er hatte eine graue Baumwollhose und ein Hemd an und trug um die Taille einen breiten Ledergürtel, in dem auf der rechten Seite eine Machete steckte. Sein weißer Strohhut war zu Boden gefallen. Mein Vater schätzte ihn auf ungefähr vierzig Jahre. Der zweite war jünger, vielleicht zwanzig. Sein weißes Hemd war befleckt von Blut, das noch immer aus seiner Nase tropfte. »Schau nicht hin, Teresa«, hörte ich meine Mutter sagen, aber ich konnte meinen Blick nicht von den Männern abwenden. Ich konnte nur ihre Gesichter und den seltsamen Ausdruck in ihren Augen sehen. Ich dachte darüber nach, ob diese Männer wohl Kinder wie José und mich hätten. Das Herz krampfte sich mir zusammen, als ich mir vorstellte, wie irgendwo ein kleines Mädchen auf seinen Papa wartete, wie ich in jener Nacht auf meinen Papa gewartet hatte, als er ins Gefängnis geworfen worden war. So klein ich war, wusste ich doch, dass diese Männer nie mehr heimkommen würden. Mein Vater stand einen Augenblick bewegungslos unter dem Baum. Dann zog er sein Messer aus der Tasche und versuchte, den Strick zu erreichen, an dem der ältere Mann hing. Aber es war zu hoch. Er schaute sich um, ob er irgendwo draufsteigen könnte, aber er musste schließlich auf den Baum klettern und auf dem großen Ast, an dem die Männer hingen, hinauskriechen. Mit einer Hand hielt er sich an einem höheren Ast fest, mit der anderen schnitt er die Stricke ab, und die Leichen fielen nacheinander zu Boden. Das dumpfe Geräusch, mit dem sie auf der Erde aufschlugen, tönt mir noch heute im Ohr. »Mami… sind sie wirklich tot?«, fragte ich. Sie musste erst -31-
ihre Stimme wiederfinden. »Ja, mein Töchterchen, sie sind tot.« Ich wollte die Männer anfassen, aber meine Mutter hielt mich fest. Vater kniete vor dem älteren Mann nieder. Er hob die Hand und schloss ihm mit einer langsamen und sanften Bewegung die Augen. Dann tat er das Gleiche mit dem jüngeren. In den kommenden Jahren war es für mich ein tröstlicher Gedanke, dass mein Vater diesen Männern noch eine Wohltat hatte erweisen können. Vielleicht hat er ihnen ein bisschen von der Angst nehmen können, mit der sie zu den dunklen Gefilden hinter den Sternen reisten. Vater hob seinen Hut auf und kam zu uns zurück. Schweigend ergriff er meine kleine Hand und wir machten uns auf die letzte Wegstrecke. Hinter uns hingen die Toten nicht mehr am Baum. Dank meinem Vater ruhten sie auf der warmen Erde Kubas. Aber für mich sind sie immer gegenwärtig. Sie hängen in der Dunkelheit meiner Nächte. Ich kann ihre langen roten Zungen sehen und ihre Augen, die zum Himmel starren.
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LA FINCA
ALS WIR AM NEUJAHRSTAG 1959 nachmittags auf der Farm ankamen, waren Großvater José und Großmutter Petra ganz und gar nicht überrascht. Wir waren verschwitzt und erschöpft von dem langen Marsch, bekamen große Gläser geeiste Limonade und saftige Papayas und erholten uns im schönen Garten der Großeltern, in dem sich unter der magischen Berührung der Sonne und den geschickten Händen meiner Großmutter eine üppige Blütenpracht entfaltete – Hibiskus, Strelitzien, Orchideen, Petunien, Farne, Azaleen und Rosen. Die Farm meiner Großeltern war ein wahres Paradies. Großvater José hatte sie zu Ehren seiner Frau Villa Petra genannt. Es war ein reiches Gut in fruchtbarer und schöner Landschaft, mit grüngoldenen Tälern, in denen das Zuckerrohr wuchs, mit hohen Palmen und runden Hügelkuppen in der Ferne. In der Villa Petra fühlte ich mich sicher und weit weg von dem Chaos, das ich außerhalb der Finca gesehen hatte. Hier konnte ich wieder spielen und träumen. Die Farm war wie ein starker Baum, der mich mit seinen Zweigen festhielt. Seine Wurzeln verankerten mich in der kubanischen Erde und sein Schatten beschützte mich vor der brennenden Glut der Revolution. Wir blieben damals nur eine Woche auf der Finca. Als wir ungefährdet in die Stadt zurückkehren konnten, gingen wir. Aber in der unsicheren Lage und dem immer wieder aufflammenden Terror der Revolution wurde Villa Petra zu unserer Zu-33-
flucht, wo wir uns vor allen Gefahren in Sicherheit bringen konnten. Auf der Finca lernte ich, auf das Land zu hören und bei ihm Kraft zu finden. Großvater José sagte zu mir: »Wenn man mit dem Land lebt, wird man mit dem ewigen Geschenk von Leben und Tod gesegnet: Saaten keimen im Dunkel der Nacht; Blätter sterben ab und werden zu Erde.« Villa Petra lehrte mich die enge Verwandtschaft zwischen dem Geist und den Erfahrungen des täglichen Lebens. Gott war in den Feldern und Gott war eine Frau. Sie sang für mich mit der Stimme lauer Winde, die die Blätter der Palmen tanzen und schwingen ließen. Sie sprach zu mir in den Vogelstimmen an frühen Sommermorgen. Immer wenn ich durch die Reihen von Zuckerrohr und Mais ging und den starken, süßen Duft in der warmen Luft einsog, fühlte ich ihre Gegenwart. Als ich fünf Jahre alt war, musste das kubanische Militär sich gegen eine große Schar von Exilkubanern aus Miami verteidigen, die mit Unterstützung der USA an der Playa Girón in der Schweinebucht gelandet war. Diese Truppen waren, so hörte ich, gekommen, um Kuba den Revolutionären zu entreißen, aber bevor sie noch einen Schuss abgeben konnten, waren sie überwältigt und gefangen genommen worden. Meine Familie ging auf die Finca, bis die üblichen Kampfflugzeuge und Hubschrauber wieder weg waren. Während der amerikanischsowjetischen Raketenkrise um Kuba im Oktober 1962 packte Mutter wieder einmal unsere Sachen und mein Vater fuhr uns zur Finca. Im ganzen Land fanden organisierte Demonstrationen statt. Die Leute nannten Präsident Kennedy »Kapitalist« und »imperialistisches Schwein«. Ich war damals erst sieben und wusste nicht genau, was mit diesen Worten gemeint war, aber ich verstand genug, um zu begreifen, dass diese Raketen das Ende unserer Insel bedeuten konnten. Wir verließen Cabaigüán, als die Stadt sich auf einen Angriff der -34-
Vereinigten Staaten vorzubereiten begann. Unsere Nachbarn und die örtliche Miliz wurden eingezogen, um Gräben anzulegen und Krieg zu spielen. In der Villa Petra saßen wir alle zusammen im Wohnzimmer der Großeltern und sahen die Abendnachrichten. Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich die großen grünen Lastwagen voller Soldaten und Maschinengewehre sah, die in Richtung Havanna fuhren. Das war für mich das Ende der Welt. »Sind wir hier sicher, Großmutter?«, fragte ich und schmiegte mich enger an sie. »Sollten wir nicht auch solche Gräben ausheben, um uns und die Tiere darin zu verstecken?« »Jetzt noch nicht. Wir warten erst ab, was passiert.« Ich wunderte mich darüber. Worauf sollten wir warten? Für mich stand fest, dass wir in großer Gefahr waren. Ich stand auf und ging zu José, der in einem anderen Raum mit seinen neuen Soldaten spielte. Ich machte mit und dachte, so könnte ich vielleicht einen Fluchtplan entwerfen für den Fall, dass die Yankees die Farm angriffen. Yankees, Sowjets und Castro legten den Konflikt ohne Krieg bei und wir kehrten in unser Haus in der Stadt zurück. Aber die Farm war und blieb mein Zufluchtsort. Wenn ich Angst hatte, dann war für mich die Gewissheit, dass es die Finca gab, ebenso tröstlich wie meine alte, abgenutzte Decke. Meine ganze Kindheit lang hörte ich die Erzählungen, wie die Finca gegründet wurde und wuchs wie der Stammbaum unserer Familie. Dort waren unsere Wurzeln. Villa Petra, so sagte man mir, war die Frucht der Träume meiner Großeltern. Hier, in der fruchtbaren Erde Kubas, brachten sie nicht nur Jahr für Jahr die Ernte ein, sondern sie zeugten auch eine neue Generation spanischkubanischer Kinder – zwölf im Ganzen. Eins davon war meine Mutter Felicia. Mein Vater war um die Jahrhundertwende im Alter von siebzehn Jahren nach Kuba gekommen. Er hatte die kanarischen -35-
Inseln vor der afrikanischen Küste verlassen, um sich in Kuba eine Existenz aufzubauen, wie viele andere Spanier auch. Als Spanien die Insel erobert hatte, wurde Kuba, die Perle der Karibik, allmählich zum Gelobten Land, und Scharen von Einwanderern aus dem Mutterland quollen aus den Bäuchen der Segelschiffe. Als José Maria Barrios in Kuba landete, hatte er nichts als seine Zukunftshoffnung. Er ging in die Provinz Las Villas, weil er dort einen Verwandten hatte, der ihn als Cowboy auf seiner Viehranch anstellte. Er arbeitete schwer und wurde schlecht bezahlt. Alles, was er ersparen konnte, investierte er in eine Kuh, die wenige Monate später ein stattliches Kalb warf. Es dauerte nicht lang, bis er genügend Tiere verkaufen konnte, um sein erstes Stück Land zu erwerben. Ungefähr zur gleichen Zeit kam Petra Alvares in Begleitung ihres Onkels Antonio zu Besuch auf die Ranch. Sie war erst fünfzehn, kam aus Teneriffa und war zum ersten Mal in Kuba. José und Petra verliebten sich ineinander und heirateten schon ein knappes Jahr später. Sie hat die Kanaren nie wiedergesehen. Ihr erstes Haus auf dem Land baute Großvater selbst eine bescheidene Hütte im kubanischen Stil, aus Palmenbrettern, die innen und außen strahlend weiß gestrichen wurden. Das Dach bestand aus den geflochtenen Blättern der Guano-Palme. Große Keramikfliesen, im Ofen gebrannt und von Künstlern glasiert, bedeckten den Boden. Ein mit Holz beheizter Ofen, der aus runden Steinen vom Flussufer gebaut war, bildete den Mittelpunkt der Küche. Er stand bei dem Fenster, das aufs Tal hinausblickte, und das war gut so, wenn man bedenkt, wie viele Stunden die junge Petra hier am Herd stand, um für José und die Farmarbeiter zu kochen, und bald auch schon für die Kinder. Das Wohnzimmer war klein, vielleicht vier auf fünf Meter. Neben der Tür stand ein großer tönerner Wasserkrug mit einem Steinfilter, so dass jeder, der nach einem langen, heißen Arbeitstag von den Zuckerrohr-, Tabak-, Taro-, Süßkartoffel- und -36-
Maisfeldern hereinkam, sich mit dem kühlen Wasser erfrischen konnte. Es gab nur ein Schlafzimmer, aber sein Fenster ging auf den Palmengarten hinaus, in dem sich die schlanken Palmen im Wind wiegten. Ihr sanftes Murmeln in den tropischen Nächten war das Abendlied für das junge Paar. Als ich ein Kind war, hing in unserem Wohnzimmer ein Schwarzweißfoto von José und Petra, kurz nach der Hochzeit aufgenommen. Großvater ist ein sehr würdig dreinschauender junger Mann mit dunklen Augen, einem runden Gesicht, einem energischen Kinn, einer langen spanischen Nase, schmalen Lippen und brauner Haut. Er ist ein Meter fünfundsechzig groß, stämmig und muskulös und trägt eine weiße Guayabera (das in Kuba übliche Hemd mit zwei Brusttaschen) und eine leichte Baumwollhose. Er wirkt energisch und willensstark. Großmutter Petra neben ihm macht einen mädchenhaften Eindruck. Das lange Haar ist geflochten und im Nacken zu einem Knoten gerollt, was die weichen Linien ihres ovalen Gesichts und ihre schönen Augen noch betont. Ihre Haut ist hell und glatt wie Porzellan, ihre Gesichtszüge sind fein. Trotz ihrer Jugend umgibt sie eine Aura von Klugheit, natürlicher Eleganz und Vornehmheit. Sie trägt ein einfaches weißes Baumwollkleid, das gerade tief genug ausgeschnitten ist, um die weichen, sinnlichen Linien ihres Halses zu enthüllen. Aber ich wusste aus Familiengeschichten und aus eigener Erfahrung, dass sich hinter Petras scheinbarer Zerbrechlichkeit und Zartheit – sie war höchstens einssechzig groß und wog nur fünfzig Kilo – eine erstaunliche Kraft verbarg. Das Leben auf der Farm der jungen Leute war hart; sie arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. José und Petra arbeiteten Seite an Seite, schwitzten und fühlten, wie ihre Rücken unter der tropischen Sonne brannten. Sie pflügten das Land mit Hilfe eines alten Ochsen und eines Eisenpflugs und pflanzten Reihe um Reihe von Bananen, Süßkartoffeln, Taro, Mais, Maniok, Kartoffeln, Reis und Bohnen. Die dunkle Erde der Insel -37-
war fruchtbar und freigebig. Alles gedieh schnell, wie von Gottes Hand berührt. Es war nicht immer leicht für das Ehepaar Barrios. Petras starke Persönlichkeit prallte oft zusammen mit Josés Willen, uneingeschränkt über sein wachsendes Reich zu herrschen. Petra war sehr scharfsinnig, wenn es um Geschäfte ging, und äußerte ihre Meinung ganz unverblümt, ja, sie stritt sogar mit ihrem Mann, wenn sie das Gefühl hatte, er treffe eine falsche Entscheidung. Petras Intuitionen und Ahnungen irritierten José maßlos. Er konnte nicht begreifen, warum seine eigensinnige Frau ohne eine plausible Erklärung verlangte, er solle sich von ein paar einflussreichen Farmern der Gegend fernhalten, die gern mit ihm zusammenarbeiten wollten. »Dieser Mann ist ein Geier! Er wird dich bei lebendigem Leib fressen«, sagte sie dann vielleicht. »Wie kannst du so etwas sagen, Frau? Du kennst den Mann ja gar nicht.« »Ich brauche ihn nicht zu kennen. Das steht auf seinem Gesicht geschrieben.« »Schon wieder einmal! Wann wirst du endlich aufhören, in den Gesichtern der Leute zu lesen?« »Nie! Besser, du gewöhnst dich daran.« Petra ging und ließ José verwirrt und ärgerlich zurück. Petra war eine Frau, die aus ihrem Herzen keine Mördergrube machte; sie sagte den Leuten geradeheraus ihre Meinung. Sie schalt die Arbeiter, wenn sie versuchten, sie an den langen, heißen Nachmittagen ein bisschen mit der Arbeitszeit zu betrügen oder wenn sie sich einen Beutel Obst, Kartoffeln oder Reis aus den Vorratskammern holten, bevor sie abends nach Hause gingen. »Señor Carabia, wenn Sie wieder einmal etwas zu essen brauchen für Ihre Familie, dann bitten Sie mich einfach darum«, sagte Petra dann wohl zu dem Mann, wenn er am anderen Mor-38-
gen wieder zur Arbeit erschien. »Sí, Señora, danke. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es«, sagte Señor Carabia darauf mit gesenkten Augen. »Warum hast du das zu Carabia gesagt?«, schrie José seine Frau an. »Vielleicht kommt er morgen nicht wieder. Du weißt, wie schwer es heutzutage ist, gute Arbeiter zu bekommen! Das macht doch nichts, wenn er einen Beutel Bohnen mitnimmt.« »Nein, José, gestern war es ein Beutel Bohnen. Morgen könnte es etwas anderes sein, und bald würde es jeder so machen. Ich bin gern unter Menschen, denen ich vertrauen kann.« Die Geburt ihres ersten Kindes, Tomás, kam den Großeltern überraschend. Die Wehen begannen bei Petra vor Sonnenaufgang. José wollte seine unerfahrene Frau nicht gern allein lassen, aber Petra schickte ihn schließlich doch um die Hebamme Camila, die zwanzig Minuten weit weg wohnte. José sprang auf den blanken Rücken seines Pferdes Azucre und jagte ins Tal hinab. Ganz allein im Haus, begann Petra Vaterunser und Ave Marias zu beten. Sie war keine praktizierende Katholikin und hatte Mühe, sich an die Gebete zu erinnern, die ihre Mutter sie als Kind gelehrt hatte. Also füllte sie die Lücken mit eigenen Worten. Ich kannte die Geschichte von Onkel Tomás’ Geburt, weil ich gelauscht hatte, als Großmutter sie meiner Mutter und Tante Juana erzählte. Sie waren um den großen Küchentisch gesessen und hatten Maniok geschält, um Stärke daraus zu machen, eine sehr langwierige Angelegenheit, die viele Stunden Arbeit erforderte. Erst muss man mit einem Messer die braune Schale entfernen, dann werden die Wurzelknollen gemahlen und der Brei auf ein großes Seihtuch gegeben. Nun wird so oft Wasser darübergegossen und der Brei ausgedrückt, bis das Wasser klar abläuft. Dieses Gemisch aus Wasser und Maniokmilch kommt in einen großen, metallenen Behälter (normalerweise ist er aus -39-
Aluminium) und bleibt ein bis zwei Tage stehen, bis sich die ganze Stärke am Boden abgesetzt hat. Dann wird das Wasser darüber vorsichtig abgegossen und der weiche, cremige Brei in der Sonne getrocknet. Die drei Frauen waren so sehr in ihre Arbeit und ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, dass ich in der Nähe spielte. »Ich wusste nicht mehr, wie man betet«, hörte ich Großmutter sagen. »Ich hatte zu viel Angst. Ich sagte mir immer wieder vor: ›Nur keine Panik, Petra, sei nicht so zimperlich. Seit der Erschaffung der Welt gebären die Frauen Kinder. Bleib ruhig!‹« »Ich kann mir nicht vorstellen, in einer solchen Lage allein zu sein«, sagte meine Mutter. »Du warst so jung, Mamá«, fügte Juana hinzu. »Ich war nicht nur jung, sondern ich wusste auch nichts, absolut gar nichts über Geburten!«, sagte Großmutter und nahm sich eine neue Maniokknolle von dem Haufen auf dem Küchenboden. »Mamá hat mit der Hilfe von Hebammen fünf Kinder geboren, alle zu Hause. Aber ich war die Jüngste und habe davon nichts mitgekriegt.« Großmutter verstummte. Dann legte sie das Messer auf den Tisch und sah ihre Töchter an. »Wie sehr wünschte ich damals, meine Mutter wäre bei mir!« Langsam nahm sie ihre Brille ab und putzte sie mit ihrer weißen Schürze. Dann setzte sie sie wieder auf und nahm das Messer wieder zur Hand. »Der Schmerz… ihr kennt ihn, ihr habt beide Kinder… es war, als stäche mir jemand mit einem Messer in den Bauch.« »Erzähl… als ich Teresa bekam, lag ich vierundzwanzig Stunden in den Wehen«, sagte meine Mutter. »Ich verlor jedes Zeitgefühl«, sagte Großmutter. »Das Einzige, woran ich denken konnte, war: Ich würde sterben und auch das Kind würde sterben, wenn José nicht bald mit der Hebamme -40-
kam. Ich verfluchte ihn, weil er so lange ausblieb. Ich schrie und weinte und in meinem Schmerz und meiner Angst rief ich nach meiner Mutter: »Mamá… Mamá… liebe Mamá.‹ Ich konnte fühlen, wie der Junge in mir sich bewegte und nach außen drängte. Die Wehen wurden stärker, aber ich wusste nicht, was zu tun war. Wäre nur Mama dagewesen! Ich wusste, ich sollte pressen, fest pressen, aber wenn ich presste, wurden die Schmerzen nur noch größer.« Großmutter machte eine Pause und sah ihre Töchter an. »Ihr habt Glück gehabt, dass ihr eure Kinder mit allem modernen Komfort in der Klinik bekommen habt.« »Sí, Mamá, aber die Schmerzen sind die gleichen, ganz egal wo«, sagte Juana. »Nun, die Zeit verging«, fuhr Großmutter fort, »und ich wurde immer schwächer. Aber auf einmal geschah etwas Unerklärliches. Etwas, das mir seitdem immer im Kopf herumgeht. Das Leben ist schon wirklich eigenartig. Ich war so müde, dass ich wahrscheinlich ein bisschen eingedöst bin. Da hörte ich plötzlich Mamas Stimme, so deutlich, als ob sie neben mir stünde. ›Petra, hija, beruhige dich.‹ Ich sah, wie Mamá die Hände beruhigend auf meinen Bauch legte, und dann sagte sie: ›Jetzt pressen… fest pressen, los!‹ Ich nahm alle Kraft zusammen und presste – und fühlte, wie das Kind herauskam. Nach all der Not war ich ungeheuer erleichtert.« Wie meine Großmutter ihren Töchtern erzählte, kamen José und die Hebamme Camila erst eine Stunde später. Petra lag erschöpft und leichenblass auf dem Bett. Die Leintücher waren blutdurchtränkt und das Blut sickerte noch immer aus ihrer Vagina. Das dunkelrote Baby war noch immer über die Nabelschnur mit der Mutter verbunden und lag friedlich zwischen Petras Beinen. Camila nahm das Kind hoch, erleichtert, dass es atmete. »Schnell, José, mach Wasser heiß!«, rief Camila. »Petra hat viel Blut verloren und blutet noch immer.« -41-
Die Hebamme holte die Schere aus ihrem Strohbeutel und desinfizierte sie mit Josés Alkohol. »José, komm her.« Camila gab ihm die Schere und nahm das Neugeborene auf den Arm. »Schneide die Nabelschnur deines ersten Sohnes ab.« Großvaters Hände zitterten, als er die Schere ergriff. Er gehorchte Camilas Anweisungen und durchtrennte die Verbindung zwischen Mutter und Kind. Tränen liefen ihm über das wettergegerbte Gesicht. Er ging zu seiner erschöpften Frau, nahm ihre Hände in die seinen und küsste sie wieder und wieder. »Petra, mi querida Petra, schau mich an.« Aus den Tiefen ihrer Müdigkeit lächelte Petra ihn an, dann schloss sie die Augen, um zu ruhen. »Es ist ein schöner und kräftiger Junge«, sagte José. »Ganz der Vater«, sagte Camila zu dem glücklichen jungen Mann. Großmutter machte, in Gedanken verloren, eine kurze Pause. Dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. »Mein lieber José berichtete, dass Camila sich mir zuwandte. Ich befand mich zwischen zwei Welten – ihr wisst, wie das ist… man hat das Gefühl, im Raum zu schweben. Die Hebamme hielt mir das Kind hin, so dass ich es anschauen konnte. ›Petra, Petra, kannst du dein Kind sehen? Kannst du sein hübsches Gesicht sehen?‹ Ich hätte mein Baby gern berührt, aber ich war zu schwach. Ich murmelte ein paar Worte. Ich vermute, dass Camila für Übersinnliches empfänglich war, denn sie legte das Neugeborene neben mir aufs Bett, so dass ich seinen kleinen, warmen Körper spüren konnte. Sie war eine freundliche Frau. Nach all den Jahren habe ich immer noch ihre Worte im Ohr: ›Dein Baby ist schön, gesund und vollständig. Alle Finger und Zehen sind da. Es geht ihm gut. Du kannst dich jetzt ausruhen. Ruh dich aus, -42-
Liebe, du wirst deine Kräfte noch brauchen.‹« Die Geburt von Tomás war der Beginn einer langen Reihe von Geburten. Im Ganzen bekamen Petra und José fünfzehn Kinder. Zwölf blieben am Leben. Zwillingsjungen wurden tot geboren und ein Mädchen wurde bei der Geburt von der Nabelschnur erdrosselt. Auch diesmal war die Hebamme zu spät gekommen. Es gab nicht viel Zeit, die Toten zu betrauern oder sich zu erholen. Sobald sie kräftig genug war, um aufzustehen, stand Petra wieder in der Küche. Oft stillte sie ein Kind, während sie kochte. Im gleichen Tempo wie die Familie wuchs unter der Leitung von José auch die Farm. Er kaufte ständig neues Land und erweiterte die Grenzen seines Besitzes. An Geld war nun kein Mangel mehr und José beschloss, ein größeres Haus zu bauen, und zwar näher an der Landstraße und an der Stadt Cabaigüán. Als Großvater José das Haus entwarf, dachte er auch an modernen Komfort. Die luxuriösen Badezimmer hatten große Fenster auf die Gärten hinaus und schöne Marmorwannen. Es gab lange Gänge mit hohen Säulen und Fliesen, die aus Spanien importiert waren, acht Schlafzimmer, eine riesige Küche und zwei Esszimmer. Eins davon benutzte man nur am Sonntag und zu besonderen Gelegenheiten, bei Familientreffen etwa oder wenn Gäste kamen. Mein Lieblingsraum im Haus war das Wohnzimmer, wo ein Kristallleuchter von der Decke hing. An heißen Sommernachmittagen lag ich gerne auf dem kühlen Fliesenboden und schaute zu, wie sich das Licht von den Fenstern in den Kristallen brach, wobei alle Farben des Regenbogens aufleuchteten. Ich glaubte, in diesen Kristallen wohnten die Engel, die über uns wachten. Jeden Sonntag versammelte sich die ganze Familie in der Villa Petra. Vom frühen Morgen an kamen die Barrios-Kinder mit Ehegatten und Enkelkindern nacheinander an und freuten sich auf einen Tag der Muße, der Arbeit und des Spiels. Nach dem -43-
Mittagessen saßen Großmutter Petra, ihre Töchter – Ana, Juana, Mensa, Caridad, Linda, Felicia und Nelda – und Schwiegertöchter auf der einen Seite der langen und breiten Veranda vor dem Haus. Die Frauen der Familie genossen die Ruhe dieses Platzes, der vom farbenprächtigen Garten umgeben war. Sie beschäftigten sich mit allerlei Handarbeiten, plauderten, lachten und weinten auch gelegentlich, wenn sie sich an alte Zeiten erinnerten. Die Schwestern unterhielten sich am liebsten über ihre Ausflüge nach Santa Lucia, wo sie als Teenager hingeritten waren, um Verwandte zu besuchen. Es war ein weiter Ritt, über zwanzig Meilen. Die Vorbereitungen für diese Ausflüge nahmen mehrere Tage in Anspruch. Als Mitbringsel wurden Kuchen gebacken und Früchte eingekocht, oft wurden für eine solche Gelegenheit – einen Geburtstag, eine Hochzeit, eine Taufe oder auch nur ein Familientreffen – auch neue Kleider genäht. Am anderen Ende der Veranda saßen Großvater und die Söhne – Tomás, Victor, Antonio, Osvaldo und Manuel zusammen mit den Schwiegersöhnen. Sie sprachen über die Ernte, über Politik, Pferde, Boxen und Baseball, rauchten große kubanische Zigarren und tranken Kaffee aus kleinen Porzellantassen. Als Siebenjährige wanderte ich von einer Gruppe zur anderen, bis es mir zu langweilig wurde und ich zu den Jungen ging, die meistens im Orangen- und Guavengarten Räuber und Gendarm spielten. Die Mädchen waren normalerweise im Haus, schauten Modehefte an und sprachen über Schule und Jungen. Im Herbst 1963 wurde ich acht. Unsere Familie war übers Wochenende in der Villa Petra bei den Großeltern zu Besuch. Am Samstag wurden wir vor Morgengrauen durch ein lautes Klopfen an der Vordertür geweckt. Aus meinem Zimmer an der Rückseite des Hauses konnte ich die erschrockenen Stimmen von Großvater José und Großmutter Petra hören, dann hörte ich meinen Vater sagen: »Sie haben das Haus umstellt. Sie sind bewaffnet!« Ich ging ans Fenster und sah eine Schar Uniformierter mit -44-
Maschinengewehren an der Westseite des Hauses neben dem Obstgarten stehen. Es war die Miliz. Voller Angst lief ich ins Wohnzimmer, aus dem die Stimmen von Vater und Großvater drangen. Entsetzt sah ich, dass einer der Polizisten das Gewehr auf Großvater gerichtet hielt und die Schlüssel zum Büro forderte, wo alle Rechnungen und Papiere, die das Anwesen und die Farm betrafen, aufbewahrt wurden. Drei andere durchsuchten das Wohnzimmer, zogen Schubladen heraus und leerten sie auf den Fußboden, zerbrachen Sachen und stießen Möbelstücke um. Meine Mutter, noch im Morgenrock, stand neben meiner Großmutter, die es geschafft hatte, Rock und Bluse anzuziehen. Ich zitterte vor Angst. Ich malte mir aus, wie diese Männer uns alle erschossen oder aufhängten, so wie die Männer, die wir am Tag nach der Revolution an jenem Ateje-Baum hatten hängen sehen. Großvater bat sie immer wieder, ihre Gewehre wegzulegen. Ein Milizionär mit schwarzem Schnurrbart und stechenden dunklen Augen lachte verächtlich. »Närrischer Alter, deine Zeit ist vorbei. Vergiss dieses Haus und die Plantage. Das gehört jetzt alles uns.« Großmutter attackierte ihn, aber als sie nach seinem Gewehr griff, stieß er sie so heftig weg, dass sie zu Boden fiel. »Wonach suchen Sie?«, fragte Großmutter. Ihr Gesicht war bleich und wutverzerrt. »Waffen. Wir wissen, dass es hier im Haus Waffen gibt… und Geld. Wir wollen Ihr dreckiges Geld.« »Nein, es sind keine Waffen im Haus«, sagte Großvater. »Ich habe nie in meinem Leben ein Gewehr gehabt. Ich brauchte keines, weil ich keine Feinde habe. Bitte, lassen Sie uns in Ruhe.« »In Ruhe lassen? Nein, Alter. Wir werden uns hier häuslich einrichten und den ganzen Besitz inventarisieren. Haben Sie noch nichts von der Bodenreform gehört? Unser Comandante Fidel Castro hat angeordnet, dass diese Farm enteignet wird. Sie können sich davon verabschieden.« -45-
Was ein Wochenendbesuch auf der Farm sein sollte, dauerte zwei volle Wochen. So, wie die Dinge in Villa Petra lagen, hielt Mutter es für das Beste, mit den Kindern zu bleiben und ihren Eltern beizustehen. Zehn Tage lang wohnten die acht Milizionäre im Haus und wollten versorgt werden, während sie planten, was mit dem Land der Großeltern geschehen sollte. Sie gingen die Papiere und Rechnungen der Großeltern durch und versahen alles mit dem Stempel der Regierung und Großvater und Großmutter mussten miterleben, dass alles, was sie erträumt und erworben hatten, jetzt in den Händen von Leuten lag, die nie das Land bearbeitet hatten. Die Milizionäre nannten uns gusanos imperialistas, imperialistische Würmer. Und dann fiel der große Schlag: Die Milizionäre kündigten an, dass mit Ausnahme von fünf caballerias Land (zirka 67 Hektar) und dem Haus alles konfisziert würde. Danach war Großvater nicht mehr der Alte. Er sprach kaum mehr. Er mochte seinen Araber nicht mehr reiten. Er machte keine Ausflüge in die Stadt mehr. Er war wie ein Geist – anwesend, aber doch nicht richtig. Großmutter Petra zog sich in ihr Zimmer zurück. Dort saß sie lange Stunden unbeweglich und starrte hinaus auf die Felder. Ich habe Großmutter nie erzählt, dass ich sie damals weinen sah. Irgendwie verstand ich wohl ihren Kampf um Fassung. Ich sagte ihr auch nicht, wie zornig ich war, als ich sie besiegt sah, und wie einsam und bedroht ich mich fühlte, weil ich nicht wusste, wie lang der Albtraum dauern würde.
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PETRA UND ALAZANA
MEINE ERINNERUNGEN AN Großmutter Petra sind größtenteils mit der Zeit verknüpft, in der ich auf der Farm lebte. Sie war für mich ein Symbol der Kraft, eine Quelle stiller Weisheit. Es war Petra, die mich das Land lieben lehrte. Wenn ich an sie denke, dann immer als an die starke Frau, die ich kannte, bevor die Agrarreform ihr ihre Träume raubte. Nach der Konfiskation der Farm alterte Großmutter schnell. Ihr Gang wurde langsamer, ihr Rücken krümmte sich unter der Last ihrer Verluste. Als ich sie kennen lernte, war Großmutter Petra in den Sechzigern und ausgelaugt durch die vielen Schwangerschaften und Geburten und durch die Erziehung so vieler Kinder. Aber die Zeit und das arbeitsreiche Leben hatten die Schönheit und Freundlichkeit ihrer Seele nicht zerstört. Großmutter war so kräftig wie der breite Stamm des Ceiba-Baums, der am Flussufer wuchs. Sie hatte starke Beine, aus denen die Venen hervorsprangen wie Wurzeln auf der Erde. Sie hätte mit ihren sehnigen Armen einen Mann niederringen können, aber diese Arme konnten auch sanft sein und Schutz bieten, wie die Äste eines Baumes, die das Unwetter abhalten. Ihr langes weißes Haar, das im Nacken zu einem Knoten geschlungen war, gab ihr das Aussehen einer Flamenco-Tänzerin und die weise Aura einer Zigeunerin. Ab und zu erlaubte mir Großmutter, ihre silberne Mähne zu kämmen, die ihr bis an die Knie reichte. Sie hatte einen Lieb-47-
lingskamm, von der Art, die wir in Kuba peineta nennen, klein und halbmondförmig und aus dem Panzer der Seeschildkröte gemacht. Großmutter Petras kostbare Peineta war ein Geschenk ihrer Mutter. Wenn sie wollte, dass ich ihr das Haar kämmte, dann zog sie die peineta aus der kleinen Seitentasche ihres Kleides und reichte sie mir. Das waren immer besondere Augenblicke. Soweit ich mich erinnern kann, war Großmutter nicht sehr gesprächig, aber wenn ich sie kämmte, wurde sie mitteilsamer und ließ mich an ihren Erinnerungen teilhaben. »Ich wollte immer noch einmal meine Heimat Teneriffa sehen«, sagte sie zum Beispiel. Dann folgte eine lange Pause. »Und warum bist du nicht gefahren, Großmutter?« »Ja, das weiß ich selbst nicht. Ich weiß nur, dass die Zeit so schnell verging. So schnell… Ich merkte gar nicht, dass ich alt wurde. Eines Tages, als ich Ende vierzig war, bekam ich einen Brief mit der Nachricht, dass Mamá gestorben war… und dann, zwei Jahre später, einen weiteren Brief: Papá war gestorben.« Schweigen. Ich schaute Großmutter ins Gesicht und erwartete Tränen zu sehen. Aber ich begegnete ruhigen braunen Augen. Erinnerungen waren alles, was ihr von diesen geliebten Menschen geblieben war und in der dunklen Stille ihrer schlaflosen Nächte hing sie diesen Erinnerungen nach. »Nachdem Papá tot war, lag mir nichts mehr daran heimzufahren. Ich weinte viele Nächte lang. Oft wachte José auf und sagte: ›Basta, mujer! Du wirst ja noch ganz austrocknen. Wenn du so weitermachst, wirst du krank werden.‹ Wie viele Männer konnte auch mein geliebter Mann einen solchen Schmerz nicht verstehen. Männer leiden nicht so sehr wie Frauen. Nie hat ihm der Tod eines Menschen eine schlaflose Nacht verursacht, nicht einmal der Tod unserer Kinder. Nein, er schuftete den ganzen Tag, bis er abends erschöpft ins Bett fiel wie ein totes Pferd.« Großmutter arbeitete so hart wie ein Mann. Sie wollte sich nicht gern bedienen lassen, und selbst als Großvater zwei Leute -48-
einstellte, die in Küche und Haushalt helfen sollten, machte sie immer noch das meiste selbst. Jeden Morgen, ohne Ausnahme, stand sie vor fünf Uhr auf und half, die Milch, die die Männer vom Stall brachten, in die großen metallenen Behälter zu füllen. Ich wachte vom Scheppern der Behälter auf – das Geräusch bedeutete, dass es Zeit war, aufzustehen und schaumige, süße, warme Milch frisch von der Kuh zu trinken. Manchmal blieb Großmutter dann bei mir sitzen und wir schlürften mit Genuss unseren café con leche, während das Haus noch schlief. Einmal erzählte sie mir, diese frühen Stunden seien ihre liebste Tageszeit – wenn alles noch ruhig war und man den Minzeduft des Morgentaus riechen konnte. »Trink aus, Teresa«, sagte sie dann wohl, »gleich nach dem Frühstück pflücken wir Guajaven und machen Marmelade.« Großmutter zeigte mir, wie man die besten Früchte für mein kubanisches Lieblingsdessert casquitos aussuchte. Das Rezept dafür ist denkbar einfach: Die Guajaven werden geschält, von den Kernen befreit und in einem Kessel mit Wasser und viel braunem Zucker weich gekocht. »Hier, Teresa«, sagte sie, »solche brauchen wir. Schau die Schale an, betaste sie. Sie fühlt sich dick und saftig an. Denk daran, nicht zu reif und nicht zu grün.« Ich lernte gern bei Großmutter und war stolz, wenn ich machen konnte, was sie machte. Ich war glücklich, dass sie mir so viel Aufmerksamkeit schenkte, und wich ihr nicht von der Seite, wenn sie zum Maisfeld ging, um frische Kolben für das Mittagessen zu holen, oder wenn sie im hohen Gras nach den Eiern von Wildhühnern suchte. Eines Nachmittags gruben wir ein paar TaroWurzeln aus, die den Kartoffeln ziemlich ähnlich sind. Auf dem Heimweg gingen wir über die Pferdekoppel, auf der sich grüne Flecken von dormidera – das bedeutet »Schläferin« – ins goldene Gras mischten. Bei der leisesten Berührung rollen sich die federförmigen Blätter der dormidera zu kleinen Knäueln zusammen. Das faszinierte mich und ich versuchte, möglichst viele von ihnen in den Schlaf zu schicken. Da hörte ich plötzlich etwas, -49-
was wie Schmerzenslaute eines Pferdes klang. Großmutter blieb stehen, setzte ihre Tasche mit den Taros ab und horchte. Nach einigen Sekunden hörte ich sie sagen: »Es ist die trächtige Stute, Alazana. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.« Großmutter ging in Richtung der Laute und ich folgte ihr. Vor ein paar hohen Büschen sah ich ein Tier im Gras liegen, unter einem Tamarindenbaum, dessen lange, dicke Äste sich ausbreiteten wie ein riesiger Schirm und vor der heißen Sonne Schutz boten. Die Stute versuchte immer wieder aufzustehen, aber jedes Mal knickte ihr linkes Bein ein. Alazana war ein schönes Pferd mit einem Fell wie dunkler Bernstein und einer goldenen Mähne. Ihre dunklen Augen waren jetzt voller Angst. »Das linke Bein ist gebrochen«, sagte Großmutter, als sie dem Pferd näher kam. »Bleib stehen, Teresa!« »Großmutter, können wir ihr beim Aufstehen helfen?« »Nein. Bleib, wo du bist! Wir dürfen sie nicht erschrecken.« Großmutter näherte sich dem Pferd vorsichtig, mit langsamen Bewegungen und unter beruhigenden Worten. Ihre l Augen ließen Alazanas Augen nicht los. Es war, als ob ein Austausch zwischen den beiden stattfände. Ich sah mit Staunen, dass die Stute sich beruhigte, als Großmutter bei ihr war. Langsam und jede plötzliche Bewegung vermeidend kniete Großmutter sich hin, um das gebrochene Bein zu untersuchen. Als sie es berührte, bäumte sich das Pferd auf und schlug mit den Vorderbeinen herum, knapp an Großmutter vorbei. Sie winkte mich näher heran. »Teresa, geh zum Haus und hol deinen Großvater oder einen der Arbeiter. Erzähl ihnen, was geschehen ist, damit sie Bescheid wissen.« »Ja, Großmutter. Ich bin gleich wieder da«, sagte ich. Ich wäre zwar lieber dageblieben, aber ich wusste, dass ich besser nicht widersprach. »Und, Teresa, bring den Holzkasten, der im Geräteraum gleich neben der Tür steht.« -50-
Ich rannte, so schnell ich konnte. Unterwegs traf ich Manuel, einen alten Cowboy, der sich meistens im Stall aufhielt und dafür sorgte, dass die Tiere genug Futter und Wasser hatten. Ich bat ihn, Großmutter zu Hilfe zu kommen, aber er jammerte über arthritische Schmerzen in der Hüfte. Manuel war ungefähr siebzig, aber mit seinem unrasierten Gesicht, seinen Zahnlücken und der braunen Nikotinfarbe der restlichen Zähne sah er viel älter aus. »Geh, Manuel! Großmutter braucht dich!« »Ay carajo! Ich gehe, aber der Gaul ist es nicht wert.« Er spuckte eine Ladung Tabaksaft ins Heu. Ich konnte Großvater nicht finden, aber der junge Farmarbeiter Matias, der gerade aus der Stadt kam, bot seine Hilfe an. Ich fand den Kasten und durfte zu Matias aufs Pferd. Als wir ankamen, versuchten Großmutter und Manuel gerade, das gebrochene Bein mit einem Stock und mit Angelschnur, die Manuel mitgebracht hatte, zu schienen. Matias half ihnen. Ich blieb stehen und sah zu. »Gib mir den Kasten«, sagte Großmutter. Sie nahm eine Rolle Isolierband heraus und wickelte es um das geschiente Bein. Ich trat ein bisschen zur Seite, um ihr nicht im Licht zu stehen, und bemerkte dabei, dass aus dem Hinterteil des Pferdes eine rote Blase kam. Sie sah aus wie ein Luftballon und wurde immer größer. »Großmutter, schau… schau!« »O nein! Nicht jetzt!«, sagte sie und stand auf. »Hier, Manuel, mach das fertig. Ich schau einmal nach. Wenn es das ist, was ich vermute…«, sagte sie stirnrunzelnd. »Was denn, Großmutter?«, fragte ich und dachte an das Schlimmste. »Heute kommt aber auch alles zusammen! Ich möchte bloß wissen, wo José ist. Wenn man ihn am nötigsten braucht, löst er sich in Luft auf.« -51-
»Was ist los, Großmutter?« »Sie bekommt ein Fohlen«, sagte sie. »Geht es ihr gut?« »Ja, Teresita, aber mit ihrem gebrochenen Bein wird sie Schwierigkeiten haben«, sagte Großmutter, kniete sich hin und inspizierte die Blase, die sich ständig vergrößerte, genauer. »Schau, Teresita… man kann den Kopf schon sehen!« Großmutter war aufgeregt wie ein junges Mädchen und auch ich war wie elektrisiert. Ich hatte noch nie miterlebt, wie ein Fohlen zur Welt kam. »Matias, hol Wasser für sie«, sagte Großmutter und tätschelte Alazana den Kopf. Dann nahm sie mich bei der Hand und führte mich in den Schatten des Tamarindenbaums. »So etwas dauert seine Zeit, da können wir es uns ruhig bequem machen«, sagte sie und wir setzten uns. »Hat Alazana große Schmerzen?«, fragte ich, weil ich daran dachte, was ich von meinen Tanten über Wehenschmerzen gehört hatte. »Wenn Stuten wie Frauen sind, dann hat sie bestimmt große Schmerzen.« Großmutter zog ein weißes Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Können wir ihr helfen?« Ich hatte Angst, es könnte etwas Schlimmes geschehen. »Nein. Das muss sie allein schaffen.« Ich machte mir Sorgen um das Pferd. Ich versuchte, mir Alazanas Schmerzen vorzustellen. Ich dachte daran, wie ich einmal zu viele grüne Guajaven gegessen hatte und krank geworden war. Ich hatte die ganze Nacht Bauchweh gehabt. Vielleicht hatte Alazana auch solche Krämpfe. Langsam vergingen die Stunden. Die Nachmittagssonne wurde milder, aber es war immer noch sehr heiß. Manuel beschloss, wieder in den Stall zu gehen. Matias brachte uns kalte Limonade -52-
und Kaffee. Großvater José besuchte uns und heiterte uns mit ein paar Scherzen ein bisschen auf. Ich hielt die Augen ständig auf Alazana gerichtet, weil ich Angst hatte, die Geburt sonst zu versäumen. Um halb fünf ungefähr wurde die Stute unruhig. Sie schlug mit den Vorderbeinen, als ob sie aufstehen wollte, aber mit dem verletzten Bein war das nicht möglich. Plötzlich wurde die durchsichtige Blase größer. Ich konnte die Gestalt des Fohlens darin erkennen. »Ein Wunder!«, sagte ich zu mir und Großmutter sagte: »Jetzt, José, es kommt!« Mit einer letzten Kraftanstrengung stieß Alazana die ganze Blase heraus und begann sofort, das Fohlen zu lecken. Sie entfernte die dicke Membran, die seinen Körper bedeckte, so dass sein nussfarbiges Fell glänzte. Die langen, dünnen Beine des Füllens bewegten sich schon in der Anstrengung aufzustehen. Das Muttertier unterstützte die Bemühungen des Kleinen, indem sie es immer wieder mit Zunge und Nüstern anstieß. »Wirklich schade«, hörte ich Großvater sagen. »Ja«, antwortete Matias. Das begriff ich nicht – es war doch eine sehr erfreuliche Sache. »Großmutter, was ist schade?« »Da mach dir jetzt mal keine Gedanken.« Sie stand auf, schüttelte Gras und Staub von ihrem Kleid und ging zu Großvater und Matias. Ich blieb verwirrt zurück. »Glaubt ihr, dass Alazana aufstehen kann?«, fragte sie die beiden Männer. »Die Verletzung ist schlimm, aber vielleicht mit ein bisschen Unterstützung…«, sagte Matias. »Versuchen können wir es. Vielleicht bringen wir sie bis zum Stall«, sagte Großvater und nahm ein Seil vom Sattel. Er ging entschlossen auf die Stute zu und versuchte, ihr das Seil um den Hals zu schlingen. Alazana schlug aus und bäumte sich auf. -53-
»Komm, Alazana, ich tu dir nicht weh.« Großvater versuchte es noch einmal und stieß erneut auf Widerstand. Da griff Großmutter ein. »José, gib mir das Seil«, sagte sie und schaute Alazana sehr eindringlich in die Augen. Alazana rührte sich nicht. Großmutter klopfte ihr den Hals, strich ihr über die Stirn und sprach leise auf sie ein. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, aber es wirkte, und die Stute beruhigte sich. In diesem Augenblick kam das Fohlen nach einigem Gestrampel auf die Beine. Großmutter band Alazana das Seil um den Hals und zog sachte, während sie das Pferd zum Aufstehen aufforderte. »Komm, komm… komm mit mir. Du kannst es, tapfere Alazana. Du kannst es!« Alazana bemühte sich, aber sobald sie das gebrochene Bein belastete, fiel sie wieder um. »Kommt jetzt, Jungs, und helft mir. Bewegt euch nicht zu schnell, kommt einfach von der anderen Seite und hebt sie hoch, wenn ich am Seil ziehe.« Großmutter hatte das Kommando. Schließlich kam Alazana in die Höhe und wir lobten sie überschwänglich. Das Fohlen blieb nahe bei der Mutter; es machte kleine Schritte mit seinen wackligen Beinen. »Vorsicht jetzt. Ich möchte nicht, dass sie noch einmal fällt«, sagte Großmutter, die neben Alazana ging. »Jawohl, capitán. Es wundert mich, dass du nicht in der Schweinebucht warst. Die Kubaner aus El Norte hätten dich gut brauchen können«, scherzte Großvater. Alazana schaffte es bis in den Stall, wo sie Schatten hatte und Futter und Wasser in Fülle. Ich saß auf einem Heuhaufen am Eingang und sah zu, wie das kleine Fohlen bei der Mutter trank. Als alles in Ordnung war, kamen die Großeltern zu mir. »Was meinst du, wie sollten wir das Fohlen nennen?«, fragte Großvater und legte mir den Arm um die Schultern. -54-
»Ich weiß nicht… vielleicht… eh… Almendro?«, sagte ich. »Petra, was meinst du? Soll Almendro Teresa gehören?« Großvater lächelte Großmutter zu. »Ich weiß nicht recht, José. Vielleicht sollten wir abwarten, bis sie nicht mehr mit ihrem kleinen Bruder streitet?« Großmutter zwinkerte Großvater zu. »Großmutter, bitte… ich verspreche, dass ich brav bin! Bitte, gib mir Almendro!«, rief ich und umarmte sie. »Está bien… Almendro gehört dir. Aber du musst dich gut um ihn kümmern. Matias soll dir zeigen, wie du ihn striegeln und pflegen musst.« Ich konnte es gar nicht fassen, dass das Fohlen mir gehören sollte. Ich war überglücklich. Ein eigenes Pferd, das ich jederzeit reiten konnte! »Danke, Großmutter! Danke, Großvater!« Ich küsste beide und rannte zum Haus, um es meiner Mutter und meinem Bruder zu erzählen. Später am Abend hörte ich ein Gespräch zwischen Großvater und Matias. Sie saßen auf der Veranda. In der Luft lag der Duft von Gardenien und wildem Jasmin. Es hatte geregnet, der Boden war abgekühlt und um die Beete standen noch Pfützen. Ich jagte gerade einen kleinen grünen Frosch. Er hüpfte auf den Platten des Gartenweges vor mir her. Ich hielt meine Taschenlampe auf ihn gerichtet und versuchte, ihn immer im Lichtstrahl zu behalten. So kam ich in die Nähe der beiden Männer. Sie rauchten Zigarren und unterhielten sich. Mein grüner Freund verschwand im Gebüsch. Enttäuscht löschte ich die Taschenlampe und wollte gehen. Da hörte ich, wie Großvater zu Matias sagte: »Wir müssen Alazana beobachten.« »Sie ist ein gutes Pferd. Es ist wirklich schade, wenn man so ein Tier opfern muss.« »Ich weiß. Ich wünschte, wir könnten es ändern.« -55-
Ich wusste nicht, was »opfern« heißt, aber es schien jedenfalls nichts Gutes zu bedeuten. Ich ging ins Haus und fand Großmutter im Nähzimmer. Sie stopfte Strümpfe und hörte Radio. Sie hob den Kopf und schaute mich über ihre dicke Brille hinweg an. »Komm herein, Teresa. Was hast du schon wieder verbrochen?« »Ich habe nichts getan, Großmutter, aber Großvater und Matias haben gesagt, dass sie Alazana opfern wollen.« »Komm, setz dich her.« Großmutter deutete auf einen Stuhl an ihrer Seite. »Schau, Kind, es gibt schmerzliche Dinge im Leben… und diese Sache mit Alazana ist eine bittere Pille, die geschluckt werden muss.« Großmutter stand auf und räumte das Nähkästchen weg. »Es lässt sich nicht ändern. Opfern bedeutet, dass wir Alazana töten müssen.« Sie wartete auf eine Reaktion, aber ich war sprachlos vor Entsetzen. »Wir tun es nicht gern, aber es muss sein.« »Aber warum müsst ihr sie töten?«, rief ich. »Weil ihr Bein nicht heilt. Sie hat große Schmerzen.« »Warum holt ihr nicht den Tierarzt? Er kann das Bein doch richten.« »Das hilft nichts, Kindchen… glaub mir, da kann niemand etwas machen.« »Auch Gott nicht?«, fragte ich hartnäckig. »Das kann ich nicht beantworten. Das musst du mit Gott selbst besprechen.« Ich war wütend auf sie. Ich wollte eine andere Antwort. Ich wollte, dass Alazana am Leben blieb. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand es übers Herz brächte, so ein freundliches, schönes Tier zu töten. Ich war überzeugt, es müsse eine andere Lösung geben. »Teresita, hör mir zu«, sprach Großmutter mit weicher Stim-56-
me weiter. »Du musst nicht glauben, dass wir nicht alle Möglichkeiten, das Tier zu retten, erörtert hätten. Großvater und ich haben den ganzen Tag darüber gesprochen. Aber das Tier wird nur leiden, wenn wir es am Leben lassen.« Ich rannte hinaus und warf die Tür hinter mir zu. Ich wollte nichts mehr hören. Ich lief in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kissen. Ich rechnete damit, dass Großmutter mir nachkommen würde, aber sie kam nicht. Ich weinte um Alazana und hatte Mitleid mit Almendro, der bald keine Mutter mehr haben würde. Darüber schlief ich ein. Ich erwachte bei Sonnenaufgang, weil ich Stimmen aus der Küche hörte. Manuel erzählte Großmutter, er habe beim Melken Schwierigkeiten mit einer Kuh gehabt. »Doña Petra, das Vieh hat mich in die Luft geworfen, mitsamt dem Melkschemel und allem. Ich hätte mir fast ein Bein gebrochen.« »Du bist ein schwacher alter Mann, Manuel. Aber ich kann kaum glauben, dass du nicht einmal mit einer Kuh fertig wirst.« Großmutter und Manuel neckten sich gern ein bisschen. Sie waren fast gleichaltrig, aber Manuel jammerte ständig über alle möglichen Beschwerden, während Großmutter nie ein Wort darüber verlor, wenn sie sich nicht wohl fühlte. Ich war an das Geplänkel schon gewöhnt. »Diese Kuh ist noch störrischer als Sie, Doña Petra«, sagte Manuel. »Wie viel willst du wetten? Ich zeige dir, wer störrischer ist«, hörte ich Großmutter sagen. »Ich wette überhaupt nichts. Wenn Sie das tun wollen, was ich vermute… Sie sind verrückt, Lady.« »Nimm diesen Melkeimer, Alter, und komm mit. Ich zeige dir, wie man diese Kuh melkt.« Als ich das hörte, sprang ich aus dem Bett. Ich schlüpfte in -57-
Kleider und Schuhe und in weniger als einer Minute lief ich schon hinter den beiden hinunter zum Stall. Großmutter ging voran, schnell und entschlossen. Manuel versuchte Schritt zu halten, aber er hinkte auf dem linken Bein. Großvater befestigte gerade zwei große Kannen auf seinem Pferd, als er uns kommen sah. »He, was ist los? Petra, was suchst du hier?« »Ich zeige diesem Alten, wie man eine störrische Kuh melkt«, sagte Großmutter und nahm den Melkschemel vom Weidezaun. Als sie sich umdrehte, sah sie mich hinter Manuel stehen. »Teresa, du solltest noch im Bett sein«, sagte sie überrascht. »Ich möchte sehen, wie du die Kuh melkst. Darf ich bleiben?« Sie antwortete nicht, was ich als Erlaubnis auslegte. »Deja eso, mujer! Lass die Hände von dieser Kuh! Sie wird dir wehtun!«, schrie Großvater vom anderen Ende des Stalls herüber. Großmutter setzte sich in Marsch, wie ein Soldat, der dem Feind gegenübertritt. Sie näherte sich der störrischen Kuh, einem hellgrauen Tier mit scharfen Hörnern und einem Euter, das so voll Milch war, dass es aussah wie ein Luftballon kurz vor dem Platzen. Die Kuh muhte, was bedeuten sollte »Komm nicht näher«, aber Großmutter reagierte nicht. Bevor die Kuh etwas unternehmen konnte, war Großmutter schon bei ihr und begann die Milch in den Eimer zu melken. Die wütende Kuh schlug nach hinten aus, so dass Großmutter ständig ausweichen musste. Der Tanz dauerte ein paar Minuten, dann traf ein Huf Großmutter in die Seite. Sie wurde samt Schemel und Eimer in die Luft geschleudert. Ich fürchtete, sie sei verletzt, aber kaum war sie auf dem Boden gelandet, da stand sie auch schon wieder auf. Großmutter war wütend, das sah ich an ihren zusammengebissenen Zähnen. Großvater rannte zu ihr, aber sie stand bereits wieder aufrecht, Eimer und Schemel in der Hand. »Bitte, bitte, Petra, lass es sein. Ich bitte dich«, rief Großvater. -58-
»Gib dir keine Mühe, José. Ich werde diese Kuh melken«, sagte sie und stellte den Melkschemel auf den Boden. Diesmal fing die Kuh schon mit dem Ausschlagen an, bevor Großmutter sie noch berührt hatte. Doña Petra näherte sich dem Tier wie ein Stierkämpfer, der die Banderillas setzen will, und packte es beim Schwanz. Jetzt wurde es ein Ringkampf zwischen Kuh und Frau. Mehrere Male schleuderte die Kuh Großmutter zu Boden. Schließlich packte die alte Frau, als ob sie übernatürliche Kräfte hätte, die Kuh bei den Hörnern und hielt ihr den Kopf so, dass beide Auge in Auge dastanden. Im Stall herrschte Stille, als Kuh und Frau ihre Kräfte maßen. Endlich ließ Großmutter die Hörner los und die Kuh blieb bewegungslos stehen. Großmutter nahm Melkschemel und Eimer und machte sich wieder ans Melken. Die Kuh hatte ihre Meisterin gefunden. Großvater lachte nervös, als er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Manuel stand da wie zur Salzsäule erstarrt, mit ausdruckslosem Gesicht. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis er die Sprache wiederfand. »Coño, qué mujer! Das ist eine Verrückte!« Er spuckte Tabaksaft aus und ging. Großvater setzte sich auf eine Kiste neben mir und wir sahen Großmutter beim Melken zu. Sie genoss ihren Sieg. In jeder Hand eine Zitze, drückte und zog sie und holte die Milch aus dem Euter. Man hörte es, wenn der Milchstrahl die Wand des Eimers traf. »Diese kleine Frau, die du da siehst«, sagte Großvater, indem er auf seine Frau deutete, »hat mehr Mut als ein ganzes Bataillon Männer. Und sie ist nicht nur stark, sondern sie weiß auch mehr über Tiere als alle Farmer in der Umgebung. Deine Großmutter weiß, wie die Tiere denken. Ich habe schon miterlebt, dass sie mit Pferden und Kühen, ja sogar mit Hühnern spricht, als wären es Menschen. Sie kann eine kranke Kuh anschauen und sofort sagen, welches Mittel ihr helfen wird. Ihre Diagnosen sind genauer als die des Tierarztes. Sie kann Tiere auch gesundsprechen.« -59-
Ich dachte an Alazana. Wenn Großmutter so viel von Tieren verstand, warum konnte sie dann Alazana nicht helfen? »Großvater, warum kann Großmutter nicht mit Alazana reden und ihr Bein gesund machen?« »Ay, cariño, das ist etwas anderes.« Er stand auf und wollte sichtlich die Unterhaltung beenden. »Warum ist das etwas anderes, Großvater?«, bohrte ich. Er setzte sich wieder auf seine Kiste. »Wenn ein Pferd sich ein Bein bricht…« »Ja, ich weiß schon, dann heilt es nicht wieder!«, unterbrach ich ihn wütend. Wollte er mir die gleiche Geschichte erzählen? Meine Reaktion überraschte ihn. »Es ist wahr, Teresa, es ist leider wahr. Wir möchten Alazana nicht töten, aber wir müssen es tun, zu ihrem eigenen Besten. Manchmal kann man einen Beinbruch bei einem Pferd kurieren… aber in diesem Fall…« Er verstummte und schaute in die Ferne. »Der Bruch ist kompliziert. So etwas heilt nicht.« »Ich will nicht, dass du Alazana umbringst. Was soll aus Almendro werden?« »Wir kümmern uns schon um Almendro. Es wird ihm an nichts fehlen.« »Das glaube ich nicht. Er wird sehr traurig sein ohne seine Mutter.« Großvater legte mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. Er sagte nichts mehr. Er ließ mich weinen, während er mir mit den Fingern durch das lange dunkle Haar fuhr und die widerspenstigen Locken zurückstrich, die mir in die Stirn fielen. Seine Hände waren rau von vielen, vielen Jahren Farmarbeit. »Wie ist das passiert? Wie hat sie sich verletzt?« »Irgendetwas muss sie erschreckt haben. Sie ist davongelaufen und dabei wahrscheinlich in ein Loch im Boden getreten und gestürzt. Zweimal am Tag kommt hier der Zug vorbei und es ist -60-
gut möglich, dass der Lärm – vielleicht ein hoher Pfeifton – sie in Panik versetzt hat.« Großmutter kam mit dem vollen Milcheimer auf uns zu. Großvater sprang auf und nahm ihr die Last ab. »Du bekommst doch immer, was du willst«, scherzte Großvater. »Nicht immer«, sagte sie in ernstem Ton. Jahre später erkannte ich die Wahrheit, die in Großmutters Worten lag. Sie hatte nicht immer bekommen, was sie wollte. Das Leben war auch oft hart. Sie hat ihre Heimat, die kanarischen Inseln, nie wiedergesehen. Sie verlor drei ihrer Kinder. Dann nahm Fidel Castro ihr das Land, das ihre zweite Heimat geworden war. »Komm, Teresa, wir schauen nach Alazana«, sagte Großmutter. Alazana und Almendro lagen beieinander im Heu. Großmutter schüttelte bekümmert den Kopf. Ich sah Alazanas geschwollenes Bein an. Es war schwer zu sagen, ob sie Schmerzen litt, aber das Bein war beinahe doppelt so dick wie sonst. Großmutter betastete es vorsichtig. »Da ist eine Infektion dazugekommen«, sagte sie mehr zu sich selbst. Sie tätschelte das Pferd und Alazana hob den schönen Kopf und sah mir direkt in die Augen. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Alazanas Augen waren wie schwarzer Marmor mit kleinen Lichtfunken darin. Sie wollte mir etwas sagen und ich merkte, wie in meinem Kopf Bilder entstanden. Ich sah Alazana über die Hügel galoppieren und wie Pegasus in den Himmel fliegen. Ihre Flügel spannten sich immer weiter, sie flog höher und höher… »Großmutter, Großmutter…« »Ja, Alazana muss gehen«, unterbrach mich Großmutter. »Sie hatte Flügel und sie ist geflogen!«, sagte ich mit einer Mischung aus Freude und Trauer. -61-
»Du hast ihren Geist gesehen. Sie wird glücklich sein.« Großmutter streichelte dem Pferd den Hals. Das schien Alazana zu beruhigen. Sie legte ihren Kopf auf Großmutters Schoß. Almendro rückte näher zu mir und schnupperte an meinem rechten Arm. Mir schien, das Füllen wollte auch Zuwendung haben, und so strich ich ihm mit der Hand über das Gesicht. Sofort spürte ich eine Verbindung zwischen uns beiden – ein Gefühl von Wärme und Lachen in meinem Herzen. Das war das letzte Mal, dass ich Alazana gesehen habe. Am nächsten Morgen rannte ich gleich nach dem Aufstehen in den Stall, um nach ihr und Almendro zu sehen. Ich hatte ein paar Würfel braunen Zucker für sie dabei. Ich war überrascht, als ich nur Almendro sah. Großmutter fütterte ihn mit einer Babyflasche. »Wo ist Alazana?«, fragte ich, hatte aber zugleich Angst vor der Antwort. »Sie ist fort«, sagte Großmutter, ohne mich anzusehen. »Hier, gib Almendro die Flasche.« Sie ließ mich die Flasche halten, an der Almendro saugte. »Das Leben geht weiter, mein Mädchen. Der Kleine braucht jetzt viel Pflege, wo seine Mama fort ist. Ich bin zu alt, um alles allein zu machen. Willst du mir dabei helfen?« »O ja, Großmutter, sehr gern!« Meine Augen begegneten denen Almendros und ich sah, wie Alazana mit ihren goldenen Flügeln davonflog. In diesem Augenblick wusste ich, dass Alazana zwar tot war, dass aber ein Teil von ihr noch bei uns war und über den kleinen Almendro wachte. Almendro war mit der Flasche fertig und Großmutter steckte sie in die Tasche. »Du kannst hierbleiben, wenn du mit Almendro spielen willst, aber lass ihn nicht aus dem Stall.« Als Großmutter zum Haus ging, merkte ich, dass sie ein bisschen hinkte. Das kam vermutlich von dem Kampf mit der Kuh am Vortag, aber natürlich verlor sie kein Wort über die Schmerzen. Großmutter war unglaublich zäh. -62-
Als ich wieder in die Stadt musste, fiel mir der Abschied von Almendro schwer. Am letzten Tag ging ich frühmorgens in den Stall, um ihn zu füttern, wie ich es jetzt fast zwei Wochen lang gemacht hatte. Ich wusste, dass er bei Großmutter in guten Händen war, aber er würde mir fehlen. Ich überlegte, ob sich Alazana auch so gefühlt hatte, als sie ihr Baby verlassen musste. »Großmutter, hat Alazana Sehnsucht nach Almendro?«, fragte ich, als ich meine Sachen packte. »Sí, mi hijita«, sagte meine Großmutter. Sie wandte sich ab und erzählte mir mit leiser Stimme, dass Alazana von ihrer neuen Heimat im Himmel aus über Almendro wachte. Das freute mich, aber ich wusste, dass Alazana gern herunter gekommen wäre und sein mandelfarbiges Fell geleckt hätte.
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CARMEN
EINIGE WOCHEN NACH Alazanas Tod wurde im Zuge der Bodenreform der größte Teil der Farm enteignet. Die festen Wurzeln meines Lebens wurden nach und nach ausgerissen. Die Erwachsenen um mich herum waren zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt, um sich um mich zu kümmern. Meine Eltern machten sich Sorgen wegen der Zukunft. Großmutter Petra war in Traurigkeit versunken. Großvater José verbrachte seine Tage auf der Veranda, wo er im Schaukelstuhl schlief. Villa Petra war nicht mehr der sichere Hafen, auf den ich mich verlassen konnte. Ich bekam Albträume. Ich wachte schweißgebadet auf, verfolgt von den Bildern von Milizionären mit Maschinengewehren, die Jagd auf mich machten. In meinen Träumen jagten mich die Soldaten aus dem Haus und in die Felder, und die Kugeln zischten an meinem Kopf vorbei. Ich rannte, so schnell ich konnte, aber die Soldaten kamen näher und näher… »Niña, niña, wach auf!« Ich öffnete die Augen und sah das braune, liebevolle Gesicht von Carmen, meinem schwarzen Kindermädchen, meiner treuesten Freundin. »Carmen, sie sind wieder da!«, rief ich. Carmen setzte sich auf mein Bett und ich kroch in ihre Arme. »Die Soldaten?«, fragte sie. -64-
»Ja, Carmen, die Soldaten mit den Maschinengewehren!« »Hmm. Da müssen wir etwas unternehmen.« »Was denn?« »Pass auf, niña. Ich erzähle dir von einer wichtigen YorubaGöttin namens Yemayá. Sie liebt Kinder und kennt ihre Ängste. Yemayá hat die gleiche Hautfarbe wie ich. Wenn du zu ihr betest, lässt sie nicht zu, dass dir etwas geschieht. Wenn sie dir beisteht, bist du ganz sicher, niña.« Seit dieser Nacht zündeten Carmen und ich eine Kerze an, bevor ich zu Bett ging, und baten Yemayá um ihre Hilfe. Carmen war selbst wie die Flamme einer Kerze für mich; sie brachte Licht in die dunklen und schwierigen Augenblicke meiner Kindheit. Sie war für mich da, als ich nach der Beschlagnahme der Farm meiner Großeltern heimkam. Sie saß an meinem Bett und erklärte mir ruhig, dass nicht alles verloren war. »Niña«, sagte sie, »deine Großeltern können in ihrem Haus bleiben. Mach dir keine Sorgen, niña, deinem Almendro wird nichts passieren.« »Aber die Milizionäre haben zu Großvater gesagt, dass sein Land jetzt Castro gehört.« »Das meiste haben sie ihm genommen, aber sie haben deinen Großeltern das Haus und fünf Caballerias Land gelassen. Dein Großvater kann noch alles anbauen, was die Familie braucht.« »Was ist mit den Tieren?« »Da bleibt deinen Großeltern nicht viel. Vielleicht ein paar Hühner und Schweine, ein paar Kühe und die Reitpferde.« Die Agrarreform der Regierung beschäftigte mich sehr. Ich begriff nicht, wie Castro den Leuten einfach ihr Land wegnehmen konnte. Und ich war immer noch wütend darüber, wie diese Soldaten uns behandelt hatten. »Carmen, wieso darf Castro so etwas machen?« »Oh, niña, er ist ein Verräter. So etwas passiert immer wieder -65-
in dieser großen Welt. Meine Vorfahren wurden von den Spaniern aus ihrer Heimat Afrika entführt. Sie wurden nach Kuba gebracht, um in den Zuckerplantagen und Mühlen zu arbeiten. Als Sklaven – sie hatten keine Rechte. Castro ist wie diese Spanier. Das Recht kümmert ihn nicht.« Carmen hielt inne und schaute auf die Uhr an meinem Bett. »Aber du solltest längst schlafen, niña.« Sie küsste mich und ging. Am liebsten hätte ich sie zurückgerufen und sie gebeten, mich in den Schlaf zu singen, wie sie es früher getan hatte, als ich noch klein war. Arru ru mi niña, duermete pedazo de mi corazón – schlafe, mein Kind, mein Herzensschatz. Während sie sang, wiegte sie mich in ihren Armen und drückte mich an sich. Es war, als werde man von der karibischen See umarmt und gewiegt. »Niña«, sagte sie dann, »du musst jetzt schlafen, sonst ärgert sich der Mond und geht morgen nicht auf mit seinen silbernen Strahlen. Dann ist es sehr, sehr dunkel.« Carmen erzählte meinem Bruder José und mir gern Geschichten von den Sklaven, die so hart auf den Plantagen gearbeitet und ihr schweres Leben nur ausgehalten hatten, weil sie abends trommelten und sangen. Sie erzählte auch Schauergeschichten über Geister, die in den alten spanischen Häusern von Cabaigüán spukten, über fremde Stimmen, die man dort hörte, und eigenartige Dinge, die vor sich gingen. »Man darf diese Geister nicht stören. Wenn man in ein solches Haus geht, wird man krank, oder man erleidet schreckliche Unfälle.« Das prägte uns Carmen immer wieder ein. »Da war einmal ein Mann, der in eins dieser Häuser ging, um nach versteckten Schätzen zu suchen. Er fand einen alten Tontopf mit vielen Goldmünzen. Er nahm sie, und ein paar Monate später wurde er sehr krank. Der Doktor in der Stadt fand nicht heraus, was ihm fehlte. Der Mann magerte ab und seine Haut wurde so gelb wie die Goldmünzen. Er starb langsam und unter großen Schmerzen. Geisterkrankheit!« -66-
Carmen war überall in der Stadt wegen ihrer Wahrsage- und Heilkunst bekannt. Sie war eine Santera, eine Priesterin der Santería, der alten afro-kubanischen Religion, welche die Gottheiten der Yoruba verehrt. Sie konnte Krankheiten diagnostizieren und heilen, zaubern und für die Menschen, die bei ihr Hilfe suchten, magische Rituale ausführen. Carmen hatte an der Rückseite des Hauses einen eigenen Raum für ihre Rituale. Ich ging gern hinein, wenn sie nicht da war, und inspizierte die verschiedenen Zauberkräuter: Pflanzen, Wurzeln, Blätter, Blumen. Alle waren zu Büscheln zusammengebunden und lagen, säuberlich getrennt, auf Regalbrettern an der Wand. Gelegentlich kam sie überraschend herein und ertappte mich dabei, wie ich ihre medizinischen Kostbarkeiten betastete und daran roch. »Niña, rühr meine Kräuter nicht an!« Aber dann beantwortete sie geduldig meine Fragen. »Diese Kräuter hier sind für rituelle Reinigungen. Damit werden negative Einflüsse und böse Geister vertrieben«, erklärte Carmen und sie nannte jede Pflanze beim Namen. »Ich habe Majoran, Salbei, grüne Minze, Rosmarin und Verbene.« »Was ist das?« Ich deutete auf ein Bündel gemischter Kräuter. »Escoba amarga. Das ist gut für Reinigungsbäder, und um böse Geister zu verscheuchen, die krank machen.« Sie nahm das Bündel und bürstete mich damit von Kopf bis Fuß. »Das wird dir für eine Weile die Geister des Übermuts austreiben.« Sie lachte und gab mir scherzhaft einen Schlag mit dem Bündel. Der Altar, den sich Carmen in einer Ecke ihres Heiligtums errichtet hatte, war für mich genauso interessant wie die Heilkräuter. Auf einen kleinen Tisch, der mit einem weißen Tischtuch bedeckt war, hatte sie sieben Gläser mit Wasser gestellt, die den afrikanischen Yoruba-Göttern, oder Oríchas, geweiht waren. Daneben standen die Symbole der ihnen entsprechenden katholischen Heiligen. Für Elegguá, der dem heiligen Antonius entsprach, stand da eine weiße Kerze. Für Oggún (den heiligen -67-
Petrus) ein kleiner Beutel Salz. Für Orúnla (den heiligen Franz von Assisi) eine gekochte Yamswurzel. Ein roter Apfel für Changó oder die heilige Barbara. Zuckerrohrsirup für Yemayá (Unsere Liebe Frau von la Regla). Eine Kokosnuss für Obatalá (Unsere Liebe Frau von der Barmherzigkeit). Zusätzlich gab es noch eine große kubanische Zigarre und ein Glas Rum für Babalú-Ayé (den heiligen Lazarus), an den sich Carmen mit Vorliebe wandte. Als ich Carmen zum ersten Mal als Santera wirken sah, war ich neun Jahre alt. Eines Morgens kam Francisca, eine Frau aus der Nachbarschaft, zu ihr. Sie war sehr blass und sah besorgt und krank aus. Sie hustete auch stark. Mein Bruder und ich spielten im Patio neben dem Springbrunnen vor Carmens Zimmer und ich beobachtete Francisca und Carmen, die ins Gespräch vertieft waren. Carmen sagte so etwas wie: »Mit Hilfe der Geister werden wir es herausfinden.« Da hatte ich keine Lust mehr, mit den Soldaten zu spielen. Ich wollte unbedingt herausbekommen, was geschehen würde. José war enttäuscht und wollte mit mir kommen, aber ich versprach ihm, später wieder mit ihm zu spielen, und schickte ihn weg. Die Geister, sagte ich mir vor und versteckte mich so leise wie möglich hinter dem Gardenienbaum vor Carmens Fenster. Mein Herz schlug schnell vor Spannung und Angst. Carmen hatte mir oft verboten, in die Nähe zu kommen, wenn sie als Heilerin wirkte, aber diesmal war meine Neugier größer als meine Angst. Ich wollte unbedingt wissen, was sie da drin mit den so genannten Geistern machte. Aus meinem Versteck konnte ich sehen, dass Carmen vor dem Altar saß und Francisca neben ihr. Carmen nahm eine der Zigarren vom Altar, zündete sie an und blies Rauchwolken in alle Richtungen. Dann setzte sie sich Francisca gegenüber, schloss die Augen und sang leise, unverständliche Worte aus einer anderen Sprache. Ihr Gesang wurde lauter und sie begann Namen zu rufen. Ihr Gesicht veränderte sich, desgleichen ihre -68-
Stimme. Ihr Mund verzerrte sich, sie sah zornig aus. Sie stand von ihrem Stuhl auf und ging wieder im Raum herum, wobei sie an ihrer großen Zigarre zog und Rauch ausstieß. Dann wurde ihre Stimme sanfter und sie strich mit ihren dunklen Händen an Franciscas Körper entlang, ohne sie zu berühren, als ob sie in der Luft etwas säuberte. Plötzlich fing Carmen zu zittern an und ihre Stimme wurde immer lauter, bis sie wie das Brüllen eines wilden Tieres klang. Ihr Gesicht war schweißüberströmt. Sie fiel zu Boden, am ganzen Körper zitternd. Im gleichen Augenblick begann Francisca durchdringend, beinahe hysterisch, zu schreien. Was sollte ich tun? Sollte ich Mutter holen? Ich wollte gerade ins Haus laufen, als ich in mir eine Stimme hörte: Bleib, und sei ruhig. Augenblicklich fühlte ich mich ganz sicher, fast so, wie wenn Carmens starke Arme mich hielten und in Schlaf wiegten. Mir wurde klar: Carmen wusste, dass ich da war, und hatte es die ganze Zeit gewusst! Warum hatte sie mich nicht weggeschickt wie sonst? Darauf hatte ich keine Antwort, aber jedenfalls blieb ich und schaute den beiden Frauen weiter zu. Nun war alles ruhig. Francisca saß auf ihrem Stuhl und Carmen stand vom Boden auf. Ihr rundes Gesicht war freundlich. »Sag, Francisca, wie fühlst du dich?«, fragte Carmen und schaute ihrer Freundin in die Augen. »Ach, negra, ich glaubte, ich würde sterben, aber jetzt kommt es mir vor, als wäre das Gewicht der ganzen Welt von meinen Schultern genommen worden.« Carmen nahm ein Büschel von den getrockneten Kräutern, die sie in einem Tontopf auf den Altar gestellt hatte, und gab es Francisca. »Mach einen Tee daraus, Francisca, trink ihn morgens und abends vor dem Schlafengehen und komm in ein paar Tagen wieder.« Francisca bedankte sich und ging mit leichten Schritten fort. -69-
Carmen wandte sich um und kam zum Fenster. Die Hände in die breiten Hüften gestützt, sah sie direkt zu mir heraus. Ich wäre vor Schreck beinahe ohnmächtig geworden. »Teresa«, rief Carmen, »komm rein.« Langsam, mit zitternden Knien, ging ich zur Tür. »Teresa, warum hast du spioniert?« »Tut mir Leid, Carmen«, sagte ich leise. »Ich mach es nie wieder, ich verspreche es. Ich wollte nur –« Carmen unterbrach mich. »Du bist ein sehr neugieriges Kind. Komm, setz dich her.« »Bist du mir nicht böse, Carmen?« »Nein, aber wenn ich dich noch einmal erwische…« »Nein, bitte, Carmen«, bettelte ich, obwohl ich wusste, dass sie mir nichts tun würde. Carmen liebte mich und ihr Herz war so groß wie ganz Kuba. »Merk dir, Teresa, was du heute gesehen hast, ist kein Spiel. Was ich tue, ist sehr heilig. Du darfst die Geister, die mir bei der Arbeit helfen, nicht ärgern. Sie mögen es nicht, wenn sie gestört werden.« Sie ließ ihre Augen nicht von mir. »Was würde geschehen, wenn sie sich ärgern würden? Wer sind sie überhaupt?« »Sie würden nachts in dein Zimmer kommen und dich an den Zehen ziehen, wenn du schläfst. Sie würden Spielsachen verstecken und dir Streiche spielen.« »Wer sind diese Geister, Carmen?« »Es sind alte Geister. Es sind Heilige. Es sind gute Geister, die uns auf Erden helfen, wenn wir sie brauchen, und nur dann.« »Was war los, als du die Augen geschlossen und in dieser fremden Sprache geredet und so erschreckende Töne von dir gegeben hast?« Carmen sah aus, als würde sie allmählich ungeduldig mit -70-
meinen Fragen. »Teresa, wenn ich vor dem Altar die Augen schließe, dann ist das, wie wenn ihr Weißen in die Kirche geht und zu euren Lieblingsheiligen betet. Ich bitte die Geister um Hilfe. Sie kommen und sprechen mit mir.« »Wie?« »Stell dir einmal vor, mein Körper wäre eine Trommel oder eine Gitarre. Wenn sie kommen, spielen sie mit meinen Stimmbändern und machen die Geräusche, die ich brauche, und manchmal sprechen sie sogar mit der Person, der ich helfe. So war es bei Francisca.« »Wie merkst du es, wenn die Geister kommen?« »Du möchtest wohl alles wissen, wie?« Carmen tätschelte mich. »Meistens ist es nur ein Gefühl. Wenn sie den Raum betreten, ist es, als wehe eine kühle Brise. Manchmal aber sind die Vibrationen ihrer Gegenwart so stark, dass ich zittere.« Carmen erzählte mir, sie habe das meiste von ihrer Mutter und ihrer Großmutter gelernt, denen es wiederum von Leuten ihres Stammes überliefert worden war, Afrikanern, die ihre Spiritualität und ihre Religion nach Kuba gebracht hatten. Aber die Regierung verbot die Ausübung ihrer Religion. »Mein Volk war stark und weise. Sie fanden einen Weg, ihre Yoruba-Gottheiten zu tarnen, indem sie ihnen die Namen von Heiligen der katholischen Kirche gaben. So konnten sie ihre Rituale trotz der Verbote der Regierung weiterhin durchführen.« Ich dachte daran, dass die Kubaner die heilige Barbara anrufen, wenn sie einen Blitz sehen. Im Kultus der Santería aber ist die heilige Barbara bekannt als der orícha Changó, der Blitz und Donner bringt.
Bald nachdem ich Carmen in ihrem Santería-Heiligtum be-71-
lauscht hatte, rief sie mich eines Tages in die Küche, wo sie tachinos, frittierte Bananen, fürs Mittagessen machte. Carmen war wie immer gut gelaunt, sang bei den Liedern aus dem Radio mit und tanzte herum, während sie die Bananen schälte und das Fett zum Braten erhitzte. Ihre Hüften wogten wie der Ozean, wiegten sich wie Palmen im Wind. Sie lächelte mir zu und winkte mich zu sich. Seit die Farm konfisziert worden war, hatte Carmen immer öfter mit mir über ihre oríchas gesprochen. Ich war dankbar für ihre Zuwendung. Um mich herum geschah so viel und ich fühlte mich recht einsam. Ich konnte mich nicht mehr auf meine Besuche auf der Farm freuen. Großmutter mochte das Haus nicht mehr verlassen und ging nicht mehr mit mir zum Obstpflücken. Almendro war jetzt dort mein einziger Gefährte. Ich ritt mit ihm über die Felder und wir beobachteten die Leute von der neuen Kooperative, wie sie das Land bestellten, das uns nicht mehr gehörte. »Setz dich, niña«, sagte Carmen und gab mir ein Messer. »Hilf mir diese Bananen schälen und schneiden, während wir uns unterhalten.« Sie schaltete das Radio aus und setzte sich zu mir. »Zuerst musst du mir versprechen, brav zu sein. Ich möchte nicht, dass du herumgehst und mir aus den Augen kommst.« »Ich verspreche es, Carmen«, sagte ich und fragte mich, worum es eigentlich ging. »Niña, ich nehme dich zu einem ganz besonderen bembé bei Rufino mit. So ein bembé ist eine Party, wo zu Ehren der oríchas getrommelt wird. Du darfst zusehen, wie die Leute für die Oríchas trommeln und tanzen. Ich erzähle dir jetzt das Wichtigste, damit du nicht mittendrin alle möglichen Fragen stellst.« Sie stand auf und kontrollierte, ob der Reis kochte. »Zuerst einmal die Trommeln. Man schlägt sie, um die oríchas zu rufen. Jeder orícha hat eine eigene Tanzbewegung und einen eigenen Trommelrhythmus. So stellen die Trommeln die Ver-72-
bindung zwischen Gottheiten und Menschen her.« Carmen verstummte, sah mich fest an und fuhr in ernstem Ton fort: »Du darfst mit niemandem über dieses bembé sprechen. Das Komitee für die Verteidigung der Revolution hat Rufino die Erlaubnis für eine kleine Geburtstagsfeier gegeben. Von einem bembé war nicht die Rede, also halt den Mund, niña, sonst landen wir alle hinter Gittern.« »Warum, Carmen? Was ist denn so schlimm an einem bembé?« »Du musst wissen, niña, dass dieser Bärtige keinerlei Religion in diesem Land wünscht«, sagte sie. Der Bärtige, das war natürlich Castro. »Bembés sind Teil der afro-kubanischen Religion. Dieser Unselige hat erklärt, dass Religion eine antirevolutionäre Haltung im Volk erzeugt. Also sind wir wieder so weit wie in den Zeiten der Sklaverei. Wieder einmal müssen wir unsere oríchas gut verbergen. Aber genug davon. Jetzt braten wir die Bananen.« Ich konnte meine Aufregung kaum zügeln, als der Samstag endlich da war und ich mit Carmen zum Stadtrand ging. Rufino und seine Familie lebten in einem bescheidenen weißen Haus, das von Orangen-, Avocado- und Zitronenbäumen und Palmen umgeben war. Im Haus herrschte Feststimmung. Rufino und seine Frau Caridad begrüßten uns herzlich. Ein paar von Carmens Freundinnen waren schon da, sprachen über die Feier und drückten die Hoffnung aus, die oríchas möchten niedersteigen und die Milizionäre in anderen Stadtteilen bleiben. Rufino hatte etwa dreißig Gäste eingeladen, hauptsächlich Familienmitglieder und Freunde. Im Patio stimmten die Trommler bereits ihre Trommeln miteinander ab. Ich war fasziniert von der Schönheit dieser Trommeln, von ihren verschiedenen Größen und Formen und von der schimmernden Glätte des Holzes. Ich wünschte sehr, auch auf einer solchen Trommel zu spielen. Carmen schien meine Gedanken zu lesen. »Diese Trommeln sind etwas ganz Besonderes. Man braucht jahrelange Übung, um -73-
sie zu spielen. Jede Trommel hat ihre Aufgabe. Siehst du die große da drüben? Das ist die Muttertrommel.« Ich ging hin und betastete das gespannte Fell. »Nur die Muttertrommel spricht«, fuhr Carmen fort. »Die kleineren schlagen bloß den Grundrhythmus.« Der Trommler, der hinter der Muttertrommel saß, ein zahnloser, weißhaariger Mann von vielleicht fünfzig Jähren, blinzelte mir zu. »Diese Trommel heißt Iyá, und die beiden da heißen Itótele und Okónkolo«, sagte er und gab den anderen beiden Männern ein Zeichen, sich fertig zu machen. Carmen führte mich auf die andere Seite des Patios und schon begann die Muttertrommel zu sprechen, begleitet von dem durchdringenden Rhythmus der zwei kleineren Trommeln. Rufino stand daneben und stimmte ein Lied aus Afrika an: Ibaragu moyuba Ibaragu moyuba Ibaragu moyuba Elegguá Eshulona. Carmen beugte sich zu mir und flüsterte: »Die Trommeln bitten Elegguá, für uns die Wege zu öffnen. Elegguá ist der Bote, der Herr der Wege, der Torwächter. Man muss Elegguá unbedingt als Ersten anrufen, sonst wird er vielleicht böse und öffnet die Tür zu den Oríchas nicht.« Die Trommeln riefen nach und nach die verschiedenen Oríchas, wobei der Rhythmus immer wechselte, je nachdem, welcher Heilige angerufen wurde. Carmen versuchte, mich trotz des Lärms der Trommeln und des Stimmengewirrs auf dem Laufenden zu halten. »Jetzt rufen sie Oggún, den eisernen Krieger.« Sie nannte jede neue Gottheit, wenn der Rhythmus wechselte: »Obatalá, der Geist der Ruhe und Klarheit; Ochún, die Göttin der Flüsse; BabalúAyé, der heilkundige Lazarus; Yemayá, die Meeresgöttin.« Die Tänzer bewegten ihre Füße, Hüften und Schultern nach -74-
dem Rhythmus. Schließlich wurde Changó, der Gott des Gewitters, gerufen und einige Teilnehmer begannen so rasend zu tanzen, als wären sie vom Blitz getroffen worden. Ihre Körper zuckten und sie warfen die Arme in die Luft. Andere Tänzer wälzten sich am Boden. Rufino schüttelte eine Rassel und sang mit tiefer Stimme. Carmen erklärte, er begrüße die oríchos in der alten Yoruba-Sprache. Ein älterer Schwarzer, der so tat, als hätte er eine Machete in der Hand und schlüge sich den Weg durch den Wald frei, überquerte als Oggún den Patio. Eine Frau tanzte als Oshún einen sinnlichen Liebestanz. Neben ihr war Yemayá, deren Hüften einladend und provozierend wogten. Ich fand ihre Bewegungen hinreißend. Ich fragte Carmen, ob ich auch tanzen dürfe, und als sie es erlaubte, begab ich mich schüchtern zur Gruppe der Tänzer. Je länger ich tanzte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass die Musik sich meines Körpers bemächtigte. Ich stellte mir vor, ich sei Yemayá und wiege mich im klaren, warmen Wasser der Karibik. Ich fühlte mich sicher und glücklich. Ich schloss die Augen und hörte, wie Yemayá mir die alten Yoruba-Lieder vorsang, und sah ihr schönes, weißblaues Kleid, das mit Muscheln geschmückt war. Ich bin die Mutter, deren Kinder die Fische sind. Ich bin die Weiblichkeit. Du wirst bald eine Frau sein und du musst das Wasser kennen lernen. Wenn du zu mir kommst, werde ich dich unterweisen. Dies ist der Ort, an dem du mich finden kannst; ich tanze immer auf den Wellen. Yemayá nahm eine der Muscheln von ihrem Kleid, eine kleine Schneckenmuschel, und legte sie mir in die Hand. Ich drückte das kostbare Geschenk ans Herz. Yemayás Worte tönten mir noch in den Ohren, als ich schließlich die Augen öffnete. Ich fand mich in einer Ecke des Patios, immer noch nach dem Schlag der Trommeln tanzend. Rund um -75-
mich tanzten die Menschen und sangen für die oríchas. Mein Erlebnis mit Yemayá verwirrte mich. War ich eingeschlafen? Was war geschehen? Ich konnte mich nur erinnern, dass ich tanzen wollte, und dann… es ergab keinen Sinn. Ich rannte weg von den Leuten, ins Haus, und blieb dort, bis es Zeit zum Gehen war. Als Carmen und ich heimgingen, spürte ich, dass sie irgendwie über mein Erlebnis Bescheid wusste, aber keine Fragen stellen wollte. Zum ersten Mal machte es mich glücklich, ein Geheimnis für mich zu behalten. Yemayá hatte mich ein Stück weit in die Mysterien der Geisterwelt eingeführt. Ich wollte unbedingt mehr erfahren. Ungefähr einen Monat nach dem bembé entschuldigte sich Carmen vor dem Abendessen, weil sie ihre Freundin Graciela besuchen wollte. Das fiel mir nicht weiter auf, weil Carmen mindestens einmal in der Woche zu Graciela ging. Graciela behauptete, sie sei achtzig Jahre alt, aber die meisten Leute hielten sie für neunzig. Ihrem Äußeren nach zu urteilen, war hundert noch wahrscheinlicher. Sie war groß und so mager wie ein Besenstiel und ihr Gesicht war so runzlig wie eine Dörrpflaume. Sie hatte nur mehr einen einzigen braunen Zahn zum Tabakkauen. Sie konnte kaum kochen, weil sie so schlecht sah, wollte sich aber auch nicht von jemand anderem etwas zu essen machen lassen, weil sie fürchtete, böse Menschen könnten ihr Essen vergiften. Ihre Bekannten sagten, sie lebe von Kaffee und Tabak. Graciela war überzeugte Spiritistin. Sie war ein Medium, durch dessen Hilfe man die Geister anrufen konnte, eine Vermittlerin zwischen Menschen und Geistern. Man konsultierte sie bei Krankheiten, Geldproblemen, Liebesangelegenheiten und allem, was einem Menschen sonst noch auf der Seele liegen kann. Als Carmen an diesem Abend gegangen war, ging ich ins -76-
Freie, während Mutter am Radio saß und ihrem Lieblingsmusikprogramm lauschte. Maria de la Caridad war auch draußen und sie lud mich ein, zu ihr zu kommen und in ihrem Hof zu spielen, direkt neben Gracielas Haus. Mit ihren zehn Jahren war Maria ein Jahr älter als ich und viel abenteuerlustiger. Sie hatte ständig Schwierigkeiten mit ihren Eltern und fing mit anderen Kindern, mich eingeschlossen, gern Streit an. »Schau mal«, sagte Maria, als wir die Straße überquerten. »Da gehen eine Menge Leute zu Graciela.« »Was meinst du, was sie da machen?« »Ich glaube, es ist so eine Versammlung, wo die Geister kommen und reden.« Ich überlegte, ob das CDR, das Komitee zur Verteidigung der Revolution, die Versammlung wohl überprüfen würde. »Maria, wer ist denn heute Abend auf Revolutionswache?« »Rate mal«, sagte sie und zeigte zur Straßenecke, wo eine Frau auf einem Stuhl saß, ein Gewehr zwischen den Knien. Es war Julia, eine Frau aus der Nachbarschaft, die immer einschlief, wenn sie Wache hielt. »Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass die Veranstaltung heute Abend stattfindet. Julia wird alles verschlafen.« »Ich habe eine Idee«, sagte Maria plötzlich und ihre grünbraunen Augen blitzten mutwillig. »Mach mit, sei kein Feigling.« Maria zog mich am Arm und wir rannten zu dem großen Mangobaum hinter ihrem Haus und kletterten hinauf. Wir schwitzten vor Anstrengung und in Marias goldenen Locken hingen Blätter und kleine Äste. »Halt jetzt ganz still und rühr dich nicht«, sagte sie, »weil jedes Geräusch die Geister verärgern könnte. Dann können uns schreckliche Dinge passieren.« »Was zum Beispiel?« Ich wusste, dass Maria gern übertrieb. »Ach komm, Teresa. Erzählt Carmen dir nichts von diesen Veranstaltungen?« -77-
»Nein«, sagte ich überrascht. »Das wäre aber besser. So etwas muss man doch wissen«, sagte Maria sehr von oben herab und ich kam mir ziemlich dumm vor. »Schau, da ist Carmen!« Carmen saß auf einem der tauretes, Stühlen aus Holz und Kuhfell, direkt neben Graciela. Männer und Frauen kamen und setzten sich auf kreisförmig angeordnete Stühle im Patio. Graciela begrüßte eine weiß gekleidete junge Frau mit hüftlangem schwarzem Haar und führte sie in die Mitte des Kreises, wo ein Tisch mit einem weißen Tischtuch stand. Die junge Frau küsste Graciela auf die Wange und setzte sich. Im Kreis herrschte Schweigen. Die junge Frau bat Carmen, die hohen weißen Kerzen anzuzünden, die an den vier Ecken des Tisches standen. Carmen ließ sich Zeit dabei und betete mit leiser Stimme. »Willkommen, Rosa Eugenia, willkommen!«, sagte Carmen schließlich und ging auf ihren Platz neben Graciela zurück. Rosa Eugenia saß vollkommen bewegungslos und hielt ihre dunklen Augen ein paar Sekunden lang auf die bläulichorange Flamme einer Kerze gerichtet. Dann schloss sie die Augen. Später erfuhr ich, dass Rosa Eugenia, obwohl erst fünfzehn Jahre alt, schon ein bekanntes Medium war. Sie konnte die Verbindung zu den Geistern zweier Berühmtheiten herstellen, eines Pflanzenkundlers aus Frankreich und eines Arztes aus Deutschland. Wenn sie in Trance war, konnte sie Krankheiten diagnostizieren und den Hilfe Suchenden Kräuter und Medikamente verschreiben. »Jetzt pass auf, Teresa«, sagte Maria und stupste mich. Rosa Eugenia öffnete die Augen und winkte einer schwangeren Frau, zu ihr zu kommen und sich ihr gegenüber hinzusetzen. Sie schüttelte der Frau kurz die Hand. Dann schloss sie die Augen wieder und begann nach ein paar Sekunden auf einem Block zu schreiben. Rosas rechte Hand bewegte sich rasend schnell -78-
und ich sah mit Erstaunen, wie sie mehr als zehn Personen ohne Pause hintereinander abfertigte und mit Rezepten und Anweisungen versehen heimschickte. Ich wechselte gerade meine Stellung auf dem Ast, die mir unbequem geworden war, als eine schwarz gekleidete alte Frau sich an den Beratungstisch setzte. Ein Schauder lief mir über den Rücken, obwohl sich kein Lüftchen rührte. Rosa Eugenia hörte zu schreiben auf, ihre Hand lag regungslos auf dem Papier. Schließlich öffnete das Medium die Augen und sagte: »Geh heim und warte auf deinen Tod. Ich kann nichts für dich tun.« Ich war sehr betrübt. Jetzt wusste die Frau, dass ihre Zeit gekommen war. Nicht einmal Rosa Eugenias wunderbare Heilkraft konnte ihr helfen. Aber ich war auch ein bisschen zornig auf Rosa Eugenia. Wie konnte sie die alte Frau so wegschicken? Als ich spät am Abend heimkam, warteten Mutter und Carmen auf mich, Mutter hatte mich gesucht, aber keiner der Nachbarn hatte mich gesehen. Als Carmen heimgekommen war, hatte sie meine Mutter in Tränen gefunden. Maria und ich hatten so lang auf dem Baum bleiben müssen, bis alle Besucher Gracielas gegangen waren, damit wir nicht entdeckt wurden. Als ich endlich kam, waren Mutter und Carmen ziemlich wütend. »Wo warst du?«, fragte meine Mutter und Carmen wiederholte die Frage, als ob ich keine Ohren hätte. »Warum regt ihr euch auf? Ich habe Maria de la Caridad besucht.« »Du lügst!«, sagte Carmen und sah mich sehr argwöhnisch an. »Ich habe Marias Mutter gefragt und sie wusste auch nicht, wo ihre Tochter war. Also, wo seid ihr beiden gewesen? Es ist beinahe zehn Uhr.« »Also gut. Wir waren auf dem großen Baum in Marias Hof.« Ich hoffte zwar, es werde keine weiteren Fragen geben, aber mir schwante schon, dass ich nicht so leicht davonkommen würde. -79-
»Muy bueno, ihr habt also nur gespielt?« Carmen sah mich mit dem Ausdruck an, den sie immer an sich hatte, wenn sie mich bei einer Lüge ertappte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und fragte: »Ihr habt nicht zufällig Leute gesehen, die sich in Gracielas Haus trafen… von eurem Baum aus?« Leugnen war sinnlos. »Ja, Carmen, in Gracielas Patio haben sich eine Menge Leute getroffen und…« »Du brauchst gar nichts mehr zu sagen! Du hast schon wieder spioniert! Du hast deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt. Ich bin sehr zornig auf dich, niña! Wenn deine Mutter einverstanden ist, darfst du zur Strafe für dein Benehmen eine Woche lang nicht zu Maria de la Caridad gehen.« Meine Mutter nickte zustimmend und ich ging auf mein Zimmer. Die Bilder dieses Abends ließen mich lange nicht los. Als ich endlich einschlief, erschien mir in einem Albtraum die alte Frau, die Rosa Eugenia ungeheilt heimgeschickt hatte. Die alte Frau lag abgemagert und leichenblass im Bett, allein in einem dunklen Raum. Ich wollte zurückweichen, aber sie streckte ihre dürre Hand aus und packte mich am Arm. »Schau mich an, schau mich an!«, schrie sie. Dann drehte sie mit der anderen Hand mein Gesicht zu sich und zwang mich, sie anzuschauen. Ihr Fleisch verweste vor meinen Augen und Maden wimmelten darin. Bald waren nur noch die nackten Knochen übrig: ein lachender Schädel mit bräunlichen Zähnen. Ich kämpfte verzweifelt und konnte mich schließlich aus ihrem Griff lösen. Als ich davonlief, hörte ich ihr Gelächter hinter mir. Schreiend und schweißnass wachte ich in den Armen meiner Mutter auf. Wie glücklich war ich, das schöne Gesicht meiner Mutter zu sehen anstatt des hässlichen Schädels der alten Frau! Ich wusste, dass die Frau in meinem Traum sehr schnell sterben würde. Ich erzählte meiner Mutter nichts von meinem Traum; ich beruhigte mich in ihren Armen und schlief wieder ein. -80-
Am nächsten Morgen suchte ich Carmen, um ihr von meinem Albtraum zu erzählen. Ich fand sie im Garten beim Kaffeetrinken. Sie saß auf der Bank beim Delfinbrunnen, umgeben von Rosen, Lilien, Gladiolen und ihren Lieblingsblumen, wilden Orchideen. Carmen tat, als sähe sie mich nicht – ein Zeichen, dass sie immer noch ärgerlich war –, und als ich näher kam, zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. »Nun, was willst du von mir so früh am Morgen?« Sie suchte in ihren Taschen nach Zündhölzern, um ihre dünne, selbstgerollte Zigarre anzuzünden. Carmen rauchte nicht viel, aber am Morgen, am Mittag und am Abend genoss sie ihre Zigarre sehr. Sie konnte keine Zündhölzer finden, und so schickte sie mich in die Küche, um welche zu holen. Ich glaube, sie wollte nur Zeit gewinnen, um zu überlegen, was sie mir sagen sollte. »Da hast du die Zündhölzer, Carmen«, sagte ich und setzte mich zu ihr auf die Bank. »Ich weiß schon, du bist wütend auf mich, und es tut mir sehr Leid. Carmen, ich habe diese Nacht von der alten Frau geträumt. Ihr Fleisch verfaulte, und Maden fraßen ihr Gesicht. Es war schrecklich.« Carmen nickte und presste die Lippen zusammen. Sie rückte näher zu mir und legte mir die Hand mit sanftem Druck aufs Knie. »Niña de mi corazón, mein Herzenskind, du bist noch zu jung, du kannst das nicht verstehen. Ich habe Jahre und Jahre gebraucht, bis ich gelernt habe, mich in dieser Welt zurechtzufinden. Mit solchen Sachen darf man nicht leichtfertig umgehen. Sonst wird man ein großer Schwamm, der mit dem Abfall aus dem Leben anderer Leute angefüllt ist.« Carmen nahm einen Schluck Kaffee. »Du bist neugierig, Kind, und musst Geduld lernen. Wenn es an der Zeit ist, werde ich dir alles über die Geisterwelt erzählen, was ich weiß; das verspreche ich dir. Und jetzt hör gut zu.« Sie drohte mir mit dem Finger. »Bleib weg von Gracielas Versammlungen.« »Ja, Carmen. Aber, bitte, können wir über meinen Traum reden? Glaubst du, dass die alte Frau bald sterben wird?« -81-
Diese Frage kam Carmen sichtlich ungelegen. »Tja…« Sie suchte nach Worten. »Carmen, was machst du für ein Gesicht? Was ist los?« »Die Frau, die du im Traum gesehen hast, ist in der Nacht gestorben… heute Morgen beim Einkaufen habe ich es erfahren.« Ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. »Carmen, was glaubst du, warum habe ich von ihr geträumt?« »Das ist schwer zu erklären, niña. Wenn Leute sterben, die nicht bereit sind, auf die Reise zu gehen, dann kämpfen sie. Sie wollen nicht gehen, also klammern sie sich an etwas – meistens an Verwandte, Freunde oder sonst jemand, der sie gern hat. Diese Frau wollte nicht sterben. Als Rosa Eugenia gestern Abend den Tod in ihrer Aura gesehen hat, war die Frau zornig. Und du, mein Herzenskind, hast diese Gefühle irgendwie aufgenommen. Du warst schon immer sehr einfühlsam. Du bist in ihrem Netz gefangen worden.« »Ihrem Netz?« »Im Netz ihrer Gefühle. Zorn und Angst können ein Netz spinnen, das andere Menschen einfängt, wenn sie nicht aufpassen. Du hast dein Herz ungeschützt geöffnet und bist von der Verzweiflung dieser alten Frau eingefangen worden. Als du geschlafen hast, hat ihr sterbender Geist mit einem Faden an dir gezerrt, weil sie sich bemühte, am Leben zu bleiben. Glücklicherweise hast du einen starken Geist.« Ich dachte daran, wie die knöchernen Hände der Frau sich an mich geklammert hatten, und schauderte. Carmen legte mir die Hände auf die Schultern. »Verstehst du jetzt, was ich meine, niña? Deswegen möchte ich nicht, dass du bei solchen Versammlungen in der Nähe bist. Es ist gefährlich. Versprich mir, dass du es nicht wieder tust.« »Ich verspreche es, Carmen«, sagte ich widerstrebend. Ich hatte damit zwar versprochen, mich von der Welt der -82-
Geister fern zu halten, aber es war zu schwer. Es kam immer wieder vor, dass ich zu den oríchas betete und für sie Kerzen entzündete. Jeden Abend schloss ich im Bett die Augen und rief im Geist die Namen Yemayá, Oggún und Changó. Ich wusste, sie wachten über mich.
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6
PATRICIA
CARMEN WAR NICHT DER einzige Mensch, der mich in die Welt der Geister und in die Heilkunst einführte. Meine Großmutter väterlicherseits, Patricia, war in ihrer Heimatstadt Guayos und in den Nachbarstädten bekannt wegen ihrer Heilerfolge. Die Leute kamen mit allerlei Gesundheitsproblemen zu ihr, auch solche, die von Ärzten aufgegeben und nach Hause geschickt worden waren. Als Vater und ich Großmutter Patricia eines Tages besuchten, begrüßte uns Großvater Victor an der Tür mit den Worten: »Patricia ist in ihrem Zimmer mit einer Frau von außerhalb.« Dann zogen sich die beiden Männer in die Küche zurück. Ich blieb im Wohnzimmer, machte es mir in einem Schaukelstuhl gemütlich und lauschte auf die leisen Stimmen von Großmutter und ihrer Kundin. Ich wollte sehr gern wissen, wie meine Großmutter heilte, und hoffte, ich könnte mitbekommen, was sie zu ihrer Patientin sagte. Ich hörte Großmutter sehr entschieden sagen: »Das kommt nicht vom Herzen, auch wenn es der Doktor sagt. Dieses Herzklopfen, an dem Sie leiden, kommt von einem geschwächten Geist. Die Eifersucht Ihres Mannes ist wie eine tödliche Falle für Sie. Dieser Mann kümmert sich zu sehr um Ihr Vorleben.« »Berto glaubt mir einfach nicht. Er ist überzeugt, dass ich einen Geliebten habe.« »Aber Liebste, wir haben jetzt 1964 und die kubanischen -84-
Frauen führen ihre eigene Revolution durch. Sie gehen jetzt heim und waschen Ihrem Berto den Kopf. Auf dem Heimweg kaufen Sie einen ordentlichen Vorrat an Kerzen und sorgen Sie dafür, dass sieben Tage und Nächte lang immer eine brennt.« Ich wusste, dass ich eigentlich nicht lauschen sollte, aber ich blieb trotzdem in meiner stillen Ecke und malte mir aus, wie sie zu ihrer Patientin sprach. Meine Großmutter Patricia war groß und kräftig, mit breiten Schultern und Hüften und muskulösen Armen und Beinen. Sie führte das auf die harte Arbeit auf der Farm zurück, wo sie aufgewachsen war. Sie trug ihr welliges graues Haar kurz geschnitten und in der Mitte gescheitelt. Sie hatte lebhafte braune Augen, hohe Backenknochen und nur wenige Falten im Gesicht. Sie war damals sechzig und ihre Haut wies schon ein paar Altersflecken auf, aber ich fand sie schön und alterslos. Als ich so in meinem Stuhl schaukelte und ihrer Stimme lauschte, dachte ich an die vielen Male, wo ich mit ihr zusammen gewesen war, ihr zugeschaut und von ihr gelernt hatte. Wie Carmen hatte auch Großmutter Patricia einen kleinen Raum mit einem Altar. Das war ihr Heiligtum, der Ort, wo sie betete und mit den Menschen arbeitete, die bei ihr Heilung suchten. Ihr Altar war ein einfaches Holzbrett in der Ecke, vielleicht einen Meter auf einen Meter zwanzig groß, das mit einem gestickten weißen Tuch bedeckt war. Auf dem Brett standen einige kleine Heiligenstatuen: die Kupfer-Jungfrau oder Virgen de la Caridad del Cobre, die Schutzpatronin der Insel Kuba, der heilige Lazarus, die heilige Barbara, der heilige Franz von Assisi und Jesus an einem silbernen Kreuz. An diesem Kreuz hing ein schwarzer Rosenkranz, den meine Großmutter von ihrer Mutter geerbt hatte. Die Virgen del Cobre war die Lieblingsheilige meiner Großmutter. Sie hegte großes Vertrauen in die Kräfte dieser schönen Mulattin mit ihrer kupferfarbigen Haut und ihrem langen schwarzen Haar und erzählte uns Kindern gern ihre Geschichte. Die Erzählung begann immer mit den gleichen Worten: »Kin-85-
der, das ist die wahre Geschichte, wie die Virgencita den drei Juans erschienen ist. Man sagt, dass im siebzehnten Jahrhundert zwei Indianer, Juan de Hoyos und Juan Moreno mit Namen, und ein schwarzer Sklave namens Rodrigo in der Bucht von Nipe, nahe bei der Bergwerksprovinz Cobre, nach Salz suchten. Sie ruderten mit ihrem Kanu durch die Brandung, als sie plötzlich eine kleine Holzplastik, die wie die Jungfrau Maria aussah, im Wasser schwimmen sahen.« An dieser Stelle wurde Großmutters Stimme lauter und sie bewegte die Arme, als wäre sie mit den drei Männern im Kanu und ruderte aus Leibeskräften. »In einem Arm hielt die Jungfrau das Jesuskind und im anderen ein goldenes Kreuz. ›Oh‹, sagte einer der Männer, »unter ihren Füßen ist eine Inschrift! Da steht: Yo soy la Virgen de la Caridad.‹ Die drei Männer nahmen die geschnitzte Figur mit sich in die Stadt Varajuga in der Provinz Santiago de Cuba und dort wurde zu Ehren der Jungfrau eine kleine Kapelle errichtet. Hunderte von Menschen pilgerten zur kupferfarbigen Jungfrau und beteten zu ihr und es geschahen viele Wunder. Ich kann selbst für ihre Macht bürgen, denn sie hat in sehr schwierigen Zeiten meine Gebete erhört, zum Beispiel, als euer Großvater Victor eine schwere Lungenentzündung hatte und die Ärzte nicht glaubten, dass er durchkommen würde… nun, er kam durch, dank der Virgen del Cobre.« Jeden Morgen stellte Großmutter frische Blumen auf den Altar. Am liebsten hatte sie weiße Rosen, Gardenien und Orchideen, aber wenn es die nicht gab, stellte sie andere Blumen aus dem Garten zusammen – Lilien, Strelitzien und sogar Orangenblüten von dem Baum neben dem Haus. Eine hohe weiße Kerze brannte bis zur Schlafenszeit. Diese Kerze stellte sie neben die Schwarzweißfotografien ihrer verstorbenen Eltern und Großeltern. So hielt sie sie in ihrem Herzen lebendig. Die Flamme half den Seelen der Toten auch, in der Nähe des Lichts zu bleiben und nicht in der Dunkelheit der anderen Welt verloren zu gehen. Unter den Enkelkindern war ich immer Großmutters Liebling -86-
gewesen und sie ließ es mich und alle Welt wissen, dass ich die Auserkorene war. Das betrübte meinen Bruder José, meinen Vetter Reinaldo und meine Cousine Maria, und sie versuchten auf alle Weise, Großmutters Gunst zu erringen, aber ohne Erfolg. Sie war am liebsten mit mir zusammen und bei meinen Besuchen lauschte ich stundenlang ihren Geschichten oder arbeitete mit ihr im Garten. Sie liebte mich sehr, verzog mich aber nicht und ließ mir nichts durchgehen. Sie war streng zu uns Kindern und wir wagten nie zu widersprechen, weil es dann eine unnachsichtige Strafpredigt gegeben hätte. Mit acht Jahren beschloss ich einmal, den Nachbarn eine Wohltat zu erweisen und mich gleichzeitig an Don Eufemio zu rächen, der sich immer über den Lärm beschwerte, den wir Kinder beim Spielen machten. Alle Leute in der Gegend hielten Eufemio für einen Geizkragen, der ein ödes Leben ohne Frau und Freunde führte. Deshalb hatte ich überhaupt keine Skrupel, die großen grünen Paprikaschoten aus seinem Garten zu stehlen und sie unter die Nachbarn zu verteilen. Ich rüstete mich für meinen Raubzug mit einer großen braunen Tüte aus Großmutters Küche aus und erntete Eufemios Pflanzen ab. Für ihn selbst ließ ich nur zwei Schoten übrig. Als ich die Beute an den Haustüren der Nachbarn verteilt hatte, ging ich heim zu Großmutter. Ich kam mir großartig vor. Ein paar Stunden später hörten wir ein wütendes Klopfen an der Tür. Großmutter öffnete und da stand Eufemio, schnaubend wie eine Dampflokomotive und bereit, uns mit seinem Zorn zu überschütten. Er hielt ein paar der verschenkten Paprikaschoten in der Hand, zeigte sie Großmutter und schleuderte sie dann auf den Boden. »Sehen Sie sich das an, Doña Patricia! Das hat Ihre geliebte niña meinem Garten angetan. Sie ist ein kleiner Teufel!« Als Don Eufemio gegangen war, befahl mir Großmutter, mich auf einen Stuhl bei der Küchentür zu setzen. »Du bleibst hier sitzen und denkst darüber nach, was du getan hast.« Als sie eine -87-
halbe Stunde später wiederkam, sah ich an ihrer strengen Miene, dass sie immer noch böse war. Sie überreichte mir eine große Tüte mit Paprikaschoten, die sie im eigenen Garten gepflückt hatte, und befahl mir mit barscher Stimme, zu Eufemios Haus zu gehen und mich für meine Untat zu entschuldigen. Ich bat sie mitzukommen. »Nein, du gehst allein und trägst die Konsequenzen für das, was du getan hast.« Alle in der Stadt wussten, dass Doña Patricia eine temperamentvolle und unberechenbare Frau war. Im Gespräch mit anderen weinte und lachte sie, auch wenn es um ganz banale Dinge ging, zum Beispiel darum, was eine Freundin im Lebensmittelgeschäft erlebt hatte. Großmutter war einfühlsam und sehr großzügig, sie hätte, wie man in Kuba sagt, den Bedürftigen die Kleider gegeben, die sie am Leib trug. Seit Nahrungsmittel ständig knapp waren, hob Großmutter die besten Sachen immer für unseren Familienbesuch auf. Wenn ein Patient ihr ein Huhn als Bezahlung brachte, schlachtete sie es erst am nächsten Sonntag, wenn die Familie zusammenkam. Ihre Hühnersuppe war die beste, die ich je gegessen habe, mild gewürzt und mit viel frischem Koriander aus dem Garten. Beim Essen sagte Großmutter immer: »Diese Suppe lässt die Toten auferstehen, also esst, bis ich den blanken Boden in euren Tellern sehe, Kinder.« Großmutter hatte aber auch eine andere Seite, die mich oft überraschte. Großvater Victor pflegte zu sagen: »Alle Münzen haben zwei Seiten und deine Großmutter auch.« Sie konnte in kleinen Dingen unglaublich streng und kleinlich sein, auch Menschen, und besonders meiner Mutter gegenüber. Schon sehr früh merkte ich, dass Großmutter Patricia, wenn sie schlechter Laune war, dazu neigte, auf meiner Mutter herumzuhacken. Die Probleme, die meine Eltern hatten, führte sie hauptsächlich darauf zurück, dass Vater eine Frau aus reichem Haus geheiratet hatte. Kubanische Mütter verwöhnen ihre Söhne und Großmut-88-
ter war keine Ausnahme. Vater konnte in ihren Augen nichts falsch machen. Wenn sie guter Laune war, merkte ich es daran, dass sie über die Sauberkeit meiner Kleider kein Wort verlor und auch meine Fingernägel nicht kontrollierte, die meistens schmutzig waren, weil wir im Freien gespielt hatten. Für Großmutter war das Äußere sehr wichtig. Diese Tatsache im Verein mit ihrer Neigung zum Kritisieren vertrieb Mutter oft aus ihrem Haus. »Felicia, diese Kinder sehen wie pordioseros aus, wie kleine Bettler«, konnte Großmutter zum Beispiel sagen, während sie unsere Kleidung auf Flecken untersuchte. Die meisten Leute verziehen ihr die Launen und bewunderten ihre Heilkunst. Manche sagten sogar, ein solches Temperament gehöre zu einer einfühlsamen Heilerin. Jedenfalls kam sie damit durch und war immer die Doña, eine Frau mit einer unglaublichen Gabe, durch ihre Hände Leben zu spenden. Für mich war sie ein Rätsel. Den einen Augenblick war sie meine liebe Großmutter, warm und freundlich, und im nächsten die Curandera und Lehrerin, weit weg von uns und verloren in einer anderen Wirklichkeit. Als ihre Lieblingsenkelin hatte ich einen besonderen Platz in Patricias Welt. Als ich ungefähr sechs Monate alt war, blieb einmal ein alter Nachbar bei unserer Veranda stehen und grüßte meine Mutter, die mich gerade in Schlaf schaukelte. Meiner Mutter fiel auf, dass der alte Mann mich intensiv anschaute und ein paar Mal wiederholte: »Was für ein hübsches Kind!« Als er gegangen war, stand Mutter aus dem Schaukelstuhl auf und wollte mich in mein Bettchen legen. Da bemerkte sie, dass mein Gesicht sehr blass war und dass mein kleiner Körper sich kühl und schlaff anfühlte. Mutter rief laut nach Doña Patricia, die in der Küche war. »Patricia, Patricia, mit Teresa stimmt etwas nicht. Komm schnell, bitte, ich glaube, sie stirbt.« -89-
Großmutter brachte mich sofort in ihren Behandlungsraum, legte mich aufs Bett und betete laut, während sie mit den Händen kreisförmige Bewegungen über meinem kleinen, bleichen Körper machte. Ein paar Minuten später hatte ich meine normale rosige Farbe wieder. »Maldito viejo!«, sagte Großmutter. »Immer wenn dieser alte Mann auf Kinder trifft, gibt er ihnen mal de ojos, den bösen Blick. Dieser alte Mann ist ein Hexer. Er hat den bösen Blick und er weiß es. Er hat unsere Teresa beinahe ins Land der Toten geschickt. Sie war der anderen Seite schon sehr nahe. Allen Geistern sei Dank, dass ich in der Nähe war.« In meiner Kinderzeit gab es immer wieder Erlebnisse mit dem bösen Blick. Eines Tages, als ich mit meinem Cousin Reinaldo in Großmutters Garten spielte, kam dieser alte Mann wieder vorbei. Er lächelte mich an und entblößte dabei seine zahnlosen roten Gaumen. Dann nahm er seinen Strohhut ab, sagte kurz hallo und ging. Ein paar Minuten später wurde mir schwindlig und schlecht. Ich rannte hinein und erreichte das Badezimmer gerade noch rechtzeitig. Meine Großmutter hörte, wie ich mich übergab, und klopfte an die Tür. Ich konnte nicht viel erklären, weil ich ohnmächtig wurde. Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Bett im Behandlungsraum, und Großmutter sprach Gebete und bewegte ihre Hände über meinem Bauch herum, als ob sie etwas von meinem Körper wegwischen wollte. Dann tat sie so, als zöge sie an einer unsichtbaren Schnur, die an meinem Nabel befestigt war. Ich spürte, dass etwas wie ein Windhauch über meinen Körper strich, und fiel in Schlaf. Nach einer Stunde wachte ich auf und Großmutter setzte mich auf ihren Schoß und bürstete mein Haar mit einer weichen Bürste. »Negrita«, sagte sie, »du bist wieder durch den bösen Blick krank geworden. Das ist schon das zweite Mal, dass dieser alte -90-
Mann dich mit seinem bösen Blick angegriffen hat. Er hat wirklich schlimme Gedanken in seinem Kopf, Gedanken, die Menschen krank machen, und besonders kleine Kinder wie dich. Großmutter wird dir jetzt ein paar Gebete zu deinem Schutz beibringen. Wenn er wieder vorbeikommt, musst du diese Gebete leise hersagen, dann kann er dir nichts anhaben.« Ich lauschte aufmerksam und lernte die Gebete. Ein paar Wochen später spielte ich allein im Freien, als ich den alten Mann um die Ecke kommen sah. Sofort fing ich mit meinen Gebeten an. Er grüßte mich diesmal nicht. Ein paar Stunden später erzählte man uns, der Mann sei eilends ins Krankenhaus gebracht worden, weil er an schwerem Brechdurchfall litt. Großmutters Kommentar war sehr treffend: »Versuche nie, jemandem zu schaden, negrita, nicht einmal in Gedanken, denn was du einem anderen Böses wünschst, das könnte zurückkommen und dich treffen. Und bewahre diese Gebete im Gedächtnis für den Fall, dass du sie brauchst, und benütze sie nur dann.« Großmutter lehrte mich nicht nur Gebete. Sie hatte umfangreiche Kenntnisse über Kräuter und ihre Heilkräfte, was in jenen wirtschaftlich schwierigen Zeiten, als sogar Aspirin schon lang aus den Läden verschwunden war, sehr wertvoll war. Zum Glück für meine Familie hatte Großmutter immer einen Kräutertee für Erkältungen und Bauchschmerzen parat. Fast immer, wenn ich sie besuchte, fand ich Großmutter über die langen Kräuterbeete gebeugt; ein großer Strohhut schützte sie vor der heißen kubanischen Sonne. Ihren Gartenhut trug sie immer, aber sie weigerte sich, Gartenhandschuhe anzuziehen, weil sie das Wesen der Blumen und Pflanzen erspüren wollte. »Komm, negrita, hilf mir dieses nichtsnutzige Unkraut ausreißen«, sagte sie dann wohl. »Und ich möchte, dass du dir die Namen dieser Kräuter einprägst. Es sind Heilkräuter. Dort, wo ich aufwuchs, gab es weit und breit keinen Arzt. Wenn jemand auf der Farm krank wurde, wurde er mit Hausmitteln behandelt. -91-
Siehst du den Eukalyptusbaum da hinten? Als dein Vater klein war, litt er an Asthma, und ich behandelte ihn mit Eukalyptusblättern.« Sie sah sich um, was sie mich noch lehren könne. »Schau!« Sie zeigte auf eine Pflanze. »Hier, riech einmal. Das ist Anis, damit kann man Koliken behandeln, besonders bei Babys. Du und dein Bruder, ihr bekommt diesen Tee immer, wenn ihr Bauchweh habt. Ihr mögt ihn gern. Und sieh hier die Kamillenblüten; davon sollte jeder eine Tüte zu Hause haben. Sie sind für viele Beschwerden gut – Magenprobleme, Schlaflosigkeit und eine Menge andere Dinge. Sie helfen fast immer.« Das waren ganz besondere Augenblicke mit meiner Großmutter Patricia. Sie versäumte nie, mir wieder eine neue Pflanze im Garten zu zeigen und mich in ihre Heilwirkung einzuweihen, und manchmal durfte ich auch dabei sein, wenn sie jemanden behandelte. Eines Nachmittags wurden wir durch Großvater Victor gestört, der Großmutter ins Haus rief. Es war Besuch für sie da. »Ich habe es gewusst!«, sagte Großmutter, ein bisschen missmutig, weil sie den Garten verlassen musste. »Ich habe es gewusst, negrita, ich täusche mich nie. Schon am Morgen wusste ich, dass Besucher kommen würden. Sie bringen ein kleines Kind.« Sie gab mir die Kräuter, die sie gesammelt hatte, bat mich, sie ins Haus zu tragen, wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab und ging. Ich wollte unbedingt wissen, ob Großmutters Vorahnung richtig gewesen war. Als ich die Kräuter abgelegt hatte, ging ich also ins Wohnzimmer, wo Großvater mit einem jungen Paar sprach. Die Frau trug ein kleines Mädchen im Arm, vielleicht ein Jahr alt, und der Mann hatte seinen Strohhut abgenommen und drehte ihn dauernd nervös herum. Großmutter brauchte eine Weile, bis sie gewaschen und umgezogen war. Inzwischen versuchte Großvater, das Gespräch in Gang zu halten. Die jungen Leute waren Farmarbeiter aus dem nahen Rio Sasa. Die Frau war still und schüchtern und wandte ihre Augen nicht von dem -92-
Kind. Der Mann sagte ein paar Worte über die Tabakernte, war aber nicht recht bei der Sache. Zweimal prüfte er die Temperatur des Kindes, indem er ihm die Handfläche auf die Stirn legte. Großvater seufzte erleichtert auf, als Großmutter endlich erschien. Sie hatte ein bequemes beiges Hemdblusenkleid angezogen und das silbergraue Haar nach hinten gebürstet, was ihr ein sehr würdevolles Aussehen verlieh. Sie grüßte das Paar freundlich und wartete dann darauf, dass die Besucher ihr Anliegen vorbrächten. Es gab ein kurzes, verlegenes Schweigen, und Großvater Victor nutzte die Gelegenheit, um sich zu entschuldigen und zu gehen. Die junge Frau stand auf und ihr schüchterner Ehemann machte es ihr nach. Er schüttelte Großmutters Hand und stellte sich und seine Frau vor – Ana und Emilio. »Unser Kind ist sehr krank«, sagte Emilio und legte den Arm um die beiden. Großmutter kam näher, um sich das Kind genau anzusehen. »Wie heißt sie?«, fragte sie und nahm das kleine Mädchen aus den Armen der Mutter. »Adela. Sie ist unser einziges Kind. Bitte, Señora, tun Sie etwas. Sie hat sich erbrochen und…« »Kommen Sie mit. Sie auch, Emilio. Folgen Sie mir.« Großmutter ging zu ihrem Behandlungszimmer. Ich wartete auf ein Zeichen, ob ich mitkommen dürfte oder nicht. Großmutter wandte sich um und sagte: »Komm mit. Du bist jetzt alt genug.« Großmutter legte das Kind auf das kleine Bett gleich beim Altar. Ana und Emilio mussten sich neben sie setzen. Ich stand an der Tür, wartete auf Anweisungen und hatte Angst, weggeschickt zu werden. Großmutter zündete eine hohe weiße Kerze in einem Porzellanständer an und stellte sie in die Mitte des heiligen Tisches. Sie stand vor dem Altar und betete so leise, dass ich die Worte nicht unterscheiden konnte. Adela bewegte sich unruhig, als ob ihr etwas unbehaglich wä-93-
re oder als ob sie Schmerzen hätte. Ana hielt eine ihrer kleinen Hände. Emilio saß unbeweglich und verfolgte jede Bewegung meiner Großmutter. Als sie ihre Gebete beendet hatte, sagte Großmutter zu mir: »Negrita, geh in die Küche und bring mir Olivenöl.« Ich lief so schnell ich konnte, weil ich nichts versäumen wollte, und brachte eine Flasche aus Spanien importiertes Olivenöl. Großmutter stand über Adelas aufgeblähten Bauch gebeugt, untersuchte ihn mit den Fingerspitzen und drückte an einigen Stellen ein bisschen. Adela schrie. »Hier, negrita, fühl einmal.« Großmutter nahm meine Hand und legte sie mitten auf Adelas Bauch. Ich fühlte einen harten Klumpen unter der Haut. »Ihr kleines Mädchen hat empacho«, sagte Großmutter. »Sehen Sie, wie aufgebläht der Bauch ist? An dieser Stelle ist der Darm verschlossen.« Großmutter deutete auf die Stelle, wo ich die Schwellung gespürt hatte. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sobald ich fertig bin, wird es ihr gut gehen.« Sie goss ein bisschen von dem dicken, grüngoldenen Öl auf ihre Handfläche und massierte dem Kind den Bauch, manchmal mit den Fingerspitzen, dann wieder mit der flachen Hand. »Negrita, pass gut auf, was ich mache. So lernt man. Beobachte meine Hände. Schau, wie sich der Darminhalt bewegt. Ich löse die Verstopfung auf; das Hindernis wird weggeräumt.« Adela weinte nicht mehr; sie sah aus, als behage ihr die Behandlung. Schließlich wischte Großmutter mit einem weißen Taschentuch, das gefaltet in einer Ecke des Altars lag, das Öl von Adelas Körper. Dann segnete sie das Kind mit der traditionellen Formel »Dios te bendiga« und machte ein Kreuzzeichen, obwohl sie keine praktizierende Katholikin war. Außer bei besonderen Gelegenheiten wie Hochzeiten oder Taufen ging sie nie in die Kirche. »Gott ist Gott, er braucht keine Kirche«, war ihre Einstellung. -94-
Großmutter und die Frau von außerhalb kamen so überraschend aus dem Behandlungszimmer, dass ich mich nicht mehr rechtzeitig aus dem Wohnzimmer zurückziehen konnte. Ich rechnete mit einem Tadel, weil ich gelauscht hatte, aber Großmutter wandte sich an die Patientin und sagte voller Stolz: »Das ist meine Enkelin. Sie hat eine Gabe, genau wie ich.« Als die Frau gegangen war, lud Großmutter mich ein, mit ihr in die Küche zu kommen. Wie üblich setzte sie einen Topf Wasser auf den Kerosinofen, um Kaffee zu machen. Kerosin war damals ein Luxusgut und streng rationiert. Wenn die Läden wieder einmal Nachschub bekommen hatten, rannte die ganze Nachbarschaft hin und stellte sich mit den leeren Flaschen an. Großvater Victor war immer auf dem Sprung, wenn er die Nachbarn »Petróleo« rufen hörte. Auch Kaffee verschwand schnell aus den Läden. Die Kubaner sind starke Kaffeetrinker und waren bereit, auf dem schwarzen Markt horrende Preise dafür zu zahlen. Großmutter hatte Glück: Sie hatte Freunde, die in Las Lomas lebten, in den Bergen. Dort konnten sie ein bisschen Kaffee für den eigenen Gebrauch anbauen. Sie waren so freundlich, ihre kostbare Ernte mit Großmutter zu teilen. Diese streckte den Kaffee mit gerösteten Kichererbsen. Damit schmeckte er zwar nicht so gut wie reiner Kaffee, war aber auf jeden Fall besser als nichts. Wir saßen neben dem Kocher und warteten, bis das Wasser kochte. Das gehörte zu unserem Nachmittagsritual. Sobald sich an der Oberfläche Blasen bildeten und Dampf aufstieg, schüttete Großmutter zwei Kaffeelöffel feingemahlenen Kaffee in den Topf. Nach ein paar Sekunden, wenn der dunkelbraune Schaum aufstieg, goss sie den Kaffee durch einen Trichter in eine kleine Aluminiumkanne. Das war der schönste Augenblick für mich: wenn der Kaffee schwarz herabsickerte und sein Duft das ganze Haus durchzog. In Kuba wird der Kaffee in kleinen Porzellantassen und sehr süß getrunken. Wenn es um den cafesito geht, vergessen die -95-
Kubaner jede Diät. Ein großer Teelöffel Zucker ist üblich, manche nehmen auch zwei. Großmutter war da die Ausnahme. Sie trank ihren Kaffee ungesüßt. Diese Nachmittagsstunden in der Küche hatten für mich eine sehr große Bedeutung. Während wir unseren Kaffee schlürften, sprach Großmutter über curanderismo und alle möglichen anderen Themen, wie zum Beispiel politische Angelegenheiten. Ich hörte lieber Geschichten von Heilungen als langatmige Belehrungen über soziale Probleme. Diesmal aber fing Großmutter mit dem Thema der weiblichen Ehre an. »Negrita, eine ehrbare Frau bleibt im Haus und liefert den Nachbarn keinen Grund, über sie zu schwatzen oder ihr Benehmen zu kritisieren.« »Was für einen Grund zum Beispiel?« »Nun, eine kubanische Frau geht nicht allein mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann ist, irgendwohin.« Das wusste ich recht gut, denn die älteren Mädchen in der Nachbarschaft erzählten oft genug, dass sie ihre Mütter ständig belogen. Weil sie sich nicht ohne Aufpasser mit Jungen treffen durften, erfanden sie Ausreden – einen Besuch in der Bibliothek, eine Lerngruppe bei einer Freundin –, wenn sie ihre Freunde treffen wollten. Ich verschränkte die Arme und heuchelte Aufmerksamkeit. Großmutter fuhr fort: »Jungfräulichkeit und Ehre gehören zusammen.« Ich schaute aus dem Küchenfenster. Großvater Victor und mein Vater reparierten den Zaun. Ich wäre liebend gern zu ihnen gegangen, um dieser Predigt auszukommen. »Hör gut zu, negrita. Wenn eine Frau ihre Ehre verliert, ist sie nichts mehr wert. Sie ist wie ein Stein, der den Berg hinunterrollt und den niemand anhalten will.« Das ist nicht fair, wollte ich schreien, aber ich hielt den Mund. Männer und Jungen durften immer alles tun, was Spaß machte. Großvater und Papa hatten es gut da draußen. Ich war neun und -96-
meine Ehre interessierte mich nicht im Geringsten. »Negrita, wenn du erwachsen bist, dann denk daran, dass in einem sauberen Haus die guten Geister gern wohnen.« Vor lauter Verdruss hätte ich am liebsten meine Kaffeetasse an die Wand geworfen. Als ob ich nicht gewusst hätte, dass nur Frauen und Mädchen für die Sauberkeit im Haus zuständig waren! Niemand erwartete von meinem Bruder, dass er seine Sachen aufräumte oder Pflichten im Haushalt übernahm, und mein Vater machte ein Riesentheater, wenn seine Hemdkragen nicht genau so gebügelt waren, wie er es haben wollte. Ich blieb verärgert sitzen, während Großmutter unsere Tassen abspülte. Sie hatte wohl keine Ahnung, was in mir vorging. Erst viele Jahre später verstand ich den tieferen Sinn von Großmutters Mahnung, das eigene Leben in Ordnung zu halten. Aber als es so weit war, trennten uns Ozeane; wir waren uns fremd und sprachen verschiedene Sprachen, und zwar nicht nur in Worten, sondern auch in Gedanken. Ich war eine Frau in einem fremden Land geworden und hatte die kubanische Bedeutung des Wortes Ehre vergessen.
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GESCHICHTEN AUS MEINER HEIMATSTADT
MEINE HEIMATSTADT CABAIGÜÁN liegt in der Provinz Las Villas, in der Nähe der kubanischen Südküste. Diese Provinz ist zum größten Teil flach, nur im Inland gibt es kleinere Berge. Der fruchtbare Boden eignet sich vorzüglich für den Anbau von Zuckerrohr und Tabak und als Weideland. Cabaigüán liegt knappe sechzig Kilometer von der Provinzhauptstadt Santa Clara und etwa dreihundertsechzig Kilometer von Havanna entfernt. Die Architektur in der Stadt ist eine Mischung aus alt und neu. Als ich noch dort lebte, waren nur die Hauptstraße, die Masó hieß, und noch ein paar Straßen in der Innenstadt asphaltiert. Die übrigen hatten teils Kopfsteinpflaster, teils waren sie ganz ungepflastert. Der Stadtpark, der nach José Martí, dem kubanischen Dichter und Revolutionär, benannt ist, war damals eine Oase der Ruhe, wo die Menschen unter den königlichen Palmen, den üppigen Mahagoni- und den schwarzen Ebenholzbäumen saßen und sich ausruhten. Vielfarbige Bougainvilleen umrankten Bäume und Parkbänke. Am frühen Morgen lag der süße Duft der Gardenien und Lilien in der Luft. Am Abend kamen die Menschen auf dem Paseo zusammen, einer Straße mitten in der Stadt, die mit Bäumen und Bänken bestanden war. Junge Liebende verbargen sich in dunklen Ecken, eng umschlungen, und tauschten scheue Küsse aus. Andere, weniger Glückliche durften nur Händchen halten, weil die -98-
Mütter der Mädchen mit Argusaugen über die Unschuld der Töchter wachten. Alte Männer standen in kleinen Gruppen beisammen und wärmten Erinnerungen auf. Manchmal sprachen sie von ihrer Sehnsucht nach freier öffentlicher Meinungsäußerung in politischen Dingen, die unter Castro verboten worden war, weil er konterrevolutionäre Umtriebe fürchtete. So blieben den Alten nur Bücher, Seifenopern und die Angelegenheiten der Nachbarn als Stoff für ihre hitzigen Diskussionen. Die Frauen bei uns in der Gegend riefen einander aus dem Fenster oder aus dem Hausgang zu: »He, Julia, kannst mir ein bisschen Zucker borgen?« Oder: »Kannst du auf meine Kinder aufpassen? Ich muss zum Doktor.« Wir waren eine einzige große Familie. Es gab keine Geheimnisse – jeder kannte jeden. Das galt erst recht, nachdem die CDRs eingesetzt worden waren, die Komitees für die Verteidigung der Revolution, welche streng kontrollierten, was in jedem Haushalt vor sich ging und wo sich jedes Mitglied des Haushalts aufhielt. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versank, setzten sich die Frauen von Cabaigüán auf die Veranda. In Kuba ist die Veranda der Hauptschauplatz des geselligen Lebens. Das tropische Klima der Insel lockt die Menschen ins Freie. Dort genießen sie die warme Abendluft, die gesättigt ist von Blumen- und Kaffeeduft. Nach dem Abwasch trafen sich die Damen der Stadt in Gruppen auf der Veranda einer Nachbarin, und während ihre Hände mit einer Handarbeit beschäftigt waren, klatschten sie bis elf oder zwölf in der Nacht. In diesen ausgedehnten Sitzungen wurde die schmutzige Wäsche der ganzen Nachbarschaft gewaschen. Die Themen waren unerschöpflich: Hochzeiten, Schwangerschaften, Geburten, Taufen; wer mit wem ein Verhältnis hatte und was man aus russischem Dosenfleisch machen konnte; wie man den Kaffee mit Kichererbsen strecken konnte; und natürlich der schwarze Markt und Sex. -99-
Diese nächtlichen Treffen waren für die Mütter sehr bequem, weil sie dabei ihre Töchter im Auge behalten konnten. Die saßen mit ihren Freunden entweder bei offenen Fenstern und Türen im Wohnzimmer oder neben der Haustür auf der Veranda. Die Mutter legte immer wieder ihre Handarbeit beiseite und ging unter einem Vorwand ins Haus, wobei sie direkt an den jungen Leuten vorbei kam. Aber obwohl die ganze Nachbarschaft aufpasste, fanden die jungen Leute doch immer wieder eine Gelegenheit, sich zu berühren. Eines Abends wurde Susana, die gegenüber wohnte, von ihrer Großmutter dabei erwischt, wie sie den rabo ihres Freundes berührte, den er mit seiner Jacke bedeckt hatte. Die alte Frau riss dem jungen Mann die Jacke vom Schoß und entblößte damit sein gewaltig erigiertes Glied. Sie schrie so laut, dass eine Menge neugieriger Damen herbeiströmte. Alle hatten noch die scharfen Instrumente für ihre Handarbeiten in der Hand. Ernesto konnte gerade noch vom Sofa aufspringen und davonrennen, wobei sein rabo immer noch aus dem Hosenschlitz ragte. Susanas Vater zwang Ernesto, das Mädchen zu heiraten, und rettete damit die Ehre seiner Tochter. Aber die Frauen sprachen noch wochenlang über die Größe von Ernestos Glied. Jedes Mal, wenn die Geschichte erzählt wurde, war das Glied noch größer geworden. Bald war es beinahe dreißig Zentimeter lang und Ernesto wurde caballo, Hengst, genannt. Seitdem hieß es immer, wenn Ernesto an einer Gruppe von Leuten vorbei kam: »Schaut, da ist el Caballo.« Ich fragte meine Mutter, ob Castro auch so einen großen Penis habe, weil man auch ihn »el Caballo« nannte. Die Antwort meiner Mutter war nicht sehr aufschlussreich, aber ein paar Tage später, als ich beim Einkaufen Schlange stand, belauschte ich das Gespräch zweier Frauen. Eine flüsterte: »Fidel hat einen großen Pimmel.« Die andere antwortete: »Man sagt, er ist fünfunddreißig Zentimeter lang.« Ich schaute auf meinem Schullineal nach und konnte es nicht fassen. Wie sollte er einen so großen Penis in seiner Hose unterbringen? -100-
Der älteste Mann in unserer Nachbarschaft war Salvador Gutiérrez. Er war achtundneunzig Jahre alt und erzählte gern vom Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier, der um die Jahrhundertwende stattgefunden hatte. Abends saßen wir Kinder um ihn herum und warteten voller Spannung auf seine lebendigen Erzählungen aus alten Tagen. Salvadors Geschichtenvorrat schien unerschöpflich; jeden Abend berichtete er wieder von einem neuen Abenteuer. Er war für uns viel interessanter als das Fernsehen mit seinen ewigen Politik- und Nachrichtensendungen. Außerdem gab es nur ganz wenige Fernsehapparate in der Stadt. Salvador Gutiérrez hat mir mehr über die Geschichte Kubas beigebracht als jedes Schulbuch. Seine Erzählungen waren voller Anekdoten und lebendiger Schilderungen der Menschen, die ihr Leben ließen für die Freiheit unseres Landes und für unsere Kultur, die sich aus spanischen und afrikanischen Elementen zusammensetzt. Die raue Stimme des alten Mannes versetzte uns auf die Schlachtfelder, und wir tauchten in der Phantasie vollkommen in das Kampfgeschehen ein; wir konnten die alten Flinten und die Macheten der kubanischen Unabhängigkeitskämpfer hören und die Forts sehen, deren Kanonen auf sie schossen. Besonders gern erzählte Salvador von Mariana Grajales. »Sie war eine tapfere Mutter und Revolutionärin«, sagte Salvador und legte die Hand auf sein Herz. »Das war eine Frau! Ich war damals ein Kind von etwa sieben oder acht Jahren, gerade alt genug, um die Geschichten über Doña Mariana zu verstehen und zu behalten. Sie hatte mit ihrem Mann, Marcos Maceo, neun Kinder, die sie zu bedingungsloser Tapferkeit erzog. Sie waren alle bereit, bis zum letzten Blutstropfen gegen die Unterdrücker zu kämpfen.« Salvador paffte seine große Zigarre, drehte sie in seinen knochigen Fingern und kontrollierte, wie sie brannte. »Ja, Mariana, das war eine Frau! Als Gott sie geschaffen hatte, warf er wahrscheinlich die Form weg, damit es keine Nach-101-
bildungen gäbe. Mein Vater hat mir erzählt, dass Mariana ganz allein ein kleines Lazarett in den Bergen betrieb. Sie erlebte viel Leid: Zuerst fiel ihr Sohn Justo, dann ihr geliebter Mann. Dann wurde ihr Sohn Antonio verwundet. Aber jeder Schmerz bestärkte Mariana nur in ihrem Kampf gegen die Unterdrücker. Als die älteren Söhne alle tot oder verwundet waren, blickte Mariana auf den Jüngsten, der noch ein Kind war, und sagte: ›Geh jetzt. Es ist Zeit, für das Vaterland zu kämpfen.‹« Salvador genoss hohes Ansehen. Er war früher Bauer gewesen und konnte das Wetter vorhersagen, und so kamen nachmittags manchmal Bauern aus der Gegend zu ihm und erörterten mit ihm die Wahrscheinlichkeit von Regenfällen oder Wirbelstürmen. Sie verließen sich auf seine Ratschläge und nannten ihn el viejo cedro, die alte Zeder. Sie sagten, er wisse so viel, weil er tief in der Erde verwurzelt sei. Für mich war Salvador der weise alte Mann, der die Verbindung zu unseren Vorfahren und zur Geschichte der Stadt herstellte. Er war eine würdevolle Erscheinung, hochgewachsen, und sah mit seinen ausgeprägten Wangenknochen und den schwarzen Augen aus wie ein Kazike. Salvador war das Verbindungsglied zwischen der vergangenen und der gegenwärtigen Welt. Auch die alte Graciela war eine Geschichtenerzählerin. Sie erzählte gern Geschichten von Geistern und Spukhäusern, in denen reiche Spanier oder Seeräuber vor über hundert Jahren Gefäße voll Goldstücken und Juwelen versteckt hatten. Graciela behauptete, diese Menschen hüteten auch nach ihrem Tod noch ihre Schätze. Wenn wir abends Gracielas Schauergeschichten gehört hatten, hatte mein Bruder Angst, dass sich die Geister in sein Zimmer schleichen könnten, und er kroch zu mir ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Das geringste Geräusch jagte uns Schrecken ein. Wir zitterten und beteten und versprachen diesen verlorenen Seelen, wir würden sie niemals stören. -102-
Eines Abends im Sommer 1965 saß Graciela wie gewöhnlich auf ihrer Veranda im Schaukelstuhl, schlürfte Kaffee aus einer kleinen Blechtasse und rauchte eine Zigarre. Das war ihr übliches Ritual vor dem Erzählen und inzwischen versammelte sich ihre Zuhörerschaft: eine Menge neugierige Kinder und auch ein paar Erwachsene. »Ihr müsst wissen…«, begann Graciela mit ihrer tiefen Stimme. Dann folgte eine lange Pause, in der sie sich nur ihrer Zigarre widmete. Wir warteten voller Spannung. »Eines Tages werdet ihr mich nicht mehr aus diesem Haus kommen sehen. Ich werde alt und mein Körper ist müde.« Sie lächelte uns schlau an. »Aber mein Geist wird noch da sein und Geschichten erzählen und wenn ihr nicht kommt, dann werde ich euch holen. Ich werde euch an den Zehen packen, wenn ihr schlaft.« Dann lachte sie, dass ihre rosa Gaumen und der letzte braune Zahn zu sehen waren. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann lachten wir nervös. »Na, genug davon. Ich will noch nicht in die Kiste, aber ich warne euch: Ich möchte den besten Zedernsarg, den es in der Stadt gibt, und ich möchte mit dem ganzen Pomp begraben werden, auf den eine Frau meines Alters Anspruch hat. Ich will keine billige Kiefernkiste wie der alte Juan Belmonte voriges Jahr. Das war Juan gegenüber nicht fair. Er war schließlich ein Original, auch wenn er recht cholerisch war und die meisten Menschen nicht mochte. Das war nicht ganz unbegründet. Er hat mir erzählt, was ihr ihm für Streiche gespielt habt. Ihr habt ihm zum Beispiel das Auto von der Straße weggeschoben, so dass er es suchen musste. Und ich weiß, dass ihr ihm Frösche auf die Veranda gesetzt habt, weil er vor ihnen Angst hat. Kinder, ich rate euch, ehrt die Alten, sonst werden euch ihre Geister keine Ruhe lassen, wenn sie tot sind. Das merkt euch – und jetzt erzähle ich euch die Geschichte von Benito Jimenez.« »Benito Jimenez!«, riefen wir begeistert. Wir kannten alle einen Teil der Geschichte, nämlich, dass zwei Geister sich bei -103-
dem großen Ceiba-Baum herumtrieben, der am Stadtrand nicht weit von Benitos Farm an der Straße stand. Manche behaupteten, sie hätten diese verlorenen Seelen einen Mann und eine Frau – gesehen, wie sie nachts herumgingen und sich an den Händen hielten. »Als ich ein junges Mädchen war, vor vielen, vielen, aber nicht allzu vielen Jahren«, begann Graciela, »lebte ich mit meinen Eltern auf der Farm La Paloma, die Benito gehörte. Benito, den man El Gallego nannte, weil er aus der spanischen Provinz Galizien stammte, kam mit einer Menge Geld nach Kuba. Er war betört von der Schönheit der Insel und ihrer Frauen und beschloss, Land zu kaufen und Tabak zu pflanzen. Anfangs war La Paloma nur eine kleine Plantage, aber mit der Zeit wurde sie eine der größten in der Provinz Las Villas. Er beschäftigte viele Arbeiter, aber er bezahlte sie schlecht und schikanierte sie. Er war hart und mitleidlos. Wenn einer krank wurde und nicht arbeiten konnte, warf er ihn ohne Umstände hinaus und ersetzte ihn durch einen gesunden und starken Arbeiter. Er war habgierig und sehr ehrgeizig. Er wollte der größte Tabakproduzent der Insel und womöglich der ganzen Welt werden. Benito heiratete Irma Serrano, die Tochter eines reichen Nachbarn, der auch aus Spanien gekommen war. Das Paar bekam fünf hübsche und gesunde Kinder, vier Jungen und ein Mädchen. Die Tochter, Vasilia, wuchs zu einer schönen jungen Frau heran und verliebte sich in Geremias, einen Schwarzen aus Jamaika, der auf den Tabakfeldern ihres Vaters arbeitete. Der schöne, kräftige Schwarze und die liebliche goldhaarige Vasilia trafen sich jede Nacht heimlich in einer verlassenen Scheune. Aber eines Nachts konnte Benito nicht schlafen und sah, wie seine Tochter sich nach Mitternacht aus dem Haus schlich. Er folgte ihr zur Scheune und entdeckte die eng verschlungenen jungen Liebenden. Rasend vor Wut beschloss Benito, die Ehre von Vasilia und der ganzen Familie zu retten, indem er den jungen Schwarzen -104-
tötete. Er hängte Geremias an einem Ceiba-Baum am Straßenrand auf, damit jeder ihn sehen konnte. Dort blieb er tagelang hängen und die Geier fraßen allmählich alles Fleisch von seinen Knochen. Benito verbot es allen, seinen Leichnam zu begraben. Vasilias Herz war gebrochen. Sie versank in tiefe, untröstliche Traurigkeit. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, wollte niemanden mehr sehen und weigerte sich zu essen. Mit der Zeit wurde Vasilia zu einem Schatten, zu einer geisterhaften Gestalt, die im Totenreich aus und ein ging, immer auf der Suche nach ihrem geliebten Geremias.« Hier hielt Graciela inne, um ihre Zuhörer auf die Folter zu spannen. Sie paffte an ihrer Zigarre und blies den Rauch genüsslich in die Luft. »Und wisst ihr was?«, sagte sie. »Ich war zwar noch ein Kind, aber ich erinnere mich so genau an Vasilias Gesicht, als hätte ich sie heute erst gesehen. Eines Nachts, als ich nicht schlafen konnte, hörte ich sie nach Geremias rufen. Es war unheimlich, richtig unheimlich. Am nächsten Morgen fand man Vasilia tot auf. Sie hatte die Arme um den Baum geschlungen, an dem ihr Vater ihren Geliebten aufgehängt hatte. Manche Leute in der Stadt behaupten, sie hätten, als sie an jener Stelle vorbei kamen, die Stimmen von Geremias und Vasilia gehört und ihre gespenstischen Figuren eng umschlungen tanzen gesehen. Andere berichteten, ihre Pferde hätten gescheut und seien wie wild davongerast.« Graciela trank den letzten kalten Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Das war die Geschichte vom bösen Benito Jimenez und den Liebenden Vasilia und Geremias.« Als ich heimging, verfolgte mich das Bild des armen Geremias, wie er am Baum hing und die Geier sein Fleisch fraßen. Es erinnerte mich an die zwei Männer, die ich am Tag der Revolution an dem Ateje-Baum hatte hängen sehen. Ich merkte, dass die Revolution mit all ihren Versprechungen -105-
von Gleichheit die Einstellung der Weißen gegenüber den Schwarzen kaum geändert hatte. In der Schule wurde uns eingehämmert, dass alle Menschen gleich seien, aber außerhalb der Schule sah die Sache anders aus. Das kubanische Sprichwort juntos pero no rebueltos (zusammen, aber nicht vermischt) passte hier so gut wie bei schwarzen Bohnen mit Reis. Es gab zwar für die Schwarzen keine Einschränkungen mehr, aber die Weißen überlegten es sich zweimal, bevor sie sich im Bus neben einen Schwarzen setzten. Es kam noch hinzu, dass Castro den Schwarzen verbot, ihre eigene Religion zu praktizieren. Carmen empörte sich oft: »Dieser Castro mit seiner Scheinheiligkeit! Im Herzen ist er ein Spanier. Dieser doppelzüngige Schurke hat uns unsere Freiheit geraubt.« Die Geschichte von Geremias und Vasilia begleitete mich noch jahrelang, auch als ich Kuba schon verlassen hatte. Sie vermittelt einen Eindruck von meinem Vaterland und seiner Kultur, von der Vermengung schwarzafrikanischer Tradition, Religion und Spiritualität mit der Kultur der weißen Spanier. Meine Vorfahren kamen alle aus Spanien, aber ich betrachtete mich immer als Mulattin. Die verführerische afrikanische Trommel und die leidenschaftliche spanische Gitarre gehörten in meinem Herzen ebenso eng zusammen wie Vasilia und Geremias. Nur wenige Stunden nachdem sie uns diese Geschichte erzählt hatte, starb Graciela friedlich in ihrem eigenen Bett. Wie sie es verlangt hatte, bettete man sie in einen Zedernsarg vom besten Schreiner der Stadt. Weil sie Bestattungsunternehmen immer verabscheut hatte, wurde die Totenwache in ihrem eigenen Wohnzimmer abgehalten. Die ganze Nachbarschaft tat sich zusammen, um das Haus zu schmücken und Essen vorzubereiten. Carmen und meine Mutter erklärten sich bereit, Rum und Kaffee – beides auf dem schwarzen Markt besorgt – zu servieren. Soweit wir wussten, hatte Graciela keine Verwandten, aber alle Menschen in der Nachbarschaft betrachteten sie als Familienangehörige. -106-
Sobald die Sonne unterging, strömten die Leute in Gruppen zu Gracielas Haus. Zuerst erwiesen sie Graciela in ihrem offenen Sarg ihre Ehrerbietung. Die Männer nahmen den Hut ab und standen ein paar Sekunden lang mit ernster Miene am Sarg. Die Frauen wischten sich mit gestickten weißen Taschentüchern die Tränen ab. Als ich an der Reihe war, konnte ich mich nicht rühren; meine Füße weigerten sich, einen Schritt zu tun. Das blasse, weiße Gesicht vor mir gehörte nicht Graciela! Ich sah nur einen zusammengekniffenen Mund und bläuliche Lippen. Meine Mutter führte mich weg vom Sarg und in eine stille Ecke, wo ich mich von dem Schock erholen konnte. Langsam vergingen die Stunden. Die Menschen drängten sich im Haus, unterhielten sich und scherzten. Gegen Mitternacht gingen plötzlich alle Lichter aus. Schreckensstarr saß ich da und horchte auf die schrillen Schreie und das Gelächter der anderen. Ich wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Dann sah ich plötzlich, wie in einem Traum, Graciela als Geist aus dem Sarg aufstehen. Ich blinzelte, um die Erscheinung zu verscheuchen, aber Graciela glitt weiter, bis in die Mitte des Raums. Zitternd wartete ich darauf, dass Graciela käme und mich an den Zehen packte, wie sie gedroht hatte. Ich überlegte, ob ich nur einen Albtraum hätte. Aber genau da begannen die Kerzen zu flackern, ein Glas fiel zu Boden und zerbrach, eine Flasche Rum flog durchs Zimmer und ein Zündholz zündete eine Zigarre an, die in der Luft schwebte. »Virgen de la Caridad!«, hörte ich neben mir jemand sagen. »Können Sie sie auch sehen?«, brachte ich heraus. »Die alte Frau verabschiedet sich. Sie wollte die Welt nicht verlassen, ohne uns noch eine letzte Geschichte zu schenken.« Das war die gleiche Stimme neben mir, eine Frauenstimme. Ein paar Sekunden später ging das Licht wieder an. Ich wandte mich zur Seite, um die Frau anzuschauen, die dieses Erlebnis -107-
mit mir geteilt hatte, aber da war niemand. Wie der Rauch von Gracielas Zigarre war die Frau in der Dunkelheit verschwunden. Alle möglichen Geschichten wurden in dieser Nacht noch erzählt. Ein paar sagten, sie hätten das Glas klirren gehört. Andere hatten die Zigarre und die Rumflasche bemerkt. Alle Anwesenden waren überzeugt, Graciela habe das Haus besucht und uns einen Streich gespielt. Als es Morgen wurde, erzählten die Leute schon, Graciela habe zu ihnen gesprochen und ihnen wichtige Botschaften überbracht. »Graciela hat mir gesagt, dass Fidel sich nicht mehr oft rasieren muss«, sagte ein Mann. Das sollte heißen, dass er bald sterben würde. »Graciela meint, dass wir uns auf eine wirtschaftliche Katastrophe einrichten müssen«, warnte uns unsere Nachbarin Nena. Die Geschichten wurden immer weiter ausgeschmückt. Ironischerweise war Graciela im Tod lebendiger als im Leben. Mir kam die verrückte Idee, Graciela habe das ganze Theater nur veranstaltet, um sich für ihre letzte Reise mit Zigarren und Rum zu versorgen. Als ich an ihrem Haus vorbeiging, glaubte ich sie sagen zu hören: »Vergiss den Geist von Geremias und die Trauer von Vasilia nicht. Solange wir uns daran erinnern, wird es Geschichten zu erzählen geben, großartige und wunderbare Geschichten, die unser Herz bewegen.« Dann sah ich Graciela vor mir, und zwar nicht im Zedernsarg, sondern auf ihrer Veranda, wo sie wie immer im Schaukelstuhl saß.
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LA LIBRETA
MIT ZEHN HATTE ICH, wie immer beim Aufwachen, ein unbehagliches Gefühl wegen der beständigen Gehirnwäsche, der wir in der Schule ausgesetzt waren. Die Worte conciencia revolucionaria gingen mir ständig im Kopf herum. Wie das revolutionäre Bewusstsein auszusehen habe, wurde uns Tag um Tag mit gnadenloser Eintönigkeit eingehämmert. Es war der Maßstab, an dem alles gemessen wurde, was wir dachten, sagten oder taten. Immer wieder wurde uns eingebläut, dass wir nur dann gute Bürger sein könnten, wenn wir überzeugte Kommunisten wären, immer gehorsam und der Revolution treu, immer bereit, für die Sache und das Vaterland jedes Opfer zu bringen. Unglücklicherweise mangelte es mir an conciencia revolucionaria. Ich wurde für zwei Tage vom Unterricht ausgeschlossen, weil ich mich weigerte, in Sozialkunde einen Aufsatz über die wirtschaftlichen Vorteile der Bodenreform zu schreiben. Die Schulleiterin drohte mir den Schulausschluss an, wenn ich bei diesem antirevolutionären Verhalten bliebe. Sie hielt mir eine endlose Predigt über meine schädlichen Ansichten und äußerte sogar verhüllte Drohungen gegen meine Familie. Seitdem lebte ich immer in der Angst, etwas zu sagen oder zu tun, was mich oder meine Familie in Schwierigkeiten bringen konnte. Und wieder einmal stand mir ein solcher Schultag bevor. Es war schwül. Ich hasste meine Schuluniform, den grauen Rock und die gestärkte weiße Baumwollbluse, deren steifer Kragen -109-
am Hals scheuerte. Wenn ich sie nur im Schrank hängen sah, wurde mir schon übel. Vom Nebenzimmer drangen die Stimmen von Carmen und José herüber. José machte wie immer am Morgen einen ziemlichen Zirkus. Er stand erst in allerletzter Minute auf und wollte sich nicht selbst anziehen. »José! Du kommst zu spät in die Schule! Komm, ich zieh dir die Schuhe an«, sagte Carmen. Josés schwarze Lederschuhe waren so abgetragen, dass die Sohlen schon mehrere Löcher hatten. Es war das einzige Paar Schuhe, das José besaß, und auch das hatte er nur von einem Cousin geerbt. »Ich will aber nicht in die Schule! Ich hasse sie!«, schrie José und rannte halb angezogen aus dem Zimmer. Carmen lief ihm nach. »Warte, bis deine Mutter heimkommt! Sie wird dir die Ohren langziehen, bis du wie ein Esel aussiehst. Ich will mich mit so einem ungezogenen Bengel gar nicht herumstreiten.« Carmen ging in die Küche und José blieb in einer Ecke sitzen, die Hände vors Gesicht geschlagen. Wie jeden Morgen war Mutter vor Sonnenaufgang aus dem Haus gegangen, bewaffnet mit einer leeren Papiertüte und der libreta, dem Bezugsscheinheft, das jeder Haushalt von der Regierung bekam. Dieses Heft musste man in jedem Laden vorzeigen und jeder Einkauf wurde darin eingetragen. Alles war rationiert, Zahnpasta, Toilettenpapier, Seife – Nahrungsmittel sowieso. Man bekam nur eine gewisse Ration an Brot, Milch und Zucker, ein paar Gramm von dem und jenem, drei Pfund Reis pro Person. Und oft musste man in mehreren Läden Schlange stehen, um überhaupt etwas zu bekommen, vielleicht eine Tüte kubanische Cracker oder ein Pfund braunen Zucker. Oft genug war alles ausverkauft, bevor man endlich an die Reihe kam. So war man den größten Teil des Tages mit Einkaufen beschäftigt. Mutter war noch nicht vom Einkaufen zurück. Ich ging in die -110-
Küche und hoffte, dort etwas Essbares zu finden. Mein leerer Magen knurrte enttäuscht, als ich die Bestände musterte: ein Stück Butter, hausgemachter Käse, ein paar Tomaten und die Reste vom gestrigen Abendessen, nämlich gekochter Reis und ein bisschen picadillo, das ist Hackfleisch mit Öl, Tomatensoße, Zwiebeln, Knoblauch und Pfefferschoten. Carmen kam herein, als ich mir gerade eine Scheibe Käse abschnitt. »Deine Mutter steht wahrscheinlich in so einer endlosen Schlange«, sagte sie und setzte sich an den Küchentisch. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Mir schien, als wäre Carmen in letzter Zeit dünner geworden und als bewegte sie sich langsamer. Carmen sprach nie über ihr Alter, nicht einmal mit meiner Mutter. Ich vermutete, sie sei in den Vierzigern oder darüber. Es war schwer zu sagen, weil ihre schöne schokoladenbraune Haut und ihre wachen schwarzen Augen alterslos waren. »Der Käse reicht mir. Ich muss weg, sonst komme ich zu spät«, sagte ich und küsste Carmen auf die Wange. »Nimm deinen Bruder mit.« »Ist er fertig?« »Ja, er hat schließlich doch noch die Schuhe angezogen«, sagte sie mit einem halben Lächeln. Ich merkte an ihrer gerunzelten Stirn, dass Carmen sich grämte, weil sie uns schon wieder ohne Frühstück in die Schule schicken musste. Ich teilte den Käse mit José und wir gingen. Mein kleiner Bruder tat mir Leid. Ich wusste, dass er es in der Schule nicht leicht hatte, denn ich kannte die bösartige Lehrerin, die seine Klasse unterrichtete. Ich hatte sie auch gehabt. Sie strafte die Kinder durch Schläge mit einem langen, dünnen Lineal, das sie hinter dem Pult bereithielt. Schon viele Eltern hatten sich bei der Direktorin beschwert, aber anscheinend hatte Mrs. Guerrero eine wichtige Position in der kommunistischen Partei, denn es geschah nichts. Meine erste Schulstunde war Geschichte. Der Lehrer, -111-
Eduardo Arnaz, hatte mit Hilfe eines Stipendiums der Regierung studiert und gerade erst an der Universität von Havanna sein Examen gemacht. Seine Stunden waren furchtbar langweilig. Wenn er nervös war, stotterte er, und wenn jemand in der Klasse hustete oder lachte, wurde das Stottern noch schlimmer, und seine rechte Wange fing zu zucken an. Sein Hauptanliegen war es, uns Viertklässler von der Überlegenheit des Kommunismus zu überzeugen. Seine Geschichtsstunden handelten immer von Marx und Lenin. Wie üblich hatte er das Thema des heutigen Tages schon an die Tafel geschrieben: DAS EMBARGO DER USA. Ich setzte mich und nahm Heft und Stift aus meiner Schultasche. Mr. Arnaz schrieb in Großbuchstaben an die Tafel: 19. OKTOBER 1960. Dann drehte er sich zu uns um und begann mit seinem Vortrag. »Die Regierung Eisenhower beschloss ein Teilembargo für den Handel mit Kuba. Damit sind alle Exporte nach Kuba verboten, abgesehen von Nahrungsmitteln, Medikamenten, medizinischen Geräten und ein paar anderen Dingen, für die man eine spezielle Lizenz braucht. Vizepräsident Richard Nixon bezeichnete diese Maßnahme als umfassende ›Quarantäne‹ – wirtschaftlich, politisch und diplomatisch – des CastroRegimes.« Mr. Arnaz hatte nicht ein einziges Mal gestottert und war sichtlich stolz. Aber nicht lang. Miguel, ein Schüler aus der letzten Reihe, hob nämlich die Hand. »Ja, Mi-Mi-Mi-Miguel?« Mr. Arnaz lief vor Anstrengung und Verlegenheit ganz rot an. »Brauchen wir wegen des Embargos diese libreta beim Einkaufen?« »Ha-ha-ha-hauptsächlich deswegen, ja. Mi-mi-mi-mit der Blockade begann für uns eine Pe-Pe-Pe-Periode des Mangels. Wir haben früher ka-ka-ka-kaum etwas p-p-p-produziert, weil es billiger und einfacher war, die D-D-Dinge aus den USA einzuführen.« -112-
Mr. Arnaz erging sich lang und breit über die Notwendigkeit, zusammenzuhalten und gegen die imperialistischen Mächte zu kämpfen. »Wir können diesen Kampf nur gewinnen durch gesteigerte Hingabe an die Revolution und ihre Führer, besonders Fidel Castro«, sagte er und schlug mit der Faust aufs Katheder. Damit gewann er zwar meine Aufmerksamkeit, konnte mich aber nicht überzeugen. Die ganze Zeit knurrte mein Magen wie fernes Donnergrollen. Als ich zum Mittagessen heimkam, fand ich Mutter und Carmen in der Küche. Der Geruch von gebratenen Bananen ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Wo hast du die herrlichen Bananen her?«, fragte ich Mutter, während ich in die anderen Töpfe auf dem Ofen schaute. »Und schwarze Bohnen! Und Reis! Gibt es etwas zu feiern?« Weder Carmen noch meine Mutter antwortete. »Ich wette, du warst auf dem Land. Deswegen bist du nicht rechtzeitig zum Frühstück zurück gewesen«, sagte ich. Ich holte mir eine gebratene Bananenscheibe von der Platte. Aber Carmen nahm sie mir wieder weg. »Ich habe dir gesagt, runa, dass du nichts nehmen darfst, wenn wir kochen. Das sind schlechte Manieren!« »Nur ein Stück!«, bat ich. »Ich bin am Verhungern.« »Warte, bis der Tisch gedeckt ist«, sagte Mutter. »Es dauert nicht mehr lang.« »Bist du heute aufs Land gegangen?«, fragte ich noch einmal. »Ja, Teresa, ich war auf dem Land.« Mutter wusste, dass ich mir Sorgen machte, wenn sie allein zu den Bauern rings um die Stadt ging. Sie nahm immer etwas mit, was sie gegen Nahrungsmittel tauschen konnte. Meist waren es Dinge, die Vater in Havanna auf dem schwarzen Markt gekauft hatte – zum Beispiel Herrensocken, T-Shirts, Seife, Zahnpasta, Rasierklingen und sogar Aspirin. »Warum hast du solche Angst, wenn ich zu den Bauern gehe?« -113-
»Du weißt doch, dass wir beobachtet werden. Und eines Tages kommst du ins Gefängnis, wie unsere Nachbarin.« »Juana ist dabei erwischt worden, wie sie eine große Menge Kaffee aus der Sierra Maestra in die Stadt schmuggeln wollte. Das ist etwas ganz anderes«, sagte Mutter und gab mir noch ein paar Bananenscheiben. »Schon… aber wenn eine Streife deine Tasche durchsucht, wissen sie ganz genau, dass du die Sachen nicht im Laden gekauft hast. Außerdem schaut Aurelia ständig aus dem Fenster und kontrolliert alles, was die Leute tun.« Damals hatte ich vor allem und jedem Angst. Das Komitee der Revolutionsverteidiger (CDR) überwachte jede Bewegung in der Nachbarschaft. Bei der letzten Wahl zu diesem Komitee waren Leute auf verantwortliche Posten gekommen, die mit großem Eifer darangingen, die Überwachung zu verschärfen. Alle Erwachsenen hatten die Pflicht, bei der Überwachung mitzumachen, mit anderen Worten, sie mussten ihre Freunde, Familien und Nachbarn bespitzeln. Wer die Nachtwache übernehmen musste, bekam eine Flinte ausgehändigt, die tagsüber im Büro des Komiteevorsitzenden aufbewahrt wurde. Der oder die zur Nachtwache Auserkorene saß auf der Veranda und beobachtete, was die Nachbarschaft so trieb – wer wann heimkam und mit wem. Jede Art von Zusammenkunft in einem Haus war in den Augen des CDR verdächtig. Die Hauptaufgabe der Komitees war, die Bildung konterrevolutionärer Gruppen zu verhindern. Meine Angst, Mutter könne ins Gefängnis kommen, war nicht unbegründet. Wenn das CDR herausfand, dass jemand sich bei den Bauern oder am schwarzen Markt etwas besorgt hatte, wurde sofort eine Komiteesitzung abgehalten und der Betreffende vor der ganzen Nachbarschaft verurteilt. Die häufigsten Strafen waren Arbeit in den Zuckerrohrfeldern oder Abfallsammeln auf den Straßen, man konnte aber auch leicht ins Gefängnis kommen. -114-
Diese dauernde Überwachung erzeugte einen Verfolgungswahn, der sich wie eine Epidemie ausbreitete. Man flüsterte nur noch miteinander, und bevor man zu reden anfing, schaute man in alle Himmelsrichtungen, ob vielleicht jemand lauschte. Ein einziges Wort gegen Castro oder die Regierung konnte einen ins Gefängnis bringen. Und trotzdem riskierte es unsere Mutter, auf verbotenen Wegen etwas zu essen zu beschaffen. Carmen betete immer, wenn Mutter aufs Land ging. »Sag den Kindern nichts, und wenn mir etwas passiert, dann musst du dich um alles kümmern, bis Pepe wieder da ist«, sagte Mutter immer zu Carmen, wenn sie das Haus verließ. »Felicia, seinen Sie vorsichtig, trauen Sie keinem«, sagte Carmen und segnete Mutter, indem sie den heiligen Lazarus und Yemayá anrief und sie um schützendes Geleit bat. »Ay virgencita, wann wird diese Not aufhören, wann werden wir wieder frei sein?«, hörte ich Carmen murmeln, während sie den Boden mit ihrem großen Grasbesen fegte. Nach dem Essen spielten José und ich eine halbe Stunde, wie immer. Dann mussten wir wieder in die Schule. »Teresa«, rief meine Mutter, »komm heute nach der Schule gleich nach Hause. Ich muss früh weg, um nach Schuhen anzustehen. Ich bin ruhiger, wenn ihr zu Hause bei Carmen seid. Ich werde die Nacht vor dem Laden verbringen, damit ich weit vorn in der Schlange bin. Ich hoffe, dass ich diesmal Schuhe in deiner Größe bekomme.« Das würde schon Mutters dritter Versuch sein, mit der libreta für uns Schuhe zu kaufen. Die anderen beiden Male hatte sie zwei Nächte vor dem Laden geschlafen, war aber trotzdem mit leeren Händen heimgekommen. Sie war so wütend gewesen, dass sie tagelang Verwünschungen gegen Castro und seine Revolution ausgestoßen hatte. Das letzte Mal war sie völlig erschöpft zurückgekommen, unfrisiert und mit dunklen Ringen -115-
unter den Augen. Sie warf die leere Einkaufstasche auf den Boden, schleuderte die Schuhe von den Füßen, ging ins Wohnzimmer, wo Papa, José und ich ein Puzzle zusammensetzten, und fiel in einen Sessel. »Mami… Mami.« José lief zu ihr, kletterte auf ihren Schoß und umarmte sie fest. Sie drückte José an sich und brach in Tränen aus. Vater und ich schwiegen. Als wir die leere Tasche gesehen hatten, konnten wir uns vorstellen, wie zornig sie war. »Das ist doch schlimmer als die Hölle!«, sagte sie. »Es ist nicht zu fassen, dass ich auch diesmal keine Schuhe bekommen habe. Was sollen wir bloß machen, Pepe?«, fragte sie verzweifelt. »Auf dem schwarzen Markt gibt es auch immer weniger«, antwortete Vater. »Du musst etwas tun!« Mutters Stimme wurde lauter. »Ich habe dieses Elend so satt!« »Reg dich nicht auf, Frau! Ich sehe, was sich tun lässt.« Papa kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel seines Lastwagens. »Du hast leicht reden. Ich möchte Ergebnisse sehen! Warum stehst du das nächste Mal nicht selbst Schlange? Immer bin ich diejenige, die sich die Hacken ablaufen muss!«, schrie Mutter. »Und was denkst du, was ich mache, wenn ich weg bin? Die Dinge, die ich heimbringe, fallen mir nicht in den Schoß. Ich bin stundenlang auf der Jagd, brauche Beziehungen und riskiere meinen Kragen!«, schrie Vater zurück. Seine Augen waren ganz dunkel geworden. Er schaute auf die Straße hinaus. Dann sagte er mit leiserer Stimme: »Das hätten wir uns alles sparen können, wenn wir damals mit diesem Boot geflohen wären.« »Schau mich an, Pepe Fernandez, und hör gut zu«, sagte Mutter sofort mit blitzenden Augen. »Ich sage dir ein für allemal: Niemals werde ich das Leben meiner Kinder so leichtfertig aufs Spiel setzen! Wenn du gehen willst, dann geh! Aber erwarte -116-
nicht, dass ich meine geliebten Kinder einer solchen Gefahr aussetze. Du weißt, dass viele dieser Boote sinken oder irgendwo leer angeschwemmt werden. Du weißt, dass Hunderte von Menschen, auch Kinder, von unserer Küstenwache erschossen worden sind. Und du weißt, was Cecilia und Ernesto passiert ist. Sie haben es zwar nach Miami geschafft, aber ihr kleiner Junge ist unterwegs verdurstet.« Mutter war sehr erregt; sie zitterte am ganzen Körper. Vater schwieg, aber er war sichtlich verärgert. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Lieber sollen sie ohne Schuhe herumlaufen als ein solches Risiko eingehen.« »Du bist einfach feige! Unsere Kinder sterben sowieso. Ihre Seelen werden durch die Gehirnwäsche sterben. Sie werden in der Schule schon mit allerhand kommunistischem Mist indoktriniert. Wart ein paar Jahre, und du wirst deine Kinder nicht wiedererkennen.« Vater ging und warf die Tür hinter sich zu. Mutter brach in Tränen aus und José versuchte, sie zu trösten. Er küsste sie auf die Wange und wischte ihr mit seiner kleinen Hand die Tränen ab. Ich rührte mich nicht. Mutter sah so müde aus, so erschöpft vom täglichen Kampf ums Überleben. Ich hatte Angst um sie. Ich hatte schon bemerkt, dass Mutter wenig aß, damit für uns Kinder mehr blieb. Sie wurde dünner, ihre Haut war trocken und bildete um Augen und Mund vorzeitige Runzeln. Das hatte ich zumindest Carmen sagen gehört. Carmen machte sich ständig Sorgen um Mutter, aber mir schien, dass sich jeder um jeden Sorgen machte. Das ganze Land war von einer Art Sorgenkrankheit befallen. Ich wusste nicht, was ich für sie hätte tun können. Ich war wütend auf Vater. Immer wenn das Thema »Flucht aus Kuba« aufs Tapet kam, gab es Streit. Vater hatte monatelang versucht, Mutter dazu zu überreden, das Land heimlich zu verlassen. Er versäumte keine Gelegenheit, sie auf die schwierige Lage hin-117-
zuweisen. Viele Menschen setzten ihr Leben aufs Spiel, indem sie sich mit selbst gebastelten kleinen Flößen auf die karibische See wagten. Vater kannte in Havanna einen ehemaligen Kapitän, der seine eigene Flucht vorbereitet hatte. Der alte Seemann hatte Vater angeboten, ihn mitsamt der Familie auf seinem Boot mitzunehmen. Ich war froh, dass Mutter nicht mitmachte. Ich hatte große Angst, von den Haien bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Jeden Tag gaben Radio und Fernsehen die Namen von Leuten bekannt, die ertrunken waren oder von der kubanischen Küstenwache erschossen oder von Haien zerfetzt worden waren. Diese Bilder verfolgten mich bis in den Schlaf. Ich hatte wiederholt Träume, in denen ich gegen riesige Wellen anschwamm, die mich zu verschlingen drohten. Ich versuchte Vaters Hand zu fassen, die er mir von einem Bambusfloß aus entgegenstreckte. Aber immer, wenn ich ihm näherkam, trugen mich die Wellen wieder fort. Mutter und José sah ich nicht; ich fühlte, dass sie bereits tot waren. Ich konnte nicht verstehen, dass unser eigener Vater uns einer solchen Gefahr aussetzen wollte. Aber es gab jetzt so vieles, was ich nicht verstand. Zum Beispiel die dauernden Streitigkeiten der Eltern. Am meisten Angst hatte ich davor, dass einer von beiden während eines solchen Streits gehen und nicht mehr wiederkommen könnte. Carmen sagte nie etwas dazu. Sie machte sich unsichtbar, wenn bei den Eltern der Sturm losbrach. Aber eines Abends setzte sie sich zu mir ans Bett. »Teresa, niña, du machst dir Sorgen um Mama und Papa, das habe ich schon lang beobachtet. Weißt du, es ist schwer für sie bei den ganzen Problemen im Land. Diese Revolution bringt den Menschen viel Not und Kummer. Das Leben ist hart. Castro hat uns angelogen, niña.« Castros Versprechungen waren mir egal. Ich wollte nur, dass meine Familie wieder glücklich war. Carmen streichelte mir die Wangen und fuhr fort: »Denk bloß daran, wie leer die Läden -118-
sind. Ach, heiliger Lazarus! Waren das noch Zeiten, als ich zum Markt ging und alles kaufen konnte, was ich für den Tag brauchte! Und jetzt steht deine arme Mutter den ganzen Tag in allen möglichen Schlangen.« Vater schaffte es nicht, uns auf dem schwarzen Markt Schuhe zu besorgen. Die Überwachung durch die CDRs wurde immer schärfer. Es gab sogar Hausdurchsuchungen, wenn das Komitee die Bewohner des Schmuggels verdächtigte. Vater wagte nicht, seine Kontaktleute in Havanna anzurufen, aus Angst, ihre Telefone könnten angezapft sein. Ich trug damals Schuhe, die ich von einer Cousine geerbt hatte. Josés Schuhe, die mit den Löchern in den Sohlen, lösten sich allmählich auf. Unsere Hoffnungen richteten sich auf eine Lieferung aus Russland. Russische Schuhe waren hässlich und sahen billig aus, aber sie hielten doch eine gewisse Zeit, vorausgesetzt, man spielte nicht Fußball und ging auch sonst vorsichtig damit um. Sie sahen aus wie kurze Stiefel und es war nicht zu erkennen, ob sie für Jungen oder Mädchen gemacht waren, aber in Notzeiten kann man nicht wählerisch sein. Als Mutter diesmal um Schuhe Schlange stand, betete ich zu den oríchas, ihr durch die langen Nachtstunden zu helfen. Ich dachte daran, dass sie auf dem kalten Boden vor dem Laden saß. Sie war nicht allein; ihre Freundinnen aus der Nachbarschaft waren auch da. Am anderen Morgen kam Mutter heim, bevor wir zur Schule gingen. Wieder war ihre Einkaufstasche leer und wieder fluchte sie lautstark auf die Revolution. Sie ging in die Küche, wo Carmen Rühreier machte. José und ich gingen ihr nach. »Keine Schuhe! Keine Schuhe!« Sie holte die libreta aus ihrer Börse, warf sie zu Boden und trampelte darauf herum. »Verdammter Mist! Mierda! Dieser Fetzen taugt zu gar nichts! Nichts kann man damit kaufen! Das ist ein ausgemachter -119-
Schwindel. Wir brauchen keine Bezugsscheine, weil es nichts zu beziehen gibt. Dieses Land ist am Ende!« Sie trampelte immer noch auf der libreta herum. »Schluss jetzt, Felicia«, sagte Carmen streng. »Die ganze Nacht habe ich gewartet für ein Paar Schuhe, aber es gab gar keine Lieferung. Es war alles gelogen. Am Morgen kam einer dieser uniformierten Schurken, um uns mitzuteilen, dass im Hafen irgendein Missgeschick passiert sei. Die Schuhe seien versehentlich in eine andere Provinz gebracht worden. Und das soll man glauben! Eine bodenlose Unverschämtheit!« Sie hob das zertrampelte Bezugsscheinheft auf und wollte es zerfetzen. Carmen riss es ihr aus der Hand, packte Mutter an den Armen und schüttelte sie. »Kommen Sie zur Besinnung, Felicia! Jetzt reicht es. Sie sind eine starke Frau. Sie werden damit fertig. Und außerdem hören die Kinder zu. Basta ya!« Mutter brach in Tränen aus und warf sich Carmen in die Arme. Carmen hielt sie ganz fest und streichelte ihr das Haar. Mir wurde klar, wie glücklich wir uns schätzen konnten, dass wir jemand wie Carmen im Haus hatten. Auf sie war immer Verlass, wenn die anderen Erwachsenen den Kopf verloren.
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9
DIE SCHULE GEHT AUFS LAND
DAS JAHR 1965 brachte neue Probleme und neue Möglichkeiten. Im September überraschte uns Castro mit der Ankündigung, jeder Kubaner, der das Land verlassen wollte, könne sich im Hafen von Camarioca einschiffen. Tausende begaben sich eilends nach Camarioca, in der Hoffnung, eine Schiffspassage nach Miami zu bekommen. Mein Vater war gerade in der Provinz Oriente, vier Stunden von uns entfernt. Er hatte seinen großen Laster voller Bananen und konnte nicht von dort weg, bevor er die Bananen abgeliefert hatte. Er rief meine Mutter sofort an: »Mach die Kinder fertig. Sobald ich hier weg kann, fahren wir nach Havanna.« »Bist du verrückt? Ich gehe mit den Kindern auf kein Schiff«, hörte ich sie sagen. »Du kannst allein fahren.« Sie legte auf. »Was ist los?«, fragte Carmen. »Pepe möchte, dass wir uns diesen Verrückten in Camarioca anschließen.« »Werden Sie es tun?« »Das kommt gar nicht in Frage. Ich bin doch nicht wahnsinnig.« »Warum nicht, Mami?«, fragte José. »Weil ich nicht will, dass ihr von Haien gefressen werdet.« Mutter hatte immer vor dem Meer Angst gehabt. Ich wusste, sie würde auf kein Schiff gehen, selbst wenn das Freiheit bedeu-121-
tete. Ich fragte mich, wie Vater auf die Idee kam, diesmal könnte es anders sein. Ich nahm meine Bücher und ging zur Schule. Zwei Tage später kam Vater aus Oriente heim. Er wollte unbedingt, dass wir alle nach Camarioca gingen und dort warteten, bis wir Plätze auf einem Schiff bekamen. Mutter blieb bei ihrer Weigerung. Abends drückte ich mir das Kopfkissen auf die Ohren, damit ich das ewige Gezänk nicht hören musste. Carmen verhielt sich neutral, aber Großmutter Patricia ergriff Vaters Partei. Sie kam jeden Tag zu uns und versuchte Mutter zu überzeugen, dass das eine einmalige Chance sei. Tante Nelda, Mutters Schwester, die nur eine Straße weiter wohnte, stand meiner Mutter zur Seite. Im November fuhren so viele Menschen von Camarioca ab, dass die amerikanische Küstenwache überfordert war. Der Transport per Schiff wurde eingestellt und die USA und Kuba kamen überein, die Menschen auf dem Luftweg ausreisen zu lassen. Wer Verwandte hatte, die in den USA lebten, konnte sich von ihnen anfordern lassen. Unverzüglich rief mein Vater Onkel Manolo an, der in Kalifornien lebte, und fragte, ob er uns helfen wolle. Ein paar Tage später schon fuhren wir nach Havanna, um uns in der Schweizer Botschaft Pässe und Visa ausstellen zu lassen. Hoffnungsfroh und enttäuscht zugleich kehrten wir nach Cabaigüán zurück. Der Beamte in der Botschaft hatte uns gesagt, es könne eine ganze Weile dauern, bis wir Plätze in einem Flugzeug bekämen, weil die Zahl der Ausreisewilligen so groß sei. Die Dauer der Wartezeit war völlig unbestimmt. Es konnte sich um Monate handeln, ja, wer weiß, vielleicht um Jahre. In der Schule wurde mir ein neues Problem präsentiert. Ein paar Tage nach unserem Havanna-Ausflug bekam ich einen Brief des Unterrichtsministeriums mit nach Hause. Er informierte meine Eltern, die Regierung habe beschlossen, »die kubanische Jugend stärker in korrektes ideologisches Denken einzuführen und ihr zu helfen, revolutionäres Bewusstsein zu entwi-122-
ckeln«. Zu diesem Zweck wurde eine Kampagne unter dem Namen Die Schule geht aufs Land gestartet. Um Schulbildung mit produktiver Arbeit in bäuerlichen Kooperativen zu verbinden, sollten Tausende von Schülern aufs Land geschickt werden und dort fünfundvierzig Tage mit ihren Lehrern zusammen leben und arbeiten. Meine Mutter las den Brief zuerst. Ihre Hände zitterten. »Keiner wird dich hier wegbringen und zur Feldarbeit zwingen«, sagte sie zornig. »Mama«, sagte ich, »alle müssen gehen. Die Lehrerin hat ganz klar gesagt: Jeder Einzelne in dieser Schule und in vielen Schulen im ganzen Land.‹« »Sie kann sagen, so viel sie will. Ich bin deine Mutter und ich unterschreibe diesen Wisch nicht. Kommt gar nicht in Frage. Nie im Leben lasse ich dich gehen. Du bist eben erst zehn. Zehn Jahre!« Sie rannte so aufgeregt in der Küche hin und her, dass sie den Topf mit Bohnen vergaß, der auf dem Herd stand. Erst als der Geruch von angebrannten Bohnen die Küche füllte, kam sie so weit zur Besinnung, dass sie den Herd abschaltete. Dann las sie das Schreiben noch einmal und schlug mit der Faust zornig auf den Tisch. Carmen kam in die Küche und merkte sofort, dass Feuer am Dach war. »Qué pasa, niña?« fragte sie. »Was ist los?« Mutter gab ihr den Brief. »Schau bloß, was die sich wieder ausgedacht haben! Diese Revolution soll der Teufel holen! Erst haben sie uns das Land genommen und jetzt fordern sie unsere Kinder. Sie wollen uns Teresa wegnehmen, Carmen!«, schrie sie und fuhr fort, die Revolution zu verwünschen. Carmen nahm Mutters Hände in die ihren und hielt sie ganz fest. »Calmate, mí vida. In solchen Zeiten muss man stark sein und einen klaren Kopf behalten. Teresa braucht unsere Unterstützung. Nena hat mir gesagt, dass Teresa aus der Schule ausgeschlossen werden kann, wenn Sie dieses Papier nicht unter-123-
schreiben.« Mutter sank in einen Stuhl, völlig gebrochen. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Carmen kochte ihr Lindenblütentee zur Beruhigung und ich legte meine Arme um sie. Sie tat mir so Leid. Als Vater abends von der Arbeit kam, verfluchte auch er Fidel Castro und seine unrasierten Halunken. Er aß nur wenig und setzte sich dann auf die Veranda. Normalerweise spielte er abends mit seinen Freunden Domino, aber heute war er nicht in der Stimmung dazu. Er rauchte schweigend. Ich beobachtete ihn aus dem Fenster und hatte Mitleid mit ihm, mit uns allen. Ich ging zu ihm. »Qué pasa, Negrita?«, sagte er zur Begrüßung. Ich setzte mich neben ihn und atmete den Duft der Gardenien und seiner Zigarre ein. Er legte mir den Arm um die Schultern und sagte, als könne er meine Gedanken lesen: »Mach dir keine Sorgen, Negrita. Mir geht es gut. Ich muss mich nur erst an den Gedanken gewöhnen. Ich finde es schrecklich, dass du in den Tabak- und Zuckerfeldern so schwer arbeiten sollst. Das ist Männerarbeit.« »Papa, alle gehen, alle Schulen im Land«, sagte ich. Das hatte uns die Schulleiterin erzählt. Sie war von Klasse zu Klasse gegangen und hatte uns das Projekt Die Schule geht aufs Land vorgestellt als eine Art freiwillige und gemeinsame Anstrengung, der Wirtschaft des Landes zu helfen. Sie hatte nicht gesagt, wohin wir gehen würden, nur, dass wir in einem neu errichteten Lager neben einer Tabakplantage leben würden. Das Programm war einfach: Untertags würden wir arbeiten und abends Unterricht haben. Jungen und Mädchen würden getrennt untergebracht. Zuerst fanden wir die Idee aufregend. Wir stellten uns vor, wie wir immer beisammen wären und nachts endlos schwätzen könnten. Aber im Lauf des Tages wurde uns klar, dass die Sache schwerwiegende Nachteile hatte: Man konnte nicht nach Hause, -124-
es gab keinen Strom und kein heißes Wasser, man musste bei Sonnenaufgang aufstehen… allmählich bekamen wir Angst. Meine Freundinnen Marta, Mariluz und Coki befürchteten, dass Ratten und Eidechsen in ihre Betten kriechen und Ochsenfrösche an ihnen hochspringen könnten. Ich beneidete José, weil er noch zu klein war. Die Grenze war bei der vierten Klasse. »Wir müssen raus aus Kuba«, sagte Vater und warf seine Zigarre weg. »Die Kommunisten vernichten uns nach und nach.« »Pst, Papa, leise. Jemand vom CDR könnte dich hören.« »Zum Teufel mit dem CDR. Ich hab es satt, dass man immer flüstern muss. Jeder weiß doch, dass das una mierda ist! Übrigens weiß ich genau«, fuhr er mit leiserer Stimme fort, »warum die das machen. Sie wollen euch von den Eltern entfernt halten, damit sie euch ungestört indoktrinieren können, damit sie euch Tag und Nacht ihre Ideologie einbläuen können. Es war schlimm, als Batista an der Macht war, aber Castro ist um kein Haar besser. Er hat uns betrogen, er hat uns eine Revolution versprochen und uns dann an die Russen verkauft. Wir sind diesen unsozialen, unrasierten Schurken ausgeliefert.« Wir saßen ein paar Minuten in Schweigen. Paco, ein Freund von gegenüber, kam, um meinen Vater zu einem Dominospiel einzuladen. »Morgen«, antwortete Vater. Dann sagte er zu mir: »Negrita, ich verspreche dir, dass wir nicht mehr lang hier bleiben. Wenn diese so genannten freedom flights uns nicht aus dem Land bringen, dann werde ich einen anderen Weg finden, diesem niederträchtigen Kommunismus zu entkommen. Das verspreche ich!« Mein Vater hatte immer Träume und Pläne; er gab sich nie geschlagen. Er hatte eine Vision, die ihm das Dunkel unserer ganzen Verluste erhellte. »Wenn wir hier herauskommen«, fuhr er fort, »gehen wir wieder jeden Samstag zum Angeln, wie früher. Es gibt große Flüsse in El Norte. Wir werden riesige Forellen fangen.« Die Vision, in einem freien Land eine riesige Forelle zu an-125-
geln, hielt mich aufrecht in den schwierigen Wochen und Jahren, die uns noch bevorstanden. Ich schloss einfach die Augen und stellte mir vor, wie unsere ganze Familie an einem smaragdgrünen Fluss angelte und rings um uns Blumen auf lieblichen Wiesen blühten. Als der Tag gekommen war, an dem wir ins Camp fahren sollten, begleiteten mich beide Eltern bis vor die Schule, wo wir uns sammelten. Vater trug meinen Rucksack und Mama eine Tasche, in der sie und Carmen mir allerhand Essbares eingepackt hatten. Sie waren tagelang beschäftigt gewesen, die Sachen aufzutreiben: kubanische Cracker, Brot, Gebäck, ein Glas Papaya in Sirup und Kondensmilch. Ich trug die Arbeitsstiefel, die wir von der Regierung bekommen hatten. Das harte Leder drückte an den Zehen, aber ich sagte nichts, um meine Eltern nicht zu beunruhigen. Ich hoffte, dass das Leder nach einem Arbeitstag und einigen Blasen nachgeben würde. Wenn nicht, würden vielleicht Regen und Schlamm die Stiefel aufweichen. Als wir ankamen, standen schon viele Schüler mit ihren Eltern am Schultor. Manche Eltern versuchten, den Kindern noch letzte Ermahnungen mitzugeben. Mein Vater schwieg gedankenvoll, meine Mutter wollte mich aufmuntern: »Wir besuchen dich jedes Wochenende.« Dann fuhr eine Kolonne großer Armeelastwagen an der Schule vor. Die Mütter brachen in Tränen aus, die Väter blickten bedrückt. Plötzlich wurde mir klar, dass das eine ernste Sache war. Wir fuhren nicht in ein Sommerlager oder dergleichen. Auf uns wartete harte Arbeit und strenge Überwachung durch Lehrer und Aufseher. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte jetzt schon Heimweh. Die Schulleiterin, Mrs. Garcia, eine stämmige kleine Frau mit strengem Blick, hielt eine Rede: »Compañeros, compañeras, dies ist eine große Zeit in unserer Geschichte. Am heutigen Tag -126-
beginnt eine neue Ära produktiver, kooperativer Arbeit für alle Bürger unseres Landes. Die Kinder werden Verantwortungsbewusstsein lernen und mit kommunistischem Gedankengut für eine bessere Zukunft wirken. Unsere Revolution braucht Menschen, die auf den Feldern arbeiten, damit wir unsere Wirtschaft fördern und den Yankees zeigen können, dass wir es auch allein schaffen, ohne ihre verdammte Hilfe.« Es war fast unmöglich, vom patriotischen Enthusiasmus dieser Rede nicht mitgerissen zu werden. Die Vorstellung unseres heldenhaften Einsatzes beflügelte mich. Ich sah die Schülerarmee vor mir, wie sie durch Reihen und Aberreihen von Tabakpflanzen marschierte. Unser geliebtes Land würde vor Hunger und Armut gerettet werden. Wir, die Kinder dieser Insel, waren die Helden. »Wir werden den gusanos zeigen, dass wir in Kuba Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität erreichen können«, fuhr Mrs. Garcia fort. Los gusanos, die Würmer, dachte ich bei mir. Was für ein Wort hatten sich die Kommunisten da für diejenigen ausgedacht, die nicht in ihre Partei eintreten wollten! Ob es mir passte oder nicht, ich war eine gusana, weil meine Eltern gegen die Politik von Fidel Castro waren. Es kam häufig vor, dass ich und andere Kinder in gleicher Lage von den Schulkameraden, wenn sie Streit suchten, »gusanos« gerufen wurden. Auch die Lehrer benützten das Wort gern als eine Art Strafe, wie Mrs. Oliveira, als sie entdeckte, dass ich eine Aufgabe nicht gemacht hatte. »Teresa, wo ist deine Hausaufgabe?«Ihr Blick war kalt. »Ich hab sie nicht gemacht«, sagte ich mit bebender Stimme. Alle Augen wandten sich mir zu. Ich errötete. »Warum nicht? Waren die Fragen zu schwierig?«, fragte sie sarkastisch. »Nein.« »Gut. Ich lese dir die erste Frage der Aufgabe vor und möch-127-
te, dass du sie beantwortest: In der Anfangsphase der Revolution führten Fidel Castro und seine Regierung Maßnahmen zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft durch. Nenne und beschreibe sie.« Natürlich wusste ich die Antwort. Eine dieser Maßnahmen war die Bodenreform. Die traurigen Gesichter meiner Großeltern Petra und José standen mir vor Augen und alles in mir sträubte sich dagegen, Mrs. Oliveiras Befehl nachzukommen. Vielleicht war es meine Art, gegen den Verlust der Farm zu protestieren. Ich beschloss jedenfalls, mich nicht zu einer Antwort zwingen zu lassen, auch nicht von einer Lehrerin. »Vorwärts, Teresa. Ich warte.« Ich merkte, wie Mrs. Oliveiras Ungeduld wuchs. Es war so still im Raum, dass man die Wanduhr ticken hörte. Alle warteten auf meine Antwort. »Gusana! Du bist eine gusana!«, schrie Mrs. Oliveira plötzlich so zornig, dass ich mich in meinem Stuhl krümmte. Ich erwartete, dass sie mich zur Direktorin schicken würde, aber stattdessen ging sie auf mich zu und sagte: »Ihr gusanos solltet von Rechts wegen euer Leben lang den Yankees die Autos waschen müssen.« Mrs. Garcias pathetisches »Patria o muerte, venceremos!« brachte mich wieder in die Gegenwart zurück. Sie hatte ihre Ansprache mit dem Schlachtruf der Castro-Revolutionäre beendet: »Vaterland oder Tod! Wir werden gewinnen!« Einige in der Menge riefen darauf: »Viva la Revolución!« Die übrigen schwiegen. Unsere Führerin, die schon in Arbeitskleidung war – dunkelgraue Baumwollhose, hellgraue Bluse, rotes Halstuch –, befahl uns, nach Klassen geordnet auf die Lastwagen zu steigen. Es gab trotzdem ein Riesendurcheinander. Eltern und Kinder irrten zwischen den Autos umher, Lehrer schrien sich die Lunge aus dem Leib, um Ordnung zu schaffen. Eine Mutter verletzte sich im allgemeinen Chaos, aber sie wollte nicht ins Kranken-128-
haus. »Ich will dabei sein, wenn meine Tochter abfährt«, sagte sie. Dann war meine Klasse an der Reihe. Zuerst umarmte ich meinen Vater kurz und fest. Er wandte sich ab und wischte sich die Tränen aus den Augen. Mutter hielt mich länger im Arm. Unter Tränen sagte sie: »Pass gut auf dich auf.« Ich riss mich von ihr los, solange ich noch die Kraft dazu hatte, und stieg zu den anderen Mädchen auf den Lastwagen. Ich versuchte mir einzureden, dies sei ein gewöhnlicher Landausflug. Ich wollte nicht an die kommende Nacht und an all die anderen Nächte denken. Mein Herz schlug laut und ich hatte einen Kloß in der Kehle. Die Motoren wurden angelassen, die Kolonne war bereit zur Abfahrt. Eltern und Kinder winkten und schrien. Die Trennung wurde uns schmerzlich bewusst. Als unser Wagen anfuhr, wäre ich am liebsten heruntergesprungen. Bald konnte man die Zurückgebliebenen nicht mehr erkennen, und ich setzte mich in eine Ecke der Ladefläche und weinte still. Eine Lehrerin namens Aurora stand auf und rief: »Viva la Revolución!« Ein paar Mädchen antworteten unsicher: »Viva la Revolución!« Ich machte mich in meiner Ecke klein und wäre gern unsichtbar gewesen. Niemand sollte meine Angst sehen. Es wird schon nicht so schlimm werden, sagte ich mir immer wieder vor wie ein Mantra. Aber allmählich bekam die Wut doch die Oberhand. Ich wollte nicht weg von meinen Eltern und ich wollte nicht auf den Tabakfeldern arbeiten. Am liebsten hätte ich der Lehrerin ins Gesicht gespuckt und sie vom Wagen geworfen. Die Wut wuchs in meinem Herzen wie ein Hurrikan, wenn er sich vor der Küste aufbaut. Ich hielt mir die Ohren zu, um keine kommunistischen Parolen mehr zu hören. Plötzlich bemerkte ich, dass Mariza, die in der Nähe saß, zitterte und schluchzte, die Augen schon ganz rot vom Weinen. Ich rückte näher zu ihr. -129-
»Ich habe solche Angst«, sagte sie. »Ich auch.« Als wir uns unserem Bestimmungsort näherten, nieselte es. Wir waren mindestens zwei Stunden unterwegs gewesen. Die Lastwagen schlingerten in der aufgeweichten roten Erde und hinterließen tiefe Fahrspuren. Ein plötzlicher Ruck, dann hieß es: »Wir sind da!« Ich schaute mich nach dem »neu errichteten Lager« um, von dem die Direktorin gesprochen hatte, sah aber nur ein paar schäbige Baracken mit Wänden aus Palmblattstängeln und Dächern aus Palmblättern. Die vier Gebäude hatten behelfsmäßige Türen an beiden Enden und überhaupt keine Fenster, so viel ich sehen konnte. Das Zentral- und Speisegebäude sah nicht besser aus. Willkommen im Urwald, dachte ich, als ich in den Schlamm heruntersprang. »Alle aufstellen!«, schrie eine hohe Stimme hinter dem Lastwagen. Ich packte Rucksack und Tasche und stapfte durch den Morast hinüber. Die Willkommensansprache handelte wieder vom revolutionären Bewusstsein. Ein krummbeiniger, wie ein Cowboy gekleideter Mann wurde uns als Benito Cordona vorgestellt. Er nahm seinen großen Hut ab und sagte, er sei der Feldaufseher und werde uns zeigen, wie man Tabakblätter pflücke. »Es ist keine leichte Arbeit, aber ich werde euch helfen.« Er schüttelte der Schulleiterin die Hand und trat beiseite. »Und jetzt gehen wir ins Lager«, sagte Mrs. Garcia und marschierte zur ersten Baracke. Wir folgten ihr in Reih und Glied wie beim Militär. Innen war es düster, weil es keine Fenster gab, und der Geruch nach nassen Palmblättern und Schlamm war ekelhaft. Auf dem nackten Erdboden standen Pfützen. Das stehende Wasser hatte Moskitos angezogen, die sich jetzt auf uns stürzten. Während wir durch die Baracke gingen, erklärte Mrs. Garcia, dass an den seitlichen Balken die Hängematten aufgehängt werden sollten. Ich fragte mich, wo diese Hängematten -130-
wohl waren. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fügte Mrs. Garcia hinzu: »Sobald wir mit der Besichtigung fertig sind, könnt ihr euch die Hängematten selbst machen.« Als einige Mädchen jammerten, sie könnten in Hängematten nicht schlafen, sagte sie nur: »Ihr werdet es lernen. Dies hier ist kein Urlaubsort in den USA.« Als Nächstes wurden die Toiletten und Duschen besichtigt, die etwa dreißig Meter von den Schlafbaracken entfernt waren. Auch hier kein Gipfel architektonischer Kreativität. Die Klohäuschen bestanden jeweils aus vier Pfosten, zwischen denen Sackleinwand gespannt war. Nach oben waren sie offen. In jedem Häuschen gab es ein tiefes Loch und einen groben Sitz aus Beton. Keine Spur von Toilettenpapier. Ich nahm an, wir müssten unser eigenes Papier mitbringen. Das war allerdings keine Überraschung, denn Toilettenpapier war eines der notwendigen Dinge, die die Kubaner entbehren gelernt hatten. Im Zeichen der Revolution mussten die Zeitungen für diesen Zweck herhalten. Die Duschen waren um kein Haar besser – eine Reihe kleiner Kabinen mit nacktem Erdboden und Rupfenwänden. Wie sollten wir da unsere Füße sauber bekommen? Ich sah keine Wasserleitungen oder Duschköpfe und das konnte nur heißen, dass es hier sehr urtümlich zuging: Man holte sich das Wasser in Eimern und goss es sich über den Kopf. Es fragte sich nur: Wo bekam man Wasser? Später auf unserem Rundgang erfuhren wir, dass ein Bach am Lager vorbeilief und dass es bei der Küche einen Wassertank gab. Schließlich wurden wir hinter die Essbaracke geführt, wo ein großer Stapel nasser Jutesäcke lag. Mrs. Garcia und zwei Lehrerinnen, Mrs. Molina und Mrs. Zanabría, machten sich daran, uns zu erklären, wie man aus einem Jutesack eine Hängematte machen konnte. »Versucht, einen einigermaßen trockenen Sack zu finden«, begann Mrs. Zanabría. Leicht gesagt! Ich konnte mir nicht vor-131-
stellen, dass es in dem Haufen auch nur einen trockenen Sack gab – hier war alles völlig durchnässt. »Dann müsst ihr eine Schnur durch den Saum an beiden Enden des Sacks ziehen«, erklärte Mrs. Molina. Es klang sehr einfach, aber wir waren alle zu müde, um es richtig zu machen. Die Lehrerinnen versuchten zu helfen, so gut es ging, aber tatsächlich hatten auch sie keine Ahnung, wie man aus so ungeeignetem Material eine bequeme Hängematte machen könnte. Mein Vater hatte mir eine andere Methode gezeigt. Ich starrte meinen Sack an und überlegte, ob ich das erwähnen sollte. Schließlich ging ich zu Mrs. Garcia und sie erlaubte mir, es so zu machen, wie mein Vater es mir gezeigt hatte. Schwierig dabei war nur, dass es keinerlei Werkzeug gab. Ich brauchte etwas, um ein paar Äste abzuschneiden. Nach langer Suche fand ich eine rostige Machete im Schlamm, nahm einen Stein und begann die Schneide damit zu schärfen. Durch diese Schläge wurden die anderen Mädchen aufmerksam und bald bildete sich ein Kreis um mich und wollte sehen, wie ich es machte. Ich war ganz stolz und auch ein bisschen nervös. Erst schnitt ich zwei starke Äste ab und schob sie durch die Säume am Sack. Dann befestigte ich die Schnüre an den Enden der Äste. So wurde die Hängematte breit und bequem. Noch nie war ich meinem Vater so dankbar gewesen. Er war ein praktischer Mann und hatte José und mir schon immer Dinge beigebracht, die er für nützlich hielt. Zu meinem fünften Geburtstag hatte er mir zum Beispiel ein Fahrrad geschenkt. Es war ein Jungenfahrrad und hatte keine Stützräder. Mutter sagte, er solle es umtauschen, aber mein Vater blieb fest: »Die Stützräder würden bloß verhindern, dass sie fahren lernt; sie braucht keine.« Am nächsten Tag fuhr er mit mir aufs Land, damit ich auf einer ungepflasterten Straße üben konnte. Er stellte das Rad auf -132-
den Boden und sagte lächelnd: »Steig auf!« Aufgeregt und ängstlich zugleich setzte ich mich auf den Sattel. »Das Wichtigste ist, dass man keine Angst hat«, sagte Vater. »Wenn du hinfällst, dann steh auf und versuch es wieder. Also los!« Eine Zeit lang hielt er das Rad fest und lief nebenher. Als ich gelernt hatte, das Gleichgewicht zu halten, ließ er los und sah zu, wie ich die Straße auf und ab fuhr und an Sicherheit gewann. Ich stürzte ziemlich oft dabei und bekam blutige Knie und Ellbogen, aber das war nicht der Rede wert. Vater half mir immer wieder aufs Rad. Während ich die Schnüre an die Hängematte band, dachte ich darüber nach, was mich in diesem grässlichen Lager wohl erwartete. Hier gab es sozusagen keine Stützräder und auch keinen Vater, der mit starken Armen zu Hilfe kommen konnte. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so klein und einsam gefühlt.
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10
IM LAGER
GEGEN MITTAG KAMEN wir hungrig und erschöpft von den Tabakfeldern zum Lager zurück. Wir mussten uns in einer Schlange zur Essensausgabe anstellen. Die Füße taten mir weh in den unbequemen Arbeitsstiefeln, auf meinen Fußsohlen hatten sich Blasen gebildet. Die Ersten saßen bereits mit ihren Tabletts am Tisch. Sie stürzten sich durchaus nicht gierig auf ihr Essen und das überraschte mich nicht. Das Essen im Lager war ungenießbar, schlecht gekocht und teilweise sogar verdorben. Heute kam ein bisschen Bewegung in die Szene. Ein Mädchen namens Carla spuckte gleich den ersten Löffel von ihrem Essen wieder aus und schrie: »Zum Teufel, das schmeckt ja wie Schweinefutter!« Augenblicklich wurde ihr befohlen, zu schweigen und aufzuessen. Schließlich bekam auch ich mein Essen und setzte mich zu meinen Freundinnen, die murrend auf ihren Tellern herumstocherten. Und das war kein Wunder. Auf der Kichererbsensuppe schwammen kleine gelbe Würmer und das kleine Häufchen Reis daneben roch wie nasse Kartoffelsäcke. Außerdem gab es noch ein Stückchen Maniok, das einzig Essbare auf dem Teller. Ich aß den Maniok und ein paar Löffel Reis, aber die Suppe bekam ich nicht hinunter. Ich versuchte, die Würmer abzuschöpfen, aber es kamen immer wieder welche an die Oberfläche. Mir wurde schlecht. Ich schloss die Augen, um das Essen nicht mehr -134-
sehen zu müssen. Das konnte doch nur ein Albtraum sein; ich hoffte, bald daheim aufzuwachen und gebratene Bananen zu riechen und die schwarzen Bohnen, die Carmen so wunderbar zubereitete, mit einer Prise Kreuzkümmel und frischem Koriander aus dem Garten. Einige Mädchen fingen an, mit den Löffeln auf die blechernen Tabletts zu schlagen und zu skandieren: »Wir haben Hunger, wir haben Hunger!« Der Aufstand wurde schnell unterdrückt. Mrs. Zanabría befahl den Mädchen, hinauszugehen und draußen zu warten. Im Speisesaal war jetzt außer dem Summen der Fliegen kein Laut mehr zu hören. Die Aufrührerinnen mussten zur Strafe abspülen. Nach dem Essen bekamen wir eine ausführliche Predigt über die Lagerregeln zu hören. »Ihr müsst den Lehrerinnen immer gehorchen. Jeder Ungehorsam wird streng bestraft. Antikommunistisches Verhalten oder Sabotage der Ziele dieses Programms kann mit Ausschluss vom Lager und dauerhaftem Ausschluss von der Schule bestraft werden.« Mrs. Garcia kramte einen Notizzettel hervor. »Ich habe von den Brigadeführerinnen mehrere Beschwerden wegen Verspätung erhalten. Viele stehen nicht rechtzeitig auf. Um fünf Uhr wird geweckt und ihr habt zwanzig Minuten, um euch anzuziehen und in Reih und Glied aufzustellen. Entschuldigungen gibt es nicht. Nachtruhe ist um neun. Alle müssen zu dieser Zeit in ihren Hängematten sein. Taschenlampen sind nicht erlaubt. Wenn das Licht in der Baracke ausgeschaltet wird, darf nicht mehr gesprochen werden. Gestern Nacht wurde in eurer Baracke geflüstert und gekichert. Wenn das noch einmal passiert und die Schuldigen nicht ermittelt werden können, wird die ganze Baracke bestraft.« Mrs. Garcia kam zum Ende: »Eure Brigade ist jetzt die einzige Familie, die ihr habt, darum müsst ihr zusammenarbeiten, so gut ihr könnt.« -135-
Am Ankunftstag waren wir in Brigaden eingeteilt worden, die nach bekannten Revolutionären benannt waren. Ich war mit vierundzwanzig anderen Mädchen in der Brigade Ernesto Che Guevara. Unsere Führerin war eine Lehrerin namens Elvira Cordoba. Nach dem Essen wurden wir zu einer Siesta in unsere Baracken geschickt. Ich lag in meiner Hängematte und versuchte einzuschlafen, als ich jemand weinen hörte. Marta saß auf dem Lehmboden und schluchzte. »Marta, was ist los?«, fragte ich, aber schon hörte man die Stimme von Mrs. Cordoba, die zum Aufstellen rief. »Los, Marta, wir müssen gehen«, sagte ich. »Ich gehe nicht. Ich hasse dieses Lager! Ich will heim! Ich möchte in meinem eigenen Bett schlafen.« Ich zog meine Stiefel an und setzte den Hut auf. Marta würde hoffentlich kapieren, dass hier nicht der richtige Ort für Szenen war. »Mach fix, bevor Mrs. Cordoba kommt. Die interessiert sich überhaupt nicht für deine Gefühle.« Und schon war Mrs. Cordoba da. »Was ist los?«, fragte sie streng. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte Marta. »Wenn du dich nur vor der Arbeit drücken möchtest, dann denk daran, dass ein solches Verhalten Konsequenzen hat.« Sie hob Martas Gesicht hoch und schaute ihr in die Augen. »Du trittst jetzt sofort da draußen an. Und wenn es dir später immer noch schlecht geht, dann melde dich. Dann kannst du Küchendienst machen. Alles klar, kleine Prinzessin?« Sie packte Marta am Arm und zog sie in die Höhe. Marta leistete keinen Widerstand. Ich war so wütend, dass ich Mrs. Cordoba am liebsten einen Tritt gegeben hätte. Marta sagte: »Haben Sie überhaupt kein Mitgefühl?« -136-
Da wurde Mrs. Cordoba erst richtig zornig. Sie wollte ihre Macht demonstrieren und gleichzeitig alle anderen einschüchtern und so schleppte sie Marta mit Gewalt aus der Baracke. Niemand traute sich, ein Wort zu sagen und bald waren wir auf dem Weg zur Tabakplantage. Die Stimmung war schlecht und so mussten wir zur Aufheiterung revolutionäre Parolen schreien: »Cuba sí, Yanqui no! Arriba la revolución!« Zum Teufel damit, dachte ich. Ich hatte die Revolution, Marx und Lenin und den ganzen Kommunismus gründlich satt. Kommunismus bedeutete für mich hauptsächlich, dass man nicht frei war. Dass wir in der Landwirtschaft arbeiteten, war kein freiwilliger patriotischer Akt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich es bestimmt nicht gemacht. Ich wollte bei meiner Familie sein und nicht zum Wohl des Landes Tabakblätter pflücken. Auf der Plantage wurde jeder Brigade ein bestimmter Abschnitt zugeteilt. Zwei männliche Aufseher zeigten uns noch einmal, wie man die Blätter von den bis zu eineinhalb Meter hohen Tabakstauden pflücken musste. Man durfte nur die orangefarbigen Blätter nehmen, die anderen wurden erst später geerntet. Die Blätter mussten sorgfältig aufeinander gelegt und, wenn der Stapel hoch genug war, ans Ende des Feldes gebracht werden. Gegen Abend kamen Lastwagen und brachten die Ernte in große Scheunen zum Trocknen. Anfangs kam mir das ganz leicht vor, aber nach einigen Tagen bekam ich von dem ewigen Bücken Kreuzschmerzen. Und wenn man die samtige Oberfläche der dicken, ovalen Tabakblätter berührte, trat eine teerige Flüssigkeit aus. Nach einigen Stunden Arbeit hatte ich überall schwarze Flecken davon; ich fühlte die Flüssigkeit in Wimpern, Ohren und Haaren und hatte ihren bitteren Geschmack auf der Zunge. In einer kurzen Arbeitspause lief ich dahin, wo es Wasser gab, und goss es mir über das Gesicht, um den üblen Geschmack loszuwerden. Aber es half nicht viel. Dann aß ich die Portion -137-
Matahambre, die jedem Mädchen zugeteilt wurde. Matahambre heißt »Hungertöter« und ist ein süßes Gebäck aus Teigresten. Was wir im Lager davon bekamen, war oft ranzig. Aber der Matahambre nahm wenigstens für eine Zeit den bitteren Tabakgeschmack aus dem Mund. Wenn Mrs. Garcia die Arbeit für beendet erklärte, waren wir völlig erschöpft und kaum noch imstande, ins Lager zurückzumarschieren. Meine Füße waren von dem harten Leder der Stiefel so wund gerieben, dass jeder Schritt eine Qual war. Viele Mädchen hinkten. Selbst Mrs. Cordoba kam nicht mehr ganz so forsch daher. Zum Duschen brauchte man viel Geduld. Neben dem Wassertank gab es Blecheimer und große leere Suppendosen. Zuerst mussten wir uns um Wasser anstellen, dann mussten wir uns in die Schlange vor den Duschkabinen einreihen. Die Stimmung wurde gereizt, weil es so lang dauerte. Es gab auch lautstarke Beschwerden, weil keine Seife vorhanden war. Die Brigadeführerinnen sollten etwas unternehmen. Ich hatte Glück, weil meine Mutter mir ein Stück Seife eingepackt hatte. Manchmal gab es auch viel Gekreisch und Aufregung, wenn eine Schlange oder ein Frosch eins der duschenden Mädchen erschreckte. Das Abendessen war eine Wiederholung des Mittagessens – Kichererbsensuppe mit Würmern, stinkender Reis und ein Stück Maniok. Hinzu kam ein Löffel Dosenfleisch, das man in Kuba carne rusa, russisches Fleisch, nannte. Dieses Dosenfleisch in fettiger, rötlicher Sauce war erst vor kurzem aus Russland eingeführt worden. Man erzählte sich auf der Insel, es handle sich um Pferdefleisch. Mir war das gleich. Meinetwegen hätte es auch Katzenfleisch sein können, so hungrig war ich. Ich aß meine kleine Portion so langsam wie möglich, um länger etwas davon zu haben. Marta setzte sich neben mich. Sie hatte nicht nur ihr Essenstablett, sondern auch eine kleine brau-138-
ne Tüte dabei. »Galletas Cubanas«, sagte sie. »Nimm dir eine, aber nur eine.« Kubanische Cracker sind weiß, knusprig und ungefähr handtellergroß und man kann sie zu allem essen. »Danke«, sagte ich gerührt. Galletas waren in unserem Hungercamp Gold wert. »Jetzt sind wir quitt«, sagte Marta. »Du hast mir gezeigt, wie man eine Hängematte macht, so wie dein Vater es dir beigebracht hat. Jetzt kann mein Vater sich revanchieren. Er schmuggelt jeden Tag in seinen Taschen ein paar Cracker aus dem Betrieb heraus.« Nach dem Essen war Unterricht. Wir marschierten ungefähr achthundert Meter die ungeteerte Straße entlang zu einer Tabaktrockenscheune. Die Scheune war zwanzig Meter hoch und in der Dunkelheit ziemlich gruselig. Sie war wie unsere Baracken mit den fächerförmigen Blättern der Guano-Palme gedeckt und unterm Dach hausten Fledermäuse. In dieser »Schule« war alles improvisiert. Eine Propangaslampe war die einzige Beleuchtung und es gab keinerlei Möbel. Wer keinen Holzklotz fand, musste auf dem Boden sitzen. Wir waren müde und es war sehr heiß in dem Schuppen. Dazu kam noch der starke Geruch der hoch unterm Dach trocknenden Tabakblätter. Es hätte gereicht, um ein Pferd einzuschläfern. Wir hatten die größte Mühe, die Augen offen zu halten. Den Heimweg absolvierten wir im Halbschlaf. Es hatte zu nieseln begonnen, die Luft war schwer von Feuchtigkeit und es roch nach nassem Gras. Müde. Ich war so todmüde. Der Gedanke an mein bequemes Bett zu Hause und an frische Leintücher machte mich ganz krank. Trotz meiner Müdigkeit konnte ich an diesem Abend nicht einschlafen. Störende Geräusche und Gerüche hielten mich wach, der Regen trommelte aufs Dach, dazu kamen meine Sorgen und Ängste. Die Baracke kam mir wie ein Gefängnis vor. In ihren dunklen Winkeln schienen mir alle möglichen Schrecknis-139-
se zu lauern. Ich konnte es keinen Augenblick länger aushalten. Ich glitt aus meiner Hängematte, tastete nach meinen Kleidern, die an einem Nagel hingen, und zog mich möglichst leise an. Ich packte ein paar Kleidungsstücke und ein bisschen was zu essen ein, nahm die Stiefel in die Hand und schlich in Richtung Ausgang. Plötzlich blendete mich der grelle Schein einer Taschenlampe. Mein Herz machte einen Sprung. »Wo willst du hin?« Das war die Stimme von Mrs. Cordoba. Ich war so erschrocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Mrs. Cordoba zündete die Gaslampe an. Die meisten Mädchen waren inzwischen aufgewacht und starrten uns an. »Gib Antwort! Wo wolltest du hin?« Mrs. Cordoba griff nach meinem Rucksack und untersuchte den Inhalt. »Ich wollte auf die Toilette«, log ich, aber mir war schon klar, dass ich damit nicht durchkommen würde. »Man braucht keinen Rucksack voller Kleider, um mitten in der Nacht auf die Toilette zu gehen. Du wolltest weglaufen! Teresa wollte weglaufen!« Sie schrie so laut, dass alle es hörten. »Du kleine gusana! Wacht alle auf! Ich werde euch zeigen, was passiert, wenn jemand weglaufen will! Steht alle auf und seht, wie Verräter behandelt werden!« Ich schaute mich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die Gesichter der umstehenden Mädchen waren bleich vor Angst. »Alle mitkommen!«, befahl Mrs. Cordoba. Sie ging zum Ausgang und ich folgte ihr ohne Widerrede. Die anderen Mädchen schlossen sich an. Mrs. Cordoba kam mir vor wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch; ihr Zorn würde über mich niedergehen wie Lava und heiße Asche und würde mich vernichten. Ich wusste nicht, was sie mit mir vorhatte, aber ich traute ihr alles zu. Der ganze kommunistische Hass auf die gusanos würde sich auf mich entladen. Der Regen hatte nachgelassen. Die Luft war kühler geworden und der vertraute Geruch nach nassem Gras mischte sich mit -140-
dem süßen Duft des wilden Jasmins und der Tabakblüten. Ich spürte die feuchte Erde unter meinen bloßen Füßen und für einen Augenblick schwand meine Angst. »La tierra es la madre«, die Erde ist die Mutter, hatte Großmutter Petra einmal zu mir gesagt, als wir Maiskolben fürs Mittagessen vom Feld holten. Der Gedanke tröstete mich ein wenig. Die Erde würde mich beschützen. »Zieh dich aus!«, befahl Mrs. Cordoba. »Hörst du nicht? Du sollst dich ausziehen!« Ein paar Freundinnen, unter ihnen Marta, Mariza und Coki, protestierten. Mrs. Cordoba ignorierte sie. »Runter mit den Kleidern!«, befahl sie. »Du wirst zehnmal nackt um das Lager laufen. Vorwärts! Zieh dich aus!« Im Schein von Mrs. Cordobas Taschenlampe, vor aller Augen, musste ich mich also nackt ausziehen. Es war vollkommen still, nur gelegentlich hörte man ein nervöses Kichern. Ich hasste Mrs. Cordoba mit solcher Inbrunst, dass ich ihr am liebsten die Kleider vom Leib gerissen hätte. In den Gesichtern meiner Freundinnen las ich Mitleid und Anteilnahme, aber es gab auch überzeugte Jungkommunistinnen in der Gruppe, die mit Mrs. Cordoba und dem System sympathisierten. Die genossen die Szene und gönnten mir mein Unglück. Aus der Ferne hörte man Eulenschreie. Die Eulen kündigen den Tod an, hatte mir Carmen erzählt. Aber ich fühlte mich dem Nachtvogel verwandt; ich stellte mir vor, ich sei selbst eine Eule und könne fliegen und ich flöge so hoch, dass keiner mich erreichen könnte. »Also, Teresa, wir warten auf den Start.« Mrs. Cordobas Stimme brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich war kein Vogel und konnte nicht fliegen, aber ich würde es trotzdem überleben. Ich gönnte Mrs. Cordoba nicht den Triumph, mich vor versammelter Mannschaft weinen oder zusammenbrechen zu sehen. Ich würde Haltung bewahren und laufen. Wieder hörte ich den Eulenschrei, und ich lief los. -141-
Einige Mädchen feuerten mich an, klatschten und schrien: »Vorwärts, Teresa! Du schaffst es!« Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie eine Sportlerin im Stadion. Aber die Bahn war nicht so gut. Ich trat auf Steine, Kiesel, Zweige, ja sogar auf Drahtstücke und Nägel, die vom Bau des Lagers noch herumlagen. Die Füße taten mir weh, aber ich rannte weiter. Es waren ungefähr vierhundert Meter um das Lager herum, also musste ich im Ganzen etwa vier Kilometer laufen. Das traute ich mir schon zu. Ich stellte mir vor, ich liefe vom Lager heim, und dieser Gedanke verlieh mir ungeheure Energie. Wenn ich wieder bei meiner Familie sein könnte, würde ich gern hundert Mal ums Lager laufen. Ich hatte solche Sehnsucht nach ihnen allen! Ich rannte und rannte und vergaß darüber Zeit und Ort. Meine Füße schmerzten nicht mehr. In meiner Phantasie brachte mich jeder Schritt der Heimat näher. Ich flog wie ein Vogel. Ein Lichtstrahl brachte mich zum Halten. Mrs. Cordobas Gesicht hob sich aus dem Dunkel. »Zehn Runden, jetzt ist es genug«, sagte sie. »Das wird dir eine Lehre sein.« Sie verschwand in der Baracke. Marta umarmte mich, Lucia brachte mir Wasser, und Coki half mir beim Anziehen. Ein paar andere Mädchen kamen langsam näher, darunter Angela Jimenes, die an unserer Schule die Anführerin der UJC war, der Unión de Jóvenes Comunistas. »Schau mal, wer da lauert«, sagte Marta laut genug, dass Angela sie hören konnte. »Lass, Marta, wir brauchen keine neuen Probleme«, sagte ich und ging auf die Baracke zu. »Verräterin!«, schrie Angela. »Du bist eine Verräterin und eine gusana, genau wie deine ganze Imperialistenfamilie!« »Hör nicht hin, Teresa«, sagte Coki. »Sie will dich nur in Schwierigkeiten bringen.« -142-
»Dein Großvater ist ein Dieb!«, schrie Angela. Das war zu viel für mich. Ich stürzte mich auf sie und packte sie am Kragen ihres blauen Uniformhemds. Sie war ein gutes Stück größer als ich, aber mit all meinem aufgespeicherten Zorn fühlte ich mich wie ein Riese. »Das wirst du mir büßen. Du hast meine Familie beleidigt!«, brüllte ich und gab ihr einen so heftigen Stoß, dass sie hinfiel. Schnell bildete sich ein Kreis um uns. Angela schlug mir die Faust ins Gesicht. Rasend vor Wut schlug ich zurück und traf sie so fest auf die Nase, dass sie zu bluten begann. So ging es weiter, bis mich plötzlich eine starke Hand am Kragen packte. Sie gehörte Carmita, einem der größten Mädchen im Lager. Sie wohnte in unserer Nachbarschaft, und wir waren seit jeher Freundinnen gewesen. »Hört auf«, rief sie und trat zwischen Angela und mich. Sie war so stark, dass sich niemand in der Schule je mit ihr anlegte. »Jetzt reicht’s. Gebt euch die Hand und dann wollen wir endlich schlafen.« Um keinen Preis hätte ich Angela die Hand gegeben, und auch sie schaute mich feindselig an. Aber wir gingen in die Baracke. In meiner Hängematte horchte ich auf den lauten Schlag meines Herzens und dachte daran, was Carmen mir erzählt hatte: dass man die Geister mit verschiedenen Trommelrhythmen rufen konnte. Ich brauchte dringend Hilfe aus jener anderen Welt. Der Kampf mit Angela war noch nicht ausgestanden. Ich stimmte mich auf meinen eigenen Herzschlag ein und sank immer tiefer, dem Schlaf entgegen. Das hatte mich Carmen gelehrt. »Atme, niña, atme. Yemayá beobachtet dich und wird dich in die Arme nehmen«, hatte sie immer gesagt, wenn ich nicht schlafen konnte. »Hab keine Angst, sondern lausche auf deinen Herzschlag. Deine eigene kleine Trommel bringt dich zum wässrigen Haus Unserer Lieben Frau Yemayá.« -143-
Ein Blitz erhellte die Nacht, dann rumpelte in der Ferne der Donner. Ich atmete tief, beruhigt durch die Umarmung von Yemayá. »Negrita, du bist vom Donner gesegnet.« Ich schloss die Augen und hörte diese Worte meiner Großmutter Patricia. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich einen großen, muskulösen Schwarzen an meiner Hängematte stehen. Er hatte einen roten Umhang um die Schultern, sein Gesicht war mit roten und weißen Streifen bemalt und von dem Leopardenfell um seine Hüften hing ein langes Schwert. Er sah wie ein afrikanischer Krieger aus. Der Mann streckte einen Arm über mich hin und bewegte ihn, eine Rumbakugel schüttelnd, über meinen ganzen Körper. Dann trat er zurück und begann zu tanzen. Ich war mir nicht sicher, ob das ein Traum war oder Wirklichkeit. Ich rieb mir die Augen und als ich sie wieder öffnete, war der Mann verschwunden. Der Donner war leiser geworden, das Gewitter entfernte sich. Ich hörte ein Flüstern im Ohr: »Changó. Er heißt Changó.«
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LAS CAPITANAS
IN DEN RUHIGEN MINUTEN vor dem Wecken grübelte ich in meiner Hängematte über Mrs. Cordoba und Mrs. Garcia nach. Sie waren so ganz anders als Carmen, als meine Mutter und als meine Großmütter Petra und Patricia. Ihr bloßer Anblick jagte mir schon Angst ein. Diese zwei Frauen, las capitanas, hielten uns ständig Strafpredigten, zankten uns aus und drohten uns mit den Konsequenzen, die wir zu erwarten hatten, wenn wir nicht gehorchten. Sie benahmen sich wie Schleifer in der Armee und hatten vollkommene Macht über uns. Sie schickten uns von einem Feld aufs andere und wir hatten überhaupt nichts zu sagen. Gehorsam und gute Arbeitsleistung wurden von uns verlangt, für etwas anderes war keine Zeit – nicht zum Lesen, nicht zum Spielen, nicht einmal zum Denken. Am Morgen nach meinem nächtlichen Lauf lehnte Mrs. Cordoba an der Tür unserer Baracke, die Hände in den Taschen ihrer olivgrünen Militärhose. In der Schule ging das Gerücht um, sie habe im ersten Revolutionsjahr an der Alphabetisierungskampagne teilgenommen. Hunderte junger Leute waren damals in die abgelegensten Winkel der Sierra Maestra gezogen, um den Leuten dort das Lesen und Schreiben beizubringen. Jetzt erfüllte Mrs. Cordoba in ihrer ausgeblichenen Uniform eine andere Aufgabe. »Guten Morgen«, sagte sie mit zusammengezogenen Brauen. -145-
Sie war ohnehin schon hässlich genug, groß und knochig und mit einem Gesicht voller Aknenarben. Der finstere Gesichtsausdruck machte alles noch schlimmer. Ich erwiderte ihren Gruß. »Hast du letzte Nacht gut geschlafen?«, fragte sie. Ich wollte weggehen, aber sie packte mich am Arm und zwang mich, sie anzuschauen. »Hast du gut geschlafen?«, wiederholte sie mit lauter Stimme. Ich erwiderte ihren Blick, bis sie mich wegschob. »Du benimmst dich nicht gerade vernünftig. Ich kann dir eine Menge Schwierigkeiten machen. Dir und deiner ganzen gusanoFamilie!« Das traf mich an einer empfindlichen Stelle. Ich ballte die Fäuste. »Warum behandeln Sie mich so?«, fragte ich und sah ihr in die Augen. »Weil du letzte Nacht versucht hast fortzulaufen, wie alle diese gusanos, die in die USA abhauen. Sie verraten die Revolution! Was glaubst du wohl, wie es euch bei den Yankees geht? Denkst du, dass da alles ganz einfach sein wird?« Ich schwieg. Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Stein, dass er hoch in die Luft flog. Dann bohrte sie mir ihren Finger in die Brust. »Es wird dir noch Leid tun, denn dort wächst das Geld nicht auf Bäumen, wie ihr gusanos denkt. Und wenn du die Sprache nicht sprichst, kannst du nur Spülerin oder Putzfrau werden.« Ich fühlte ihren Hass geradezu körperlich. Ich bereute meinen Fluchtversuch. Das war wirklich ziemlich dumm von mir gewesen. »Ich möchte zu gern sehen, wie ihr die niedrigen Arbeiten für die Yankees macht. Es ist höchste Zeit, dass ihr einmal merkt, was Unterdrückung ist.« Ich beschloss, nicht mehr zuzuhören. Ich sagte mir vor: Ich bin ein Felsen; ich habe keine Ohren, um sie zu hören, und keinen Mund, um meinen Zorn auszudrücken. »Die Zeiten haben sich geändert, jetzt sind alle gleich und das -146-
Land gehört dem Volk. Früher hat deinen Großeltern die halbe Stadt gehört. Als ich ein Kind war, ist dein Großvater José jeden Nachmittag bei uns vorbeigeritten. Er saß auf seinem Araber wie ein Fürst, trug ein gestärktes Hemd und glänzende Reitstiefel aus Italien. Und wohin ritt dieser reiche, elegante Mann?« Sie lachte. »Später erfuhr ich, dass Don José auf dem Weg zu einer Prostituierten war.« »Nein!«, schrie ich und hielt mir die Hände über die Ohren. »Nein! Lassen Sie mich und meine Familie in Frieden!« »Mrs. Cordoba, was ist hier los?« Mrs. Garcia kam heran. »Was tun die Mädchen alle hier? Sie sollten schon beim Frühstück sein!« »Teresa wollte heute Nacht davonlaufen. Glücklicherweise war ich wach und ertappte sie dabei.« »Das wird Konsequenzen haben«, sagte Mrs. Garcia. »Teresa ist bereits bestraft worden.« »Ohne dass ich gefragt wurde?«, sagte Mrs. Garcia missbilligend. »Ich hielt es nicht für nötig.« »Mrs. Cordoba, das ist eine ernste Angelegenheit. Wir werden die Sache in meinem Büro besprechen.« Sie wandte sich zu uns. »Marsch zum Frühstück! Du auch, Teresa.« Ich hatte das Gefühl, ich müsse für mich sprechen: »Mrs. Garcia, sie hat mich gezwungen, nackt und ohne Schuhe ums Lager zu laufen.« Mrs. Garcia wandte sich zu Mrs. Cordoba: »Was soll das heißen?« »Sie lügt! Ich werde Ihnen alles erklären«, sagte Mrs. Cordoba. »Ich lüge nicht! Fragen Sie die anderen Mädchen. Sie haben zugesehen, wie ich im Regen gelaufen bin.« Coki sagte: »Ja, das stimmt.« -147-
»Das ist eine sehr unangenehme Sache, Mrs. Cordoba. Kommen Sie mit in mein Büro. Teresa, wir sprechen uns noch.« Mein Freundinnen umringten mich, als wir zum Frühstück gingen. Sie umarmten mich und lobten mich für meinen Mut. Mrs. Cordoba sei eine boshafte, verbitterte alte Jungfer, sagte Coki. Wir gingen in den Speisesaal und bekamen unser übliches Frühstück aus wässriger Milch, die aus Milchpulver gemacht war und wie Kalk schmeckte, und einem Stück trockenem Brot. Ich aß wortlos, weil mir das bevorstehende Gespräch mit Mrs. Garcia im Magen lag. Mrs. Lopez, die Geografielehrerin, setzte sich neben mich. Sie war eine Mulattin mit honigfarbener Haut, grünen Augen und einer angenehmen Stimme. Es war bekannt, dass Mrs. Lopez nicht der kommunistischen Partei angehörte und unter ihren Verwandten »unerwünschte Elemente« hatte, das heißt Leute im Ausland, mit denen sie im Briefwechsel stand. Das Erziehungsministerium hatte sie gewarnt, sie könne ihre Stellung verlieren. Das bedeutete: keine Korrespondenz mehr mit Menschen jenseits des »roten Vorhangs«. »Teresa«, sagte Mrs. Lopez, »wenn du mit jemandem sprechen möchtest, komm zu mir. Ich bin in der Baracke Nr. 2.« »Danke, Mrs. Lopez. Ich werde daran denken«, sagte ich höflich. Aber ich wusste, dass ich sie nicht um Hilfe bitten würde. Wie sollte ich wissen, wem ich trauen konnte? In diesem Lager ging es genauso zu wie im ganzen Land, wo unschuldige Menschen ins Gefängnis geworfen wurden. Meinem Onkel Elio war es so gegangen. Er wurde unmittelbar nach Castros Sieg nach Isla de Pinos geschickt, eins der größten politischen Gefängnisse Kubas. Er war zu dreißig Jahren Haft verurteilt worden wegen des »Verbrechens«, ein Angehöriger von Batistas Polizei gewesen zu sein. Im ersten Jahr hinter Gittern wurde Onkel Elio so schwer -148-
misshandelt, dass er fast ein Bein verlor. Sein Aufseher brach ihm mit wütenden Tritten die Knochen und ließ ihn dann ein paar Tage lang einfach liegen. Ich wollte jedenfalls nichts riskieren, aber ich freute mich doch, dass Mrs. Lopez es wagte, sich an diesem Morgen neben mich zu setzen. Es waren ja nicht alle Lehrerinnen so schlimm wie Mrs. Cordoba. Ich raffte meinen Mut zusammen und ging zu Mrs. Garcia. Mrs. Garcia sah auch ziemlich einschüchternd aus mit ihrer olivgrünen Uniform, den schwarzen Militärstiefeln und dem kurzen Haarschnitt. Aber sie blickte nicht unfreundlich drein. Ihr kleines Büro im Verwaltungsgebäude war vollgestopft mit Schulbüchern und Kisten. An den Wänden hingen Fidel Castro, Che Guevara und Lenin. Mrs. Garcia deutete auf eine Bank ihrem Schreibtisch gegenüber und ich setzte mich. »Ich habe mit Mrs. Cordoba gesprochen und jetzt möchte ich deine Version hören. Teresa, ich kenne dich seit der ersten Klasse. Du warst immer eine gute Schülerin und hast nie Probleme gemacht. Ich war überrascht, als ich die Geschichte von heute Nacht hörte. Die Angelegenheit könnte für dich und deine Familie schlimme Folgen haben.« Schon wieder meine Familie, dachte ich. Sie fuhr fort: »Das ist mir nicht gleichgültig. Wir sind zwar verschiedener Meinung, was die Politik angeht, aber unsere Familien verkehren seit Generationen miteinander.« Ich merkte, dass sie an meiner Version der Geschichte gar nicht interessiert war. Sie redete selbst zu gern, auch wenn das Publikum nur aus mir bestand. »Du weißt, wie wichtig es für die Revolution und für Kuba ist, dass wir alle Verantwortung übernehmen und bei der Lösung unserer wirtschaftlichen Probleme zusammenarbeiten.« Mrs. Garcia wartete auf eine Reaktion, aber ich schwieg. Diese Phra-149-
sen hatte ich schon zu oft gehört. »Aber es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten. Möchtest du dieses Land wirklich verlassen, Teresa?« Das kam mir unerwartet. Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. »Wie gesagt, es gibt andere Möglichkeiten. Und du musst auf jeden Fall selbst entscheiden, ob du mit deinen Eltern gehen willst oder hierbleiben und für die Revolution arbeiten. Deine Eltern haben nicht das Recht, das über deinen Kopf hinweg zu entscheiden.« Sie trat ans Fenster, um mit scharfem Auge den Lagerbetrieb zu kontrollieren. Dann fuhr sie fort: »Haben deine Eltern dir die Wahrheit gesagt über die amerikanischen Verhältnisse? Haben sie dir erzählt, wie brutal die Schwarzen und die anderen Farbigen behandelt werden?« Dieses Mal wartete sie auf eine Erwiderung. »Nein«, sagte ich und hoffte, das würde ihr genügen. »Natürlich nicht«, sagte sie sarkastisch. »Über die harten Tatsachen wird nicht gern gesprochen. Genauso machen es die Kubaner, die das Land gleich nach der Revolution verlassen haben. Sie schicken Farbfotos von ihren neuen Autos und ihren großen Häusern, aber sie verlieren kein Wort über das Leben, das sie führen – dass sie für geringen Lohn in Fabriken oder Restaurants arbeiten, Geschirr spülen oder Böden putzen.« Mrs. Garcias Gesicht hatte sich gerötet, sie atmete heftig. Sie wirkte wie ein Stier kurz vor dem Angriff und gleich stellte ich mir vor, ich wäre der Matador und versuchte, dem attackierenden Stier auszuweichen. Ich bildete mir ein, das olé der Menge zu hören. Ich wusste, dass Mrs. Garcia nicht so Unrecht hatte mit den Rassenproblemen in den USA. Aber nachdem ich dieses höllische Lager erlebt hatte, war ich überzeugt, dass kein Ort auf der Erde schlimmer sein konnte. Zumindest konnten die Kinder in den USA ganz normal in die Schule gehen und bei ihren Famili-150-
en leben. Wenn das Wetter schön war, brachten wir zu Hause manchmal einen Fernsehkanal aus Miami herein. Ich war immer traurig, wenn ich in der Reklame die Kinder mit neuen Spielsachen spielen sah. Besonders schön fand ich eine Puppe, die wie ein richtiges Baby plapperte und weinte. So etwas hatte ich nie besessen, weil gleich nach der Revolution alle Spielsachen aus den Läden verschwunden waren. Manchmal gab es zu Weihnachten Spielzeug, aber unsere Eltern mussten tagelang vor dem Laden Schlange stehen, um etwas zu bekommen. Mrs. Garcias Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Teresa, ich möchte keine Klagen mehr über dein Benehmen hören. Ist das klar? Jede Beschwerde kann dazu führen, dass deine Familie keine Erlaubnis bekommt, das Land zu verlassen. Du kannst jetzt gehen.« Eines Abends sah ich, dass ungefähr fünfzehn Mädchen vor Mrs. Garcias Büro herumstanden, darunter Julia aus der Baracke 3, die ich gut kannte. »Was ist los, Julia?«, fragte ich. »Wir protestieren. Mrs. Garcia weigert sich, Luz in die Stadt zum Arzt zu bringen.« »Was fehlt ihr denn?« »Sie erbricht sich und hat schon den ganzen Tag Durchfall. Außerdem hat sie Fieber.« Als Julia ging, fügte sie noch hinzu: »Das Ganze hier ist vollkommen verrückt.« Genau dieser Meinung war ich auch. Ich lag schon in meiner Hängematte, als es draußen noch einmal laut wurde. Ich hörte, wie jemand sagte: »Dieses verdammte Miststück!« Es waren die Protestierer, die wegen der Sache mit Luz wirklich empört waren und wie zornige Elefanten trompeteten. Ich hörte Marizas Stimme: »Diesen Lehrerinnen sind wir -151-
doch scheißegal!« Als die Gruppe näherkam, wurde sie leiser; man hörte nur noch Gemurmel. Ich zog mir das Kissen über den Kopf und fiel in tiefen Schlaf. Geschrei und Gelächter weckten mich. Kissen und Schuhe flogen durch die Luft, man hörte, dass viele Mädchen herumrannten. Durch die Dunkelheit schrie Mrs. Zanabría: »Hört sofort auf! Was erlaubt ihr euch! Schluss damit!« Sie konnte schreien, so viel sie wollte, es nützte nichts. Plötzlich leuchtete die Gaslampe auf und dahinter erschien das zornrote Gesicht von Mrs. Garcia. Dann hörte ich das Klirren von zerbrechendem Glas und es herrschte wieder Dunkelheit. Jemand musste einen Stein auf die Lampe geworfen haben. »Schluss!«, brüllte die Schulleiterin, aber niemand hörte auf sie. Mrs. Garcia rannte hinaus und schrie um Hilfe und aus der Baracke nebenan kamen die Lehrerinnen mit Taschen- und Gaslampen angerannt. Aber als es wieder hell wurde in der Baracke, waren die Mädchen wieder in ihre Hängematten geschlüpft und taten so, als hätte der Lärm sie erst geweckt. »Alle aufstehen und draußen aufstellen!«, schrie Mrs. Garcia. Ein paar Unbeteiligte protestierten, aber es half nichts. Halb bekleidet standen wir also draußen und mussten die übliche Predigt über uns ergehen lassen, dass eine gute Revolutionärin sich niemals so benehmen würde und dass wir uns schämen sollten. Aber dann kam es: »Am Wochenende gibt es keinen Ausgang und es dürfen keine Besucher kommen«, sagte Mrs. Garcia mit fester Stimme. »Ihr könnt die Zeit nutzen, um nachzudenken oder Schularbeiten zu machen.« Wie hatte ich mich darauf gefreut, meine Familie wiederzusehen! Den ganzen Tag dachte ich an nichts anderes. Es war so ungerecht! Aber keine traute sich, auch nur einen Ton zu sagen. »Jetzt marsch ins Bett und keinen Mucks mehr! Sonst könnt -152-
ihr die ganze Nacht in der Küche arbeiten.« Die folgenden Tage vergingen langsam. Heftige Regenfälle verhinderten die Feldarbeit, aber arbeiten mussten wir trotzdem. Man brachte uns in die Trockenschuppen, wo wir lange Nadeln durch die Tabakblätter bohrten, damit sie aufgefädelt und zum Trocknen aufgehängt werden konnten. Der Geruch nach Tabak und Fledermausdreck war so scheußlich, dass einem übel wurde. Wir arbeiteten das ganze Wochenende, von fünf Uhr morgens bis sechs oder sieben Uhr am Abend. Es musste schnell gehen, damit die abgeernteten Blätter nicht unter der Feuchtigkeit litten. Lastwagen kippten ganze Berge von Blättern in unseren Schuppen und wir mussten sie verarbeiten. Der Tabak verfolgte mich bis in meine Träume, wo die Blätter wie eine Lawine auf mich zustürzten und mich zu verschütten drohten. Angsterfüllt und schweißüberströmt wachte ich dann auf. Wenn ich nicht wieder einschlafen konnte, dachte ich an die Abende daheim, an denen wir Kinder in den Park gingen oder ins Kino. Dort wurden alte mexikanische Filme gezeigt – verwegene Helden retteten schöne Señoritas aus der Gewalt von Bösewichtern. In diesen Filmen traten auch berühmte Sänger auf und sangen im Mondlicht Serenaden für ihre angehimmelten Damen. Ich dachte auch an die Farm und wie José, mein Vetter Ramón und ich zu Pferd Cowboys und Indianer gespielt hatten. Wir machten uns Bogen und Pfeile aus den biegsamen Zweigen der Guajave; für den Kopfschmuck der Indianer nahmen wir die Federn wilder Truthähne. Wenn wir genug gespielt hatten, konnten wir im nahen Fluss schwimmen und auf Palmblättern von einem Hügel direkt ins Wasser rutschen. Wenn wir Hunger hatten, holten wir uns etwas von den Bäumen, je nach Jahreszeit – Mangos, Guajaven, Orangen und allerlei andere Früchte. Wie schön war es damals gewesen!
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Mariluz kam am Montag im Lager an, gerade rechtzeitig zum Frühstück. Sie war lebhaft und gesprächig wie immer, umarmte ihre Freundinnen und übergab die Briefe, die sie mitgebracht hatte. Sie hatte den Unterarm noch in Gips und ich fragte sie, warum sie so schnell gekommen sei. »Mir war so langweilig ganz allein in der Stadt«, sagte sie. »Du bist verrückt! Das hier ist die reinste Hölle«, sagte ich. »Ich wollte aber lieber bei euch sein. Die Stadt ist wie ausgestorben. Was glaubst du, wie der Paseo aussieht, wenn nur alte Leute auf den Bänken sitzen und Löcher in die Luft starren. In unserem Viertel ist es so ruhig wie auf einem Friedhof. Ich hab es nicht mehr ausgehalten.« »Aber du kannst doch gar nicht arbeiten mit deinem Gipsarm!« »Ich bin ja nicht zum Arbeiten gekommen. Ich will für Unterhaltung sorgen. Mir scheint, ihr könnt ein bisschen Aufheiterung gut brauchen. Übrigens habe ich einen Brief von deiner Mutter und einen Kuchen von Carmen für dich.« Sie ging und ich öffnete meinen Brief. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich Mutters Schrift sah. Liebe Teresa, wir vermissen dich so sehr. Jeden Abend beten wir zu St. Lazarus und zur Virgencita de la Caridad und bitten sie, dir Kraft zu geben und über dich zu wachen. Ich darf gar nicht daran denken, dass du, mein kleines Mädchen, so hart arbeiten musst, dass die Sonne dich verbrennt und deine Hände wund sind von der ungewohnten Arbeit. Ich wollte, ich könnte statt deiner dort sein! Ich kann es gar nicht erwarten, dass wir alle wieder zusammen sind. José und Carmen grüßen dich ganz herzlich. Sie reden immer von dir und von den guten alten Zeiten. Großmutter Petra macht frischen Käse für dich -154-
und José hebt seine Galletas cubanas für dich auf. Teresa, mein Liebling, pass gut auf, was du im Lager sagst und tust. Wir hören jeden Tag in den Nachrichten, dass »Abweichler« in die Unidades Militares de Ayuda a la Producción – UMAPs – geschickt werden. Erinnerst du dich an Carmens Neffen Matias? Der Ärmste ist seit einer Woche in einem dieser UMAPs, weil er in seinem Haus ein religiöses Meeting veranstaltet hat. UMAP ist bloß ein anderer Name für Gefängnis. Er muss dort schwer arbeiten und wird wie ein Krimineller behandelt. Also bitte, Teresa, sei vorsichtig. In Liebe, deine Mutter. Dieser letzte Absatz über die UMAP konnte mich und meine Familie in Schwierigkeiten bringen, deshalb versteckte ich den Brief in meinem Kopfkissen. »Achtung, Achtung!«, rief Mrs. Garcia eines Morgens, als wir uns aufstellten. »Heute morgen beginnt eine ganz wichtige Phase unserer Arbeit hier. Wir müssen alle Kraft zusammennehmen. Der Regen hat uns zurückgeworfen, deshalb müssen wir jetzt umso schneller arbeiten, um das Versäumte nachzuholen.« »Viva la Revolución!«, schrien Mrs. Cordoba und Mrs. Zanabria, um uns zu begeistern. Nur eine kleine Gruppe fiel in den Ruf ein, nämlich die Mitglieder der UJC. »Patria o muerte, venceremos!«, rief Mrs. Garcia und reckte ihre Faust in die Luft. Dann sagte sie: »Wir werden gut aufpassen, wie viel Reihen ihr jeden Tag erledigt. Am Ende der Woche wird die Siegerin bekanntgegeben. Sie erhält den Che-Guevara-Preis. Ernesto Che Guevara hat hart gearbeitet, und deshalb müssen auch wir hart arbeiten. Und dazu bekommt die Siegerin der Woche noch Urlaub übers Wochenende.« Vor meinen Augen öffnete sich der Himmel – es gab eine -155-
Möglichkeit heimzukommen! Ich war entschlossen, diesen Preis zu gewinnen. Ich schuftete wie ein Sklave. Reihe um Reihe pflückte ich mich durch die Tabakplantage, schweißüberströmt. Blatt um Blatt pflückte ich von den haarigen Stängeln, während ich in Gedanken bei der Ernte auf der Farm der Großeltern war. Die Großeltern hatten mir beigebracht, das Land zu lieben und im Rhythmus der Natur zu leben. Ich versuchte, mich in Trance zu versetzen, um die Schmerzen in Armen und Beinen, im Rücken und überall nicht mehr zu spüren. Carmen hatte mich gelehrt, die Augen zu schließen und die Heiligen anzurufen, wenn ich Hilfe brauchte. »Die oríchas können dir Kraft geben, niña, vergiss das nicht«, hatte sie am Abreisetag noch gesagt. Celia und Aurora waren meine schärfsten Konkurrentinnen. Sie waren mir hart auf den Fersen, aber Celia war langsamer als ich und Aurora wurde abends zu schnell müde. Gelegentlich versuchte ich mit den Pflanzen zu sprechen, wie ich es bei Großmutter Patricia gesehen hatte. Schließlich waren diese verwünschten Tabakpflanzen den Taíno-Indianern heilig. Bei diesem Wettkampf vergingen die Tage schnell. Abends war ich so müde, dass ich kaum essen konnte, und ging früh zu Bett. Marta und Mariluz versuchten mich aufzumuntern, aber ich fühlte mich wie ein Boxer nach neun Runden. Am Freitagnachmittag stellten wir uns vor der Cafeteria auf und warteten auf das Urteil. Mrs. Garcia überreichte mir den Che-Guevara-Preis und den Urlaubsschein fürs Wochenende. Ich sollte meine Sachen packen und um sechs Uhr bereit sein, dann könnte ich mit einem der Aufseher, der in der Stadt wohnte, mitfahren. Celia nahm es mir übel, dass ich gewonnen hatte, und in der nächsten Woche wurde der Wettbewerb noch schärfer. Das ganze Lager nahm Anteil daran. Celia und Elena taten sich zusam-156-
men, um mich gemeinsam zu bekämpfen. Sie taten auch ihr Möglichstes, um mich zu provozieren. »Hey, gusanita, vergiss den Urlaubsschein!« Sie warfen mir Erde ins Gesicht: »Würmer wie du mögen Erde!« Coki wischte mir den Schmutz aus dem Gesicht und sagte: »Soll ich dir helfen? Gemeinsam können wir sie schlagen.« Coki war kräftig und ausdauernd – wir sollten es schaffen können. Wir arbeiteten wie die Verrückten. Um schneller zu sein, nahmen Coki und ich die Handschuhe ab und pflückten mit ungeschützten Händen. Nach zwei Tagen waren unsere Hände mit Wunden bedeckt. Der Tabaksaft brannte in den offenen Stellen, aber wir kümmerten uns nicht darum. Nichts konnte uns aufhalten. Jetzt ging es nicht mehr nur um einen Urlaubsschein. Jetzt ging es um die Ehre. Das Lager teilte sich in zwei Parteien, die eine unterstützte Celia und Elena, die andere uns. Auch die Lehrerinnen ergriffen Partei und organisierten Cheerleaders für ihre jeweilige Mannschaft. Transparente mit unseren Namen wurden an der Cafeteria aufgehängt und auf der Anschlagtafel wurde täglich der Stand der beiden Mannschaften bekanntgegeben. Freitagmittag waren Coki und ich vierzig Reihen voraus, aber ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Als wir am Nachmittag wieder auf die Felder gingen, stellten sich Celia und Elena uns drohend in den Weg. »Wir werden gewinnen«, sagte Celia. »Das werden wir ja sehen. Schließlich haben wir einen Vorsprung.« »Wie werden gewinnen, ganz egal wie. Wenn ihr nicht nachgebt, brechen wir euch jeden einzelnen Knochen im Leib«, sagte Celia und schubste mich. »Hör auf damit«, sagte Coki und versuchte Celia festzuhalten. Inzwischen hatte sich ein Kreis um uns gebildet. Die Mädchen -157-
unterstützten ihre jeweiligen Favoriten mit lautem Geschrei. »Vorwärts, Teresa! Vorwärts, Celia!« Das heizte die Atmosphäre noch zusätzlich an. »Ihr werdet es bereuen, wenn ihr gewinnt«, sagte Elena und verdrehte Coki den Arm. Celia trat mir mit einer Art Karatebewegung in den Bauch. Ich schnappte nach Luft, gab den Tritt aber zurück. Inzwischen hatten auch die Zuschauerinnen angefangen, sich zu verprügeln. Sie boxten, traten und wälzten sich kämpfend am Boden. Die Lehrerinnen schrien immer wieder »Basta!« und versuchten, die Kämpfenden zu trennen, aber ohne Erfolg. Erst ein lauter Knall brachte alle zur Besinnung. Benito, der O-beinige Aufseher, stand da wie ein Hollywood-Cowboy, den rauchenden Revolver in der Hand. Mrs. Garcia stellte die Ordnung wieder her, und wir marschierten weiter. Ich war überrascht, dass sie uns nicht mit ihren gewohnten Phrasen von conciencia revolucionaria eindeckte. Vermutlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie selbst den Wettbewerb angestiftet hatte. Die Erntearbeit war dadurch zwar sehr befördert worden, aber die Sache war außer Kontrolle geraten. Beide Mannschaften machten sich sofort wieder an die Arbeit. Pausen machten wir nur, um an den Wasserkrügen an der Straße zu trinken. Wir sprachen nur über unsere Fortschritte und die der Konkurrentinnen. Cokis Gesicht war hochrot und mir zitterten schon die Knie. Einmal wurde mir schwarz vor Augen und ich musste mich hinsetzen, um nicht ohnmächtig zu werden. Die Erinnerung an einen Hahnenkampf stieg in mir auf. Die Tiere hatten sich wütend aufeinander gestürzt und die Zuschauer hatten sie mit Zurufen zum Kämpfen angefeuert. Auch ich musste kämpfen! Ich dachte an den Hahn Rojo, wie er seinem Konkurrenten Amarillo schließlich den tödlichen Stoß beibrachte, und rappelte mich wieder auf.
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ZEHN MILLIONEN TONNEN ZUCKER
»TERESA, WACH AUF!« Die Stimme von Mariluz riss mich aus dem Schlaf. »Deine Großmutter Petra ist sehr krank. Mein Vater ist da. Er fährt uns in die Stadt.« Mariluz’ Vater Henry stand neben seinem alten, verbeulten Jeep, als wir aus der Baracke kamen. Er ging mir entgegen und umarmte mich fest. Er war wie ein zweiter Vater für mich. »Das wird schon wieder«, sagte Henry und trocknete mir die Tränen. »Ich kenne Doña Petra. Sie wird es überstehen.« Während der Fahrt versuchten Henry und Mariluz mich aufzuheitern, aber ohne viel Erfolg. Ich verlor mich in Erinnerungen an Großmutter. Ungefähr vor einem Monat hatte ich sie während eines Wochenendurlaubs zuletzt gesehen. Sie hatte sich vom Verlust der Farm nie wieder ganz erholt. Die Agrarreform war jetzt schon fünf Jahre her, aber sie trauerte noch immer. Die meiste Zeit saß sie auf der Veranda in ihrem Schaukelstuhl, stickte oder starrte in den Garten hinaus. Wir waren alle aus der gewohnten Bahn geworfen worden, nicht nur Großmutter. Das Programm Die Schule geht aufs Land, das ursprünglich auf fünfundvierzig Tage angelegt war, dauerte schließlich zwei Jahre. Danach wurden die Schulen endgültig aufs Land verlegt. Den halben Tag arbeiteten wir, den anderen halben Tag hatten wir Unterricht. Und während der Erntezeit mussten wir den ganzen Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, auf den Feldern arbeiten. Es wurden neue -159-
Unterkünfte gebaut, aber die Lebensbedingungen waren immer noch unmenschlich. Das Essen war von geringem Nährwert und immer zu wenig und die Arbeit war hart. Als wir zur Villa Petra kamen, begrüßte mich mein Vater an der Tür und erzählte mir, Großmutter habe einen schweren Schlaganfall gehabt und sei gelähmt und nicht fähig zu sprechen. »Sie hat sich verändert«, sagte er, um mich vorzubereiten. »Und wir wissen nicht, ob sie sich wieder erholen wird.« Großmutter Petra wurde von ihren Töchtern und Söhnen gepflegt, die vorübergehend in das Haus gezogen waren. Mein Onkel Tomás, ein erfahrener Arzt, sagte voraus, dass Großmutter, wenn sie überlebte, bettlägrig bleiben würde. Aber ich wusste genau, dass Großmutter lieber sterben würde, als bewegungsunfähig und hilflos weiterzuleben. Zwei Wochen lang kämpfte Großmutter mit dem Tod. Ein paar Mal besuchte ich sie, saß an ihrem Bett und beobachtete, wie es in ihr arbeitete. Sie versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Es tat mir weh, sie in diesem hilflosen Zustand zu sehen. Lieber erinnerte ich mich daran, wie sie einmal eine Kuh niedergerungen hatte, und ich war überzeugt, dass sie auch den Tod niederrringen würde. Zur Überraschung aller – mich natürlich ausgenommen erholte sich Großmutter von dem Schlaganfall. Sie begann wieder zu sprechen und konnte auch ihre Arme und Beine ein bisschen bewegen. Und kaum war sie so weit, da fragte sie Tomás schon: »Was glaubst du, wann werde ich wieder gehen können?« Als Tomás von Wochen oder Monaten sprach, fuhr sie ihm über den Mund: »Unsinn, Tomás. Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass ich monatelang im Bett liegen werde.« »Reg dich nicht auf, Mamá. Ich versuche, dir einen Rollstuhl zu besorgen.« -160-
»Einen Rollstuhl? Das wirst du nicht erleben, dass deine Mutter in so einem Ding sitzt. Lieber wäre ich tot.« Damit war das Thema erledigt. Sie schloss die Augen und Onkel Tomás kannte sie gut genug, um sich jedes weitere Wort zu sparen. Er ging und ich setzte mich zu Großmutter ans Bett. »Großmutter, ich bin’s, Teresa.« »Teresita, kannst du dir vorstellen, dass ich in einem Rollstuhl sitze?« Ich brauchte nicht lang zu überlegen. »Nein, Großmutter, ich glaube nicht, dass ein Rollstuhl zu dir passt. Lieber würde ich dich auf Almendro reiten sehen.« Zum ersten Mal seit Jahren leuchteten ihre Augen auf. So hatte sie dreingeschaut, als ich ein kleines Kind war. Ihr Geist war ungebeugt und stark wie ein Ceiba-Baum. »Großmutter, du schaffst es. Pack diesen Schlaganfall bei den Hörnern und wirf ihn zu Boden.« »Du bist die Einzige, die an mich glaubt. Du musst wissen, ich habe mit Gott gesprochen, als ich zwischen Leben und Tod schwebte. Ich sagte ihm, ich sei nicht zufrieden mit der Art, wie er die Welt betreibt. Und ich sagte ihm, ich sei zornig auf ihn und könne nichts ins Jenseits gehen, solange meine Seele so voll bitterer Gedanken sei.« Ich konnte mir gut vorstellen, wie Großmutter Gott ihre Meinung sagte. Ich erinnerte mich, dass sie einmal zu mir gesagt hatte: »Teresa, Gott ist nicht größer als du oder ich. Und er lebt auch nicht im Himmel oder in den Kirchen, sondern in der Erde, in den Pflanzen und Tieren. Das sind seine heiligen Tempel.« »Ich habe mit dem Tod ein Geschäft gemacht«, fuhr Großmutter fort. »Ich musste dieser schwarzen Hexe ein bisschen Zeit abhandeln, weil ich noch ein paar Dinge in Ordnung bringen muss.« Nicht lang nach diesem Gespräch kam meine Mutter in -161-
Großmutters Zimmer und sah, dass sie aufgestanden war. Sie stützte sich an die Wand, um nicht zu fallen, schwach, aber fest entschlossen zu gehen. Und bald saß sie wieder in ihrem Schaukelstuhl und brachte ihren Fingern das Sticken wieder bei. Ich kehrte zu meinem Arbeits-Unterrichtslager zurück. Zwang und Druck waren inzwischen noch schlimmer geworden. Der Unterricht wurde wieder zurückgestellt, damit wir der Revolution helfen konnten, die wirtschaftliche Lage zu verbessern. Lehrer und Aufseher hatten sich eine militärische Sprache angewöhnt und ständig war die Rede vom Kampf gegen Schmarotzertum und Faulheit. »Diese Schlacht ist erst zu Ende, wenn alle Elemente, die unsere Wirtschaft untergraben, vernichtet sind. Wir müssen unablässig kämpfen, mit Würde und revolutionärem Bewusstsein. Wir sind eine Armee tapferer Bürger und bereit, alles zu tun, was zum Sieg beiträgt.« Immer die alte Leier, dachte ich. Als guter Soldat nahm ich meine scharfe Machete und meine Handschuhe auf und war bereit für einen weiteren anstrengenden Tag in den Zuckerrohrfeldern. Das Einzige, was Kraft geben konnte und nicht rationiert war, war Zuckerwasser. Es schmeckte abscheulich, aber ich trank Unmengen davon, um bei Kräften zu bleiben. Ich war inzwischen dreizehn Jahre alt. Im Herbst 1968 traf unsere Familie ein neuer Schlag. Mutter rief mich im Lager an, um mir mitzuteilen, dass Vater, wie alle Gusanos, in ein Arbeitslager in Canta Rana gebracht worden war, achtzig Kilometer von zu Hause. »Für wie lang?«, fragte ich. »Es hat geheißen, bis uns die Ausreise erlaubt wird.« Das konnte noch ewig dauern. Wir warteten bereits drei Jahre darauf. -162-
»Vater hat einen Freund in der amerikanischen Botschaft«, fuhr Mutter fort. »Der wird sich erkundigen, wie es mit unserem Antrag steht.« Ende November berief Mrs. Garcia eine Versammlung aller Schüler ein und informierte uns ohne Umschweife über die neuesten Maßnahmen der Regierung zur Förderung der kubanischen Wirtschaft. »Dieses Jahr darf niemand an Weihnachten nach Hause.« Verzweifeltes Protestgeschrei erhob sich. »Unser Führer, der Comandante Fidel Castro, hat verboten, irgendeinen Feiertag zu begehen, bis wir den Sieg errungen haben. Wir bleiben und arbeiten weiter. Auf diesem Platz braucht uns die Revolution. Unser Ziel ist, im Jahr 1970 zehn Millionen Tonnen Zucker zu produzieren.« Unsere Proteste waren schon erstorben. Wir wussten zu genau, dass sie nichts nützen würden. Der Heilige Abend war traurig im Lager. Es war für uns alle das erste Mal, dass wir Weihnachten nicht mit unseren Familien feierten. Nach der Tagesarbeit hockten wir deprimiert beieinander. Auf den Heiligen Abend in der Villa Petra hatte ich mich immer wochenlang gefreut. Am Tag vorher wurde ein Schwein geschlachtet und mit Zitronensaft, Kreuzkümmel, schwarzem Pfeffer und Unmengen Knoblauch über Nacht mariniert. Dann wurde eine Grube ausgehoben und darin ein Feuer angezündet. Am frühen Nachmittag kam dann das Schwein auf einen Grill über dem langsam brennenden Feuer. Inzwischen bereiteten die Frauen in der Küche die Beilagen zu: Reis mit schwarzen Bohnen, Maniok, Saucen, Taroknollen, gebackene Bananen. Dazu kamen noch verschiedene Nachspeisen aus Papayas, Guajaven und Kokosnüssen und der wunderbare Karamelpudding. Den Wein lieferte Tante Ana, die eine vorzügliche Winzerin war. -163-
Mariluz schwärmte so lange davon, was es bei ihnen alles zu essen gab, bis ich sagte: »Hör bloß auf! Du folterst uns mit deinen Phantasien.« Mariluz wurde ernst. »Meine Phantasie ist schließlich alles, was ich habe. Du dagegen hast die Hoffnung, dies alles eines Tages hinter dir zu lassen. Nächstes Jahr um diese Zeit bist du vielleicht schon in Amerika und überfrisst dich beim Weihnachtsessen.« Schlagartig wurde mir klar, wie Recht sie hatte. Ich konnte wenigstens von der Zukunft träumen, aber was für ein Leben erwartete meine Freundinnen? Arbeitslager, Mangel, Schlangen vor den Geschäften und immer eine Mrs. Cordoba oder Mrs. Garcia, die sie ständig überwachte und herumkommandierte. Das Gespräch wandte sich all den schönen Sachen zu, die man in Amerika kaufen konnte. Mariluz schwärmte von Blue Jeans und Coki träumte von hohen Stiefeln. »Und du, Teresa, was wirst du dir zuerst kaufen?« »Ich weiß es eigentlich nicht.« »Was ist los mit dir?« »Ich will gar nicht darüber nachdenken. Was nützt mir denn das ganze Zeug, wenn ihr nicht dabei sein könnt? Ich will eigentlich gar nicht weg, wenn ihr da bleibt. Ihr seid wie Schwestern für mich«, sagte ich unter Tränen. »Und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es in diesem höllischen Lager ohne dich sein wird«, sagte Coki. Wir umarmten uns weinend und versprachen uns, oft zu schreiben. Die Zeit im Lager hatte uns eng zusammengeschweißt. Wir mussten uns gegenseitig die fehlenden Familien ersetzen. Wir besprachen alle Probleme miteinander. Wenn man krank war oder Heimweh hatte, fand man nur bei den Freundinnen Trost. Ich würde sie schrecklich vermissen. Und ich erzählte ihnen, dass ich davon träumte, eines Tages wieder nach Kuba zurückkommen zu können. -164-
Der Gedanke, Coki und Mariluz verlassen zu müssen, lastete so schwer auf mir wie Castros zehn Millionen Tonnen Zucker. Aber mir war klar, dass ich in Kuba in der Falle saß. Ich hatte zwei Möglichkeiten, wenn ich blieb: Entweder wurde ich Mitglied der kommunistischen Partei, um zu überleben, oder ich begehrte auf und kam ins Gefängnis oder in ein noch schlimmeres Arbeitslager.
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CANTA RANA – WO DIE FRÖSCHE QUAKEN
ALS ICH WIEDER EINMAL einen Wochenend-Urlaubsschein hatte, besuchten Mutter, José und ich Vater im Lager von Canta Rana. Am Samstagmorgen gingen wir vor Sonnenaufgang zur Busstation und bestiegen dort den Lastwagen, der zum Arbeitslager fuhr. Wir standen dicht gedrängt auf der Ladefläche und wurden auf der schlechten Straße arg durchgerüttelt. Nicht wenigen wurde es schlecht; sie beugten sich über die Seitenwände und erbrachen sich. Wir schrien, der Fahrer solle langsamer fahren, aber er rumpelte weiterhin mit sechzig Kilometern durch die Schlaglöcher, bis einem der Hinterreifen die Luft ausging. Nur mit Mühe konnte der Fahrer den Wagen auf der Straße halten. Ersatzreifen waren ein Luxusgut und nicht leicht aufzutreiben. Über eine Stunde saßen wir am Straßenrand, während der Fahrer ins nächste Dorf ging. Schließlich kam er in einem grünen Militärjeep und mit einem Reifen zurück. Nach dem Reifenwechsel stiegen wir wieder auf die Ladefläche. Wir hatten noch mindestens zwei Stunden Fahrt vor uns. Aber nach einer Stunde lief der Motor heiß und wir mussten wieder absteigen, um zu warten, bis er abgekühlt war. So wurde es fast elf Uhr, bis wir in Canta Rana ankamen. Wir hatten für achtzig Kilometer fünf Stunden gebraucht und waren erschöpft, hungrig und durstig. Die Männer kamen gelaufen und begrüßten ihre Besucher. Papa war einer der letzten. Er hinkte -166-
und hatte einen Verband am linken Bein, oberhalb des Knöchels. José und ich rannten ihm entgegen und begrüßten ihn stürmisch. Mutter folgte. »Was ist mit deinem Bein, Pepe?«, fragte Mutter gleich nach der Begrüßung. »Nichts Schlimmes. Ich hab mich nur mit der Machete geschnitten.« »Bist du zu einem Arzt gegangen?« »Einen Arzt gibt es hier nicht. Aber einer der Männer im Lager ist Krankenpfleger. Er hat sich um mich gekümmert.« Vater legte einen Arm um Mutter, den anderen um uns und führte uns ins Lager. Mir kam alles sehr bekannt vor. Das Lager sah ganz genau so aus wie die Camps des Die-Schule-geht-aufs-Land-Programms: in der Mitte die Küchen- und Speiseräume, darum herum Baracken aus Palmenholz und Palmblättern. Auch die Duschen und Toiletten waren wie bei uns. Rings ums Lager waren endlose Zuckerrohrfelder zu sehen und weiter hinten eine Zuckermühle mit einem hohen runden Turm. Mein Vater zeigte uns seinen Platz in einer Baracke. Dort gab es einen kleinen Propangaskocher, der ihm gemeinsam mit einer Gruppe neuer Freunde gehörte. Auf ihm kochten sie, was ihre Familien ihnen mitbrachten oder was sie fangen oder fischen konnten. Sie waren alle gusanos und diese Tatsache, zusammen mit dem Hunger, der schweren Arbeit und den Härten des Lagerlebens, hatte enge Bande zwischen ihnen entstehen lassen. Nur die Geborgenheit in einer Gemeinschaft machte das Überleben möglich. »Wieso dürft ihr hier einen Kocher haben?«, fragte ich. »Wir müssen den Aufsehern dafür Kaffee oder etwas zu essen geben«, sagte Vater. »Hast du Kaffee mitgebracht, Felicia?« -167-
»Ja. Auf dem schwarzen Markt gab es welchen.« »Kaffee ist hier Gold wert.« Vater war ziemlich mager geworden. Sein Gesicht war braun gebrannt, aber trotzdem sah man die Schatten unter den Augen und die gelbliche Färbung der Haut, Spuren einer Gelbsucht, die er sich durch verunreinigtes Essen im Lager zugezogen hatte. Er wäre beinahe daran gestorben, weil man ihm nicht erlaubte, zum Arzt zu gehen. Als er endlich ins Krankenhaus gebracht wurde, war er so krank und seine Leber so stark geschädigt, dass die Ärzte mit seinem Tod rechneten. Großmutter Patricia war die Einzige, die die Hoffnung nicht aufgab. Sie zog mit ihrer Tasche voller Kräuter und selbst gebrauter Mixturen ins Krankenhaus, rieb Vaters Körper ein paar Mal am Tag mit aromatischen Ölen ein, deren Rezeptur nur sie kannte, und betete an seinem Bett. Ärzte und Schwestern betrachteten sie mitleidig und amüsiert. Aber sie ließen sie bei ihrem geliebten Sohn bleiben, Nach ein paar Tagen besserte sich Vaters Zustand, aber Großmutter blieb so lange, bis sie das Krankenhaus zusammen mit ihrem Sohn verlassen konnte. Ich betrachtete Vaters Gesicht genauer und sah die vielen Kratzer und Schnitte. Die Blätter des Zuckerrohrs haben scharfe Ränder, die wie Messer ins Fleisch schneiden. Ich hatte ja selbst schon Zuckerrohr geschnitten und wusste, wie weh das tat. Trotzdem hatte sich Vater für unseren Besuch rasiert. Das war er seinem Stolz schuldig. Vater sah meinen Blick. »Das ist nicht so schlimm. Vorige Woche haben wir in den Reisfeldern gearbeitet. Das war das Höllischste, was ich je erlebt habe. Wir standen tagelang bis zur Taille im Wasser und gruben Gräben, immer gebückt, immer umgeben von einer Wolke von Moskitos. Ich hatte das Gefühl, mein Fleisch sei so aufgeweicht, dass es von den Knochen fallen müsse. Und die geringste Pause konnte einen das Leben kosten. Diese verfluchten milicianos hatten immer das Gewehr im An-168-
schlag und hätten uns nur zu gern niedergeschossen. Für die sind wir nur Kriminelle.« »Und wie ist das Essen?«, fragte ich nach einer Weile. »Essen?! Drei Löffel Reis, ein Becher wässrige Linsensuppe, gelegentlich ein bisschen russisches Dosenfleisch und reichlich brauner Zucker. Das ist unsere Speisekarte für Mittag und Abend. Aber es heißt, dass hier in der Gegend Katzen verschwinden.« »Was passiert mit ihnen?«, fragte José. »Nun, sie opfern ihr Leben für einen guten Zweck und enden im Magen der Lagerinsassen«, sagte Vater. »Pepe, das ist ja schrecklich!«, sagte Mutter. »Was heißt hier schrecklich! Was tut man nicht alles, um zu überleben! Es gibt hier noch andere Delikatessen, Schlangenfleisch zum Beispiel und die Schenkel von Ochsenfröschen, oder Eidechsen, oder sogar Ratten.« »Ratten!«, ächzte ich und mein Magen hob sich. Die milicianos taten, als merkten sie nichts, wenn die Männer nachts zum nahen Weiher gingen, um Frösche zu fangen oder zu fischen, oder wenn sie Fallen stellten, um Katzen oder Kaninchen zu fangen. Sie warteten, bis das Essen gekocht war und kamen dann, um ihren Anteil einzufordern. Sie drohten immer damit, den kleinen Kocher zu beschlagnahmen oder ihnen das kleine Fischnetz wegzunehmen, das Vater ins Lager mitgebracht hatte. »Sie drohen überhaupt ständig«, sagte Vater. »Das macht ihnen richtig Spaß. Damit können sie uns so richtig terrorisieren. Sie drohen, uns den Urlaubspass zu verweigern oder die Erlaubnis zum Verlassen des Landes zu hintertreiben. Sie genießen ihre Macht und unsere Angst.« Vater hatte Kaffee gekocht. Ich sah, dass seine Hände mit Wunden übersät waren und offene Stellen hatten. Er war noch -169-
nicht so lang im Lager, dass sich die dicken Schwielen gebildet hätten, die ich schon hatte. Er hatte bei jedem Handgriff Schmerzen. Wir versanken in Schweigen und dachten an vergangene Zeiten, als unsere Familie noch beisammen war. Wie selbstverständlich uns das vorgekommen war! Die jetzige Situation war absurd. Vater und ich in verschiedenen Arbeitslagern und auch José würde bald drankommen. Den Kommunisten schien es völlig normal, die Familien auseinander zu reißen, und wer obendrein noch nach Freiheit strebte wie Vater, war ein Verräter und musste bestraft, gequält und nach Möglichkeit gebrochen werden. Ach, Freiheit! Wir träumten alle davon und waren bereit, den Preis zu zahlen. Später, beim Abschied, sagte Großmutter Patricia: »Schließ die Augen, negrita, und denk nur an die Freiheit. Schau nicht zurück! Dreh dich nicht um, geh vorwärts. Du darfst nicht zögern, deine Schritte müssen fest sein.« So hielt es Vater und auch ich beschloss, mich nicht vor dem Unbekannten zu fürchten. Für uns gab es kein Zurück mehr. Wenn man einmal den Antrag auf Ausreise gestellt hatte, war man als unerwünschtes Element abgestempelt. Selbst wenn man seine Meinung geändert hätte, wäre man für immer ein gusano geblieben. In Kuba war kein Platz mehr für uns. »Sobald wir in Amerika sind, wird uns das hier wie ein schlimmer Traum vorkommen«, sagte Vater. »Aber was ist mit denen, die wir zurücklassen?«, klagte Mutter. Sie konnte sich noch immer nicht mit dem Gedanken abfinden, ihre Eltern und Geschwister zu verlassen. »Wir werden sie nie wiedersehen!« »Daran dürfen wir nicht denken«, sagte Vater. »Felicia, du weißt nicht, was es bedeutet, in dieser Hölle zu sein. Wir sind Gespenstern schon ähnlicher als Männern. Wenn wir zur Arbeit gehen, richten die milicianos die Gewehre auf uns und verhöh-170-
nen uns. ›He, ihr gusanos‹, rufen sie, ›was für Autos wollt ihr euch denn kaufen, wenn ihr in Amerika seid?‹ Und sie lachen sich schief, wenn sie sehen, wie wir unsere Wut herunterwürgen. ›Das heißt, wenn ihr überhaupt je hinkommt, ihr Bastarde.‹ Bei jedem einzelnen Schlag meiner Machete stelle ich mir vor, ich schlüge einem miliciano den Kopf ab. So weit ist es mit mir gekommen.« »Mein Gott, Pepe«, sagte Mutter erschrocken. »Wie du sprichst! Ich erkenne dich nicht wieder.« »Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Aber du weißt nicht, wie ein solches Höllenleben einen Menschen verändert. Du bist zu Hause und kennst dieses Elend nicht.« »Du denkst wohl, ich sitze den ganzen Tag herum und lackiere mir die Fingernägel? Du solltest es eigentlich besser wissen!« Waren das noch meine Eltern? Wochenlang waren wir getrennt gewesen und jetzt fiel ihnen nichts Besseres ein, als zu streiten. Mutters Gejammer wegen der Auswanderung ging Vater auf die Nerven, aber er war ihr gegenüber ungerecht. Sie stand jeden Tag vor Sonnenaufgang auf, um sich in Schlangen vor Geschäften einzureihen oder um meilenweit über Land zu laufen und mit Kleinbauern um Nahrungsmittel zu feilschen. Verdammte Revolution! Sie hatte uns die Farm genommen, hatte mir meine Kindheit gestohlen, unsere Familie auseinander gerissen, meine Mutter unglücklich gemacht und meines Vaters Herz verhärtet. Verdammte Revolution!
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DAS TELEGRAMM
AN DEM NACHMITTAG, an dem der Beamte von der Auswanderungsbehörde uns das Telegramm brachte, war ich zu Hause. Ich hatte mehr als hundert Reihen Tabak in fünf Tagen abgeerntet und mir damit einen Wochenendurlaub verdient. Vier Jahre lang hatte unsere Familie auf dieses kostbare Stück Papier gewartet. Das war nämlich nicht irgendein Telegramm, sondern es war das Telegramm, unsere Eintrittskarte in die Freiheit. Wir hatten die Erlaubnis, in die Vereinigten Staaten zu fliegen. Meine Freundin Coki war vor ein paar Tagen wegen »unmoralischen Verhaltens« von der Schule geflogen. Sie und ein zweites Mädchen waren erwischt worden, als sie in später Nacht Küsse und Zärtlichkeiten austauschten. Am Morgen wurden beide Mädchen in Begleitung einer Lehrerin heimgeschickt. Die Nachricht verbreitete sich schnell in der Stadt und Coki wurde als Lesbe verspottet. Eltern – meine Mutter eingeschlossen – warnten ihre Töchter vor Coki, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Alle gingen ihr aus dem Weg. Ich bedauerte meine Freundin und ärgerte mich über die Vorurteile der Leute. Als ich übers Wochenende heim durfte, wollte ich Coki besuchen. Ich war gerade am Gehen, da klopfte es an der Tür. Als ich öffnete, sah ich mich einem grün uniformierten Offizier gegenüber. Ohne Gruß und ohne Lächeln zeigte er mir ein Dokument mit dem Regierungssiegel. Ich dachte, er wolle jemanden verhaften – das war ja schließlich nichts Ungewöhnliches – oder -172-
meinem Vater sei im Lager etwas zugestoßen. »Sind deine Eltern zu Hause?«, fragte er. »Nur meine Mutter. Ich hole sie.« Mutter war in der Küche und schälte Süßkartoffeln für das Abendessen. Sie erschrak, als ich ihr sagte, eine Art Offizier sei gekommen. Sie wusch sich die Hände und ging zur Haustür. Der Offizier überreichte Mutter das Telegramm und einen schriftlichen Befehl, das Haus sofort zu verlassen und innerhalb von drei Tagen abzufliegen. Er las ihn uns vor, dann ging er uns voraus ins Wohnzimmer. »Ich bin Hauptmann Eduardo Galindo. Ich werde Inventur machen, das heißt, kontrollieren, ob noch alles im Haus ist, was in der ursprünglichen Aufstellung verzeichnet ist. Das wird eine Weile dauern. Ich hoffe stark, dass alles stimmt.« Er genoss seine Rolle sichtlich. »Sie, Mrs. Fernandez, können schon die Kleider einpacken, die Sie für die Reise benötigen. Und denken Sie daran: Pro Familienmitglied sind nur zwanzig Kilogramm Gepäck erlaubt. Und versuchen Sie keine Tricks – verstecken Sie keine Schmuckstücke oder sonstige Wertsachen in den Koffern.« Mutter hatte seit langem in ihrem Schlafzimmerschrank alles für die Reise vorbereitet, damit sie die Sachen im Fall des Falles nur in die Koffer zu legen brauchte. Leute in unserer Lage bekamen nämlich normalerweise eine sehr knappe Frist zum Packen und zum Verlassen des Hauses eingeräumt; manchmal waren es nur zwei Stunden. Das gehörte zu den üblichen Schikanen. Der Soldat holte inzwischen eine Liste aus der Tasche und fing mit der Kontrolle an. Er zog Schubladen heraus und kippte ihren Inhalt auf den Boden, zählte die Möbelstücke und spähte in jeden Winkel. »He, du, muchacha«, rief er. »Wie heißt du?« -173-
»Teresa.« »Okay, Teresa, erklär mir, warum da nur vier Stühle um den Esstisch stehen. In der Aufstellung steht sechs.« »Das muss ein Irrtum sein«, sagte ich schnell. Ich wusste genau, wo die Stühle waren. Mutter hatte unsere sechs guten Stühle mit vier alten von meiner Tante vertauscht. »Na schön – ich schau mich um, und wenn noch etwas von der Liste fehlt, dann bleibt ihr so lange im Land, bis sich die fehlenden Stücke finden.« Ich hatte Angst und war wütend auf Mutter, weil es ihr so sehr widerstrebte, die ererbten Möbel fremden Menschen zu überlassen. Sie hatte partout nicht auf meinen Vater hören wollen und immer wieder Stücke, die ihr lieb und teuer waren, aus dem Haus geschafft. Tante Nelda, ihre Verbündete, hatte für billigen Ersatz gesorgt. »He, Teresa, wo ist der Mixer?« Verwünschter Mixer, dachte ich. Wie konnte meine Mutter nur so eigensinnig sein! »Er müsste da rechts im Schrank sein, Señor«, sagte ich und suchte in den Küchenschränken. Glücklicherweise fand ich einen alten Mixer der gleichen Marke. »Hier«, sagte ich mit mühsam kontrollierter Stimme. Ich wollte gerade nach José schauen, als ich vor dem Haus Stimmen vernahm. »Weg mit euch, ihr Maden!« Auf dem Gehsteig stand eine Gruppe von Nachbarn, meist Mitglieder des Komitees für die Verteidigung der Revolution. »Verschwindet aus dem Land, Verräter, Bastarde!« Sie ließen ihrem Zorn und ihrer Verachtung für diejenigen, die die Revolution »verraten« hatten, freien Lauf. Jede Familie, die Kuba verlassen wollte, musste diese letzte Demütigung vonseiten der eigenen Nachbarn erdulden. »Okay, Mrs. Fernandez, jetzt ist Schluss«, sagte Hauptmann Galindo. -174-
Mutter war noch nicht fertig; sie versuchte, immer noch etwas in die Koffer zu stopfen. »Mrs. Fernandez, ich bin fertig mit der Inventur. Wir gehen.« Ich nahm Abschied von meinem Zimmer, von den ComicFiguren, die ich selbst an die Wände gemalt hatte, von dem wunderschönen Puppenhaus, das unser Nachbar Veita mir gebaut hatte, und von all den Spielsachen und Büchern meiner Kindheit. Nur Tomasito, meine Lieblingspuppe, wollte ich unbedingt mitnehmen. Ich verbarg sie unter meiner Bluse. Aber Hauptmann Galindo ertappte mich dabei. »Lass alles da«, sagte er. Ich weinte und bettelte, aber er sagte nur: »Hast du nicht gehört? Alles bleibt da. Du brauchst doch wegen dieser idiotischen Puppe nicht zu heulen, wenn du in den USA jede Menge prächtige Puppen kriegen kannst.« Idiotische Puppe! Ich hätte ihm am liebsten einen Tritt gegeben. Stumm legte ich Tomasito in die Spielzeugkiste und hoffte, er werde sich nicht zu einsam fühlen. Das Herz war mir schwer. Auf meinem Nachttisch lag das dreibändige Werk Eine Reise um die Welt von Vicente Blasco Ibañez, das ich mir von unserm Nachbarn Rodolfo ausgeliehen hatte. Ich hatte es förmlich verschlungen, weil es von fremden Ländern handelte und voll interessanter Informationen war. Solche Bücher waren in Kuba sonst nicht zu haben. Die Kommunisten hatten alles aus den Büchereien entfernt, was uns über den Rest der Welt hätte informieren können. Wie sollte ich die Bücher Rodolfo zurückgeben? Ich durfte sie ja nicht aus dem Haus tragen. Als Hauptmann Galindo das Zimmer verließ und mir den Rücken zukehrte, warf ich sie kurzerhand aus dem Fenster. Jetzt musste ich noch von Carmen Abschied nehmen. Sie war in der Küche. Ich warf mich in ihre Arme. Wir weinten beide. -175-
»Carmen, wir müssen gehen. Darfst wenigstens du im Haus bleiben?« Ich hoffte, Carmen würde sich um unsere Sachen kümmern können, bis wir vielleicht eines Tages zurückkehrten. »Nein, nein, mi niña. Ich muss auch raus aus dem Haus.« »Wo willst du denn hin?« Ich wusste, dass Carmen keine Verwandten hatte. »Ich habe gute Freunde, niña. Mach dir da keine Sorgen.« »Ach, Carmen, ich kann dich nicht verlassen. Und das Haus auch nicht«, sagte ich. »Wir werden dich nachkommen lassen, sobald es geht.« Carmen hielt mich fest umarmt und wiegte mich sanft. »Ja, mein Mädchen. Weine nicht. Eines Tages werden wir wieder beisammen sein.« Ich konnte mir ein Leben ohne Carmen nicht vorstellen. Sie hatte immer alle meine Schmerzen geheilt, körperliche wie seelische. Sie war immer da gewesen und ich hatte nie gedacht, dass wir uns einmal würden trennen müssen. Jeden Tag hatte ich als Erstes ihr schönes braunes Gesicht gesehen und ihren fröhlichen Gesang gehört. Jahre später erzählte Mutter mir, dass sie und Vater immer wieder versucht hatten, Carmen zum Mitkommen zu bewegen. Aber Carmen hatte entschieden abgelehnt. »Dies ist meine Heimat. Was soll eine alte Negerin wie ich in einem großen fremden Land? Meine Leute haben hier gelebt und sind hier gestorben und ich möchte neben ihnen beerdigt werden, wenn meine Zeit kommt.« Carmen wusste, dass wir uns nie wiedersehen würden, aber sie wollte mir nicht die Hoffnung auf ein Wiedersehen rauben. Ich sollte ruhig glauben, dass wir in ein paar Monaten in Amerika wieder vereint sein würden. Bevor wir die Küche verließen, wischte Carmen noch schnell über den Tisch, dann nahm sie die Schürze ab, faltete sie zu-176-
sammen und steckte sie in ihre Tasche. »Fertig«, sagte sie. »Wir können gehen.« Sie nahm José und mich bei der Hand. »Carmen«, sagte ich, »ich möchte gern noch einen Augenblick in deinen Behandlungsraum gehen.« Carmen führte uns in ihr Heiligtum und wir stellten uns vor dem Altar auf. Dort standen die Oríchas neben ihren Kerzen und Weihegaben. Carmen begann leise zu beten: »O Elegguá, ebne diesen geliebten Kindern die Wege. O Changó, Ochosí und Oggún, haltet Donner, Pfeil und Machete über ihren Häuptern. O Yemayá und Oshún, ernährt und hütet sie gut. O Oyá, schütze sie vor widrigen Winden und halte den Tod von ihrem Haus fern.« Dann besprenkelte sie uns mit Wasser. »Das wird alle üblen Kräfte um euch herum vertreiben.« Wir hörten Hauptmann Galindo nach uns rufen. Carmen besprenkelte nun auch sich selbst mit Wasser. »Geht jetzt, Kinder«, sagte sie. »Ich komme gleich nach.« Sie schloss die Augen und betete schweigend. Draußen auf der Veranda standen schon unsere vier Koffer. Alle Fenster im Haus waren geschlossen, alle Lichter gelöscht. Ich kam mir vor wie in einem Albtraum. Es war so unwirklich. Mutter übergab Hauptmann Galindo die Hausschlüssel und gleichzeitig kam Carmen mit schweren, langsamen Schritten aus dem Seiteneingang. Hauptmann Galindo versperrte und versiegelte die Haustür und hängte ein Schild daran, das besagte, dieses Haus sei jetzt Eigentum der Regierung und keiner dürfe es betreten. Ich brauchte Jahrzehnte, um diesen Augenblick zu verarbeiten. Wir waren aus unserem eigenen Haus geworfen worden. Vierzehn Jahre meines Lebens lagen hinter dieser verschlossenen Tür. Das Geschrei auf der Straße verstärkte sich. »Haut ab aus Kuba, ihr verfluchten Schmarotzer! Raus aus dem Land, ihr dreckigen Würmer!« Vor dem Haus standen mindestens fünfzig Leute, -177-
aber nicht alle waren uns feindlich gesinnt. Mehrere Nachbarn bildeten einen Ring um uns und schützten uns so. Sie trugen die Koffer und gingen mit uns die Straße hinunter zu Tante Neldas Haus, wo wir die nächsten zwei Tage verbringen sollten. Ich atmete tief durch. Trotz aller Traurigkeit war ich erleichtert. Schon bald würden wir in einem Land sein, wo uns keiner beleidigte oder demütigte. Die Freiheit war teuer erkauft, wenn man bedachte, was wir alles hinter uns ließen. Unsere Vergangenheit war in jenem Haus begraben und versiegelt. Nicht einmal das Fotoalbum hatten wir dabei. Wir mussten ganz von vorn anfangen und unserem Leben einen ganz neuen Inhalt geben.
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LEB WOHL, CABAIGÜÁN
DIE NÄCHSTEN ZWEI TAGE waren sehr betriebsam. Nachbarn und Freunde kamen in großer Zahl ins Haus meiner Tante, um sich zu verabschieden und uns Glück zu wünschen. Sie blieben stundenlang. Keinen Augenblick waren wir allein. Am Tag nach dem Telegramm kam Vater aus dem Lager. Er sah krank und erschöpft aus. Sein Freund Alberto hatte ihn mit seinem alten Lastwagen abgeholt; sie hatten acht Stunden für die Fahrt gebraucht. Auf dem Rückweg war Alberto das Benzin ausgegangen und sie hatten acht Kilometer bis zur nächsten Tankstelle gehen müssen, nur um dort zu hören, dass es kein Benzin gab. Benzin gab es nur in der Militärstation, die noch einmal fünfundzwanzig Kilometer weiter weg war. Glücklicherweise hatte der Tankwart einen Bruder, der an der Militärstation arbeitete und sich bereit erklärte, ihnen für hundert Pesos – einen durchschnittlichen Monatslohn – fünfzig Liter des kostbaren Treibstoffs zu bringen. So konnten Vater und Alberto nach zwei Stunden ihre Fahrt fortsetzen. Sobald sich Vater ein bisschen erholt hatte, bat er Onkel Manolo, uns mit seinem alten Chevrolet Impala nach Guayos zu Großvater Victor und Großmutter Patricia zu fahren. Die beiden Männer unterhielten sich die ganze Zeit über Details unserer Fahrt zum Flughafen in Varadero Beach in der Provinz -179-
Matanzas. Das waren ungefähr zweihundertzwanzig Kilometer und das Problem war, wie man genügend Benzin auftreiben könnte. Benzin war streng rationiert und die Pumpen an den Tankstellen waren auch meistens kaputt. Wir brauchten eine halbe Stunde bis zum Haus der Großeltern. Großmutter Patricia saß in ihrem Mahagoni-Schaukelstuhl auf der Veranda. In ihrem bestickten Baumwollkleid, die silbernen Haare mit Schildpattkämmen hochgesteckt, sah sie majestätisch und weise aus. Ein Kloß stieg mir in die Kehle, als ich sie sah. Großvater kam heraus, in einem gestärkten weißen Hemd und mit blitzblanken schwarzen Schuhen. Sie hatten sich beide für den Abschied extra herausgeputzt. So sollten wir sie in Erinnerung behalten. Wir umarmten und küssten uns und gingen ins Haus. Großvater Victor saß neben meinem Vater auf dem Sofa. Er war sehr still und ich spürte, dass er meinen Vater gern umarmt hätte. Aber er tat es doch nicht. Er konnte sich auch in der Abschiedsstunde nicht dazu überwinden, die Entfremdung vieler Jahre zu beenden. Die beiden waren vom Temperament her so unterschiedlich, dass sie früher immer und immer wieder zusammengeprallt waren, bis sie schließlich auf Distanz zueinander gingen. Nach dem Kaffee nahm Großmutter mich mit in ihren Behandlungsraum. Sie setzte sich an den Altar, von dem mich alle ihre Heiligen anblickten, und ich saß auf dem kleinen Krankenbett in der Mitte des Zimmers. Mit bebenden Händen und unter leisen Gebeten zündete Großmutter die beiden hohen weißen Kerzen an. Dann wandte sie sich zu mir um. »Teresa, mi negrita, hör mir gut zu. Am Tag deiner Geburt war ich die glücklichste Großmutter auf der Welt. Ich hatte so viele Träume für uns beide… ich habe nie damit gerechnet, dass wir getrennt werden. Aber nun ist es dahin gekommen.« Das Schluchzen in meiner Kehle erstickte mich fast. -180-
»Wir kommen wieder«, sagte ich unter Tränen. Aber eine Rückkehr war nur möglich, wenn das Castro-Regime eines Tages gestürzt wurde. Trotzdem wollte ich mir die Hoffnung erhalten, die Heimat eines Tages wiederzusehen, sonst hätte ich den Trennungsschmerz nicht ausgehalten. »Ganz sicher, mi niña. Ich sehe es in deinen Augen und in den Linien deiner Hand. Aber du wirst dann Silbersträhnen im Haar haben und ich werde nicht mehr da sein, um dich zu begrüßen. Vergiss deine Heimat nicht, negrita. Solange du sie nicht vergisst, wirst du uns innerlich nahe sein und den Rückweg finden.« Großmutters Worte ließen die Erinnerungen an meine Kindheit aufleben. An heißen Nachmittagen waren Großmutter und ich oft zu der Saftbar um die Ecke gegangen und hatten kalten Zuckerrohrsaft gekauft. Dann gingen wir in den Park, der nur zwei Straßen weiter war, setzten uns auf eine Bank, tranken unseren Saft und sahen den Vögeln zu, die im Brunnen badeten. Und als ich noch klein war, gingen wir jeden Nachmittag zum Flüsschen in der Nähe der Farm und spielten im Wasser, wie diese Vögel. Wie herrlich das gewesen war! Und immer hatte Großmutter für mich und José raspaduras gehabt, eine Art Karamellbonbons aus Zuckerrohrsaft. Großmutter riss mich aus meinen Gedanken, indem sie vor dem Altar niederkniete und mich aufforderte, es ihr gleichzutun. Dann wandte sie sich mir zu und hob die Arme so, dass ihre Handflächen über meinem Kopf waren. Als sie zu beten begann, durchströmte Wärme meinen ganzen Körper. »Jungfrau Maria, San Lazaro, Santa Teresa, Santa Barbara, hört die Gebete einer alten Frau, die um Schutz und Führung für ihre geliebte Enkeltochter Teresa bittet.« Ich schloss die Augen und versuchte, meiner Gefühle Herr zu werden. Ich hatte Angst davor, diesen geweihten Raum zu verlassen, in dem ich so oft geheilt und getröstet worden war. Ich -181-
würde diesen Geruch nach Weihrauch und Kräutern nie mehr riechen, die Kerzen, die Blumen, die Bilder der Urgroßeltern nie mehr sehen. Was konnte mir nicht alles zustoßen in einem fremden Land, so weit weg von der heilenden Kraft meiner geliebten Großmutter! »Großmutter, ich habe Angst«, sagte ich weinend. »Ja, ich weiß… aber du musst aus diesem Raum fortgehen und darfst dich nicht umdrehen. Erinnere dich nur an unsere Tränen; sie sind der Preis, den wir für deine Freiheit gezahlt haben. Diese Tränen werden uns in deinem Gedächtnis lebendig erhalten. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, weil du mich verlässt; dass ich bleibe, ist meine freie Entscheidung. Ich bin eine alte Frau und mein Platz ist hier. Aber du bist jung und träumst von Freiheit. Deshalb musst du fort.« Großmutter küsste mich auf die Stirn. Ich warf mich in ihre Arme und ließ meinem Schmerz freien Lauf und sie hielt mich ganz fest und wiegte mich wie ein kleines Kind. »Negrita, du musst stark sein. Komm, ich zeige dir etwas.« Großmutter holte ein hölzernes Kästchen unter dem Altar hervor, öffnete es und gab mir ein Bild der heiligen Teresa. »Nimm das mit. Es wird dich an deine eigene Kraft erinnern. Die heilige Teresa wird auch Oyá genannt, die Mutter des Gewitters. Sie gab Changó die Macht über Donner und Blitz.« Ich drückte das verblichene Heiligenbildchen ans Herz und Großmutter sagte: »Es stammt von meiner Mutter. Sie hat es mir geschenkt, als ich ungefähr so alt war wie du. Pass gut darauf auf.« Dann zündete sie am Altar noch eine weiße Kerze an und sagte: »Solange ich lebe, wird hier immer eine Kerze für dich brennen.« Wenig später quetschten wir uns wieder in Onkel Manolos Auto und fuhren ab. Ich folgte Großmutters Wunsch und blickte nicht zurück. Im Auto herrschte Schweigen. Die schmerzliche -182-
Abschiedsrunde ging weiter. Unsere nächste Station war Villa Petra. Großvater José und Großmutter Petra warteten schon auf uns. Sie saßen auf ihren Schaukelstühlen auf der Veranda, bereit und gerüstet wie tapfere Krieger. Sie waren beide nach Kuba eingewandert und hatten ihre Heimat, die kanarischen Inseln, nie wiedergesehen. Sie waren also darauf gefasst, dass auch wir vielleicht nicht wiederkommen würden. Wir saßen ein bisschen steif im Kreis, Mutter, die immer wieder in Tränen ausbrach, neben Großmutter Petra. Großmutter selbst neigte nicht zu Gefühlsäußerungen und fühlte sich sichtlich ein wenig unbehaglich. Schließlich streckte sie aber doch die Hand aus und streichelte Mutters Wange. Am Nachmittag gingen Großmutter Petra und ich in den blütenprangenden, dufterfüllten Garten, in dem wir so viel Zeit miteinander verbracht, in dem wir gesät, gepflanzt, gejätet und all die Schönheit genossen hatten. Großmutter schnitt eine langstielige weiße Rose ab und gab sie mir. »Teresa«, sagte sie, »als ich die kanarischen Inseln verließ, wusste ich nicht, was mich in Kuba erwartete. Ich war jung und neugierig auf andere Gegenden und andere Menschen. Und im Lauf der Jahre ist mir Kuba so lieb geworden, dass ich keine Sehnsucht mehr hatte heimzufahren. Meine Heimat war jetzt hier. Aber ich hatte lange Jahre ein schlechtes Gewissen deswegen und auch, weil ich meine Mutter und meine Schwestern nicht allzu sehr vermisste.« Ich sah sie an und dachte, wie stark sie doch war. Seit dem Schlaganfall waren zwar ihre Beine schwach, aber sie weigerte sich entschieden, beim Gehen einen Stock zu Hilfe zu nehmen. »Castro hat uns zwar das Land weggenommen«, fuhr sie fort, »aber nicht das Haus, das mein Heim ist. Hier gehöre ich her. Meine Heimat ist Kuba. Aber du wirst eine neue Heimat finden. Geh jetzt, Teresa.« -183-
Sie bückte sich und fing zu jäten an. Ich war verwirrt. Ich sah sie noch einmal an und bemerkte, dass ihr Tränen über die Wangen strömten und auf die fruchtbare Erde fielen, die sie so sehr liebte. In der Koppel wartete Almendro auf mich. Er tänzelte nervös, weil er merkte, dass etwas Besonderes im Gang war. Ich tätschelte ihm den Kopf und den glatten Hals. »Almendro«, sagte ich mit einem Kloß in der Kehle, »es gibt kein zweites Pferd wie dich. Du wirst mir so sehr fehlen! Wie frei und glücklich habe ich mich immer gefühlt, wenn wir abends durch die Täler galoppierten!« Ich wusste, er verstand mich. Ich umfasste ihn mit einem letzten Blick, um sein Bild in meiner Seele zu speichern, und ging zurück zum Haus. Es dämmerte schon, als wir wieder bei Tante Nelda ankamen. Wir wurden von ein paar Nachbarn erwartet, die Abschied nehmen wollten. Ich wollte niemand mehr sehen, der Tag hatte mich zu sehr mitgenommen. Ich schloss mich im Badezimmer ein und ließ meinen Tränen freien Lauf. Aber dann klopfte Mutter an die Tür. »Komm raus, Teresa. Die Familie Martinez möchte dich sehen.« Der Gedanke an noch mehr Abschiede war mir unerträglich. Ich wartete, bis Mutter wieder gegangen war, dann schlüpfte ich aus dem Bad, schlich in die Küche und stieg dort aus dem Fenster. Der Abend war warm; es duftete nach Jasmin und Geißblatt. Ich dachte an meine Freundin Coki, die ganz in der Nähe wohnte. Wenn ich sie noch einmal sehen wollte, dann war jetzt die einzige Gelegenheit. Cokis Mutter umarmte mich freundlich, als ich kam. Man merkte, dass der Klatsch über ihre Tochter ihr zugesetzt hatte. Sie sah müde aus und mindestens zehn Jahre älter als vordem. -184-
Ich ging in Cokis Zimmer. Meine Freundin lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Es herrschte ein wüstes Durcheinander im Zimmer. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte Coki. Ihre Augen waren genauso rot und verschwollen wie meine. Ich setzte mich neben sie aufs Bett und nahm ihre Hand. »Teresa, ich habe dir und Mariluz nie gesagt, dass ich…« Wieder kamen ihr die Tränen. »Dass du Mädchen liebst? Ich habe so etwas vermutet, aber ich war mir nicht sicher.« »Bist du jetzt wütend auf mich?«, fragte Coki mit niedergeschlagenen Augen. »Ich bin deine Freundin, deine Schwester. Daran wird sich nie etwas ändern.« Ich zog sie an mich und umarmte sie. »Du hast Glück, Teresa. Du kommst weg von dieser schrecklichen Insel. Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle.« »Was wirst du jetzt machen?« »Ich weiß es noch nicht. Meine Eltern waren sehr verständnisvoll, aber das Ganze ist ihnen äußerst peinlich. Die Stadt ist einfach zu klein und die Leute sind furchtbar spießig. Jedes Mal, wenn meine Mutter zum Einkaufen geht, erzählt ihr garantiert irgendeine Dame, dass sie ihre Tochter nicht in meine Nähe kommen lassen wird. Sie behandeln mich wie eine Verbrecherin! Ich halte das nicht aus. Ich muss hier weg. Vielleicht kann ich nach Havanna gehen. Ich habe einen Vetter dort, der homosexuell ist. Er hat mir schon angeboten, dass ich bei ihm wohnen kann.« »Das klingt prima. In Havanna hast du es bestimmt besser. Aber wovon willst du leben?« »Meine Eltern werden mich unterstützen. Aber genug davon. Was ist mit dir, Teresa? Wann fährst du ab?« »Morgen, ganz früh.« -185-
»Das war’s dann also«, sagte Coki mit unglücklicher Miene. »Tja.« Ich kämpfte mit den Tränen. »Du wirst mir fehlen.« »Du mir auch.« Wir hielten uns fest umschlungen, wie in den schwierigen Zeiten im Lager. Es gab nichts mehr zu sagen… oder auch zuviel. Wie plötzlich unsere Gemeinschaft auseinander gebrochen war! Coki zog nach Havanna, Mariluz blieb im Schularbeitslager und ich ging nach Amerika. Jahrelang waren wir unzertrennlich gewesen, drei Musketiere, die füreinander einstanden. Und morgen würden wir für immer getrennt sein. Es war schon beinahe neun Uhr, als ich wieder zu Tante Nelda kam. Vater und Onkel Manolo sprachen mit ein par Freunden über die Fahrt nach Varadero. Onkel Manolo hatte immer noch Sorgen wegen des Benzins. Die Tankstellen in der Stadt hatten schon seit einer Woche nichts mehr. Julio, ein Nachbar, erbot sich, von Haus zu Haus zu gehen und um Hilfe zu bitten. »Ihr kommt zum Flughafen, Pepe«, sagte er. »Verlass dich drauf. Wozu hat man Freunde?« Nach kurzer Zeit kamen die ersten Nachbarn und brachten ihre Notrationen Benzin in Flaschen und Kannen. Bald war die Veranda voll mit den verschiedensten Gefäßen. Vater bedankte sich bei allen aufs Herzlichste, während Onkel Manolo das Benzin in den Tank füllte. Am nächsten Morgen starteten wir schon vor Tagesanbruch. Trotz der frühen Stunde standen eine Menge Leute auf der Straße, um uns zu verabschieden und dem Auto hinterherzuwinken. Als wir aus der Stadt heraus waren, schloss ich die Augen und dachte an Carmen. Sie war am Vorabend mit mir in den Patio gegangen, den einzigen ruhigen Ort im Haus. Carmen sah müde aus, aber sie wirkte ruhig wie immer. »Niña«, sagte sie in feierlichem Ton, »ich habe mit den Oríchas über dich gesprochen. Sie sagten mir, dass ich dir vor der Abreise die Haare waschen muss.« -186-
»Was, jetzt?« »Es wird nicht lange dauern. Wir gehen am besten in Nenas Haus. Hier sind zu viele Leute.« Zu meiner Überraschung war Nenas Badezimmer voller Blumen und brennender Kerzen. Es roch nach Rosmarin, Minze, Basilikum, Zimt und Rum. Ich musste mich auf den einzigen Stuhl setzen. Daneben stand eine weiße Schüssel mit einer grünen Flüssigkeit, omiero oder heiliges Wasser genannt, die für eine rituelle Kopfwaschung benötigt wurde. Carmen hatte dieses Wasser selbst hergestellt; es war eine Mischung aus den Kräutern, die zu den einzelnen Oríchas gehörten, Kokosmilch, Regenwasser, Meerwasser und Weihwasser, das sie vom Pfarrer bekommen hatte. Carmen war ganz in Weiß gekleidet. Sie hielt eine Kürbisflasche in der Hand, die mit Kaurimuscheln verziert war. »Niña«, sagte sie, »ein kühler und klarer Kopf ist das beste Mittel, um Verwirrung, Krankheit und alle sonstigen Übel fernzuhalten.« Als sie mir mit sanften Händen das Haar löste, lief ein Schauer über meinen Rücken. Carmen begann die oríchas anzurufen, dann schöpfte sie mit ihrer Kürbisflasche heiliges Wasser und goss es mir über den Kopf. »Halte die Augen geschlossen«, sagte sie. Sie rieb mir die Kräuter in die Kopfhaut und diese Massage war ungemein beruhigend. Ich fühlte mich leicht werden, als trüge mich das Wasser des Ozeans. Als sie den Rest des heiligen Wassers über meinen Kopf gegossen hatte, sagte sie: »Nun ist alles getan. Meine Aufgabe ist erfüllt. Dein Kopf ist jetzt befreit von allen unerwünschten Energien; du bist bereit, ein neues Leben in einer neuen Welt zu beginnen. Dein freier Kopf wird die Botschaften der oríchas hören können.« Carmen wand mir ein weißes Tuch um den Kopf. »Behalte das heute Nacht auf. Und jetzt geh schlafen.« Carmen verließ das Haus noch in der Nacht. Aber zuvor kam sie noch einmal zu mir ins Zimmer. Ich hatte das zuerst für ei-187-
nen Traum gehalten, aber jetzt wurde mir klar, dass es Wirklichkeit gewesen war. Sie kam ins Zimmer, als ich schon schlief, kniete sich ans Bett und nahm das weiße Tuch von meinem Kopf. Ich hörte, wie sie Yemayá, Oshún und Changó anrief und sie bat, mich zu beschützen. Dann küsste sie mich zart auf die Stirn und ging.
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16
EINE HÖLLISCHE NACHT
AM MITTAG DES 3. Juli 1970 kamen wir am Flughafen Varadero an. Am Tor der Umzäunung stand ein junger Soldat mit einer Maschinenpistole über der Schulter und einer Zigarette im Mund. Er trat ans Auto und verlangte die Pässe. Als Vater die Autotür öffnete, richtete der Soldat die Waffe auf ihn. »Keine Bewegung!«, sagte er. Mein Vater erstarrte. »Die Pässe!«, sagte der Soldat wieder. »Die Pässe sind in einer Tasche im Kofferraum«, sagte Mutter. »Okay, okay, alles raus aus dem Auto. Und Sie, Mister, holen die Pässe.« Er zeigte mit dem Gewehr auf Vater und beobachtete jede Bewegung mit Argusaugen. Onkel Manolo war so nervös, dass er den Kofferraumschlüssel nicht gleich finden konnte. Dann fummelte Vater eine Weile am Schloss herum, bis er endlich den Deckel aufbekam. Der Soldat prüfte die Pässe sorgfältig und schaute sich uns und die Fotos genau an. »Gepäck hier ausladen«, sagte der Soldat. »Sie beide dürfen nicht auf den Flugplatz«, fügte er an Onkel Manolo und Tante Nelda gewandt hinzu. »Verabschieden Sie sich jetzt.« Mutter und Tante Nelda waren schon die ganze Zeit eng umschlungen dagestanden. Jetzt brachen sie gleichzeitig in Tränen -189-
aus und umklammerten sich noch fester. Auch José und ich umarmten unsere Tante. »Los jetzt. Das Tor ist offen. Gehen Sie hinein.« Neue Umarmungen, neue Tränen. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo wir endgültig die Linie überschritten, die Trennung endgültig vollzogen. Ich fühlte mich ganz schwach. »Kommt, Kinder«, sagte Vater. »Wir müssen gehen.« Die Trennung von Tante Nelda fiel mir schwer. Sie war für mich und José eine zweite Mutter gewesen. Sie war ein gutes Stück jünger als Mutter und hatte als junges Mädchen ihre mütterlichen Instinkte an mir ausgelebt. Auch später noch, als sie und Onkel Manolo eigene Kinder hatten, bezogen sie unsere Familie immer in ihre Unternehmungen mit ein. Wir waren eine Art Großfamilie. Im Sommer mieteten sie immer ein geräumiges Haus am Strand von Varadero, wo wir herrliche Ferien verbrachten. Und jetzt waren wir also wieder in Varadero, aber nicht, um gemeinsam eine schöne Zeit zu verbringen, sondern um uns für immer zu trennen. Unsere Großfamilie teilte sich. Jetzt begann für uns das Exil. Onkel Manolo riss sich als Erster los. Er legte Tante Nelda den Arm um die Schultern und führte sie weg. Mutter gab sich einen Ruck, wischte sich die Tränen ab und ging durch das Tor. Wir folgten ihr. Der Soldat schloss das Gittertor hinter uns. Onkel Manolo und Tante Nelda winkten noch einmal durch den Zaun. »Vergesst uns nicht!«, rief Tante Nelda. Dann ließ Onkel Manolo den Motor an. Wir gingen zum Flughafengebäude und ich schaute nicht zurück. Aus dem Warteraum hörte man ein Durcheinander von Stimmen, und als wir eintraten, sahen wir, dass schon Hunderte von Familien sich darin drängten. Der Rauch von unzähligen Zigarren und Zigaretten lag schwer im Raum und vermischte sich mit dem Schweißgeruch der Menschenmenge. Überall lag Gepäck -190-
herum. Mütter versuchten, ihre schreienden Säuglinge zu beruhigen. Es herrschten eine unerträgliche Hitze und ohrenbetäubender Lärm. Durch die Fenster sah man drei kleine Flugzeuge und in der Ferne das wunderbar türkisfarbene Wasser des Meeres. Alle Sitzgelegenheiten waren belegt, ein paar Familien hatten sich schon auf dem Boden gelagert. Ich entdeckte eine freie Ecke und marschierte schnell darauf zu, bevor uns jemand zuvorkommen konnte. Wir setzten uns auf unsere Koffer und das lange Warten begann. Der Start war erst für den nächsten Morgen vorgesehen. Die Auswanderungsbehörde verlangte, dass alle Ausreisenden schon einen Tag früher zum Flughafen kamen, damit die Dokumente gründlich geprüft und alle Gepäckstücke durchsucht werden konnten. Deswegen mussten wir jetzt vierundzwanzig Stunden in dieser Hölle zubringen! Die Zeit verging nur langsam. Papa konnte nicht lang stillsitzen und machte immer wieder Rundgänge, um irgendetwas zu erfahren, aber umsonst. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Die ängstliche Spannung im Wartesaal war direkt mit Händen zu greifen. Die Auswanderungsbeamten hielten es nicht für nötig, uns etwas mitzuteilen. Wahrscheinlich saßen sie irgendwo beisammen und amüsierten sich über die missliche Lage der verabscheuten gusanos. Gegen Abend bekamen wir Hunger. Glücklicherweise waren wir auf dem Weg zum Flughafen noch in einem kleinen Restaurant eingekehrt, das ein Freund von Manolo betrieb. Geraldo und seine Frau hatten gegen die Gesetze verstoßen, indem sie uns ein köstliches Essen aus Reis und schwarzen Bohnen, Spanferkel und gebratenen Bananen zubereiteten. Solche Mahlzeiten durften eigentlich nur Touristen serviert werden. Die Kinder wurden hungrig und quengelig, die gereizten Erwachsenen rauchten unablässig, bis ihnen die Zigaretten ausgin-191-
gen. Mutter hielt zeitweise das kranke Kleinkind der Familie Torres, die neben uns saß, im Arm. Der Kleine hatte hohes Fieber. Es war schon bald halb acht, als endlich etwas in Bewegung kam. Ein Beamter mit einem Aktendeckel in der Hand trat ein und rief ein paar Namen auf: »Marquez, Avellana, Rivera und Garcia. Folgen Sie mir.« Ein paar Menschen folgten ihm in den benachbarten Raum. Was dort wohl vor sich ging? Die Unruhe im Warteraum wurde noch größer. Ein weiterer Beamter kam und rief die Namen von Pablo und Emilia Torres. Das waren unsere Nachbarn. Sie blieben mindestens eine halbe Stunde aus, und als sie wiederkamen, war Pablo wütend und Emilia tränenüberströmt. Bei ihren Papieren fehlte etwas. Wie sollten sie das besorgen? Sie hatten nicht einmal Geld zum Telefonieren. Es war streng verboten, Geld in den Flughafen mitzubringen. Aber jetzt begannen alle, in ihren Taschen zu kramen, ob sich nicht doch noch eine vergessene Münze finden ließe. Fünf ganze Pesos kamen zusammen, ungefähr so viel wie fünfzig Cent, gerade genug, dass Pablo seinen Bruder anrufen konnte. Dann wurde unser Name aufgerufen. Meine Eltern waren blass. Man wusste, dass so kurz vor der Ausreise noch allerhand passieren konnte. Es gab zum Beispiel manchmal gründliche Leibesvisitationen oder auch endlose Verhöre durch Vertreter der kommunistischen Partei. Man musste immer mit dem Schlimmsten rechnen. Jeder von uns wurde in einen anderen Raum gebracht. Da saß ich nun allein in einem Büro und die Angst stieg in mir hoch. Eine Frau in der olivgrünen Uniform des kubanischen Militärs kam herein und stellte sich vor: »Ich bin Joséfa Martinez. Du kannst mich Hauptmann Martinez nennen.« Sie schlug die Akte auf, die sie dabeihatte, und überflog den Inhalt. Dann sah sie mich nicht unfreundlich an. -192-
»Teresa, ich werde dir ein paar sehr wichtige Fragen stellen und ich erwarte, dass du ehrlich antwortest. Verstanden?« »Ja, Hauptmann Martinez.« »Warum verlässt du das Land?« Das war eine lächerliche Frage. Jeder wusste, warum wir hinaus wollten. Aber man musste gut aufpassen, dass man nicht das Falsche sagte. »Meine Eltern gehen, deshalb gehe ich auch.« »Gehst du freiwillig oder zwingen sie dich?« »Ich gehe freiwillig. Meine Eltern zwingen mich nicht.« »Warum willst du in ein fremdes Land?« »Weil meine Eltern dorthin gehen und weil ich bei ihnen sein möchte.« Hauptmann Martinez wurde ungeduldig. Ihr Blick war nicht mehr freundlich. Sie schaute wieder in die Akte. »Wie ich sehe, sind deine Zeugnisse hervorragend. Und du warst die beste Arbeiterin in deiner Brigade. Außerdem hast du im Schach schon ein paar nationale Turniere gewonnen.« Sie legte den Ordner weg und sagte: »Es ist eine Schande! Unser Land, die Revolution brauchen junge Leute wie dich. Denk daran, wie nützlich du für Kuba werden könntest! Wir könnten dich an die Universität von Havanna schicken. Dort könntest du für internationale Schachturniere trainieren.« Sie setzte sich neben mich. »Ich weiß aus deiner Akte, dass du Ärztin werden möchtest. Willst du nicht in Russland studieren? Sie sind führend in der Medizin und über Schach könntest du bei den russischen Meistern auch noch eine Menge lernen.« Ich sagte kein Wort. Dieses Spiel kannte ich. Gehirnwäsche. Ein paar Freundinnen von mir waren auf diese Weise umgestimmt worden und sind im Land geblieben, als die Eltern ausreisten. Ich würde mich nicht überreden lassen. Verärgert stand Hauptmann Martinez auf. »Ich werde dich später noch einmal holen. Denk inzwischen über mein Angebot -193-
nach, aber verrate keinem, was wir gesprochen haben, auch deinen Eltern nicht.« Ich beeilte mich hinauszukommen. Das Gespräch ging mir im Kopf herum. Wenn sie nun einfach beschlossen, mich nach Russland zu schicken? Dass ich meinen Eltern nichts erzählen durfte, erstickte mich beinahe. Und ich hätte zu gern gewusst, welche Fragen man ihnen und José gestellt hatte. Es ging schon gegen Morgen. Im Wartesaal war es etwas ruhiger geworden. Die übermüdeten Kinder waren endlich eingeschlafen. Außerdem waren im Lauf der Nacht mindestens zwanzig Familien nach Hause geschickt worden. Die Worte von Hauptmann Martinez hatten allerlei Erinnerungen in mir wachgerufen. Wegen der Schachturniere war ich öfters übers Wochenende aus dem Lager herausgekommen. Mindestens einmal im Monat wurden die Schachspieler in eine Stadt gebracht und traten dort gegen eine andere Schule an. Das war eine höchst willkommene Abwechslung. Wir trafen Schüler aus dem ganzen Land, auch ein paar Russen, deren Eltern nach Kuba geschickt worden waren, um als Techniker sozialistische Bruderhilfe zu leisten. Diese russischen Schüler waren privilegiert. Sie bekamen bessere Quartiere als wir und sie konnten in den Touristenläden einkaufen, wo es alles gab. Wir dagegen waren immer hungrig und trugen geflickte Jeans. Einmal gewann ich ein Turnier auf Provinzebene, in der Stadt Sancti Spiritus. Ich war mächtig stolz und freute mich sehr auf die Preisverleihung. Als es so weit war und mein Name gerufen wurde, ging ich aufs Podium, um den Pokal entgegenzunehmen. Meine Freunde klatschten Beifall und schrien meinen Namen. Da stellte sich mir plötzlich ein Uniformierter in den Weg und sagte: »Halt!« Er ergriff den Pokal und ging ans Mikrofon: »Verzeihen Sie die Störung. Aber man hat uns eben mitgeteilt, dass die Siegerin disqualifiziert worden ist.« -194-
Das Publikum protestierte laut. »Genossen und Genossinnen, Ruhe bitte. Das Organisationskomitee hat nach langer Debatte diese Entscheidung getroffen. Die Siegerin, Teresa Fernandez, ist kein Mitglied der Jungkommunisten. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sie ein unerwünschtes Element ist und das Land verlassen möchte. Deshalb hat sie nicht das Recht, einen Preis anzunehmen.« Hauptmann Joséfa Martinez’ Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück. Unsere Namen wurden aufgerufen. Wieder wurden wir in verschiedene Büros geführt, wieder fand ich mich Hauptmann Martinez gegenüber. »Hast du über Russland nachgedacht?«, fragte sie. »Ja, aber ich möchte bei meinen Eltern bleiben. Bitte, schicken Sie mich nicht nach Russland.« »Keine Angst. Das verdienst du gar nicht. Und jetzt werde ich dich gründlich filzen.« Ich erschrak, wagte aber natürlich kein Wort des Widerspruchs. Schon löste sie mir das Haar und fuhr mit den Fingern durch, dann begann sie mich am ganzen Körper abzutasten. Schließlich musste ich mich auch noch ausziehen. Völlig nackt stand ich da, den harten Augen dieser Frau ausgeliefert, und fühlte mich klein und erniedrigt. Hauptmann Martinez lächelte triumphierend. Sie genoss ihre Rache dafür, dass ich ihren Überredungskünsten widerstanden hatte. Ich hätte ihr am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen, aber dann dachte ich an Carmens Worte: »Ruf Changó an, niña. Er ist Feuer, Blitz und Donner. Er wird dich beschützen.« Und ich betete zu Changó und zur heiligen Barbara, seiner christlichen Erscheinungsform, mich aus dieser peinlichen Lage zu befreien. Sofort wurde ich ruhiger. »Zieh dich an, Teresa, und mach, dass du hinauskommst!« Ich zog mich hastig an und stürzte aus dem Raum. Als ich in -195-
den Wartesaal kam, ging hinter den grauen Wolken gerade die Sonne auf und der Himmel erglühte im Morgenrot. Der Tag brach an. Bis hierher hatten wir es geschafft und ein neuer Horizont erwartete uns.
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17
FLUG IN DIE FREIHEIT
ALS DAS FLUGZEUG SICH in Bewegung setzte, ergriff ich Josés Hand und wandte mich zu meinen Eltern um. Ich fühlte die tiefe Traurigkeit meiner Mutter. Sie ging nur wegen mir und José nach Amerika und ihr Schmerz legte sich auch mir auf die Brust. Mein Vater war blass und ich sah am Zucken in seinem Gesicht, dass er genauso nervös war wie ich. Das Flugzeug nahm Fahrt auf. Ich war noch nie geflogen und es war mir ziemlich unheimlich. Ich musste mich dazu überwinden, aus dem Fenster zu schauen. Aber den letzten Blick auf meinen Heimat wollte ich nicht versäumen. Aus der Höhe sah ich die Küste meiner geliebten Insel, die palmenbestandenen weißen Sandstrände, an denen ich so viele Sommer verbracht hatte. Wunderbare Wochen lang hatten wir hier gespielt, geangelt und gebadet. Ich konnte mir kein schöneres Land vorstellen. Und ich würde es wahrscheinlich nie wiedersehen! Und schon war Kuba außer Sicht und der Pilot sagte durch, wir könnten die Sitzgurte öffnen. In diesem Augenblick löste sich das nervöse Schweigen der Passagiere in lautem Freudengeschrei. »Wir sind frei!«, rief eine Frau in der Reihe vor mir, stand auf und tat so, als sprengte sie die dicken Ketten des Kommunismus. »Ein dreifaches Hurra auf die Freiheit!« Ich konnte es noch nicht richtig fassen und saß ganz still in all dem Jubel. Wir hatten jahrelang auf diesen Augenblick gewar-197-
tet, in dem wir den Albtraum des Lebens in Kuba hinter uns lassen konnten. Oft hatte es so ausgesehen, als hätten wir keine Chance, aber wir hatten trotz aller Schwierigkeiten und Schikanen die Hoffnung nie aufgegeben. Meines Vaters Traum von einem besseren Leben in einem freien Land hatte uns gestärkt. Die blonde Stewardess, die Coca-Cola in Plastikbechern anbot, riss mich aus meinen Gedanken. Coca-Cola! Das gab es in Kuba schon lange nicht mehr. José riss die Augen auf, als er es probierte. Dann trank er schnell aus und bat um mehr. Die meisten Erwachsenen machten es genauso. Die Stewardess war die ganze Zeit mit ihrem Tablett unterwegs. Dann brachte sie Sandwiches, die ebenfalls reißenden Absatz fanden. Die ängstliche Spannung wich immer mehr einer ungeheuren Erleichterung, als die Entfernung von Kuba zunahm. Aufgestaute Gefühle brachen sich Bahn. Alle sprachen über die Geschehnisse in der furchtbaren Nacht im Flughafen. Wildfremde Menschen umarmten einander vor Freude. Eine Frau weinte hysterisch. Sie hatte ihren ältesten Sohn wegen der Wehrpflicht in Kuba zurücklassen müssen. Nach vierzig Minuten sahen wir wieder Land. Und als wir in Miami landeten, gab es erneute Gefühlsausbrüche an Bord. »Freiheit!«, riefen die Menschen und der Pilot begrüßte uns in Amerika und wünschte uns Glück. Als wir die Maschine verließen, fielen ein paar Leute auf die Knie und küssten dankbar den Boden. Ich hob mir eine solche Geste auf für den Tag, an dem ich wieder nach Kuba kommen würde. Man brachte uns in einen großen, grün gestrichenen Raum. In einer Ecke hing die amerikanische Fahne, daneben ein Bild von Präsident Nixon. Wir waren voller Ungeduld und wollten raus aus dem Flughafen, aber die Einreiseprozedur zog sich in die Länge. Man musste eine Unmenge Fragen beantworten, seinen Lebenslauf erzählen, Formulare ausfüllen. Abends wurden wir endlich in ein Gebäude namens El -198-
Refugio gebracht, in dem alle kubanischen Flüchtlinge ein paar Tage zubringen mussten, bis das Einreiseverfahren abgeschlossen war. Zum ersten Mal waren wir jetzt wieder unter uns, konnten duschen und uns ausruhen. Die Zimmer in El Refugio waren zwar nicht luxuriös, sondern eng, düster und stickig und mit Stockbetten ausgestattet, aber wir waren glücklich. Außerdem hatten wir ein Bad und die Angestellten im Refugio versorgten uns mit Truthahnsandwiches und Kartoffelpüree. Zu denken, dass unsere Angehörigen in Kuba um jedes Stück Brot Schlange stehen mussten! Freude und Schmerz mischten sich ständig. »Schaut bloß diese kleine Seife!«, rief Mutter und fügte sofort hinzu: »Wenn ich nur Nelda so eine schicken könnte!« Mein Vater war restlos begeistert von der Rasiercreme und dem Rasierapparat. »Mannomann! So viel Spaß hat mir das Rasieren seit Jahren nicht mehr gemacht. Sobald ich in Kalifornien bin, schicke ich Manolo per Brief ein paar solche Klingen.« Schon bald trafen Besucher ein. Tante Herlinda war die Erste; sie kam aus New Jersey. Sie hatte Kuba 1962 verlassen und konnte es nicht erwarten, uns nach acht Jahren Exil zu sehen. Ich konnte mich kaum an sie erinnern, aber ich freute mich, sie zu sehen, und war ihr sehr dankbar, dass sie eigens hergekommen war, um uns zu begrüßen. Sie brachte einen großen Koffer voller Geschenke mit, hauptsächlich Kleidung, die wir dringend benötigten. Außerdem versah sie uns mit Geld. Wir hatten ja keinen Penny. Alle Sachen waren hübsch verpackt und wir wagten kaum, sie auszupacken, weil wir das Papier nicht beschädigen wollten. Und dann hielten wir nagelneue Kleidungsstücke in der Hand! Und neue Lederschuhe! Seit Jahren hatte ich nichts Neues mehr angehabt; man musste froh sein, wenn man irgendwoher etwas Abgetragenes bekam. Ich ging sofort ins Bad, um mich umzuziehen, voller Angst, dass die Sachen vielleicht nicht passen könnten. Ich zog den blauen Rock und die weiße Bluse aus, die Mutter -199-
mir aus abgelegten Kleidern genäht hatte. Dann schlüpfte ich in die neue Hose und die neue Bluse und sah mit Staunen ein ganz neues Mädchen im Spiegel, ein bisschen größer und sogar älter. Jetzt nahm ich auch noch das Gummiband von meinem Pferdeschwanz und ließ mein Haar offen fallen. Ich sah aus wie ein ganz neuer Mensch. Auch José zog sich um und Tante Herlinda machte uns Komplimente über unser Aussehen. »Jetzt wollen wir aber ausgehen!«, sagte sie. Wir freuten uns riesig, aus El Refugio herauszukommen und die neue Welt zu erkunden, in der alles so anders und so spannend war. Wir waren vom Rest der zivilisierten Welt so abgeschnitten gewesen, dass alles unsere Neugier erregte: das Mietauto, das meine Tante fuhr, mit seinen automatischen Fensterhebern und den Sitzen, die man mit einem Knopfdruck verstellen konnte; die Läden, die voll waren mit bunten Kleidern und glänzenden Schuhen; die sauberen Straßen und die gepflegten Häuser. Wir kamen uns vor wie in einem Wunderland. Unsere Begeisterungsschreie nahmen kein Ende. Tante Herlinda lachte über uns und wir lachten mit. Meine Tante brachte uns zu Nico, einem Freund meiner Eltern, der seit 1968 in Miami lebte, und zwar in einem Viertel, das hauptsächlich von Exilkubanern bewohnt war. Zu unserem Staunen sahen wir spanische Namen auf Laden- und Restaurantschildern. Überall hörte man kubanische Musik. Tante Herlinda hielt vor einem Kiosk und bestellte Kaffee für uns alle. Die Inhaberin, eine dicke Kubanerin, schrie die Bestellung auf Spanisch ihrem Mann zu, der nur ein paar Schritte neben ihr stand. Für einen Moment kam ich mir vor wie zu Hause. Vater ließ sich noch eine große kubanische Zigarre geben. Ich konnte es kaum fassen, dass man irgendwo hineingehen und etwas verlangen konnte und es sofort bekam. Schließlich kaufte Tante Herlinda uns noch zwei Päckchen -200-
Kaugummi, weil sie Josés sehnsüchtige Blicke bemerkt hatte. José schob sich sofort einen Streifen in den Mund. Kaugummi war in Kuba eine Kostbarkeit. Unsere Verwandten in den USA legten manchmal einen Streifen in ihre Briefe und wir freuten uns riesig darüber. Und jetzt hatte ich ein ganzes Päckchen für mich allein! In Nicos Haus hatten sich mindestens fünfzehn Leute versammelt, lauter alte Bekannte, die jetzt in Miami lebten. Sie saßen auf der Veranda und begrüßten uns überschwänglich. Ich wurde so oft umarmt, dass mir beinahe die Luft ausging. Mit viel Geschrei und Gelächter wurden Erinnerungen aufgefrischt. Alle hatten sich für diesen Abend mächtig herausgeputzt. In dieser Beziehung übertreiben Kubaner gern ein bisschen. Die Frauen ziehen sich sogar für den Einkauf im Supermarkt elegant an und die Männer tragen dicke Goldketten und protzige Uhren, damit jeder sieht, wie reich sie sind. José und ich waren sprachlos über den Luxus, der bei unseren neuen Bekannten herrschte. Sie hatten Fernseher in allen Schlafzimmern und im Wohnzimmer einen riesengroßen. Und zu allem Überfluss gab es noch einen Swimmingpool. Nico musste noch etwas fürs Essen besorgen und nahm José und mich mit zum Supermarkt. Wir kamen uns vor wie im Schlaraffenland und konnten uns vor Begeisterung kaum mehr einkriegen. Der kubanische Eigentümer erinnerte sich vielleicht an den Tag, als er selbst nach Amerika kam, und schenkte José eine Wassermelone, die so groß war, dass er sie kaum tragen konnte. Das Abendessen war unvergesslich. Nicos Frau Olga hatte alles gekocht, was Kubaner gern essen und was es auf der Insel schon lange nicht mehr gab: schwarze Bohnen und Reis, mit Kreuzkümmel, Oregano und Koriander zubereitet, Schweinebraten mit Papaya, Orangenscheiben und Ananas, Huhn mit Reis, Maniok mit Knoblauch und Koriander gewürzt. Dazu natürlich -201-
frittierte Bananen und Taros, Avocado- und Tomatensalat und diverse Nachspeisen. Nachher fuhren wir alle zum Meer. Es war eine helle Vollmondnacht. Auf dem blauschwarzen Wasser spiegelten sich die bunten Lichter der Gebäude am Strand. Ich schaute den Wellen zu, die kleine Muscheln und Algen anschwemmten, allerdings auch Plastikflaschen und anderen Abfall. Nico sagte: »In manchen Nächten kann man von hier aus die Lichter von Kuba sehen.« Ich hielt die Hände ins Wasser und dachte daran, dass das gleiche Meer Kubas Küsten umspülte. Meine Heimat war so nahe – und doch so fern!
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DIE STADT DER ENGEL
Los ANGELES, DIE STADT der Engel, war für uns nicht gerade das Gelobte Land. Der ungeheure Asphaltdschungel mit seinen Menschenmengen und seinem Lärm erschreckte mich. Keiner interessierte sich für seine Nachbarn, jeder hielt Türen und Fenster verschlossen. Nachts gab es oft genug Straßenschlachten zwischen Schwarzen und Mexikanern. Onkel Manolo besorgte uns eine Wohnung in der Nähe des Flughafens. Im gleichen Haus wohnten noch ein junges Paar mit Kind und die achtzigjährige Hausbesitzerin mit Namen Gertrude. Gertrude war bucklig und von der Arthritis verkrüppelt, ihre Finger waren verkrümmt und geschwollen. Gertrude war streng und unfreundlich. Sie beschwerte sich darüber, dass José und ich Fahrräder und Rollerskates beim Hintereingang abstellten. Wenn wir draußen spielten, beobachtete sie uns mit Argusaugen. Das Haus hatte nur einen schmalen, mit Blumen bepflanzten Vordergarten. Immer, wenn wir ihren Rosen zu nahe kamen, schrie La Americana, wie wir sie nannten, uns an. La Americana kam auch oft unangemeldet zu uns und schnüffelte in der Wohnung herum, ob wir vielleicht etwas kaputt gemacht oder beschmutzt hätten. Aber nach ein paar Wochen gab sie diese Besuche, offenbar ein bisschen beruhigt, wieder auf. Allmählich lernten wir auch ein wenig Englisch und konnten uns mit ihr einigermaßen verständigen. Als sie mich eines Tages beim Malen überraschte, schenkte sie mir die Pinsel und Farbtu-203-
ben ihres verstorbenen Bruders. Weil ich meine Dankbarkeit in Worten nur ungenügend ausdrücken konnte, umarmte ich sie ganz fest. Zuerst erstarrte sie, aber dann erwiderte sie meine Umarmung. Danach wurden wir gute Freunde. Nach der Schule besuchte ich sie oft und sie erzählte von ihrer Jugend, als in dieser Gegend noch kaum ein Haus stand und man nach Belieben ausreiten konnte. Ich war froh, wieder eine Art Großmutter gefunden zu haben. Sie liebte ihren Garten, wie meine Großmutter Petra, und sie war eine gute Geschichtenerzählerin, wie Großmutter Patricia. Von ihr lernte ich viel über das Leben in Amerika. Da meine Eltern beide berufstätig waren, war Grandma Gertrude die einzige, die nach der Schule auf mich wartete. Geduldig hörte sie sich an, was ich in meinem stümperhaften Englisch erzählte. Die Schule hier war grundverschieden von jeder kubanischen Schule. Die Lehrer hatten keine Autorität, sie wurden von den Schülern einfach niedergeschrien. An die militärische Disziplin in Kuba gewöhnt, fand ich das recht erschreckend. Mr. Olegno, ein alter Mann mit buschigen Augenbrauen und einem drahtigen weißen Schnurrbart, lehrte Englisch als Zweitsprache. Er war selbst aus Russland eingewandert und zu alt und müde, um unsere bunt gemischte Gruppe mit Schülern aus Südamerika, Griechenland, Afrika und anderen Ländern zu disziplinieren. Jeden Tag hatten wir nach dem Lunch eine Stunde Unterricht bei ihm. Mr. Olegno schlief meistens ein und wir hatten unseren Spaß. In dieser Gruppe habe ich mehr Griechisch und Portugiesisch gelernt als Englisch. An unserer Schule war es nicht unüblich, dass Schüler Revolver und Messer dabeihatten. Ich lernte bald ein paar lebenswichtige Regeln: in der Mittagspause nicht auf die Toilette gehen; nicht allein heimgehen; wenn jemand Streit anfangen will, so tun, als hörte man nichts. -204-
Aber selbst mit der größten Vorsicht konnte man nicht allen Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. Als ich eines Tages auf mein Essen wartete, drängten sich zwei große schwarze Mädchen vor mir in die Schlange. »Escuse me«, sagte ich in meinem gebrochenen Englisch, »I here before you.« Die eine lachte und schubste mich an die Wand. Ich tat, als wäre nichts gewesen und ging auf meinen Platz in der Schlange zurück. »He, Mexikanerin! Was hast du hier zu suchen?«, sagte die andere und stieß mich an. »Ich bin keine Mexikanerin.« »Mir doch egal. Braun ist braun.« Sie hielt mir ihre langen roten Fingernägel vor die Augen und drohte, mir das Gesicht zu zerkratzen. Ich sah mich nach Hilfe um, aber zu meiner Überraschung waren alle meine Spanisch sprechenden Freundinnen verschwunden. Glücklicherweise war einer der Wachleute in der Nähe. Er machte der Szene ein Ende. Beim Direktor schoben die zwei Mädchen alle Schuld auf mich und wir wurden zwei Tage lang vom Unterricht ausgeschlossen. Noch am selben Tag belegte ich einen Karate-Kurs. Meinen Eltern fiel es auch nicht leicht, sich an die neuen Lebensbedingungen zu gewöhnen. Mein Vater war besessen von der Idee, wieder so vermögend zu werden, wie er es in Kuba gewesen war. Nach sechs Monaten Fabrikarbeit hatte er genug gespart, um einen alten Pick-up zu kaufen. Er kündigte seinen Job und begann mit Altmetall zu handeln. Damit verdiente er zwei- bis dreihundert Dollar in der Woche. Später belegte er einen Kurs über Kühltechnik und eröffnete einen Laden, wo er alte Kühlschränke reparierte und verkaufte. Wir sahen nicht viel von ihm. Meist arbeitete er auch am Wochenende. Abends saß er vor dem Fernseher und zappte geistesabwesend durch die Kanäle, zu müde, um sich mit uns zu unterhalten. Dachte er nicht mehr an die grünen Flüsse Amerikas und -205-
an die großen Forellen, die wir gemeinsam angeln wollten? Mutter, die nie außerhalb des Hauses gearbeitet hatte, hatte einen Vierzig-Stunden-Job in einer Fabrik. Abends war auch sie müde, aber sie beklagte sich nie. Dass sie nicht Englisch sprachen, war für meine Eltern sehr nachteilig. Anfangs hatten sie geplant, eine Abendschule zu besuchen, aber sie merkten bald, dass sie abends zu müde waren zum Lernen. Also mussten mein Bruder und vor allem ich als Dolmetscher fungieren. Ich musste mit zum Doktor, zum Zahnarzt, zum Einkaufen – überallhin, wo man Englisch können musste. Am schlimmsten war es beim Arzt meiner Mutter, einem alten Juden, dessen Namen ich nicht aussprechen konnte. Er wollte zum Beispiel einmal von meiner Mutter wissen, wie oft sie Sexualverkehr hätte und ob sie dabei Schmerzen empfände. Und ich sollte dolmetschen! Ich begann Jobs anzunehmen, um etwas zu verdienen. Ich arbeitete jeden Tag nach der Schule ein paar Stunden und in den Sommerferien ganztags. Auch meine Freundinnen arbeiteten und wir suchten uns nach Möglichkeit gemeinsam einen Arbeitsplatz. Meist waren es Fließbandjobs. Für mich waren diese Jobs nur Mittel zum Zweck – ich wollte mir ein Auto und Bücher kaufen und die College-Gebühren bezahlen. Meine Freundinnen dagegen waren mit der Fließbandarbeit ganz zufrieden. Sie dachten nur an Freunde und ans Heiraten und machten meist die Schule gar nicht fertig. Sie gaben ihr Geld für Kosmetika, enge Kleider und hohe Schuhe aus, um sich einen Ehemann zu angeln. Gegen Ende meiner Highschool-Zeit waren die meisten meiner kubanischen und mexikanischen Freundinnen schon verheiratet, zum Teil hatten sie sogar schon Kinder. Und als auch meine beste Freundin Rosa, mit der ich immer von der Schule -206-
heimgegangen war und mit der ich mich sonntags am Strand amüsiert hatte, die Schule verließ, um zu heiraten, war ich wieder einmal allein, und ziemlich enttäuscht obendrein. Ich hatte fest damit gerechnet, mit ihr zusammen aufs College zu gehen und alle Schwierigkeiten gemeinsam anzupacken. Als ich die Highschool geschafft hatte, war ich stolz und glücklich. Es waren drei schwierige Jahre gewesen, in denen ich neben dem normalen Unterrichtsstoff die englische Sprache von Grund auf hatte lernen müssen. Außerdem herrschte an der Schule ein Klima von Drogen und Gewalt, so dass der Schulbesuch einen ständigen Kampf ums Überleben bedeutet hatte. Aber mit diesem Tag war auch ein Lebensabschnitt zu Ende und deshalb mischte sich Wehmut in die Freude. Ich musste wieder einmal alle Bekannten zurücklassen. Ich schrieb mich an der University of California in Los Angeles ein. Dort gab es Mitte der siebziger Jahre eine Unmenge rassischen und politischen Zündstoff. Die chícanos, das heißt die mexikanischen und sonstigen lateinamerikanischen Studenten, protestierten gegen ihre Diskriminierung. Sie demonstrierten vor der Universität mit Transparenten, auf denen »Chicano Power« stand, und forderten, in der juristischen und der medizinischen Fakultät die Quote für braunhäutige Studenten zu erhöhen. Ich hatte damals nicht genug Einblick ins Bildungssystem und in die Probleme der Chicanos. Ich hatte in den USA bisher nicht unter Diskriminierung gelitten, im Gegenteil, ich bekam ein College-Stipendium, das die Kosten für Studiengebühren und Bücher deckte. Ich hatte allen Grund, dankbar zu sein, besonders wenn ich an die kubanischen Schul-Arbeitslager zurückdachte. Allmählich merkte ich, wie wichtig es war, dass man sich der amerikanischen Lebensweise anpasste, dass man war wie alle anderen. Wenn ich erfolgreich sein und akzeptiert werden wollte, musste ich meine kubanischen Gewohnheiten ablegen. Also kleidete ich mich der Mode entsprechend, gewöhnte mir das -207-
Gestikulieren ab und sprach leiser und langsamer. Ich hörte keine Salsa-Musik mehr und las keine spanischen Romane mehr. Kurz, ich wollte eine Amerikanerin sein. Die Kluft zwischen mir und Kuba, zwischen mir und meiner Familie wurde immer größer. In der amerikanischen Kultur, der ich jetzt angehörte, war kein Platz für Carmens YorubaTradition, für Großmutter Patricias Heilkunst oder auch nur für die Erdverbundenheit von Großmutter Petra. In meinem zweiten College-Jahr hörte ich auf, für die Oríchas Kerzen anzuzünden. Ich hatte zwar noch den Altar in meinem Zimmer, aber ich kümmerte mich nicht mehr um Changó, Oshún, Yemayá und die anderen Gottheiten, die all die Jahre meine Verbündeten gewesen waren. Auch der Briefwechsel mit meinen Angehörigen und Freunden in Kuba schlief allmählich ein. Mit meiner Mutter lebte ich ständig in Streit. Für ihre Begriffe war mein Benehmen schamlos. Ohne die Mutter auf Partys zu gehen, galt für ein kubanisches Mädchen als höchst unziemlich. Dass ich mich bei meinen amerikanischen Freunden unsterblich lächerlich gemacht hätte, wäre ich mit meiner Mutter aufgekreuzt, war für sie kein Argument. Ein anständiges kubanisches Mädchen ging eben nicht mit Amerikanern aus, sondern nur in den kubanischen Klub. Schließlich brachte ich, der ewigen Diskussionen überdrüssig, keinen jungen Mann mehr nach Hause und erzählte auch möglichst wenig von meinem außerhäuslichen Leben. Ich hielt die beiden Welten, in denen ich lebte, streng getrennt. Acht Jahre nachdem ich Kuba verlassen hatte, im Juni 1978, machte ich Examen am College. Wieder einmal war ich stolz und traurig zugleich. Stolz, weil ich den Bachelor in Medizin geschafft hatte, und traurig, weil ich einsamer war denn je. Als die Diplome verteilt wurden, dachte ich sehr intensiv an die geliebten Menschen, die in Kuba zurückgeblieben waren, -208-
und ich hatte eine Art Tagtraum. Ich hörte ein Flüstern: »Negrita, wir sind stolz auf dich.« Und ich sah Carmen, Petra, Patricia, José, Victor, Mariluz und Coki neben mir aufs Podium gehen. Über dem Lärm der Menschenmenge hörte ich ganz deutlich Trommeln. Es waren Batá-Trommeln, Carmens Trommeln. Carmen, in ihrem blauweißen Yemayá-Kleid, tanzte und sang zu ihrem Rhythmus. »Carmen«, sagte ich, »geliebte Carmen.« Diese Vision hielt an, bis ich wieder auf meinem Platz saß. Dann hörte der Batá-Herzschlag auf. Ich sah Carmen blass werden, ihr Tanz wurde langsamer, und dann sank sie zu Boden. Ihr kräftiger Körper ruhte auf der dunklen Erde. Neben ihr kniete Yemayá und wiegte sie in ihren Armen. Oshún brachte ihr frisches Wasser vom Fluss für ein letztes Bad. Dann kamen die Krieger Elegguá, Oggún und Ochosi und tanzten im Kreis um sie herum. Zum Schluss erhellten Blitze den Himmel. Es sah aus wie ein Feuerwerk. Das war Changó, der Carmen im Reich der Geister willkommen hieß und ihr als einer großen Priesterin Ehre erwies. Ein noch lauterer Donner beendete die Vision. Es war der Applaus der versammelten Menge und ich warf meine Mütze in die Luft wie alle anderen. Zwei Tage später erhielten wir ein Telegramm mit der Nachricht von Carmens Tod. Sie war am Abend meiner Abschlussfeier an einem Herzschlag gestorben. So würde ich sie also nie wiedersehen! Ich hatte mir immer vorgemacht, wir würden eines Tages nach Kuba zurückkehren. Von dieser Illusion verabschiedete ich mich jetzt. Aber Carmen hatte mir noch einen Besuch abgestattet, um mich an meine Wurzeln zu erinnern. Ich ging in mein Zimmer und weinte um Carmen und alle die anderen geliebten Menschen, die ich zurückgelassen hatte. Der Schmerz überwältigte mich fast und er war mit Schuldgefühlen gemischt. Da war mir wieder, als hörte ich die Trommeln, welche die Geister herbeirufen, und als sähe ich Carmen. Sie sang -209-
ihre Yemayá-Lieder und umarmte mich. Und ich hörte sie sagen: »Quäl dich nicht, niña. Hör auf zu trauern und mach dir keine Vorwürfe. Wir wollten bleiben und du musstest gehen.« Ich wusste, was sie damit meinte. Ich hatte mich immer schuldig gefühlt, wenn ich am reich gedeckten Tisch saß, während meine Verwandten in Kuba Not litten. Ich fühlte mich schuldig, weil ich das Privileg genoss, in einem freien Land zu leben und sagen und tun zu können, was ich wollte, während meine Freundinnen den Mund halten mussten und von Revolutionswächtern schikaniert wurden. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht da war, als die Großeltern einer nach dem anderen starben. Jedes Mal, wenn ein Familienmitglied in Kuba starb, rief eine der Tanten an. Sie hatte immer genau vier Minuten, um uns die Todesnachricht beizubringen, dann wurde das Gespräch von der Vermittlung in Kuba unterbrochen. Es blieb also keine Zeit, sich nach den Umständen des Todes, nach den letzten Worten des Verstorbenen oder nach dem Begräbnis zu erkundigen. Nach diesen Anrufen saßen wir immer in der Küche beisammen und weinten. Und nach einer Weile sagte Mutter: »Wir müssen stark sein. Wir haben ja gewusst, dass es so kommen würde. So ist das Leben.« Nach Carmens Tod richtete ich den lang vernachlässigten Altar in meinem Zimmer wieder her. Ich staubte die Oríchas ab und stellte neue Kerzen auf. Dann zündete ich sie an und begann die oríchas anzurufen, wie Carmen es mich gelehrt hatte.
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GROSSMUTTERS BESUCH
1980, ZEHN JAHRE nachdem wir Kuba verlassen hatten, durfte
Großmutter Patricia uns besuchen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zwangen Fidel Castro, neue Dollarquellen zu erschließen. Er erlaubte allen alten Kubanern, die ihre Kinder in den USA besuchen wollten, die Ausreise. Als Großmutters Flugzeug landete, waren eine Menge Angehörige und Freunde am Flughafen versammelt. Ob sie uns wohl gleich erkennen würde? Mein Bruder war nicht mehr das magere Kind, das Kuba verlassen hatte; er war durch gute Ernährung und Sport groß und kräftig geworden. Auch Vater und Mutter sahen besser aus. Großmutter war die Letzte. Wir wurden schon unruhig, als sie endlich doch erschien. Ich erschrak. Sie war nicht mehr die starke und schöne Frau, die ich gekannt hatte. Sie war klein und schmal geworden und ihr Rücken war gekrümmt von der Last der Jahre und des schwierigen Lebens auf Kuba. Ich lief ihr entgegen und umarmte sie stürmisch. »Negrita, negrita de mi corazón! Geliebtes Kind, wie erwachsen du geworden bist, und wie schön! Wenn das dein Großvater hätte sehen können!« Sie brach in Tränen aus. Dann erblickte sie ihren geliebten Sohn und strahlte vor Glück. Die beiden umarmten sich tief gerührt. Großmutter war bald wieder die Alte. Sobald sie sich vom Flug erholt hatte, vergaßen wir, dass sie äußerlich gealtert war, -211-
denn ihre Augen funkelten noch wie eh und je und ihre Energie war ungebrochen. Sie nahm die Küche in Beschlag und kochte mit viel Aufwand an Zeit und Arbeit üppige kubanische Mahlzeiten. Was sie dazu brauchte, bekam man alles im Latino Market. Ich wohnte nicht mehr bei meiner Familie, kam aber jeden Tag vorbei, um möglichst viel Zeit mit Großmutter zu verbringen. Als sie das erste Mal hörte, dass ich eine eigene Wohnung hatte, war sie außer sich und machte mir tagelang Vorhaltungen. Aber dann gab sie doch auf und erwähnte das Thema nicht mehr. Von da an saßen wir am Küchentisch so gemütlich beisammen wie in alten Zeiten. Natürlich hatte Großmutter an den amerikanischen Essgewohnheiten allerhand auszusetzen. Von tiefgekühlten Hühnern sprach sie nur mit größtem Abscheu und sie schwärmte von Hühnern und Schweinen, die man selbst aufgezogen, und Fischen, die man selbst geangelt und ausgenommen hatte. Und als Vater am Wochenende ein paar schöne Forellen gefangen hatte, zwang sie mich, sie zu schuppen und auszunehmen. Ich schauderte, aber mir war klar, was sie damit vorhatte: Sie wollte mich dem ländlichen Leben in Kuba wieder näher bringen. Und als ich einmal dabei war, fand ich die Arbeit eigentlich gar nicht mehr so schlimm. Ein anderes Mal merkte ich gleich beim Hereinkommen, dass sie wieder etwas auf dem Herzen hatte. Sie schaute sich meine alte, abgenutzte Ledertasche genau an. »Du solltest dich schämen, mit so etwas herumzulaufen. Eine Kubanerin würde nie mit einer Tasche auf die Straße gehen, die aussieht, als wäre ein Zug darübergefahren.« So war sie auch früher gewesen, daran erinnerte ich mich noch gut. Wenn José und ich bei ihr ankamen und hatten schmutzige Gesichter, Hände oder Kleider, schickte sie uns sofort ins Bad, damit wir uns wuschen. Und sie beschwerte sich -212-
unfehlbar bei unseren Eltern, dass sie uns so aus dem Haus ließen. Als Kind hatte ich mich nicht groß darum gekümmert, aber jetzt ging es mir auf die Nerven. »Ich weiß, Großmutter, so denkt man in Kuba. Die Kubaner sind stolze und elegante Leute, die sich gern herausputzen, um die Welt zu beeindrucken.« »Es ist nicht nur das Äußere, negrita. Du sprichst auch nicht mehr wie eine Kubanerin. Du hast dich verändert.« Das war ein Vorwurf. Aber wie sollte ich mich nicht verändert haben? Großmutter hatte ja keine Ahnung, wie schwierig es war, in einem neuen Land seinen Platz zu finden. Zu den weißen Amerikanern gehörte ich nicht; dafür war ich zu dunkel. Zu den Mexiko-Amerikanern gehörte ich auch nicht. Ich fühlte mich nicht einmal der kubanischen Kolonie in Miami zugehörig. Dort ging es mir viel zu laut und protzig zu und alle machten Sprüche, welche Reichtümer sie in Kuba zurückgelassen hatten. Wenn man sie so reden hörte, war jeder Einzelne Großgrundbesitzer gewesen. Dass das besondere Verhältnis, das ich immer zu meiner Großmutter gehabt hatte, nun unter meiner Amerikanisierung litt, schmerzte mich sehr. »Es tut mir wirklich Leid, Großmutter«, sagte ich. Sie schwieg eine Weile. Dann trat sie ans Fenster und schaute auf den Avocadobaum hinaus. »Nein, negrita«, sagte sie dann, »die Schuld liegt bei mir. Ich hatte erwartet, das kleine Mädchen wiederzufinden, das auf meinem Schoß saß und sich Geschichten erzählen ließ. Aber jetzt bist du eine erwachsene Frau und hast deine eigene Geschichte. Ich wünschte nur, ich hätte deine Entwicklung mitverfolgen können.« Von da an machte Großmutter nie wieder eine abfällige Bemerkung über mich. -213-
Als ich sie das nächste Mal besuchte, schien sie mir ein bisschen geistesabwesend. Bekam sie vielleicht allmählich Heimweh? Ich sprach mit ihr über ihre Rückkehr nach Kuba. Vater hatte immer wieder versucht, sie zum Bleiben zu überreden, aber umsonst. »Großmutter«, sagte ich, »warum willst du eigentlich nicht bei uns bleiben?« Sie antwortete: »Es fällt mir schwer, euch zu verlassen. Aber das habe ich von Anfang an gewusst. Meine Heimat ist in Kuba; dort gehöre ich hin. Dort ist dein Großvater beerdigt und ich will neben ihm liegen, wenn es so weit ist. Und dort kann ich mich noch nützlich machen und Menschen heilen. Und nachmittags kann ich mit meinen Freundinnen Kaffee trinken.« Plötzlich wurde sie blass und eigenartige, tiefe Töne kamen aus ihrem Mund. Ich erschrak und nahm ihre Hand in meine. Sie war kalt. Ich dachte schon, sie würde sterben, und rief angstvoll: »Großmutter, Großmutter!« Sie antwortete nicht. Aus ihrer Kehle kamen immer noch die fremdartigen Geräusche, die an das Brüllen eines Löwen erinnerten. Dann hob sie plötzlich, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, die Arme. Ihre Handflächen zeigten in die Richtung des Avocadobaums. Sie wirkte entrückt. Mutter stürzte herbei und begann Großmutters Arme und Beine zu massieren. »Teresa, ruf einen Krankenwagen«, befahl sie. Ich war plötzlich ganz intuitiv überzeugt, dass Großmutter eigentlich gar nichts fehlte. Trotzdem lief ich zum Telefon. Als der Krankenwagen ankam, erholte sie sich bereits. Der junge Notarzt konnte nichts finden, wollte sie aber vorsichtshalber ins Krankenhaus mitnehmen für eine gründliche Untersuchung. Großmutter weigerte sich entschieden. Mutter versuchte sie zu überreden, aber ich war überzeugt, dass Großmutter wusste, was sie tat. Sie verstand auf ihre Art so viel von Medizin wie der klügste Doktor. In dieser Nacht träumte ich viel. Ich wachte ein paar Mal mit -214-
dem Gefühl auf, ich sei an unbekannten Orten gewesen. Ein Traum ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Ich ging allein eine lange Straße entlang und hörte plötzlich eine Stimme, die aus der Erde kam. Es war eine Frauenstimme, aber zugleich hörte ich, wie die Brandung auf die Felsen am Ufer prallte. In der Ferne sah ich über dem Wasser eine dunkle Frauengestalt mit einem Kind im Arm tanzen. Ich ging ins Meer und wollte zu der Frau schwimmen, aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte sie nicht erreichen. Ich wachte erregt auf, schweißnass von der Anstrengung. »Yemayá, Yemayá, Carmen«, hörte ich mich sagen. Ich wunderte mich über diese Worte und darüber, dass Carmen mich im Traum besucht hatte. Es war ein Ruf aus der Vergangenheit und eine Aufforderung, mich zu erinnern. Am nächsten Tag ging ich nicht zur Arbeit und besuchte stattdessen Großmutter. Ich fand sie im Garten beim Avocadobaum. Zu meiner Überraschung schien der Baum, am Tag vorher noch völlig gesund, am Absterben zu sein. Seine Blätter waren gelb geworden und hingen leblos an den Zweigen. Großmutter stand vor dem Baum, die runzligen Hände an seinen Stamm gelegt. Sie murmelte leise Gebete. Dann trat sie näher an den Baum heran und umarmte ihn, und es sah aus, als wäre sie eins mit ihm. Es war ein eigenartiges, sehr anrührendes Bild und wirkte wie eine religiöse Zeremonie. Dann hörte ich, wie Großmutter dem Baum für sein Opfer dankte. Erst dann wandte sie sich mir zu. »Du denkst jetzt wahrscheinlich, dass ich eine verrückte alte Frau bin«, sagte sie. Wir setzten uns auf eine Bank. »Aber dieser Baum ist ein Freund. Er hat mir geholfen, ein paar schädliche Geister loszuwerden, die in der Familie Übles bewirkt haben.« Sie zündete sich eine ihrer dünnen selbst gerollten Zigarren an. »Lass mich dir eine Geschichte erzählen«, sagte sie. »Als Kind litt ich an Asthma. Damals ging man noch nicht zum Dok-215-
tor oder ins Krankenhaus. Man nahm Hausmittel oder bat den örtlichen curandero um Hilfe. Als das aber bei mir nichts nützte und ich weiterhin Anfälle bekam, brachte mich meine Mutter zu einem Heilkundigen in der Stadt. Dieser weise alte Mann sagte meiner Mutter, sie solle mich jeden Morgen mindestens eine Stunde lang unter einen Eukalyptusbaum setzen. Als sie das einen Monat lang getan hatte, war ich gesund. Und ich habe seitdem nie wieder Probleme mit der Atmung gehabt.« »Erstaunlich«, sagte ich. »Dieser Baum«, sagte sie, indem sie auf den Avocadobaum deutete, »wird die schmerzhaften Wunden heilen, die ihr durch den Abschied von Kuba erlitten habt. Die Trennung hat eure Seelen erschüttert. Gestern, als wir hier saßen, haben die Geister mir erlaubt, diesen Baum für eure Heilung zu benutzen.« »Was für Geister?« »Das sind weise Geister, die sich zwischen den Welten hin und her bewegen. Sie sprechen mit mir. Sie sind immer um uns herum, sie atmen die gleiche Luft, sie leben mit uns. Manche Menschen sehen sie mit ihren Augen. Andere fühlen die Berührung dieser Wesen auf ihrer Haut. Und manche hören ihre Stimmen so deutlich, wie du mich jetzt hörst.« »Ich weiß, wovon du sprichst, Großmutter. Aber ich weiß nicht, wie man mit ihnen in Verbindung treten kann.« »Eines Tages wirst du es merken, negrita. Du bist in Gegenwart starker Schutzpatrone auf die Welt gekommen. Sie wachen über dich und führen dich, auch wenn du es nicht weißt.« »Kannst du es mir nicht selbst erklären?« »Die rechte Zeit dafür ist noch nicht gekommen, negrita. Sei nicht ungeduldig. Wenn ich nicht mehr da bin, wirst du andere Lehrer finden.« Sie rauchte eine Weile gedankenverloren. Dann fuhr sie fort: »Du wirst alles lernen, was du wissen musst. Das ist dir vorherbe-216-
stimmt. Es hat von Anfang an Zeichen gegeben, dass du mit der Geisterwelt in Verbindung stehst. Weißt du noch? Du hast einmal, als du ungefähr sechs Jahre alt warst, eine schwere Hepatitis gehabt. Die Ärzte bezweifelten, dass du am Leben bleiben würdest. Ich weiß noch gut, wie ich dich einmal im Krankenhaus besucht habe. Du hattest in beiden Armen Infusionsschläuche. Ich nahm deine kleine Hand in meine und du hast kaum hörbar gemurmelt: ›Großmutter, bitte, ruf die Engel.‹ Das tat ich und ich betete unablässig für dich. Nach einiger Zeit hast du gesagt: ›Großmutter, die Engel waren da. Ich habe sie gesehen. Aber sie hatten keine Flügel, wie die Engel in den Büchern. Sie waren wie helle Lichter am Nachthimmel.‹ Da wusste ich, dass du gesund werden würdest und dass du auf deinem Weg nicht allein warst.« Großmutter legte mir die Hand auf den Kopf, sah mir fest in die Augen und fragte: »Glaubst du an Bestimmung?« »Ich weiß nicht so recht. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass ich über mein Leben nicht selbst entscheiden kann und dass alles, was uns widerfährt, einem genauen Plan entspricht.« »Bestimmung bedeutet nicht, dass du selbst keine Macht hast«, sagte Großmutter. »Bestimmung ist nichts Passives. Du musst daran mitarbeiten und bist für deine Handlungen voll verantwortlich. Die Menschen haben verschiedene Aufgaben auf der Welt. Unsere Bestimmung gibt uns die Richtung vor. Aber wir müssen selbst herausfinden, wer wir sind und wie wir unsere Begabungen zur vollen Entfaltung bringen.« Sie stand auf und klopfte sich die Zigarrenasche von den Kleidern. Dann sagte sie mit fast feierlicher Stimme: »Dein Kummer und deine Schmerzen sind nicht umsonst gewesen, mi negrita. Du bist jetzt genau da, wo du sein solltest. In diesem Land sollst du deinen Heilungsraum einrichten und deinen Altar aufstellen. Du bist eine curandera. Es ist ganz gleich, was für ein Examen du an der Universität machst. Deine Bestimmung ist, eine curandera zu werden.« -217-
Erst viele Jahre später verstand ich die Bedeutung von Großmutters Worten. Unter der Oberfläche einer normalen, rationalen amerikanischen Person verbarg sich in mir eine Welt unsichtbarer Kräfte und alter Weisheit, eine Welt der Geister. Und ich konnte diese verborgenen Schätze zum Wohl meiner Mitmenschen nutzen, wenn ich die überkommene Heilertradition hochhielt und ehrte.
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20
DIE KRÄHE
EIN PAAR MONATE nach meinem Abschluss am College beendete ein sehr lebhafter Traum den Zwiespalt, in dem ich mich wegen des Medizinstudiums befunden hatte. Ich war in einem kalten Raum, der nach Lysol und Tod roch, und sollte zusammen mit einigen Kommilitonen eine Leiche sezieren, die in einem Plastiksack auf einem metallenen Seziertisch lag. Wir waren nervös; keiner wollte den Anfang machen. Schließlich einigten wir uns darauf, eine Münze zu werfen, und zu meinem Schrecken traf das Los auf mich. Ich ging zum Tisch und öffnete mit zitternden Händen den Reißverschluss. Das runzlige Gesicht einer alten Frau erschien, so gut erhalten, dass es eher wie das Gesicht einer Schlafenden wirkte. Ich betrachtete die feinen Züge und erkannte an dem friedlichen Ausdruck, dass diese Frau ein langes und glückliches Leben gehabt hatte. »Los, Flor, mach vorwärts«, sagte jemand aus der Gruppe. Ich nahm das Skalpell zur Hand und setzte zu einem Schnitt an der Stirn an, aber meine Hände bewegten sich nicht. Ich versuchte, den Widerstand in mir zu überwinden, aber ich konnte es nicht. Nicht einmal im Namen der Wissenschaft. Der Körper vor mir war mir so heilig wie mein eigener. Ich konnte Haut und Fleisch dieser Frau nicht verletzen, auch wenn sie tot war. Ich warf das Skalpell von mir und lief zur Tür. Hinter mir hörte ich die anderen Studenten lachen. Sie riefen: »Du Feigling! Komm zurück!« -219-
Ich erwachte aus diesem Traum in großer Erregung. Und noch am selben Tag beschloss ich, meine bisherigen Ziele aufzugeben. Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass die westliche Medizin nichts für mich war. Stattdessen wollte ich mich mit Heilungsmethoden befassen, die nicht so rücksichtslos in den Körper eingriffen und die darauf Rücksicht nahmen, dass Geist und Gefühle eines Menschen bei der Heilung eine wichtige Rolle spielen. Dieser Entschluss verlangte mir allerhand ab. Ich musste mich von der Vorstellung trennen, die ich von mir selbst gehabt hatte. Seit langen Jahren hatte ich an mir gearbeitet, um den Anforderungen der Universität zu entsprechen, hatte mich als angehende Wissenschaftlerin begriffen, hatte mich nüchtern und objektiv darum bemüht, die Welt rational zu erfassen. Wenn ich mich jetzt den alternativen Heilmethoden zuwandte, musste ich in die unbekannten Tiefen des Unbewiesenen und Unerklärlichen eintauchen. Die Identitätskrise, die ich durchmachte, war erschreckend und erregend zugleich. Das Fundament, auf dem ich bisher gestanden war, zerbrach unter meinen Füßen. Was ich bisher gelernt hatte, konnte ich nicht mehr brauchen. Das Leben war nicht länger etwas Begreifbares und Feststehendes, sondern eine Kraft, die immer im Fluss, immer in Bewegung war. Es war ein Mysterium, das die Wissenschaft mit ihrer beschränkten Sichtweise nicht erfassen konnte. Ich war in dieser Situation wieder einmal völlig allein, hatte tausend Fragen und niemanden, der sie beantworten konnte. Meine Freunde waren überzeugt, dass ich im Begriff war, einen schweren Fehler zu machen. Die ganze Arbeit im vorklinischen Studium sei dann umsonst gewesen, sagten sie. »Du wirfst deine Zukunft weg.« Und ich hatte Angst, wieder zum Außenseiter zu werden. Ich stürzte mich auf Bücher über volkstümliche Heilmethoden. Ich las alles, was mir unter die Finger kam. Und allmählich -220-
formte sich ein Bild vor meinem geistigen Auge. Die Psychologie nahm mich gefangen, aber nicht die klinische Psychologie, die ihren Schwerpunkt auf Krankheiten und Störungen legt, sondern eine ganzheitliche Psychologie, die Geist, Seele und Körper umfasst. Plötzlich öffnete sich mir eine Fülle neuer Möglichkeiten. Ich fühlte mich geführt von den Geistern Carmens und meiner Großmutter Patricia. Ich wollte eine Tradition wiederentdecken, in der heilende Frauen fähig waren, ohne Messer in den Körper zu schneiden. Ihre Hände, ihre Intuition und ihre Verbindung zum Geist waren ihre einzigen Werkzeuge. Als Großmutter Patricia in ihren Briefen von ihrer letzten Reise zu sprechen begann, wusste ich, dass sie uns nie mehr besuchen würde. Ihre Schrift wurde immer zittriger, bis sie schließlich kaum mehr leserlich war. Großmutter starb an einem 23. August, ihrem Geburtstag. An diesem Morgen erwachte ich mit einem Gefühl der Schwere und Bedrückung, das ich für die Folge eines vergessenen Albtraums hielt. Das Gefühl hielt an, auch nachdem ich schon angezogen war und gefrühstückt hatte. Es war, als hinge ein dunkler Schleier über mir, als umhüllte dichter Nebel meine Gedanken. Bilder der Kindheit gingen mir durch den Kopf und betrübt machte ich mir klar, dass Großmutter Patricia der einzige Mensch war, der mich noch mit Kuba verband. Sie hielt dort die Stellung, wie sie mir versprochen hatte. Sie war der Anker, der alte Baum, der fest im Herzen der Erde verwurzelt war. Als ich im Badezimmer in den Spiegel blickte, sah ich mit Erstaunen, dass mein kurzes, lockiges Haar die gleiche Pfefferund-Salz-Färbung bekommen hatte wie das meiner Großmutter. Ich bürstete mir das Haar aus der Stirn und stellte fest, dass ich genauso aussah wie Großmutter Patricia zu der Zeit, als ich ein -221-
kleines Kind war: breites, rundes Gesicht, dunkle, durchdringende Augen, breite Schultern, gedrungener Körperbau. Aufgewühlt durch mein eigenes Spiegelbild und die Erinnerungen, die es weckte, verließ ich das Haus. Als ich zum Auto ging, hörte ich den Ruf einer Krähe, Sie saß auf dem untersten Ast einer alten Föhre. Ihr wiederholtes Krächzen hatte etwas eigenartig Dringliches. Plötzlich fiel der Vogel, wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen, direkt vor mir zu Boden. Meine erste Reaktion war Überraschung. Ich schaute zum Himmel, aber er war klar und blau. Dann bückte ich mich, um die Krähe genauer anzuschauen. Neugierig berührte ich den Körper des Vogels. Er war warm, zeigte aber kein Lebenszeichen mehr. Wie seltsam, dachte ich. Wo war diese Krähe hergekommen? Welche Botschaft brachte sie mir? Ich hatte erst kürzlich gelesen, dass die Indianer überzeugt sind, die Krähe könne verschiedene Gestalten annehmen und als Botin zwischen der materiellen und der geistigen Welt fungieren. Ich kniete mich nieder und nahm den Vogel in die Hand. Unter den Federn spürte ich noch die letzte Wärme, die letzten Reste des Lebens. Betrübt und geichzeitig fasziniert betrachtete ich das Tier und unter meinen Augen verwandelte sich der Vogelkopf in das Gesicht meiner Großmutter Patricia. Ich sah die alte Frau auf dem Totenbett. Sie blickte mich an und streckte die Hand nach mir aus. Ihre Haut war ganz weiß; sie sah direkt übernatürlich aus. Plötzlich entstieg ihrer Brust ein helles Licht, das sich vom Körper entfernte und in der Luft aufging. Meine Großmutter Patricia war tot! Die Krähe war ihre Botin gewesen. Großmutter war jetzt frei von Schmerz und konnte fliegen wie ein Adler. Aber was war mit mir? Alles in mir protestierte. Ich drückte die Krähe an meine Brust, als könnte ich sie damit schützen. Und mir war, als hielte ich statt des Vogels meine Großmutter im Arm. Ich schloss die Augen und betete. -222-
Vier Stunden später bestätigte ein Anruf aus Kuba den Tod der Großmutter. Sie hatte Lungenentzündung gehabt und war friedlich im Schlaf gestorben. Wieder einmal saßen wir zu viert weinend um den Küchentisch und versuchten einander mit unseren Erinnerungen an sie zu trösten. Später, als ich heimging, machte ich einen langen Spaziergang im Park. Ich wollte den Bäumen nahe sein und durch ihre Vermittlung mit dem Geist meiner Großmutter Verbindung aufnehmen. Ich wanderte herum und wartete auf ein Zeichen. Nichts. Ich schaute und lauschte. Das Rascheln der Zedern, Pinien und Eukalyptusbäume begleitete meine Gebete. Hoch am Himmel zog ein Falke majestätisch seine Kreise. Der schmale Pfad, dem ich folgte, gabelte sich; die Abzweigung nach rechts war durch eine umgestürzte Zeder versperrt. Ich blieb stehen und betrachtete die Wurzeln, die aus der Erde gerissen worden waren. Sie erinnerten mich an die vielen Arme, die mich gehalten und gewiegt hatten, als ich ein Kind war. Wie gerne war ich bei Großmutter auf dem Schoß gesessen! Sie hatte mir immer das Gefühl gegeben, nichts auf der Welt könne mir etwas anhaben. Jetzt war sie tot und meine letzte Verbindung mit Kuba war abgeschnitten. Ich trat näher an die Zeder heran und legte meine Hände auf ihre raue Rinde. Ich dachte an meine Großmutter, wie sie so kalt und steif auf dem Totenbett lag. Ihre körperliche Hülle würde im warmen Schoß der kubanischen Erde verwesen. Ihr Geist aber flog über die grünen Weiten des Parks, frei wie ein Falke. Die alte Zeder wirkte beruhigend, wie Großmutter. Sie sprach zu mir mit einer sehr vertrauten, zu Herzen gehenden Stimme. Nicht mit Worten, sondern mit einer lebhaften Folge von Bildern, blitzartigen Erkenntnissen und Geschichten, die in meinem Geist ablief. Ich fühlte mich der Zeder, meiner Großmutter und dem ganzen Universum innig verbunden. Auf dem Heimweg überlegte ich, was ich mit der toten Krähe anfangen sollte. Ich hatte die Todesbotin auf meiner Schwelle -223-
liegen lassen. Ich beschloss, sie zu beerdigen. Weil ich beim Begräbnis meiner Großmutter nicht anwesend sein konnte, wollte ich mir so eine Gelegenheit schaffen, zu klagen und zu trauern, aber auch der großen Heilerin Ehre zu erweisen. Ich begann, alles Notwendige für diese heilige Zeremonie zusammenzustellen; dabei verließ ich mich auf Kindheitserinnerungen und auf meine Intuition. Ich wollte alles so machen, wie Großmutter es am liebsten gehabt hätte. Sie hatte eine sehr individuelle Religion gepflegt. Sie betete zu allen katholischen Heiligen, ging aber nie in die Kirche; sie war keine santera und verehrte trotzdem die Yoruba-Gottheiten. Sie setzte sich mit ihnen je nach Bedarf in Verbindung. Häufig rief sie die heilige Barbara oder deren Yoruba-Entsprechung Changó an, in anderen Fällen wieder bevorzugte sie die heilige Teresa und die Yoruba-Gottheit Oyá. Ich suchte im Haus ein paar Muscheln zusammen und richtete Mais und getrocknete Kräuter als Opfergaben her. Dann ging ich in den Garten. Unter einer Strauchrose fand ich einen geeigneten Platz für die Beerdigung und hob eine kleine Grube aus. Ich legte den Vogel auf den Boden und begann, ihn für seine letzte Reise zu säubern und vorzubereiten. Ich besprengte seine Federn mit Floridawasser, dann verbrannte ich eine Mischung aus Salbei, Rosmarin und Lavendel in einer Muschel und beräucherte damit seinen Leib. Ich versetzte mich im Geist nach Kuba. Großmutter lag nackt auf dem Bett in ihrem Behandlungsraum, neben dem Altar. Ihr Körper war abgemagert und bläulich. Ich erinnerte mich an das Ritual meiner Heimat, einen geliebten Toten selbst zu waschen. Ich stellte mir vor, dass ich die Kerzen auf Großmutters Altar anzündete. Dann bereitete ich ein warmes Bad mit frischen Kräutern und Blumen und aromatischem Eukalyptus- und Zitronenblütenöl. Ich hob Großmutter ins Wasser. Mit einem Schwamm wusch ich ihren faltigen alten Körper und dachte daran, dass sie mich nach meiner Geburt gewaschen hatte. -224-
Nach dem Bad legte ich Großmutter wieder auf das Bett und zog ihr ein schönes, besticktes weißes Kleid an. Ich kämmte ihr das Haar und legte ihr eine rote Orchidee und eine Gardenie auf die Brust. Ihre Hände, die ich ihr auf der Brust faltete, waren so stark und schön wie in meiner Kindheit, als sie meine Krankheiten heilte. Großmutters Hände! Es waren die Hände einer Heilerin, die Hände der Hebamme, die mich aus dem Mutterleib geholt hatten, als der Blitz die Dunkelheit durchbrach. Im Geist nahm ich ihre Hände in meine und fühlte, wie die Kälte des Todes vor der Wärme des Lebens ein wenig zurückwich. Der Duft der brennenden Kräuter brachte mich wieder in meinen Garten zurück. Der Wind trug gelegentlich einen Hauch von Jasmin und Geißblatt aus anderen Gärten zu mir. Als ich so auf der feuchten Erde saß, empfand ich die gleiche ruhige Freude, die ich als Kind im Garten der Großmutter erfahren hatte. Ich fühlte Großmutter neben mir und sie erzählte mir etwas über die Kräuter. Ihre Stimme klang mir ganz deutlich im Ohr und weckte tausend verdrängte Erinnerungen. Ich fühlte die Sommerhitze meiner Heimat auf meiner Haut und ich atmete die feuchte Luft mit ihrem Geruch nach Zuckerrohr und Kaffee. Eine sanfte Brise kam aus Westen, von den Bergen her und die Stimme meiner Großmutter sagte: »Willkommen, negrita. Willkommen daheim.« Wenig später begann es zu regnen und wieder spürte ich deutlich Großmutters Gegenwart. Sie war jetzt ein Teil meiner Welt geworden; sie war in der Luft, die ich atmete, in den Wassern, die den Ozean füllten und in den Flüssen strömten. Sie war in den Bergen rings um die Stadt, in der Brise, die über meine Wangen strich und in den Blumen meines Gartens. Großmutter wachte über mich und betete für mich. Und ihre ruhige Stimme sagte: »Du bist nicht allein, negrita. Wir sind alle bei dir, für alle Zeit.« -225-
Ich schaute zum Himmel auf, der jetzt dunkel und geheimnisvoll war. Ich warf dem Vogel eine letzte Handvoll Erde auf das Grab. Dann sah ich meine Hände an und erblickte die starken Hände meiner Großmutter. Diese Hände verbanden mich mit Großmutter und der langen Reihe von curanderas, die vor ihr gewesen waren. Diese Hände bewahrten die aus Urzeiten herrührende Tradition einer Heilkunst, die ihre Wirkung aus der Verbindung von menschlichem Wissen und göttlicher Kraft bezog.
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