Stefan Wolf
Die Stunde der schwarzen Maske Ein Fall für
TKKG
ISBN 3-8144-0135-2 © 1983 by Pelikan AG • D-3000 Hanno...
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Stefan Wolf
Die Stunde der schwarzen Maske Ein Fall für
TKKG
ISBN 3-8144-0135-2 © 1983 by Pelikan AG • D-3000 Hannover 1 Alle Rechte vorbehalten Gesamtleitung und Textredaktion: Egon Fein, f-press medien produktion gmbh, München Umschlag-Gestaltung und Text-Illustration: Reiner Stolte, München Graphische Gestaltung: Heinrich Gorissen, Miinchen Gesamtherstellung: westermann druck, Braunschweig Schrift: 10/12 Punkt Palatine Printed in Germany
Inhalt 1. Sabine, die Einbrecherin . . . . . . . . . . . . . . 2. Wie kommt die goldene Ente zu Schrumpf? . . . . 3. Zwei, die sich nicht verstehen . . . . . . . . . . . 4. Einen Dummen gefunden . . . . . . . . . . . . . 5. Die Festung im Steilen Zahn . . . . . . . . . . . . 6. Gartenfest bei Friedrich dem Großen . . . . . . . . 7. Vorfreude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Abgrund der Verworfenheit . . . . . . . . . . . . 9. Auf großer Fahrt mit dem Heißluftballon . . . . . 10. Arco von Barfly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Die falsche Adresse . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. In letzter Sekunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Mit Verbrechen fängt die Woche an . . . . . . . . 14. Heißer Tip - kostenlos . . . . . . . . . . . . . . . 15. Der Coup im Hochhaus-Lift . . . . . . . . . . . .
11 22 33 48 56 70 82 93 106 120 130 143 150 159 169
TARZAN heißt in Wirklichkeit Peter Carsten, aber kaum einer nennt ihn so. Er ist der Anführer unserer vier Freunde, der TKKG-Bande. Warum sie so heißen? Weil das die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen sind: Tarzan, Klößchen (auch das ist freilich nur ein Spitzname), Karl und Gaby. Tarzan, 13 Jahre und ein paar Monate alt, ist immer braun gebrannt und ein toller Sportler — vor allem in Judo, Volleyball und Leichtathletik, und da besonders im Laufen. Seit zwei Jahren wohnt der braune Lockenkopf in der Internats-Schule, geht jetzt in die Klasse 9 b. Sein Vater, ein Ingenieur, kam vor sechs Jahren bei einem Unfall ums Leben. Seine Mutter, die als Buchhalterin arbeitet, kann das teure Schulgeld nur mühsam aufbringen. Doch für ihren Sohn ist ihr nichts zuviel. Tarzan dankt es ihr mit guten Zeugnissen. Aber deshalb würde ihn niemand — nicht mal im Traum — für einen Streber halten. Im Gegenteil: Wenn es irgendwo ein Abenteuer zu erleben gibt, ist er der erste und immer dabei. Ungerechtigkeit kann ihn fuchsteufelswild machen. Und so kommt es, daß er für andere immer wieder Kopf und Kragen riskiert.
KARL, DER COMPUTER geht in dieselbe Klasse wie Tarzan, in die 9b, wohnt aber nicht im Internat, sondern bei seinen Eltern in der Stadt. Er heißt mit Nachnamen Vierstein, und sein Vater ist Professor für Mathematik an der Universität. Wahrscheinlich hat Karl von ihm das tolle Gedächtnis geerbt, denn er merkt sich einfach alles — wie ein Computer. Karl ist lang und dünn, und wenn ihn etwas aufregt, putzt er sofort die Gläser seiner Nickelbrille. Bei einer Prügelei nützt ihm sein Gedächtnis leider wenig. Muskeln wären dann besser. Weil er die nicht hat, bleibt er lieber im Hintergrund und kämpft mit den Waffen seines Gehirns — aber feige ist er nie.
KLÖSSCHEN ist ein prima Kerl, an dem man nichts auszusetzen hätte, wenn er bloß nicht so vernascht wäre. Eine Tafel Schokolade — und er wird schwach. Noch lieber sind ihm zwei, drei oder gar fünf Tafeln. So bleibt es nicht aus, daß Willi Sauerlich — so heißt er mit vollem Namen — immer dicker und unsportlicher wird. Zusammen mit Tarzan, in dessen Klasse er auch geht, wohnt er im Internat in der Bude ADLERNEST. Klößchens Eltern, die sehr reich sind und in der gleichen Stadt leben, haben nichts dagegen, denn dem Jungen gefällt es bei seinen Kameraden besser als zu Hause. Da ist mehr los, sagt er. Sein Vater ist SchokoladenFabrikant, und er hat sogar einen Zwölf-Zylinder-Jaguar. Heimlich wünscht Klößchen sich, so schlank und sportlich zu sein wie Tarzan.
GABY, DIE PFOTE hat goldblonde Haare und blaue Augen mit langen dunklen Wimpern. Sie ist so hübsch, daß Tarzan manchmal nicht hingucken kann, weil er sonst rot wird. Er mag sie halt sehr gern. Aber affig ist Gaby Glockner deshalb kein bißchen — im Gegenteil: Sie macht alle Streiche mit. Selbstverständlich passen die drei Jungens immer auf sie auf, besonders wenn's gefährlich wird. Vor allem Tarzan ist dann sehr besorgt. Er gibt es zwar nicht zu, aber wenn es darauf ankäme, würde er sich für Gaby zerreißen lassen. Sie wohnt, wie Karl, bei ihren Eltern in der Stadt, besucht aber auch die Klasse 9b im Internat. Der Vater ist Kriminalkommissar, die Mutter führt ein kleines Lebensmittelgeschäft. Als Rückenschwimmerin ist Gaby unschlagbar, und in Englisch hat sie die besten Noten. Sie ist sehr tierlieb und läßt sich von jedem Hund die Pfote geben, deshalb heißt sie auch „Pfote". Kein Wunder, daß sie mit großer Liebe an Oskar hängt, ihrem schwarz-weißen Cocker-Spaniel, Leider ist er auf einem Auge blind. Aber er riecht alles, besonders gebratene Hähnchen.
Stefan Wolf Ein Fall für TKKG Die Jagd nach den Millionendieben Der blinde Hellseher Das leere Grab im Moor Das Paket mit dem Totenkopf Das Phantom auf dem Feuerstuhl Angst in der 9 a Rätsel um die alte Villa Auf der Spur der Vogeljäger Abenteuer im Ferienlager Alarm im Zirkus Sarani Die Falschmünzer vom Mäuseweg Nachts, wenn der Feuerteufel kommt Die Bettelmönche aus Atlantis Der Schlangenmensch Ufos in Bad Finkenstein X 7 antwortet nicht Die Doppelgängerin Hexenjagd in Lerchenbach Der Schatz in der Drachenhöhle Das Geheimnis der chinesischen Vase Die Rache des Bombenlegers In den Klauen des Tigers Kampf der Spione Gefährliche Diamanten Die Stunde der schwarzen Maske
l. Sabine, die Einbrecherin Es war in der Nacht zum Samstag - noch nicht sehr spät, aber spät für 13jährige —, als die TKKG-Bande vom Lagerfeuer zurückkehrte. Freunde der Pfadfindergruppe Mungo hatten sie eingeladen, und das Erlebnis glühte noch in ihnen wie die Scheite des erlöschenden Feuers. Tarzan fuhr mit Gaby voran. Klößchen hielt sich im Augenblick die Hände frei, um eine Tafel Schokolade - seine unvermeidliche Notnahrung und Wegzehrung — zu öffnen. Karl, der Computer, radelte als Schlußlicht und resümierte (faßte zusammen)in Gedanken — also diesmal still und ganz für sich —, was er über Pfadfindertum wußte. „Pst!" Tarzan hob die Hand, und sein rennmäßiger Drahtesel gehorchte — sozusagen auf Schenkeldruck. „Was ist?" Gaby hatte nichts gehört. „Da hat was geklirrt." Er dämpfte die Stimme. „Aber nicht, als wenn zwei sich zuprosten oder ein Glühwürmchen an die Scheibe bumst." Sie durchradelten das feinste Villenviertel der Stadt. Gärten und Parks schmückten sich mit spätsommerlicher Pracht. In der Schwüle der Nacht hatten sich Heerscharen von Insekten aufgemacht, und in den Biergärten und Straßencafes liefen Kellner und Serviererinnen sich Senkfüße. „Na und?" flüsterte Klößchen. „Vielleicht hat ein Kater eine Kätzin von der Milchschüssel weggeschubst." „Willi, dein Instinkt für Gefahr ist unter Schokolade verschüttet." Tarzan stieg ab. „Nicht nur deinem Bauch täte Diät gut, damit du wieder merkst, was Sache ist. Halt mal!" Er lehnte ihm sein Rennrad ans linke Bein und bedeutete mit geheimnisvoller Geste, daß er nachsehen werde. Denn: Verantwortungsbewußtsein hat man entweder, oder man hat's nicht. 11
Aus Gabys zarten Lippen kam ein Seufzer. Ihr war schläfrig zu Mute, besonders in den Blauaugen, über denen jetzt der Silberhauch von Müdigkeit lag. Sie wollte ins Bett. War es doch ein prickelnd schöner, aber auch anstrengender Abend gewesen. Denn die Pfadfinder hatten auch zu ihr hin gefunden und sie buchstäblich umschwärmt, als handele es sich um Motten und nicht um Mungos. Ohne Tarzans Anwesenheit hätte man sie sicherlich mit Anträgen nur so bombardiert, was jedoch unterblieben war; denn wer, wenn er wenigstens zwei seiner fünf Sinne beisammen hat, hätte sich mit ihm, Tarzan, angelegt. Eben flankte er lautlos über den Zaun. Dahinter schlief ein Park in der Sommernacht. Der Vollmond hatte alle Tiefstrahler angeknipst. Tarzan sah also, daß es sich um ein nobles Stück Gartenarchitektur handelte -mit Büschen, in denen es summte und hummelte, mit Blüten, deren Duft von keinem Parfüm erreicht wird; und irgendwo im Hintergrund plätscherte sogar ein Springbrunnen, oder war es der Zulauf zu einem Schwimmbecken? 12
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Das Haus stand hinter Sträuchern und Bäumen: ein schwarzer Klotz, unbeleuchtet und höchstens so groß wie ein Schloß. Mit indianerhafter Gewandtheit pirschte Tarzan durch die Büsche. In Richtung Villa, natürlich. Das Klirren war von dort her gekommen. Im Schatten einer Jungbuche blieb er stehen. Mondlicht floß in Wellen über die Terrasse, wo schicke Gartenmöbel auf Diebe warteten. Geklirrt hatte vermutlich ein Dachziegel, denn von hoch oben seilte sich der Einbrecher ab. Das Seilende baumelte zur Terrasse herunter. Eben glitt die dunkle Gestalt über den Dachrand, hampelte einen Moment von schräg nach links und ließ sich dann Hand über Hand im freien Klettergriff absinken. Tarzan flitzte los, lautlos und geduckt. Der Einbrecher schien äußerst gewandt: eine mittelgroße Gestalt und schwarz gekleidet wie der Tod. Auf dem Kopf trug der Kerl eine Mütze. Als seine Fußspitzen festen Boden berührten, stand Tarzan hinter ihm. „Waaahhh", raunzte er, um auch die Schrecksekunde für sich auszunutzen. Gleichzeitig packte er den Dunkelmann mit eisernem Griff. Die Überraschung gelang. Schreck versteinerte den Kerl. Aber nur für zwei Sekunden. Blitzartig drehte er sich in Tarzans Griff, befreite sich, wirbelte herum, griff seinerseits zu und setzte einen Hüftwurf an, der beim Judo zum kleinen Einmaleins gehört. Tarzan hatte nicht erwartet, daß sein Gegner sich widerstandslos ergebe und kniefällig um Gnade bitte. Aber einen Judo-Kämpfer vor sich zu haben, das überraschte ihn. Und nicht nur das. Ein schwarzes Gesicht war ihm zugewandt — vielmehr: eine schwarze Gesichtsmaske, in deren Sehschlitzen Tigeraugen funkelten. 14
Tarzan konterte (durch Gegenangriff abwehren). Platsch! — saß der Kerl auf dem Hintern. Das tat sicherlich weh, denn sein Trikot war hauteng und keine modische Ritterrüstung wie bei Eishockey oder amerikanischem Football. Gerade wollte Tarzan fragen, ob's damit genug sei oder der andere ernsthafte Beschädigungen wünsche — als der Beinhebel zustieß. Ein Spezialist für Bodentechnik, dachte er böse. Denn der Trick war gelungen. Auch Tarzan saß nun auf den Steinplatten, war freilich wie in Zeitlupe gelandet; aber jetzt erwachte sein Kämpferherz, jetzt drehte er auf. Der Gegner quietschte entsetzt. Dann steckte er in einem Würgegriff, aus dem es kein Entrinnen gab. Selbst ein Gorilla hätte die Waffen gestreckt, bzw. alle Viere von sich, und der Einbrecher war nicht mal ein Halbaffe. Er quietschte nochmals. Seine Knochen knackten wie 100jährige Türangeln voller Rost. Schwarz wie sein Aufzug war — so wurde es ihm jetzt auch vor Augen. Der beinharte Griff hätte sein Bewußtsein gelöscht wie ein Taifun brennende Weihnachtskerzen. Aber Tarzan ließ los. „Hoppla!" sagte er verblüfft. „Sie sind ja eine Frau." Langsam wälzte sie sich auf den Rücken. „Oh!" keuchte sie. „Bist du der Weltmeister? Oder an wen bin ich da geraten?" „Für eine Frau sind Sie aber auch ganz gut", meinte er gönnerhaft - waren sie doch für diesen Moment nur Judokas, Sportler unter sich. Aber dann sagte er: „Sie sind eine Schande für unseren Sport. Zu richtigem Judo gehört auch die Gesinnung. Einbrechen, stehlen, Besitz umverteilen — ist außerhalb der Regeln und ein ganz mieser Zug. Tut mir leid, Sportsfreundin: Jetzt geht's ab hinter Gitter. Nämlich zur Polizei." 15
„Ach, wirklich!" seufzte sie. „Und keinen Fluchtversuch, sonst werde ich ernstlich böse." „Um Gottes willen! — nur das nicht." Sie erhob sich und streifte Mütze und Gesichtsmaske ab. Langes Haar rauschte auf ihre Schultern. Es war lockig und honigfarben, soweit sich im Mondlicht erkennen ließ, das Gesicht hübsch: ein bißchen katzenhaft im Schnitt, aber lustig im Ausdruck. Die schräggestellten Augen funkelten grün. Es war eine junge Frau. Verständnislos schüttelte Tarzan den Kopf. „Himmel, haben Sie's nötig einzubrechen? Sie würden doch bestimmt einen Job finden. So wie Sie aussehen — ich meine, Sie machen keinen üblichen Eindruck." „Danke für das Kompliment", lachte sie. „Aber der Eindruck täuscht", setzte er knallhart hinzu — damit sie nicht denken sollte, er ließe sich einwickeln. „Wenn du meinst. Und was den Job betrifft — ich habe einen. Ich bin hauptberuflich Einbrecherin. Mein Fehler ist nur, daß ich die Sache zu sehr romantisiere. Ich mache ein Spiel draus, verstehst du. Eigentlich sollte ich auf die Maske verzichten. Aber mit der bin ich schon damals im Zirkus aufgetreten und . . . nein, ich mag das einfach." „Aha!" Er verstand kein Wort. Im Hintergrund knackten Zweige. „Fängst du einen Einbrecher, oder machst du eine Gartenparty?" fragte Gaby aus sicherer Entfernung. „Es ist eine sie", erklärte er. Und gleich wandte er sich wieder an die schwarze Maske. „Name?" blaffte er, im Stil überfordeter Ordnungshüter, die nach Terroristen fahnden. „Sage ich dir gern", lachte sie. „Ich bin Sabine Lenz. Der Name stimmt. Dort hinten steht mein Wagen. Ich werde mich ausweisen. Die gehören wohl zu dir?" 16
Das bezog sich auf den Rest der TKKG-Bande, der soeben ohne die draußen geparkten Tretmühlen - auf die Terrasse marschierte, um den Fang zu begutachten. Streng musterten sie die junge Frau. „Also hat's doch geklirrt", meinte Klößchen. „Aber das Nichthören hat nichts mit meinem Schokoladenkonsum zu tun, Tarzan. Vielmehr liegt's an den Ohren." „Ah, dich nennen sie Tarzan", sagte die Einbrecherin. Dann — verblüffend für alle — reichte sie Gaby die Hand. Pfote war so verdutzt, daß sie einschlug. „Ich bin Sabine", sagte die Einbrecherin und begrüßte Karl und Klößchen gleichermaßen. Ein Gemüt wie eine Fleischerhündin, dachte Tarzan. Bestimmt steckt eine List dahinter. Aber da bist du schief gewickelt, Sabinchen, falls du wirklich so heißt. Für Einbrecherinnen — und seien sie noch so apart — gibt es keinen Pardon. Verdutzt hatten Gaby, Karl und Klößchen sich vorgestellt. Klößchen schien zu überlegen, ob er ihr Schokolade anbieten solle. Karl zog prüfend an dem Seil, das regenwurmschlapp vom Dach herab hing. Wo hat sie ihre Beute? dachte Tarzan. Wenn's ein Kerl wäre, könnte ich eine Leibesvisitation (Durchsuchung) machen. Aber so — nein! Die Ohrfeige wäre berechtigt. „Und wo haben Sie das Diebesgut?" herrschte er sie an. Ihr Lächeln bestrahlte ihn. „Ich habe nichts, Tarzan. Ich breche zwar ein, aber ich stehle nicht. Ich verschaffe mir lediglich Einlaß ins Haus. Und der Besitzer weiß, daß ich komme. Ich bin vorher angemeldet. Damit die Sache unter natürlichen Bedingungen abläuft - wie bei üblichen Einbrüchen —, überläßt der Hausbesitzer mir das Feld; er und die anderen Bewohner verbringen die Nacht anderswo. Ihr müßt wissen, ich arbeite für eine Versicherungsgesellschaft, für die Aurora. Ich bin beschäftigt in der Abteilung Sach- und Hausrats-Versicherungen." 17
„Selbstverständlich", nickte Tarzan. „Alles klar. Sie sind ein vielseitiges Talent, Fräulein Lenz . . . " „Sabine", unterbrach sie ihn. „Bitte, nennt mich Sabine! Und sagt du zu mir. Ich finde euch entzückend. Und ich könnte eure ältere Schwester sein." „Ihre plumpe Vertraulichkeit, Fräulein Lenz", fuhr Tarzan unbeirrt fort, „verfehlt die Wirkung. Für eine Schwester mit ihrer Moral würde ich mich bedanken. Immerhin kann ich Ihnen gewissen Respekt nicht versagen. Sie klettern sehr gut ich bin da auch Spezialist -, Sie verstehen was vom Judo, und vor allem haben Sie Talent zur Märchentante. Eine erstaunliche Vielseitigkeit." Wieder lachte sie. „Du glaubst mir nicht?" „Wie an Gespenster." „Gut, dann trete ich den Beweis an." „Aber im Schritt. Und ich warne nochmals vor Flucht." „Du kannst mich ja fesseln. Oder an die Leine nehmen. Vorsicht!" Sie hatte das Seil gefaßt, gab ihm einen spiraligen Schwung, der sich nach oben fortsetzte, und trat zurück. Auf dem Dach klirrte es. Dann fiel das Seil herab und mit ihm ein stählerner Enterhaken, der sich — hinaufgeworfen — festkrallt. Lässig fing sie ihn auf. „Puh, Leute! Ich bin vielleicht im Streß." Sie schüttelte ihr Honighaar zurück und hob Mütze und Maske auf. „In letzter Zeit hatte ich bis zu 20 Einbrüche pro Monat. Das schlaucht." „O weh!" meinte Karl. „Das werden ja mindestens acht Jahre Gefängnis — trotz ihrer Jugend." „Eigentlich schade", sagte Klößchen. „Um die schönen Locken - meine ich. Im Gefängnis schneiden sie die ab. Tarzan, bist du nicht der Ansicht, wir sollten sie laufen lassen?" Auch Gaby und Karl blickten Sabine mit unverhohlenem Wohlwollen an. 18
„Das ist nett von dir, Willi", Sabine hatte eine perlige Stimme, die immer nach Lachen klang. „Wir haben bereits Freundschaft geschlossen, wie? Und wir, Gaby, und wir, Karl, auch. Nur Tarzan ist wie aus Granit." Schlange! dachte er. Hast also meine Freunde schon rumgekriegt. Aber ich lasse mich von niemandem becircen (verführen) — außer von Gaby, natürlich. Mit mir nicht, Fräulein Lenz! Nicht mal im Mai, und jetzt haben wir Spätsommer. „Treten Sie Ihren Beweis an!" sagte er kühl. „Wo steht Ihr Wagen?" „Direkt vor der Einfahrt." „Ein grünes Sportcoupe?" fragte Gaby. „Das ist er." „Es ist ganz auffällig vor der Einfahrt abgestellt", wurde Tarzan von Gaby aufgeklärt. „Begreifst du nicht den Trick? Die Auffälligkeit ist ihre Tarnung. Ich wundere mich nur, daß sie sich als schwarze Maske, als Giebelschreck und Dachfirst-Phantom, maskiert hat — und nicht als Schornsteinfeger. Das wäre noch unauffälliger. Freilich - Kaminkehrer machen wohl meines Wissens keine Überstunden um diese Zeit." Sabine lachte. „Begleitet ihr mich zu meinem Wagen?" „Begleiten?" sagte Tarzan. „Sie werden dorthin abgeführt!" Das war letzten Endes Auffassungssache — jedenfalls gingen sie alle zur Einfahrt, wo Sabine das Sportcoupe aufschloß. Sie legte Enterhaken und Seil auf den Rücksitz — Mütze und Maske dazu. Aus dem Handschuhfach nahm sie ein Handtäschchen. Tarzan hatte es bis zuletzt nicht geglaubt, vielmehr mit einem Trick gerechnet, mit weiblicher List. Staunend las er, was im Paß stand, nämlich, daß es sich um Sabine Lenz, 167 cm, Augenfarbe grün, derzeit 26 Jahre alt, handelte. 19
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Auf dem Paßfoto lächelte sie, daß es dem Photomaton (automatischer Apparat zur Herstellung von Fotos) sicherlich ganz warm geworden war ums Herz. „Glaubst du mir jetzt?" fragte sie. „Ihre Angaben zur Person scheinen zu stimmen. Aber das entschuldigt nicht Ihr streßreiches Dasein als Einbrecherin." „Himmel, bist du ein harter Brocken. Gut, ich mache euch einen Vorschlag. Wir fahren zu meinem Verlobten. Der ist gleichzeitig mein Chef und Bezirksinspektor bei der Aurora. Für ihn arbeite ich. Er wird ausreichend erklären, wie mein Job funktioniert. Und daß ich keine Kriminelle bin. Und wenn du dann überzeugt bist, Tarzan, sagst du Sabine und du zu mir, ja?" „Darüber ließe sich reden, Sportsfreundin", er grinste. „Wo wohnt der Herr Inspektor?" „Er heißt Eckbert Schrumpf. Palmwedel-Straße 26. Ist nicht weit von hier. Will jemand mit mir fahren?" Tarzan sagte, da nun ihre Personalien sowie die Kfz-Nummer bekannt wären, ließe sich darauf verzichten. Also bis gleich vor Nummer 26. Sabine fuhr ab. Ihre Rücklichter verschwanden hinter einer Kurve. „Ich glaube ihr", sagte Gaby. „Nur wie ihre Einbrüche mit der Versicherungsgesellschaft zusammenhängen, habe ich nicht kapiert." „Ist wahrscheinlich ein Verkaufstrick", sagte Karl. „Wir werden ja gleich hören, was Schrumpf sich ausgedacht hat. Vielleicht sind seine Versicherungsabschlüsse geschrumpft, und er greift jetzt zu abenteuerlichen Methoden."
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2. Wie kommt die goldene Ente zu Schrumpf? Als sie zur Palmwedel-Straße radelten, machte Klößchen seinem Herzen Luft. „Mein Instinkt, Tarzan, ist nicht verschüttet. Deshalb behaupte ich, Sabine ist o. k., wie ja auch Gaby und Karl dieser Meinung sind. Ansonsten fuchst es mich, wenn ich von Einbrüchen nur höre. Über 50 000 Mark beträgt der Schaden bei uns. Mein lieber Vater hat's jetzt schätzen lassen. Damit uns die Versicherung entschädigt. Was sie auch hoffentlich tut. Weiß aber nicht, ob wir bei der Aurora versichert sind." Vorige Woche hatten Einbrecher die Villa des Schokoladenfabrikanten Sauerlich heimgesucht. Zum Glück waren sie durch den heimkehrenden Georg, den Chauffeur der Familie, gestört worden. Sonst hätten sie sicherlich Beute von sechsstelligem Wert weggetragen. Denn neuerdings sammelte Klößchens Vater Kunstschätze mit wahrer Leidenschaft. Was Sabine betraf, sah auch Tarzan nicht mehr so schwarz. Trotzdem fand er es richtig, daß er sich ihr nicht gleich zu Füßen gelegt hatte — nur weil sie nett lachte und kameradschaftlich tat. Vor der Palmwedel-Straße Nr. 26 stand ihr Coupe. Sie saß noch am Lenkrad, stieg aber aus, als die TKKG-Freunde achträderig heranrollten. Eckbert Schrumpf wohnte in einem eleganten Mehrfamilienhaus und hatte den Wagen seiner Herzallerliebsten gehört. Jedenfalls öffnete er die Haustür, bevor Sabine klingelte. „Hallo, Eckbert", sagte sie - und wies auf ihre Gefolgschaft. „Sie haben mich erwischt und dingfest gemacht. Aber inzwischen sind wir Freunde. Nur Tarzan glaubt noch nicht, daß bei mir alles mit rechten Dingen zugeht. Das ist er." 22
Sie legte ihm den Arm um die Schultern, wobei sie sich recken mußte. Sie stellte die ändern vor, und Eckbert Schrumpf nickte viermal, indem er den Kopf um etwa zwei Zentimeter neigte. Schrumpf hieß nur so, war nämlich hochgewachsen und hatte eine Menge Knochen unter der Haut — offenbar mehr als Normalmenschen, jedenfalls entstand dieser Eindruck. Er war etwa Mitte dreißig, das Gesicht schmal und hart. Dunkles Haar lag glatt am Schädel. Sein Blick enthielt soviel Wärme wie eine Portion Vanilleeis. „So?" sagte er mit spröder Stimme. „Ihr habt also meine Mitarbeiterin festgenommen, sie sozusagen bei der Arbeit gestört. Ihr habt sie belästigt. Ihr . . . " „Aber, Eckbert!" unterbrach ihn Sabine. 23
Tarzan sagte: „Sie sind offenbar der Komplice. Trifft sich gut. Also zwei auf einen Streich! Karl, dort hinten ist eine Telefonzelle. Ruf doch bitte bei Kommissar Glockner an. Es wird ihn interessieren — angesichts der Einbruchswelle, die neuerdings durch die Stadt schwappt." „Gleich schreie ich!" rief Sabine. „Geht's wieder von vorn los? Eckbert, spiel nicht den wilden Mann! Laß uns rein und erkläre meinen Freunden, was wir machen." Eckbert zeigte sein Haifischgebiß, trat aber zur Seite, und Sabine führte die TKKG-Freunde in eine Wohnung. Sie war toll eingerichtet. Er schien das Moderne zu lieben und hatte viel Geld dafür ausgegeben. Denn daß er diese Art Einrichtung von der Großmutter geerbt hatte, war nicht anzunehmen. Als Blickfänger standen antiquarische Kostbarkeiten herum. Sabine war offenbar beteiligt am Zustandekommen dieses Wohngefühls, denn sie zeigte dieses und jenes und erklärte Sehenswürdiges, ehe man zum Grund des Besuchs kam. Schrumpf war indessen zwischen Küche und Hausbar hin und her gerannt, als hätte er Sieben-Meilen-Stiefel an den Füßen und nicht seine ledernen Hauslatschen. Gaby hatte sich Sabine schon zur Freundin erkoren. Die beiden verstanden sich. Karl war bei einem Schachbrett stehengeblieben und brütete über dem Stellungskrieg der Bauern. Tarzan beobachtete und wartete, wann denn nun endlich die große Erklärung käme. Verblüfft fiel ihm auf, wie Klößchens Stimmung abbaute. Was war plötzlich los mit ihm? Hatte er Hunger? Litt er an akutem Schokoladenmangel? Sein Gesicht zeigte Mondfinsternis. Düster starrte er zu Boden. Er setzte sich in einen Schaukelstuhl, schaukelte aber nicht. „Heh, Willi!" Klößchen nickte und kniff bedeutungsvoll ein Auge zu, was auch immer das hieß. 24
„Können wir anfangen?" fragte Tarzan, an Sabine und ihren Chef gewandt. „Auch die längste Nacht hat mal ein Ende, und die Besichtigung muß ja nicht jetzt sein." Sabine hatte Gaby eingehakt. „Ist er immer so bärbeißig?" fragte sie lächelnd. „Ich stutze ihn zurecht", meinte Gaby. „Manchmal merkt er nicht, daß er nicht mehr auf der Judo-Matte steht, sondern auf einem China-Teppich wie hier. Also, Sabine, weshalb brichst du ein?" Schrumpf antwortete statt ihrer. „Es geht einfach darum: Vielerlei Zeitgenossen haben ihre Villen mit Werten vollgestopft und meinen nun, damit sei's genug. Das sind Kunden. Versicherungsnehmer. Vielmehr: Sie müßten es sein. Sie wollen aber nicht. Schlage ich denen einen Abschluß vor, sagen sie: Danke, nein. Sage ich: Und wenn nun eingebrochen wird — und Sie über Nacht alles los sind, und keine Versicherung Ihnen die Werte ersetzt? Sagen sie: Bei uns doch nicht. Bei uns kommt keiner rein. Und tatsächlich, Leute: Einige haben Ihre Häuser mit irgendwelchem Schnickschnack gesichert. Es gilt nun, denen klarzumachen, daß sie auf dem Pulverfaß leben." „Ach?" sagte Gaby. „Und?" „Ich sage denen, meine Mitarbeiterin Sabine Lenz, ehemalige Trapezkünstlerin im Zirkus Sarani und damals bekannt gewesen als Schwarze Maske in schwindelnder Höhe — sie wird Ihnen beweisen, wie rasch Sie beraubt werden können. Mit Ihrem Einverständnis, verehrte gnädige Frau — verehrter Herr Direktor, wird sie bei Ihnen einbrechen. Und zwar ganz fachgerecht, wie Profis das machen. Nachts und klammheimlich. Am soundsovielten hätten wir noch einen Termin frei. Ist es recht?" „Und darauf lassen sich die künftigen Kunden ein?" fragte Tarzan. „Nicht alle. Aber viele. Ich könnte noch einen Mitarbeiter wie Sabine gebrauchen. Aber sowas ist Vertrauenssache. 25
Und erfordert artistisches Können. Nein, nur was Sabine übernehmen kann, wird erledigt. Die ändern kriegen eben keinen Einbruch. Da haben sie Pech gehabt." „Sabine", meinte Tarzan — und war sich bewußt, daß er zum ersten Mal nicht Fräulein Lenz sagte, „schafft also die Voraussetzung für den Abschluß einer Sach- oder Hausratsversicherung, indem sie den Kunden beweist, daß ein geschickter Einbrecher ihre Häuser und Villen knacken und ausräumen kann." „So ist es", nickte Schrumpf. Tarzan wandte sich an Sabine. „Hast du's bis jetzt immer geschafft?" „Immer", erwiderte sie strahlend. Sie räkelte sich in einem Faulenzersessel. Jetzt bei Licht sah man, wie geschmeidig sie war. „Es läuft ab wie bei einer Wette", sagte Schrumpf. „Gelingt der Einbruch, sind die Leute überzeugt. Die meisten — jedenfalls. Unbelehrbare gibt es dennoch." „Eckbert vertritt auch eine namhafte Firma für Alarmanlagen", fügte Sabine hinzu. „Da blüht dann unser Weizen in zweifacher Hinsicht: Versicherungsabschluß und Verkauf einer Alarmanlage. Was sich wiederum mindernd auf die Beiträge auswirkt, denn die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Einbruchs wird geringer, wenn das Haus gesichert ist." „Angenommen, jemand hat bereits eine Alarmanlage", sagte Karl, „und lehnt deshalb eine Versicherung ab. Was geschieht dann?" „Dann beweise ich, daß ich trotzdem reinkomme", antwortete Sabine. „Ich bin inzwischen Spezialist für Alarmanlagen. Manche haben Schwachpunkte. Und das nütze ich aus." Gaby sah Klößchen an und hatte es auf der Zunge, ihn wegen des Einbruchs bei seinen Eltern anzusprechen. Doch Klößchens Miene war abweisend wie ein Gefängnis-26
tor. Und Gaby dachte: Soll er den Schrumpf doch selbst zu seinen Eltern schicken. Aber das hieße sicherlich, Eulen nach Athen tragen, denn bei den Sauerlichs hat Schrumpf bestimmt schon vorgesprochen. Klößchen muffelte vor sich hin, stand dann auch als erster auf und quengelte, er sei müde. Schrumpf verabschiedete die TKKG-Bande mit seinem Zwei-Zentimeter-Nicken. Die Feindseligkeit war zurückgekehrt. Tarzan fing einen Blick auf, der zwischen den Schulterblättern wieder herauskam und ihn beinahe an die Wand gespießt hätte. Er hat was gegen uns, dachte Tarzan. Wenn der wüßte, wie egal mir das ist! Sabine geleitete ihre jugendlichen Freunde zur Tür. „Daß ich bei der Arbeit die schwarze Maske trage", erzählte sie, „ist eine Gefühlsduselei. Es erinnert mich an meine große Zeit im Zirkus. Damals hatte ich Publikum und Beifall." „Und jetzt?" fragte Gaby. „Jetzt klopft mir Eckbert gelegentlich auf die Schulter und sagt: Gut gemacht!" „Warum hast du im Zirkus aufgehört?" wollte Karl wissen. „Ich bin abgestürzt. Schwere Verletzungen habe ich mir zugezogen. Später saß ich auf der Straße. Daß ich Eckbert kennenlernte, war mein Glück. Ihm verdanke ich diesen außergewöhnlichen Beruf. Es macht Spaß, und ich verdiene gut." „Tarzan und ich", sagte Gaby, „arbeiten als Reporter für unsere Schülerzeitung. Ich finde so toll, was du machst, daß wir dich interviewen (befragen) sollten. Einverstanden?" „Gern." „Das gibt einen lesenswerten Artikel für unsere Rubrik Seltene Berufe — Empfehlungen für Schulabgänger", lachte Tarzan. „Wo erreichen wir dich?" 27
Sie nannte ihre Adresse. Dann verabschiedeten sie sich. * An diesem — verlängerten — Wochenende waren Tarzan und Klößchen beurlaubt, entsagten also dem Internatsleben. Sie waren eingeladen bei Karl, in die romantische Villa Vierstein am Stadtrand, wo die Jungs schon so manches Mal übernachtet hatten. Bis Dienstagfrüh sollte das Wochenende dauern, denn am Montag war schulfrei. Das verdankten sie einem PädagogenKongreß (Lehrer- und Erzieher-Tagung), an dem die meisten Pauker teilnahmen. Drei freie Tage lagen also vor ihnen, denn der Samstagunterricht gehörte in diesem Bundesland längst der Vergangenheit an. Drei freie Tage! Das ist schließlich was. Da hüpft mancher vor Freude. Und der Auftakt zu diesem Kurzurlaub war phantastisch gewesen, hatten doch die Pfadfinder ein tolles Feuer entfacht. Gaby, Tarzan und Karl aalten sich also in Bombenstimmung, während man jetzt durch die Großstadtnacht radelte, um Gaby nach Hause zu bringen. Nur Klößchen grummelte, als hätte man ihn seiner Schokolade beraubt. Als sie im Altstadtviertel vor Gabys Adresse anlangten, schlug in der Nähe eine Kirchturmuhr. Schwüle floß durch die Straßen. Wer nicht gerade ebenerdig wohnte, schlief bei geöffnetem Fenster, und der Vollmond lächelte herab, als hätte auch er drei Tage frei. „Willi", sagte Gaby, „was ist eigentlich los? Welcher Läuserich ist dir über die Leber gekrochen?" Klößchen stützte sich auf seinen Fahrradsattel. „Ich wollte warten, bis wir hier sind, ehe ich's sage. Sonst hätte es euch vielleicht von den Sitzen gefegt." „Sturmwarnung", stellte Karl fest. „Dann puste mal los." „Als mein Elternhaus Opfer von Einbrechern und 28
schmählich beraubt wurde", begann Klößchen schwülstig, „haben wir uns geschworen: Das ist ein Fall für TKKG. Und wir werden nicht ruhen noch rasten, ehe die Verbrecher gefaßt sind. Stimmt's?" „Stimmt", nickte Tarzan. „Aber du weißt auch, weshalb bis jetzt nichts geschehen ist. Nicht aus Mangel an Munterkeit, sondern weil es nicht soviel", er schnippte mit den Fingern, „Spur gibt. Keine Hinweise, nichts. Das hat uns doch Gabys Vater bestätigt." Das stimmte. Kommissar Glockner, der den Fall untersuchte, fischte völlig im Dunkeln. „Es gab keine Spur", sagte Klößchen dumpf. „Aber jetzt gibt es eine. Ich . . . äh . . . glaube es jedenfalls. Zu 99 Prozent bin ich mir sicher." „Wie das?" fragte Gaby verblüfft. „Habt ihr die goldene Ente bemerkt? Bei Schrumpf, meine ich. Eine kleine", er zeigte, wie klein, „goldene Ente. Man kann das Oberteil abnehmen. Sie ist hohl, nämlich ein Pillendöschen." Tarzan und Karl hatten nicht darauf geachtet, aber Gaby entsann sich. „Ja, und?" „Die gehört meiner Mama", sagte Klößchen. „Die Ente wurde von den Einbrechern gestohlen." In der Stille hörten sie, wie Insekten gegen die Straßenlaterne prallten — immer wieder, in blöder Sturheit. „Bist du sicher?" fragte Tarzan. „Enten als Pillendöschen sind keine Seltenheit. Echt goldene allerdings schon. Aber woher willst du wissen, ob dieser Erpel aus Edelmetall wirklich so edel ist und nicht nur so aussieht. Hast du ihn in der Hand gehabt?" „Habe ich mir nicht getraut. Wäre aufgefallen. Aber auf dem Flügel war ein Kratzer. Und auf Mamas achtzehnkarätigem Enterich auch." „Ach, du dicker Vater!" schnaufte Karl. „Das paßt aber gar 29
nicht in mein menschenkennerisches Weltbild. Sabine ist eine ehrliche Haut. Darauf wette ich . . . also, die Hälfte meines Wissens." „Hoffentlich verlierst du", lachte Gaby, „dann könnten wir aufatmen. Weil du nur noch halb soviele Vorträge halten würdest". Aber sie verbesserte sich gleich. „Nein, du kannst nicht verlieren. Sabine ist in Ordnung. Das spüre ich einfach." Tarzan sagte: „Nehmen wir mal an, sie ist ehrlich und Willi hat richtig gesehen. Dann gibt es immer noch die Möglichkeit, daß Schrumpf ein falscher Fuffziger ist. Das würde nämlich in mein menschenkennerisches Weltbild passen. Mir ist er so sympathisch wie ein Tierquäler." „Mir auch", bekräftigte Gaby. Klößchen überlegte bereits, ob man Schrumpfs Leiche einäschern oder geweihter Erde übergeben sollte. Er griff in die Hosentasche. Mühsam zerrte er ein kleines Buch hervor. Es war in Leder gebunden. „Das habe ich ihm geklaut", sagte er. „Guckt nicht so! Ja! Es ist ein privates Telefonbuch. Es lag neben dem Apparat. Als er in der Küche war, habe ich's eingesteckt. Soll der doch denken, was er will. Für uns ist es vielleicht von höchster Bedeutung. " Er betonte die , höchste Bedeutung' so, daß sie vermutlich links neben dem Mond stand oder auf dem höchsten Eisgipfel des Himalaya (Gebirge in Asien). „Zeig her!" Tarzan hielt das Büchlein ins Laternenlicht und blätterte. Es enthielt nur wenige Eintragungen: Telefonnummern und dahinter Initialen (Anfangsbuchstaben). Zum Beispiel: H. M. oder R.V. „Sehr geheimnisvoll!" meinte Gaby, nachdem es alle gesehen hatten. „Warum schreibt er den Namen nicht aus? Sind das Kunden? Oder Komplicen, die er zum Einbrechen losschickt?" 30
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Tarzan klatschte die Hand auf den Rennsattel, daß es wie eine Ohrfeige schallte. „Willi, Klasse! War richtig! Finden wir über die Rufnummern eine Spur, war es sowieso richtig. Und wenn nicht — dann werfen wir ihm das Verzeichnis in den Briefkasten. Wir müssen jetzt so vorgehen, daß wir erstmal rauskriegen: Wer verbirgt sich hinter R. V., wer hinter H. M. und so weiter? Heute ist es zu spät dazu. Aber morgen früh werden wir ein paar Münzen opfern und die Drähte heiß laufen lassen. Wäre vielleicht das beste, Karl, wenn wir bei dir telefonieren. Gaby, wann triffst du bei uns ein?" „Sobald ich ausgeschlafen bin, gefrühstückt und die Haare gewaschen habe", erwiderte die Süße.
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3. Zwei, die sich nicht verstehen Schrumpf öffnete eine Weinflasche, schnupperte am Korken und schenkte ein in zwei Gläser, während Sabine Käsegebäck knabberte. Sie dachte versonnen an die vier Jugendlichen, die einen Teil jener Welt verkörperten, den sie — das elternlose Zirkuskind - nie kennengelernt hatte. Ihr Weg durch Kindheit und Jugend war mit Disteln bestreut gewesen. Dennoch hatte sie sich zu einem fröhlichen und grundehrlichen Menschen entwickelt. „Was ist denn, Eckbert?" Offensichtlich suchte er was. Er hob sogar die Tischdecke an. „Ich finde mein kleines Telefonbuch nicht. Naja, ist nicht wichtig." „Schatz", sagte sie besorgt. „Du wirst in letzter Zeit immer nervöser. Bist du überarbeitet?" „Blödsinn! Bin ich nicht", wies er ihre Fürsorge schroff zurück. „Mich ärgert's nur, wenn nicht alles so läuft, wie ich es will." „Aber es läuft doch. Heute abend bei den Wilhelmis habe ich die Dachluke geknackt. Und drin war ich. Ich bin ins Wohnzimmer hinunter gegangen und habe an verschiedene Gemälde Zettel geklebt. Gestohlen! Die werden staunen morgen früh, die Leute. Mit denen kannst du am Montag abschließen." „Ja. Hm." Der Blick ihrer Katzenaugen wurde träumerisch. „Sind sie nicht goldig, die vier?" „Was? Die? Nun ja, das Mädchen — das wird mal 'ne Schönheit. Aber die ändern! Der große Kerl ist zum Abschießen!" „Tarzan? Wieso?" „Weiß nicht. Kann ihn nicht leiden. Der hat sowas Freches." 33
„Er läßt sich nichts vormachen. Ist erstaunlich unbeirrt. Als er mich gepackt hatte, dachte ich, mit mir wäre es aus. Gaby und er passen gut zusammen." „Wieso? Ist sie seine Freundin?" „Ich glaube, ja." Sie schlug die langen Beine übereinander. Sie steckte immer noch in ihrem schwarzen Trikot. Es ähnelte dem, das sie damals bei ihren Auftritten als Trapezartistin getragen hatte. „Was liegt nun an, Schatz?" fragte sie. Er hatte sein Glas geleert, trat zum Schreibsekretär und öffnete eine Unterschriftenmappe. Eine Hand aufgestützt, wandte er sich Sabine zu. „Dein Terminkalender ist voll. Neun Einbrüche in zwei Wochen. Das kommt auf dich zu. Eigentlich müßtest du auch morgen ran. Aber den Abend habe ich dir freigehalten." „Das will ich auch hoffen. Ich gehe zu dem Gartenfest. Wenn du nicht willst, ist es deine Sache." „Ich will nicht. Nicht zu Friedrich dem Großen! Dieser unerträgliche Affe! Er hat was gegen mich. Ich weiß es. Er läßt es mich fühlen bei jeder Gelegenheit." „Das bildest du dir nur ein. Und er ist nun mal der Chef." Die Rede war von einem gewissen Friedrich von Eschbergen, genannt Friedrich der Große. Er war Direktor der Aurora-Versicherungsgesellschaft. Schrumpf hatte zwangsläufig häufig mit ihm zu tun, was ihm, Schrumpf, zu tun gab. Die beiden mochten sich nicht. Aber Schrumpf, von Natur aus hinterhältig, nämlich freundlich ins Gesicht, um dem ändern dann mit übler Nachrede zu schaden - Schrumpf mußte die Faust in der Tasche ballen. Gegen von Eschbergen aufzumucken, hätte bedeutet, daß er gefeuert wäre. „Neun Einbrüche in zwei Wochen", Schrumpf fand zum Thema zurück. „Einige sind schwierig. Den nächsten Kunden besuchst du Sonntagnacht." Sabine nickte. 34
„Er hat Gemälde für drei Millionen Mark. Aber noch keine Versicherung. Das muß man sich vorstellen! Man dächte, in zivilisierter Landschaft wie hier gäbe es das nicht." „Alarmanlagen?" „Freilich! Die hat er. Deshalb glaubt er ja, er brauchte seine Ölschinken nicht zu versichern." „Weiß du, welches Modell?" Sie meinte die Alarmanlage. „Eine VX 10, neuestes Modell." Sie tat, als fröstele sie. „Trotzdem, Schatz. Übers Dach komme ich rein. Ist der Kunde anwesend?" „Er und seine Frau feiern bei Freunden. Und übernachten dort auch. Störst also keinen." Er lachte, wirkte aber zerstreut — wie so oft in letzter Zeit. Damit hatte Sabine recht, auch wenn er's nicht hören wollte. Seine Gedanken waren abwesend, als er einen gefalteten Zettel aus der Mappe nahm und ihn seiner Verlobten gab. „Das ist die Adresse." Sabine steckte den Zettel, ohne ihn anzusehen, in ihre Handtasche. So hielten sie es immer. So war es üblich. So wurden ihr per Zettel die Adressen übermittelt — Adressen von Leuten, die sie - meistens - nicht kannte. Ein verhängnisvoller, ein grausiger Irrtum legte diesmal seine eiskalte Hand ins Spiel. Sabine konnte es nicht bemerken, jedenfalls später nicht, fehlte ihr doch die Möglichkeit zur Kontrolle. Und Eckbert Schrumpf merkte nichts. Seine Gedanken beschäftigten sich - allerwege und allzeit, jedenfalls seit Wochen — mit einem raffinierten Plan. Der Coup im Hochhaus-Lift - das sollte es werden. *
Karls Mutter, Frau Vierstein, brachte den Jungs das Frühstück ans Bett. Klößchen, den das augenblicklich in Hochstimmung versetzte, wußte kaum, wie er danken sollte, und meinte, ein 35
Tag, der so beginne, könne nicht übel werden, selbst wenn gar die Kakao-Ernte mißrate. Er frühstückte ausgiebig. Als Karl und Tarzan Herrn Professor Vierstein im Arbeitszimmer besuchten — um Guten Morgen zu wünschen —, rannte Klößchen noch im Schlafanzug rum. Der Professor hatte sich, wie üblich, in Bücher vergraben. Und arbeitete eine neue Vorlesung aus. Er war Professor für Mathematik an der hiesigen Universität, ein erstaunlicher Wissenschaftler, aber auf liebenswerte Weise weltfremd. Dann kam Gaby. Sie trug hellblaue Jeans und ein ebensolches T-Shirt und das Goldkettchen, das Tarzan ihr geschenkt hatte. Ob ihr Goldhaar gewaschen war, ließ sich höchstens mit der Nase feststellen — am Schampoo-Duft. Optisch (fürs Auge) bot es keinen Unterschied. Allerdings hatte sie den Pony um einen Millimeter gekürzt — natürlich mit der Papierschere. Selbst beim kessesten Augenaufschlag bestand jetzt keine Gefahr mehr, daß die Wimpern den Pony störten — oder umgekehrt. Eine Weile saßen sie im Garten. Bienen summten. Der Himmel war blau. Noch lag Tau auf dem Gras. Die Sträucher prangten im satten Grün, Blüten verströmten betäubenden Duft. ,,Wenn Willi nicht gleich kommt", meinte Gaby, „fangen wir mit dem Telefonieren an." „Geht nicht", sagte Tarzan. „Er hat Schrumpfs Telefonbüchlein. Darauf sitzt er wie eine Glucke auf dem Ei." „Wahrscheinlich hat er's für eine Tafel Schokolade gehalten", Gaby war ungnädig, „und den Irrtum erst bemerkt, als es zu spät war. Mein Gott, wo bleibt Oskar?" „Was meinst du?" fragte Tarzan. Denn von Gabys Hund, dem lustigen, schwarzweißen Cocker Spaniel war weit und breit nichts zu sehen. „Er ist mir entwischt, als ich kam. Und in den Park gelaufen." Sie deutete zu der Grünanlage hinüber. 36
„Da kann ihm nichts passieren", sagte Karl. „Außerdem kennt er das Gelände. Er . . . Da ist er." Oskar hatte seine Freiheit genossen, schoß jetzt über die leere Straße und durchs Gartentor. Er kam im gestreckten Galopp, entdeckte Tarzan, seinen Liebling, und stimmte Freudengeheul an. Immer wieder sprang er an ihm hoch, wurde gekrault und gestreichelt und begrüßte schließlich auch Karl. Klößchen kam. Er sah satt aus und hatte einen Rest Buttersemmel mitgebracht, den Oskar gern nahm. Klößchen schwenkte das Schrumpfsche Telefonverzeichnis. „Wo rufen wir zuerst an?" „Ist Jacke wie Hose", meinte Karl, „eine Nummer so gut wie die andere." „Dann also das Kürzel R. V.", bestimmte Klößchen. „Wer spricht?" Er sah Tarzan an. „Du bist schlagfertiger als ich. Mir fallen die besten Gemeinheiten immer erst nach dem Gespräch ein. Außerdem könnte man dich von der Stimme her für älter halten." „Auch von der Statur her", sagte Gaby. Sie gingen ins Haus. Karls Mutter war zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Der Professor blieb in seinem Arbeitszimmer wie in einer anderen Welt. Niemand störte die TKKGBande. Tarzan nahm den Hörer ans Ohr und wählte die siebenstellige Rufnummer. Er hatte sich nichts zurechtgelegt, wollte sich dem Gesprächsverlauf anpassen, ging es doch einzig darum, Namen und möglichst auch Adresse des Anschlußinhabers festzustellen. Dann würde man ja sehen, mit wem Eckbert Schrumpf umging und ob schräge Vögel dabei waren. Tarzan hörte das Läuten. Es läutete nur einmal. Sofort wurde abgehoben. „Du Unmensch", greinte eine Frauenstimme. „Was habe 37
ich dir getan? Du willst, daß ich mich umbringe. Vielleicht . . . ", sie schluchzte so herzzerreißend, daß ihr Hörer sicherlich naß war von Tränen, „vielleicht tue ich's eines Tages. Dann wird es dir noch leid tun, Rudolf. Aber vorher, das schwöre ich, ändere ich mein Testament." Ein Heulkrampf ließ die Leitung erbeben. Tarzan schlackerte buchstäblich mit den Ohren. Seine Freunde, die so dicht bei ihm standen, daß sie mithören konnten, waren genauso überrumpelt. Gaby formte mit ihren Rosenblätterlippen ein gewaltiges O, dann zwei gedehnte A. Los! Sag was! hieß das. „Äh, ich bin nicht Rudolf", sagte Tarzan. „Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht unterbrochen habe, meine Dame. Aber ich war etwas verblüfft. Ich wollte Herrn Rudolf Volthusen sprechen. Bin ich richtig verbunden?" 38
„Nein, hier ist Vossburger", heulte sie. „Ich muß mich entschuldigen. Habe nämlich gerade mit meinem Mann, mit Rudolf Volthu . . . nein, bin schon ganz durcheinander. Mit ihm, jedenfalls, gesprochen. Es war eine schlimme Auseinandersetzung. Ich . . . konnte nicht mehr, hatte aufgelegt. Als es jetzt kungelte, dachte ich, er wäre . . . " Ihre Stimme versickerte. Was soll das Theater! dachte Tarzan. Die Frau brauchte Hife. Sie hat von Selbstmord geredet. „Frau Vossburger, Sie sind offenbar in einem verzweifelten Zustand. Brauchen Sie Hilfe? Bitte, sagen Sie Ihre Adresse." Sie antwortete nicht. Ihr Schluchzen war zu hören. Aber sie legte nicht auf. Dann: „Es . . . täte schon gut . . . mit jemandem zu reden. Ich . . . wohne Scholl Allee 12." 39
„Tun Sie sich nichts an!" sagte er hastig. „Wir kommen." Der Hörer fiel auf die Gabel. „Mann!" staunte Klößchen. „Sowas habe ich nicht erwartet." „Offenbar schikaniert ein gewisser Rudolf Vossburger seine Frau", stellte Tarzan fest. „Also ist er ein Schweinehund. Und vielleicht Schrumpfs Freund oder Komplice." „Im Vordergrund steht aber jetzt, daß wir die Frau beruhigen müssen", sagte Gaby. „Sie hat nicht mal jemanden, mit dem sie sich aussprechen kann." Sie liefen zu den Tretmühlen, die hinter der Garage standen, und machten sich auf den Weg. Oskar durfte mit und trabte neben Gabys Rad an der Leine. Es war noch früher Tag, in den Straßen nicht viel los. Scholl Allee 12 war eine würdige Villa in ruhiger Gegend. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten. Aber er wirkte auf seltsame Weise unbenutzt. Unkraut überwucherte die Beete. Sträucher streckten ihre Äste über die Wege, und nahe dem Zaun verrotteten gestapelte Bretter und Latten. Die vier Freunde gingen zum Eingang und klingelten. Als ihnen geöffnet wurde, sahen sie sofort, daß es sich um Frau Vossburger handeln mußte. Sie hatte verweinte Augen, ihre Nase war gerötet. Ein Taschentuch an den Mund gedrückt, stand sie da: hilflos wie ein kleines Kind, das sich ängstigt, obwohl sie schätzungsweise 45 war. Sie wirkte sehr zerbrechlich, das runde Gesicht gütig. „Guten Tag!" sagte Tarzan. „Wir haben eben miteinander telefoniert, Frau Vossburger. Meine Freunde und ich — wir möchten uns um Sie kümmern." Die Hand mit dem Taschentuch sank herab. Ihre Augen wurden rund. „Du . . . bist das", stammelte sie. „Und . . . ihr wollt. . . ", sie schluckte, „ . . . mir helfen?" Ein kleines Lä40
cheln glitt über ihre Kümmernis-Miene. „Ich kann das nicht glauben. Niemand kümmert sich um irgendwen. Die Menschen sind so . . . herzlos geworden — und nur auf sich selbst bezogen. Wie . . . alt seid ihr denn?" „Zusammen 52", erwiderte Tarzan, „die Monate nicht gerechnet. Außerdem, Frau Vossburger, sind nicht alle Menschen so, wie Sie sagen." „Und die Ausnahmen lassen uns hoffen", setzte Gaby hinzu. Das hatte sie irgendwo gelesen. Hier paßte es hin. „Bitte, kommt rein", nickte Frau Vossburger. „Ihr seid wirklich ein Hoffnungsstrahl für mich — an einem grauen Tag wie heute!" Grauer Tag? dachte Tarzan. Der Himmel ist blau, als hätte er einen Vertrag mit den Reiseveranstaltern. Die Lüfte sind voller Blütenduft, was reichlichen Honigertrag verspricht und eine reichliche Obsternte — ganz zu schweigen davon, daß die Trauben gut reifen, also der diesjährige Wein ein Spitzenwein wird. Letzteres interessiert uns zwar nicht, aber die über 30 schon, falls man ihnen trauen kann. Alles bestens also. Aber für diese arme Frau ist es ein grauer Tag. Innen war die Villa noch würdiger als außen, die Treppe aus Marmor, das Geländer eine handgeschnitzte Kostbarkeit, wie sie heute nicht mehr hergestellt wird. Es gab eine Eingangshalle, und der Rest des Hauses war sozusagen vollgestopft mit hohen Räumen, Verbindungstüren hier und dort, einer Galerie (nach einer Seite offener Gang), durch die man laufen konnte, und einer zweiten Galerie (Kunstsammlung) wuchtiger Gemälde. Die letztere zeigte würdige Herren mit altväterlichen Barten. Jeder der Herren trug eine Miene zur Schau, die verriet: Wenn's mich nicht gäbe, was wäre dann los mit dieser Welt? Und wenn's mich nicht mehr gibt, geht sowieso alles in die Binsen. Es handelte sich um die Ahnen der Frau Vossburger, wie sie gleich erklärte: um gewichtige Unternehmer-Persönlich41
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keiten der Familie Ausbeider-Schluck. Nach ihnen waren Straßen und Plätze in der Stadt benannt, und fast jeder hatte sein — von Taubenschiß bekleckertes - Denkmal. Sie hatten Knöpfe hergestellt, die Herren. Über Generationen hatten sie Knöpfe produziert und in alle Welt vertrieben. Bis dann der Reißverschluß aufkam, was der letzte Knopffabrikant — Melchior Ausbeider-Schluck, Frau Vossburgers Vater — nicht rechtzeitig zur Kenntnis nahm. Der schnelle Zipp, der zum Beispiel das Gefummel vom an der Herrenhose überflüssig macht, wurde zur schlimmen Konkurrenz; und heute gab es nur noch wenige Knopffabrikanten. Doch Gertrud, die letzte dieser Abkunft, hatte reichliches Vermögen geerbt, war also eine gute Partie gewesen, was die Freiersfüße eines gewissen Rudolf Vossburger auf Trab brachte. 43
„Heute weiß ich's", schluchzte sie. „Er wollte nur mein Geld. Und ich bin auf ihn reingefallen. Es ist furchtbar, wenn man sowas nach Jahren der Ehe feststellt." Sie saßen in einem entzückend altmodischen Salon, wo schon die Altvorderen ihren Tee genossen hatten. Gertrud Vossburger hatte eine riesige Silberschale mit Schokoladenkeksen auf den Tisch gestellt, wodurch sie bei Klößchen zur persona gratissima (in höchster Gunst stehender Mensch) wurde. „Er war und ist eine blendende Erscheinung", sagte Gertrud Vossburger, „aber ein schlechter Mensch: innerlich kalt und gefühllos." Teilnahmsvoll hörten die vier Freunde ihr zu. Die Offenheit, mit der die Frau über ihre schlechtere Hälfte sprach, verwunderte nicht. So, wie die miteinander stehen, dachte Tarzan, wäre doch Trennung das beste. Er ist sicherlich skrupellos und raffiniert, sie die Hilflosigkeit in Person. „Er trachtet mir nach dem Leben", sagte die Frau — und atmete erschöpft, als hätte sie in einer Nacht 300 Knöpfe angenäht. „Vermuten Sie das nur?" fragte Tarzan. „Oder gibt es deutliche Anzeichen oder gar Beweise?" „Ich fühle es. Weißt du, wenn man einen Menschen so lange kennt, kann man in ihm lesen wie in einem Buch." „Wäre es nicht angezeigt, Sie wendeten sich an die Polizei", sagte Gaby. „Aber was soll ich denn vorbringen? Daß unsere Ehe kaputt ist? Daß ich mich vor ihm fürchte, daß er mich mit seinen Gemeinheiten in den Abgrund treibt. Er weiß, wie sensibel (empfindsam) ich bin. Er verletzt mich absichtlich, hofft er doch, daß ich eines Tages meinem Leben ein Ende setze — und das ganze Geld ihm bleibt." „Das werden Sie natürlich niemals tun", sagte Tarzan fest. „Nicht wahr? Das versprechen Sie uns." 44
Sie lächelte. „Versprochen. Aber Rudolf hofft darauf, daß ich durchdrehe. Er glaubt, ich gehe nach meinen Vater. Und der hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, als es schlecht stand um die Fabriken." „Wie traurig!" meinte Gaby. „Aber warum lassen Sie sich nicht scheiden?" „Ich hatte noch nicht die Kraft dazu. Vielleicht tue ich's eines Tages. Dann wird auch dieses Flittchen dumm dastehen." „Flittchen?" Tarzan ahnte, was sie meinte. „Hat Ihr Mann eine Freundin?" „Sie heißt Sigrid Jungfell", nickte Gertrud. „Sie ist halb so alt wie er, höchstens 25, ein gewöhnliches Stück. Manchmal bleibt er tagelang bei ihr. Aber erst, seit ich ihm auf die Schliche gekommen bin. Sowas ist demütigend." Eine verkorkste Kiste, dachte Tarzan. Das kommt zwar tausendfach vor, wird aber dadurch nicht besser - für den leidvoll betroffenen Teil wie Gertrud Vossburger. Sie muß die Kraft aufbringen, ihrem Schmarotzer Adieu zu sagen. Während des Gesprächs hatte sie Oskar voller Interesse beobachtet. Er lag neben Gabys Stuhl, bäuchlings, den Kopf auf die
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dicken Pfoten gestreckt. Ab und zu schnüffelte er zu einer geschlossenen Tür hin. „Ist ja ein entzückender Kerl", sagte Frau Vossburger. „Ich glaube, er riecht meine Maunzi." „Katzen liebt er neuerdings", rief Gaby. „Ist Ihre angriffslustig?" „Sie ist ja noch ein Baby", Frau Vossburger lächelte. „Du meinst, er tut ihr nichts?" „Oskar ist grenzenlos gutmütig. Seine Zähne benutzt er nur, um die Freßschüssel leer zu machen. Maunzi hat nichts zu befürchten." Es war ein allerliebstes Kätzchen: schneeweiß und winzig. Ein rotes Lederhalsband hob sich wirkungsvoll vom Fell ab. Oskar beschnüffelte es von der Ohr- bis zur Schwanzspitze und wedelte freundlich. Dann leckte er ihm übers Gesicht, Maunzi schnurrte. „So geht`s auch", sagte Tarzan. „Einfach süß. Wenn man Ihre Villa sieht, Frau Vossburger, erwartet man eher einen scharfen Wachhund als Maunzi. Die Werte, die Sie besitzen, erfordern sicherlich wirkungsvolle Vorkehrungen." Sie hob die Achseln. „Ach, ich weiß nicht. Darum kümmere ich mich gar nicht." Doch so schnell ließ er sich vom Thema nicht abbringen. „Eine Alarmanlage wäre das Mindeste", meinte er. Sie rückte gedankenvoll. „Das hat dieser Versicherungsmensch auch gesagt." „Wir kennen da jemanden, der sowas vertreibt. Ein gewisser Eckbert Schrumpf von der Aurora-Versicherungsgesellschaft. Der hat ganz spezielle Verkaufstricks." „Den kenne ich auch. Er war kürzlich hier. Er wollte eine Versicherung abschließen und außerdem eine Sicherheitsanlage verkaufen. Ich glaube, er ist mit Rudolf einig geworden. Die Rechnung geht sowieso an mich. Jede Rechnung geht an mich. Rudolf ist Privatier, wie er sich nennt. Er arbeitet nicht. Immerhin ist er ein guter Golfspieler. Aber ist das ein Kunst-46
stück, wenn er von Mai bis Oktober seine Tage auf dem Golfplatz verbringt?" Totes Gleis, dachte Tarzan. R. V. ist also ein SchrumpfKunde, kein Komplice. Naja, wir haben auf den Busch geklopft, und nützlich war's allemal, daß wir hergekommen sind: nämlich selbstverständlicher Beistand für einen Menschen in Not.
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4. Einen Dummen gefunden Not? Es war eine Bedrohung ihres Lebens, was auf Gertrud Vossburger zukam. Aber davon konnten sie und die TKKG-Bande nichts ahnen. Denn die Schlechtigkeit, über die Rudolf Vossburgers Charakter verfügte, entzog sich normalem Denken. Er war ein großer, gutaussehender Typ mit grauen Schläfen und gebräuntem Gesicht. Er trug nur teuerste Anzüge und bevorzugte Nadelstreifen. In einer Brusttasche steckte immer ein mit herbem Parfüm getränktes Taschentuch. Dieser Duft füllte seinen Wagen. Der zweite Insasse roch weniger gut. Ihm haftete Gewöhnlichkeit an. Er hieß Erwin Epstein, war plump gebaut und polizeibekannt. Das ist man, wenn der Lebenslauf drei mehrjährige Vorstrafen aufweist. Vossburgers Wagen stand am Bordstein in stiller Gegend. Getönte Scheiben verhinderten, daß Passanten hereinglotzten. Aber es gab keine Passanten. Aus gutem Grund hatte Vossburger diesen Platz gewählt, um sich mit dem Ganoven zu treffen. „Nun sagen Sie's schon", nuschelte Epstein. „Woher haben Sie meinen Namen? Woher kennen Sie mich?" Vossburger lächelte maliziös (boshaft). „Aber, mein Bester, wieso ist das wichtig? In gewissen Kreisen kennt man Sie eben. Und ich kenne dort den einen und ändern. So erfuhr ich dann, daß Sie der Mann sind, den ich brauche." Das klang einleuchtend und verriet nichts. Weshalb sollte er dem Kerl die Wahrheit auf die Nase binden? Ein glücklicher Zufall, dachte Vossburger. Ausgerechnet jetzt läuft mir Eckbert Schrumpf über den Weg. Mensch, wieviel Jahre ist das her! Damals haben wir dunkle Geschäfte 48
gemacht. Keine Tour, die uns zu krumm gewesen wäre! Damals, hah! Heute bin ich der Ehekrüppel einer reichen Zicke. Er malocht für Versicherungsbonzen. Aber er macht noch nebenbei seinen Reibach (gutes Geschäft). Das hat er durchblicken lassen. Ist vorsichtig geworden, der Schlauberger. Was, wo und wie er absahnt — damit kommt er nicht auf den Tisch. Einbrüche, natürlich — bietet sich ja an, wo er von berufswegen in besten Häusern rumschnüffelt. Und dann, ohne es zu ahnen, hat er mir zu diesem Kerl hier verhelfen. Das war ein Ergebnis Vossburgerscher Findigkeit. Er und sein Ex-Kumpan Schrumpf hatten in einer Kneipe einige Schnäpse zur Brust genommen — wegen des Wiedersehens. Der Versicherungsinspektor telefonierte dann. Und Vossburger stellte sich in seine Nähe — an einen Zigarettenautomaten, ohne das Schrumpf das bemerkte. Was Vossburger hörte, war dies: „Hallo, Frau Grütze. Hier Heiligenfeld. Geben Sie mir mal den Erwin Epstein." Dann, gedämpft: „Erwin, ich bin's. Ist die Alte weg? Gut. Ich habe eine neue Adresse. Da steckt eine Menge Moos. Holen wir uns, klar? Sag's den ändern. Also, das ist in der Eichen-Allee. Bei dem Schokoladen-Fabrikanten Herrmann Sauerlich . . . " Mehr hatte Vossburger nicht gehört, er war vielmehr mit seinem Zigaretten-Päckchen zum Tisch zurückgekehrt. Den Namen Erwin Epstein hatte er sich gemerkt, aber dann bis gestern gebraucht, um den Kerl ausfindig zu machen. Der hatte nämlich keine eigene Adresse, sondern wohnte als Untermieter c. o. (care off, auf englischen Briefen = bei) Edeltraut Grütze. Wo es aber weder edel noch traut zuging, sondern wie in einem Schweinestall, wohin Epstein gut paßte. „Na gut", nuschelte Epstein jetzt. „Worum geht's?" „Ich biete Ihnen die Chance, in fünf Minuten 20 000 Mark zu verdienen." „Hm." „Scheint Sie nicht zu beeindrucken, Erwin." 49
„Doch, doch. Sehr! Aber da ist doch ein Pferdefuß dran." „Das Risiko für Sie ist null. Und so eine Chance kriegen Sie nicht alle Tage." „Stimmt." „Für einen Profi wie Sie", fuhr Vossburger fort, „wird das ein Spaziergang. Ich stelle es mir so vor: Am späten Abend brechen Sie bei uns ein." „Wo?" „Die Adresse sage ich Ihnen noch. Unsere Villa liegt günstig. Wenn Sie durch den Garten gehen, werden Sie von niemandem gesehen. Das Haus ist leer." „Keine Alarmanlage?" Vossburger unterdrückte ein Grinsen. Epstein war bei Schrumpf in die Schule gegangen. Das merkte man. „Nein, nichts", sagte er. „Auch keine Hausangestellten. Wir haben zwar eine Zugehfrau. Aber die kommt nur dreimal die Woche — und natürlich nur tagsüber." „Schön, schön! Und dann?" Epstein beknabberte seinen Daumen und spuckte öfters in Richtung Armaturenbrett. Vossburger hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Aber im Interesse der Sache beherrschte er sich. Endlich hatte er einen Dummen gefunden. „Noch vor Mitternacht", sagte Vossburger, „komme ich mit meiner Alten von einer Party zurück. Das klappt auf die Minute genau, wenn ich will." „Wirklich?" „Garantiert. Denn nach 23 Uhr schlafft Gertrud jedesmal ab. Sie ist dann froh, wenn sie nach Hause kann. Wir treten also ins Schlafzimmer, wo bereits alles durchwühlt ist. Wir überraschen Sie." „Warum?" „Hören Sie doch zu, Epstein. Ihnen ist unsere Rückkehr sehr willkommen, dann mit dem Wandsafe (Safe — Stahlfach) haben Sie sich vergeblich abgemüht. Sie bedrohen uns 50
mit der Waffe und fordern den Safeschlüssel. Vor den Augen meiner Frau räumen Sie dann den Safe leer. Die SchmuckEtuis und die Geldbündel wandern in Ihre Tasche. Zum Schluß reißen Sie das Telefonkabel aus der Wand und verdrücken sich." „Ich komme also maskiert", nickte Epstein. „Einverstanden. Wäre ja auch schlimm, wenn Ihre Alte mich sieht." „Eben." „Ich werde eine Skimütze nehmen, die man bis zum Kinn runterzieht. Nur ein Sehschlitz bleibt frei." Das interessierte Vossburger nicht. Ihn interessierte nur, daß Epstein als Einbrecher kam. „Aber nun mal die Karten auf den Tisch!" forderte Epstein. „Weshalb soll ich Ihre Alte berauben?" Vossburger grinste. „Ich habe sie schon beraubt. Sie weiß es nur noch nicht. Die Schmuck-Etuis sind bereits leer. Und die Geldbündel bestehen — abgesehen vom oberen Schein -aus Zeitungspapier. Ich habe vorgesorgt." Epstein pfiff durch die Zähne. „Sieh einer an! Wie schlau! Und weshalb das?" „Weil ich die liebe Gertrud in Kürze verlassen werde. Da ihr alles gehört und mir nichts, stünde ich dann recht unbemittelt da. Aber ich bin an Wohlstand gewöhnt. Deshalb habe ich das Geld genommen und den Schmuck verkauft." Epstein schmatzte mit dicken Lippen. „Guter Trick. Aber trotzdem schneiden Sie schlechter ab als bisher, was? Wenn Ihre Alte soviel Pinke hat." „Sehen Sie sich Gertrud an", meinte Vossburger. „Dann verstehen Sie mich. Außerdem habe ich eine andere. Für diese kleine Süße würde ich auf alles Geld der Welt verzichten. Aber das muß ja nicht sein." „Und ich kriege 20 000?" „Wie ich sagte." „Wann steigt die Sache?" „Heute." Er gab ihm die Adresse. 51
Epstein rülpste. „Ist ja ziemlich kurzfristig. Aber von mir aus. Ich kann's einrichten. Wie ist es mit 'ner Anzahlung?" Das gefiel Vossburger nicht. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, l 000 Mark - in Hundertern und Fünfzigern - überließ er dem Ganoven. Epstein nickte, öffnete den Schlag und stieg aus. „Also, dann bis heute nacht", meinte er, bevor er die Tür schloß. Vossburger startete den Wagen. Zehn Minuten später war er wieder bei Sigrid Jungfell, der er — mit Gertruds Geld - ein chices Apartment eingerichtet hatte.
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Bis vor kurzem war die 25jährige noch berufstätig gewesen: als Bardame in anrüchigen Nachtlokalen. Jetzt lebte sie von dem, was Vossburger ihr zusteckte. Charakterlich war sie genau so verkommen wie er. Vielleicht verstanden sie sich deshalb so gut. „Es hat geklappt", berichtete er. „Ich habe einen Dummen gefunden. Heute nacht passiert es." Sigrid Jungfell sah ihn ausdruckslos an. Sie saß auf der Couch. Weizenblondes Haar umfloß ihren Kopf. Sie trug einen seidenen Hausanzug. Auf den ersten Blick wirkte sie hübsch und verführerisch. Das lenkte von ihren Augen ab. Die waren wie Eis. „Ach ja?" fragte sie. „Ist das alles? Soviel Aufwand für die paar Klunkern und das bißchen Geld! Wo doch deine Alte fast zwei Millionen hat und du in ihrem Testament immer noch der einzige Erbe bist." „Wart's doch ab!" meinte er ungehalten, sonnte sich aber schon im Glanz seiner Idee. „Epstein ist ein kleiner Dieb, ein primitiver Bursche. Der denkt nicht in meinen Maßstäben, sonst würde er vielleicht ahnen, was ich in Wirklichkeit vorhabe." „Was denn?" Sie griff nach ihrem Whisky-Glas, wischte einen Lippenstifttupfer vom Rand ab und sah Vossburger träge an. Es war zwar noch früh am Tag, aber sie trank auch um diese Zeit. „Ich brauche einen Dummen als Mörder", sagte er kalt. „Denn meine Alte stirbt heute nacht." „Was? Spinnst du?" „Du willst doch, daß wir das ganze Geld kriegen. Oder?" „Das schon. Aber . . . " „Na, also!" unterbrach er sie. „Also stell dich nicht an! Schließlich geht es um unsere Zukunft. Mit Gertruds Geld werden wir großartig leben. Aber erst . . . Jedenfalls: Wenn Gertrud und ich heute nacht diesen Epstein überraschen, werde ich . . . " 53
„Halt mal! Vorhin war noch großes Gezeter am Telefon. Sie ist doch sauer auf dich. Wieso glaubst du, daß sie heute abend mit dir zu der Party geht?" „Sie geht mit. Verlaß dich drauf. Und wenn wir uns eine Stunde vorher noch auf Leben und Tod zanken würden — sie käme mit. Sie ist butterweich. Sie kann einfach nicht nein sagen, wenn man sie bittet, ihr schön tut, sie umschmeichelt. Sie denkt jedesmal, mir wäre es ernst. Sie fällt jedesmal wieder drauf rein." „Schön blöd." „Nicht blöd. Das ist mehr eine Frage der Gutmütigkeit. Davon hat sie zuviel mitgekriegt. Jedenfalls: Wenn wir diesen Epstein überraschen, werde ich meine Pistole in der Tasche haben. Und einen Totschläger. Sobald Epstein sich zum Safe wendet, erschieße ich ihn." „Ist nicht dein Ernst." Sie trank rasch einen Schluck. „Und ob das mein Ernst ist. Auf einen miesen Ganoven wie den kommt es nicht an. Na, und wenn dann die Polizei erscheint, findet sie zwei Leichen." „Zwei? Wieso zwei?" „Epstein und Gertrud." „Aber sie . . . " „ . . . wird tot sein", fiel er ihr ins Wort. „Erschlagen mit einem Totschläger. Epstein hat das getan. Und auf dem Totschläger werden seine Fingerabdrücke sein. Ich ziehe meine Schau ab, bin entsetzt, stehe unter Schock, kann aber aussagen. Ich erkläre, der Einbrecher hätte sich sofort auf Gertrud gestürzt, die vor mir ins Schlafzimmer getreten sei, und sie erschlagen. Leider kam ich um Sekunden zu spät." „Du bist ein kaltschnäuziger Hund." Sie lächelte. „Was tut man nicht alles für zwei Millionen", meinte er achselzuckend.
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5. Die Festung im Steilen Zahn Die TKKG-Freunde hatten sich von Gertrud Vossburger verabschiedet und versprechen müssen, sie wieder zu besuchen. Das war selbstverständlich. Denn Hilfe für einen verzweifelten Menschen bedeutet ständige Hilfe. Da genügt es nicht, wenn man nur einmal vorbei schaut. „Was ich über manche Ehe so höre", meinte Klößchen kopfschüttelnd, „verleidet mir die Lust daran. Ich bleibe Junggeselle." „Es ist doch nicht alles so trostlos", widersprach Tarzan. „Denk an deine Eltern. Die verstehen sich bombig. Gabys Eltern führen eine glückliche Ehe. Karls Eltern auch. Und meine Mutter und mein Vater waren ein richtiges Traumpaar. Deshalb hat meine Mutter nicht wieder geheiratet, obwohl man ihr Anträge machte und sie auch heute noch umworben wird. Es muß grausig für sie gewesen sein, als mein Vater tödlich verunglückte." „Hast eigentlich recht", nickte Klößchen. „Es kommt eben darauf an, daß die beiden Richtigen sich finden. Im Falle Gertrud Ausbeider-Schluck und Rudolf Vossburger haben sich die Falschen gefunden." „Die Richtige zu finden", sagte Karl, „ist das Problem. Es gibt sicherlich für jeden Topf einen Deckel. Aber manchmal steht der Topf hier, und der Deckel geistert in der Weltgeschichte umher, und keiner ahnt was vom ändern. Und es muß schon ein gewaltiger Zufall sein, wenn es plötzlich klirrt. Ich meine, wenn der Deckel beim Topf landet." „Aber sobald man den richtigen Deckel erwischt, sollte man ihn festhalten." Tarzan vermied es, Gaby anzusehen. Während dieser tiefschürfenden Betrachtung strampelten sie die Straße entlang, im Moment ohne Ziel, lediglich auf der Suche nach einer ruhigen Telefonzelle. Denn den nächsten Anruf wollten sie möglichst sofort machen und nicht erst zur Vierstein-Villa zurück gurken. 56
„Beim Steilen Zahn ist eine", fiel Gaby ein. Das war nicht weit von hier. Beim sogenannten Steilen Zahn handelte es sich um einen Mini-Wolkenkratzer, immerhin um ein imponierendes Hochhaus von 20 oder 22 Etagen. Es stand noch nicht lange. Aber es war bereits zu einem der Wahrzeichen geworden, prägte es doch die Silhouette der Stadt wie andere Bauten mit dem Drang zum Höheren: wie der Fernsehturm, das Rathaus, ein Dutzend Kirchen und der Tower (Kontrollturm) vom Flughafen. Der Steile Zahn war schmal, hoch, betonfarben und als Wohnhaus errichtet. Er stand in einem neuen Viertel, wo viele Grünflächen die Wohnmaschinen und Menschensilos voneinander trennten. Freilich waren die anderen Hochhäuser nicht über zehn oder zwölf Etagen hinaus gewachsen. Bei der Telefonzelle hielten sie. Der Schatten des Steilen Zahns reichte bis hierher. Klößchen zog das Schrumpfsche Telefonverzeichnis hervor und machte eine große Sache daraus, die nächste xbeliebige Nummer auszuwählen. Gaby führte Oskar inzwischen auf den Rasen, wo er an dem Schild BETRETEN VERBOTEN das Bein hob. Die breiten Straßen waren still. Fernab lag ein Spielplatz, wo die Kinder dieses Viertels sich tummeln konnten. „Also dann nehmen wir mal", meinte Klößchen, „äh, ja: H. M. Vielleicht ist das ein Schrumpf-Komplice. Machst du 's, Tarzan?" „Die Nummer!" Tarzan stand schon in der Telefonzelle, die noch ganz neu roch, nahm den Hörer ab und klickerte Münzen in den ZehnPfennig-Schlitz. Karl und Klößchen stellten sich neben ihn. Klößchen diktierte. Tarzan wählte. Das Rufzeichen ertönte. Dann meldete sich der Teilnehmer. „Guten Tag!" sagte eine Männerstimme. „Hier ist der automatische Anrufbeantworter von Henry Murczyk, Kirchfel57
der Allee 88, Rufnummer 3367111. Unser Büro ist im Augenblick nicht besetzt. Bitte . . . " Tarzan legte auf.
Verblüffung malte sich auf die Gesichter der Jungs. Dann grinsten sie wie auf Kommando. „Ich will mitlachen." Gaby kam mit Oskar heran. „Was ist denn so komisch?" „Ein gewisser Herr Murczyk ist nicht zu Hause", erklärte Tarzan. „Nur der Anrufbeantworter hat sich gemeldet. Aber rat mal, wo die Adresse ist." „Woher soll ich das . . . Moment mal! Etwa dort?" Sie wies mit dem Daumen über die Schulter und meinte den Steilen Zahn. Tarzan nickte. „Ist das nicht komisch", krähte Klößchen. „Aber wie stellen wir fest, wer Henry Murczyk ist", fragte Karl, „und was er treibt?" „Vielleicht ist er das", sagte Tarzan. Die drei folgten seinem Blick und drehten sich um. 58
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Ein Rolls Royce näherte sich. Er fuhr langsam, denn wer in diesem Nobelauto sitzt, hat keine Eile. Ein Mann saß am Lenkrad. Vielleicht war das der Chauffeur. Allerdings trug er keine Uniform, wie die vier Freunde feststellten, als der Wagen vor dem Steilen Zahn hielt. Der Fahrer stieg aus, um der Dame im Fond den Schlag zu öffnen. Sie sah sehr elegant aus, hatte rote Locken und trug ein zartblaues Kostüm, erschaffen — sicherlich — von einem römischen Couturier (Schneider). Hinter ihr hopste ein winziger Silberpudel ins Freie. „Ich glaube, den Mann kenne ich", sagte Gaby leise. „Ob das nicht der Herr Knöll ist?" „Knöll", sagte die Rothaarige in diesem Moment, „bitte, führen Sie Hektor noch gassi." „Selbstverständlich, Frau Murczyk. Aber erst, wenn Sie im Lift sind." Aha! dachte Tarzan. Dann blinzelte er. Ein Blitzstrahl, so schien es, hatte seine Augen getroffen. Sogleich begriff er: Kein Blitzstrahl war das gewesen, sondern das Funkeln von Geschmeide. Inzwischen war nämlich die Sonne ein Stück weiter gewandert, am Steilen Zahn vorbei. Sonnenstrahlen fielen auf Ohrringe und Halskette der Frau Murczyk. Tausend Feuer schienen zu sprühen. Sind sicherlich Brillanten, dachte Tarzan, und zwar von erster Güte. Knöll hatte Hektor übernommen, d.h., er führte ihn an der Leine zum Haus, einen Schritt hinter Frau Murczyk, die auf hohen Absätzen stolzierte. Aber es wirkte nicht affig. Sie verschwanden im Steilen Zahn. „Wer ist Knöll?" fragte Tarzan. „Er war mal bei der Kripo", antwortete Gaby. „Ein Kollege von meinem Papi. Aber dann ist er erkrankt und hat den Beruf aufgegeben. Papi hat das bedauert. Knöll ist nett." 60
„Krank sieht er nicht aus", stellte Karl fest. Das traf zu. Der Mann wirkte stabil wie eine Eiche, war bullig und braungebrannt. Jetzt kam er zurück — und schnurstraks auf die TKKGFreunde zu, wobei Hektor, der Winzling, fast nur auf den Hinterbeinen lief - so freute er sich, seinen Artgenossen Oskar zu begrüßen. „Ist das nicht die Gabriele Glockner?" rief Knöll. „Tag, Herr Knöll!" lachte Gaby. „Sie haben ja einen imponierenden Wachhund!" Knöll lachte gutmütig. „Jedenfalls kann er bellen." Er begrüßte Gaby, und sie stellte ihre Freunde vor. Oskar und Hektor spielten bereits miteinander. Damit sich die Leinen nicht verhedderten, durften die Hunde frei laufen. Aber nicht hier, sondern auf der großen Rasenfläche hinter dem Steilen Zahn, wo die Luft bereits zitterte. Denn die Vormittagssonne war heiß. Gaby ging geschickt vor, um Knöll auszuhorchen. Interessiert erkundigte sie sich, was er denn jetzt täte. „Ich verdiene mir ein Zubrot als Leibwächter", erzählte er bereitwillig. „Durch meine frühe Pensionierung wurde das Ruhestandsgeld stark gekürzt. Da muß man dazu verdienen. Und die Murczyks sind großzügig." „Leibwächter?" forschte Tarzan. „Droht denn der Dame, die wir eben sahen, Gefahr?" „Gewissermaßen, ja. Sie glaubt es jedenfalls. Und ich will sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Sonst bin ich meinen Job los. Ich bin auch nur einer von zwei Leibwächtern. Mein Kollege Alfred Macke übernimmt sozusagen den innerhäuslichen Teil der Sicherheit. Er ist der Koch der Murczyks, ein hervorragender übrigens, und früher Berufsboxer gewesen. Da war er nicht besonders gut. Zum Glück hat er aufgehört, bevor sein Gehirn weich wurde. Er nimmt Rosa Murczyk oben in Empfang, wenn sie im 14. Stock aus dem Lift steigt." „Aber warum dieser Aufwand?" 61
„Henry Murczyk ist einer der bedeutendsten Diamantenhändler — man kann sagen: in Europa. Schwerreich. Vor Jahren wurde er mal überfallen, beraubt und — erheblich verletzt. Seitdem ist ihm nichts zu aufwendig, um sich und seine Frau vor Überfällen zu bewahren. Und ich muß zugeben: So wie sich Frau Murczyk mit Schmuck behängt — das könnte manchen Ganoven verlocken. Ist ein Vermögen, was sie trägt." „Und solche Leute wohnen im Steilen Zahn", wunderte sich Gaby. „Warum nicht? Das ist eine gute Adresse. Außerdem ist es nur die Stadtwohnung der Murczyks. Sie haben einen tollen Landsitz, eine Hütte in den Bergen, eine Wohnung in Rom und eine in Paris. Übrigens bewohnen sie hier die gesamte 14. Etage. Und die ist regelrecht zu einer Festung ausgebaut. Das müßtet ihr sehen." Die TKKG-Freunde blickten an dem Hochhaus empor. Aber äußerlich unterschied sich kein Stockwerk vom ändern. Auch das 14. nicht. Weder daß Geschützrohre aus den Fenstern ragten, noch daß man die Wände mit Stahlplatten verkleidet hatte. „So seht ihr nichts", sagte Knöll. „Aber wenn ihr die Murczyks besuchen wolltet, könntet ihr sie nur mit dem Lift erreichen. Was die Treppe betrifft, so endet sie im 14. Stock. Tatsächlich. Auf Murczyks Betreiben wurden zwischen 13. und 14. Stock und zwischen 14. und 15. schwere Stahlgitter eingesetzt." „Ist denn das erlaubt?" fragte Tarzan. „Verstößt das nicht gegen feuerpolizeiliche Vorschrift? Was ist denn, wenn es brennt und der Lift versagt. Was machen dann die Bewohner ab 15. Stock aufwärts? Sollen die aus dem Fenster springen?" „Eine Feuertreppe existiert außerdem noch", erklärte Knöll. „Und jede Etage hat Zugang. Aber der ist jeweils mit einer Stahltür gesichert. Alle ändern Türen sind offen. Die zur 14. Etage ist stets und ständig abgeschlossen. Und der 62
Schlüssel befindet sich bei Murczyks. Ich sag 's ja: eine Festung." „Aber wer aus dem Lift steigt, der kommt rein?" „In der 14. Etage wurde hinter der Lifttür ein Scherengitter angebracht. Schlüssel dazu haben nur Murczyks und Macke. Ich habe keinen. Ich bin ja für oben nicht zuständig." „Das hätte man doch einfacher lösen können", behauptete Tarzan. „Zum Beispiel mit einer Alarmanlage. Bestimmt hat sich der zuständige Vertreter an die Murczyks gewandt. Es ist ein gewisser Eckbert Schrumpf." „Kenne ich nicht." Knöll schüttelte den Kopf. „Ich glaube auch nicht, daß der schon bei Murczyks war. Sonst hätten wir längst eine Alarmanlage in der Hochhaus-Festung. Davon bin ich überzeugt." „Es muß ja schrecklich sein, wenn man so reich ist", sagte Gaby. „Diese Leute leben anscheinend in ständiger Angst, sie könnten Opfer eines Überfalls werden." „Es hat eben alles zwei Seiten", nickte Knöll. „Aber gefährdet sind nicht nur die Reichen. Auch wegen geringfügiger Summen werden Gewalttaten verübt. Die Täter sind meist Psychopathen (Kranke) oder Asoziale (gesellschaftsfeindlich). Ein Profi wird sich immer ein lohnendes Objekt aussuchen - wie zum Beispiel Frau Murczyk. Da muß ich dir recht geben, Gaby." Interessant! dachte Tarzan. Und aufschlußreich! Aber wie paßt die Murczyk-Rufnummer ins Schrumpfsche Verzeichnis, wenn der Diamantenhändler kein Kunde ist. Soll er erst einer werden? Eine Weile sahen sie zu, wie die Hunde tollten. Knöll meinte dann, er müsse nun den Rolls in die Tiefgarage fahren, und Frau Murczyk warte sicherlich schon auf ihren Hektor. Sie gingen zur Straße zurück. Beide Hunde waren wieder angeleint. Weil sie den Steilen Zahn mal von innen sehen wollten — 63
wenigstens ein Stück von der Wurzel — begleitete die TKKGBande Herrn Knöll bis zum Lift. Die Eingangshalle enttäuschte die vier Freunde. Sie war eher schlicht. Bei näherem Hinsehen zeigte sich allerdings, daß alles feinster Marmor war, und namhafte Künstler hatten die Keramikkacheln der Wände entworfen. Am Lift verabschiedeten sie sich von Knöll. Als sie das Gebäude verlassen wollten, war Tarzan der erste. Er hatte die Tür bereits ein Stück geöffnet, als er hastig zurückwich und dabei gegen Gaby prallte, ihr sogar auf den Fuß trat. „Du Elefant!" schimpfte sie — und stieß gegen Klößchen, der das freilich aushielt, war er doch rundherum gepolstert. „Entschuldige!" murmelte Tarzan, ohne sich umzuwenden. „Sssttt! Leute, ich glaube, mir platzen die Socken! Da wird ja der Wauwau in der Pfanne verrückt. Duckt euch, sonst sieht er uns!" Das letztere war völlig unnötig. Denn inzwischen hatte Tarzan nur noch die Fußspitze zwischen Tür und Rahmen. Durch den Spalt linste er wie durch ein Astloch. „Wer sieht uns?" fragten seine Freunde dreistimmig. „Ratet ihr nie!" „Mach 's nicht so spannend!" Gaby drängte sich neben ihn. Aber sie sah nur noch das Heck eines hellen Wagens, der durch den Betonschlauch zur Tiefgarage hinab glitt. „Wer war das?" Gleichzeitig hob sie den Fuß und trat herzhaft auf Tarzans linken Turnschuh. „Tut 's weh? Mir hat's auch weh getan. Und nicht mal umgedreht hast du dich, um das Ausmaß meiner Schmerzen festzustellen." Verblüfft sah er sie an. „Entschuldige!" „Das hast du schon mal gesagt." „Was soll ich denn machen? Dir den Schuh ausziehen und deinen Fuß massieren?" 64
„Das wäre jedenfalls ein Vorschlag." Karl stieß ungeduldig die Luft über die Zähne. „Pfote! Deine zarten Füße in allen Ehren. Aber muß das jetzt sein? Ich glaube, Tarzan hatte was Sensationelles entdeckt." Gaby zischte ihn an, blies gegen ihren Pony, lächelte dann gnädig und war sich nicht ganz im klaren darüber, ob sie sich nun behauptet hatte im Kreise der Jungs oder mehr Respekt vor weiblicher Verletzlichkeit fordern sollte. Tarzan sagte: „Er ist eben in die Tiefgarage gefahren. Wer? Das haltet ihr nicht für möglich. Es war Eckbert Schrumpf."
In der Tiefgarage schloß Schrumpf seinen Wagen ab. Mit der Aktentasche ging er zum Lift. Er fuhr hinauf in den 15. Stock. Dem Lift gegenüber war die Tür des Apartments, das er für ein Jahr gemietet hatte. Daß er hier eine Zweitwohnung besaß, wußte keiner seiner Bekannten. Er hatte das vor Sabine verschwiegen — ebenso wie vor Paul Janitz, Wilhelm Himsel und Erwin Ep-stein. Diese drei — das war die Einbrecherbande, die er befehligte. Auch davon ahnte Sabine nichts — und nie sollte sie das erfahren. Wie überhaupt: Endlos wollte er mit den drei Ganoven nicht arbeiten. Aber zur Zeit lief alles noch reibungslos, und der Gewinn war beträchtlich. Was er bei sich ,befehligen' nannte, bestand fast ausschließlich im Ausbaldowern (auskundschaften). Als Versicherungsvertreter hatte er Zutritt zu den Häusern der Reichen. Er konnte feststellen, wo lohnende Beute wartete, und wie die dreiköpfige Bande einbrechen konnte, ohne zuviel zu riskieren. Selbstverständlich bezogen sich seine heißen Tips niemals auf Villen, die mit Alarmanlagen gesichert waren. Das hätte Janitz, Himsel und Epstein überfordert. So geschickt wie Sabine waren die nicht. 66
Möbliert hatte er das Apartment im Steilen Zahn übernommen. Persönliche Gegenstände fehlten fast völlig. Aber das war unwichtig. Schließlich war er hergekommen, um einen Plan zu verwirklichen, in den er sich verbissen hatte, als wäre es sein Lebenswerk. Er wollte Rosa Murczyk berauben. Etliche Male schon hatte er - dezent, versteht sich — ihren unermeßlich wertvollen Schmuck bestaunt, mit dem sie sich behängte. Auf den ersten Blick schien sein Vorhaben — der Coup im Hochhaus-Lift — aussichtslos. Die Frau hatte zwei Leibwächter. Einer begleitete sie auf Schritt und Tritt, und die 14. Etage war mit allen Schikanen gesichert. Henry Murczyk, der Diamantenhändler, war nahezu ständig geschäftlich auf Reisen. Daß man ihn hier sah, zählte zu den Ausnahmen. Aber seine Frau verfügte über einen großen Bekanntenkreis und langweilte sich nicht. Abend für Abend war sie unterwegs. Sie ließ keinen Ball aus und keine Veranstaltung, auf der sich Prominenz traf. Aber immer wurde sie von einem Leibwächter begleitet. Mit ihm, das stand fest für Schrumpf, würde er sich nicht anlegen. Er hatte studiert, wie Rosa Murczyks Heimkehr sich abspielte. Der Rolls Royce hielt vor dem Hochhaus. Knöll, der Chauffeur, half der Frau beim Aussteigen und begleitete sie ins Haus, zum Lift. Sie fuhr immer allein hoch, niemals mit anderen Hausbewohnern zusammen. Macke, der zweite Leibwächter, wurde stets durch Hupsignal verständigt und stand dann bereit, um die Frau am Scherengitter in der 14. Etage zu empfangen. Inzwischen setzte Knöll den Wagen in die Tiefgarage. Lückenlos also, denn das Schaltschema des Lifts war so konstruiert, daß er sich per Holknopf vor einer anderen Etage erst dann rufen ließ, wenn er in der ,vorher gedrückten' — der 14. also — gewesen war. 67
Schrumpf konnte basteln. In tagelanger Arbeit hatte er die Metallplatte hergestellt. Sie war magnetisch, sehr dünn und ein genaues Abbild der Bedienungstafel in der Liftkabine. Für die erhabenen Knöpfe hatte er Löcher entsprechender Größe ausgestanzt - alles auf den Millimeter genau. Die Bedienungstafel im Lift wies folgende Einteilung auf: Garage, Erdgeschoß, 1. Stock — undsoweiter bis hinauf zum 22. Stock. Das Duplikat (Doppel), das er angefertigt hatte, unterschied sich davon. Seine Stockwerk-Einteilung lautete: Garage, Erdgeschoß, Zwischengeschoß, 1. Stock undsoweiter. Das bedeutete eine Verschiebung um jeweils ein Stockwerk — nach oben. Wie gewohnt würde die Murczyk die 14 drücken. Mit dem Ergebnis, daß sie im 15. Stock landete, nämlich vor seiner Tür. Hier — das wußte er — konnte ihn niemand stören. In seiner Etage schliefen die Nachbarn spätabends. Dann herrschte hier Stille wie in einer Friedhofskapelle. Es wird klappen! dachte er, als er jetzt am Fenster stand und hinunter sah auf den Rasen. Daß die Murczyk stets echten Schmuck trug — niemals Imitationen (wertlose Nachbildungen) — war hinlänglich bekannt. Wozu hätte sie sonst einen Leibwächter benötigt? Was sie trug, konnte Hunderttausende wert sein. Lohnend war die Beute auf jeden Fall. Ein harter Glanz trat in Schrumpfs Augen, als er jetzt sah, wie Kinder unten auf dem Rasen spielten. Das galt nicht den Kindern. Aber ihr Anblick — fröhliche Tummelei auf saftigem Grün — erinnerte ihn an das Gartenfest, zu dem Friedrich der Große — sein Chef — eingeladen hatte. Heute fand es statt, und viele Gäste hatte Friedrich von Eschbergen persönlich eingeladen, auch Sabine. Nur mich hat er ausgespart, dachte Schrumpf voller Haß, 68
jedenfalls nicht persönlich angesprochen. Er hat was gegen mich, dieser Wichtigtuer. Er läßt es mich fühlen. Aber, warte nur, du Angeber! Dir tränke ich 's ein! Bald schon! Und das wird dich treffen, daß du für den Rest deiner Tage an Krükken gehst - jedenfalls seelisch. Auch was das betraf, hatte Schrumpf einen Plan, einen gemeinen, teuflischen Plan.
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6. Gartenfest bei Friedrich dem Großen Auf Drahteseln entfernten sie sich vom Steilen Zahn, eilig, denn auf keinen Fall wollten sie Schrumpf begegnen. Daß sie ihm nachspürten, war schließlich Geheimsache. „Ob der jemanden besucht?" stellte Karl Überlegungen an. „Dann hätte er vor dem Gebäude geparkt und nicht in der Tiefgarage", entgegnete Tarzan. „Stimmt", nickte Karl. „Aber wie ist es dann zu erklären? Er wohnt doch woanders. Ob er vielleicht im Steilen Zahn eine Zweitwohnung hat?" „Zwei Wohnungen in einer Stadt?" zweifelte Klößchen. „Warum nicht? Hast du ja, genau genommen, auch. Deine Eltern bewohnen ihre Prachtvilla in der Eichen-Allee. Und nur weil's dir zu Hause zu langweilig ist — als armes, dickes Einzelkind —, haust du im Internat, zweiter Stock, Bude Adlernest. Stimmt's?" „Genau", nickte Klößchen. „Nur frage ich mich, was ist denn nun meine Erstwohnung, das Adlernest oder der heimische Stammsitz mit meinem üppigen Jünglingszimmer? Übrigens bin ich kein armes, dickes Einzelkind, sondern der künftige Schokoladen-Erbe, nämlich der vorerst letzte Sauerlich-Sproß." Gaby kicherte. „So habe ich mir einen Sproß immer vorgestellt. Laß mal Gedanken sprießen, Willi! Was machen wir nun? Wie können wir rausfinden, welches Interesse Schrumpf an Murczyk hat? Daß Sabines Verlobter willkürlich Telefonnummern sammelt, ist ja nicht anzunehmen." „Da du gerade ihren Namen nennst", sagte Tarzan, „sollten wir dort erstmal anlaufen. Den Vorwand haben wir. Hast sie ja schon angemacht bezüglich Interview. Ganz nebenbei können wir ihr auf den Zahn fühlen und erfragen, was Schrumpfs Eckbert im Steilen Zahn treibt." 70
Der Vorschlag fand Beifall. Also bogen sie an der nächsten Kreuzung rechts ab, denn die Mitterstädter Landstraße — die mitten in der Stadt lag, was das Land vor der Straße zum namensgeberischen Rätsel machte — führte zu ihr: zu Sabine. Ihr grünes Sportcoupe stand vor einem Apartmenthaus. Gaby klingelte, und in der Gegensprechanlage erklang die Stimme der schwarz-maskierten Einbrecherin. „Hallo, ja?" „Wir sind's", sagte Gaby. „Tarzan und Co." „Könnt ihr Gedanken lesen?" Sabines Stimme jubelte. „Ist ja toll. Ich habe schon bei dir angerufen, Gaby. Deine Mutter sagte, du seist bei Viersteins. Dort sagte man, die TKKGBande sei . . . Aber, kommt erstmal rein. Erster Stock, rechts." Der Summer summte. Im ersten Stock wartete Sabine in der geöffneten Tür, mit einem Empfangslächeln, das — so strahlend — keine Stewardess hinkriegt. Sie war todchic gekleidet, trug nämlich einen weißseidenen Partyanzug und Goldsandalen an nackten Füßen. Die Zehennägel waren lila lackiert, wie Tarzan bemerkte. Aber darüber konnte man hinwegsehen. Die Begrüßung fiel herzlich aus, als kenne man sich seit Vorschultagen; Oskar, der sich freute, wurde minutenlang von Sabine getätschelt. Die TKKG-Freunde konnten dann Sabines hübsche Ein-Zimmer-Wohnung bewundern, wo ihr Hobby förmlich ins Auge sprang. Sie sammelte nämlich alte und noch ältere Zirkus-Plakate. Etliche der schönsten waren gerahmt und zierten die Wände. „Wir wollten dich doch interviewen", begann Gaby, um den Besuch zu begründen. Aber Sabine winkte ab, sagte, das hätte Zeit bis später, denn jetzt ginge es darum: „Mein Chef, der allgewaltige von Eschbergen, gibt heute ein Gartenfest. Draußen in Bäumlrode. Das ist ein entzückendes Dorf hinter . . . " 71
„Kennen wir", unterbrach Tarzan. „Und du bist offenbar auch unter denen, die in seinem Garten Flurschaden anrichten." „Ihr seid es auch", nickte sie. „Wir?" rief Klößchen. „Ach? Ist dieses Gartenfest vielleicht zufällig mit einem kalten Büffet (mit kalten Speisen besetzter Tisch zur Selbstbedienung) verbunden?" „Ganz bestimmt, Willi. Friedrich der Große läßt sich nicht lumpen." „Das war doch der Perserkönig", überlegte Klößchen. „Also, was persische Küche betrifft, bin ich mir nicht im klaren, ob da auch Kakao-Produkte verwendet werden." Sabine stutzte, lachte dann, und Gaby sagte: „So ist unser Willi, immer einen Scherz auf der Zunge, falls dort nicht just ein größeres Stück Schokolade schmilzt." „Aber wie kommen wir zu der Ehre der Einladung?" forschte Tarzan. „Das war so", antwortete Sabine: „Ich rief vorhin Helga von Eschbergen an. Wir sind nämlich beide beim Judo-Unterricht und ein bißchen miteinander befreundet. Ich sagte, daß ich vielleicht vier junge Freunde mitbringen würde — denn die Eschbergens bitten ausdrücklich darum, nicht allein zu kommen. Sie haben ein riesiges Grundstück und sehen gern viele Leute. Ich sprach von euch — und erzählte, daß Tarzan mich erwischt und überwältigt hat. Helga war von den Socken. Denn bisher galt die Schwarze Maske als unüberwindlich, als das nächtliche Phantom, das sich jedem Zugriff entzieht. Tarzan", sie lachte, „du hast meinen Ruf ruiniert." „Tut mir schrecklich leid." Er grinste. „Aber ich ahnte ja nicht, daß es so harmlose — so gern gesehene Einbrecher gibt." „Jetzt steht es so: Ich soll euch mitbringen." „Ich für meinen Teil sage zu", nickte Klößchen. „Herr Schrumpf kommt auch?" fragte Tarzan. 72
„Leider nicht", erwiderte Sabine. „Er ist verhindert." „Und wann beginnt das Fest?" fragte Gaby. „Am besten, wir fahren gleich los." „Aber doch nicht in dem Aufzug!" Entsetzt zupfte Gaby an T-Shirt und Jeans. „Du siehst entzückend aus", sagte Sabine. „Was du anhast, ist genau richtig. Es ist ja kein Opernball. Ich bin sicherlich overdressed (zu fein gekleidet). Aber den Anzug habe ich neu — und wann wohl Gelegenheit, ihn vorzuführen. Eckbert ist leider ein Ausgeh-Muffel." „Sehr kleidsam", meinte Tarzan, denn er hielt es für angebracht, ein Kompliment auszuteilen. Sabine lächelte. Karl badete bereits in Vorfreude, nahm nämlich seine Brille ab und polierte aufgeregt die Gläser an der Brusttasche seines Sommerpullis. „Ich muß trotzdem was zum Umziehen mitnehmen", meinte Gaby. „Bis wir nämlich nach Bäumlrode geastet sind, ist die Frische der Leibwäsche vergangen und . . . " „Asten? Ihr fahrt doch mit mir", sagte Sabine. „Die Räder laßt ihr hier. Irgendwie stopfe ich uns schon alle in meinen Heckenspringer. Ist Oskar fahrtauglich! Oder spuckt er?" „Wenn du so schnell fährst, wie er es liebt", lachte Gaby, „bist du den Führerschein los." Es wurde eng im Coupe - nicht für Gaby und Oskar, denen die Jungs den Beifahrersitz überließen — aber hinten, wo Klößchen in der Mitte viel Platz beanspruchte, obwohl er kaum zu atmen wagte. Sie fuhren aus der Stadt hinaus und über die Felder. Die Mittagssonne stand hoch. Das Korn wogte im Sommerwind. „Übrigens hat Herr von Eschbergen sich was Tolles ausgedacht", erzählte Sabine. „Als Höhepunkt des Festes werden nämlich drei Ballonfahrten verlost. Gottfried Löffelholz ist der Pilot. Und jeweils drei Fahrgäste können mit. Löffelholz ist leidenschaftlicher Ballonfahrer — und Sportartikelfabrikant. Ballons stellt er allerdings nicht her." 73
„Sondern?" fragte Klößchen. „Sicherlich Tennisschläger wo er doch Löffelholz heißt." „Skibindungen und Surfbretter", wußte Tarzan. „So eng darf man das mit dem Namen nicht sehen, sonst müßte dein Vater Süßlich heißen - oder Sauerkraut herstellen." Bäumlrode war ein hübsches Dorf, in dem mancher betuchte Städter sein Landhaus errichtet hatte. Das Eschbergische lag ganz am Ende der Dorfstraße, waldnah, und hinter der Zehn-Zimmer-Hütte erstreckte sich ein ländlicher Garten - bis fast zum Horizont. Rechts und links der Straße, bis zum Feldweg, parkten Fahrzeuge mit städtischem Kennzeichen: die Gäste. Der Lärm auf dem Grundstück entsprach einem Volksfest, und 74
tatsächlich war auch zwischen Terrasse und Swimmingpool eine Drehorgel aufgestellt, die von Jugendlichen umlagert wurde - obwohl sie nichts aus der Hitliste spielte, sondern volkstümliche Weisen. Sabine, die hier wie zu Hause war, mied den Weg durch das Landhaus und führte ihre Freunde links vorbei, mitten hinein in das Gartenfest. Die TKKG-Freunde staunten. Waren das 50 oder 100 Gäste? Über einem gemauerten Gartengrill bruzzelten gleich zwei Spanferkel. Das Büffet war so lang wie eine Kegelbahn. Eine Bar war errichtet, wo Eisgekühltes von null bis 55 Prozent Alkoholgehalt ausgeschenkt wurde. Die Luxusterrasse war so glatt, daß man dort sicherlich tanzen konnte - wollte. 75
mußte. Die Stimmung schlug bereits hohe Wellen, und die Luft war so angefüllt mit Scherzen und Spaßen, daß die Mücken kaum Platz hatten. Eine junge Frau, ländlich-chic im Folklore-Kleid, umarmte Sabine. Es handelte sich um Helga von Eschbergen. Tarzan fand, sie sehe wie eine gut geschminkte Madonna aus. Aber das sagte er natürlich nicht. Sie hatte dunkle Augen voller Wärme. Allerdings auf der Judo-Matte konnte er sich diese zarte Person nicht vorstellen. „Das sind meine Freunde", stellte Sabine vor, und die Gastgeberin dehnte ihre Umarmung auf die vier aus. Offenbar war das hier üblich. „Das sind meine Freunde", sagte Sabine zum zweiten Mal. Diesmal galt's einem hochgewachsenen, leutseligen Herrn von etwa 50 Jahren, den das Seidenhemd in der Taille kniff. Er hielt ein riesiges Bierglas in der einen Hand. Mit der anderen schüttelte er TKKG-Hände. Es war Friedrich der Große. „Also ihr", lachte er, „habt Sabine erwischt — und überwältigt. Wie gut, Sabine, daß Sie bundesweit die einzige rechtschaffende Einbrecherin sind. Wo ist denn unser Schrumpf?" Sabine sagte, Schrumpf sei verhindert und ließe sich entschuldigen. Das schien von Eschbergen nicht zu interessieren. Vielmehr stellte er sein Glas irgendwo ab, legte einen Arm um Gabys Schultern, den ändern um Tarzan und zog beide zur Terrasse, wo im Schatten eine Wiege stand. „Damit ihr die ganze Familie kennenlernt, zeige ich euch jetzt den Stolz meiner späten Jahre. Fränzi! Sie wurde uns vor sieben Monaten geboren. Für einen alten Mann wie mich die größte Freude seines Lebens." „Aber Sie sind doch nicht alt", sagte Gaby kokett. „Ganz im Gegenteil." „Wenn du das sagst", lachte er, „fühle ich mich gleich wie 20. Heh, wo bleiben eure Freunde?" 76
Er drehte sich um, wobei auch Gaby und Tarzan die Kehrtwendung mitmachen mußten. Karl und Klößchen folgten auf dem Fuße, begleitet von Sabine - während Helga v. E. als Gastgeberin von Grüppchen zu Grüppchen eilte. Jeder schien jeden zu kennen. Fränzi wurde besichtigt. Sie war ein süßes Baby und hatte Mamas dunkle Augen geerbt. Gaby durfte das kleine Geschöpf auf den Arm nehmen, Klößchen auch - der dabei anmerkte, er hätte sich immer eine kleine Schwester gewünscht, aber der Klapperstorch wäre ein ziemlich sturer Vogel. Das rief orkanartige Heiterkeit hervor. Tarzan und Karl begnügten sich damit, Fränzi mit dem Finger zu kitzeln, worauf sie wie eine Taube gurrte. Herr von Eschbergen konnte mit Recht stolz sein. In seiner Kleinstfamilie waren alle Generationen vertreten. 77
Nicht pflichtschuldig, sondern herzlich kümmerte er sich um seine jungen Gäste. Es beeindruckte ihn, daß sie Bier ablehnten und nur Limonade wollten. Und er machte sie mit Gleichaltrigen bekannt, denn etliche Gäste hatten ihre Nachkommen mitgebracht. Oskar tollte längst mit einer Setterhündin, einem Silberpudel, einem Rauhhaardackel und einem Dalmatiner im Hintergrund des Gartens. Klößchen wich einer gewissen Sonja Buschbeck nicht mehr von der Seite, einem reizenden Pummelchen, das seine Sympathie erwiderte. Karls Topf fand seinen Deckel, bzw. eine gewisse Mathilde, eine schlaksige Einser-Schülerin, die die gleiche Brille trug wie er. Gaby lockte Oskars Spielgefährten an und ließ sich die Pfote geben. Tarzan dachte: Da wird einem ja schwindelig! Nur nette Leute! Bombenstimmung! Die Eschbergens sind die besten Gastgeber der Welt. Und sogar das Wetter könnte nicht schöner sein. Toll!
Er kniete vor ihr. Seine Arme umschlangen ihre Beine. Das Gesicht war an ihren Hausmantel gepreßt. „Gertrud!" Vossburgers Stimme klang dumpf. Er sprach in den Wollstoff. Einige Fussel gerieten ihm zwischen die Jacketkronen. Aber er spuckte nicht. Das hätte nicht zu seinem rührseligen Benehmen gepaßt. „Gertrud!" wiederholte er. „Du mußt mir verzeihen. Bitte!" „Nein, Rudolf." Gertrud war bleich. Ihre Arme zitterten. „Bitte!" „Rudolf, was du mir angetan hast! Wie du mich demütigst! Wie soll ich das verzeihen?" Er spürte: Sie war schon auf dem richtigen Gleis. 78
„Ich sage dir doch: Es ist aus mit Sigrid Jungfell. Ich habe eingesehen, daß es eine Verirrung war. Ich bin ein schäbiger Kerl, ich weiß. Ich mißbrauche deine Güte. Aber ich werde sie nie wiedersehen. Die Jungfell, meine ich." „Rudolf, ich weiß nicht . . . " Gertrud Vossburger war verwirrt. Er lag vor ihr auf Knien. Er bat um Vergebung. Offenbar hatte er Schluß gemacht mit dem jungen Ding, weshalb auch immer. Sollte sie nun hart bleiben? Schließlich war er ihr Mann, immer noch. Gab es das nicht, daß man erst spät zueinanderfand - nach vielen Mißverständnissen, nach noch mehr Verirrungen? Er war nun mal ein Luftikus. Aber war er wirklich so schlecht? „Gertrud, bitte!" Ihr war, als schluchze er. Sie legte eine Hand auf seinen Kopf. Fast automatisch streichelte sie sein Haar. Er erhob sich, blickte ihr tief in die Augen und schloß sie in die Arme. „Wir gehören doch zusammen", murmelte er. „Und jetzt erst recht, Gertrud. Meine Gertrud! Bitte, laß uns feiern! Unserer Versöhnung gebührt ein würdiger Rahmen." „Feiern?" „Gleich heute abend, ja?" „Aber . . . " „Wir sind doch bei Schulze-Tiepelbacher zur Party eingeladen. Lange schon. Da gehen wir hin. Und der Abend wird nur für uns zwei sein." „Ich weiß nicht, Rudolf. Ich werde doch immer so schnell müde. Und dann verderbe ich dir den ganzen Abend." „Ich bitte dich, Gertrud! Sobald du müde bist, gehen wir. Nur sowas nicht ausdehnen! Laß die ändern bis zum Morgengrauen hocken. Die haben am nächsten Tag ihren Brummschädel. Wir aber sind frisch." „Na gut", seufzte sie. „Wenn du meinst." Er meinte es so. 79
Während der nächsten Stunden tat sie alles, um sich hübsch zu machen: Baden, Gesichtsmaske, Haarwäsche und Föhnen, Maniküre. Eigentlich, dachte sie, müßte ich doch glücklich sein — jetzt, da alles wieder gut ist. Aber dieses Gefühl wollte sich nicht einstellen. In seinem Zimmer war Rudolf Vossburger nicht mit Schönheitspflege beschäftigt. Vielmehr hatte er seine Pistole auseinandergenommen und geölt. Er lud sie und steckte sie dann in die rechte Tasche seines Sommermantels. In der linken steckte ein kurzer, bleigefüllter Totschläger. Spätnachmittags gab es noch eine kleine Aufregung für Gertrud, als sie Maunzi vermißte. Das Katzenbaby hatte sich durch einen Türspalt hinausgestohlen und jagte im Garten nach Schmetterlingen. Aber es ließ sich einfangen. „Du kommst wohl auf den Geschmack der Freiheit, kleiner Ausreißer", lachte Gertrud. Sie trug Maunzi ins Haus zurück und schloß sorgfältig die Terrassentür.
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7. Vorfreude Klößchen und Sonja hatten sich auf eine Gartenbank hinter der Rosenhecke zurückgezogen — mit gefüllten Tellern. Aber das Versteck hielt sie nicht lange. Immer wieder tauchten sie auf, um die Teller zu füllen. Das Fest währte schon Stunden. Aber keine Minute war langweilig, zumal inzwischen für Bewegung gesorgt wurde. Friedrich der Große hatte tatsächlich eine dreiköpfige Band engagiert, die Hof Dogs. Samt ihren Instrumenten und elektronischen Zusatzgeräten waren Pianist, Gitarrist und Saxophonist aus der Stadt angereist. Jetzt sorgten sie für heiße Rhythmen. Wer Beine hatte, tanzte. Sogar die Hunde versuchten es. Tarzan drehte Ehrenrunden mit Sabine und der Gastgeberin. Das gebot der Anstand. Im übrigen konzentrierte er sich ausschließlich auf Gaby, was freilich zum schweißtreibenden Sport wurde, wenn er sie nicht — zeitweilig wenigstens — ändern überlassen wollte. Ein Halbdutzend Jungs saß in den Startlöchern und wartete darauf, daß er Ermüdung zeige. Eine Vorstellung, die einfach lächerlich war. Mit Essen, Trinken, Tanzen und lebhaftem Smalltalk (oberflächlichem Plaudern) verging die Zeit wie im Flug. Die Kapelle pausierte. Auch die Solisten (Einzelspieler) wollten sich am Spanferkel gütlich tun. Gaby hatte Tarzan eingehakt und zog ihn in den Schatten eines Kirschbaums. Ihr Gesicht glühte. Sie lachte und fand alles himmlisch. Aber soeben näherten sich Klößchen und Sonja mit Unheil-Gesichtern. Appetitmangel konnte nicht der Grund sein. Beide waren satt bis zur Halskrause, obwohl Sonja noch kämpfte — nämlich mit einer beachtlichen Portion Schokoladenpudding. „Tarzan", Klößchen bewegte den Kopf wie eine Schild-82
kröte, die sich nur zögernd aus ihrem Panzer hervorwagt, „hinter den Büschen da hinten liegt so ein komischer Kerl. Der führt Selbstgespräche. Ich glaube, er will Herrn von Eschbergen umbringen." „Was?" Sonja nickte. „Der schimpft wie ein Kesselflicker. Ich glaube, der ist betrunken! Sogar mein Schokoladenpudding ist rot geworden — und sah ajus wie Himbeergrütze." „Ob der sich eingeschlichen hat?" überlegte Gaby. „Bevor wir die Pferde scheu machen", sagte Tarzan, „sehen wir uns den Burschen erstmal an. Wäre ein Jammer, wenn dieses herrliche Fest mit einem Mißklang endet." Sie mußten ein ganzes Stück durch den Garten laufen dorthin, wo sich nur die Hunde balgten, aber keines Gastes Fuß das Unkraut niederdrückte. Hinter Büschen brabbelte eine Stimme. Vorsichtig bog Tarzan Zweige beiseite. Zwischen Zaun und den Büschen war ein kleiner Rasenfleck. Dort lag der Typ, hatte die Arme unterm Kopf verschränkt und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Daß irgendwas bräunte, außer Nase und Stirn, war unmöglich. Schwarzer Kräuselbart wucherte von Ohr zu Ohr und war so dicht, daß im finsteren Dickicht sich sogar Flöhe verirrt hätten. Tarzan hatte den Mann vorhin gesehen. Er gehörte zu den Gästen. An der Bar war er einer der Eifrigsten gewesen und jetzt sternhagelvoll. „. . . von Eschbergen!" stieß er soeben brabbelnd durchs Bartgestrüpp. „Schweinekerl, Schänder, Angeber, Geldschneider! Krätze soll dich befallen. Nieder mit Friedrich dem Großen! Es lebe Otto der Fromme! Tod ihm, Verderben, Mißernte, Konjunktur-Rückgang und Pestilenz! von Eschbergen — das wünsche ich dir. Dein Haus soll abbrennen! Aber ohne . . . " 83
Er unterbrach seinen Text. Eine Stechfliege, offenbar angelockt vom Alkoholdunst, hatte sich auf seiner Nasenspitze niedergelassen, einer roten Knolle von sehenswerter Leuchtkraft. Jetzt bohrte die Bremse ihren Stachel hinein, und der Bärtige schlug sich fluchend auf die Gurke. Tarzan zog sich zurück. 84
„Total blau", flüsterte er den ändern zu. „Ob er gefährlich ist oder nur spinnt - wer weiß. Fragen wir mal jemanden, der ihn kennt." Sie liefen zurück, stießen auf Sabine und berichteten ihr. „Keine Sorge!" lachte sie. „Das ist Otto Rajowski. Wenn er ein paar Gläschen zuviel hat, rastet er aus. Aber er ist der Harmloseste von uns allen. Der tut keiner Fliege weh." 85
„Die Bremse hat er zerklatscht", Tarzan lächelte. „Weshalb beschimpft er den Gastgeber?" „Das darfst du nicht ernst nehmen. Es ist wohl seine Art, seelischen Druck abzulassen. Otto der Fromme — so nennen wir ihn — war nämlich in Helga verliebt. Ist es wohl noch. Er hat sie heftig umworben, als sie noch nicht Frau von Eschbergen war. Friedrich der Große hat das Rennen gemacht. Aber deshalb besteht keine Feindschaft. Ihr seht ja, Otto ist eingeladen, auch gekommen und wenn's darauf ankäme, würde er sich für Friedrich den Großen in die Bresche werfen." „Was er eben losließ, hörte sich anders an", meinte Tarzan. „Wenn das wirklich ganz harmlos ist, sollte er sein Innenleben nicht so nach außen stülpen." „Seid ohne Sorge! Otto schimpft genauso auf sich selbst." Später sahen sie, wie er — wieder halbwegs nüchtern — neben dem Hausherrn saß, Fränzi auf dem Arm hatte und killekille mit ihr machte. Als die Sonne sank, erlebte das Fest seinen mit Spannung erwarteten Höhepunkt. Die Ballonfahrten wurden verlost. 59 Lose — soviele Personen waren anwesend, ohne die drei Eschbergens — befanden sich in einem Hut. Der Hausherr selbst ging umher, und jeder durfte ziehen. Als das letzte Los verteilt war, trat von Eschbergen in die Mitte der Terrasse. Die Gespräche verstummten. Stille breitete sich aus. „Drei sind jetzt unter uns", sagte er, „die das Glück haben, die Welt von oben zu sehen. Nämlich aus dem Korb eines Heißluftballons. Jeder der Gewinner kann zwei Mitfahrer auswählen. Ja, Fahrer — ihr habt richtig gehört. Denn ein Ballon fliegt nicht, er fährt — wie Gottfried Löffelholz mir erklärt hat. Ihm verdanken wir auch, daß dieses Erlebnis Wirklichkeit wird. Denn sein Club stellt den Ballon zur Verfügung, und Gottfried wird der Pilot sein." Er machte eine Pause, damit man Gottfried Löffelholz mit Beifall danken konnte, was auch geschah. 86
„Morgen findet der erste Flu . . . äh, die erste Fahrt statt", fuhr Friedrich der Große fort. „Die zweite am nächsten Sonntag, die dritte am darauffolgenden. So, und jetzt die Gewinnzahlen. Helga hat sie gestern festgelegt. Gewonnen hat . . ." Er machte es spannend, blickte lächelnd umher und dann auf einen Zettel, den er aus der Tasche zog. Tarzan linste bei Gaby über die Schulter. Sie hatte die 23, er die 49. „. . . diiiie", dehnte von Eschbergen, „eins!" Auf der anderen Seite der Terrasse hüpfte eine junge Frau in die Höhe — und fiel dann ihrem Mann um den Hals. „Charly, du darfst mitfahren", rief sie. „Aber ich bin doch nicht schwindelfrei", lachte er. „Macht nichts, ich auch nicht", rief Gottfried Löffelholz, der Pilot. Er war ein freundlicher Hüne, braungebrannt und fast kahl auf dem Kopf. Als die Heiterkeit sich gelegt hatte, verkündete der Gastgeber die nächste Gewinnzahl. Es war die 30, und Matilde, die Einser-Schülerin, fiel fast in Ohnmacht vor Freude. Errötend erklärte sie Karl, daß er, wenn er wolle, mitfahren dürfe: In einer Woche. Dann könne nämlich auch ihre Freundin teilnehmen, die zur Zeit mit einer Sommergrippe im Bett liege. Karl strahlte. Er winkte seinen TKKG-Freunden zu und deutete mit beiden Daumen aufwärts. yAber komm auch wieder runter", rief Tarzan. „Runter kommen sie immer", antwortete Karl. „Und nun die letzte Gewinnzahl", sagte von Eschbergen. „Es ist die . . .böse 13." „Hurra!" krähte Klößchen. „Wußte ich's doch, daß dieser Tag gut endet. Die Bewirtung war köstlich. Und jetzt auch noch das!" Er schwenkte sein Los. „Trägt der Ballon eigentlich jeden? Oder soll ich mich noch einer Diät unterziehen?" „Dich trägt er bestimmt", lachte Löffelholz. „Außerdem 87
wirst du das bis morgen kaum schaffen. Ist dir morgen recht? Charly und Tanja können nämlich erst in zwei Wochen." „Morgen ist wunderbar", begeisterte sich Klößchen. „Wenn wir der Sonne entgegenschweben, werde ich Schokolade abwerfen - vielleicht trifft es den Richtigen."
Als seine Freunde ihm gratulierten, erklärte er: „Karl fliegt mit Matilde, du, Pfote, und du, Tarzan, ihr flie . . . äh, fahrt mit mir. Geht ja prima auf." Als Kavalier fühlte Tarzan sich veranlaßt, seinen Platz an Sonja abzutreten, obwohl er zu gern teilgenommen hätte. Doch Sonja hatte schon vor der Verlosung erklärt, daß dieses Abenteuer für sie nicht in Frage käme. „Ich hielte das nicht aus", bekräftigte sie jetzt, „mir wird schon beim Karusselfahren übel. Sobald ich mich einen Meter über den Boden erhebe, streikt mein Magen." Kein Wunder, dachte Tarzan. Der muß auch was mitmachen. Die Freude war riesig. „Das wird ein tierischer Spaß", meinte Klößchen. „Wir müssen uns noch mit Herrn Löffelholz absprechen", erinnerte Gaby. Das taten sie. Ort und Zeit wurden vereinbart. Damit war alles klar. Das Fest dauerte noch bis weit in den Abend hinein. Aber irgendwann geht auch der schönste Tag mal zu Ende, und als der Vollmond hoch am samtblauen Nachthimmel stand, bewegte sich ein Konvoi (Geleitzug) unterschiedlicher Automobile von Bäumlrode zur Stadt zurück. Oskar schlief zu Gabys Füßen. Tarzan fragte Sabine, ob sie Lust hätte, an seiner Stelle die Ballonfahrt mitzumachen. Aber das wollte sie nicht. „Ich war schon mal bei einer Gasballonfahrt dabei. Ist ein tolles Erlebnis." „Gasballon?" fragte Gaby. „Ich dachte, man nennt es Heißluftballon?" „Das ist ein Unterschied", sagte Karl sofort. „Es gibt beide. Falls ich mal kurz erklären darf: Der Heißluftballon besteht aus einer Hülle, die unten offen ist. Unter der Öffnung hängt der Gasbrenner — darunter der Korb mit den Ballonfahrern. In der Hülle befinden sich etwa l 800 Kubikmeter Luft. Ja, 89
das ist ein dicker Brummer. Durch den Brenner, der übrigens mit Propangasflaschen gespeist wird, erhitzt man die Luft in der Hülle. Sie muß bei einer Temperatur von 90 bis 120 Grad gehalten werden, sonst — geht's abwärts. Denn nur heiße Luft, die ja ein geringeres Artgewicht hat als kalte, steigt, trägt also den Ballon nach oben. Wenn die heiße Luft abkühlt, muß der Pilot nachfeuern. Heiß bedeutet also Steigen, Abkühlen bedeutet Sinken. Außerdem kann man Luft durch ein Ventil ablassen. Zur Sicherheit befinden sich immer zwei Gasbrenner auf der Brennerplattform. Einer könnte ja mal versagen." „Interessierst du dich für Ballonfahren?" fragte Sabine verblüfft. „Ist ja toll, wie genau du das weißt." Die TKKG-Freunde lachten. „Karl weiß - fast - alles", erklärte Gaby kann. „Er hat ein Gedächtnis wie ein Computer, weshalb das auch sein Spitzname ist. Was er ihm einmal einverleibt, das ist programmiert. Das sitzt. Er braucht nichts zu wiederholen. Er behält alles beim ersten Lernen. Und er lernt eigentlich ständig, wenn er nicht gerade mit uns zusammen ist." Sabine staunte. Für Karl war das Anlaß, gleich zum nächsten Höhenflug anzusetzen — diesmal mit dem Gasballon. „Tja, und dann das andere Fahrzeug, genannt Gasballon", fuhr er fort, „besteht aus einer Hülle, dem sie umgebenden Netz und dem Korb, wie gehabt. Die Hülle enthält ein Gas, das ein geringeres Artgewicht hat als Luft. Denn nur dadurch — wie bei der Heißluft — entsteht der Auftrieb. Als Gas nimmt man meistens Wasserstoff, seltener Helium. Ein durchschnittlicher Wasserstoff-Gasballon faßt etwa l 000 Kubikmeter Gas und hat immerhin eine Tragkraft von l 200 Kilogramm. Sein Eigengewicht beträgt etwa 350 Kilogramm. Wenn vier Personen mit einem Gesamtgewicht von 300 Kilogramm zusteigen, bleibt eine Tragkraft von 550 Kilogramm. Dieses Gewicht wird in Form von Sand an Bord genommen 90
und in kleinen Mengen abgeworfen, bis der Ballon auf die gewünschte Höhe gestiegen ist. Soll er sinken, läßt der Pilot mit Hilfe des Ventils Gas ab. Im oberen Teil des Ballons gibt es eine Reißbahn, die der Pilot während oder nach der Landung öffnen kann, um die Hülle besonders schnell zu entleeren." „Und wir fliegen also mit einem Heißluftballon", freute sich Gaby. „Wir fahren", verbesserte Karl. „Das ist eine sprachliche Feinheit, auf die von Ballonfahrern großer Wert gelegt wird. Das Fahren gilt für alle Luftfahrzeuge, die leichter als Luft sind. Man nennt sie Luftschiffe, und Schiffe fahren. Von Flugzeugen kann man das nicht behaupten. Ach so, und was den geschichtlichen Rückblick betrifft: Erfunden wurde der Ballon — was ja jeder weiß - vor 200 Jahren von den französischen Brüdern Montgolfièr. Deshalb sprach man auch damals von Montgolfièren. Das waren Heißluftballons. Verdrängt wurden sie später von den praktischeren Charlieren, benannt nach ihrem Erfinder. Charliere benutzte Gas. Die Charlieren wurden übrigens auch zu Kriegszwecken eingesetzt, zum Beispiel 1794 in der Schlacht bei Fleury. Da trugen sie Späher himmelwärts. Das war der erste Lufteinsatz von Soldaten in der europäischen Geschichte. Als 1870 Paris belagert wurde, flogen Charlieren Post ein in die Stadt und Passagiere hinaus." „Jetzt hast du selbst fliegen gesagt", lachte Gaby. Bald darauf kamen sie bei Sabines Adresse an. Es war schon spät. Die vier Freunde bedankten sich herzlich und versprachen, sich demnächst bei ihr zu melden. Die Drahtesel standen neben dem Eingang, aneinander gekettet. Oskar hechelte vor Freude, daß er endlich wieder laufen konnte. Sie winkten Sabine zu, als sie abfuhren. Dann ging es durch nachtdunkle Straßen heimwärts — erstmal zu Glock91
ners, wo Gaby und ihr vierbeiniger Begleiter wohlbehalten abgeliefert wurden. „Ich bin so aufgeregt wegen der morgigen Ballonfahrt", meinte Pfote. „Hoffentlich kann ich schlafen. Meine Eltern werden staunen. Sie ahnen ja nicht, wie toll es in Bäumlrode war. Gute Nacht, zusammen." „Gute Nacht, Pfote!" riefen die Jungs — und traten in die Pedale.
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8. Abgrund der Verworfenheit Sie fuhren schon eine Weile. Müdigkeit spürten sie nicht. Das machte die Vorfreude. Lediglich Klößchen klagte, er hätte sich den Magen verrenkt. Aber das war ja nichts Neues. Als sie den Rathausplatz erreichten, sagte Tarzan: „Fahren wir links, ist die Strecke 500 Meter kürzer. Fahren wir geradeaus, kommen wir durch die Scholl Allee. Wir sollten nachsehen, ob die Villa noch steht. Gertrud Vossburger ist uns schutzbefohlen. Das wollen wir nicht vergessen, nur weil wir einen tollen Tag hatten." Seine Freunde waren einverstanden. Bald erreichten sie die Scholl Allee. Als sie sich Nr. 12 näherten, mäßigte Tarzan das Tempo. Alle Fenster der Villa waren dunkel. War man dort schon im Bett? Plötzlich hörte Tarzan ein leises Maunzen. Es klang wie ein Klagelaut. Er hörte es auch nur, weil die Straße still war und menschenleer. Im nächsten Moment sah er das helle, zappelnde Etwas. Es war dicht am Zaun und maunzte jetzt vernehmlich. „Ist das etwa Frau Vossburgers Kätzchen?" Auch Karl hatte das Tierchen in der Dunkelheit entdeckt. Tarzan war schon vom Rad gesprungen. Als er sich bückte, erkannte er Maunzi. Das Katzenbaby war in hilfloser Lage. Sein Halsband hatte sich an einem Nagel festgehakt. Es konnte weder vor noch zurück und war schon ganz erschöpft. Tarzan befreite es. Auf seinem Arm fühlte Maunzi sich offensichtlich wohl. Jedenfalls schnurrte es unter seiner streichelnden Hand. „Das finde ich aber nicht gut, daß dieser Winzling frei rumläuft", meinte Klößchen. „Maunzi ist doch noch viel zu klein und unerfahren. Wie schnell kann sie auf der Straße unter 93
einen Wagen geraten. Also, wenn Pfote jetzt hier wäre, gäbe es ein Mordstrara." Tarzan streichelte Maunzi und blickte zum Haus. „Alle Jalousien sind oben. Ich glaube, da ist niemand zu Hause. Wahrscheinlich ist das Kätzchen durch ein offenes Fenster geschlüpft. Ich seh mal nach." Er hielt Maunzi mit einer Hand, flankte über den Zaun und marschierte gleich zur Rückfront der Villa. Dort mußte das Schlupfloch sein. Auch die Rückfront war unbeleuchtet. Aber gerade als er auf die Terrasse treten wollte, bemerkte er den Lichtschimmer. Ein schwacher Schein — wie von einer abgeblendeten Taschenlampe — geisterte im Obergeschoß hinter der Gardine, entfernte sich und erlosch. Tarzan duckte sich. Rasch huschte er über die Terrasse zur Hauswand. Und jetzt sah er, was los war. Von der Scheibe der Terrassentür fehlte ein Stück. Es war herausgeschnitten worden, halbkreisförmig, in Höhe des Kipphebels. Fußbreit stand die Tür offen. Ein Einbrecher war eingedrungen, und Maunzi hatte offenbar die Gelegenheit genutzt zu einem unerlaubten Abendspaziergang. Er machte kehrt und verständigte seine Freunde. „Das ist ja eine tolle Fügung, daß wir Maunzi entdeckt haben." Klößchen flüsterte, obwohl sie außer Hörweite waren. „Bringt die Räder ein Stück weg. Dann versteckt ihr euch hinterm Haus im Garten. Ihr müßt die Katze übernehmen. Wer weiß, was mich da drin erwartet." „Du willst rein?" fragte Karl. „Ist doch klar. Wenn es mehrere sind, verständigen wir Gabys Vater. Aber erst will ich auskundschaften." Augenblicke später stand er wieder an der Terrassentür. Lautlos ließ sich der Spalt erweitern. Er schlüpfte durch, horchte und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. 94
Stille herrschte in der alten Villa. Nur ab und zu knackte irgendwo Gebälk, und in der Eingangshalle tickte eine Standuhr. Ohne jedes Geräusch pirschte Tarzan die Treppe hinauf. Er mußte vorsichtig sein, um nirgendwo anzustoßen. Das Mondlicht, das durch die Fenster hereinfiel, reichte nicht in jeden Winkel. Er folgte einem Flur. Es gab mehrere Türen. Eine der letzten stand offen. Er blickte in einen schmalen Ankleideraum — mit eingebauten Schränken rechts und links. Von hier führte eine Tür nach nebenan. Und dort war der Einbrecher. Tarzan hörte, wie er schnaufte. Außerdem hatte er wieder die Taschenlampe eingeschaltet. Da die Verbindungstür nur angelehnt war, fiel ein Lichtstreifen in den Ankleideraum. Tarzan huschte zur Tür und spähte durch den Spalt. Es war ein Schlafzimmer, offensichtlich das von Gertrud Vossburger, nämlich typisch weiblich eingerichtet: mit Schminktisch und verspieltem Geschmack. Der Einbrecher saß auf dem Bett. Es war ein plumper Bursche mit fleischigem Gesicht. Er leuchtete hierhin und dorthin und schien zu warten. Worauf? Jetzt glitt der Lampenschein über die Wand. Metallisch schimmerte dort die Tür eines eingebauten Safes. Aber sie hatte dem Kerl widerstanden. Das Ölgemälde, das den Safe sonst verdeckte, lag auf dem Bett. Der Kerl hob die rechte Hand. Verblüfft gewahrte Tarzan die Waffe, einen kleinen Revolver. Der Einbrecher zielte offenbar auf den Safe — und krümmte den Finger* Klick! Der Bolzen schlug ins Leere. Klick, klick, klick! Noch dreimal krümmte der Kerl den Finger, aber die Kammern der Walze enthielten nicht Patronen, sondern Luft. Mit ungeladener Waffe? dachte Tarzan. Oder? Wenn mich nicht alles täuscht, faßt so ein Ballermann sechs Patronen. 95
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Als wollte er seine Harmlosigkeit beweisen, setzte der Kerl seine Trockenübung fort, schoß nämlich noch zweimal ~ mit demselben Ergebnis. Jetzt stand es fest: Der Colt war ungeladen. „O Mann!" nuschelte er plötzlich. „Wann kommen die endlich? Vossburger, Mensch, ich will heim, ehe die Kneipen dicht machen. Scheißspiel!" Was hieß das nun wieder? Tarzan war gespannt. Sollte er den Kerl gleich angreifen und ihm zeigen, was ein ungeschlagener Judoka ist, oder . . .
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Sie hörten es gleichzeitig, und beide strafften sich. Unten wurde die Haustür aufgeschlossen. Die Vossburgers kehrten zurück. Sofort löschte der Einbrecher seine Lampe. Aber das Mondlicht zeigte, was er tat. Rasch zerrte er sich eine Strumpfmaske über den dicken Kopf. Dann verzog er sich in den dunklen Winkel zwischen Kleiderschrank und Fenster. Unten erklangen Stimmen. Gertrud Vossburger sagte was. Eine Männerstimme antwortete. Es klang nicht sehr freundlich. Jetzt kamen sie die Treppe herauf. „. . . aber Rudolf", klagte sie. „Du weißt doch, daß ich abends nie lange durchhalte." „Einmal hättest du dich zusammennehmen können", erwiderte er barsch. „Du wußtest doch . . . " „Halt den Mund!" fuhr er sie an. „Du bist wirklich zu nichts zugebrauchen." „Rudolf! Ich verstehe nicht? Du hast dich versöhnt mit mir. Kniefällig hast du mich gebeten. Ist das jetzt der Ton, mit dem du deinen guten Willen beweisen willst?" „Red nicht. Ich habe die Nase voll. Außerdem habe ich Kopfschmerzen. Wo sind die Tabletten? In deinem Zimmer, wie?" Sie näherten sich. Tarzan huschte hinter einen Kleiderständer, an dem — auf Bügeln — mehrere Mäntel hingen. Die verbargen ihn. Aber er brauchte das Versteck nicht. Denn die Vossburgers kamen nicht durch den Ankleideraum, sondern benutzten die Tür, die vom Flur in das Schlafzimmer führte. Licht flammte auf. „Auf dem Schminktisch . . . ", sagte Gertrud. Dann schrie sie auf. „Hände hoch! Und keine Bewegung!" nuschelte der Einbrecher. 98
Tarzan linste wieder durch den Spalt. Gertrud Vossburger streckte tatsächlich die Hände in die Höhe. Sie war festlich gekleidet und hübsch zurecht gemacht. Ihr Mann, ein großer Bonvivant (Lebemann)-Typ, trug einen Sommermantel über den Rohseidenanzug. Aus schmalen Augen starrte er den Maskierten an. Jetzt hob er ebenfalls die Hände, aber nur bis in Schulterhöhe. Sein Kobra-Grinsen war kalt und bösartig. Angst hat er offenbar nicht, dachte Tarzan. Daß in der Wumme nur heiße Luft ist, kann er nicht wissen. Aber mich hätte es gefreut, wenn sich dieser Mustergatte in die Hose macht. „Was wollen Sie, Meister?" fragte Vossburger ironisch. „Was wohl? Ich kriege den Safe nicht auf. Her mit dem Schlüsel. Aber schnell!" „Haben Sie ihn nicht gefunden, Meister? Er liegt im Nachttisch." „Waaas?" Der Einbrecher schien zu staunen unter seiner Strumpfmaske, die sein Gesicht noch qualliger machte. Sie drückte die Nase flach und verschob auch die übrigen Züge. „Na, los! Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Meister!" wurde er von Vossburger ermuntert. Und tatsächlich — der Einbrecher wandte sich dem Nachttisch zu, wobei er den beiden den Rücken kehrte. Blitzartig tauchte Vossburgers rechte Hand in die Manteltasche. Tarzan riß die Tür auf. „Nicht schießen!" schrie er. In Sekundenschnelle und nahezu gleichzeitig spielte alles sich ab. Vossburger hatte eine Pistole aus der Tasche gezerrt und wollte auf den Einbrecher anlegen, als ihn Tarzans Kommando wie ein Keulenhieb traf. 99
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Er wirbelte herum. Die Mündung schwenkte auf Tarzan. Gertrud kreischte wie wahnsinnig. Der Einbrecher stand wie erstarrt, nachdem er sich umgedreht hatte. Um nicht selbst das Todesopfer eines Mißverständnisses zu werden, mußte Tarzan den Pistolenschützen anspringen. In letzter Sekunde schlug er Vossburgers Arm zur Seite. Krachend löste sich der Schuß. Tarzan prallte gegen Vossburger und schleuderte ihn zurück. Mit einem Armhebel entwand er ihm die Pistole. Vossburger fiel aufs Bett. Sein Gesicht war zur Fratze verzerrt, die Kugel in die Wand geschlagen. Und die Frau schrie und schrie . . . „Ruhe!" brüllte Tarzan. „Das hält ja kein Mensch aus! Frau Vossburger! Ich bin's. Erkennen Sie mich nicht?" Sie verstummte. Er richtete die Pistole auf den Einbrecher. „Ganz ruhig, alter Freund! Der Spaß ist vorbei. Im übrigen kannst du dich bei mir bedanken. Eben habe ich dir nämlich das Leben gerettet. Er", Tarzan wies auf Vossburger, „wollte dir gerade eine blaue Bohne verpassen. Daß dein Ballermann ungeladen ist, hast du ihm ja nicht vorgeführt. Aber ich beobachte dich schon seit zehn Minuten. Ich habe es gewußt." Der Einbrecher ließ den leeren Revolver fallen. Langsam griff er sich — mit beiden Händen — an den Kopf. Er streifte die Strumpfmaske ab. Auch sie fiel zu Boden. In seinem Gesicht arbeitete es. „Vossburger", seine Stimme klang, als käme sie aus einem Sarg, „du hast eine geladene Puste bei dir gehabt. Du wolltest auf mich schießen. Du wolltest mich hinterrücks umlegen. Du . . . " Plötzlich schrie er mit einer Lautstärke, daß die Deckenleuchte in Schwingungen geriet. „. . . Schwein! Du Hund! Das war nicht unsere Abmachung! Jetzt verstehe ich. Ein Totmacher bist du. Kaltmachen wolltest du mich. Deshalb hast du mich herbestellt. Und ich 101
bin auf dein Märchen reingefallen, du wolltest deine Alte berauben. Warum sollte ich sterben, du Hund?" Tarzan glaubte, er höre nicht recht. Dann sah er Vossburgers Gesicht, und da wußte er, daß es stimmte, was der Einbrecher sagte. Der hatte schon weiter gedacht. Als krimineller Profi konnte er nachvollziehen, was des anderen Plan war. „Zwei Tote hätten hier gelegen, wäre der Junge nicht", sagte er — mit jetzt ruhiger Stimme. „Das hast du dir ausgedacht, wie? Mich hättest du erschossen — und dann deine Alte umgebracht. Einem toten Sündenbock kann man ja alles
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in die Schuhe schieben, nicht wahr? Wie hättest du sie getötet? Los, mach die Taschen leer! Hast du was bei dir, das zu mir gepaßt hätte?" Vossburger lag noch auf dem Bett. Sein Gesicht war wie mit Schimmel überzogen. „Machen Sie die Taschen leer!" sagte Tarzan. „Sonst helfe ich nach." Vossburgers Gesicht schien einzustürzen. Die Augen wurden milchig. Der Mund begann zu zittern. Schweiß trat durch alle Poren. Langsam zog er die linke Hand aus der Manteltasche. Es gab ein dumpfes Geräusch, als der Totschläger auf den Teppich fiel. Im selben Moment wurde Gertrud Vossburger ohnmäch«gTarzan konnte sich nicht um sie kümmern - noch nicht. Er mußte ihren Mann und den Einbrecher in Schach halten. Von der Treppe her ertönte Klößchens Stimme. „Brauchst du uns, Tarzan? Was ist denn eigentlich los? Wir hörten sowas wie einen Schuß." „In der Eingangshalle steht das Telefon", rief Tarzan. „Ruft Kommissar Glockner an. Ich habe einen Einbrecher gefaßt — und einen verhinderten Gattenmörder." *
Gertrud Vossburger blieb der Schock nicht erspart. Sie mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß ihr Mann auf raffinierte Weise ihren Tod geplant hatte. Doch für sie war es besser, dem Schrecken ein Ende zu machen als mit einem Schrecken ohne Ende weiterzuleben. In Windeseile waren Kommissar Glockner und das Überfallkommando gekommen. Der ebenfalls verständigte Hausarzt versorgte die Frau. Beruhigende Medikamente halfen ihr über die erste Seelenpein hinweg. Noch zur gleichen Stunde wurde Sigrid Jungfell festge103
nommen, da Verdacht auf Mittäterschaft bestand — zumindest konnte sie Mitwisserin sein. Und das war sie auch, wie sich sogleich herausstellte. Mit einem einfachen Trick ließ sie sich von Kommissar Glockner überrumpeln. Der erklärte ihr, Vossburger hätte bereits alles gestanden und behaupte, es wäre ihr, Sigrids, Plan gewesen, Gertrud zu ermorden. Das ließ die ehemalige Bardame nicht auf sich sitzen. Sie packte aus. Danach blieb keine Frage ohne Antwort. Die Jungs waren mitgekommen zum Präsidium. Aber Glockner schickte sie bald nach Hause. „Ich weiß, was ihr morgen vorhabt. Gaby ist schon ganz hummelig. Es war ein herrlicher Tag für euch. Daß er so enden mußte, tut mir eines Teils leid für euch. Ihr habt in einen Abgrund menschlicher Verworfenheit geblickt. Aber das gibt es leider. Andererseits, Tarzan, hast du durch deine Kaltblütigkeit einen Doppelmord verhindert. Das ist — weiß Gott! — eine große Tat. Ihr seid jetzt sicherlich aufgewühlt. Versucht trotzdem zu schlafen. Denn morgen fliegt ihr mit dem Ballon." Er sagte fliegen, aber niemand verbesserte ihn. Solche Spitzfindigkeiten waren jetzt wirklich nicht wichtig Und seltsam — als die drei endlich zu Hause waren, nämlich in der romantischen Villa der Viersteins, da hatte das Entsetzen schon seine Wirkung verloren. Sie putzten sich die Zähne, purzelten ins Bett und redeten noch. Aber nicht von den Vossburgers. Klößchen schwärmte von Sonja, die fast soviel futtern konnte wie er. Karl hatte sich in Matilde verknallt und erging sich in Schilderungen ihrer Vorzüge. „Tja", meinte Klößchen — und biß noch rasch ein Stück Schokolade ab, „Karl und ich sind gut weggekommen, was die süßen Geschöpfe betrifft. Als Playboys, Schwerenöter und Herzensbrecher waren wir wirklich schwer auf Zack. 104
Tut mir ja leid, daß für dich nichts abgefallen ist, Tarzan, daß du leer ausgegan . . . Ach so, wie blöd! Naja! In Treue fest. Habe ich im Moment ganz vergessen. Gute Nacht!" Tarzan lächelte dem Vollmond zu, der durchs Fenster schien. Bevor er einschlief, dachte er: Solange Gaby da ist, gehe ich niemals leer aus. Wahrscheinlich bin ich einer der wenigen Töpfe, die schon in früher Jugend ihren Deckel finden.
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9. Auf großer Fahrt mit dem Heißluftballon Sinnvoll hatte Eckbert Schrumpf den Samstag verbracht. In seinem Apartment arbeitete er an der Metallplatte. Letzte Unebenheiten wurden beseitigt. Nebenbei achtete er auf die ,Hochhaus-Festung' in der Etage unter ihm. Aber dort war tote Hose. Nichts rührte sich. Der Rolls Royce blieb in der Tiefgarage. Macke, der zweite Leibwächter, führte Hektor auf die Wiese. Knöll hatte anscheinend frei. Und Rosa Murczyk, die juwelenbehängte Diamantenhändler-Gattin, reinigte vermutlich ihren Schmuck — indem sie ihn in die Badewanne legte und abduschte. Für den späten Abend hatte Schrumpf sich mit seinen Komplicen verabredet, in der Vorstadtkneipe ZUM ROTEN HAHN. Als er dort gegen 23 Uhr eintraf, saßen Paul Janitz und Wilhelm Himsel an einem Tisch in der Ecke. Schrumpf begrüßte sie mit Handschlag und setzte sich. „Hat Erwin sich verspätet?" fragte er. „Ich glaube, der kommt nicht", sagte Janitz. „Er hat was Privates vor. Hat er am Telefon gesagt. Weiß nicht, was." Janitz war 32 und vorbestraft wegen Raubüberfalls. Er hatte ein brutales Gesicht mit engstehenden Augen. Himsel war sieben Jahre jünger. Er hatte als Autoknacker eine Zeitlang überdauert, dann als Gelegenheitsdieb, jetzt war er Einbrecher. Er haßte sich für das, was er tat, war aber labil (haltlos). Einer wie er würde immer wieder straucheln. Das wußte er. Er hatte dunkle Locken und unscharfe Züge. Zur Härte taugte er nicht. Aber die besaß Janitz im Übermaß. Schrumpf blickte sich um. Die Kneipe war fast leer. Der dicke Wirt bediente selbst, und Schrumpf bestellte ein Bier und einen doppelten Korn. „Na, und welche Villa knacken wir nun?" fragte Janitz mit wölfischem Grinsen. 106
Schrumpf schüttelte den Kopf. „Diesmal geht es um was anderes. Um mehr. Es erfordert ein bißchen Mut. Aber das Risiko ist gering, und die Beute beträgt etwa 450.000." Janitz pfiff durch die Zähne. „Geteilt durch vier. Das macht . . . " „Nicht durch vier", unterbrach Schrumpf. „Das ist ein Coup für zwei. Wäre Erwin hier, hättet ihr euch einigen müssen, wer's macht. Da er aber nicht gekommen ist, scheidet er aus. Ich beanspruche ein Drittel, ihr seid also mit 150.000 pro Nase dabei. In Gold, wohlgemerkt." Er grinste. „Ist nach wie vor eine gute Geldanlage." „Donnerwetter!" staunte Janitz. „Bei so einem Happen nehmen wir auch ein bißchen Risiko in Kauf. Nicht wahr, Wilhelm?" Aber Himsel äußerte sich nicht, kaute nur nervös auf der Unterlippe. „Der Typ, den wir abkochen, heißt Friedrich von Eschbergen", sagte Schrumpf. „Den Namen habe ich schon mal gehört." Janitz trank seinen Schnaps aus. „Ist das nicht dein Chef, der Aurora-Direktor?" Schrumpf nickte. „Du glaubst nicht, wie ich mich freue, daß wir gerade ihn um seine Erbschaft erleichtern." „Erbschaft?" „Das Gold, von dem ich rede — Barrengold —, hat er geerbt und, wie ich hintenrum erfahren konnte, Mitte letzter Woche erhalten. Es ist im Schließfach einer Bank deponiert (aufbewahrt), keine drei Minuten vom Aurora-Gebäude entfernt." „Na und?" Janitz zeigte seine Enttäuschung. „Da liegt es gut. Ran kommen wir nie." „Wart's ab. Mein Plan funktioniert. Eschbergen ist noch nicht lange in zweiter Ehe verheiratet. Seine Frau ist sehr jung. Sie heißt Helga. Die beiden haben ein Baby, auf das sie sehr stolz sind. Fränzi ist erst einige Monate alt. Die Eschber107
gens wohnen in Bäumlrode, haben dort ein tolles Landhaus. Die Frau und das Baby sind tagsüber allein. Ganz bestimmt auch am Montagvormittag. Dann steigt unser Coup." Genaue Anweisungen gab er ihnen, und seine Komplicen ließen sich fesseln von der Aussicht auf ein schnell-und leicht verdientes Vermögen.
* Am Sonntag in aller Frühe lief Tarzan in den Garten. Aufgeregt suchte sein Blick den Himmel ab. Verdächtige Wolken? Sturm? Heftiger Wind? Das wäre eine Katastrophe gewesen, denn dann hätten sie die Ballonfahrt verschieben müssen. Er wußte inzwischen: Schon wenn die Blätter sich an den Bäumen bewegten, würde ein Start nicht möglich sein. 108
Aber das spätsommerliche Grün schien erstarrt. Sogar die Halme am Rande der Gartenwege standen still und steif, als wollten sie niemand erschrecken. Er .weckte seine Freunde. Nach einem kurzen Frühstück radelten sie durch den Sonntagmorgen zum Altstadtviertel und holten Gaby ab, die zwar nicht viel geschlafen hatte, aber trotzdem taufrisch aussah. Was bei den Vossburgers geschehen war letzte Nacht, wußte sie von ihrem Vater, dem Kommissar. Aber allzulange hielten sie sich bei dem Thema nicht auf. Das kommende Erlebnis stand im Mittelpunkt ihres Bewußtseins. Oskar mußte zu Hause bleiben. Ihn hätte die Ballortfahrt nicht sonderlich beeindrukt; andererseits wurde in dem Korb für die Passagiere - der sogenannten Gondel - jeder Fußbreit Boden gebraucht. 109
Karl, der eigentlich erst nächsten Sonntag an der Reihe war, hoffte sehr, daß er schon heute mitkonnte. „Vielleicht erweist es sich jetzt als Vorteil", meinte er, „daß ich ein Leichtgewicht bin und spargeldünn. Nächsten Sonntag, wenn Matilde dran ist, fahre ich natürlich außerdem." Sie machten sich auf den Weg. Auch heute war Bäumlrode ihr Ziel. Löffelholz hatte die Wiese neben dem Eschbergischen Grundstück zum Startplatz ernannt. Wohin dann die Reise ging, wußte niemand. Denn ein Ballon läßt sich nicht steuern. Der Wind bestimmt, in welche Richtung es geht. Bald lag die Stadt hinter ihnen, und sie fuhren die noch menschenleere Chaussee entlang. „Es wäre gut, wenn wir ein bißchen vor der Zeit da sind", meinte Tarzan. „Dann können wir noch rasch bei unseren Gastgebern anklopfen. In dem Trubel gestern ist es irgendwie untergegangen, daß wir uns bedankt haben. Es gehört sich so, daß wir das nachholen." Seine Freunde stimmten zu. Klößchen stellte Überlegungen an, ob die von Eschbergens vielleicht gerade beim Frühstück säßen. In diesem Fall könne man vielleicht etwas Reiseproviant abstauben, denn vorhin sei er noch so verschlafen gewesen, daß er nur eine Tafel Schokolade eingesteckt habe. „Wenn du auch nur ein einziges Wort verlierst, das in die Richtung zielt, schmeiße ich dich nachher aus dem Korb," drohte Tarzan lachend. „Aber wenn mir was aufgedrängt wird, ziere ich mich nicht", entgegnete Klößchen. Die Überlegungen waren müßig. In Bäumlrode angekommen, stellten sie fest, daß bei den von Eschbergens niemand zu Hause war. Tür und Tor waren verrammelt, die drei offensichtlich schon am frühen Morgen weggefahren. „Macht nichts", meinte Tarzan. „Dann werden wir den Herrn Direktor morgen "vormittag im Aurora-Gebäude auf110
suchen, und bei der Gelegenheit ein paar Blumen für die Frau Gemahlin — so sagt man doch — nachreichen." „Ich lege für Fränzi eine Tafel Schokolade dazu", erbot sich Klößchen. „Willst du das Baby umbringen?" fragte Gaby. „Wohl kein bißchen Ahnung, wie? Sie ist ja noch nicht mal ein Jährling. In dem zarten Alter kriegt sie nur Brei." „Jährling", wandte Tarzan ein, „sagt man aber, soviel ich weiß, nur bei Tieren." „Aber ihr wißt, was ich meine." Sie blies gegen ihren Pony, damit die Jungs auch sahen, daß sie sich um ägerliche Stirnfalten bemühte. Sie fuhren weiter zu der Wiese, zum Startplatz. Doch dort war noch niemand. Nur Bienen summten, und weit entfernt — am Waldrand - ästen drei Rehe. Ein Geländewagen näherte sich. Zwei Männer saßen darin. Schon von weitem erkannte Tarzan Herrn Löffelholz. Der Wagen zog einen kleinen Anhänger und hielt bei der Wiese. Freudig begrüßte die TKKG-Bande ihren Piloten. Der zweite Mann war ein Clubkamerad namens Kremser, seine Anwesenheit offenbar aus technischen Gründen erforderlich. Auf dem Anhänger befanden sich acht stählerne Gasflaschen. Der Ballonkorb war nicht mal so groß wie eine Badewanne, hatte aber höhere Wände. Außerdem war da noch ein Ballon Stoff, etwa soviel wie ein zusammengefaltetes Zelt. Wenn das die ganze Ausrüstung ist . . . , dachte Tarzan. Doch dann legten Kremser und Löffelholz Hand an. Die Hülle wurde aufs Gras gelegt und ausgebreitet. „Aufgeblasen ist sie 20 Meter hoch", erklärte Löffelholz, „und ebenso breit." Das Aufblasen besorgte ein Ventilator. Langsam schwoll die Hülle an. Dann entwickelte sich der Ballon zu seiner pral111
len Gestalt — und richtete sich auf. Inzwischen war der Propangasbrenner gezündet worden. Donnernd stieß seine Flamme in das ,luftige' Innenleben des Ballons. Etwa zehn Minuten dauerte das. Reiß-, Ventil- und Kronenleine waren überprüft. Löffelholz hielt ein Funkgerät in der Hand und machte Sprechprobe. „Herr Kremser wird unsere Fahrt mit dem Auto verfolgen", sagte er. „Dazu gehört, daß wir in Sprechkontakt bleiben." „Im Korb wird es ziemlich eng werden", sagte Tarzan. „Kann Karl trotzdem mit?" Löffelholz überlegte, ehe er einwilligte. „Also gut! Er ist ja wirklich schmal, und Gaby ist wie Filigran (etwas aus feinstem Gold- oder Silberdraht). Wir stehen dann zwar wie die Heringe. Aber das zulässige Gewicht überschreiten wir nicht." Immer noch donnerte der Brenner. Er war über dem Korb auf einem Gestell befestigt. Plötzlich, weil knallvoll und aufstiegsbereit, wurde der Ballon zum Ungetüm und zerrte an den Leinen, die ihn am Boden hielten und an einem schweren Zementklotz befestigt waren. „Einsteigen!" rief Löffelholz. „Es kann losgehen." „Husch, husch ins Körbchen!" lachte Tarzan. Er half Gaby, in den brusthohen Korb zu klettern. Das war gar nicht so einfach. Sie machte Anstalten, kopfüber hineinzupurzeln. Er verhinderte das, indem er sie hochstemmte und über den Rand hob. Klößchen tat sich schwer und strampelte mit den Beinen. Tarzan schob. Dann war Klößchen drin — und beschwerte sich gleich, es sei fürchterlich eng. „Warte nur ab, wenn wir kommen", lachte Löffelholz. Als auch er, Karl und Tarzan sich in den Korb quetschten, wo außerdem Gasflaschen mitreisten, konnte man kaum noch atmen. In einem geschlossenen Gehäuse hätte wohl je112
den Platzangst befallen. Aber hier sorgte frische Luft für klaren Kopf. Der Korb, die Gondel, hing an dünnen Drahtseilen. „Leinen los, Horst!" rief Löffelholz. Kremser wurschtelte. Und dann schwebte der Ballon lautlos und langsam in die Höhe. „Himmel, wir fliegen", ächzte Klößchen und schob die Nase über den Rand. „Wir fahren", verbesserte Gaby. Sie stand so dicht neben Tarzan, daß er — um Platz zu sparen — einen Arm um sie legen mußte. Das festigte ihren Mut. Sie kuschelte sich an ihn. So schwebten sie himmelwärts. Es war ein himmlisches Gefühl. „Wie im Fahrstuhl!" rief Karl. „Nur schöner." Kurze Zeit später zuckten alle zusammen. Löffelholz hatte den Brenner gezündet. Wie aus einem Flammenwerfer schoß der Feuerstrahl in die unten offene Stoffhülle hinein. „Wie hoch können wir steigen?" fragte Tarzan. „Die Steighöhe reicht bis 4500 Meter", antwortete Löffelholz. „Aber das machen wir nicht. Da würden wir nämlich den Flugverkehr stören. Wir bleiben zwischen 150 und 200 Metern." „Das reicht zum Runterfallen", flüsterte Klößchen. „Ich glaube, mir wird schlecht." „Mach jetzt nicht schlapp!" befahl Tarzan. „Du hast wahrscheinlich nur Hunger. Iß ein Stück Schokolade." Klößchen befolgte den Rat, und gleich ging es ihm besser. „Einfach phantastisch", sagte Gaby. „Es ist herrlich. Von oben auf die Welt zu blicken, müßte die Vögel und die Wolken eigentlich hochmütig machen." Löffelholz lachte. Sie trieben jetzt über ein Naturschutzgebiet. Wange an Wange beugten Gaby und Tarzan sich über den Korbrand. Unten lagen Äcker und Wiesen, Gehöfte und 113
Wälder. Straßen schnitten durch das Land. Horst Kremser folgte mit dem Geländewagen. Ein Fluß blitzte auf in der Sonne. Grellgrüne Tümpel leuchteten, sahen aus wie mit Entengrütze bedeckt. Es war absolut still - jedenfalls solange nicht der Gasbrenner donnerte. Sie schwebten, fuhren, staunten und fühlten, wie ihnen das Herz weit wurde. Auch Klößchen fühlte sich wieder wohl. „Von hier oben könnte man genau beobachten", meinte er, „wie die Schwarze Maske - ich meine Sabine Lenz, Herr Löffelholz —, wie sie über die Dächer kriecht, um in die Häuser einzubrechen. Allerdings müßte der Mond scheinen." „Nachts fahren wir aber nicht", entgegnete der Pilot. „Da würde jede Landung zum unkalkulierbaren Risiko werden. Im übrigen ist mein Haus heute nacht dran. Ja, heute bricht Sabine Lenz bei mir ein." „Dann sind Sie wohl ein Kunde von Herrn Schrumpf?" fragte Tarzan.
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„Er will mir eine Zusatzversicherung andrehen", nickte Löffelholz. „Ich sammele Antiquitäten (historische Kunstund Gebrauchsgegenstände). In letzter Zeit konnte ich einige besonders wertvolle Stücke erwerben. Deshalb will er mich zur Kasse bitten. Aber so leicht geht das nicht bei mir. Mein Haus ist nämlich gründlich gesichert gegen Einbrecher. Deshalb", er lachte, „hängt es jetzt von der Schwarzen Maske ab, ob aus dem Geschäft etwas wird. Wenn sie reinkommt in mein Haus, gebe ich mich geschlagen. Aber ich glaube nicht, daß sie es schafft." „Sind Sie heute nacht zu Hause?" „Nein. Ich will fair sein. Die Situation soll die Wirklichkeit spiegeln. Der echte Einbrecher käme ja auch nur, wenn das Haus leer ist." „Mir hat Sabine erzählt", sagte Gaby, „daß sie meistens eine Stunde vor Mitternacht anfängt. Das ist ihre Zeit." Sie schwebten jetzt über dichtem Wald. Löffelholz sprach in das Funkgerät. „Wir versuchen, hinter dem Waldstück zu landen, Horst. Zwei Gasflaschen müssen ausgewechselt werden." „In Ordnung", kam Kremsers Antwort aus dem Gerät, „ich nehme die Straße zu dem Gehöft. Irgendwo treffen wir uns. Sieh dir mal die Quellwolken an, Gottfried. Ich glaube, die Thermik (warmer Aufwind) läßt nach." Gerade wollte Tarzan fragen, was das bedeute — als es passierte. Unvorhergesehen wurde der Ballon von heftigem Abwind gepackt. Der Korb schien zu rütteln. Schlagartig zog es den Ballon in die Tiefe. Im Handumdrehen wuchsen ihnen riesige Tannen entgegen. „Jetzt haut's uns in den Wald", rief Karl. Tarzan blickte zu Löffelholz. Dessen Gesicht war besorgt. Er wollte den Brenner zünden. Aber ausgerechnet jetzt sprang er nicht an. „Keine Panik", sagte Löffelholz. „Das überstehen wir. So, 116
gleich sind wir zwischen den Tannenspitzen. Krallt euch in den Zweigen fest. Los!" Im nächsten Moment rauschte der Korb in die Bäume. Schützend hielt Tarzan eine Hand vor Gabys Gesicht, um zu verhindern, daß ein Zweig ihr Gesicht treffe. Mit der anderen Hand erwischte er den benadelten Wipfel einer Riesentanne. Eisern hielt er fest. Auf der anderen Seite des Korbs hatte Löffelholz Zweige gepackt. Auch Klößchen erhaschte einen, riß versehentlich einen Zapfen ab und zerrte dann, als wollte er die 15 Meter hohe Fichte mit Stumpf und Stiel ausreißen. Auch Karl grapschte nach Zweigen. Die Talfahrt war gestoppt. Endlich donnerte der Brenner. Und der Abwind wurde von anderen Winden verweht. Der Ballon stieg wieder. „Uiiihhh!" meinte Klößchen. „Das war aber aufregend. Ich habe die Hände voller Harz. Möchte jemand den Zapfen? Immerhin habe ich ihn aus der Baumkrone gepflückt. Das soll erstmal einer nachmachen." „Ein Glück", murmelte Löffelholz, „daß wir nicht tiefer eingetaucht sind. Dann hätten wir uns Ast über Ast hochhangeln müssen. Auf den Brenner hätten wir verzichten müssen — wegen Waldbrandgefahr." Tarzan spürte, wie aufgeregt Gabys Herz klopfte. So dicht, infolge Platzmangels, klebten sie aneinander. „Was wir eben erlebt haben", erzählte Löffelholz, „kommt gar nicht so selten vor. Horst Kremser war in genau derselben Situation. Allerdings fuhr er mit einem Gasballon. Er war damals noch Anfänger und Mitfahrer, nicht Pilot. Als der Korb in die Bäume rauschte, hat Horst sich so verzweifelt festgekrallt, daß er nicht merkte, wie es wieder aufwärts ging. Mit dem Ergebnis, daß er in der Baumspitze hängenblieb und seine Kameraden gen Himmel schössen." „Das muß ein Gefühl sein", meinte Karl. „Noch schlimmer ist es einem Clubkameraden ergangen", 117
Löffelholz schmunzelte, „der gerade zum Landen ansetzte, als ihn der Wind auf ein Haus zutrieb. Der Pilot sah, daß der Schornstein im Weg war, meinte aber, er könnte es noch schaffen, wenn sein Gasballon etwas Höhe gewinne. Er hat dann sämtliche Instrumente über Bord geworfen. Und sogar seine Kleidungsstücke, samt den Schuhen. Es paßte trotzdem nicht. Der Korb hat den Schornstein rasiert. Und der Pilot saß auf dem Dach. Er war in Unterhosen." „Hoffentlich blüht uns das nicht", rief Gaby. „Ich hänge an meinem Pulli, und die Jeans sind neu." „Keine Sorge!" lachte Löffelholz. „Wir haben den Brenner. Der sorgt für Auftrieb. Nur der Gasballonfahrer wirft Ballast ab." Über Funk unterhielt er sich mit Kremser, der besorgt anfragte, ob alles in Ordnung sei. Hinter einem Bauernhof versuchten sie eine Zwischenlandung, mußten aber abbrechen, weil plötzlich Bodenwind aufkam. Als es wieder aufwärts ging, meldete Kremser: „Sei vorsichtig, Horst! Der Bodenwind ist jetzt noch ruppiger geworden." Wenig später entdeckte Löffelholz eine Kiesgrube. „Die müßte windgeschützt sein", meinte er. „Da probieren wir's." Sie sanken ziemlich schnell. Tarzan spähte hinunter. Die Kiesgrube sah ungemütlich aus. Die Wände waren steil, der Boden mit Pfützen bedeckt. Überall lag Geröll. Wenn das nur gut geht! dachte er. Mit hartem Stoß setzte der Korb auf. Es knirschte, dröhnte und klirrte. Plötzlich machte der Korb wilde Sprünge. „Verdammt! Das ist Bodenwind!" rief Löffelholz. Und für einen Moment machte dieser Bodenwind mit dem Ballon, was er wollte. Er schleifte ihn umher, und der Korb holperte über Stock und Stein. 118
Tarzan klammerte sich am Rand fest. Er hielt Gaby zwischen den Armen und hatte nur eine Sorge: Sie durfte nicht rausfallen. Aber schon im nächsten Moment hatte Löffelholz die sogenannte Reißbahn in der Ballonhaut mit der Leine geöffnet. Blitzschnell entwich die Heißluft. Die Hülle fiel zusammen, und das war das Ende der Reise. „Eine Hofratslandung, wie wir sagen, ist mir nicht gelungen", meinte Löffelholz. „Aber schön war's trotzdem, nicht wahr?" „Herrlich!" bekundete Tarzan aus ehrlichem Herzen. „Man lernt, seine Angst zu überwinden", sagte Gaby. „War toll!" meinte Klößchen. „Und meine blauen Flecke werde ich überall rumzeigen, bevor sie verblassen." „Nächsten Sonntag", erklärte Karl, „bin ich wieder dabei. Dann zähle ich schon zu den alten Hasen und kann Matilde beruhigen." Sie stiegen aus. Über den Schotterweg, der in die Kiesgrube führte, näherte sich der Geländewagen mit Horst Kremser am Steuer.
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10. Arco von Barfly Waldemar Golling hatte schon gewählt und den Hörer am Ohr, als ihm einfiel, daß ja heute Sonntag war. Nicht der richtige Tag für Geschäftliches. Andererseits — schließlich war es dieser Schrumpf, der was wollte, nämlich sein, Waidemars, Geld — über den Umweg einer sündhaft teuren Sachversicherung. Wobei die ,Sache' aus exquisiten (auserlesenen) Schmuckstücken bestand. Denn Waldemar sammelte Schmuck wie andere Leute Briefmarken oder Bierdeckel. Noch während er unentschieden schwankte, ob er wieder auflegen solle, meldete sich Schrumpf am anderen Ende der Leitung. „Eckbert Schruööömpf", intonierte (anstimmen) er. Seinen Namen veredelte er mit halb englischem, halb französischem Akzent (Tonfall) — was wohl so zu deuten war, daß er lieber ein Graf Emilio Penucci gewesen wäre oder ein Baron von Seifenstein-Runzlau. „Golling", schallte Waldemar heiter. „Tag, Herr Schrumpf. Hoffentlich störe ich nicht. Es ist auch nur, daß ich Ihnen sagen wollte: Ab Mittwoch bin ich wieder auf meinem Landsitz in Südfrankreich. Ich komme zwar Samstag zurück. Aber die Nächte meiner Abwesenheit, hahah, könnte ihr Fräulein Lenz, wie verabredet, nutzen, um mein hiesiges Behelfsheim heimzusuchen. Ja?" „Selbstverständlich, Herr Golling. Sie sind nicht überzeugt, daß sie's schafft?" „An meiner hiesigen Kaluppe (österreichisch für: Hütte) haben sich schon zweimal unbekannte Einbrecher die Zähne ausgebissen. Portal und Hintertür sind massiv wie Gefängnistore und im Untergeschoß alle Fenster vergittert." „Ich weiß." Schrumpf grinste, was aber Golling nicht sah. Esel! dachte Schrumpf. Als könnte sowas einen Profi abhalten. 120
„Na, und wenn Sie hier weilen, Herr Golling", setzte er hinzu, „ist ja Ihr Hund der beste Einbrecherschreck. Aber sobald Sie mit ihm auf Reisen gehen, ist Ihr prächtiges Haus wirklich sehr gefährdet. Glauben Sie mir!" „Fräulein Lenz soll mich überzeugen. Spaß muß sein." „Hahahah", dröhnte Schrumpf. Wenn der Esel Heiteres wünschte, wollte er sich nicht lumpen lassen. „Das wollte ich Ihnen mitteilen", sagte Golling abschließend. „Arco will jetzt seinen Rundgang machen. Wiederhören, lieber Schrumpf." „Besten Dank für Ihren Anruf", tat der Versicherungsmann beflissen. Waldemar Golling legte auf. Arco, der neben ihm lag, hob den Kopf und streckte sich dann. Golling kraulte ihn am Hals. Arco von Barfly, wie er laut Stammbaum hieß, war eine Dänische Dogge, fünfjährig, und in der Hand seines Herrchens milde wie ein Frühlingswind, der blaue Bänder durch die Lüfte flattern läßt. Als Wachhund war Arco eine Bestie. Wer das Grundstück unbefugt und die Villa widerrechtlich betrat, riskierte sein Leben. Arco von Barfly hatte die Ablichtung eines vorzüglichen Hundetrainers erhalten und gehorchte aufs Wort. Und er wußte genau, was sein und Herrchens Reich war, in dem andere nichts zu suchen hatten. Waldemar Golling zündete sich eine schlanke Damenzigarette an und trat über die Terrasse ins Freie, gefolgt von Arco, der so löwenhaft gähnte, daß die Sperlinge in den Büschen erschrocken das Tschilpen einstellten. Der Rundgang beschränkte sich auf den hauseigenen Garten. Der wäre freilich auch für eine Büffelherde groß genug gewesen, und die Villa gehörte zum Schnuckeligsten, das Architekten sich je ausgedacht hatten, war ihnen doch, was die Kosten betraf, keine Grenze gezogen worden. Waldemar Gollingsen. (der Ältere) hatte die Villa vor Jahr121
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zehnten erbaut. Er war Großindustrieller gewesen, Abteilung Schwerindustrie, hatte besonders gut an Kriegen verdient, weil er dann Kanonen herstellen und verkaufen konnte, weshalb er Kriege sehr geliebt hatte — weniger dagegen seinen einzigen Sohn, Waldemar jun. Mit dem war wirklich nichts los. Der Papa erkannte das und sorgte vor, noch zu Lebzeiten, obwohl er den, Blindgänger' am liebsten verleugnet hätte. Der Papa hortete ein Riesenvermögen und verschied plötzlich, als er in einem südafrikanischen Krisengebiet mit Revolutionären (Aufständischen) verhandelte, die Kanonen kaufen wollten — und auch bezahlen konnten, weil sie Elfenbein, Gold und Diamanten zusammengeraubt hatten. Waldemar Golling sen. starb am Stachelstich eines Skorpions. Das Tierchen war kaum giftiger als die DurchschnittsNahrung einer modernen Industrienation. Aber kurze Perioden (Zeitabschnitte) des Friedens hatten den Kanonenhersteller sehr gestreßt. Sein Herz war dem Angriff des Spinnentiers nicht mehr gewachsen. Schreckhaft versagte es den Dienst. So kam der Junior in den Besitz unübersehbarer Geldmengen und lebte, nachdem er die Schule vorzeitig verlassen hatte, als Jungrentner bis zum heutigen Tag. Die Mutter lebte schon lange nicht mehr. Weil er ein weibischer Typ war, hatte er bei Mädchen kein Glück. Um sich die Zeit zu vertreiben, sammelte er Schmuck. Mehrmals im Jahr pendelte er hin und her zwischen seinen Wohnsitzen in Italien, Österreich, Tessin, Südfrankreich und der Bundesrepublik Deutschland, wo er freilich ,nur' eine schlichte Hütte in den Bergen und die hiesige Prachtvilla besaß. „Arco, Fuß!" empfahl er. Einen Befehl konnte man das nicht nennen, dafür war Waldemar zu sanft. Arco ging sogleich an Waidemars grüner Seite, und sie begannen ihren Rundgang. 123
Der führte über die Terrasse, vorbei am Springbrunnen, hinter die Garagen, dann am Zaun entlang bis zum Pavillon, den uralte Bäume umstanden. Der Garten enthielt alle Arten von Büschen und Sträuchern, deren sich ein Herz erfreuen kann. Aber Waldemar sah das schon lange nicht mehr. Ihn ärgerten die Mückenschwärme unter den Bäumen. Im übrigen war er untrainiert, und der etwa 800 Meter weite Ausflug erschöpfte ihn. Die Gartenwege waren mit Kies bestreut und führten auch dicht am Zaun entlang, was seine Tücken hatte. Jenseits der schmiedeeisernen Spitzen, die Gollings Besitz gegen den Rest der Welt abgrenzten, verlief eine angenehme Straße — angenehm, weil kaum befahren und überdacht von Ahornbäumen und Buchen. Jogger zogen hier morgens und abends ihre Schweißspur, nachmittags Hundehalter mit ihren Vierbeinern vorbei. So auch jetzt. Und die spillige Dame konnte ihren SchäferChow-Chow-Mischling kaum halten. Der war zänkisch, weil er Schwüle nicht vertrug, und giftete Arco an. Was den aber kalt ließ. Gelassen blickte er durch die Eisenverstrebungen auf seinen Artgenossen. Der Mischling erwürgte sich fast. So zerrte er am Kettenhalsband. „Bist du ruhig, Iwan! Iwan, ruhig!" rief die Dame immer wieder. Aber der Hund namens Iwan hustete ihr was. „Mein Arco gehorcht aufs Wort", sagte Waldemar. Er sagte es laut genug, daß auch die vier Jugendlichen ihn verstehen konnten. Sie waren auf Rädern, drei Jungs und ein Mädchen, hielten jetzt und blickten her. Offenbar interessierten sie sich für Hunde. Und Waldemar pries gern die Vorzüge seines Arco von Barfly. Es war begeisternd gewesen. Trotz der dramatischen Situation waren sich die TKKG-Freunde einig: Eine Ballonfahrt 124
machen wir jeder Zeit wieder. Und Karl freute sich bereits auf den nächsten Sonntag, auf die Heißluftballon-Fahrt mit seiner Flamme Matilde. Jetzt lag der Rückweg bereits hinter ihnen. Sie hatten die Stadt erreicht und wollten zu Sabine Lenz, um ihr — das war Tarzans spontane Idee — zu danken. „Schließlich verdanken wir ihr das Erlebnis", meinte er. „Hätte sie uns nicht zum Gartenfest mitgenommen, wäre dieses Wochenende um entscheidende Attraktionen (Zugnummern) ärmer gewesen." Als sie ihr Ziel fast erreicht hatten und durch die Promenaden-Straße fuhren, sahen sie den giftenden Mischling und die edle Dogge. „Der gibt dir bestimmt nicht die Pfote, Pfote", rief Klößchen. Er spielte an auf Gabys Spitznamen, der ja bekanntlich daher rührte, daß sie sich von nahezu jedem Vierbeiner die Pfote geben läßt. „Du meinst den Kläffer?" Gaby hielt, und auch die ändern Räder standen still. „Dem steht ja der Schaum vorm Maul, so wütend ist er", erkannte Klößchen. Die Frau zerrte ihren Iwan weg und kam dicht an der Gruppe vorbei. „Jetzt will ich's wissen." Gaby stellte ihr Rad ab. Zu der Frau sagte sie: „Was regt ihn denn so auf? Er ist doch nicht wirklich böse?" „Ach, ich weiß nicht. Wenn er größere Hunde sieht, gebärdet er sich so. Die Kleinen beißt er gleich. Lieb ist er nur zu mir. Böser Hund, Iwan!" Iwan blickte sich noch mal nach der Dogge um und beschnupperte dann Gabys Beine. Sie ließ ihn gewähren, auch an der Hand schnuppern und sagte dann: „Platz, Iwan! Schööön — mach Platz! Platz, Iwan!" 125
„Sei vorsichtig!" warnte Tarzan. „Vielleicht schnappt er, falls er dich für was Größeres hält." Doch als wollte Iwan ihn Lügen strafen, setzte er sich brav hin. Gaby bückte sich. „Gib die Pfote, Iwan! Gib die Pfote!" Die Frau machte ein unglückliches Gesicht. Offenbar rechnete sie mit Iwans Tücke. Sie war aber haftpflichtversichert, die Dame, und daher nicht überängstlich. „Pfote geben — das macht er nur bei mir", sagte sie. Im selben Augenblick hob Iwan die rechte Vorderpfote und legte sie in Gabys ausgestreckte Hand. „Bei mir auch", sagte Gaby. „Braver Hund." Sie kraulte ihm den Kopf, und er leckte ihr die Finger. „Du kannst aber wirklich mit Hunden umgehen", rief der Mann, der mit seiner Dogge hinter dem Zaun stand. „Gabys Wirkung auf Vierbeiner ist geradezu magisch (unergründlich)", erklärte Tarzan. „Es gibt wirklich keinen, der ihr übel will." Der Mann lachte und tätschelte seiner Dogge den Kopf. „Aber bei Arco probieren wir es lieber nicht. Er ist wirklich ein Wachhund. Und das soll er auch bleiben." „Prächtiger Kerl!" bewunderte Tarzan. Iwan und sein Frauchen waren weitergegangen. Auch Gaby kam zum Zaun, wo die Jungs die Dogge bestaunten. „Er heißt also Arco", sagte Klößchen. „Und wie noch? Seinesgleichen hat doch eine Ahnentafel." „Na, und wie!" nickte Waldemar. „Der Stammbaum reicht bis zur ersten Dogge zurück, übertrieben gesagt. Er ist ein ,von Barfly'." „Und was trinkt er am liebsten?" Tarzan lachte. „Wasser. Wieso?" „Ich dachte, sein Name wäre ein Hinweis. Denn Barfliegen bestellen ja im allgemeinen kein Wasser." Waldemar lächelte. „Barfly! Richtig! Das ist mir noch gar 126
nicht aufgefallen. Allerdings ist der Zwinger von Barfly nicht in England beheimatet, sondern in Dänemark." „Ist das eine deutsche Dogge?" fragte Klößchen. „Eine dänische!" „Wenn so ein Hund im Haus ist, braucht man keine Alarmanlage", meinte Karl. „Das ist richtig", nickte Waldemar. „Arco würde jeden Einbrecher zerreißen. Aber eine Alarmanlage kann trotzdem nützlich sein. Zum Beispiel, wenn man verreist und das Haus leer steht." Gaby, die am Zaun lehnte, hängte einen nackten Arm in den Garten. Ihre Hand befand sich vor Arcos Maul. Er hätte zuschnappen können, tat's aber nicht. Sein Ohrenspiel verriet Aufmerksamkeit. „Wenn Sie eine Alarmanlage benötigen", sagte sie, „können wir Ihnen behilflich sein. Ein gewisser Herr Schrumpf von der Aurora-Versicherung ist dafür zuständig." „Mit Schrumpf stehe ich in Verbindung", sagte Waldemar überrascht. „Ihr kennt ihn also auch?" „Kennen ist zuviel gesagt", meinte Tarzan. „Wir sind ihm mal begegnet." „Aber uns wird er noch kennenlernen", setzte Klößchen, der Tolpatsch, grimmig hinzu, dachte er doch an die goldene Ente, das Pillendöschen. Leider war ja bis jetzt nicht geklärt, ob es sich wirklich um jene Goldente handelte, die unbekannte Einbrecher aus seinem Elternhaus gestohlen hatten. Tarzan bedachte Klößchen mit warnendem Blick. Aber Waldemar hatte nichts gemerkt. „Wo Arco wacht, wäre auch alle Kunst der Schwarzen Maske vergebens", lachte Gaby. Das war nicht für diesen weichlichen, jungen Mann bestimmt, der kaum noch Haare hatte und dessen Gesicht wie gepudert aussah — es galt vielmehr ihren Freunden. Doch Waldemar sprang auf die Bemerkung an. 127
„Meinst du Fräulein Lenz?" „Sie kennen sie also auch?" war es jetzt an Gaby, ihn zu fragen. Er nickte. „Ihr wißt sicherlich, was ihre Aufgabe ist." „Sie bricht ein", krähte Klößchen. „Mit Billigung — sogar auf Wunsch der Hausbesitzer." „Zu denen auch ich gehöre", meinte Waldemar stolz — und wies auf sein Schloß, „das ist mein hiesiges Behelfsheim. In der zweiten Wochenhälfte wird Fräulein Lenz versuchen, dort einzudringen. Arco und ich sind dann verreist." „Gute Reise und schönen Urlaub!" wünschte Klößchen. „Wenn Sie zurückkommen, waren die Einbrecher da. Zum Glück nicht die echten, Sabine beweist Ihnen nur, wie leicht man Ihr Haus ausplündern könnte. Das muß man dem Schrumpf lassen. Da ist ihm was eingefallen." „Eindringlicher kann er seine zögernden Kunden nicht überzeugen", nickte Waldemar: „von der Notwendigkeit einer Alarmanlage oder einer saftigen Versicherung. Mir würde er am liebsten beides verkaufen. Naja, mal sehen. Mein Name ist übrigens Waldemar Golling." Die vier Freunde stellten sich vor. Plötzlich richtete sich Arco am Zaun auf, indem er die Vorderpfoten aufstützte. Er war jetzt genauso groß wie Gaby, die er unablässig beobachtet hatte. Tarzan blieb fast das Herz stehen, als sich der Hundeschädel ihrem Gesicht näherte. Aber Arco wollte nichts Böses. Liebevoll leckte er Gaby über die Wange. „Ich bin spachlos", staunte Waldemar. „Das hat er noch nie gemacht. Kannst du die Jungs auch so um den Finger wickeln, Gaby, wie die Wachhunde?" „Sie kann", nickte Tarzan. „Ihre magische Wirkung ist nicht auf Hunde beschränkt."
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11. Die falsche Adresse Bei Sabine klingelte die TKKG-Bande vergebens. „Jetzt fällt's mir ein", sagte Gaby. „Sie wollte in den Wald und Pilze sammeln. Das ist ihre Leidenschaft." „Dann könnten wir sogar noch Champagner besorgen", sagte Klößchen. „Französischen Schaumwein?" fragte Tarzan. „Wozu?" „Den trinkt Sabine so gern", wußte Klößchen. „Ich hörte, wie sie es gestern auf dem Gartenfest zu Helga von Eschbergen sagte. ,Den trinke ich für mein Leben gern', sagte Sabine. , Aber heute bleibe ich abstinent (enthaltsam)', sagte sie außerdem. ,Weil ich noch zurückfahren muß, und ich habe Passagiere.' Das heißt, sie hat unseretwegen verzichtet." „Starke Haltung von ihr!" lobte Karl. „Sie hat Verantwortungsbewußtsein. Aber wo kriegen wir an einem Sommersonntag wie heute Champagner her? Die Geschäfte sind geschlossen. Außerdem soll der Prickelsaft teuer sein, hörte ich. Wenn wir unsere Kröten zusammenlegen, reicht es wohl doch nur für einen preiswerten Landwein." Das war schade. Gern hätten sie Sabine beschenkt. Plötzlich klatschte Klößchen sich energisch vor den Kopf. „Freunde, natürlich gibt's eine Möglichkeit. Beinahe hätte ich die vergessen. Fällt mir doch gerade ein, daß der Schokoladenfabrikant Sauerlich einen Weinkeller besitzt. Und der enthält auch Schaumweinflaschen, wenn ich richtig vermute. Meine Mama sieht 's zwar nicht gern, weil sie nur auf Diät steht. Aber mein lieber Vater gönnt sich hin und wieder das eine oder andere Fläschchen. Also, auf zu Sauerlichs!" „Ich denke, deine Eltern sind bis Mittwoch verreist", sagte Tarzan. „Sind sie. Aber Georg ist da." Sie fuhren zur Eichen-Allee, wo Klößchens Elternhaus stand, eine prachtvolle Villa, würdig eines reichen Fabrikanten. So protzig wie Waidemars ,Behelfsheim' war sie freilich 130
nicht, Klößchens Eltern neigten nicht zum Angeben, was ohnehin nur der tut, der 's nötig hat. Sie stellten die Drahtesel vor die Garage. Bevor sie klingeln konnten, öffnete Georg. Er war schon lange Jahre Chauffeur bei Sauerlichs und Klößchens besonderer Freund. Heimlich wurde Klößchen von ihm mit Schokolade versorgt. Georg hatte auch immer ein offenes Ohr für Klößchens Sorgen gehabt, solange der noch zu Hause wohnte. Sorgen hatte der Sohn des Hauses nun nicht mehr. Sorglos und sorgenfrei war er, seit er zur TKKG-Bande gehörte und im Internat mit Tarzan das ADLERNEST teilte. Denn Klößchen war von Natur aus gesellig, die Rolle des Einzelkindes für ihn nicht geeignet. „Ist das eine Überraschung!" freute sich Georg, als die vier ihn begrüßten. „Georg, wir brauchen eine Flasche Schampus!" erklärte Klößchen. „Wie bitte? Wollt ihr feiern?" „Mitnichten. Wir nuckeln doch nur alkoholfrei. Aber unsere neue Freundin Sabine Lenz . . . " Georg erfuhr, wer das war und was sie machte. Und was ihr die TKKG-Freunde verdankten. „Wie gut, daß deine Eltern von der Ballonfahrt nichts wußten", meinte er lachend, „sonst wäre es sicher zu einem Verbot gekommen - aus Sorge, du könntest abstürzen." „Man muß seinen Eltern ja nicht alles sagen", erwiderte Klößchen. „Der rücksichtsvolle Sohn erspart ihnen Aufregungen. Das steht in dem Buch Wie erziehe ich meine Eltern." Lachend stiegen sie in den Weinkeller hinunter. Bei der Auswahl der Champagnerflasche hätten sich die vier Freunde schwer getan, denn mit den Angaben auf den Etiketten wußten sie nichts anzufangen. Aber Georg beriet fachmännisch, wickelte die Flasche 131
dann ein und steckte sie in eine Tragetasche, was die Beförderung erleichterte. „Als Sie die Einbrecher vertrieben haben", sagte Tarzan, „haben Sie da irgendwelche Beobachtungen gemacht?" „Ich sah nur, daß es drei waren. Sie hatten die Terrassentür mit dem Glasschneider geöffnet. Inzwischen wurde eine neue Scheibe eingesetzt. Außerdem", er lachte, „verfügen wir jetzt über eine Alarmanlage. Leider vergesse ich abends immer, sie einzuschalten. Bin noch nicht daran gewöhnt." „Eine Alarmanlage?" rief Klößchen. „Seit wann?" „Sie wurde am Freitag eingebaut." „Und woher wurde sie bezogen?" fragte Tarzan. „Ein Versicherungsvertreter hatte sie vor einiger Zeit angeboten", erzählte Georg. „Aber dein Vater, Willi, war nicht geneigt. Na, dann geschah der Einbruch — mit einem Schaden von über 50.000 Mark. Und das hat Herrn Sauerlich umgestimmt." „Wissen Sie zufällig, wie der Versicherungsvertreter heißt?" fragte Tarzan. „Ich glaube, Klein. Oder Kurz. Oder . . . Kleinmacher . . . Irgend sowas war's." „Schrumpf?" „Richtig!" rief Georg. „Das ist der Name. Bei mir ist nur die Bedeutung hängen geblieben. Kennt ihr den Mann?" „Wir haben ihn zufällig kennengelernt." Mehr verriet Tarzan nicht. Klößchen trat zu einem Beistelltisch und tippte mit dem Finger auf die Platte. „Wo ist sie denn? Ist sie etwa auch weg?" „Was meinst du?" fragte Georg. „Die kleine goldene Ente, die hier immer stand. Das Pillendöschen mit dem Kratzer am Flügel." „Ach ja", nickte Georg. „Die Einbrecher haben sie mitgenommen. Ein Jammer. Es war echtes Gold." Grimmig nickte der Sohn des Hauses. 132
„Aber vielleicht kriegen wir sie zurück. Und dann muß er's büßen, der Seh . . . äh. . . schurkische Täter. Nicht wahr?" „Ich glaube nicht, daß die Einbrecher gefaßt werden", zweifelte der arglose Georg. „Sie haben keine Spur hinterlassen. Nichts, das irgendwohin führt." Die TKKG-Bande verabschiedete sich. Als sie zurück fuhren, sagte Tarzan: „Ich habe eine Idee. Wäre es nicht origineller (einfallsreicher), wenn wir Sabine heute abend überraschen? Ich meine, wenn wir uns bei Löffelholz im Garten verstecken, wo sie dann als Schwarze Maske auftaucht." „Finde ich gut", sagte Gaby. „Wenn sie die Villa Löffelholz knackt, kriegt sie den Champagner als Belohnung. Wenn es ihr mißlingt, ist der Schampus ein Trostpflaster." „Aber ob deine Eltern dir Ausgang geben?" Tarzan überlegte. „Das wäre dann schon der dritte Abend, an dem du ziemlich spät ins Bett kommst. Machen wir es doch davon abhängig, ja?" Gabys Eltern hatten Besuch. Ein Kollege des Kommissars war mit seiner Frau gekommen. Die Situation verbot ausführliche Erklärungen. Aber das war auch nicht nötig. Gaby hatte ihren Eltern von Sabine erzählt. „Das mußt du entscheiden, Margot", lachte der Kommissar - und schob die Entscheidung seiner Frau zu, was Väter von Töchtern bisweilen tun, um sich die Gunst der Schmeichelkatze zu erhalten. Die hübsche Frau Glockner machte eine bedenkliche Miene, worauf Tarzan neben ihrem Stuhl auf ein Knie sank. „Liebe Frau Glockner, mit meinem Skalp verbürge ich mich, daß Pfote nichts geschieht. Karl verbürgt sich mit der Kraft seines Geistes, und Willi würde den letzten Schokoladenkrümel opfern für Gabys Wohlergehen. Bitte, sagen Sie ja! Auch dreimaliges Nächteln macht Gaby noch nicht zum Nachtschwärmer. Und morgen ist ja kein Unterricht." 133
Alle lachten. Frau Glockner griff in seine schwarzen Lokken und zog ihn hoch. „Kniefällig kennt man dich ja gar nicht. Also gut! Bewilligt! Wir wissen, daß Gaby bei euch gut aufgehoben ist. Es geht auch nur ums Prinzip (Grundsatz). Aber Ausnahmen sind gestattet." Gaby fiel ihrer Mami um den Hals. Die Jungs erklärten, daß sie die Ehre zu schätzen wüßten. Klößchen schielte mit einer Unauffälligkeit, die man kilometerweit erkennen konnte, zu der Torte hin, die auf dem Tisch stand. Zwar handelte es sich um keine Schokoladen-, sondern um eine Obsttorte. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen — pflegte Klößchen zu sagen, wenn der Hunger ihn zwickte. Außerdem hatte Frau Glockner die Torte gebacken, was allerhöchsten Genuß versprach. „Wer noch — außer Willi — möchte Torte?" erkundigte sich Frau Glockner. So kam es denn, daß die TKKG-Bande den Rest des Tages in Gabys Zimmer verbrachte, gut verpflegt wurde, mit Oskar spielte, andere Spiele spielte und beinahe — es war längst später Abend — den rechtzeitigen Aufbruch verpaßt hätte. Sie saßen schon auf den Rädern, als Tarzan einfiel, daß sie den Champagner vergessen hatten. Die Flasche stand noch im Eisschrank. Gaby holte sie. Dann strampelte sie los.
* Sabine hatte den Sonntag allein verbracht. Sie war in den Wald gefahren, hatte Pilze gesucht und war lange gewandert. Erst gegen Abend kehrte sie heim. Daß sie Eckbert Schrumpf weder heute noch gestern gesehen hatte, fiel ihr erst jetzt auf. Ob das bei ändern Paaren auch so ist? dachte sie verwundert. Sie hatte ihn nicht vermißt, und ein Zeichen himmelstür134
mender Liebe war das gewiß nicht. Natürlich lag das an ihm. Manchmal — immer öfter in letzter Zeit — benahm er sich sonderbar, um nicht zu sagen: unausstehlich. Das erkannte sie wohl. Aber ihre Dankbarkeit überdeckte die Bedenken an seiner Person. Ja, sie mußte ihm dankbar sein. Hatte er sie nicht von der Straße aufgelesen, als es schlecht um sie stand. Hatte er ihr nicht diesen Job verschafft, der einmalig war und außerdem Spaß machte! Aus den Pilzen bereitete sie ein Abendessen. Dann setzte sie sich vor den Fernseher und ließ sich von einem Film beplätschern, der fast drei Stunden dauerte. Als sie sich schließlich fertig machte, war es später als sonst, nämlich Mitternacht vorbei. Aber die Stunde der Schwarzen Maske war ja schließlich kein Fahrplan, sondern nur eine Gewohnheit, die für sie und sonst niemanden galt. Sie zog ihr Trikot an, packte Enterhaken, Seil, Handschuhe, Maske, Mütze und eine Reihe von Einbruchs-Werkzeugen in ihre Leinentasche. Zum Schluß schlüpfte sie in Turnschuhe mit griffiger Sohle. Aus der Handtasche nahm sie den Zettel, den Schrumpf ihr gegeben hatte, den Zettel mit der Adresse des heutigen Kunden. Waldemar Golling, Promenaden-Straße 40 — las sie. Das war gleich um die Ecke, zum Hinspucken nahe. Sie verließ das Haus. Das Coupe parkte am Bordstein. Sie stellte die Tasche auf den Nebensitz, wo auch der Zettel landete. Alles das geschah aus alter Gewohnheit, und der Zündschlüssel steckte schon im Schloß, als ihr aufging, wie unsinnig es sei, den Wagen für diese kurze Strecke zu benutzen. Sie stieg wieder aus, schulterte die Tasche und zog los. Wer sie sah, hätte sie für eine Turnerin gehalten, die vom Training zurück kommt. Aber die Straße war leer. Kurze Zeit später schlich sie durch Gollings Garten. Sie 135
schlich tatsächlich, obwohl sie nichts zu befürchten hatte — wie sie meinte. Gehörte es doch zu den Abmachungen, die Eckbert Schrumpf mit den Kunden traf, daß das Haus immer menschenleer war. Aber Sabine schlich. Daß sie jeden Einbruch wie ein echter Profi durchführte, gehörte zu ihrem Berufsstolz — und wurzelte in ihrem romantischen Gemüt. Für sie war diese Arbeit eine Art Abenteuer. In ihrer Einbildung bestand wirkliche Gefahr. Das verursachte Herzklopfen und war fast so schön wie das Prickeln von Champagner. Alle Fenster der Villa waren dunkel. Doch damit hielt sie sich ohnehin nicht auf. Glaubte sie doch zu wissen, daß dieses Haus mit einer Alarmanlage des Typs VX 10 gesichert sei — wie Schrumpf ihr erzählt hatte. Wobei ihr Verlobter allerdings den Antiquitäten- und Gemäldesammler Gottfried Löffelholz gemeint hatte, nicht Waldemar Golling. Doch Namen waren nicht gefallen, und Sabine ahnte nichts von der Verwechslung der Adressen. Sie turnte auf einen Baum, hangelte sich einen Ast entlang und landete lautlos auf dem Dach. Im abgeschirmten Schein ihrer Taschenlampe untersuchte sie eine Luke. Keine Spur von der empfindlichen VX 10-Anlage! Ein unglaubliches Versäumnis! dachte sie. Was nützt es, wenn unten Tür und Fenster gesichert sind und hier oben freie Bahn ist. Weiß doch jeder Profi, daß man auch durch die Dachluke eindringen kann. Lautlos knackte sie die Luke. Sabine stieg ein und huschte über den Speicher. Sie öffnete eine Tür und tappte ins Haus hinunter. Durch die Fenster fiel Mondlicht herein, dennoch benutzte sie ihre Taschenlampe. Dann verharrte sie. Ein Geräusch war an ihr Ohr gedrungen. 137
Sie lauschte. Doch im Haus herrschte Stille. Ihr war, als hätte sie ein Scharren gehört, als kratze ein Tier. Aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Eine Sinnestäuschung, dachte sie — und stieg weiter hinab.
* Seit einer halben Stunde hockte die TKKG-Bande hinter Büschen in einem blumenreichen Garten. Beinahe wären die vier Freunde noch mit Löffelholz und dessen Frau zusammengestoßen. Jedenfalls hatten sie gesehen, wie das Paar in den Wagen stieg und abfuhr. Jetzt warteten sie. Die Zeit verging langsam. Klößchen hatte die Champagnerflasche auf den Boden gelegt. Tarzan saß neben Gaby, beobachtete die Rückfront des Hauses und achtete auf jede Bewegung im Garten. „Vielleicht ist sie längst drin", flüsterte Gaby, „und wir haben nichts bemerkt?" „Unmöglich!" widersprach er. „Die Straßenfront ist zu hell. Da stehen zwei Laternen. Und auf unserer Seite hat sich nichts getan. Sie läßt sich Zeit heute. Sie kommt eben später." Noch mehr Zeit verging. Nichts geschah. Auch Tarzan wurde nachdenklich. „Irgendwas stimmt nicht", meinte er. „Ich glaube, wir sollten nicht auf unsere Überraschung bestehen, sondern zu Sabine fahren und sehen, was los ist. Vielleicht hat sie sich den Fuß verstaucht, oder ihre Wohnung steht in Flammen." Gaby schnellte hoch. „Oder sie hat sich vergiftet. Um Himmels willen." „Wie kommst du darauf?" „Habe ich das nicht erwähnt? Sie wollte Pilze suchen." Jetzt war auch Tarzan auf den Beinen. „Du meinst, sie hat einen Giftpilz erwischt — und verspeist, liegt jetzt in ihrer 138
Wohnung, windet sich in Krämpfen und . . . Los! Worauf warten wir noch?" Sie rannten zur Straße, sprangen auf die Räder und preschten los. Schon von weitem sahen sie das grüne Coupe. Es parkte vor dem Haus, stand unter einer Laterne. „Verdammt, Pfote, du kannst recht haben." Einen Moment später klingelte Tarzan Sturm. Aber nichts rührte sich. Sabines Wohnung lag gartenseitig. Karl und Klößchen flitzten ums Haus, kamen augenblicklich zurück und meldeten, alle Fenster seien dunkel, aber eins stünde offen. Alle vier liefen zur Rückfront. „Daß kein Licht brennt, besagt nichts", meinte Tarzan. „Vielleicht wollte sie noch einen Schlummer machen vor der Arbeit, und das Pilzgift hat sie im Schlaf überfallen. Ich steige ein." Für ihn, den gewandten Kletterer, war das kein Kunststück. Er fand eine lange Stange, die auf dem Rasen lag und wohl einst Teil eines Gartengeländers gewesen war. Sie wurde an die Wand gelehnt. Karl und Klößchen hielten sie fest. Tarzan turnte hinauf, kroch durchs Fenster, sprang in den Apartmentraum, entsann sich der Örtlichkeit — schließlich war er hier erst gestern gewesen - und stellte schaudernd fest, daß kein Geräusch zu hören war, kein noch so leiser Atem. Er machte Licht. Nichts. Die Ein-Zimmer-Wohnung war leer. Gestern hatte er gesehen, wo Sabine ihr Einbrecher-Werkzeug aufbewahrte. Es war nicht mehr da. Er lief zum Fenster. „Sie ist nicht zu Hause, scheint offenbar auf Tour zu sein." „Vielleicht hat sie noch mehr vor", vermutete Gaby. „Und 139
macht zwei Einbrüche in einer Nacht. Sowas kommt vor. Das weiß ich von meinem Papi." Tarzan löschte das Licht und wies seine Freunde an, die Stange wegzunehmen und beiseite zu treten. Dann sprang er auf den Rasen hinunter, landete vorschriftsmäßig, federte ab und fühlte sich wie ein Gummiball. „Au Backe!" meinte Klößchen. „Da hätte ich mir das Genick gebrochen, oder meine Beine wären nur noch Stumpen." 140
Ratlos standen sie beieinander. „Immerhin bin ich beruhigt", sagte Gaby. „Passiert ist ihr nichts." „Sie hat den Wagen hier gelassen", überlegte Tarzan. „Das heißt, sie ist irgendwo in der Nähe. Denn mit Seil und Enterhaken und im schwarzen Trikot läuft sie bestimmt nicht durch die halbe Stadt."
Sie gingen zur Straße zurück. Gaby prüfte, ob die Türen des Coupes abgeschlossen wa141
ren. Schon wollte sie sich damit begnügen, als ihr Blick auf den Zettel fiel. Er lag auf dem Nebensitz. Sie beugte sich tiefer. „Da liegt ein Zettel mit Adresse. Waldemar Golling, Promenaden-Straße 40. Den Typ kennen wir ja. Das ist der Bubi mit der großen Dogge. Und in der zweiten Wochenhälfte", sie äffte Gollings gezierten Tonfall nach, „wird Fräulein Lenz versuchen , in mein hiesiges Behelfsheim einzudringen. Arco und ich sind dann verreist." Sielachte. „Dieser . . . " Das nächste Wort blieb ihr in der zarten Kehle stecken. Sie sah Tarzan an. Er erwiderte den Blick. Und in derselben Sekunde blitzte in beiden der gleiche Gedanke auf. „Wenn sie sich aber irrt und Termine verwechselt, Tarzan, und heute nacht dort . . . Mein Gott, die Dogge ist da!" Seine Erwiderung bestand darin, daß er bereits auf dem Sattel seiner Rennmaschine saß. Aus dem Stand legte er einen Spurt hin, wie ihn diese Straße noch nicht erlebt hatte.
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12. In letzter Sekunde Arco von Barfly hatte sich von seinem Lager im weitläufigen Terrassenzimmer erhoben. Er war hier eingesperrt, denn dieser Raum lag sozusagen in vorderster Front, war das Herz des Hauses und elegant möbliert. Außerdem befand sich hier der Wandsafe, versteckt hinter einem Gemälde, das sich zur Seite klappen ließ wie eine Schranktür. Was der Safe enthielt, hätte auch Rosa Murczyk, die Gattin des Diamantenhändlers, bewundert. Davon wußte Arco nichts. Aber kannte seine Pflicht als Wächter und wußte längst, daß sich jemand im Hause befand - jemand, der nicht hierher gehörte. Ihm entging nichts. Er hörte den Eindringling, der jetzt — lautlos zwar, aber nicht lautlos für die Ohren des Hundes die Treppe herunterkam. Arcos Augen glühten im Mondlicht. Unverwandt starrte er die Tür an. Sie würde sich öffnen. Er wußte es. Sein Nackenhaar sträubte sich. Zurückgezogene Lefzen gaben das gewaltige Gebiß frei, Reißzähne - von der Natur zum Töten geschaffen: Werkzeuge eines Instinktes, dem Raubtiere seit Urzeiten gehorchen. Ein heiseres Grollen drang aus Kehle und tiefer Brust. Aber das war jenseits der Tür nicht zu vernehmen.
* Tarzan sprang vom Rad. Das Tor der Einfahrt war geschlossen, die Pforte daneben auch — wie er rüttelnd feststellte. Der eine der Torpfeiler war zwar hohl — und enthielt den Briefkasten. Aber er sah keine Klingel. Er sprang über die Pforte und rannte zum Haus. Nirgendwo war Licht, die Garage geschlossen. Er mußte Büsche umrunden. Dann stand er auf der Terrasse. 143
Hing das Seil vom Dach? Er konnte nichts entdecken. Aber hinter einem Fenster im ersten Stock, so schien ihm, flirrte ein Lichtschimmer. Er verzichtete darauf, an der Haustür zu klingeln. Die Hände trichterförmig vor den Mund gelegt, brüllte er: „Sabine! Bist du hier? Bist du im Haus? Vorsicht! Eine gefährliche Dogge ist drin." Sabine war ins Erdgeschoß hinab gestiegen. Im Schein ihrer Taschenlampe hatte sie vergeblich nach Gemälden Ausschau gehalten — nach Gemälden, die einen Wert von drei Millonen Mark verkörperten, wie Eckbert Sehrumpf behauptet hatte. Aber jetzt stand sie vor der Tür zum Terrassenzimmer. Befanden sich hier die unbezahlbaren Werke von Klecksel und Co? Schließlich war es ihre Aufgabe, Zettel mit dem GestohlenVermerk an die Rahmen zu heften. Sie drückte auf die Klinke. Abgeschlossen. Doch der Schlüssel steckte. Sie schloß auf. Im nächsten Moment traute sie ihren Ohren nicht. „Sabine!" erscholl Tarzans Stimme auf der Terrasse. „Bist du hier? Bist du im Haus? Vorsicht! Eine gefährliche Dogge ist drin." Das letzte Wort war noch nicht verklungen, als die Dogge zu toben begann. In rasender Wut warf sie sich gegen die Tür. Die Pfoten trommelten gegen das Holz. Wütendes Geifern ging über in lautes Gebell. Sabine stand wie erstarrt. Dann traf Arcos Pfote die Klinke, und die Tür sprang auf — spaltweit nur. Aber in nächster Sekunde hätte sie der Hund mit einem Schnauzenstoß ganz geöffnet. Gedankenschnell packte Sabine die Klinke und riß die Tür zu. Sie drehte den Schlüssel. Dann mußte sie sich an die 144
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Wand stützen. Plötzlich fühlten sich ihre Knie wie Butter an. Oben im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet. „Hallo?" fragte eine ängstliche Stimme. „Fräulein Lenz? Sind Sie gemeint? Sind Sie etwa hier?" Dann flammte Licht auf. Geblendet schloß Sabine die Augen. Tarzan hat mir das Leben gerettet, dachte sie. In letzter Sekunde. Mein Gott, in letzter Sekunde. Aber wieso ist die Dogge hier? Und Golling?
* Zu nächtlicher Stunde erlebte das illustre (vornehme) Behelfsheim' eine gemischte Versammlung. Sabine zitterte noch, war sie doch Arcos Reißzähnen denkbar knapp entgangen. Waldemar zitterte weit mehr. Zum einen setzte ihm der Schreck des nächtlichen Einbruchs zu. Zum anderen rüttelte die Vorstellung an seinem Seelengefüge, Arco hätte — pflichtbewußt und wachsam — dieses entzückende Fräulein Lenz zerfleischt. Die TKKG-Freunde zitterten nicht. Das ständige Hineinschliddern in halsgefährliche Situationen härtete ab. Kommissar Glockner, von Gaby telefonisch herbeigerufen, beorderte einen Streifenwagen zu Schrumpf. Denn natürlich mußte geklärt werden, wo der Fehler lag. „Es grenzt an fahrlässige Tötung, Sabine hierher zu schikken", meinte Tarzan. „Himmel, wie konnte das passieren!" Arco, von seinem Herrchen beruhigt, saß dabei und machte ein Doggengesicht, als könnte er kein Wässerchen trüben, bzw. als könnte er sich nie überwinden, in eine menschliche Wade zu beißen. Dann traf Eckbert Schrumpf ein. Er sah verspannt aus, als hätte man ihn aus dem Bett geholt, wo er gerade den Traum seines Lebens träumte. Oder war er gestört worden, als er die goldene Ente polierte? 146
Mit schiefem Grinsen begrüßte er Sabine. „Hättest aber aufpassen können", quetschte er durch die Zähne. „Aufpassen? Ich? Eckbert, mir fehlen die Worte! Du hast mir den Zettel mit der Adresse gegeben. Du!" „Jaja, ich weiß. Es tut mir leid." „Ich könnte jetzt tot sein." „Jaja, ich weiß." Glockner mischte sich ein. „Erklären Sie, Herr Schrumpf, wie dieser Irrtum zustande kam!" Schrumpfs Schmalgesicht hatte eine Farbe wie Hammeltalg. Er fand kein tröstendes Wort für Sabine, aber viele zu seiner eigenen Rechtfertigung. „ . . . habe ich in meiner Mappe verschiedene Zettel mit den Anschriften von Kunden, mit denen abgesprochen ist, daß Fräulein Lenz bei ihnen einbricht, um — wie ich ausführte — überzeugend zu demonstrieren (zeigen), daß im Ernstfalle, bei echtem Einbruch, enormer Schaden entstünde. Die Termine sind festgelegt. Heute abend sollte Fräulein Lenz bei Gottfried Löffelholz, dem SportartikelHersteller, einbrechen. Der Zettel mit seiner Adresse ist unter andere Blätter gerutscht. Wie das . . . " „Das hättest du mir wirklich sagen können: Geh zu Löffelholz!" unterbrach ihn Sabine. „Du weißt doch, daß ich ihn kenne. Wie ich auch Herrn Golling bei dir im Büro kennengelernt habe." Golling nickte heftig. Offenbar war das Zusammentreffen ein unvergeßliches Erlebnis für ihn. Er trug jetzt einen blaßblauen Hausmantel, darunter einen Pyjama mit der Grundfarbe Altrosa. Brüsseler Spitzen trägt er nicht, dachte Tarzan. Aber vielleicht schläft er in einem Himmelbett. Soll er! Es muß auch Typen geben, die vor Zugluft Angst haben und nicht von fremden Tellerchen essen. „. . . äh . . . ja, nun . . .", stotterte Schrumpf gerade, 147
„hätte ich, hätte ich! Ich hab's aber nicht gesagt, Sabine. Weil wir's immer so halten: Du kriegst den Zettel und damit juck! Wenn's dann ein Bekannter ist, um so größer die Überraschung. Jedenfalls habe ich mich bei der Adresse vergriffen. Unser lieber Kunde Golling", er grinste, „war erst für Donnerstag vorgesehen. Aber natürlich hätte ich mich noch überzeugt, daß Sie, Herr Golling, und der Kö . . . königliche Hund nicht mehr hier, sondern in Südfrankreich weilen." Das war's. Betretenheit machte sich breit. Nicht wegen der Panne, die sich zwar entsetzlich hätte auswirken können, aber erklärlich war — sondern wegen der Kaltschnäuzigkeit, mit der Schrumpf alles abtat. Kann passieren. Na und? Sie lebt ja noch! Das schien sein Motto zu sein. „Vergewissern Sie sich künftig", wurde Sabine von Glockner geraten, „daß Sie nicht ahnungslos in eine Falle laufen. Es ist durchaus nicht selten, daß auf Einbrecher geschossen wird. Und das ist sogar verständlich, wenn man sich in die Lage der verängstigten Einbruchsopfer versetzt." Sabine nickte. Schrumpf nagte an der Oberlippe und schwieg. Zur Sache gab es nichts mehr zu sagen. Die Versammlung löste sich auf. Glockner nahm Gaby gleich mit. Schrumpf begleitete Sabine. Ihre Miene spiegelte allerdings, daß sie darauf gern verzichtet hätte. Waldemar ging wieder ins Bett, nachdem er Arco mit einem Leckerli für nächtlichen Einsatz belohnt hatte. Die Jungs radelten zur Vierstein-Villa zurück. „Was Schrumpf betrifft", sagte Tarzan, „gehen Sabine, glaube ich, allmählich die Augen auf." „Mich wundert es schon die ganze Zeit", meinte Karl, „daß so ein tolles Mädchen diesen Fies- und Widerling als Freizeitschatten rumschleppt." 148
„Ich glaube gar nicht, daß er ihr als Muße-Kavalier so angenehm ist", sagte Tarzan. „Aber er ist ihr Chef. Wahrscheinlich fühlt sie sich von ihm abhängig." „In ihrer Branche ist es auch gar nicht so leicht", lachte Klößchen, „einen neuen Job zu finden. Ich meine, als Angestellte. Freiberufliche Einbrecher soll's ja massenhaft geben. Aber die arbeiten auf eigene Rechnung und nicht im Auftrag einer Versicherung, wie? Jedenfalls — das war mal wieder ein Wochenende! Von Freitagnacht bis Montagfrüh — nischt als Aufregung!" „Warten wir mal ab, wie es morgen wird", sagte Tarzan.
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13. Mit Verbrechen fängt die Woche an In Bäumlrode verließen sie den Vorortzug, der die S-Bahn fortsetzte. Es war 8.15 Uhr. Das Dorf, eine halbe Autostunde von der Stadt entfernt, schien noch zu schlafen. In den Gärten reiften Früchte. Blumen hielten ihre Köpfe in die Morgensonne. Daß sie nicht auffallen durften, wußten die beiden. Ein Vorsatz, der sich schwerlich verwirklichen ließ. Jedenfalls hatte Wilhelm Himsel das Gefühl, viele Augen wären hinter geschlossenen Gardinen auf ihn und Paul Janitz gerichtet, als sie die Dorf Straße entlang gingen — vorbei an Tante Emma-Läden, einem Gasthaus und der weißgetünchten Kirche. Sie kannten ihr Ziel: das prachtvolle von EschbergenLandhaus am Ende des Dorfes. Ein Kirschgarten schirmte zum Nachbarn hin ab. „Eschbergens Wagen ist weg", murmelte Janitz, der Einbrecher mit dem Hang zur Brutalität. Sie konnten in die offene Doppelgarage sehen. Dort stand nur noch der hellblaue Kombi, mit dem Helga von Eschbergen ihre Einkäufe erledigte. Sie sahen sich um. Auf der Dorfstraße tat sich nichts. Im nächsten Moment standen sie an der Haustür. Im Schloß steckte ein Schlüssel, an dem das Schlüsselbund hing. „Hier sind sie noch sorglos." Janitz grinste. „Ländlichkeit, wie?" Leise öffneten sie die Tür. Leise huschten sie durch die Diele. Aus der Küche drangen Geräusche. Helga von Eschbergen hatte eine Schürze umgebunden. 150
Sie drehte den beiden Kerlen den Rücken zu, schien aber mit Instinkt begabt und wandte sich um. Aufschreiend wich sie zurück. In ihrem Madonnengesicht weiteten sich die Augen. So jung ist die, dachte Himsel, und ihr Ernährer doch mindestens 50. Naja. Und hübsch ist sie auch. „Wenn du nochmal schreist", sagte Janitz, „kriegst du eine aufs Maul. Kapiert? Aber du hast nichts zu befürchten, wenn du vernünftig bist, Herzblatt." Er hielt sein Schnappmesser in der Hand. Die Klinge war beidseitig geschliffen und sah gefährlich aus. „Was . . . wollen Sie?" stammelte Helga. „Eine Menge Gold, Herzblatt. Aber nicht von dir, sondern
von deinem Alten. Er wird es uns geben müssen, ob er will oder nicht. Du und dein Baby — ihr garantiert uns das. Als Geisel." Helga zitterte. „Nein. Ich . . . " „Es ist ganz einfach zu verstehen", fuhr er ihr über den Mund. „Wenn dein Alter nicht spurt, Herzblatt, machen wir aus dir und deinem Baby Frikassee (Fleischgericht in heller Soße). Hiermit!" Er zeigte ihr sein Messer aus der Nähe. Helga war gegen die Anrichte getaumelt, ihr Gesicht fahl geworden. Sie spürte, wie gefährlich die beiden waren - zumindest der Kerl mit dem Messer. Der andere hatte weichliche Züge und schien sich nicht wohl zu fühlen in seiner Haut. Mit dem Messer fuchtelte Janitz vor ihrem Gesicht herum. „Hör doch auf!" zischte Himsel. „Mach keine Schau." „Was denn?" blaffte Janitz. „Ich sag's, wie es ist. Sie soll wissen, daß wir uns nicht abspeisen lassen." Er wandte sich wieder an Helga. „Die Sache läuft so, Herzblatt: Mein Kumpel bleibt hier und bewacht dich. Du gehst nicht an die Tür und läßt niemanden rein. Wenn das Telefon klingelt, hältst du den Hörer so, daß mein Kumpel mithören kann. Kein falsches Wort. Denk an dein Baby! Ich nehme deinen Wagen. Ich werde nicht durchs Dorf fahren, sondern den Umweg über Melkelau machen. Trotzdem bin ich rechtzeitig in der Stadt. Dein Alter wird hier anrufen, um festzustellen, ob auch stimmt, was ich ihm erzähle. Ermuntere ihn, meine Forderung zu erfüllen. Daß er mit deinem Leben spielt, wenn er die Polizei verständigt, werde ich ihm klarmachen. Falls er versucht, mich zu übertölpeln oder festzuhalten, bist du — samt dem Baby - geliefert. Dafür sorgt mein Kumpel. Wenn ich bis halb zwölf nicht zurück bin, sieht es schlecht für dich aus, Herzblatt. Alles klar?" Er ließ sich den Autoschlüssel geben.
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„Das ist jetzt die Frage", meinte Klößchen. „Nehmen wir rote Rosen, weiße Nelken oder vielleicht eine Orchideen-Abart, einen nicht so teuren Verschnitt?" „Du bist unmöglich", schimpfte Gaby. „Rote Rosen schenkt ein Verliebter seiner Geliebten, zum Beispiel . . . ach, ist ja egal! Weiße Nelken sind Totenblumen - fürs Grab. Und gespart wird nicht, verstanden? Wenn wir's bezahlen können, ist uns Helga von Eschbergen Orchideen wert." Es war Montagvormittag. Die TKKG-Bande stand vor einem Blumengeschäft und rang mit der Entscheidung, was Helga zu schenken sei. „Wie wäre es mit einem Kaktus", schlug Klößchen jetzt vor. „Ist hübsch. Außerdem braucht er wenig Wasser. Nur drauf setzen darf man sich nicht." „Wir lassen uns einen bunten Strauß zusammenstellen", entschied Gaby. „Ich übernehme das. Wartet!" Sie ging in das Geschäft, während Tarzan ihr Rad hielt. Der schulfreie Montag schmeckt allen, dachte er, schmeckt sozusagen nach mehr. Naja, die nächsten Ferien kommen bestimmt. Schon deswegen, weil sonst die Pauker zusammenbrächen. Ist das wieder eine Geschäftigkeit heute. Die Innenstadt brodelt. Verstopfte Straßen. Alles rennt und hastet. Als ginge die große Reue um, weil gestern Sonntag war und Arbeit versäumt wurde. Jedenfalls sieht es so aus. Gut, daß wir nichts bereuen müssen. Ja, das ist es! Immer das tun, was man vor sich selbst und vor anderen vertreten kann. Dann kann man ja zu sich sagen. „Bist du noch nicht satt?" fragte er Klößchen. Sein dicker Freund kaute Schokolade, obwohl das üppige Frühstück bei den Viersteins noch keine Stunde zurück lag. „Satt bin ich nie", antwortete Klößchen. „Es gibt nur kurze Momente, da mich der Hunger nicht gar so fürchterlich quält." Gaby kam mit einem großen, in Papier gehüllten Blumenstrauß zurück. 153
„Die Stengel sind angeschnitten", verkündete sie. „Wenn er gleich ins Wasser gestellt wird, hält er sich bestimmt eine Woche — sagt die Floristin (Blumenbinderin)"'. „Dann können wir jetzt Herrn von Eschbergen unsere Aufwartung machen", meinte Karl. „Hoffentlich ist er nicht gerade in einer wichtigen Konferenz. Wenn er 's doch ist, lassen wir die Blumen bei seiner Sekretärin. Sekretärinnen können mit Blumen manchmal besser umgehen als mit der Schreibmaschine." Sie fuhren zum Aurora-Gebäude, einem Büro-Hochhaus aus Stahl und Glas. Es stand etwas abseits vom Innenstadttrubel gegenüber einer Grünanlage und verfügte über zwei Dutzend Parktaschen unweit des Eingangs — wo Besucher ihre Wagen abstellen konnten. Eine Stellfläche wurde jetzt mit vier Tretmühlen belegt. „Seht mal!" rief Tarzan. „Ist das nicht Helgas Wagen?" Er wies auf den blauen Kombi, der in der Sonne wie Meerwasser funkelte. „Ist er!" bestätigte Karl, der — wie auch die anderen — den Wagen am Samstag in Bäumlrode bemerkt hatte. Und ganz nebenbei, sozusagen unabsichtlich, hatte er sich das KfzKennzeichen eingeprägt. Sie marschierten zum Eingang. Beim Portier erkundigten sie sich, wie man zu Direktor von Eschbergen gelange. Der Lift brachte sie in den sechsten Stock hinauf, wo Tapeten und Spannteppiche deutlich kostbarer waren als im Parterre. Unten herrschte das hektische Getöse nervenden Kundenverkehrs, hier chefliche Ruhe — denn hier wurden Entscheidungen getroffen. In von Eschbergens Vorzimmer saß eine aparte Person, blondgelockt und elegant genug, um ihren Chef jederzeit zu einem Arbeitsessen in ein Gourmet (Feinschmecker)-Lokal begleiten zu können. 154
Tarzan grüßte. „Wir kennen Herrn Direktor von Eschbergen", erklärte er, „und möchten ihn sprechen. Es dauert nur eine Minute." „Es ist gerade ein Besucher drin", erwiderte die Blonde. „Und nachher steht eine Konferenz auf dem Terminplan. Aber wenn es wirklich nicht lange dauert — ihr ihn nicht lange aufhaltet, dann läßt es sich machen." „Wir wollen nur unseren Dank abstatten", erklärte Tarzan. Gaby, die den Strauß hielt, sagte: „Wäre es möglich, die Blumen ins Wasser zu stellen, bevor sie die Köpfe hängen lassen." „Aber natürlich." Die Sekretärin nahm die Blumen entgegen. „Ihr könnt gleich hier warten. Ich glaube nicht, daß der Besucher lange bleibt. Setzt euch!" Lächelnd ging sie hinaus. Hinter ihr schloß sich die Tür. Karl und Gaby hatten auf Besuchersesseln Platz genommen. Tarzan trat zum Fenster. Der Blick reichte über Dächer und Straßengewirr bis zur Michaelis-Kirche. Als er sich umdrehte, sagte Gaby gerade: „Willi! Laß die Finger davon!" Klößchen hatte sich rücklings an den Schreibtisch der Sekretärin gelehnt und aufgestützt. Tolpatschig, wie er war, berührte seine Hand den Einschaltknopf der Gegensprechanlage, die das Chefzimmer mit dem Vorzimmer verband. „. . . das . . . das . . . wäre ein unfaßliches Verbrechen", ertönte von Eschbergens Stimme. Sie zitterte. „Red keinen Stuß, Mann!" erwiderte eine andere Stimme. Sie klang hart. „Du hast es jetzt in der Hand, ob deine Frau und dein Baby überleben. Aber ich glaube, du hast nicht kapiert, wie die Chose (Angelegenheit) steht. Ich sag's dir nochmal, Mann: Mein Kumpel ist draußen in Bäumlrode. Er sitzt in deinem Haus. Du kannst ihn anrufen und dich vergewissern, daß ich nicht bluffe. Deine Frau und dein Baby sind unsere Geiseln. Wir beide gehen jetzt zur Bank. Du leerst 155
dein Schließfach, und ich haue ab mit dem Gold. Auch für den Rückweg nehme ich den Wagen deiner Frau. Du läßt uns drei Stunden Vorsprung. Dann kannst du von mir aus die Bullen verständigen. Aber nicht eher! Denn wir nehmen dein Baby mit." „Und. . . was. . .", von Eschbergen konnte kaum sprechen, „geschieht dann mit Fränzi?" „Mach dir nicht in die Hose. Das Balg setzen wir irgendwo aus. Los, wir gehen!" Warnend hatte Tarzan den Finger über die Lippen gelegt, wußte er doch, daß eine Gegensprechanlage in beide Richtungen funktioniert. Jedes Wort von hier würde ins Chefzimmer dringen. Fassungslos hatten alle dem Hörspiel gelauscht. Gabys Blauaugen füllten sich mit Entsetzen. Karl riß seine Brille von der Nase, wußte nicht, wohin damit, und setzte sie wieder auf — ohne die Gläser zu polieren. Klößchen ließ den Mund offen. In diesem Moment kam die Sekretärin zurück. Die Tür des Chefzimmers öffnete sich. Von Eschbergen trat heraus. Aber wie sah er aus! Das Gesicht war kreidebleich. Er ließ die Schultern hängen. Seine Unterlippe zitterte. „Ah, hallo, meine Freunde!" sagte er, und die Ahnung eines Lächelns glitt über sein Gesicht. Hinter ihm stand der Verbrecher, ein etwa 30jähriger Kerl mit brutalem Gesicht und engstehenden Augen. Seine Hände waren leer. Böse starrte er die vier Freunde an. „Guten Morgen, Herr von Eschbergen." Tarzan ging auf ihn zu. „Wir sind hergekommen, um uns zu bedanken." Er streckte ihm die Hand hin. Von Eschbergens Rechte fühlte sich an wie ein Saunalappen, der gerade benutzt wird: feucht und schlaff. „Guten Morgen!" Tarzan grinste nun den Ganoven an und reichte auch ihm die Hand.
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Der Kerl wollte nicht einschlagen. Aber Tarzan ließ die Hand ausgestreckt, und sein Lächeln war harmlos. „Morrrgen!" knurrte der Kerl und ergriff endlich die angebotene Hand, um diesen Tölpel — wie er meinte - loszuwerden und keinen Verdacht zu erregen. Mit stählernem Griff hielt Tarzan die grobe Pranke fest. „Übrigens, lieber Freund", sagte er - und ließ sein Lächeln fallen, „zur Bank geht es hier lang!" Blitzartig drehte er sich. Der Arm des Ganoven wurde über die Schulter gehebelt. Ein gellender Schrei — der Kerl wirbelte durch die Luft. Seine Füße streiften die Deckenleuchte. Krachend landete er vor dem Schreibtisch. Und begann zu brüllen, als stecke er am Spieß. Sein Arm war ausgekugelt, sein Schlüsselbein gebrochen, und seine Zukunftsaussichten hatten sich innerhalb einer Sekunde verändert — aber nicht zum Vorteil. „Neiiiiin. . . " Die Sekretärin quiekte, prallte zurück, stolperte und landete bei Karl auf dem Schoß, wo sie aber nicht sitzenblieb. „Tarzan!" rief von Eschbergen — und rang die Hände. „Du ahnst nicht, was du angestellt hast. Sein Komplice hat meine Frau und mein Kind in der Gewalt." Tarzan deutete auf die Gegensprechanlage. „Es war alles zu hören. Und ich weiß genau, was ich tue. Die Befreiung Ihrer Lieben wird ein Kinderspiel. Aber erstmal rufen wir Gabys Vater an."
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14. Heißer Tip — kostenlos Die Sonne stieg. Die Luft erwärmte sich. Im Garten zwitscherten Vögel. Himsel saß auf der Ledercouch des rustikalen Kaminzimmers und behielt Helga im Auge. Er war unbewaffnet, was sie freilich nicht wissen konnte. Jetzt, da er allein war, fühlte er sich wie auf dem Pulverfaß. Der ganze Plan — Schrumpfs Idee — erschien ihm idiotisch. Auch die Verteilung der Rollen war sehr zu seinem Nachteil, wie er erst jetzt begriff. Janitz, ja, der konnte das Gold kassieren und in der Stadt untertauchen — wenn er lustig war; aber er, Himsel, saß hier wie in einer Falle. Was war, wenn von Eschbergen verrückt spielte und die Bullen verständigte? Sicherlich - wenn es hart auf hart ging und er fliehen mußte, konnte er das Baby mitnehmen. Aber eine Garantie für seine Sicherheit war das trotzdem nicht. „Sie. . . werden mir nichts tun, nicht wahr?" flüsterte Helga. „Was?" „Sie sind nicht so. . . brutal wie der andere." „Halten Sie den Mund!" Sie schluchzte. „Und wenn mein Mann nun nicht soviel zur Verfügung hat, wie Sie. . . " „Wir wissen, wieviel Barrengold er hat", unterbrach er sie. „Das wird doch wohl noch im Schließfach sein, oder?" „Das Gold?" fragte sie verwundert. „Ja, natürlich. Aber woher. . . " „Mundhalten! Verdammt!" Er sah auf die Uhr. Es war Viertel vor elf. Und noch kein Anruf von dem Direktor! Verzichtete der darauf? Handelte er auf Verdacht, indem er die Forderung erfüllte? In einer halben Stunde ist Janitz mit dem Gold zurück, 159
dachte Himsel. Dann nehmen wir das Baby, fahren zur Stadt, tauchen unter, setzen das Kind irgendwo aus — und niemand kann uns was anhaben. Es geht glatt, bestimmt! Es ist doch ein guter Plan. Auf Schrumpf kann man sich verlassen. Alles, was der bisher vorschlug, war machbar. Und wir haben nicht schlecht verdient. Diesmal, sicherlich, sind persönliche Gefühle im Spiel. Er kann seinen Chef nicht leiden, er haßt ihn — deshalb ist der jetzt unser Opfer. Aber trotzdem, es wird . .. Das Schrillen des Telefons unterbrach seine jagenden Gedanken. Er schnellte hoch. Auch Helga stand auf. Als sie zum Hörer griff, stand er neben ihr. „Helga von Eschbergen", meldete sie sich. „Liebling, Gott sei Dank!" sagte von Eschbergen. „Das war vielleicht ein Schreck. Eben ruft die Polizei bei mir an. Dein Kombi — daß es unser Wagen ist, haben sie von der Zulassungsstelle erfahren — ist in einen grauenvollen Unfall verwickelt. Ein Lastwagen hat ihn an einer Hauswand zerquetscht. Irgendwo am Stadtrand. Ein Mann wurde getötet. Er saß in unserem Wagen. In unserem, Helga! Er konnte noch nicht identifiziert werden, der arme Mensch. Wem, um Himmels willen, hast du deinen Wagen geborgt?" Himsel handelte schnell, obwohl ihn der Schreck an den Rand einer Ohnmacht brachte. Eine Hand über die Muschel gedeckt, flüsterte er: „Der Wagen wurde gestohlen." „Der. . . der Wagen wurde gestohlen", sagte Helga mit zitternder Stimme. „Nicht zu glauben. Und so schnell hat es den Dieb erwischt. Liebling, ich schicke einen unserer Fahrer zu dir raus. Einen gewissen Glockner. Ich weiß nicht, ob du ihn schon kennst. Er muß jeden Moment da sein. Er bringt dich und Fränzi her zu mir. Bis gleich." Der Hörer fiel auf die Gabel. 160
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Panik stand in Himsels Gesicht. „Ich haue ab. Aber vorher schließe ich Sie und das Baby ein. Wo? Los, wo geht es? Es muß sein. Zu meiner Sicherheit. Wo?" Er packte sie, schüttelte sie und spürte, daß er kaum die Kraft hatte, sich auf den Beinen zu halten. Seine Knie zitterten. „Im Weinkeller. . . ", stammelte Helga, „dort. . . ginge es. Da hätten Sie die Garantie, daß ich. . . " In rasender Eile brachte er Helga und das Baby hinunter. Sie wurden eingesperrt. Den Schlüssel ließ er an der Tür stecken. Dann trat er ins Freie. Er versuchte, langsam zu gehen. Aber die Angst beschleunigte seinen Schritt. Zum Bahnhof! Weg hier! Würde der Vorsprung reichen? Kam der Fahrer schon? Nein. Noch war kein Wagen mit städtischem Kennzeichen zu sehen. Er hatte das Telefonkabel aus der Wand gerissen. Aber der Keller war nicht schalldicht. Wenn die Frau nun um Hilfe schrie - würden Nachbarn das hören? Auf der Dorfstraße war kaum mehr Leben als heute früh. Erntezeit. Die Bauern hatten auf den Feldern zu tun. Himsel erreichte den Bahnhof und hatte Glück. Ein Triebwagen in Richtung Stadt war abfahrbereit. Er fuhr zurück. Seine Nervosität legte sich etwas. Aber sicher fühlte er sich erst, als die Stadt erreicht war und er im Gewühl des Hauptbahnhofs untertauchte. Sofort rief er Schrumpf an, der in der Firma war, im Aurora-Hochhaus. „Ich bin's", sagte Himsel. „Kann ich sprechen?" „Ihr Idioten", zischte Schrumpf. „Da setze ich euch auf eine todsichere Sache an, und ihr. . . " „Wovon redest du, Schrumpf? Janitz ist tot. Er. . . " „Quatsch! Janitz ist so lebendig wie wir, nur nicht so mun162
ter. Er wurde überwältigt. Noch dazu von einem verdammten Bengel, der. . . Aber das spielt jetzt keine Rolle. Der Anruf im Landhaus war nichts als ein Trick. Rauslocken wollten sie dich. Von der Frau wegbringen, weil deren Sicherheit natürlich vordringlich war. Es ist ihnen ja auch prima gelungen. Leider habe ich davon erst erfahren, als alles schon gelaufen war. Hast übrigens Glück gehabt. Zwei Minuten später wärst du dem angeblichen Fahrer begegnet, einem gewissen Glockner. Nur, daß der kein Fahrer ist, sondern Kommissar bei der Kripo. Was dich gerettet hat, war ein beschrankter Bahnübergang. Der war nicht einkalkuliert. Deshalb kam's mit der zeitlichen Abstimmung nicht ganz hin." Himsel schluckte. „Und jetzt?" „Janitz tut das einzige, was in seiner Lage möglich ist: Er behauptet, der Plan wäre eure Idee. Daß ich dazu gehöre, verschweigt er. Aber was dich betrifft, packt er aus. Das muß er, um wenigstens ein bißchen Einsichtigkeit vorzutäuschen. Das heißt, du kannst nicht in deine Bude zurück. Und geh bloß nicht zu Epstein! Den gibt's nicht mehr. Der ist — was wir nicht wußten — in der Samstagnacht aufgeflogen. Er sitzt hinter Gittern. Aber was uns betrifft, hält er dicht. Erwischt haben sie ihn wegen einer anderen Sache. Sie steht in keinem Zusammenhang mit uns. Du weißt jedenfalls Bescheid. Tauch erstmal unter. Morgen. . . ", er unterbrach, zischelte noch: „Ich muß Schluß machen!" - und legte auf.
Schade! Der zweite Ganove, von dem man bereits wußte, daß er Wilhelm Himsel hieß, war durch die Lappen gegangen. Aber die Fahndung lief. Daß man ihn aus dem Verkehr zog, war nur eine Frage der Zeit. Helga und Fränzi befanden sich in Sicherheit. Das zählte mehr als die Festnahme des Ganoven. Von Eschbergens Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Immer wieder schüttelte er Tarzan die Hand. 163
„Was dir da eingefallen ist", er meinte das Märchen mit Janitz' angeblichem Verkehrsunfall, „hat wie eine Sprengladung gewirkt. Nichts hätte diesen Himsel mehr verwirren können. Wer weiß, wie es sonst ausgegangen wäre." „Möglicherweise hätte er Fränzi als Geisel mitgenommen", sagte Kommisar Glockner. „Wirklich ein Jammer, daß ich so knapp zu spät gekommen bin. Und dann noch die zweite Panne." Damit meinte er den Irrtum eines Dörflers, der dem Ganoven unabsichtlich zu ausreichendem Vorsprung verhalf. Kaum nämlich hatte der Kommissar Helga und das Baby befreit, als er sich auch schon daran machte, das Dorf nach dem Ganoven abzusuchen, der zu jener Zeit nur zwei Minuten Vorsprung hatte. Ein Nachbar der von Eschbergens arbeitete in seinem Garten und gab Auskunft auf Glockners Frage, hatte nämlich einen Fremden gesehen, der sich eilig mit seinem Rad in Richtung Melkelau entfernte. Erst kurz vor dem Nachbardorf holte Glockner den Mann ein, der sich nicht ausweisen konnte, aber jung und dunkelhaarig war. Bei der Gegenüberstellung mit Helga stellte sich dann heraus, daß es der Falsche war. Zu dieser Zeit hatte der Vorortzug die Stadt bereits erreicht. Himsel war entkommen. „Ihr seid hergekommen, um mir zu danken", sagte von Eschbergen zu der TKKG-Bande. „Und was ist daraus geworden! Wärt ihr nicht gewesen, hätte man mich ausgeplündert. Und niemand weiß, ob Fränzi die Geiselnahme gesund überstanden hätte."
Es war Abend geworden. Ziellos hatte Himsel sich rumgetrieben. Er fühlte sich elend und hatte nicht viel Geld in der Tasche. Seit einer Stunde lehnte er nun an der Theke einer Kneipe. 164
Er trank Schnaps und schrak jedesmal zusammen, wenn eine Polizeisirene ertönte. In dem Reklamespiegel hinter der Theke sah er sein Gesicht. Tiefe Schatten lagen unter den Augen. Er wirkte gehetzt. Mißtrauen machte ihn schreckhaft. Deshalb war ihm auch der Typ am anderen Ende der Theke nicht geheuer. Der schnaufte wie ein Asthmatiker, trank Unmengen Bier und führte Selbstgespräche. Was er brabbelte, klang unfreundlich. Böse Worte kamen darin vor. Aber was sein Thema war, konnte nicht mal der Wirt verstehen. Bei jedem Bier, das er dem Typ hinstellte, redete er ihn mit Otto an. „Bitte, Otto! Wohl bekomm's, Otto!" Otto hatte einen schwarzen Kräuselbart, der von Ohr zu Ohr wucherte und dicht war wie die Füllung einer Roßhaarmatratze. Aus seiner Nase hatte der Alkoholkonsum eine rote Knolle gemacht, der kürzlich Schreckliches widerfahren war. Offenbar hatte eine Stechfliege einen erfolgreichen Angriff unternommen, und auf Ottos Knollenspitze wucherte seitdem eine Quaddel (juckende Schwellung). Jetzt rutschte der bärtige Otto von seinem Hocker und schwankte zur Toilette. Himsel trank seinen Schnaps und überlegte, ob dem Bärtigen wohl schlecht wäre. Eine Weile überlegte er. Dann machte Neugier ihm Beine, und er ging zum Abort. Otto lag auf dem Rücken. Daß er besinnungslos war, sah Himsel sofort. Der Mann war gestürzt und offensichtlich mit dem Kopf auf die Fliesen geschlagen. Sein Hinterkopf war naß von Blut, der Puls kaum noch zu fühlen. Innerhalb von Sekunden fledderte Himsel den Bewußtlosen. Er nahm dessen Armbanduhr, zwei Schlüssel und die Brieftasche, in der Geld, Ausweis und ein in Zellophan verpackter Briefumschlag steckten. 165
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Scheinbar eilig ging er dann zur Theke zurück. „Wirt! Der Bärtige macht schlapp. Liegt im Abort und röchelt. Glaube, der braucht einen Arzt." „Was?" Der Wirt griff zum Telefon und forderte den Notarzt an. Währenddessen legte Himsel Geld auf die Theke, abgezählt, und verdrückte sich hinaus in den Abend. Hinter einem Lagerschuppen prüfte er die Beute. Es waren 190 Mark, wie er im Schein seines Feuerzeugs feststellte. Der Mann hieß Otto Rajowski, ein Handelsvertreter. Seine Adresse war nicht weit von hier. Zuletzt zog Himsel den Briefumschlag aus der Zellophanhüüe. Beschriftet war er nicht, aber er enthielt ein - mit Maschine getipptes — Schreiben. Er las. Ungläubig weiteten sich seine Augen. Das Schreiben, das keine Unterschrift trug, war an — Friedrich von Eschbergen gerichtet! Es lautete: ,Wie ich Ihnen telefonisch bereits sagte, befindet sich Ihre Tochter Fränzi seit vorhin in meiner Gewalt. Ich habe Fränzi in meinem Haus. Das Baby ist unversehrt. Ich setze voraus, Sie wollen Ihr Kind lebend zurückhaben. Dafür fordere ich 500.000 Mark - in gebrauchten Scheinen: nur Zehner, Zwanziger und Fünfziger. Bringen Sie das Geld 167
heute um 22 Uhr in einem hellen Handkoffer zur Gepäckaufbewahrung des Hauptbahnhofs. Den Gepäckschein stecken Sie in eine Tüte, die Sie dann in den Papierkorb neben dem Eingang werfen. Sobald ich das Geld habe, rufe ich Sie an. Sie erfahren dann, wo Sie Fränzi abholen können.' Himsel ließ den Bogen sinken. Seine Hände zitterten. Nein! dachte er. Gibt's nicht! Sowas von Schicksal. Wir reißen uns ein Bein aus. Wir riskieren Kopf und Kragen. Und dieser Kerl mit der Knollengurke schafft es. Am selben Tag. Wahrscheinlich nur Stunden nach uns. Wir fliegen auf die Schnauze. Und der kidnappt das Balg — sozusagen im Handumdrehen. Jetzt wußte er, weshalb der Brief in der Hülle gesteckt hatte. Rajowski wollte verhindern, daß sich seine Fingerabdrücke auf dem Umschlag verewigten.
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15. Der Coup im Hochhaus-Lift Ein langer Tag lag hinter der TKKG-Bande. Morgen war wieder Schule. In aller Frühe wollten die vier Freunde sich treffen, um dann gemeinsam zur Schule zu radeln. Gaby war bereits zu Hause. Die Jungs saßen in Karls Zimmer, hatten den tragbaren Mini-Fernseher eingeschaltet und verzehrten ihr Abendessen — Vollkornbrot mit frischem Schinken — während auf der Mattscheibe ein alter Schinken gezeigt wurde, nämlich ein Spielfilm von anno tobak. Irgendwann zog Klößchen das Schrumpfsche Telefonverzeichnis aus der Tasche und warf es Tarzan zu. „Schenke ich dir. Ich will's nicht mehr." „Und was soll ich damit? Du hast es geklaut." „Aber es hat uns nichts geholfen. Ich weiß immer noch nicht, ob die goldene Ente bei Schrumpf unsere Ente ist." „Es ist ja noch nicht aller Tage Abend, Willi. Schrumpf steht nach wie vor ganz oben auf unserer Liste. Im übrigen war das Büchlein sehr nützlich. Hätten wir sonst Gertrud Vossburger kennengelernt? Und den Doppelmord verhindert?" „Daß ich's nicht vergesse", meinte Karl. „Sie hat nachmittags hier angerufen, wie mir meine Mutter sagte. Am nächsten Samstag sind wir bei Frau Vossburger eingeladen. Das heißt, sie geht mit uns in ein Restaurant unserer Wahl." „Klasse!" freute sich Klößchen. „Sie gefiel mir ja gleich." „Wohin wir gehen", sagte Tarzan, „soll Gaby entscheiden." Er schob das Büchlein unter sein Kopfkissen und dachte — zunächst — nicht mehr daran.
Etwa um die gleiche Zeit saß Eckbert Schrumpf in seiner Wohnung Palmwedel-Straße 26 beim Abendessen. 169
Er hatte Sabine angerufen. Aber sie war wohl immer noch sauer. Jedenfalls ging sie nicht ans Telefon. Wenn schon! Sie würde sich wieder beruhigen. Was das betraf, machte er sich keine Sorgen. Da war es schon beunruhigender, daß mit Janitz und Epstein zwei seiner Leute ausgefallen waren und nach dem dritten gefahndet wurde. Würden sie ihn verzinken? „Janitz und Epstein nicht", sagte er laut. „Was hätten sie auch davon? Aber Himsel, verdammt, da weiß man nicht — was geht vor in diesem schlappen Burschen? Wen zieht der mit rein, wenn er selbst in der Tinte sitzt?" Er verdrängte den Gedanken. Und überhaupt — wer weiß, ob Himsel jemals gefaßt wurde. Nach dem Essen griff er zur Zeitung, die er heute morgen nur flüchtig durchgeblättert hatte. Im Lokalteil, den er immer sehr sorgfältig las, stieß er auf die Ankündigung. In festlichem Rahmen eröffnete heute abend eine KunstGalerie. Freilich hatte heute nicht jedermann Zutritt, sondern eine Schar erlesener — sozusagen: handverlesener — Gäste feierte zunächst mal unter sich. Hinz und Kunz durften erst ab morgen dabei sein. Besonders, so hieß es, freue sich der Galerist auf seinen Ehrengast, auf Frau Rosa Murc-zyk, der er finanzielle und ideelle Unterstützung verdanke. Schrumpf ließ die Zeitung sinken. Himmel! Das hieß doch: Die Murczyk ging heute abend aus, würde sich mit Diamantschmuck behängen, daß daneben die Gemälde verblaßten, und erst spät heimkommen. War das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte?
* Eine Straße im Weichbild der Stadt. Kleine Häuser auf kleinen Grundstücken. Zum zweiten Mal schlich Himsel an Otto Rajowskis Adresse vorbei. 170
Er schielte zu den dunklen Fenstern hinauf und wußte: den Mut, dort einzudringen, hatte er nicht mehr — obwohl er den Schlüssel besaß. Aber wozu auch! Rajowski, der jetzt sicherlich im Krankenhaus lag, hauste allein. Daran bestand kein Zweifel. Das Baby hatte er sicherlich mit einem Schlafmittel betäubt. Also doch ein Glückstag, dachte Himsel. Jetzt packe ich's. Unter drei Möglichkeiten kann ich wählen. Entweder ich steige in das Kidnapping ein und kassiere das Lösegeld. Oder ich vermache Schrumpf den Tip, und der soll sehen, was er daraus macht. Oder ich bin bescheiden und. . . Ziemlich rasch wurde ihm klar, daß nur die dritte Möglichkeit in Frage kam. Er fand eine Telefonzelle. Von Eschbergens Rufnummer in Bäumlrode war ihm bekannt. Seine Hand, die den Hörer hielt, schwitzte. Er wählte. „Eschbergen", meldete sich die Stimme des Direktors. „Sie sind sicherlich in Sorge, wie? Begreiflich. Die Sache ist jedenfalls die. . . " „Was ist los?" unterbrach ihn von Eschbergen. „Wer spricht dort?" „Das spielt im Moment keine Rolle. Ich rufe an, um Ihnen Kummer zu ersparen. Ich habe einen Tip, für den Sie mir ewig dankbar sein werden. Durch einen kaum glaublichen Zufall bin ich darauf gestoßen. Kurz gesagt: Ich weiß, wer Ihre Tochter Fränzi gekidnappt hat. Und, wo sie versteckt ist. Ich selber habe nichts damit zu tun. Aber ich bin ein armer Hund und hoffe, daß Ihnen mein Hinweis eine bescheidene Summe wert ist. Sagen wir: 20.000 Mark." Himsel wartete. Von Eschbergen sagte kein Wort. „Hallo?" fragte Himsel. „Sind Sie noch da?" „Ja, bin ich. Sie wollen 20.000 ?" „Na, gut - sagen wir: 15.000." 171
Von Eschbergen gab ein Knurren von sich, das wie Zustimmung klang. Sie verabredeten, sich in einer Stunde bei der U-Bahn-Station Prager Straße zu treffen. Von Eschbergen wollte mit seinem Wagen kommen, einem silbergrauen Mercedes. Er nannte das Kennzeichen. Himsel sagte, er werde eine gefaltete Zeitung in der linken Hand halten.
* Klößchen schnarchte. Auch Karl schlief bereits. Tarzan hatte sich so gedreht, daß ihm der Mond ins Gesicht schien. Er fühlte keine Müdigkeit. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Eckbert Schrumpf. War es vielleicht wirkungsvoller, wenn er den Stier bei den Hörnern packte? Ich gehe zu ihm, dachte Tarzan, knalle das Büchlein auf den Tisch, erkläre frech, es hätte sich in meine Tasche verirrt, warte ab, wie er reagiert, und grapsche mir dann die Goldente. Ich behaupte, die gehöre den Sauerlichs. Von Willis einprozentigem Zweifel erwähne ich nichts. Bin gespannt, was der Schrumpf dann vorbringt. Woher er den Golderpel hat. Daraus ist dann schon manches ersichtlich. Und Sauerlichs werden bestimmt erkennen, ob es ihre Ente ist. Wann mache ich's? So eine Frage! Ist ein Entschluß gefaßt, gibt es nur eins: ihn sofort ausführen. Sollte er Karl und Klößchen mitnehmen? Sie schliefen fest. Nein, dachte er. Das wird ein Alleingang; und wenn's Ärger gibt, bade ich die Sache allein aus.
* Himsel wartete bei der U-Bahn-Station. Es war eine belebte Ecke, aber zu dieser Abendstunde konnte man die wenigen Fahrzeuge zählen. 172
Nach dem silbergrauen Mercedes hielt er vergeblich Ausschau. Aber plötzlich war er von Polizisten umringt. Ehe er sich versah, hatten sie ihn in einen Wagen gestoßen. Ihm wurde übel vor Angst. „Ich bin Kommissar Glockner", sagte der große Mann mit dem kräftigen Gesicht. „Wie heißen Sie?" Himsel brachte kein Wort hervor. Ein Uniformierter stieß ihn an. „Er sieht aus wie ein Penner, Herr Kommissar. Daß er obendrein ein Verrückter ist, liegt auf der Hand. Aber überprüfen müssen wir ihn." Wenig später saß Himsel in Glockners Büro auf einem harten Stuhl. Man hatte ihn durchsucht. Man hatte seine Brieftasche mit den Papieren gefunden — und Rajowskis Brieftasche, die noch alles enthielt, was Otto dem Frommen gehörte. „Himsel", sagte Glockner. „Manchmal kreuzen sich die Wege in sehr eigenwilliger Weise. Beinahe wären wir uns heute vormittag begegnet — in Bäumlrode. Aber Sie sind mir gerade noch entwischt. Ihr Komplice Paul Janitz hat Sie schwer belastet. Er lebt übrigens. . . " „Ich weiß", nickte Himsel. Er wußte, daß er verloren hatte — endgültig verloren. „Ach! Woher denn?" „Das sage ich Ihnen später, Herr Kommissar. Das bringe ich sozusagen als Gastgeschenk mit. Aber interessiert es Sie gar nicht, wo Fränzi steckt?" „Erst sagen Sie mir, wie Sie an Rajowskis Brieftasche gekommen sind!" Himsel gehorchte und erzählte alles. Glockner griff zum Telefon, ließ sich mit der Notarzt-Zentrale verbinden und erfuhr, daß Rajowski mit einem Schädelbruch in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Dann telefonierte er mit Friedrich von Eschbergen. 173
„Nicht zu glauben!" sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. „Das Schicksal meint es wirklich nicht gut mit Ihnen, Himsel. Es führt Sie buchstäblich an der Nase herum. Sie sind auf einen Scherz reingefallen. Daß Fränzi zu Hause in ihrem Bettchen liegt, wußte ich natürlich die ganze Zeit. Sie ist wohlauf, und kein Mensch hat versucht, sie zu kidnappen. Nur konnten wir — von Eschbergen und ich — uns nicht erklären, was Sie auf die Schnapsidee bringt. Jetzt wissen wir's. Otto Rajowski — müssen Sie wissen — ist ein Freund der Familie von Eschbergen. Aber — um es vereinfacht auszudrücken — er tickt nicht ganz richtig. Bisweilen hegt er Groll gegen Herrn von Eschbergen — seinen ehemaligen Rivalen, der ihn ausgestochen hat. Tja, und wenn Rajowski betrunken ist, reagiert er seinen Zorn auf solche Weise ab. Er begeht in Gedanken Greueltaten, obwohl er sonst, wie ich höre, eine Seele von Mensch sei. Und ausgerechnet Ihnen fällt dieser sogenannte Erpresserbrief in die Hände." Kommissar Glockner hatte Mühe, seine Heiterkeit zu unterdrücken. Himsel brauchte eine Weile, bis er begriff, was ihn zu Fall gebracht hatte. „Das war mein letzter Coup", sagte er dann. „Ganz egal, wozu ich verknackt werde — meine Ganoven-Karriere ist hiermit beendet. Ich bin offensichtlich zu blöd dazu. Aber um gleich beim Thema zu bleiben — ich sehe nicht ein, daß ich eine Suppe allein auslöffeln soll, die ein anderer angerührt hat." Dann erzählte er alles über sich, Epstein, Janitz und den — Versicherungsinspektor Eckbert Schrumpf. „Wo überall wir aufgrund seiner Tips eingebrochen haben, Herr Kommissar, darüber mache ich Ihnen eine Liste." Vor Palmwedel-Straße Nr. 26 stieg Tarzan vom Rad. Schrumpfs Fenster waren dunkel, wie er sofort sah. Aber das hieß nichts. Es war schon sehr spät. Vermutlich schlief Schrumpf den Schlaf des Gerechten. 174
Um so besser! dachte Tarzan. Dann ist er schlaftrunken und nicht ganz hell auf der Platte. Und Rücksicht nehme ich auf ihn ganz bestimmt nicht. Er klingelte. Er klingelte anhaltend. Er klingelte Sturm. Niemand öffnete. Schrumpf war nicht zu Hause. Ob unsere Vermutung zutrifft? überlegte Tarzan. Vielleicht hat er tatsächlich im Steilen Zahn eine Zweitwohnung? Wie konnte er das feststellen? Unter den Namensschildern neben den Klingelknöpfen hatten sie ihn nicht gefunden. Aber da fehlten auch andere Namen. Nicht mal die Murczyks waren aufgeführt. Im übrigen waren er und seine Freunde so in Eile gewesen, daß sie das Schrumpf-Namensschild vielleicht übersehen hatten. Er beschloß, da er ohnehin unterwegs war, beim Steilen Zahn vorbeizufahren.
Die Nacht war lau. Eckbert Schrumpf wartete im Schatten der Tiefgarage. Als Rosa Murczyks Rolls Royce langsam durch die menschenleere Kirchfelder Allee heranrollte, eilte er zum Hauseingang. In der Eingangshalle wischte er sich Schweiß von der Stirn. Dann war er im Lift, drückte die 15 - seine Etage — und zog die Magnettafel unter der Jacke hervor. Fest haftete das Duplikat auf der Bedienungstafel. Während der Lift hinauf schwebte, klebte sich Schrumpf einen schwarzen Vollbart um. Das lockige Toupet (Perücke), künstliche Brauen und eine dickglasige Brille veränderten ihn völlig. Der Lift hielt. Zwei Schritte bis zu seiner Tür. Er schlüpfte in den Sommermantel, den er hier im Hause noch nie getragen hatte. Mit einem kleinen Koffer wartete er dann vor der Lifttür. 175
Sein Herz hämmerte. Den chloroform-getränkten Lappen hielt er bereit. Er wußte: Rosa Murczyk, mit Schmuck behängt, stieg jetzt in den Lift. Sie würde die 14 drücken — aber das war ja in Wirklichkeit die 15: aufgrund der Verschiebung durch seine Magnettafel. Er horchte. Der Lift kam. Jetzt hielt er. Die Tür glitt auf. Rosa Murczyk hatte sich in ihren Sommerpelz gekuschelt. Auf den roten Locken funkelte ein Diamant-Diadem. Erschrocken riß sie die Augen auf, merkte sie doch, daß sie in der falschen Etage war, denn in ihrer stand jetzt wartend der zweite Leibwächter Macke, und das Scherengitter war geöffnet. Schrumpf trat vor. Im nächsten Moment hatte er sie an der Kehle gepackt. Hart drückte er ihr den Chloroform-Lappen auf Mund und Nase. Ihre schwächliche Gegenwehr reichte nur für Sekunden. Dann erschlaffte sie. Zweimal wollte die Tür zugleiten. Aber der Koffer, auf die Schwelle geschoben, verhinderte das. Er legte die Bewußtlose im Flur auf den Boden. In Sekundenschnelle pflückte er juwelenfunkelndes Geschmeide von ihr runter. Eine unglaubliche Beute! Sie wurde in den Taschen verstaut. Dann schob er den Koffer in den Lift und drückte den Erdgeschoß-Knopf. Aber schon schloß sich die Tür, und der Lift glitt abwärts — zur 14. Etage. Macke, der zweite Leibwächter, war beunruhigt über das Ausbleiben seiner Chefin, deren Ankunft er vom Fenster beobachtet hatte. Macke hatte die Kabine geholt. Als sich die Lifttür öffnete, stand er dort - ein Gebirge von einem Kerl. Das Gesicht zeigte deutliche Spuren seiner Be176
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rufsboxer-Vergangenheit. Um die Taille war er fett geworden. Er starrte Schrumpf an, der den Blick gleichgültig erwiderte, nur leicht nickte. Die Frage schwebte förmlich auf Mackes Lippen. Aber dann sagte er doch nichts, blieb auf seinem Platz und sah zu, wie der unbekannte bärtige Mann mit unmerklich zitternden Fingern ,Erdgeschoß' drückte. Unterwegs nahm Schrumpf die Magnettafel ab. Ungehindert durchquerte er die Eingangshalle. Knöll war jetzt längst in der Tiefgarage — samt dem Rolls Royce. Sobald Schrumpf auf der Straße war, begann er zu rennen. Jetzt ging 's um Sekunden. Sein Ziel war der kleine Park am Ende der Straße, wo sich um diese Zeit niemand aufhielt. Hinter Büschen wollte er seine Verkleidung abstreifen, sich wieder in den ehrenwerten Eckbert Schrumpf verwandeln und zu seinem Wagen schlendern, der in der Nähe geparkt war. Von dem Schatten, der ihm folgte, bemerkte er nichts.
Als sich Tarzan dem Steilen Zahn näherte, sah er, wie der Bärtige ins Freie trat, plötzlich Fersengeld gab — mit allen Anzeichen schlechten Gewissens - und auf einen Park zuhielt. Er folgte ihm. Irgendwas an der Gestalt kam ihm bekannt vor. Dann wußte er 's. Die Bewegungen erinnerten an Schrumpf. Auch Größe und Figur entsprachen der des Versicherungsinspektors . Bart und Haare kann man verändern, dachte Tarzan. Was geht hier vor? Der Mann verschwand hinter Büschen. Tarzan schlug einen Bogen. Er ließ sein Rad zurück. Als er sich dem Gebüsch näherte, in dem der Mann stecken mußte, teilten sich die Zweige. 178
Tarzan blieb die Spucke weg. Tatsächlich! Er hatte richtig vermutet. Eckbert Schrumpf trat hervor. Er hielt ein Bündel unter dem Arm, sah, wen er vor sich hatte, und erschrak tödlich. „Sie fangen dieses Jahr aber früh mit dem Karneval an", sagte Tarzan. „Wo kriegt man denn so schmucke Barte und Perücken?" Schrumpf hatte sich gefangen. Sein Blick glitt lauernd umher. Gab es Zeugen? Nein, niemanden. Er griff in die Tasche und zog das Springmesser hervor. Klickend schoß die Klinge aus dem Griff. „Das ist ein Tötungsversuch, den Sie vorhaben", sagte Tarzan und trat ihn in den Bauch. Schrumpf röchelte, krümmte sich und ließ das Messer fallen. „Sowas wird schwer bestraft", sagte Tarzan - und setzte ihm den Ellbogen hinters Ohr. Schrumpf war noch bewußtlos, als die Funkstreife eintraf.
„Manchmal wüßte ich nicht, was ich täte - ohne einen Mitarbeiter wie dich, Tarzan", sagte Kommissar Glockner lächelnd. „Da habe ich alle Beweise beisammen - und stehe bei Schrumpf vor verschlossener Tür. Wer liefert ihn mir zur selben Stunde noch an? Du." „Dabei hatte ich keine Ahnung, was lief", Tarzan grinste. „Aber seine Verkleidung machte mich natürlich mißtrauisch — und der Angriff mit dem Messer hat dann Klarheit geschaffen." Mitternacht war vorüber. Sie saßen in Glockners Büro im Polizei-Präsidium; und Tarzan ahnte, daß er morgen — während des Unterrichts - sehr müde sein würde. Aber was machte das! Die Einbrecherbande war hinter Schloß und Riegel, und für Schrumpf, den Kopf des Trios, brach eine triste Zukunft an. So raffiniert seine Methode auch gewesen war 179
- sie konnte ihn letztlich nicht vor der gerechten Strafe bewahren. Noch in derselben Nacht wurde seine Wohnung durchsucht. Man fand Beute aus zahlreichen Einbrüchen. Als man die kleine Goldente näher untersuchte, stellte sich heraus: Sie war weder aus Gold, noch stammte sie aus dem Einbruch bei Sauerlichs. Klößchen hatte sich geirrt. Doch sein Verdacht war es gewesen, der alles ins Rollen brachte. Und die Ente der Sauerlichs — die echte, goldene — fand sich dann doch. Janitz hatte sie für sich beansprucht und seine Bude damit geschmückt. Alle Übeltäter wurden später zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Rudolf Vossburger erhielt sogar lebenslänglich. Gertrud, seine ehemalige Frau, heiratete wieder und führte eine glückliche Ehe. Rosa Murczyk, die keine ernstlichen Verletzungen erlitten hatte, ließ von ihren Schmuckstücken Imitationen (Nachahmungen) anfertigen und trug die wertvollen Originale nur noch selten. Für die Schwarze Maske schlug leider die Stunde des Abschieds. Direktor von Eschbergen wollte nicht länger an der Schrumpfschen Verkaufsmethode festhalten, meinte er doch, daß ein seriöses (vertrauenswürdiges) Unternehmen seine Kunden auch auf andere Weise überzeugen könne. Aber Sabine erlitt dadurch keine Einbuße, sie wurde in den Innendienst übernommen. Der TKKG-Bande wollte von Eschbergen eine besondere Freude machen, als Zeichen seines Dankes. Die vier Freunde sollten einen Wunsch äußern. So geschah es dann, daß Wochen später die TKKG-Bande abermals startete zur großen Fahrt im Heißluftballon. Alle fühlten sich bereits als alte Hasen, als erfahrene Luftfahrer. - ENDE -180