Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 727
Die Tiefen der Zeit Hetzjagd durch das Nichts
von H.G. Ewers
Auf Terra sch...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 727
Die Tiefen der Zeit Hetzjagd durch das Nichts
von H.G. Ewers
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide eine plötzliche Ortsversetzung erlebt. Atlans neue Umgebung ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das den Arkoniden die Möglichkeit bietet, die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist die STERNSCHNUPPE. Und der neue Begleiter des Arkoniden ist Chipol, der junge Daila. In den sieben Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums für Leid und Unfrieden verantwortlich waren. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich positiv auf den Freiheitskampf der Daila gegen das Neue Konzil auswirken dürfte. Während Atlan gegenwärtig wieder neuen Nachstellungen seines alten Feindes ausgesetzt ist, blenden wir um zu Anima, Goman-Largo und Neithadl-Off, den drei merkwürdigen Reisenden durch Raum und Zeit. Ihre Suche wird zur Hetzjagd durch das Nichts – und führt in DIE TIEFEN DER ZEIT…
Die Hauptpersonen des Romans: Goman-Largo, Anima und Neithadl-Off – Drei Reisende auf der Nullzeit-Spur. Nussel – Ein sprechendes Einhorn. Lanara – Bewohnerin einer Weltraumstadt. Raman – Angehöriger des USO-Klans. Hatchiss – Ein Pirat.
1. Sie waren abermals in eine unergründliche Finsternis geschleudert worden, die nicht mit der Finsternis des interstellaren oder intergalaktischen Weltraums zu tun hatte, sondern identisch mit dem Nichts jenseits von Raum und Materie war. Eine dimensionslose Spur – eine Nullzeit-Spur. »Vielleicht hätten wir noch warten sollen, Modulmann«, pfiff Neithadl-Off besorgt und rückte näher an Goman-Largo, während ihre knallroten Sensorstäbchen starr auf Anima gerichtet waren. Der Tigganoi legte eine Hand auf die Oberfläche von Neithadl-Offs Körper – oder doch fast darauf, denn er spürte das Zittern des im Knochenrahmen eingespannten lederhautförmigen Rumpfes trotz der transparenten Schutzfolie, die den gesamten Körper der Parazeit-Historikerin überzog und zur Zeit nur die vordere Schmalseite mit den Sensorstäbchen und der Mundleiste freiließ. »Wir hätten nichts dadurch gewonnen«, erwiderte er und musterte die lichtlosen Bildflächen im Innenraum des Time-Shuttles, wie seine Gefährtinnen und er die Zeit-Transfer-Kapsel des Hepathers genannt hatten. »Außerdem ist die Bewegung durch oder auf Nullzeit-Spuren etwas ganz Normales für alle diese Zeitkapseln.« Er und Neithadl-Off fuhren heftig zusammen, als Anima sich nach Stunden des Schweigens, in denen sie nichts anderes getan hatte, als unbeweglich vor der Projektionsplatte zu sitzen und eine Hand um die obere Kugel des Steuergeräts zu schließen – und sich zu konzentrieren – erstmals wieder regte. »Bald!« flüsterte die geheimnisvolle Hominidin, die auf der Suche nach ihrem Ritter Atlan alles zu wagen bereit war. »Bald scheren wir aus der Nullzeit-Spur aus.« Matte Lichterscheinungen huschten lautlos über die schwarze Wand der Projektionsplatte. Anima fing an zu keuchen. »Nein!« rief Goman-Largo, als er sah, daß die Hominidin die obere Kugel des Steuergeräts losließ. »Festhalten und konzentrieren!« »Ich kann nicht!« klagte Anima. »Aber du mußt!« drängte der Modulmann. »Atlan wartet auf dich!« »Nicht dort!« flüsterte Anima. »Dort ist nicht Atlan. Dort ist…« Der Rest ging in undeutlichem Murmeln unter, dann fing die Hominidin wieder an zu keuchen, während ihr Oberkörper gleichsam unter Zwang hin und her schwankte. »Kannst du ihr nicht helfen?« wandte sich Goman-Largo an Neithadl-Off. »Wie denn?« gab die Vigpanderin zurück. »Außerdem fürchte ich, daß wir diesmal in einer Falle landen, in der wir alle umkommen werden.« Goman-Largo wollte widersprechen, doch er schwieg, als ihm klar wurde, daß Neithadl-Off durchaus recht behalten konnte. Der Zustand der Zeitgruft auf Mohenn sprach dafür, daß die meisten dieser Zeitgrüfte sehr alt waren – und »sehr alt« mochte durchaus nach Hunderttausenden oder gar Millionen Jahren zählen. Da war es nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich, daß einige Zeitgrüfte von Intelligenzen manipuliert waren, die nur darauf warteten, daß dort Zeitreisende mit ihren Time-Shuttles strandeten. Seine Gedanken schweiften ab und kehrten zum Zeitpunkt seiner Erweckung aus der Stasis zurück, in die er von Agenten des Ordens der Zeitchirurgen vor einem unbekannten Zeitraum versetzt worden war. Neithadl-Off hatte ihn befreit, als sie die Zeitgruft auf dem Planeten Xissas erforschte.
Anschließend waren sie beide unter Lebensgefahr geflohen, denn die Wächter der Zeitgruft durchschauten das Märchen, das die Vigpanderin ihnen aufgetischt hatte. Die Flucht war allerdings nur teilweise gelungen. Goman-Largo hatte zwar den ferngesteuerten Usyll vernichten können, aber dann hatte das Robotschiff der Zeitwächter zugeschlagen – und sein Dimensionskatapult hatte das Raumschiff der Vigpanderin in einen Mahlstrom aus n-dimensionalen Energien versetzt. Dort war es in entstofflichtem Zustand mit der hyperdimensionalen Struktur eines anderen Schiffes kollidiert, das sich ebenfalls im Mahlstrom befand. Es war Animas Raumschiff gewesen, aber die Begegnung hatte keineswegs freundlichen Charakter gehabt. Vielmehr waren Anima einerseits und Neithadl-Off und Goman-Largo andererseits mit allen verfügbaren Mitteln aufeinander losgegangen, weil sie sich vom jeweils anderen Schiff angegriffen fühlten. Nachdem der Mahlstrom sie ausgespien hatte, waren sie nach kurzem Kampf zu Verbündeten geworden, weil ein gemeinsamer Gegner aufgetaucht war: Raumschiffe der Phyloser. Bei dieser Gelegenheit hatte die Vigpanderin auch die Zeit-Transfer-Kapsel Krell-Nepethets entdeckt, des Hepathers, der in der Maske eines Phylosers dem Imperator des phylosischen FünfSterne-Reiches als Berater zur Seite gestanden hatte und in Wirklichkeit der heimliche Herrscher gewesen war. Damals hatte Neithadl-Off jedoch nicht geahnt, daß es sich um eine Zeit-TransferKapsel handelte. Sie hatte die in einem Meteoriten verborgene Röhre als geheime Raumstation angesehen. Die drei mußten sich in die Gefangenschaft der Phyloser begeben, weil sie zuvor ihre beiden Schiffe gegenseitig so zusammengeschossen hatten, daß sie unbrauchbar geworden waren. Sie erhofften sich jedoch bei den zwergenhaften Hominiden die Erreichung einer Art Vorrangstellung, weil sie ihnen mit ihrem Wissen und Können unschätzbare Hilfe bei der Entwicklung eines Hyperantriebs leisten konnten. Der Hepather hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn er war in Panik geraten, als er vom Auftauchen Fremder erfuhr. Als Neithadl-Off ihm gegenüber beim Verhör noch dazu damit aufzutrumpfen versuchte, daß sie behauptete, die Siegelbewahrerin der Zeitgrüfte des Ordens der Zeitchirurgen zu sein, war es mit seinem klaren Denken vollends aus gewesen. Er hatte sie in eine Pseudolandschaft gesteckt, damit die Monstren, die er sich dort hielt, kurzen Prozeß mit ihnen machten. Da wußte er noch nicht, daß Neithadl-Off sein größtes Geheimnis entschleiern würde. Die drei entkamen durch einen Transmitter in die Zeit-Transfer-Kapsel – und als er ihnen folgte, wurde er durch eine seiner eigenen Waffen getötet. Die Phyloser erkannten sie daraufhin als wertvolle Hilfskräfte an. Vor allem die Hyperphysikerin Enerschi-Upp war bereit, eng mit ihnen an der Entwicklung eines Hyperantriebs zusammenzuarbeiten. Doch Sabotage oder Schlamperei ließ einen wichtigen Versuch mit dem einzigen Teilchenbeschleuniger auf Niarmena, dem kleineren Trabanten von Phylos, in einer Katastrophe enden. Die drei sowie Enerschi-Upp wurden zur FESTUNG des Imperators auf dem anderen Trabanten von Phylos, Preet zitiert. Sie befanden sich im Landeanflug und in völliger Ungewißheit, welches Schicksal ihnen der Imperator zugedacht hatte, als Raumschiffe einer rebellierenden Kolonie der Phyloser angriffen. Die drei entkamen in die FESTUNG und wären dort wahrscheinlich von Raumlandetruppen der Rebellen eingeholt worden, wenn der Transmitter des Hepathers sich nicht plötzlich aktiviert und die Flüchtlinge regelrecht gezwungen hätte, ihn zu benutzen. Kaum waren sie in der Zeit-Transfer-Kapsel rematerialisiert, offenbarte dieses Gerät seine wahre Natur und fädelte sich in die Nullzeit-Spur ein, die in der uralten Zeitgruft auf Mohenn endete. Auch dort gab es Mißverständnisse und Verwicklungen und einen Zusammenstoß mit einem früheren Zeitreisenden, einem absolut fremdartigen Wesen, das irgendwann mit seiner ZeitTransfer-Kapsel auf Mohenn gestrandet war, weil sein Gerät bei der Ankunft zu Bruch gegangen
war. Der Fremde hatte sich das Steuergerät aus der Kapsel der drei angeeignet und versucht, mit dieser Kapsel zu entkommen. Es war ihm mißglückt, weil die betreffende Kapsel sich inzwischen auf Anima eingestellt hatte und ihm deshalb den Gehorsam verweigerte. Er starb kurz darauf. Die drei aber hatten sich, nachdem sie den Fremden auf Mohenn begraben und sich mit Nahrungsmitteln und Getränken versorgt hatten, auf einen Erkundungsflug mit ihrem Time-Shuttle begeben, weil sie wußten, daß der Planet Mohenn eine Sackgasse für sie war. Und nun sah es ganz danach aus, als würde der Erkundungsflug mit neuen Verwicklungen oder gar noch Schlimmerem enden… * Als über die Oberfläche der schwarzen Projektionsplatte ein geheimnisvolles Flimmern tanzte, wußte Goman-Largo, daß der Rücksturz von der Nullzeit-Spur ins normale Raum-Zeit-Kontinuum bevorstand, denn genauso hatte er sich beim erstenmal angekündigt. Durch Animas Körper lief ein Zittern, dann legte die Hominidin ihre Hand wieder auf die obere Kugel des Steuergeräts. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber sie sahen nichts von der realen Umgebung, sondern schienen von einem Traum gefangen zu sein. Der Modulmann konnte nachfühlen, was in Anima vorging. Er hatte es selber schon erlebt. Über den körperlichen Kontakt mit dem Steuergerät wurde das betreffende Wesen indirekt in eine Welt von Pseudo-Wahrnehmungen katapultiert, die ein gewisses Verständnis für die Vorgänge beim ZeitTransfer vermittelten und eine Lenkung des Time-Shuttles durch das Nichts zwischen den Zeitgrüften erlaubten. »Atlan!« stammelte Anima. »Gib ein Zeichen, mein Ritter!« »Unheil!« pfiff Neithadl-Off, als auf den Bildflächen der Außenbeobachtung statt dem erwarteten, scheinbar unendlichen Meer grell leuchtender Lichtfunken ein fahler Nebel auftauchte, in dessen Zentrum sich ein kreisförmiger schwarzer Fleck befand. Im nächsten Moment erlosch der Nebel wieder – und die Zelle des, Time-Shuttles kreischte gequält auf, während das Vehikel sich schüttelte. Doch nur wenige Sekunden später glitt es ruhig dahin, während die Bildflächen ein Meer von punktförmigen Lichtquellen vor dem Hintergrund einer Dunkelheit zeigten, die gegen die Finsternis auf der Nullzeit-Spur direkt anheimelnd wirkte. Der vertraute Weltraum. Das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum. Anima seufzte und öffnete die Augen. Ihr Bewußtsein schien die Realität jedoch noch nicht wahrzunehmen, denn sie sah ausdruckslos und starr geradeaus. Goman-Largo atmete auf. »Zumindest sind wir nicht in einer Falle gelandet, wie du prophezeit hattest«, wandte er sich an Neithadl-Off. »Das denkst du, weil du naiv bist«, gab die Parazeit-Historikerin zurück. »Auf meinen Forschungsreisen im Sektor des Denkenden Mondes von Sparkh entdeckte ich die Aufzeichnungen eines sogenannten Sternenjägers. Sie berichteten von einem Flug mit einem Quintadimsegler, unter dem ich damals ein normales Raumschiff mit Hyperantrieb verstand. Heute halte ich es für etwas Ähnliches wie unser Time-Shuttle. Der Sternenjäger sagte in seinen Aufzeichnungen etwas über ein Hyperschwerkraft-Phänomen aus, in das der Quintadimsegler geraten war, nachdem er einen
sogenannten Fixpunkt verfehlt hätte.« »Aha!« machte der Tigganoi. »Und du denkst, mit diesem Fixpunkt sei so etwas wie eine Zeitgruft gemeint gewesen?« »Nicht so etwas, sondern eine Zeitgruft«, korrigierte ihn Neithadl-Off. »Also, der Sternenjäger behauptete, daß jeder Quintadimsegler in der Gefahr schwebte, das Opfer eines HyperschwerkraftPhänomens zu werden, falls er einen Fixpunkt verfehlte. Dabei würden die Kräfte des Mahlstroms ihn fast stets in seine subatomaren Teilchen zerlegen.« »Ich verstehe«, sagte Goman-Largo beunruhigt und musterte die Bildflächen intensiver. »Du sprichst von einem Schwarzen Loch, Prinzessin – und du fürchtest, auch wir könnten in den Anziehungsbereich eines Schwarzen Lochs geraten.« »Wahrscheinlich befinden wir uns schon darin«, behauptete Neithadl-Off und wandte sich an Anima. »Komm zu dir!« pfiff sie erregt. »Du müßtest doch über das Steuergerät spüren, ob wir in den Sog eines Schwarzen Lochs geraten sind.« Animas Augen veränderten sich. Der Ausdruck von Geistesabwesenheit verschwand fast schlagartig aus ihnen. Ihr Blick wurde hellwach und drückte zugleich Entsetzen aus. »Wir befinden uns im Sog!« stieß sie hervor. »Ich spüre es. Das Time-Shuttle wird genau ins Zentrum eines Black Holes gerissen.« »Eines Black Holes?« fragte Goman-Largo. »Eines Schwarzen Lochs. Atlan verwendete dafür oft den Begriff Black Hole.« Animas Stimme wurde schrill. »Aber wir werden durch das Black Hole gezogen – auf die andere Seite und damit in ein anderes Universum. Das dürfen wir jedoch nicht. Atlan ist auf dieser Seite und nicht auf der anderen, sonst hätte das Steuergerät sich nicht auf mich einstellen können. Es muß Atlans Präsenz in diesem Universum gespürt haben.« »Hauptsache ist aber doch, daß wir heil durchkommen«, wandte Neithadl-Off ein. »Danach können wir immer noch weitersehen.« »Nein!« schrie Anima gequält. »Du begreifst nichts. Atlan ist mein Leben. Ein Universum ohne Atlan wäre nichts weiter als ein Grab für mich.« »Ein Grab für dich, aber nicht für Atlan«, meinte Neithadl-Off. »Du darfst nicht nur an dich denken.« »Das verstehst du nicht«, gab Anima zurück. »Atlan braucht mich. Ohne mich könnte er seiner Bestimmung nicht gerecht werden.« »Große Worte!« spottete die Vigpanderin. »Nein, nein!« erwiderte Anima heftig und wandte sich hilfeheischend an Goman-Largo. »Atlans Bestimmung existiert real. Sie wurde von den Kosmokraten vorgegeben. Er ist etwas Besonderes.« »Ein Halbgott«, stellte Goman-Largo fest. »Auch du spottest?« fragte Anima gekränkt. Der Tigganoi schüttelte den Kopf, daß sein rotbraunes Lockenhaar flog. »Ich meinte es ernst, denn ich weiß, daß es solche Wesen gibt, die von übergeordneten Mächten für etwas ganz Bestimmtes vorgesehen sind: Intelligenzen mit edler Gesinnung und hohen Idealen, die nicht um des Kampfes willen kämpfen, sondern nur aus der Notwendigkeit der Pflichterfüllung heraus«, erklärte er. »Der Begriff ›Halbgott‹ ist nur einer von vielen Titeln, die man solchen Wesen zu geben pflegt.« »Ja!« hauchte Anima. »Hilf mir, Modulmann!«
»Ich werde es versuchen«, versicherte Goman-Largo, stieg in den Kontrollraum und kauerte sich neben sie. »Dieses Time-Shuttle hat keine Raumsteuerung wie normale Raumschiffe. Deshalb kann ich nicht in seinen räumlichen Kurs durchs vier-dimensionale Raum-Zeit-Universum eingreifen. Ich könnte höchstens versuchen, seinen komplizierten Antrieb mit Hilfe einiger meiner Module zu beeinflussen. Aber das geht nicht ohne geistige Rückkopplung mit der Steuerung.« »Übernimm du das Steuergerät!« bat Anima bereitwillig und ließ den Knauf des Steuergeräts los. »So einfach ist das nicht«, entgegnete Goman-Largo. »Das Time-Shuttle hat sich auf dich eingestellt und gehorcht nur dir. Ich könnte höchstens etwas erreichen, wenn wir uns beide auf seine Steuerung konzentrieren.« »Dann lege deine Hand auf meine!« forderte Anima und umfaßte abermals den Knauf des Steuergeräts. »Das wollte ich damit sagen«, erklärte Goman-Largo und legte seine rechte Hand auf die der Hominidin. »Oh!« pfiff Neithadl-Off eifersüchtig. Doch dann sah die Parazeit-Historikerin ein, daß solche Gefühle unter den gegebenen Umständen völlig fehl am Platz waren und daß der Modulmann tatsächlich keine Hintergedanken hegte. »Gebt euch Mühe!« bat sie und zog ihr Kombinationsgerät aus dem Futteral. »Ich werde unterdessen einen Bericht über unsere bisherigen Erlebnisse sprechen, damit die von uns gesammelten Informationen nicht verlorengehen, falls die Abgründe von Zeit und Raum uns verschlingen sollten.« Sie hielt das Gerät mit der Lamellenseite an ihre schmale Mundleiste und blies ihre Aufzeichnungen hinein…
2. Goman-Largo hatte das Empfinden, ein lichtjahreweit entferntes helles Summen zu hören. Natürlich wußte er, daß es sich dabei nur um Pseudo-Wahrnehmungen handelte, die durch den physischen Kontakt mit dem Steuergerät der Zeit-Transfer-Kapsel zustande kamen, aber er mußte sich dieses Wissen immer wieder neu ins Bewußtsein rufen, damit die Pseudo-Wahrnehmungen ihm nicht als die Realität erschienen. Gleichzeitig durfte er sie nicht verdrängen, denn dann wäre die geistige Rückkopplung mit der Steuerung zusammengebrochen, und er hätte den Antrieb des TimeShuttles nicht mit Hilfe seiner Module beeinflussen können. Unter diesen Umständen genügte es nicht, zweigleisig zu denken – was ohnehin schwierig genug war –, nein, dabei war dreigleisiges Denken gefordert, denn es mußte ein immaterieller Verbund zwischen dem Modulmann, dem Time-Shuttle und den Modulen geschaffen und aufrechterhalten werden. Die Module…! Ab und zu blitzten Bruchteile der Erinnerungen Goman-Largos in sein Bewußtsein, während er um den Einfluß auf die Steuerung des Zeit-Transfer-Vehikels rang. Er war ein Tigganoi. Aber er war wiederum auch kein Tigganoi. Zwischen beiden Prädikatsnomen lag das, was auf der Zeitschule von Rhuf mit ihm angestellt worden war. Dominierend in diesem Prozeß war zweifellos die Aufpfropfung von zahllosen winzigen Funktionseinheiten, sogenannten Modulen, in seinen Körper gewesen, eine Behandlung, die nur Angehörige des Volkes der Tigganois über sich ergehen lassen konnten. Goman-Largo war dadurch aber keineswegs ein Halbroboter oder Androide geworden, sondern ein vollwertiges echtes Lebewesen geblieben, denn die Module entstammten keiner technischen Produktion, sondern waren biologisch gewachsen. Aber die Fähigkeiten, die diesen Modulen während ihres Wachstums genotronisch, das hieß gentechnisch-positronisch, aufgeprägt worden waren, standen dem neuen Goman-Largo zur Verfügung. Er war durch sie zum Modulmann geworden. Ungeahnte Möglichkeiten warteten auf ihn. Nur kannte er sie nicht von vornherein. Aber er würde alle seine auf den Modulen beruhenden Fähigkeiten kennenlernen: nach und nach, sobald ihr Bedarf für ihn akut wurde und er sich dazu zwingen konnte, sein Bewußtsein auf ihre Erschließung zu konzentrieren. Beides, der dringende Bedarf und ein Höchstmaß an Konzentration zur Erschließung der jeweiligen Fähigkeiten, mußte zusammenkommen, damit die Module ihren Zweck erfüllten. Das ließ sich nicht nach Belieben erzwingen. Deshalb war Goman-Largo alles andere als ein Supermann. Eine Situation mußte schon überkritisch werden, um ihn zu einem beinahe akrobatischen Kraftakt des Willens zu veranlassen, der zur Anwendung eines Moduls oder mehrerer Module erforderlich war. In diesem Fall waren es zwei Module. Beziehungsweise anderthalb, denn es erwies sich, daß eines der beiden Module nur sporadisch funktionierte, wodurch sein Wert um mindestens die Hälfte des ursprünglichen gesunken war. Goman-Largo nahm an, daß es sich bei diesem Modul um eines von jenen handelte, die während der Stasis irreparabel geschädigt worden waren. Das erschwerte eine Beeinflussung der Steuerung des Time-Shuttles durch ihn zusätzlich. Dazu kam der Zeitdruck, der es nicht erlaubte, daß der Modulmann nach Möglichkeiten suchte, um den Schaden mit Hilfe eines anderen Moduls wenigstens zu kompensieren.
Die Pseudo-Wahrnehmung des Summens nahm zu und schien alle anderen Wahrnehmungen überlagern zu wollen. Nur wie aus weiter Ferne vernahm Goman-Largo, was Neithadl-Off in ihr Aufzeichnungsgerät sprach. Doch das Wenige reichte aus, um ihn in einem Winkel seines Bewußtseins noch nachdenklicher zu stimmen, was die Parazeit-Historikerin betraf. Neithadl-Off flocht nämlich in ihren Bericht Berechnungen über Faktoren ein, die sie eigentlich nicht kennen konnte. Das brachte den Modulmann ins Grübeln, denn er hatte bisher fast stets von allem, was die Vigpanderin behauptet hatte, von vornherein sechzig Prozent als frei erfunden abgezogen. Er ließ sich auch durch die neuesten Erkenntnisse nicht davon abbringen, daß sie mit der Wahrheit etwa so leichtfertig umging wie so mancher Händler mit flotten Sprüchen, aber er konnte sich der Einsicht nicht ganz verschließen, daß hinter Neithadl-Offs Lügengespinsten zumindest ein Körnchen Wahrheit verborgen war – und manchmal vielleicht sogar eine ganze Tonne. Unwillkürlich wandte der Modulmann diese Berechnungen bei seinen Bemühungen an. Mit durchschlagendem Erfolg. Allerdings von der Art eines Schusses in den Ofen. Denn statt sich wieder in die Nullzeit-Spur einzufädeln und die Bewegung zum nächsten Fixpunkt fortzusetzen, wie der Modulmann es beabsichtigt hatte, erhöhte das Time-Shuttle seine Fallgeschwindigkeit auf das Zentrum des Schwarzen Loches. Natürlich gab es keine echten Ortungsanzeigen, aber die in sein Bewußtsein überspielten PseudoWahrnehmungen waren so drastisch, daß sie keinen Zweifel darüber aufkommen ließen, was mit dem Time-Shuttle vorging. Goman-Largo mußte einsehen, daß er nicht einfach Berechnungen übernehmen und anwenden konnte, ohne ihren Sinn und Zweck vollständig begriffen zu haben. Er gab diesen Versuch auf und konzentrierte sich stärker auf seine beiden Module. Allmählich verringerte sich die Fallgeschwindigkeit wieder. Dennoch hielt das Time-Shuttle weiterhin unverändert auf das Schwarze Loch zu. Bis der Modulmann begriff, daß er einen entscheidenden Fehler begangen hatte. Er hätte Neithadl-Offs Behauptung, jeder Quintadimsegler beziehungsweise jede Zeit-TransferKapsel schwebe in Gefahr, das Opfer eines Schwarzen Loches zu werden, wenn er einen Fixpunkt verfehlte, zu einseitig ausgelegt. Prinzipiell stimmte diese Behauptung zwar, aber in diesem Fall war der Fixpunkt beziehungsweise die Zeitgruft nicht wegen einer Fehlsteuerung verfehlt worden, sondern weil der Fixpunkt nicht mehr vorhanden war. Er befand sich nicht mehr in diesem Universum, denn der Planet, zu dem er einst gehört hatte, war durch das Black Hole gestürzt, in das sein Muttergestirn sich irgendwann verwandelt hatte. Folglich konnte das Time-Shuttle nicht dadurch daran gehindert werden, ihm zu folgen, indem seine Ausrichtung auf den betreffenden Fixpunkt mehr und mehr verstärkt wurde. Im Gegenteil. Die Ausrichtung mußte aufgehoben werden, wenn sie sich nicht verhängnisvoll für das TimeShuttle und seine Besatzung auswirken sollte. Falls es nicht schon zu spät dazu war. Innerhalb seiner Pseudo-Wahrnehmungen schlug der Modulmann eine unterschwellige geistige Brücke zum Bewußtsein Animas und veranlaßte sie, ihre Bemühungen umzustellen und mit seinen neuen Bemühungen zu koordinieren. Die beiden Module übertrugen diese vereinten Bemühungen anschließend auf die Steuerung der Kapsel.
Eine halbe Ewigkeit verging. Dann zerriß etwas gleich einer straffgespannten Instrumentensaite. Goman-Largos Bewußtsein wurde von einer stärkeren Kraft aus den Pseudowahrnehmungen katapultiert und von der Steuerung des Time-Shuttles getrennt. Mit einem gellenden Schrei fuhr er hoch und starrte auf eine der Bildflächen. Sie zeigte den »Schatten« des Black Holes, einen kreisrunden Ausschnitt des Universums auf der dem Time-Shuttle gegenüberliegenden Seite, von dem das Licht der Sterne niemals bei der Kapsel ankam, weil es vom Black Hole aus dem Raum gefischt und verschluckt wurde – vielleicht, um irgendwo im anderen Universum als Lichtfülle aus einem Objekt zu schießen, das dort als Quasar bezeichnet werden würde. Der Schattenkreis wuchs an – und Neithadl-Off sprach ihren Bericht schneller, weil sie sicher war, daß die Kapsel samt Inhalt schon bald endgültig von dem Schwarzen Loch verschlungen werden würde. Dann hieben Synkopen gleich stählernen akustischen Hämmern auf das Bewußtsein des Modulmanns ein und zertrümmerten es. Bevor sein Gesicht in der aufgewühlten Finsternis versank, nahm er noch wahr, daß es Neithadl-Off und Anima ähnlich erging. Dann ließ er sich in die Erlösung hineinfallen… * Irgendwann fügten sich die Splitter seines Bewußtseins gleich den Teilen eines gigantischen Puzzlespiels wieder zusammen – und der Modulmann kam schweißgebadet zu sich. Im ersten Moment schien alles normal zu sein: das Innere der Zeit-Transfer-Kapsel, sowie NeithadlOff und Anima, die beide ebenfalls erst allmählich zu sich kamen. Aber Goman-Largo glaubte nicht daran, denn so viel wußte er von Schwarzen Löchern, daß alles, was in die Singularität im Zentrum eines Schwarzen Loches geriet, nicht mehr den bekannten physikalischen Gesetzen unterlag – was zugleich bedeutete, daß es seinen Zustand nicht selbst zu erkennen vermochte. Nur zögernd blickte er zu den Bildflächen und sah, daß sie eine unbeschreibliche Finsternis abbildeten. Doch auch das half ihm nicht weiter, denn diese Finsternis, die typisch war für die Nullzeit-Spur, konnte durchaus auch im Zentrum eines Schwarzen Loches herrschen. Er wandte sich um und sah Neithadl-Off an. Die Vigpanderin stand unsicher auf ihren sechs Gliedmaßen und schob soeben ihr Aufzeichnungsgerät wieder ins Futteral zurück. Die graugrün schimmernde »Lederhaut«, die das Äquivalent zum Rumpf eines hominiden Lebewesen darstellte, war nicht feucht wie meist, sondern trocken und schien von innen heraus zu glühen, ein Zeichen für ihre hochgradige innere Erregung. »Wo sind wir?« fragte Goman-Largo hilflos. »Natürlich auf der Nullzeit-Spur zu einer Zeitgruft«, pfiff Neithadl-Off scheinbar unbekümmert. »Nachdem du deinen Fehler korrigiert hattest, schrammten wir sozusagen vor der diesseitigen Öffnung des Schwarzen Loches vorbei und wurden von ihm weg katapultiert. Das war übrigens nur möglich, weil du vorher die Annäherungsgeschwindigkeit an das Schwarze Loch drastisch erhöht hattest. Nur mit dem dadurch erzeugten Schwung kamen wir aus dem superstarken Gravitationsfeld heraus.«
»Bist du sicher?« erkundigte sich der Modulmann und sah zur gleichen Zeit ein, daß es logisch klang, was Neithadl-Off behauptet hatte. »Ich bin schließlich eine Parazeit-Historikerin und habe schon als Kind mit Zeitmaschinen gespielt«, gab Neithadl-Off gekränkt zurück. »Ja, wir sind auf einer Nullzeit-Spur!« flüsterte Anima und versuchte, durch den Kontrollraum zum ’ Steuergerät zurückzukriechen, von dem sie gleich Goman-Largo von einer unfaßlichen Kraft weggeschleudert worden war. »Ich fühle es mit allen meinen Fasern durch den Boden des TimeShuttles hindurch.« Goman-Largo erschauderte, denn er spürte nichts und fragte sich, welche Kräfte die rätselhafte Hominidin besaß, daß sie etwas fühlte, was ihm trotz seiner Module verschlossen blieb. In einer Art von lichtem Moment wurde ihm klar, daß er im Grunde genommen weder Anima noch Neithadl-Off richtig kannte. Doch das galt auch umgekehrt – und das tröstete ihn wieder. »Auf einer Nullzeit-Spur«, wiederholte er nachdenklich. »Fragt sich nur, auf welcher – beziehungsweise zu welcher Zeitgruft.« »Ja, das ist eine gute Frage«, meinte Neithadl-Off. »Aber wenn ich es recht bedenke, kommt nur eine Nullzeit-Spur in Frage, die, von der wir gekommen sind.« »Also kehren wir nach Mohenn zurück?« fragte der Modulmann. »Wohin sonst!« pfiff die Vigpanderin. »Na, schön!« gab sich Goman-Largo geschlagen. »Du bist beinahe allwissend, Prinzessin.« Ihm fiel etwas ein. »Aber vielleicht kannst du uns dann auch verraten, was das für grauenhafte Klänge waren, die wir hörten, als wir an der diesseitigen Öffnung des Schwarzen Loches vorbeirasten.« »Klänge?« echote Anima. »Ich hatte das Gefühl, etwas würde jedes Atom meines Körpers zertrümmern.« »Es waren Signale«, behauptete Neithadl-Off keck. »Signale der Zeitgruft, die im Black Hole verschwunden ist.« »Jetzt habe ich dich erwischt!« rief Goman-Largo triumphierend. »Wie jeder weiß, kann nichts aus einem Schwarzen Loch entfliehen: weder Licht – noch andere Signale, folglich auch keine Signale der im Schwarzen Loch verschwundenen Zeitgruft.« Die Sensorstäbchen, die die Vigpanderin in seine Richtung streckte, liefen blaurot an. »Du nennst dich einen Spezialisten der Zeit!« stellte Neithadl-Off verächtlich fest. »Aber du weißt nicht einmal, daß selbst eine totale Singularität keine Nullzeit-Spur restlos zertrümmern kann. Ein schwacher Rest bleibt stets erhalten – und wenn er auch keine materiell stabilen Körper zu transportieren vermag, so kann er doch als Medium für die immateriellen Signale einer Zeitgruft dienen.« Goman-Largo schluckte. »Auch aus einem Black Hole hinaus?« »Wie kannst du das fragen, wenn du die Signale selbst gehört hast?« erkundigte sich die ParazeitHistorikerin vorwurfsvoll. »Ist das nicht Beweis genug?« Aber wofür? wollte der Modulmann fragen. Er sah davon ab, weil er sich klar darüber wurde, daß er gegen die Argumente Neithadl-Offs niemals ankam, wenn sie fest entschlossen war, recht zu behalten. Dennoch blieb der Stachel des Zweifels in ihm haften, denn seiner Meinung nach hatten die synkopischen Klänge eher den Charakter einer Reviermarkierung durch unfaßbare Mächte gehabt. Vielleicht durch den Orden der Zeitchirurgen?
Für einige Zeit existierte für ihn nichts weiter als diese Frage, denn noch immer war es sein erstrangiges Ziel zu ermitteln, ob es den Orden der Zeitchirurgen noch gab – und was er sich einmal als Ziel auserkoren hatte, daran hielt er eisern fest. Außerdem erregte ihn unvermindert der bloße Gedanke an jene geheimnisvolle und uralte Organisation, die nicht nur mit seinem Schicksal, sondern mit den Schicksalen ganzer Evolutionslinien und Äonen Würfel gespielt hatte und eventuell noch spielte. Er mußte darüber völlig in Gedanken versunken gewesen sein, denn als er durch aufgeregtes Rufen seiner Gefährtinnen wieder in die Gegenwart geholt wurde, stellte er fest, daß seit dem Entkommen aus dem Schwerkraftfeld des Schwarzen Loches fast zwei Stunden vergangen waren. Ein Blick auf die Bildflächen zeigte ihm ein scheinbar unendliches Meer grell leuchtender Lichtfunken, erfahrungsgemäß das optische Indiz dafür, daß das Time-Shuttle sich im Übergang von der Nullzeit-Spur ins vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum befand. »Du bist absolut sicher, daß wir auf Mohenn ankommen, Prinzessin?« wandte er sich an NeithadlOff. »Absolut!« pfiff die Parazeit-Historikerin. »Wann?« vermochte der Modulmann sich nicht zu enthalten zu sticheln. »Tausend Jahre vor unserer ersten Ankunft oder tausend Jahre danach?« »Du hast es immer noch nicht begriffen, Modulmann«, pfiff Neithadl-Off. »Zwischen den Zeitgrüften bedeutet auch zwischen den Zeiten. Das heißt, daß der Transfer zwischen zwei Zeitgrüften ohne meßbaren Zeitverlust vor sich geht. Wenn du also von einer Zeitgruft zur anderen fährst, kommst du zum gleichen Zeitpunkt ans Ziel, an dem du gestartet bist.« Goman-Largo versuchte, seine Skepsis zu verbergen. Er konnte es einfach nicht glauben, daß die Vigpanderin so gut Bescheid wußte. Schließlich hatte sie einen Großteil ihrer Erinnerungen verloren. Außerdem saßen ihr die Lügen viel zu locker, als daß sie jedesmal gründlich genug nachdachte, bevor sie eine Frage beantwortete. »Du glaubst mir nicht«, pfiff Neithadl-Off betrübt. »Dabei solltest du inzwischen aus Erfahrung gelernt haben, daß meine Informationen immer stimmen.« »Seid still!« mahnte Anima. Sie ließ den Knauf des Steuergeräts los, den sie die ganze Zeit mit der linken Hand umschlossen gehabt hatte. Auf den Bildflächen erloschen die Lichtfunken. An ihre Stelle traten kreiselnde Nebelschwaden, die sich langsam zerstreuten. Und aus ihnen schälten sich die Konturen des Zielorts heraus. * »Tatsächlich!« rief Anima erleichtert aus. »Es ist die Steinsetzung der Mohennas!« »Auch du hattest also gezweifelt!« pfiff Neithadl-Off. »Habt ihr immer noch nicht begriffen, was es heißt, eine Parazeit-Historikerin wie ich zu sein! Eigentlich müßtest du es wissen, Modulmann«, wandte sie sich an Goman-Largo. »Schließlich hast du von dir behauptet, du wärst ein Spezialist der Zeit.« »Dazu wurde ich auf der Zeitschule von Rhuf ausgebildet«, bestätigte Goman-Largo. »Aber dort wußte man zu jener Zeit entweder noch nichts über Existenz und Funktionsweise der Zeit-TransferKapseln – oder die betreffenden Informationen befanden sich in jenem Teil meiner Erinnerungen,
der während der Stasis gelöscht wurde.« »Seid still!« mahnte Anima. »Der Chor der Geister!« Goman-Largo lauschte konzentriert – und wie beim erstenmal vernahm er die auf- und absteigenden Vokallaute, die an gesummten Chorgesang erinnerten. Aber im Gegensatz zu damals erkannte er diesmal sofort, daß es sich nicht um akustische Phänomene handelte, sondern um mentale. Angestrengt musterte er die Bildflächen, um eine eventuelle Veränderung des Aussehens der Umgebung zu erkennen. Doch das Bild war das gleiche wie bei der ersten Ankunft auf Mohenn. Je ein kleiner und ein großer Kreis aus zirka fünf Meter hohen, säulenartigen Vierkantblöcken aus Sandstein, von denen immer zwei von einem flachliegenden Block überspannt wurden, dazwischen goldgelber Sand und davor Schalen, Körbe und Krüge mit den bekannten Opfergaben. Die Trilithen warfen lange Schatten von Ost nach West; Anzat, das blauweiße Muttergestirn, war eben erst aufgegangen. »Seht ihr Eingeborene?« pfiff Neithadl-Off. »Es sind keine Eingeborenen da«, erwiderte Anima. »Wahrscheinlich schlafen sie um diese Zeit noch.« Sie wollte offensichtlich noch mehr sagen, aber da wurde sie gewahr, daß der Modulmann ihr Zeichen gab, sich nicht länger mit Reden aufzuhalten, sondern das Schott des Time-Shuttles zu öffnen. Die Hominidin nickte kaum merklich und eilte dann zum Schott. Es öffnete sich, kaum daß sie davor stehengeblieben war. Eisige Kühle zog herein und breitete sich aus. Anima sprang aus der Kapsel und eilte über den Sand. Goman-Largo folgte ihr, sprang wie sie über den Graben, erkletterte den Ringwall aus Erdreich und Flechtwerk und blickte anschließend auf den Grabhügel hinab, der sich am Fuß des Heiligtums der Signer aus dem hellgrünen Gras dieser Landschaft erhob. Nein, nicht mehr erhob! Goman-Largos Brust hob und senkte sich unter einem tiefen Atemzug, als er sah, daß der Erdhügel des Grabes, unter dem seine Gefährtinnen und er das fremde Wesen bestattet hatten, das sich lange Zeit unter der Gestalt des xorischen Heerführers Narunn verborgen gehabt hatte, tief eingesunken war. Zwei Tage, nachdem sie den Hügel errichtet hatten, waren sie mit dem Time-Shuttle gestartet. Wenn Neithadl-Offs Behauptung stimmte, daß zwischen den Zeitgrüften keine Zeit verstrich, durften sie bestenfalls ein paar Stunden verloren haben, wenn überhaupt. - Goman-Largo hatte keine Ahnung, wieviel Zeit ein Grabhügel aus lockerer Erde brauchte, um in sich zusammenzufallen, aber er war sicher, daß das länger als ein paar Tage dauern würde. Mindestens eine Dekade. Der Modulmann brauchte die Miene Animas nicht lange zu studieren, um herauszufinden, daß sie wie er darüber dachte – und als er außerdem den grünen Flaum junger Grasspitzen auf dem Grab entdeckte und mehrere verwelkte und verdorrte Blumensträuße, glaubte er zu wissen, daß die Zeit ihnen einen Streich gespielt hatte. Zwanzig Tage, wenn nicht noch mehr, waren seit ihrem Start von der Zeitgruft auf Mohenn verstrichen. »Ich weiß, was in euren Gehirnen vorgeht!« pfiff Neithadl-Off entrüstet hinter Anima und GomanLargo. »Ihr bildet euch immer noch ein, mich nicht ernst nehmen zu müssen. Dabei müßte es euch bei ein klein wenig Nachdenken gelungen sein, die Ursache für den Zeitverlust zu ergründen, den
wir zweifellos erlitten haben.« »Ich kannte sie schon, bevor wir hierher zurückkehrten«, erklärte der Modulmann. »Mit ein wenig logischem Denken war nämlich ein gewisser Zeitverlust zu erwarten gewesen. Die Ursache war das Schwarze Loch, in dessen Singularität wir schon ein Stück hineingerutscht waren – zumindest in die aus seinem Zentrum emittierende Streuwirkung seiner Singularität. Wir konnten also gar nicht im Augenblick unseres Starts nach Mohenn zurückkehren.« »Oh, du Heuchler!« pfiff Neithadl-Off kläglich. »Du hast es die ganze Zeit gewußt, aber nicht ein Wort darüber verloren, obwohl ich dich erst darauf gebracht hatte!« Zu seiner eigenen Verwunderung traf den Modulmann der Vorwurf Neithadl-Offs, ein Heuchler zu sein, schmerzhaft. »Nun, ja«, versuchte er abzuwiegeln. »So sicher war ich meiner Sache eben doch nicht, und ich wollte mich nicht blamieren.« »Dann solltest du nicht so dick auftragen«, erwiderte die Parazeit-Historikerin versöhnt. »Aber wir sind nicht hierher zurückgekehrt, um uns mit Nebensächlichkeiten zu befassen. Ich schlage vor, wir untersuchen die ehemalige Zeitgruft diesmal gründlich, bevor wir einen neuen Versuch riskieren.« »Einverstanden«, erwiderte Goman-Largo. Er nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und wirbelte herum. Erleichtert lachte er auf, als er das vierbeinige Huftier mit dem silbergrauen Fell, der weißen Mähne und dem weißen Schweif erblickte, das herangaloppiert kam, den Kopf mit der kleinen roten »Gesichtsmaske« so gesenkt, daß das Horn auf seiner Stirn waagerecht ausgestreckt war. »Nussel!« rief er und winkte. Das Einhorn hob den Kopf und wieherte, dann verfiel es in einen leichten Trab – und wenige Meter vor den Zeitreisenden blieb es stehen. »Es ist schön, euch wiederzusehen«, sagte es. »Ihr hattet euch nicht von mir verabschiedet, und ich fürchtete schon, ihr wärt auf Nimmerwiedersehen verschwunden.« Obwohl Goman-Largo nicht vergessen hatte, daß die Einhörner des Planeten Mohenn über eine erheblich größere Intelligenz verfügten als Angehörige äußerlich ähnlicher Arten, und daß sie nicht nur sprechen konnten, sondern über eine außergewöhnliche Begabung verfügten, fremde Sprachen schnell zu erlernen, mußte er abermals darüber staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit Nussel zu ihnen redete. »Wir hatten nicht vor, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden«, erklärte er. Und spürte sofort, wie fragwürdig diese Behauptung war, denn sie waren aufs Geratewohl aufgebrochen, ohne die geringste Ahnung, wohin das Time-Shuttle sie bringen würde und ob es von dort einen Weg zurück gäbe. »Bleibt ihr diesmal für immer hier?« erkundigte sich das Einhorn. »Nein«, antwortete Goman-Largo. »Nicht für immer, aber für einige Zeit. Wir wollen diesmal den Tempel genauer untersuchen, bevor wir uns auf eine neue Fahrt wagen.« »Ich möchte euch helfen«, sagte Nussel. »Wie könntest du uns dabei helfen?« gab Neithadl-Off zurück. »Du hast doch keine Ahnung von den Zeitgrüften und wie sie funktionieren.« »Das kann er vielleicht lernen«, meinte Anima und kraulte Nussel hinter den Ohren. »Atlan würde sich bestimmt freuen, dich kennenzulernen.« »Atlan?« echote Goman-Largo und wurde sich mit einemmal bewußt, wie neugierig er bereits
darauf geworden war, dieses Wesen kennenzulernen. »Dein Ritter befindet sich noch weit entfernt und tief in Raum und Zeit verborgen, Anima. Wir werden lange suchen müssen, um auch nur seine Spur zu finden.« »Vielleicht haben wir schon eine Spur gefunden, ohne es zu wissen«, pfiff Neithadl-Off und fuhr mit den versteiften Tastfäden ihrer Vordergliedmaßen über die Oberfläche des rechteckigen Stücks Metallplastik, das Anima seinerzeit als Grabmal in den Boden am Kopfteil des Grabes geschlagen hatte. »Du meinst die Beschriftung?« erkundigte sich Anima. »Genau«, bestätigte die Parazeit-Historikerin. »Sie ist auf Englisch gehalten – und wie du uns sagtest, wird Englisch nur in zwei winzigen Gebieten im Kosmos gesprochen: auf dem Planeten namens Erde und auf einer einsamen Welt in der Galaxis Alkordoom, die von einer Handvoll Terraner-Abkömmlingen bewohnt wird, mit denen Atlan für einige Zeit in Verbindung stand.« »Vielleicht hast du recht, und es ist eine Spur zu Atlan«, erwiderte Anima nachdenklich. »Zumindest ist die Beschriftung wahrscheinlich ein Beweis dafür, daß wir uns noch oder wieder im richtigen Universum befinden.« »Der zweite Beweis«, stellte Goman-Largo fest. »Der erste Beweis dafür war, daß du auf der Fahrt aus dem Ubnil-System nach Mohenn den psionischen Wellenschlag deines Ritters spürtest und dadurch die Kapsel unbewußt auf dich einstelltest.« »Ja«, gab Anima zu. »Und ich nehme an, das alles hat mit der besonders exponierten Position des Ubnil-Systems zu tun – beziehungsweise des gesamten Fünf-Sterne-Systems der Phyloser, das ja völlig frei in einer ansonsten Sternenlosen Region des Universums liegt und darum vielleicht offen für alles ist, das von einer beliebigen anderen Stelle desselben Universums kommt.« »This is a Time-Shuttle«, las das Einhorn von dem Grabmal vor. »Das stammt nicht von dem Fremden, der hinter Narunn war. Vielleicht hat der Fremde die Kapsel dem Wesen abgenommen, und es hinterließ diese Nachricht, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich möchte es kennenlernen.« »Es kann schon seit hunderttausend Jahren tot sein«, wandte Neithadl-Off ein. »Es kann aber auch noch leben«, meinte Nussel. »Wir nehmen dich mit«, erklärte Anima. Goman-Largo seufzte leise, denn er spürte, daß er sich wahrscheinlich damit abfinden mußte, daß er nicht länger an seinem ursprünglichen Ziel, jenen vom Orden der Zeitchirurgen nachzustellen, festhalten konnte. Animas Motivation, ihren Ritter wiederzufinden, würde sich früher oder später als stärker erweisen. »Erst einmal untersuchen wir das, was von der hiesigen Zeitgruft noch übrig ist«, sagte er. »Und zuvor werden wir mit den Xorern reden und sie um Erlaubnis fragen müssen«, fügte er hinzu, als er eine Reitergruppe sah, die den Weg zum Heiligtum entlangstob.
3. Es war ein beklemmendes Gefühl für Goman-Largo, als er mit Neithadl-Off und Anima durch den quadratischen Rahmen aus Metallplastik stieg, der sich im Boden unter der auf kubischen Steinblöcken liegenden Felsplatte befand, die sozusagen der Altar des Heiligtums der Signer war. Aber die Steintreppe, die durch die quadratische Öffnung ging, führte nicht zu einem beliebigen Tempel, sondern in das, was von einer Zeitgruft nach vielleicht Millionen Jahren noch übrig war: das Relikt eines Erzeugnisses von Wissenschaftlern und Technikern, deren Zivilisationen wahrscheinlich längst nicht mehr existierten. Was mochten diese Zivilisationen außer den Zeitgrüften sonst noch hervorgebracht haben, das für immer vergangen und vergessen war? Aber vielleicht war es gar nicht vergangen, sondern nur in schwer zugänglichen Parallelzeiten versteckt worden! Dieser Gedanke ließ Goman-Largos Herz heftig klopfen, denn er war wie eine großartige Verheißung. Wie viele unermeßliche Schätze und welches immense Wissen mochte auf den zahllosen verschiedenen Zeitebenen verborgen sein und nur darauf warten, wiederentdeckt zu werden! Und welche grauenhaften Gefahren! mahnte ihn eine innere Stimme. Die Furcht vor den unbekannten Gefahren gewann für Sekunden die Überhand in ihm – und er mußte sich mit weichen Knien auf die Steintreppe setzen, weil ihm schwindlig geworden war. Er erholte sich schnell wieder von diesem Schwächeanfall und wunderte sich nur darüber, daß seine Gefährtinnen sich nicht nach seinem Befinden erkundigten. Doch als er den Kopf wandte, erkannte er warum. Neithadl-Off und Anima hockten ebenfalls wie zwei Häufchen Elend auf den Treppenstufen – und oben lag das Einhorn am Eingang zum Treppenschacht, hatte den Kopf auf den Metallplastikrahmen gelegt und schnaubte leise mit weit geblähten Nüstern. Der Modulmann wischte sich mit dem Handrücken über, die Stirn und fühlte Feuchtigkeit. Angstschweiß! Er lächelte verzerrt und fragte sich insgeheim, ob Donora und die anderen Signerinnen und Signer nicht den besseren Teil erwählt hatten, als sie sich weigerten, den »entweihten« Tempel noch einmal zu betreten. Sie hatten den Göttern, als die sie die Zeitreisenden noch immer ansahen, allerdings nichts in den Weg gelegt, als diese ihre Absicht geäußert hatten, den Tempel zu erforschen. Das war allerdings kaum verwunderlich: Wer an Götter glaubt, stellt sich nicht gegen sie. Etwas anderes fiel ihm ein. »Du, Nussel!« wandte er sich an das Einhorn. »Kannst du uns eigentlich sagen, wie die Signer darauf kamen, diese Stelle des Planeten als Ort für ihr Heiligtum zu erwählen, um das sie die Steinkreise errichteten?« »Nicht die Signer haben diesen Ort erwählt«, erklärte Nussel. »Das waren wir Einhörner, als wir noch die Herren dieser Welt waren. Wir hatten festgestellt, daß hier zu bestimmten Zeiten der Gesang der Götter zu hören war – und wir versammelten uns zu diesen Zeiten an diesem Ort. Später, als die Mohennas die Herren dieser Welt waren, errichteten sie die Steinkreise und bauten die Treppe in den ehemals leeren Schacht. Sie waren es dann auch, die die Altarplatte darüber errichteten.«
»Der Gesang der Götter!« echote Anima. »Damit meint er sicher die auf- und absteigenden Vokallaute, die wir ebenfalls hörten.« »Und die an gesummten Chorgesang erinnerten«, ergänzte Neithadl-Off. »Es handelte sich nicht wirklich um akustische Phänomene, sondern um mentale«, korrigierte Goman-Largo. »Das ist mir schon klar«, meinte Neithadl-Off. »Es war die Seele der Zeitgruft, die ihren Klagegesang erschallen ließ.« Der Modulmann seufzte. Die poetische Verklärung eines prosaischen Tatbestands berührte ihn unangenehm, denn sie drohte etwas tief in ihm zu wecken, das er fürchtete, weil es ihn von der Erfüllung seiner Aufgaben abbringen konnte. Er riß sich gewaltsam zusammen und stand wieder auf. »Wir sollten nicht faul herumsitzen, sondern das tun, was wir uns vorgenommen haben!« erklärte er unwillig. Er setzte seinen Abstieg fort. Neithadl-Off und Anima folgten ihm. Die Hominidin führte dabei das Einhorn, das sich nicht davon abbringen ließ, sie zu begleiten, an einem der an seiner Gesichtsmaske befestigten Lederriemen. »Das Leben ist hypertemporal«, murmelte der Modulmann im Selbstgespräch. Als er in rund zwanzig Metern Tiefe den Boden des Treppenschachts und damit zugleich den Boden teilweise verschütteten Raumes mit kreisförmigem Grundriß erreichte, zog er die superflache Lampe aus dem Brustteil seiner Kombination und leuchtete umher. Nichts hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. Die Trümmer der Zeit-Transfer-Kapsel, mit dem der Fremde, der oben in seinem Grab lag, gekommen war, standen noch genauso herum, wie der Modulmann es in Erinnerung hatte. Und wie damals roch die Luft so sauber und klar wie auf der Höhe eines Schneegebirges. Nur war er diesmal nicht so stark auf die Trümmer der Zeit-Transfer-Kapsel fixiert, daß er die Bedeutung der sauberen Luft übersah. »Eine Klimaanlage!« flüsterte er. »Es gibt hier irgendwo eine funktionierende Klimaanlage! Ist das nicht phantastisch?« »Das denke ich nicht«, gab Neithadl-Off zurück und drehte sich langsam und mit weit ausgestreckten Sensorstäbchen im Kreis. »Zeitgrüfte sind für die Ewigkeit gebaut. Es ist nur logisch, daß das auch auf ihre technischen Servoeinrichtungen zutrifft.« Sie stieß einen mißtönenden Pfiff aus und stolperte unsicher, als die geisterhaften Vokallaute, die bisher immer nur bei der Ankunft in dieser Zeitgruft ertönt waren, sich wiederholten. Nur waren sie diesmal lauter als bisher – wenn sich auf ein mentales Phänomen dieses Prädikat anwenden ließ –, und sie wurden begleitet von einem durchaus realistisch wirkenden dumpfen Grollen und einem Beben des Bodens, das die drei Zeitreisenden haltsuchend umhertappen ließ und das Einhorn zum Scheuen brachte. Im nächsten Moment war es finster. Nussel schrie panikerfüllt. Goman-Largo schaltete seine Lampe in schneller Folge an und ab, bis er einsah, daß sie nicht mehr leuchten konnte. Nicht in einer Dunkelheit, die nicht auf Mangel an Licht beruhte!
»Wir werden durch die Zeit bewegt!« pfiff Neithadl-Off. Es klang hysterisch. »Modulmann, kannst du erkennen, ob es aufwärts oder abwärts geht?« Die offenkundige Hilflosigkeit der Parazeit-Historikerin ließ Goman-Largo seine Furcht vergessen, die ihn beinahe ebenfalls in Panik versetzt hätte. »Weißt du nicht mehr, was ich dir in der Zeitgruft von Xissas erklärt habe, Prinzessin?« rief er mit gutmütigem Spott. »In einer Zeitgruft muß man sich seitwärts in der Zeit bewegen, wenn man in eine Parallelzeit gelangen oder von dort in die erste Realgegenwart zurückkehren will.« »Das weiß ich«, gab Neithadl-Off zurück. »Aber ich fürchte, hier liegen die Dinge anders, und wir befinden uns entweder auf dem Weg in die Zukunft oder auf einem Sturz in die Vergangenheit.« »Nein«, erwiderte Goman-Largo. »Das ist unmöglich. Ich wüßte es. Die Agenten vom Orden der Zeitchirurgen haben es mir genau erklärt, bevor sie mich in mein Stasis-Gefängnis innerhalb einer Parallelzeitebene sperrten. Es sei denn…« Er verstummte, überwältigt von der neuen Erkenntnis, die sich anzubahnen begann. Neithadl-Off sprach aus, was er dachte – und sie formulierte es so, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, die ihr schon immer bekannt gewesen wäre. »Jetzt erinnere ich mich wieder«, pfiff sie melodisch. »Nur mit einem Time-Shuttle kann man innerhalb der Zeitgrüfte in die Zukunft steigen oder in die Vergangenheit hinabsinken. Zu Fuß ist nur die Bewegung durch die Parallelzeitebenen möglich.« »Aber ein Time-Shuttle paßt doch überhaupt nicht durch den Einstieg«, wandte Anima ein. »Es muß nicht räumlich in die Zeitgruft bewegt werden«, erklärte Neithadl-Off mit größter Selbstverständlichkeit. »Was von einer Plus- oder Minus-Zeitspur erfaßt wird, für das existiert kein Raum mehr – jedenfalls nicht für die Dauer des Zeittransports.« »Dann bin ich froh, daß wir nicht in unserem Time-Shuttle sitzen«, meinte Goman-Largo. »Warum?« erkundigte sich Anima. »Weil es dort, wo du den psionischen Wellenschlag deines Ritters gespürt hast, offensichtlich keine Zeitgruft gibt«, antwortete der Modulmann. »Wir könnten Atlan also niemals über eine Zeitgruft erreichen, sondern müssen außerhalb aller Zeitgrüfte manövrieren.« »Und du bist sicher, daß das geht?« fragte die Hominidin zweifelnd. »Selbstverständlich geht das«, pfiff Neithadl-Off. »Wozu ist der Modulmann denn ein Spezialist der Zeit, wenn er es nicht fertigbrächte, unser Time-Shuttle außerhalb der Grüfte in die Zeitspur einzufädeln, die uns zu deinem Ritter bringt!« »Oh!« rief Anima. »Dann bring uns hin, Modulmann! Sofort!« »Das geht leider nicht ohne unser Time-Shuttle«, entgegnete Goman-Largo. »Und das befindet sich nicht, hier. Du mußt schon Geduld haben, Anima – und Zeit.« Plötzlich war es wieder hell. Die gelbliche Helligkeit war nicht grell, sondern wohltuend – und sie kam gleichmäßig von allen Seiten. Und sie erhellte einen saalgroßen Raum mit kreisrundem Grundriß, der so aussah, wie der Raum unterhalb der Treppe vor Äonen ausgesehen haben mußte. Aber er war keineswegs identisch mit jenem Raum. Er befand sich nicht in der Zeit, aus der die drei Reisenden kamen und die sie mit Fug und Recht ihre erste Realgegenwart hätten nennen dürfen. Dieser Raum lag auf einer Ebene, die zeitlich parallel zur ersten Realgegenwart existierte – und er
schien völlig unversehrt zu sein. So unversehrt wie die Zeitgruft, zu der er gehörte… * »Wo sind wir?« fragte Anima erschrocken. Goman-Largo erklärte es ihr. »Aber dann kommen wir doch nie mehr an unser Time-Shuttle heran!« rief die Hominidin verzweifelt. »Wir haben ja eine Parazeit-Historikerin bei uns, die schon als Kind mit Zeitmaschinen gespielt hat«, konnte sich Goman-Largo nicht verkneifen zu sticheln. »Verlassen wir uns ganz auf sie, dann werden wir – schwupps – wieder in unserer ersten Realgegenwart sein.« Er blickte zu Neithadl-Off, vermochte aber keine Reaktion der Vigpanderin zu bemerken. Sie gab nicht einmal einen Kommentar – und das war allerdings außergewöhnlich. Der Spott verging Goman-Largo sehr schnell, denn er sah ein, daß sie tatsächlich von ihrem TimeShuttle abgeschnitten sein würden, wenn es ihm nicht gelang, den Rückweg zu finden – und er würde ihn niemals finden, wenn unter seinen Modulen nicht einige waren, die er für diesen Zweck einsetzen konnte. »Wartet!« bedeutete er seinen Gefährtinnen, als er sah, daß sie sich anschickten, die Wände abzusuchen. »Es gibt hier keinen räumlichen Ausgang.« »Wir müssen die Wächter der Zeitgruft finden«, erklärte Neithadl-Off. »Nur sie können uns zurückführen.« »Wir sollten lieber hoffen, daß es hier keine Wächter gibt«, erwiderte Goman-Largo ernst. »Sie werden nicht überall so senil und gutgläubig sein wie in der Zeitgruft von Xissas. Habt ein wenig Geduld! Ich versuche, uns einen Weg in die Kerkersektion zu öffnen, denn nur von dort aus könnte ich den Weg in unsere erste Realgegenwart finden.« »Kerkersektion?« echote Neithadl-Off mit dünnem Pfeifen. »Meinst du ein Stasis-Gefängnis wie das, in dem du gefangengehalten wurdest, bevor ich dich befreite?« »Richtig«, bestätigte der Modulmann. »Aber du brauchst keine Angst zu haben, dich in einem solchen Gefängnis zu fangen. Die Stasis kann nur geplant und vorprogrammiert aufgebaut werden. Niemand kann versehentlich hineintappen.« Er ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden nieder und versenkte sein Bewußtsein in die Konzentration, die notwendig war, um gezielt nach Modulen mit ganz bestimmten Fähigkeiten zu suchen. Wie lange er dazu gebraucht hatte, wußte er später nicht zu sagen. Er spürte nur irgendwann, daß seine Bemühungen Erfolg gehabt hatten und daß die betreffenden Module den Zeitpfad in die Kerkersektion stufenweise öffneten. Als er sich nicht mehr konzentrieren mußte und in die physikalische Umwelt zurückkehrte, sah er seine Gefährtinnen durch eine Art dünnen Nebel hindurch undeutlich in seiner Nähe stehen. Die Wände, der Boden und die Decke leuchteten milchig-trüb durch diesen Nebel hindurch. Im nächsten Moment war die Sicht wieder völlig klar – und Wände, Boden und Decke leuchteten in gelblicher Helligkeit. Aber nicht für lange, dann wurde alles wieder undeutlich. Neithadl-Off und Anima rührten sich nicht und gaben auch keinen Ton von sich. Der Modulmann erinnerte sich, daß das nicht anders sein
konnte, wenn es nicht zu unheilvollen Zeitparadoxa kommen sollte. Gleichzeitig spürte er, wie eine andere Erinnerung in sein Bewußtsein drängte. Sie hatte etwas mit der Zeitgruft zu tun, aber bevor Goman-Largo begreifen konnte, worum es dabei ging, versank diese Erinnerung wieder in dem Nebel des Vergessens, der so vieles aus seinem früheren Leben verborgen hielt. Nachdem der unwirkliche Nebel fünfmal gekommen und wieder verschwunden war, blieb die Luft klar – so klar, wie sie nur dort sein konnte, wo die Zeiten sich kreuzten. Auch das gaben die verschütteten Erinnerungen des Modulmanns preis. Er erhob sich. »Wir sind da«, erklärte er und deutete mit einer alles umfassenden Handbewegung auf die Ringsektoren, in deren Zentrum er und seine Gefährtinnen sich befanden. Die Ringe bestanden aus Wänden, deren Material transparent war – aber die Transparenz ließ nach, je weiter außen ein solcher Ring lag, bis schließlich nach zirka dreißig Ringsektoren alles so undeutlich wurde, daß sich praktisch keine Einzelheiten mehr erkennen ließen. »Das ist wie damals – auf Xissas!« pfiff Neithadl-Off, dann senkte sie die Stimme und fügte leise hinzu: »Hoffentlich entdecken wir hier keinen Gefangenen wie dich, Modulmann.« Das hoffte Goman-Largo auch; dennoch fragte er: »Warum?« »Ich würde vor einem unlösbaren Konflikt stehen«, antwortete die Parazeit-Historikerin. »Eigentlich müßte ich auch diesen Gefangenen befreien, aber andererseits würde ich mich davor fürchten, mit einem solchen Wiedererweckten konfrontiert zu werden.« »Du hast recht«, stellte Goman-Largo fest. »Aber warum hattest du solche Bedenken nicht auch auf Xissas, Prinzessin?« »Weil ich mich…«, fing Neithadl-Off an und unterbrach sich abrupt wieder. »Weil du dich…?« hakte Goman-Largo nach. »Weil ich mich fragte, ob du das sein könntest, nach dem ich seit langem gesucht hatte«, vervollständigte die Vigpanderin. »Und?« warf Anima ein. »Ich weiß es bis heute nicht«, sagte Neithadl-Off. »Wahrscheinlich werde ich es auch nie erfahren.« »Du befindest dich also noch immer auf der Suche«, erklärte der Modulmann. Er musterte die Objekte, die sich in den verschiedenen Ringsektoren befanden, aber teilweise seltsam undeutlich waren und teilweise so fremdartig, daß sich eine eindeutige Bestimmung als beinahe unmöglich erwies. Der Modulmann erinnerte sich an sein Erwachen in der Zeitgruft von Xissas. Auch dort war es ähnlich gewesen. Überwiegend schienen die Objekte tote Gegenstände zu sein wie kultische Säulen, Schrifttafeln und andere Dinge. Er erstarrte und fühlte eisige Kälte in sich, als er im fünften Ringsektor von innen ein annähernd hominides Wesen entdeckte, das dort auf einem kubischen Steinblock hockte und größtenteils von einer dunkelbraunen Kutte mit Kapuze verhüllt wurde. Nur die unteren beiden Drittel des Gesichts ließen sich erkennen: eine weit vorspringende Krummnase, ein von rissigen Lippen umrahmter farbloser Mund, ein klobiges Kinn und zwei Augenhöhlen, in denen sich weißlich schimmerndes Gespinst ballte. Die Haut war steingrau und wirkte verstaubt. »Ein Wächter von Xissas!« pfiff Neithadl-Off und bestätigte damit das, was Goman-Largo beim Anblick des Wesens gedacht hatte. »Zumindest ein Angehöriger desselben Volkes, dem die Wächter von Xissas entstammten«, sagte der Modulmann und versuchte vergeblich, den Zipfel einer Erkenntnis festzuhalten, die der Anblick
des Gefangenen in seinem Innersten geweckt hatte. »Aber dieses Wesen kann uns nicht gefährlich werden, Prinzessin.« »Bestimmt war er ein Wächter und wurde wegen eines Verstoßes zur Stasis-Gefangenschaft verurteilt«, meinte die Vigpanderin. »Vielleicht hat er seine Gefangenen nicht gründlich genug bewacht«, warf Anima ein. Wieder war es Goman-Largo, als wollte sich eine Erkenntnis vor seinem Bewußtsein öffnen – und wieder verschloß sie sich ihm, bevor er mehr als den Hauch einer Ahnung mitbekommen hatte. Er schüttelte diese Gefühle und Gedanken unwillig ab, denn sie störten nur die Konzentration, die erneut notwendig war. »Von hier aus finde ich den Weg«, erklärte er. »Ich spüre, daß die Verhältnisse hier die gleichen sind wie in der Kerkersektion der Zeitgruft von Xissas. Nur daß es hier wahrscheinlich keine aktiven Wächter mehr gibt. Wir brauchen uns nur an die Übergänge zu halten, um in unsere erste Realgegenwart zurückzukehren.« »An die Übergänge?« wiederholte Neithadl-Off. »Das erinnert mich an den ferngesteuerten Usyll von Xissas.« »Hier gibt es niemanden, der uns einen Usyll nachschicken könnte«, erwiderte der Modulmann. »Es sei denn, wir würden versehentlich etwas wecken, von dem wir bisher noch nichts ahnen.« »Ich wollte, ich wüßte, wovon ihr redet«, warf Anima ein. »Zu langen Erklärungen ist leider keine Zeit«, sagte Goman-Largo. »Je länger wir hierbleiben, um so wahrscheinlicher wird es, daß wir von irgend etwas aufgespürt werden.« Er kapselte sich geistig ab, um sich besser auf die Module konzentrieren zu können, mit deren Hilfe er damals in der Zeitgruft von Xissas den Weg aus dem Zentrum der Zeitgruft gefunden hatte. Dadurch, daß er diese Module bereits kannte und mit ihrer Wirkungsweise vertraut war, fiel ihm alles viel leichter. Er brauchte nicht einmal eine Minute, um sich zu orientieren. »Schaltet die Flugaggregate ein!« teilte er seinen Gefährtinnen mit. »Und haltet euch immer dicht hinter mir!« Er selbst aktivierte das kompakte Aggregat, das er in der Ausrüstungskammer des Time-Shuttles vorgefunden hatte. »Aber was wird aus Nussel?« beklagte sich Anima. »Er kann schließlich nicht fliegen.« »Ich kann galoppieren«, erklärte das Einhorn und schnaubte bekräftigend. »Hoffentlich genügt das«, erwiderte Goman-Largo. »Du mußt dich stets an die Richtung halten, in die du uns fliegen siehst, und wenn wir noch so hoch über dir sind! Falls du uns aus den Augen verlieren solltest, dann rufe!« »Darauf kannst du dich verlassen«, versicherte Nussel. »Gut!« stellte der Modulmann fest. Er startete und steuerte mit geschlossenen Augen in die Richtung, die ihm die beiden Module anzeigten, die er zur Orientierung benützte. Als sich die Luft rings um ihn mit unheimlichen, undefinierbaren Geräuschen füllte, öffnete er die Augen wieder. Es war dunkler geworden, aber nicht völlig dunkel. Die transparenten Zwischenwände, die, wie er wußte, aus Formenergie bestanden, sandten ein schwaches, rötliches Glühen aus, das die Umgebung im Umkreis von zirka zwanzig Metern erhellte. Ohne seine Module hätte Goman-Largo sich nur langsam fortbewegen können. So aber wußte er stets, was sich im Umkreis von mindestens achthundert Metern befand. Das galt allerdings nur für eine zweidimensionale Fläche, denn der
Boden, auf dem die transparenten Wände standen, war auch für seine Module undurchdringlich – und ihre »Wahrnehmungen« reichten nur bis in rund sechzig Meter Höhe. Das Zeitgefühl erlosch beinahe völlig innerhalb dieser seltsamen und bedrückend wirkenden Umgebung. Goman-Largo wußte nur, daß es »irgendwann« war, als er die roten Lichtfäden aus einer Art bleigrauen Himmels herabschwingen sah. Er erschrak nicht darüber, obwohl es die gleichen roten Lichtfäden waren, an denen sich ferngesteuerte Usylls herabließen, um Gegner anzugreifen oder an denen sie emporstiegen, um Feinden zu entkommen. Diese Leitsysteme selbst waren ungefährlich – und es gab niemanden, der Usylls auf ihre Pfade schicken konnte. Dafür zeigten sie dem Kundigen die Richtung zu den Übergängen der Zeitebenen, die »hier« gestaffelt waren. Goman-Largo verringerte seine Fluggeschwindigkeit, als er sich in den ersten Übergang steuerte. Er fürchtete, Nussel könnte ihm und seinen Gefährtinnen vielleicht nicht folgen, weil der Übergang hoch über ihnen lag. Doch dann wurde ihm klar, daß er beinahe einer Illusion erlegen war. Der Zeitübergang bewirkte eine optische Täuschung, die ihn »irgendwo« erscheinen ließ, während er aber tatsächlich »irgendwann« war. Das bestätigte sich, als er sich im rötlich pulsierenden »Umfeld« der ersten Übergangsebene wiederfand und das Einhorn nicht tiefer unter sich entdeckte, als es vorher gewesen war. Als hätte es seine Überlegungen mitbekommen, warf es den Schädel zurück und wieherte triumphierend, während seine Hufe im Galopptakt lautlos auf den rötlich pulsierenden Boden hämmerten. Sein Horn leuchtete ab und zu in einem goldenen Farbton auf. Dann fielen abermals gleich Fangschnüren die roten Lichtfäden herab – und abermals gab es ein »Irgendwann« vor und ein »Irgendwann« nach dem Übergang. Mit Hilfe seiner beiden Module lauschte Goman-Largo in Raum und Zeit hinein, ob er irgendwoher das Nahen eines ferngesteuerten Usylls spürte, der bestenfalls Kampfund schlimmstenfalls Tod und Verderben bedeutet hätte. Doch er empfing nicht den schwächsten Impuls – und er war heilfroh darüber. Endgültig atmete er jedoch erst auf, als er nach dem fünften Übergang wieder in Finsternis tauchte und das Leuchten seiner superflachen Lampe wahrnahm. Da wußte er, noch bevor er im Schein des Lichtkegels die Trümmer der Zeit-Transfer-Kapsel des Toten sah, daß die Rückkehr in die »richtige Zeit« geglückt war. Er bremste mit Vollschub ab und landete wenig später auf der untersten Stufe der Treppe, NeithadlOff und Anima prallten sanft von hinten gegen ihn, und die Hufe des Einhorns rutschten über den Boden, als es seinen Galopp abbremste. Die Zeitreisenden hielten sich jedoch nicht unnötig auf dieser Ebene der Zeitgruft auf. Sie stürmten die Treppe hoch, krochen unter der Sandsteinplatte hervor und atmeten erst dann auf, als sie im blauweißen Schein der Morgensonne ihr Time-Shuttle unversehrt auf dem Altar stehen sahen.
4. Im ersten Augenblick hatten sie angenommen, sie wären von ihrem »Erkundungsgang« nur um die Zeitspanne später aus der Zeitgruft zurückgekehrt, die sie für den Ab- und Wiederaufstieg gebraucht hatten. Doch dann sahen sie das Zeltlager, das die Eingeborenen rings um die Kultstätte mit den Steinkreisen errichtet hatten – und sie begriffen, daß die Zeiten innerhalb und außerhalb von Zeitgrüften nach so unterschiedlichen »Uhren« gingen, daß jede Berechnung oder Spekulation sinnlos wurde. Wie sich nach einem Gespräch mit Donora, der Anführerin der Signer, herausstellte, waren genau achtundzwanzig Stunden und wenige Minuten verstrichen, also ein paar Minuten mehr als ein mohennischer Tag. Dieser Zeitraum hatte ausgereicht, um die Mohennas zwischen zwei Gefühlskontrasten hin und her pendeln zu lassen: zwischen der Furcht, ihre Götter könnten sie für immer verlassen haben, und der Hoffnung, ihre Götter würden bald zurückkehren und ihnen eine herrliche Zukunft verkünden, wie das schließlich nur die Pflicht und Schuldigkeit von Göttern war. Die unveränderte Gegenwart des Time-Shuttles hatte die Hoffnung überwiegen lassen, so daß sie ein großes Fest vorbereitet hatten. Goman-Largo begriff das jedoch ebensowenig wie Anima. Es war Neithadl-Off, die die Situation rettete und eine Ansprache an die versammelten Signer hielt, zu denen sich zahlreiche Xorer gesellt hatten, mit denen die Signer inzwischen vielfältig verbunden waren. Die Vigpanderin malte die Zukunft in den leuchtendsten Farben aus, nicht ohne deren Erfüllung von einer wohlgesitteten und vor allem friedlichen Lebensweise abhängig zu machen. Wie alle vitalen Völker, so hörten auch die Eingeborenen von Mohenn fast nur die freudige Verkündigung aus diesen Worten heraus – und so sahen sich die Zeitreisenden bald von einer jubelnden und ausgelassenen Menge umgeben. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als ihre Ungeduld zu zügeln und nach dem uralten Motto zu verfahren, daß es am besten sei, die Feste so zu feiern, wie sie fielen. Auf diese Art und Weise verstrichen noch zweimal achtundzwanzig Stunden, bevor die Reisenden darangehen konnten, ihren Start mit dem Time-Shuttle zu realisieren, das sie diesmal, wie sie hofften, an den Ort und in die Zeit brachte, wo Anima ihren Ritter wiederfinden würde. Nur Donora und zwei ihrer Freundinnen waren zu diesem Zeitpunkt wach genug, um die »Götter« zu verabschieden. Alle anderen Signer und Xorer beiderlei Geschlechts schliefen noch ihren Rausch aus – und die Kinder waren in den festen Ansiedlungen zurückgelassen worden. »Wann werdet ihr wiederkommen?« erkundigte sich Donora, die von allen Mohennas am unbefangensten mit den »Göttern« umzugehen vermochte und die sogar manchmal verstohlen begehrliche Blicke auf Goman-Largo abschoß. »Bald«, versicherte Neithadl-Off. »Es kann allerdings sein, daß unsere Rückkehr nicht immer so spektakulär erfolgt wie bisher. Möglicherweise seht ihr uns nicht einmal. Aber ihr könnt darauf vertrauen, daß wir immer ein waches Auge auf euch haben werden.« Goman-Largo schmunzelte unterdrückt. Die Vigpanderin unterschied sich äußerlich am stärksten von den Eingeborenen; dennoch schien ihre Mentalität mit der ihren eng verwandt zu sein, denn sie hatte den richtigen Ton getroffen und außerdem nicht einmal besonders schlimm gelogen. Natürlich war es unwahrscheinlich, daß sie jemals nach Mohenn zurückkehrten. Aber sehr wahrscheinlich würden irgendwann andere Zeitreisende aus der Zeitgruft unter den Steinkreisen kommen, ob mit oder ohne Zeit-Transfer-Kapsel. Im Interesse der Mohennas war nur zu hoffen, daß
diese sich nicht mit unlauteren Absichten trugen. Aber derartige Gedanken waren so überflüssig wie nur etwas, sagte sich der Modulmann. Weder er noch seine beiden Gefährtinnen würden etwas an dem ändern können, was die Zukunft für diese an sich sehr liebenswürdigen Intelligenzen bereithielt. Er hob beide Hände und rief: »Alles Gute für euch!« »Vergiß mich nicht!« rief Donora mit feuchten Augen zurück. »Ich werde dafür sorgen, daß er euch alle niemals vergißt!« rief jemand hinter dem Modulmann. Noch bevor Goman-Largo sich nach dem Sprecher umgedreht hatte, wußte er, daß es sich um Nussel handelte, denn die Stimme des Einhorns war unverkennbar. Erstaunt sah er, daß das sprechende »Tier« in der Schottöffnung des Time-Shuttles stand. »Das geht aber nicht!« entfuhr es ihm. »Du kannst uns unmöglich begleiten!« »Warum nicht?« mischte sich Neithadl-Off ein. »Weil er hierher und in diese Zeit gehört, wo sein Volk lebt«, erklärte der Modulmann. »Wie kannst du so etwas behaupten!« pfiff die Vigpanderin entrüstet. »Bist du nicht selbst von dem Ort und aus der Zeit weggegangen, an dem und in der dein Volk lebt – und hast du nicht seither größere Leistungen vollbracht als jemals zuvor?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Goman-Largo. »Ich kann es nicht wissen, weil ich mich nicht daran erinnere, was für Leistungen ich vor meiner Stasis vollbrachte. Ich weiß nur, wie schmerzlich es ist, als einziges Exemplar seiner eigenen Spezies durch Raum und Zeit irren zu müssen.« »Diesen Schmerz habe ich ebenfalls kennengelernt«, gab Neithadl-Off zurück. »Aber er hat mich nur reifer gemacht. In deinem Fall kommt noch hinzu, daß du mich kennenlerntest. Das wiegt alle Verluste mehr als vollgültig auf. Oder willst du das bestreiten, Modulmann?« Goman-Largo mußte gegen seinen Willen lächeln. »Natürlich nicht, Prinzessin«, gab er zu. »Zumindest ist mein Leben durch dich bewegter geworden.« »Ihr redet und redet, während die Zeit gleich Sand zwischen den Fingern verrinnt!« sagte Anima vorwurfsvoll. »Ich habe Nussel gebeten, uns zu begleiten. Und dich, Modulmann, bitte ich, deine philosophischen Erwägungen zurückzustellen.« »Philosophische Erwägungen?« wiederholte Goman-Largo und schüttelte den Kopf. »Nichts läge mir ferner als das. Ich habe rein praktische Bedenken gegen die Mitnahme Nussels. Auf uns warten Gefahren und Strapazen, die wir uns in unseren schlimmsten Träumen wahrscheinlich nicht träumen könnten. Da können wir uns keine Schwachstelle erlauben – und Nussel wäre eine solche Schwachstelle, wenn er mit seinem Schicksal hadern würde.« »Niemals!« schnaubte das Einhorn. »Ich gehöre zu euch, und gemeinsam werden wir jedes Schicksal meistern.« »Ihr habt mich überzeugt«, resignierte Goman-Largo. Noch einmal winkte er Donora und ihren Freundinnen zu, dann wandte er ihnen den Rücken – für alle Zeiten, wie er nach Lage der Dinge annehmen mußte. Gemeinsam mit Neithadl-Off, Anima und Nussel bestieg er das Time-Shuttle… *
Die vier Bildflächen an den Innenwänden der Zeit-Transfer-Kapsel zeigten wieder einmal das absolut wirkende finstere Nichts einer Nullzeit-Spur. Goman-Largo kauerte neben Anima vor der schwarzen Projektionsplatte und hatte seine Hand auf die der Hominidin gelegt, die den Knauf des Steuergeräts umspannte. Bildhaft gesehen, tat er das gleiche mit seinem Bewußtsein. Er hielt mit ihm Animas Bewußtsein umfangen – und in gemeinsamer Konzentration versuchten diese beiden äußerlich so ähnlichen und dennoch entwicklungsmäßig so unterschiedlichen Wesen, während der Bewegung über eine unbegreifliche Spur jenseits von Raum und Zeit den Punkt zu finden, an dem sie das Time-Shuttle anhalten mußten. Jenen Punkt, an dem Anima den psionischen Wellenschlag ihres Ritters gespürt und womit sie bewirkt hatte, daß das Time-Shuttle sich auf sie einstellte. Und damit den Punkt, von dem aus die eigentliche Suche nach Atlan erst beginnen würde, falls Anima ihn überhaupt wiederfand. Eine Fülle von halluzinatorischen Eindrücken blitzte in Goman-Largos Bewußtsein auf, während das Zeit-Transfer-Vehikel sich seinen Weg zwischen den Dimensionen suchte. Manchmal glaubte der Tigganoi, in ihnen eigene Erinnerungen oder doch Fetzen davon wiederzuerkennen, manchmal ahnte er, daß er Bilder einer möglichen Zukunft erblickte – und einmal hatte er das Gefühl, als würde aus der Materie der Kapsel selbst etwas herauskriechen, das Erinnerungen und Gefühle des toten Hepathers reproduzierte. Doch das war natürlich nur ein Gefühl – und Gefühle konnten sich tausendfach überlagern, ohne etwas mit der Realität zu tun zu haben. Die halluzinatorischen Eindrücke blitzten in immer kürzeren Intervallen auf und belasteten das geistige Aufnahmevermögen des Modulmanns bis an seine äußerste Grenze. Er ahnte, was die Ursache war. Das Time-Shuttle näherte sich dem Punkt, an dem Anima Kontakt mit dem psionischen Wellenschlag Atlans gehabt hatte. Goman-Largo merkte es auch daran, daß das Bewußtsein der Hominidin mehr und mehr in Aufruhr geriet und ihr Atem schneller ging. Sie trieb offenbar unaufhaltsam einem psychischen Höhepunkt entgegen. Ihre Erregung teilte sich wegen der engen Verbundenheit ihrer Bewußtseine auch dem Modulmann mit – und je mehr sie anwuchs, um so stärker wurde in Goman-Largo der Trieb, sich von ihr zu lösen. Aber das war nicht mehr möglich, und so wurde er in diesen psychischen Strudel mitgerissen. Und schrie gleichzeitig mit Anima, als eine ungeheuerliche Woge psionischer Energien über seinem Bewußtsein zusammenschlug und ihn vom Kontakt mit der vierdimensionalen, raum-zeitlichen Realität loszureißen drohte. Es dauerte höchstens eine Sekunde, bis er die akute Todesfurcht überwunden hatte und sich stärker als zuvor darauf konzentrierte, das Time-Shuttle auf der Nullzeit-Spur anzuhalten. Anima brauchte ebenfalls nicht länger dazu. Das fühlte er. Aber es war eine Sekunde zu lange. Denn die Woge psionischer Energien verebbte und zerrann in der Ferne – und das Time-Shuttle trieb unaufhaltsam weiter auf der Nullzeit-Spur dahin, mitten in einem unendlichen Ozean aus Nichtraum und Nichtzeit. Anima schluchzte. »Ich habe ihn verloren!« jammerte sie. »Ich habe Atlan endgültig verloren!«
Sie wollte ihre Hand vom Knauf des Steuergeräts lösen, doch Goman-Largo ließ nicht los und umspannte ihre Hand mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte. Nach einer Weile spürte er, wie die Hominidin erschlaffte. Ihr Aufbegehren war zusammengebrochen. »Du wirst Atlan niemals verlieren, Anima«, pfiff Neithadl-Off. »Woher willst du das wissen?« fragte die Hominidin matt. »Atlan befindet sich auf einer Zeitebene, die er nicht verlassen kann«, argumentierte Neithadl-Off. »Wir dagegen können ihn bei unserer Suche tausendmal verfehlen und tausendmal den Faden von vorn aufnehmen – und wenn wir ihn nach tausendundeinem Versuch finden, wird für ihn so gut wie keine Zeit vergangen sein.« »Woher willst du das wissen?« flüsterte Anima. »Na, hör mal!« entrüstete sich Neithadl-Off. »Ich bin schließlich Parazeit-Historikerin. Also weiß ich Bescheid über alles, was mit dem Phänomen Zeit zusammenhängt.« »Das beruhigt mich sehr«, sagte Goman-Largo, ohne die Augen zu öffnen. »Ich spüre nämlich, daß wir uns einer weiteren Zeitgruft nähern – und ich ahne, daß wir dort in ernste Schwierigkeiten geraten werden, denn unser Time-Shuttle wird von irgend etwas angepeilt das sich dort befindet.« »Es ist ein Wächter!« pfiff Neithadl-Off erregt. »Macht die Augen auf und seht euch die Projektionsplatte an, dann erkennt ihr es!« Goman-Largo bemühte sich, die Augen zu öffnen. Vergeblich. Es war, als wären seine Lider schwer wie Blei geworden. An den Impulsen aus Animas Bewußtsein erkannte er, daß es der Hominidin ebenso erging. Die Pseudo-Wahrnehmungen hielten sie beide gefangen. Als sie sie freigaben, geschah das so abrupt, daß sie beide zurückfuhren, als hätte das Steuergerät einen starken Stromschlag ausgeteilt. Sie stürzten in den Kontrollraum. Auf dem Rücken liegend, erkannte der Modulmann auf den Bildflächen des Time-Shuttles das scheinbar unendliche Meer grell leuchtender Lichtfunken, das bisher jedesmal den Übergang von der Nullzeit-Spur ins vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum angezeigt hatte. Nur daß die Lichtfunken diesmal nicht ruhig standen, sondern heftig pulsierten. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, in einer Hochgeschwindigkeits-Zentrifuge zu sitzen und so schnell herumgeschleudert zu werden, daß sich die Bestandteile seines Körpers je nach ihrer Dichte durch die Zentrifugalkraft trennen und verteilen würden. Er versuchte zu schreien, aber er brachte keinen Ton heraus. Doch da war die »Zentrifuge« bereits zum Stehen gekommen – und die Bildflächen zeigten eine gestochen scharfe Abbildung von etwas, das eine Eiswüste zu sein schien. Mit einer schrägliegenden Stahlplatte darin, auf der das Time-Shuttle angekommen war…
5. »Wo sind wir?« pfiff Neithadl-Off, trippelte zu Goman-Largo und lehnte sich mit ihrem Knochenrahmen zitternd gegen seine Beine. »Eine Eiswelt!« stieß Anima hervor. Der Modulmann musterte skeptisch die Bildflächen im Innern des Time-Shuttles. Auf den ersten Blick sah das, was sie abbildeten, wirklich so aus wie die Oberfläche eines kalten, von Eis und Schnee bedeckten Planeten. Doch etwas stimmte nicht an diesen Bildern. Goman-Largo hatte viel vergessen, aber nicht alles. Vor allem konnte er sich bei Bedarf, wenn er über etwas nachsann, an Fakten, Daten und Zusammenhänge erinnern, mit denen er einst vertraut gewesen war und die sowohl den Aufbau des Universums und die in Raum und Zeit wirkenden Kräfte als auch hohe Technologien mit ihrem wissenschaftlichen Unterbau sowie zahlreiche Möglichkeiten der Realisierung der Raumfahrt betrafen. Darum hatte er anfangs quasi-instinktiv und gleich darauf mehr und mehr bewußt erkannt, daß sich das, was er auf den Bildflächen sah, nicht mit gewissen Naturgesetzen vereinbaren ließ. Schnee und Eis waren noch völlig natürliche Phänomene, aber die diffuse Helligkeit, die sich darüber ausbreitete und keine räumlich fixierbaren Lichtquellen besaß, widersprach den Gegebenheiten, wie die Natur sie schuf. Am stärksten widersprachen aber der nicht vollständig dunkle »Himmel« und die fehlenden Sterne den ihm bekannten Naturgesetzen. Die Oberfläche eines Planeten mußte stets dem Universum zugewandt sein – und da das Universum von aller möglichen Materie, vor allem aber von Sternen und Sternenstaub erfüllt war, mußte etwas von dieser Fülle von jedem Planeten aus zu sehen sein. Natürlich gab es Ausnahmen. Die Oberfläche eines Planeten konnte unter Wolken von Staub und Sand oder unter trüben Gasschichten so begraben sein, daß biologisch-optischen Sensoren der Blick nach »draußen« verwehrt war. Dafür entdeckte Goman-Largo hier jedoch keinerlei Anzeichen. Dennoch war nicht ein einziger Stern zu sehen. Ferner hatten er und seine Gefährtinnen im Fünf-Sterne-Reich der Phyloser selbst erfahren, daß es Sektoren im All gab, die von der Natur so stiefmütterlich bedacht worden waren, daß außer ein paar wenigen Sternen im Umkreis von Millionen oder Milliarden Lichtjahren nichts vom Universum und seiner Pracht zu sehen war. Aber das kam mit Sicherheit nur ganz selten vor – und wenn, dann war es noch seltener, daß von einem Planeten eines solchen Sektors aus nicht wenigstens ein einziger anderer Fix- oder Wandelstern zu sehen war. Nein! entschied Goman-Largo. Wir sind diesmal nicht an der Oberfläche eines Planeten angekommen, sondern ganz woanders. »Wir sind in einer Hohlwelt, nicht wahr?« fragte Neithadl-Off. »So ungefähr, Prinzessin«, gab der Modulmann zurück. »Wir müßten hinausgehen, um genau feststellen zu können, wohin wir geraten sind.« »Warum gehen wir dann nicht?« fragte Anima ungeduldig und wandte sich zum Schott. »Weil wir dadurch wahrscheinlich Nussel zum Tode verurteilen würden«, erwiderte Goman-Largo. »Unser Time-Shuttle hat zwar ein Schott, aber keine Schleusenkammer – und draußen herrscht vermutlich ein Vakuum. Es gäbe für Nussel keinen Schutz dagegen.« »Aber wir sind bei einer Zeitgruft angekommen«, argumentierte die Hominidin weiter. »Da dürfen
wir doch nicht einfach passiv bleiben.« »Das brauchen wir auch nicht«, hielt der Modulmann ihr entgegen. »Ein Time-Shuttle braucht nicht verlassen zu werden, um in eine andere Zeit zu gelangen.« »Auf eine andere Zeitebene«, korrigierte Neithadl-Off. »Einverstanden«, gestand Goman-Largo ein. »Worauf warten wir dann noch!« erklärte Anima und kehrte in den Kontrollraum zurück. »Komm, Modulmann!« rief sie von dort. »Wir müssen versuchen, uns in der Zeitgruft auf- oder abwärts zu bewegen.« »Du scheinst vergessen zu haben, daß unser Time-Shuttle von dieser Zeitgruft aus angepeilt wurde«, gab Goman-Largo zu bedenken. »Von einem Wächter!« pfiff Neithadl-Off. »Aber vielleicht haben wir uns das nur eingebildet. Bisher haben wir jedenfalls nichts von irgendwelchen Aktivitäten eines Wächters gemerkt.« Goman-Largo hatte ihr diesmal nicht zugehört, denn seine Gedanken waren abgeschweift – und als er wieder sprach, ging er deshalb auch nicht auf die letzten Bemerkungen der Vigpanderin ein. »Es könnte sich um eine Satellitenstadt handeln«, sagte er grübelnd. »Um einen riesigen Hohlkörper, der so in Rotation versetzt wurde, daß die Fliehkräfte innen am Zylindermantel eine Pseudo-Gravitation hervorrufen, so daß dort Ansiedlungen, Fabriken und Agrobatterien installiert werden und vielen intelligenten Wesen annehmbare Lebensbedingungen bieten konnten.« »Aber wie vereinbart sich das mit deiner Behauptung, draußen herrschte ein Vakuum?« wandte Anima ein. »Es war keine Behauptung, sondern eine Vermutung«, stellte der Modulmann richtig. »Aber ich bin sicher, daß sie zutrifft. Dennoch handelt es sich hier mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Satellitenstadt. Nur ist sie durch eine Katastrophe heimgesucht worden, die wahrscheinlich alle ihre Bewohner tötete und die Atmosphäre gefrieren und als Schnee und Eis abregnen ließ.« »Vielleicht waren die Bewohner auch auf ganz natürliche Weise lange vorher ausgestorben, bevor es zur Katastrophe kam«, meinte Neithadl-Off. »Aber das würde bedeuten, daß auch diese Zeitgruft uralt sein muß«, erwiderte Anima. »Und ich hatte schon gehofft, diesmal eine weniger ramponierte Gruft vorzufinden.« »So arg ramponiert kann sie nicht sein, wenn es noch einen aktiven Wächter gibt«, erklärte der Modulmann. »Und es gibt wirklich einen. Ich spüre mit Hilfe meiner Module seine Aktivitäten. Er scheint uns abschieben zu wollen.« Anima begriff gleichzeitig mit ihm, was das für die Suche nach Atlan bedeuten konnte. Beide Wesen stürzten in den Kontrollraum und umklammerten den Knauf des Steuergeräts. Aber sie konnten dadurch nicht verhindern, daß der unbekannte Wächter seine Absicht verwirklichte. Sie konnten nur besser erkennen, was mit dem Time-Shuttle und mit ihnen geschah. * Während auf den Bildflächen nur wirbelnde Nebelfetzen zu sehen waren, vermittelte das Steuergerät dem Modulmann und Anima die Pseudo-Wahrnehmung eines unendlich tiefen Schachtes, durch den die Zeit-Transfer-Kapsel gleich einem abstürzenden Fahrstuhl fiel. Dieser Eindruck war so erschreckend, daß beide Wesen all ihre Willenskraft aktivierten, um den
Sturz aufzuhalten. Doch es schien vergeblich zu sein. Sie schrien beide – und wie aus weiter Ferne vernahmen sie die pfeifenden Entsetzensschreie Neithadl-Offs. Plötzlich verstummten sie, denn sie vernahmen eine andere Stimme. Sie sprach nicht akustisch zu ihnen, sondern mental, obwohl sich das nicht exakt erkennen ließ. Aber sie schlossen es daraus, daß sie die Stimme sofort verstanden, was sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, hätte es sich um ein akustisches Phänomen gehandelt. Du hättest wissen müssen, daß es vor uns kein Entkommen gibt! teilte die Stimme mit. Irgendwann mußtest du in eine unserer Fallen geraten. Es ist beinahe eine Ironie des Schicksals, daß es ausgerechnet diese Falle sein mußte, an der du einst selber mitgebaut hattest, als sie noch für den Rebellen Nook-Hefzaran gedacht gewesen war, deinen Bruder-Schwester-Vater. Goman-Largo spürte, wie ein vier-dimensionaler Sturm durch seine Module raste, als ihm klar wurde, daß es der Wächter dieser Zeitgruft war, der sich da mitteilte – und daß er es eigentlich gar nicht auf ihn und seine Gefährtinnen abgesehen hatte, sondern auf den Hepather Krell-Nepethet, der irgendwann mit dieser Kapsel vor dem Orden der Zeitchirurgen beziehungsweise dessen Schergen geflohen war. Anscheinend hatte der Wächter die Zeit-Transfer-Kapsel identifiziert und nahm als sicher an, daß sich Krell-Nepethet noch darin befand. »Der Hepather ist tot!« schrie er – ohne große Hoffnung, daß der Wächter ihn hörte, geschweige denn verstand. »Halte die Kapsel an! Wir wollen verhandeln!« Wie gar nicht anders erwartet, erfolgte keine Reaktion. Statt dessen ging die Verhöhnung KrellNepethets durch den Wächter weiter – und das Time-Shuttle stürzte unaufhaltsam tiefer und tiefer. Schon war der Modulmann nahe daran, alle Hoffnung aufzugeben und sich damit abzufinden, daß der Orden der Zeitchirurgen ihn diesmal endgültig beseitigte, indem er ihn zum Uranfang allen Seins zurückstürzen ließ, wo Leben in biologischer Form nicht zu existieren vermochte und von wo es keine Möglichkeit der Rückkehr in die Zukunft beziehungsweise Realgegenwart gab, da erlosch die Pseudo-Wahrnehmung des unendlich tiefen Schachtes schlagartig. Dafür wurde Goman-Largos Bewußtsein mit einem Kaleidoskop lebendig wirkender Bilder überschwemmt, die von allen Seiten gleichzeitig in das Time-Shuttle hereinzufluten schienen. Es gab einen kreischenden Ton, dann stand die Kapsel still. Irgendwo zwischen Realgegenwart und Vergangenheit, nahm der Modulmann an. Er löste sich aus der Konzentration auf das Steuergerät, blickte in Animas totenbleiches Gesicht und sah danach zu Neithadl-Off, die ihre bebenden, knallroten Sensorstäbchen auf die Bildflächen des Time-Shuttles gerichtet hatte. Goman-Largo blickte ebenfalls hin – und holte unwillkürlich tief Luft, als er auf allen vier Bildflächen die lichterfüllte Landschaft aus kleinen Ansiedlungen, Parks und Agrobatterien sah, die sich an zwei Horizonten in der für Satellitenstädte typischen Art hochwölbte und hinter einer in bläulicher Diesigkeit »schwimmenden« Linearsonne verschwand. Das war aber noch nicht alles. In den Ansiedlungen, Parks und zwischen den Agrobatterien bewegten sich zahlreiche Wesen. Sie gehörten anscheinend zwei unterschiedlichen Arten an, denn ein Teil von ihnen war hominid und bunt gekleidet, während der andere Teil medusenhaft und nackt erschien und bei jeder Bewegung grell und stechend glitzerte und funkelte. »Wo sind wir?« flüsterte Anima erschrocken. »Das ist doch ganz klar«, stellte Neithadl-Off mit rasch wiedergewonnener Gesprächigkeit fest. »Wir sind in einer Realvergangenheit der ausgestorbenen Satellitenstadt und zwar offenkundig während einer Blütezeit dieser Kosmopole. Ich weiß über diese Siedlungen im All Bescheid. In
meiner Jugend besuchte ich zwei Jahre lang eine Schule, die sich in einer solchen Kosmopole befand. Nur war jene Siedlung unvergleichlich größer und schöner als diese hier.« »Ausgezeichnet!« meinte der Modulmann. »Dann wirst du Kontakt mit den Bewohnern dieser Stadt aufnehmen, wenn es notwendig sein sollte. Ich hoffe nämlich, wir sind der Wahrnehmung durch den Wächter für einige Zeit entkommen, so daß wir uns darum kümmern können, nach dem Wissen und den technischen Möglichkeiten zu forschen, die es uns erlauben, wieder aus dieser Vergangenheit und aus der Zeitgruft zu entkommen.« Er dachte eine Weile nach, dann fügte er hinzu: »Vorausgesetzt, der Wächter hat uns nicht absichtlich auf diese Zeitebene stürzen lassen, denn dann wird es hier Einrichtungen geben, die unsere Bemühungen zum Scheitern verurteilen.« »Aber ich hatte das deutliche Gefühl, als wären wir dem Zugriff des Wächters entglitten«, bemerkte Anima. »Du auch?« erkundigte sich Goman-Largo. »Ja, mir kam es auch so vor. Aber das kann natürlich eine Täuschung gewesen sein. Wodurch hätten wir uns auch dem Zugriff des Wächters entziehen können! Ich spürte nichts davon, daß unsere diesbezüglichen Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen wären.« »Ihr seid zu pessimistisch«, meinte Neithadl-Off. »Das hier ist eine Satellitenstadt, die mit dem Wächter der Zeitgruft nicht das geringste zu tun hat.« »Aber die Bewohner müssen die Zeitgruft kennen«, wandte Anima ein. »Eine Satellitenstadt läßt sich nicht mit einem Planeten vergleichen, auf dem Hunderte von Zeitgrüften verborgen sein können, ohne je entdeckt zu werden. Hier dagegen dürfte es keinen Quadratmeter unbekannten Bodens geben. Es ist ja alles künstlich angelegt worden.« »Sie sehen uns nicht«, warf Nussel unvermittelt ein. Erst dadurch erinnerte sich Goman-Largo wieder daran, daß sie ja von Mohenn das Einhorn mitgenommen hatten. Er wandte den Kopf und blickte das tierähnliche Wesen mit dem aus der Stirnmitte ragenden unterarmlangen Horn und der roten Gesichtsmaske nachdenklich an. »Wie kommst du darauf?« erkundigte er sich. »Niemand hat auf das Auftauchen des Time-Shuttles reagiert«, antwortete Nussel. »Ja, das stimmt«, erklärte Neithadl-Off. »Und es ist keineswegs merkwürdig, denn Zeitgrüfte und Zeitkapseln werden vor Angehörigen entwickelter Zivilisationen durch wirksame Tricks perfekt verborgen. Es handelt sich schließlich um geheime Anlagen.« »Ja, das ist richtig«, pflichtete Goman-Largo ihr bei. Insgeheim aber fragte er sich, ob die Vigpanderin das tatsächlich wußte oder ob sie nur wieder einmal ihrer Phantasie die Zügel hatte schießen lassen. Allerdings mußte er zugeben, daß es ziemlich logisch klang, was sie gesagt hatte. »Steigen wir aus?« fragte Anima drängend. »Ja, natürlich«, antwortete Goman-Largo nach einigem Zögern. * Im Grunde genommen war ihnen gar nichts anderes übriggeblieben, als ihr Time-Shuttle zu verlassen und sich in der Satellitenstadt umzusehen, überlegte der Modulmann, als sie ausgestiegen waren und unsicher auf der schrägliegenden Stahlplatte standen, die auch hier den Landeplatz der Kapsel kennzeichnete.
Nussel war erregt und scharrte mit den Hufen der Vorderfüße, dann schüttelte er heftig den Kopf, daß die Mähne flatterte. »Etwas ist nicht richtig«, stellte er fest. Goman-Largo sah sich suchend um. Mit bloßem Auge vermochte er auch außerhalb des TimeShuttles nicht zu erkennen, was sie vor der optischen Wahrnehmung durch die Bewohner der Satellitenstadt schützte. Aber einige seiner Module sprachen auf verschiedene Energiestrukturen und Emissionsmuster in unmittelbarer Nähe an und verrieten ihm, daß sich sowohl die Zeitgruft – beziehungsweise der »Eingang« zur Zeitgruft – als auch das Time-Shuttle hinter ineinander verschachtelten materiellen Hologrammen verbargen, die für Arglose nicht einmal zu erahnen waren. Während seine Gefährten und er von innen nach außen gingen, deponierte er drei seiner Module in verschiedenen Tiefen der Hologramm-Komposition und aktivierte sie so, daß er sie mit Hilfe anderer Module jederzeit anpeilen konnte. Denn er erkannte, daß sie sich sonst wahrscheinlich niemals zurückfinden würden. Aber erst, als sie »draußen« waren, wurde ihm diese Erkenntnis zur Gewißheit. Es war, als hätte der letzte Schritt ihn aus einem Universum in ein anderes befördert. Eben waren der »Eingang« zur Zeitgruft und ihr Time-Shuttle für ihn noch realer gewesen als die Satellitenstadt – und im nächsten Augenblick gab es nur noch die Satellitenstadt und nichts sonst. Hinter ihm lag der sandbedeckte Uferstreifen eines exakt kreisrunden kleinen Sees – und daran änderte sich auch nichts, als er dorthin zurückging, woher er gekommen zu sein glaubte. Es gab dort keine Zeitgruft und kein Time-Shuttle. Lediglich seine Stiefel wurden naß, als er ins seichte Uferwasser trat. Wären die zurückgelassenen Module nicht gewesen, deren Signale er mit Hilfe anderer, in seinem Körper steckender, Module empfing, er selber hätte einen Eid darauf geleistet, daß Time-Shuttle und Zeitgruft nur in seiner Einbildung existierten. Allerdings konnte er sich nicht lange mit solchen Überlegungen aufhalten, denn die in nächster Nähe befindlichen hominiden Bewohner der Satellitenstadt waren auf die überraschend aufgetauchten »Besucher« aufmerksam geworden und blickten neugierig herüber. »In was für einen Teil des Universums sind wir da nur geraten!« pfiff Neithadl-Off. »Das ist schon das drittemal innerhalb kurzer Zeit, daß ich Hominiden begegne, die unter einem gravierenden Mangel leiden!« »Mangel?« echote Goman-Largo verwundert. »Sie haben nur einen Kopf pro Person«, erläuterte die Parazeit-Historikerin. »In der Galaxis, in der ich mich zuletzt aufhielt, besaßen alle Hominiden zwei Köpfe – genauso, wie sie dort und auch hier je zwei Arme und zwei Beine besaßen und besitzen.« »Die Evolution ist eben nicht überall den gleichen Weg gegangen«, gab Goman-Largo zurück. »Es ist auch nicht unbedingt notwendig, daß zwei Großhirnhälften auch in zwei Schädeln untergebracht sein müssen. Im Gegenteil, auf engerem Raum zusammengepackt, entwickeln sie eher Verbindungen, durch die sie sich gegenseitig ergänzen können.« »Anstatt wissenschaftliche Vorträge zu halten, solltest du lieber darüber nachdenken, was du den Stadtbewohnern über unsere Herkunft sagen willst!« mokierte sich Anima. »Das überlaßt nur mir!« erklärte Neithadl-Off und richtete ihre Sensorstäbchen auf die vier Hominiden, die sich ihnen näherten. Es handelte sich eindeutig um zwei Frauen und zwei Männer, denn zwei Personen hatten bartlose »Milchgesichter« und Brüste, während die beiden anderen schwarze Bartstoppeln im Gesicht trugen. Ansonsten glichen sie sich allerdings in ihrem Äußeren – mit der Einschränkung, daß die Männer ein wenig zierlicher gebaut waren als die Frauen. Die Kleidung bestand bei allen vier
Personen aus bunten, knielangen Röcken, unter denen die Beine von weißen Spitzenunterhosen bis über die Knie hervorsahen, geschnürten schwarzsamtenen Miedern, rosefarbenen Blusen, grünen Sandalen und geblümten Kropfbinden. Das Haar war schwarz und seidig und wurde von Frauen und Männern in Ponyfrisur getragen. Die Hautfarbe war bei den Frauen ein schwach rosagetöntes Weiß und bei den Männern ein gelbliches Hellbraun. Die vier Stadtbewohner blieben etwa zwei Meter vor den »Besuchern« stehen und blickten sie aus unschuldigen dunkelbraunen Augen an. Sie waren unbewaffnet und trugen an naturfarbenen Stoffgürteln verschiedene kleinere Werkzeuge. Neithadl-Off zog ihr Kombinationsgerät aus dem Futteral und drehte es »verkehrt« herum, so daß es als Translator arbeitete. »Wir kommen in Frieden!« pfiff sie hinein. Auf der den Stadtbewohnern zugewandte Seite des Geräts kamen Laute heraus, die allerdings noch unverständlich waren, denn obwohl die Vigpanderin behauptete, ihr Kombigerät sei ihr aus der Zukunft gebracht worden und könne deshalb jede fremde Sprache auf Anhieb übersetzen beziehungsweise ihre Sprache auf Anhieb in jede beliebige fremde Sprache, konnte es doch keine Wunder vollbringen. Die Stadtbewohner redeten lebhaft und anfangs unverständlich auf die »Besucher« ein, aber schon nach knapp zwei Minuten lieferte das Kombinationsgerät eine noch etwas einfache Übersetzung, die sich aber von Wort zu Wort verfeinerte. »Seid ihr aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft?« übersetzte es nach drei Minuten die Frage der Frau, die sich als Lanara vorgestellt hatte. Goman-Largo war verblüfft, hatte er doch fest angenommen, daß die Stadtbewohner nichts von der Existenz der Zeitgruft ahnten. Aber Neithadl-Off bewies, daß sie nicht auf die Mundleiste gefallen war. »Wir kommen aus der Nullzeit!« pfiff sie. »Wir sind nämlich vom Orden der Zeitfreien. Das heißt, daß unsere Existenz an keine bestimmte Zeitebene gebunden ist. Mein Name ist Neithadl-Off – und meine beiden Helfer heißen Goman-Largo und Anima. Hat denn eure schöne Stadt auch einen Namen?« »Sie heißt Kamintze«, antwortete Lanara. »Es ist die letzte Stadt von uns Tufylls. Alle anderen Städte sind im Lauf der Zeit auf Stoma abgestürzt. Meine Begleiter heißen übrigens Bobiri, Zepot und Akbut.« Sie deutete dabei durch ein leichtes Neigen des Kopfes auf die betreffende Person, so daß die Zeitreisenden wußten, wer welchen Namen trug. Bobiri beispielsweise war die andere Frau der Gruppe. »Auf Stoma abgestürzt?« fragte Anima. »Was ist Stoma?« »Das ist der Name des Gasriesen, den Kamintze umkreist«, erklärte Bobiri. »Ursprünglich lebten wir auf Korgarh, dem dritten Planeten unserer Sonne. Aber als sich die Entwicklung von Llal zum Roten Riesen ankündigte, trat ein Evakuierungsprogramm in Kraft. Viele unseres Volkes versuchten mit Generationenschiffen, brauchbare Planeten in anderen Sonnensystemen zu erreichen. Die meisten Tufylls aber zogen es vor, in die Satellitenstädte zu gehen, die gebaut worden waren und damals noch Korgarh umkreisten. Siebenundzwanzig Weltraumstädte wurden schließlich zum sechsten Planeten geschleppt und dort in Umlaufbahnen dirigiert. Leider dehnte sich Llal, als sie zur Nova wurde, weiter aus, als unsere Wissenschaftler berechnet hatten. Alle Satellitenstädte wurden mehr oder weniger beschädigt. Als Folge davon stürzten sechsundzwanzig von ihnen innerhalb der folgenden siebzig Generationen ab und verglühten im heißen Innern von Stoma. Nur Kamintze konnte sich bisher halten. Aber auch sie ist bedroht.«
»Das ist ja schrecklich!« pfiff Neithadl-Off. »Eine Tragödie!« »Können wir nicht irgendwie helfen?« fragte Anima. »Helfen?« echote Goman-Largo verwundert. »Ich denke, du willst so bald wie möglich deinen Ritter Atlan wiederfinden. Dann darfst du dich aber nicht mit anderen Dingen aufhalten.« »Aber ich kann doch nicht einfach weiterziehen und diese Intelligenzen einem schlimmen Schicksal überlassen«, erwiderte Anima: »Du kannst nur ein Ziel verfolgen«, mahnte der Modulmann. »Sei nicht so hart!« pfiff Neithadl-Off ihn an. »Ich weiß, daß du alles nur danach bewertest, ob es deinem Ziele oder deiner Mission dient. Aber du hast schließlich auch auf die Verfolgung deines ursprünglichen Ziels zugunsten der Suche nach Atlan verzichtet.« »Irrtum!« korrigierte Goman-Largo. »Ich habe lediglich die Prioritäten vertauscht, da ich erkennen mußte, daß ich mein Hauptziel nur dann mit guter Aussicht auf Erfolg erreichen kann, wenn wir zu Atlan gestoßen sind und damit eine temporäre Heimat gefunden haben.« »Wahrscheinlich könntet ihr uns sowieso nicht helfen«, warf Zepot ein und lächelte resignierend. »Kamintze muß sterben – und wir Tufylls werden uns mit Stoma vermählen. Es bedarf nur eines letzten Anstoßes, damit wir abstürzen.« »Eines letzten Anstoßes?« fragte Anima. »Was meinst du damit?« »Wenn sich die Masse von Kamintze wieder vergrößert, wird die Stadt abstürzen«, erläuterte Lanara. » Wieder vergrößert?« echote Goman-Largo ahnungsvoll. »Von Zeit zu Zeit ist das geschehen«, sagte Akbut. »Die zusätzliche Masse ist zwar immer nach kurzer Zeit wieder verschwunden, aber die durch sie verursachten Bahnveränderungen konnten wir nie wieder rückgängig machen.« »Die Zeitkapseln!« pfiff Neithadl-Off. »Es müssen hier immer wieder Zeitkapseln wie unser TimeShuttle angekommen sein – und sie haben den Orbit von Kamintze jedesmal verändert.« »Wie unser Time-Shuttle auch«, ergänzte Anima dumpf. »Dann wären wir schuld daran, wenn Kamintze auf den Gasriesen stürzte und seine Bewohner darin umkämen!« erklärte die Vigpanderin. »Folglich ist es unsere Pflicht, den Tufylls zu helfen.« Durch das Innere der Satellitenstadt fegte das schrille Heulen einer Art von Sirene, dann sagte eine Stimme aus zahllosen Lautsprechern zugleich: »Achtung, an alle Bewohner von Kamintze! Die befürchtete Massenerhöhung hat stattgefunden. Sie ist zwar inzwischen wieder zurückgegangen, aber das ändert nichts daran, daß die Stadt ihre Umlaufbahn über den kritischen Punkt hinaus gesenkt hat. Alle Bewohner haben deshalb die ihnen zugewiesenen Katastrophenstationen aufzusuchen und nach Programm zu verfahren!« Die vier Tufylls rückten dichter zusammen, aber ihre Gesichter verrieten, daß sie dem Unheil gefaßt entgegensahen. »Da haben wir es!« pfiff Neithadl-Off. »Durch uns ist Kamintze zum Untergang verurteilt. Jetzt müssen wir versuchen zu helfen.« »Ja!« rief Anima. »Goman-Largo kann diesen Intelligenzen vielleicht helfen, denn er besitzt das größere Wissen und seine Module.« »Mir bleibt sowieso nichts anderes übrig«, erklärte Goman-Largo. »Oder solltet ihr noch nicht begriffen haben, was es bedeutet, daß die Massenerhöhung wieder zurückgegangen ist!« »Oh!« pfiff die Vigpanderin.
»Unser Time-Shuttle!« jammerte Anima. »Es ist fort, ja«, stellte Goman-Largo ungerührt fest. »Wahrscheinlich hat der Wächter es entführt. Aber das spielt jetzt nur eine untergeordnete Rolle.« Er wandte sich an Lanara. »Wenn die Stadt eine Steuerung besitzt, was sie eigentlich sollte, dann führe uns dorthin! Wir werden versuchen, Kamintze vor dem Absturz zu bewahren.«
6. Nach der Durchsage geriet Bewegung in die Hominiden, soweit die drei Zeitreisenden es sahen. Die medusenhaft und nackt wirkenden Wesen dagegen gingen weiter ihren bisherigen Tätigkeiten nach. »Es sind nur Ableger von Allgorah«, erklärte Lanara auf eine diesbezügliche Frage der Vigpanderin. »Roboter«, stellte Goman-Largo fest. »Demnach muß Allgorah eine Art Überroboter sein«, meinte Neithadl-Off. »Wahrscheinlich eine Positronik«, sagte Anima. Während sie sprachen, wurden sie von Lanara zu einem offenen Schienenfahrzeug geführt, das wie zahlreiche andere in Ansiedlungen, in Parks und zwischen Agrobatterien, parkte. Bobiri, Akbut und Zepot waren nach anderen Richtungen davongeeilt. Nachdem Lanara und die drei Zeitreisenden eingestiegen waren, sah Anima sich nach dem Einhorn um. Aber Nussel war verschwunden und tauchte auch nicht wieder auf, als die drei nach ihm pfiffen und riefen. »Wir können nicht warten«, sagte Lanara. »Allgorah muß jedes Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt starten – jedenfalls im Katastrophenfall.« Das Fahrzeug fuhr ruckfrei an und glitt auf seiner Schiene schneller und schneller dahin. Goman-Largo hielt sich unwillkürlich fest, als er bemerkte, daß der Kurs des Fahrzeugs nach oben führte. Aber natürlich war die Pseudo-Gravitation überall an der Innenwandung der Satellitenstadt gleich, so daß nichts herunterfallen konnte. Der Modulmann schloß die Augen, um eventuelle spöttische Blicke nicht sehen zu müssen, dann konzentrierte er sich auf die Überlegung, wohin ihr Time-Shuttle verschwunden sein könnte und ob sie eine Möglichkeit besaßen, es zurückzuholen. Das Wohin ließ sich ebenso leicht wie nichtssagend beantworten: entweder in die Relativzukunft oder in die Relativvergangenheit. Was die Möglichkeit betraf, das Time-Shuttle zurückzuholen, so hing das weitgehend davon ab, ob es gelingen würde, in die Zeitgruft zurückzukehren und dort nach ihm zu suchen. Freilich konnte eine solche Suche bis zum Ende des Universums dauern, wenn man nicht sehr viel Glück hatte, da in einer Zeitgruft Zugänge oder Übergänge zu unzähligen Parallelzeiten und Zeitebenen existierten. Außerdem mußte hier mit einem auf der Lauer liegenden Wächter gerechnet werden – und zuerst mußte Kamintze gerettet werden. Natürlich schlich sich auch die Überlegung in Goman-Largos Bewußtsein, daß es vielleicht besser wäre, wenn er mit seinen Gefährtinnen vor der Katastrophe in die Zeitgruft floh, von der ja praktisch nur der winzige Teil zerstört werden konnte, der in die erste Realgegenwart von Kamintze ragte, doch verdrängte der Modulmann diesen Gedanken wieder, da er wußte, daß seine Gefährtinnen mit ihrem unpragmatischen Denken nicht für diese Lösung zu haben sein würden. Er hatte seine Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als das Fahrzeug auf der Schiene in eine Art Bahnhof glitt, in dem auf anderen Gleisen zahlreiche ähnliche Fahrzeuge standen. Im Hintergrund des Bahnhofs zogen sich zwei Stahlwände auseinander, das Fahrzeug schwebte hindurch – und hinter ihm schlossen sich die Wände wieder. Mit schwachem Zischen hielt das Fahrzeug an. Goman-Largo konnte nichts sehen, da es völlig dunkel war. Er setzte deshalb einige seiner Module ein, um sich zu orientieren – und mit ihrer Hilfe entdeckte er schon nach kurzer Zeit die Strukturen eines Computers beziehungsweise einer Positronik.
Es waren merkwürdige Strukturen! Doch der Modulmann kam nicht dazu, sich länger mit Untersuchungen zu befassen. Es wurde hell – und er sah wenige Meter vor dem stehenden Fahrzeug die von blinkenden Lichtern bedeckte Frontwand der Positronik. Langsam stieg Lanara aus. Goman-Largo, Neithadl-Off und Anima folgten ihrem Beispiel. Sie gingen bis zu einem großen Sessel, der einem rußigen Eisenkessel mit tausend Liter Fassungsvermögen glich, von dem ein Drittel der Wand herausgeschnitten war. Die Öffnung war der Frontwand des Computers zugewandt – und dort saß eine andere Bewohnerin der Satellitenstadt. Ein Kind! »Das ist Salany, die Computer-Sprecherin«, flüsterte Lanara und blieb dicht neben dem Sessel stehen. »Stört sie nicht, denn sonst wird die Verbindung zum Computer für längere Zeit unterbrochen!« »Hat der Computer eine Möglichkeit, Kamintze zu steuern?« erkundigte sich Anima, ebenfalls flüsternd. »Ich weiß nichts darüber«, erklärte Lanara. »Ich vermag es nicht zu erkennen«, sagte Goman-Largo, als er sah, daß seine Gefährtinnen ihn fragend und auffordernd musterten. »Dieser Computer ist eine so primitive und zugleich so komplizierte Konstruktion, daß ich mit meinen Modulen so gut wie nichts herauslesen kann.« Salany seufzte und hob den Kopf. Ihre bis dahin verschleiert wirkenden Augen wurden klar. Sie blickten auf Lanara und die drei Besucher. »Was sind das für Leute?« fragte die Computer-Sprecherin mit kindhafter Mädchenstimme und zugleich mit dem Ernst des gereiften Alters. »Wir sind Zeitlose und kommen aus dem Reich jenseits der Schwellen«, erklärte Neithadl-Off großspurig. »Zeitlose?« wisperte Anima. »Davon hat Atlan einmal gesprochen. Wenn du zu ihnen gehörst, kennt er dich vielleicht.« »Das müßte ich aber wissen!« pfiff die Vigpanderin gedämpft. »Du meinst bestimmt etwas ganz anderes als ich.« »Streitet euch nicht!« bat Salany. »Die Frist, die uns und Kamintze geblieben ist, ist kurz und zu schade für nichtssagende Unterhaltung.« »Wir werden versuchen, euch zu helfen«, sagte Goman-Largo. »Aber dazu muß ich das Potential Allgorahs erst einmal kennenlernen. Leider erkenne ich nicht, ob der Computer über entsprechende Möglichkeiten verfügt.« »Der Computer kann den Sturz auf Stoma nicht verhindern«, erklärte Salany. »Er kann nur den Schutz für die meisten Bewohner von Kamintze so lange wie möglich aufrecht erhalten.« »Das ist ein schwacher Trost«, meinte Neithadl-Off. »Von wo aus können wir einen Blick auf Stoma werfen?« erkundigte sich Goman-Largo. »Von hier aus«, antwortete die Computer-Sprecherin. »Schalte ein realitätsbezogenes Bild, Allgorah!« Die Lichter auf der Frontwand der Positronik erloschen. Wenige Sekunden später leuchtete die gesamte Wand hell auf – und zeigte ein Bild, das Goman-Largos Herzschlag stocken ließ. Tiefgefurchte Wolkenstrukturen, ähnlich der Außenfläche einer Großhirnrinde, dehnten sich unter der Satellitenstadt scheinbar unendlich weit nach allen Seiten, rötlich-braun angehaucht vom Licht
einer aufgeblähten roten Sonne, die schräg vor und über Kamintze flammte und von einer wabernden Korona umgeben war. Nachtdunkle Abgründe taten sich zwischen den verschiedenen Wolkenformationen auf. Rechts vom Kurs des Satelliten, schätzungsweise tausend Kilometer entfernt, schien ein dunkelrotes atmosphärisches Sturmsystem mitten in einer Kreiselbewegung erstarrt zu sein, eine optische Täuschung, durch die große Entfernung hervorgerufen. Glutheiße Gasmassen aus den Tiefen des Riesenplaneten waren hier bis an die oberste Schicht der Atmosphäre gerissen worden. »Das ist Stoma!« flüsterte Salany. Der Modulmann stellte sich vor, wie die Satellitenstadt mitsamt ihren Hunderttausenden oder gar Millionen von Einwohnern in diese turbulente, wolkenerfüllte Atmosphäre stürzte. Sie konnte unter Umständen Tage durch die obersten Wolkenschichten rasen, bis ihre Geschwindigkeit so weit abgebremst war, daß sie in einer Parabel tiefer hinabsank, sich erhitzte und in den dichteren und heißen Gasschichten gleich einer Fackel aufloderte. »Vielleicht können wir die Bewohner in die Zeitgruft führen, Modulmann!« pfiff Neithadl-Off. »Dort wären sie sicher – irgendwann fänden wir sicher eine Zeit und einen Ort, wo sie wieder ›an Land‹ gehen und sich eine neue Heimat aufbauen könnten.« »Nein!« lehnte Goman-Largo ab. »Es gibt nirgends Sicherheit in einer Zeitgruft. Außerdem lauert dort der Wächter. Wir müssen ihnen Kamintze erhalten, wenn wir sie retten wollen.« Er wandte sich an die Computer-Sprecherin und sagte eindringlich: »Bring bitte Allgorah dazu, daß er mir einen Weg in sich hinein öffnet!« Salany schloß die Augen und schwieg einige Minuten, dann flüsterte sie: »Der Weg ist jetzt offen, Modulmann.« »Danke!« erwiderte Goman-Largo und konzentrierte sich wie noch nie in seinem Leben. * Äußerlich veränderte sich nichts. Es war ja auch nicht möglich, daß ein Lebewesen körperlich in einen Computer einging. Auch geistig wäre das kaum möglich gewesen. Nur mit Hilfe eines Module-Paares gelang es GomanLargo, einige imaginäre Finger seines Bewußtseins in das Pseudo-Bewußtsein Allgorahs zu strecken. Im nächsten Moment begriff er, was so merkwürdig – und schwierig – an diesem Computer war. Er befand sich längst nicht mehr in dem Zustand, in dem seine Erbauer ihn der Satellitenstadt überlassen hatten. An ihm hatten seitdem zahllose intelligente Wesen mit ebenso zahllosen unterschiedlichen Mentalitäten, Bedürfnissen und Fähigkeiten Veränderungen vorgenommen – Wesen, die durch die Zeitgruft gekommen und irgendwann wieder in ihr verschwunden waren. Intelligenzen aus allen Zeiten des Universums! Allgorah war deswegen nicht schlechter geworden. Im Gegenteil. Die Verbesserungen waren enorm. Doch seine Komplexität hatte dadurch so zugenommen, daß er fast undurchschaubar geworden war. Goman-Largo hätte hinterher nicht zu sagen gewußt, wie lange er vergeblich versuchte, etwas mit Allgorah anzufangen. Er wußte nur, daß irgendwann ein Faktor mit ins Spiel kam, mit dem er nicht gerechnet hatte: Salany, die Computer-Sprecherin. Beziehungsweise ihr Bewußtsein.
Der Modulmann begriff, warum die Tufylls ein Kind zu ihrer Computer-Sprecherin gemacht hatten. Nur ein kindliches Bewußtsein konnte noch so unverdorben sein, so wenig durch die Zwänge der Anpassung verkrüppelt, daß es sich auf das Pseudo-Bewußtsein eines so komplexen Computers einzustellen vermochte. Und es half ihm dabei, diesen Computer zu verstehen, dessen Bewußtsein durch die zahllosen Eingriffe praktisch verkrüppelt war. Allmählich kam sogar so etwas wie eine Kommunikation zustande, und Goman-Largo erfuhr ein wenig über die neuen atemberaubenden Möglichkeiten, die sich dem einst relativ primitiven Computer durch zahllose Manipulationen aufgetan hatten. Das war jedoch erst der Anfang. Von da an dauerte es noch sehr lange, bis es ihm gelang, Allgorah einige dieser Möglichkeiten ins Pseudo-Bewußtsein zu rufen und ihm klar zu machen, wie er sie zum Wohl der Stadt Kamintze anwenden konnte… * Als Goman-Largo aus tiefer Bewußtlosigkeit erwachte, war er mit Lanara allein. Seine beiden Gefährtinnen waren ebensowenig zu sehen wie Salany. »Was ist los?« flüsterte er mühsam. »Beruhige dich, Modulmann!« sagte Lanara und streichelte ihn. »Anima und Neithadl-Off lassen dir ausrichten, daß sie zur Zeitgruft zurückgekehrt sind, um gegen den Wächter zu kämpfen. Ich habe mich unterdessen darum bemüht, dich ins Leben zurückzuholen. Es ist mir besser gelungen, als ich zu hoffen gewagt hatte.« In tiefer Verlegenheit wich Goman-Largo vor den zärtlichen Händen Lanaras zurück. »Und wo ist Salany?« erkundigte er sich, während er seine Kombination und Ausrüstung überprüfte. »Das weiß ich nicht«, erklärte Lanara. »Sie war plötzlich verschwunden.« Ich bin noch da! wisperte eine mentale Stimme. Du hast mir gezeigt, was meine Bestimmung ist, Modulmann. Ich liebe dich dafür und werde dich weiter lieben, auch wenn du uns wieder verlassen hast. Etwas von dir bleibt ohnehin zurück. Vielleicht tritt es irgendwann meine Nachfolge an. Goman-Largo begriff das Wesentliche. Alles andere wollte er nicht begreifen, obwohl er es insgeheim als Preis für die Rettung der Satellitenstadt und ihrer Bewohner akzeptierte. »Fangen wir an!« sagte er entschlossen. Irgendwo in der Tiefe von Kamintze fing ein bislang stillgelegtes Kraftwerk an zu arbeiten. Donnern, Tosen und Vibrieren erfüllte die Räume der Stadt, bevor die Reaktoren gleichmäßig liefen und ein Maximum an Energie lieferten. Triebwerkskomplexe wurden ausgefahren und in vorberechnete Richtungen geschwenkt. Stützmasse floß durch Pumpen und Rohre. Energie zündete. Lichtschnelle Strahlenbündel stachen von der Unterseite des rund achtzig Kilometer langen und fünfzehn Kilometer durchmessenden Stahlplastikzylinders schräg gegen die obersten Wolkenballungen des Gasriesen. In allen elektronischen Geräten der Stadt kreischten, sangen und pfiffen die akustischen Auswirkungen von mächtigen Ausbrüchen an Radiostrahlung auf und in Stoma. Ganz allmählich wurde Kamintze schneller und hob den Bug an. Nach einer genau vorausberechneten Zeitspanne stellte das neuaktivierte Kraftwerk den Dienst ein.
Unverbrauchte Stützmasse floß zurück. Strahlenbündel erloschen. Triebwerkskomplexe wurden eingefahren. »Kamintze ist gerettet!« sagte Goman-Largo und kämpfte gegen eine neue Ohnmacht an, denn er war fast zu Tode erschöpft. »Dafür werden wir dir immer dankbar sein, Modulmann«, versprach Lanara. »Schlaf jetzt!« Wie gerne hätte Goman-Largo diese Aufforderung befolgt. Aber er durfte nicht schlafen. Er mußte dorthin gehen, wohin seine Gefährtinnen gegangen waren. Nein, nicht gehen. Dazu war der Weg zu weit. Das konnte er nicht schaffen. »Fahr mich zurück, Lanara!« »Zur Zeitgruft?« fragte Lanara. »Aber ich weiß nicht, wo sie sich befindet.« »Du brauchst mich nur dorthin zurückzubringen, wo du mich getroffen hast«, erläuterte GomanLargo ungeduldig. »Aber beeile dich, bitte! Meine Gefährtinnen schweben vielleicht in höchster Gefahr.« »Du willst mich verlassen?« rief Lanara entrüstet. »Das hättest du früher sagen sollen. Jetzt lasse ich dich nie mehr gehen.« »Sei nicht unlogisch!« gab Goman-Largo zurück. »Ich habe nie gesagt, daß ich in Kamintze bleiben wollte. Ich habe nur alles getan, um eure Stadt und euch zu retten. Aber ich kann nicht bleiben, denn ich habe ein Ziel, dem ich nachjagen muß, eine Bestimmung, wenn du so willst. Bitte, bring mich zurück!« Lanaras Miene wurde eisig, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sekundenlang kämpfte sie um ihre Selbstbeherrschung. Schließlich nahm sie seine Hand und zog ihn in die Vorhalle der Computerzentrale. Die Trennwand öffnete und schloß sich auch diesmal automatisch. Draußen stiegen sie und er in ein anderes Fahrzeug, denn das, mit dem sie gekommen waren, befand sich nicht mehr hier. Kurz darauf setzte das Fahrzeug sich in Bewegung und glitt auf spiralförmigem Kurs durch das hellerleuchtete Innere der Satellitenstadt. Überall hatten sich Scharen von Tufylls versammelt. Sie schienen ihre Errettung zu feiern. Goman-Largos Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken an den Zustand, in dem er Kamintze »weiter oben« in der Zukunft beziehungsweise Relativzukunft vorgefunden hatte: luftlos, leblos, in Eis und Schnee erstickt. Doch er schüttelte diesen Gedanken ab. Nichts existierte ewig. Folglich durfte er auch nicht erwarten, daß Kamintze für alle Zeiten als wohnlicher Platz für das Volk der Tufylls erhalten bleiben würde. Aber die Katastrophe mußte nicht auch das Ende für dieses Volk bedeuten. Es konnte sich retten, wenn es sich weiterentwickelte und – vielleicht – wieder die Idee der Raumfahrt aufblühen ließ. Dann würden die Nachkommen der heute lebenden Tufylls ins All ausschwärmen und auf vielen Planeten Keimzellen für neue Zivilisationen bilden – oder neue, größere und sicherere Raumstädte als Kamintze bauen. Außerdem war die Katastrophe für dieses Volk kein unabwendbares Schicksal, denn für die Tufylls hatte sie noch nicht stattgefunden. Sie lag also in einer noch nebelhaften, unfertigen und damit instabilen Zukunft. »Ihr werdet leben«, sagte er, in Gedanken noch ganz bei der möglichen Zukunft der Tufylls, als das Fahrzeug anhielt. »Allerdings«, erwiderte Lanara zweideutig und lächelte zaghaft. »Wirst du zurückkehren,
Modulmann?« Warum eigentlich nicht! schoß es Goman-Largo durch den Kopf. Wer den Ozean der Zeiten befährt, für den ist alles möglich. »Wir werden uns wiedersehen, sobald ich meine Mission erfüllt habe«, versprach er. »Aber wann wird das sein?« fragte Lanara. »Das kommt darauf an, welche Wege durch die Zeit ich noch finde«, antwortete Goman-Largo lächelnd. »Vielleicht bin ich schon morgen wieder da – oder gestern. Wer weiß!« Ohne daß er vorher auch nur daran gedacht hätte, nahm er Lanara in die Arme und küßte sie. Dann ließ er sie abrupt los, wandte sich um und rannte in die Richtung, aus der die Peilsignale seiner drei Module kamen, die er in der Hologramm-Komposition zurückgelassen hatte, hinter der sich der Eingang zur Zeitgruft verbarg. Als seine Stiefel ins Wasser des kleinen Sees platschten, hielt er noch einmal inne und drehte sich um. Lanara stand neben dem Fahrzeug, und ihre Silhouette hob sich in erregend weiblicher Anmut gegen die bläuliche Diesigkeit ab, die den harten Glanz der Linearsonne abmilderte. In diesem Augenblick war es Goman-Largo klar, daß er Lanara nie vergessen würde. Er hob die rechte Hand und winkte, dann wandte er sich endgültig dem See und damit dem Eingang der Zeitgruft zu – und dem Weg zur Erfüllung seiner Mission. Als ihm das Wasser bis zum Halse stand, verschwand der See mitsamt seiner näheren Umgebung. Goman-Largo stand auf der schrägliegenden Metallplatte, auf der er und seine Gefährtinnen das Time-Shuttle zurückgelassen hatten. Das Zeitgefährt war verschwunden, als hätte es nie existiert. Aber in der Metallplatte klaffte ein türgroßes Loch mit gezackten und bläulich verfärbten Rändern – und dahinter fiel ein dunkler Schacht in unbekannte Tiefe. Der Modulmann fragte sich, ob Neithadl-Off und Anima dieses Loch in die Metallplatte gesprengt hatten oder ob das der Wächter gewesen war. Er kam zu dem Schluß, daß das unwichtig war. Wichtig war nur, daß er seinen Gefährtinnen zu Hilfe kam, denn sie schwebten zweifellos in großer Gefahr. Er sammelte seine Module ein, dann aktivierte er sein Flugaggregat und schwebte in den Schacht.
7. Erschüttert stand Goman-Largo vor dem Skelett, auf das er nach stundenlangem Herumirren durch ein System von Gängen, Schächten und Gewölben gestoßen war, die ihm gleichzeitig unheimlich fremd und seltsam vertraut vorkamen. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß es sich um das Skelett Nussels handelte. Natürlich wußte er, daß es zahlreiche andere Huftierarten gab, deren Skelette so ähnlich aussahen. Aber es gab nur eine Art, aus deren Stirnbein ein etwa unterarmlanges, korkenzieherförmiges Horn ragte. Das war der untrügliche Beweis dafür, daß hier das Skelett eines Einhorns lag. Hier: Das war ein langgestreckter Saal mit Metallplastikwänden, die aus unerfindlichen Gründen einmal mit rotgebrannten Klinkern verblendet worden waren. Doch auch das mußte schon lange zurückliegen, denn rund die Hälfte der Klinker hatten sich gelöst und lagen zerbrochen und halbverfallen auf dem staubigen Boden neben den Wänden. Goman-Largo versuchte vergeblich, das zu rekonstruieren, was geschehen war und zum Tode Nussels geführt hatte – vor mindestens zehn Jahren, denn das Skelett war nicht nur völlig fleischlos; auch das Fell, die Mähne und der Schweif waren restlos verschwunden. Der Modulmann sah keinen Widerspruch zwischen diesem Zustand von Nussels sterblichen Überresten und der Tatsache, daß er nach seiner Zeitrechnung das Einhorn vor maximal zwölf Stunden noch lebend gesehen hatte. Als Spezialist der Zeit und Absolvent der Zeitschule von Rhuf wußte er, daß sich innerhalb von Zeitgrüften alle Zeitlinien und -ebenen schnitten, so daß Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit sich ständig begegneten. Falls seine Erinnerungen ihn nicht trogen. Und falls es sich nicht um falsche Erinnerungen handelte, die die Agenten des Ordens der Zeitchirurgen seinem Gehirn während der Stasis aufgepfropft hatten. Goman-Largo lächelte schmerzlich, als er sich bewußt wurde, daß er diese Einschränkungen immer würde machen müssen, solange es ihm nicht gelungen war, alles restlos aufzuklären, was mit ihm damals – vor Hunderttausenden oder Millionen von Jahren – in der Zeitgruft von Xissas geschehen war. Er fuhr herum, als er irgendwo hinter sich ein Trappeln hörte. Seine Augen weiteten sich. Denn er sah sich niemand anderem gegenüber als Nussel! Unwillkürlich ging sein Blick zwischen dem Skelett und dem lebendigen Einhorn hin und her. »Nein, ich lebe wirklich noch, Modulmann«, erklärte das Einhorn vom Eingang des Saales aus. Der dumpfe Klang seiner Stimme verriet die Scheu oder Furcht vor dem Skelett eines Artgenossen. »Du hättest es eigentlich selbst erkennen müssen.« Goman-Largo fiel es wie Schuppen von den Augen. Er sah die rote Gesichtsmaske Nussels und bemerkte erst diesmal bewußt, daß sie nicht aus Leder oder Stoff bestand, wie es bei der relativen Primitivität der Mohenna-Zivilisation zu erwarten gewesen wäre, sondern aus molekülverdichtetem Glasfaserplastik, das mindestens ebenso haltbar war wie Gold. Sie hätte bei dem Skelett liegen müssen, wenn es Nussels Skelett gewesen wäre (und natürlich, falls niemand sie weggenommen hätte). »Hm!« brummte der Modulmann verlegen. »Aber Hauptsache ist, daß du lebst. Wie kommst du eigentlich hierher? Und weißt du, wo Anima und Neithadl-Off sind?« »Ich bin nicht mit euch durch die Tarnung in die Stadt gegangen«, erklärte Nussel. »Als ich merkte,
daß die Stadtbewohner uns und den Eingang der Zeitgruft nicht sahen, bekam ich Angst, ich könnte nicht zurückfinden. Deshalb blieb ich hier.« »Dann mußt du gesehen haben, wie unser Time-Shuttle verschwand!« rief Goman-Largo. »Es war plötzlich nicht mehr da«, berichtete das Einhorn. »Kurz darauf gab es einen fürchterlichen Knall, ich wurde bewußtlos – und als ich wieder zu mir kam, war das Loch in der Metallplatte. Ich schwebte in den Schacht…« »Moment!« unterbrach Goman-Largo den Bericht. »Du schwebtest in den Schacht? Aber du besitzt kein Flugaggregat!« »Der Wächter holte mich«, erläuterte Nussel. »Du hast ihn gesehen?« »Nein«, antwortete das Einhorn. »Er blieb unsichtbar für mich. Wahrscheinlich benutze er ein Energiefeld, um mich zu transportieren.« »Ja, wahrscheinlich«, echote Goman-Largo. »Eigentlich ist es erstaunlich, wie schnell du, obwohl du von einer Welt mit primitiver Technologie kommst, dich in der High-Tech-Terminologie zurechtfindest.« »So erstaunlich ist das nicht«, behauptete Nussel. »Ich sagte dir doch schon, daß wir Einhörner einst die Herren von Mohenn waren. Damals beherrschten wir unter anderem auch die Zeitreise.« Goman-Largo holte tief Luft und blickte erneut zu dem Skelett. »Ich verstehe«, erwiderte er. »Deshalb wolltest du uns in unserem Time-Shuttle begleiten. Du ahntest zumindest, wozu es dient. Und dieses Skelett stammt wahrscheinlich von einem Urahn von dir, der sich vielleicht damals in der Zeitgruft verirrte.« Er stutzte und runzelte die Stirn. »Aber er kann doch nur die Zeitgruft von Mohenn betreten haben!« rief er aus. »Wir aber befinden uns in der Zeitgruft von Kamintze!« Er blickte Nussel prüfend an. »Oder habt ihr damals auch schon Time-Shuttles benutzt?« »Das weiß ich nicht«, antwortete das Einhorn. »Davon sagen die Überlieferungen nichts.« »Ihr habt es vergessen«, stellte Goman-Largo fest. »Oder…?« Wie schon einmal, kam ihm auch diesmal der Ansatz einer logischen Überlegung, die atemberaubende Aussichten eröffnete. Doch auch diesmal zerrannen seine diesbezüglichen Gedanken angesichts der Ungeheuerlichkeit der Perspektiven, die sich auftun wollten. Er schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, wir müssen uns nicht damit befassen, sondern mit der Suche nach Anima, Neithadl-Off und unserem Time-Shuttle«, erklärte er. »Ich denke, ich weiß, wo Anima und Neithadl-Off sind«, sagte Nussel. Goman-Largo atmete auf; seine Zuversicht wuchs. »Dann führe mich hin!« rief er. * Nach einer alptraumhaften Wanderung durch die »Eingeweide« der Zeitgruft führte das Einhorn den Modulmann auf eine Art Rampe, von deren Rand sich ein atemberaubender Ausblick auf eine Ebene mit ringförmig angeordneten Sektoren eröffnete, die durch transparente Wände voneinander
getrennt waren. »Die Kerkersektion dieser Zeitgruft«, stellte Goman-Largo stirnrunzelnd fest. »Hoffentlich finden wir hier wieder hinaus.« Nussel ging nicht darauf ein, sondern bewegte unruhig die Vorderhufe am äußersten Rand der Rampe und nickte heftig mit dem Kopf. »Dort sind sie!« sagte er. Eine dunkle Ahnung erfaßte Goman-Largo und preßte sekundenlang mit imaginären Fingern sein Herz zusammen. Er blickte in die Richtung, in die Nussel genickt hatte – und sah durch den hellgrauen Dunst, der als dünne Schicht über der Kerkersektion hing, zwei vertraute, aber zu »Denkmälern« erstarrte Gestalten. Anima und Neithadl-Off! In einem Zustand, der sie für alle Zeiten so erhalten würde, wie sie bei seinem Eintritt gewesen waren. Konserviert durch das Anhalten aller Lebensvorgänge – und zugleich gefangen. Goman-Largo spürte, wie sein ursprüngliches Entsetzen einer Welle heißer Wut zum Opfer fiel. Der Wächter! schrien alle seine Sinne. Das muß er büßen! Er sprang von der Rampe, schaltete sein Flugaggregat ein und jagte in irrsinnigem Tempo über die Kerkersektion hinweg. Mit Hilfe seiner Module ließ er überall die Wände aus Formenergie implodieren. Damit konnte er jedoch nichts zur Befeiung seiner Gefährtinnen tun. Er hatte nicht einmal die leiseste Ahnung, wie die Stasis der Kerkersektion einer Zeitgruft aufgehoben werden konnte. Von einem Moment zum anderen kam die Ernüchterung. Alle seine Module reichten wahrscheinlich nicht aus, Jim die irgendwo verborgenen Schaltfelder so zu modifizieren, daß die Stasis aufgehoben wurde. Er war hilflos. Wahrscheinlich konnte nur der Wächter die Stasisfelder ausschalten. Aber er würde sich kaum dazu zwingen lassen. Also mußte er überlistet werden. Aber dazu würde er, Goman-Largo, ihn erst einmal finden müssen. Er landete im Zentrum der Ringsektoren, einem wie er wußte, besonders geschützten Platz, auf dem kein Stasisfeld errichtet werden konnte, weil er für die Aufnahme der Wächter dieser Zeitgruft vorgesehen war. Davon zeugten noch die halbzerfallenen Überreste thronartiger Stühle oder Sessel, die in sechs Häuflein mit gleichen Abständen im Zentrum angeordnet waren. Ihr Zustand war ein Beweis dafür, daß die Wächter der Zeitgruft von Kamintze das Opfer von Kämpfen, Anschlägen oder einfach Krankheit geworden waren. Bis auf einen: den Wächter, der ihnen eine Falle gestellt, das Time-Shuttle geraubt und Anima und Neithadl-Off in Stasis versetzt hatte. Goman-Largo durfte nicht hoffen, daß dieses Wesen kam, wenn er es rief. Also blieb ihm auch diesmal weiter nichts übrig, als seine Module einzusetzen, sofern es einige gab, die der Suche nach einem Zeitgruft-Wächter dienen konnten.
Der Modulmann lauschte, dann kauerte er sich nieder und konzentrierte sich. Das war nicht ungefährlich, denn falls der Wächter ihn eher aufspürte als er ihn und ihn in diesem Zustand überraschte, würde er sich im Handumdrehen in der gleichen Lage befinden wie seine Gefährtinnen. Doch er mußte dieses Risiko eingehen. Wieder einmal verlor er jedes Gefühl für die Zeit, während er mit Hilfe einiger Module nach dem Wächter suchte. Und plötzlich hatte er ihn! Aber nicht nur ihn, denn die Module stellten außer den von der Wächter-Konditionierung unverkennbar geprägten Bewußtseinsimpulsen noch andere Impulse fest, die ungezähmt, heftig und wild waren und sich teilweise mit den Impulsen des Wächters vermischten. Es war nicht schwer, die Richtung zu ermitteln, aus der die Impulse kamen. Notfalls hätte der Modulmann sie sogar erraten können, denn wenn der Wächter sich ihr Time-Shuttle angeeignet hatte, was als sicher anzunehmen war, mußte er sich auf dem Weg zur ersten Realgegenwart befinden, die stets oberhalb einer Zeitgruft räumlich angeordnet war und sich nur durch einen temporären »Sidestep« erreichen ließ. Nur den Wächtern einer Zeitgruft und ihren Usylls waren solche Wege zugänglich. Und einem Spezialisten der Zeit mit Hilfe seiner Module. Goman-Largos Verstand arbeitete so klar und schnell wie selten – und so schnell es die Umstände, zuließen, schwebte er mit Hilfe des Flugaggregats zum nächsten Übergang, passierte ihn unter Zuhilfenahme der dafür geeigneten Module und jagte dem nächsten Übergang zu. Nach dem dritten Übergang deckten ihn die eingesetzten Module mit Warnimpulsen ein. Höchste Gefahrenstufe! Das Wild war gestellt. Vor Goman-Largo ragte der dunkle Zylinder des Time-Shuttles auf – und aus seinem Innern kamen schmerzende Schauer aus den Impulsen des Wächters und den anderen, von wildem Haß erfüllten Impulsen. Der Modulmann geriet in einen Hurrikan synkopenartiger Emotionen, die ihn gleich heftigen Fieberschauern durchschüttelten. Er wurde fast blind dadurch und schaltete das Flugaggregat zu spät ab. Hätte das Schott des Time-Shuttles nicht offengestanden, er wäre dagegen geprallt und hätte sich vielleicht den Schädel eingeschlagen. So streifte er nur den Rand mit der linken Schulter und landete sich überschlagend im Innern der Kapsel. Aber er war sofort wieder auf den Beinen und wurde von Grauen und Furcht bis zum Schott zurückgepeitscht, als er den Wächter sah – und das, was über ihn hergefallen war und Rache an ihm nahm für etwas, das einst ihm und dem, was bereits von ihm gestorben war, angetan worden war. Der Wächter sah so aus, wie Goman-Largo alle Wächter von Zeitgrüften in Erinnerung hatte: ein annähernd hominid geformter Körper, der größtenteils von einer weiten, dunkelbraunen Kutte verhüllt war, ein staubgraues Gesicht mit Zügen, die aus Stein gemeißelt schienen, und zwei tiefen Augenhöhlen, in denen Ballungen weißlichen Gespinsts schimmerten. Reale oder vorgespiegelte Erscheinung? Goman-Largo wußte es nicht. Es war ihm auch egal. Das andere Wesen war eine weiche, aufgequollene Masse, bei deren Anblick der Modulmann sofort wußte, was er vor sich hatte. Zu groß war die Ähnlichkeit mit dem, was der Struktur-Disruptor in der Transmitterkammer der Kapsel damals von dem Hepather übriggelassen hatte – und das von
Neithadl-Off mit Kirkusischen Kadaverpilzen und zolpatischen Tiefseeiern verglichen worden war. Die Restsubstanz Krell-Nepethets. Seine bei der Darstellung eines Phylosers überzählige Biomasse, die er in einer Vorratskammer der Zeit-Transfer-Kapsel aufbewahrt hatte und die »spurlos« verschwunden war, als der Transmitter auf Preet und die Zeitschaltung der Kapsel sich aktivierten. Diese Biomasse mußte mit grenzenlosem Haß gegen die Zeitchirurgen und ihre Schergen und Helfer aufgeladen sein, ein Haß, der so stark war, daß er sogar einem Teil des ursprünglichen Körpers die Kraft verlieh, den Zeitgruftwächter anzufallen und ihm die Zellflüssigkeit zu entziehen. So daß er Stück um Stück zu Staub zerfiel. Der Anblick war so gräßlich und die Lage des Zeitgruftwächters so entsetzlich, daß Goman-Largo von Mitgefühl überwältigt wurde. Er sah sich wie gehetzt nach etwas um, mit dem er dem Wächter helfen konnte. Und er entdeckte an der Wand einen handlichen Strahler aus honiggelbem, stahlhartem Material: einen Quintadimwerfer, wie er auch in dreifacher Ausführung zur Ausrüstung des Hepathers gehört hatte. Der Modulmann stürzte sich auf die Waffe, packte sie mit beiden Händen und flüchtete zum Schott zurück. Keinen Augenblick zu früh. Der Rest des Hepathers mußte die Bedrohung instinktiv gespürt haben. Er ließ von dem halbtoten Wächter ab und floß brodelnd und wallend über den Boden auf den Tigganoi zu. Goman-Largo hob die Waffe, umfaßte das annähernd zylindrische Griffstück und preßte es zusammen. Über dem herantobenden Riesenfladen haßerfüllter Biomasse bildete sich ein Flimmern, dann verwandelte sich diese Energie in ein abgrundfinsteres Kugelfeld, das die Biomasse verschlang und danach scheinbar implodierte. In Wirklichkeit entwickelte das Feld, indem es sich zusammenzog, ein fünfdimensionales Transferfeld, das alle in ihm eingeschlossene Materie gleich einem Fiktivtransmitter abstrahlte – in diesem Fall allerdings irreversibel in den Hyperraum. Das lief so schnell ab, daß ein völlig ahnungsloser Beobachter das Schrumpfen des Kugelfelds nicht erkannt, sondern an ein Abschalten geglaubt hätte. Anschließend waren Kugelfeld und Biomasse verschwunden. Goman-Largo atmete schwer, aber er vergaß nicht, wie gefährlich ein Zeitgruftwächter sein konnte, auch wenn er halbtot war. Er kämpfte gegen die in ihm tobenden Emotionen an, preßte die Lippen zusammen und richtete den Quintadimwerfer auf die zerfallende Gestalt des Wächters. Die Ballungen weißlichen Gespinsts in den Augenhöhlen strahlten hell auf. »Warum hast du mir geholfen, Spezialist der Zeit?« fragte eine dumpfe Stimme, die aus einer halbzerbröckelten Mundöffnung drang. »Wir sind doch Feinde, denn ich sehe an dir das gleiche Symbol, wie es auch Krell-Nepethet getragen hat.« Unwillkürlich faßte sich Goman-Largo an die Brust, wo auf seiner Kombination in einem kreisrunden farblosen Feld von der Größe eines Handtellers ein purpurfarbenes, auf der Spitze stehendes gleichseitiges Dreieck in allen Farben des Regenbogens pulsierte. Das Symbol der Spezialisten der Zeit! »Krell-Nepethet – ein Spezialist der Zeit?« entfuhr es dem Modulmann. »Aber er war kein Tigganoi!« »Nicht nur Tigganois wurden zu Spezialisten der Zeit ausgebildet«, erwiderte der Wächter schwerfällig und leise. »Man griff auf zahlreiche andere Völker zurück. Aber niemand war so
zuverlässig wie die Tigganois. Krell-Nepethet bekämpfte zwar den Orden, aber er strebte eine Machtstellung für sich an, die rein egoistischen Zielsetzungen dienen sollte. Darum wurde er von Rhuf verstoßen und vom Orden gejagt. Ich dachte schon, ich hätte ihn zur Strecke gebracht, als ich seine Zeit-Transfer-Kapsel ortete. Aber es war nur ein Rest seiner Biomasse darin.« »Es hätte dennoch gereicht, um dich zu vernichten«, erklärte Goman-Largo, erschüttert über das Gehörte. »Aber ich habe dir nicht nur aus Mitgefühl geholfen. Ich verlange etwas von dir.« »Ich weiß«, murmelte der Wächter mit brüchig gewordener Stimme. »Du willst, daß ich deine Begleiter freilasse. Aber warum sollte ich das tun? Meine Dankbarkeit kann nicht soweit gehen, einen Todfeind des Ordens zu unterstützen.« »Der Orden der Zeitchirurgen existiert wahrscheinlich längst nicht mehr«, behauptete GomanLargo. »Ebensowenig wie die Zeitschule von Rhuf. Ich komme aus fernster Vergangenheit.« Eine ganze Weile lang erwiderte der Wächter nichts darauf, und Goman-Largo fürchtete schon, er wäre tot, doch dann flüsterte er: »Welches Ziel verfolgst du, Spezialist der Zeit?« »Ich unterstütze eine Gefährtin von mir dabei, ihren Ritter Atlan wiederzufinden«, antwortete Goman-Largo wahrheitsgemäß, aber nicht ganz vollständig, denn sein Hauptziel war nur verschoben, aber nicht aufgehoben. »Dann will ich dir helfen«, erklärte der Wächter. »Denn ich weiß, daß ein Tigganoi nicht von dem Ziel abweicht, das er sich einmal gesetzt hat. Deine Begleiter sind frei.« »Danke!« rief Goman-Largo. »Danke mir nicht zu früh!« erwiderte der Wächter. »Ich habe ein Signal abgestrahlt, als der Rest des Hepathers mich überfiel – und ich spürte Resonanz. Etwas nähert sich aus ferner Vergangenheit, das euch zum Verhängnis wird, falls es euch in dieser Sektion der Zeitgruft antrifft.« »Aus ferner Vergangenheit?« fragte Goman-Largo erregt. »Agenten des Ordens der Zeitchirurgen?« »Das wäre möglich, aber ich weiß es nicht«, gab der Wächter zurück. »Auf jeden Fall werde ich mit meinen Gefährtinnen fliehen«, erklärte der Modulmann. »Ich hole sie. Aber was mache ich solange mit dir? Ich wage nicht, dich ohne Aufsicht zurückzulassen.« »Warte, bis ich tot bin!« hauchte der Wächter. »Es wird nicht lange dauern. Vorher aber höre mir genau zu, denn ich will dir erklären, wie du die Zeit-Transfer-Kapsel zwischen den Zeitgrüften anhalten und dabei in der Zeit auf- oder abwärts bewegen kannst – und auch seitwärts! Ich muß dich jedoch warnen. Es gelingt nicht immer. Man kann sich für alle Zeiten verirren oder irgendwo stranden, von wo es keine Wiederkehr gibt.« »Das ist mir egal«, erwiderte Goman-Largo, steckte die Waffe ein und eilte an die Seite des Wächters. »Ich werde von dir lernen, was immer sich lernen läßt.« Den zerbröckelten Lippen entfloh ein Ächzen, dann flüsterte das Wesen: »So höre denn das Geheimnis, das nur wenige von denen kennen, die eine Zeitkapsel von innen gesehen haben!«
8. »Wir müssen es riskieren – oder du wirst deinen Ritter nie wiedersehen!« erklärte Goman-Largo der Hominidin. Der Wächter hatte nicht zuviel versprochen. Neithadl-Off und Anima waren frei gewesen und irrten in den Ringsektoren der Kerkersektion umher, als der Modulmann nach ihnen suchte. Nussel war bei ihnen, aber das Einhorn hätte ihnen den Weg zum Time-Shuttle auch nicht zeigen können. Jedenfalls nicht in der kurzen Zeitspanne, die ihnen noch blieb. Der Wächter war tot, aber bevor er starb, hatte er Goman-Largo nicht nur das Geheimnis verraten, wie die Kapsel zwischen den Zeitgrüften angehalten und manövriert werden konnte. Er hätte ihm auch gezeigt, daß die schwarze Projektionsplatte die Annäherung dessen anzeigte, das er durch sein Signal gerufen hatte. Der Modulmann beobachtete nun die leuchtenden konzentrischen Kreise auf der Platte, die allmählich immer stärker und in immer kürzeren Intervallen pulsierten. »Es nähert sich immer schneller«, erklärte er und deutete auf die Kreise. »Was immer es ist, es kann uns wahrscheinlich vernichten.« »Ich spüre die Gefahr«, sagte Nussel. »Sei tapfer, Anima!« pfiff Neithadl-Off. »Ich habe keine Angst«, verteidigte sich Anima. »Ich will nur nicht riskieren, für immer zwischen den Zeiten zu verschwinden und meinen Ritter nie wiederzusehen. Aber ich verstehe, daß es keine Lösung ohne Risiko gibt. Bring uns fort von hier, Modulmann!« »Nicht ohne dein Dazutun«, erwiderte Goman-Largo. Er winkte sie neben sich, ergriff ihre Hand und legte sie auf den Knauf des Steuergeräts, dann schloß er seine Hand darum und konzentrierte sich. Aus den Augenwinkeln musterte er dabei die Bildflächen im Hauptteil des Time-Shuttles. Zufrieden registrierte er, wie darauf wirbelnde Nebelfetzen erschienen, während sein Bewußtsein gleichzeitig mit einem Kaleidoskop von Bildern überflutet wurde. Das hielt aber nicht lange an, dann sah er vor seinem »inneren Auge« einen unendlich tiefen Schacht, den das Time-Shuttle hinaufraste. »Wir sind unterwegs!« flüsterte er triumphierend. Nicht lange danach erloschen seine Wahrnehmungen, und auch die Bildflächen wurden dunkel. Das Time-Shuttle befand sich wieder auf einer Nullzeit-Spur. »Jetzt kommt es darauf an!« stieß Goman-Largo hervor. »Anima, denke bitte konzentriert an den psionischen Wellenschlag deines Ritters! Mit Hilfe einiger Module kann ich deine entsprechenden Bewußtseinsimpulse interpretieren und in meine Befehlsimpulse an das Shuttle einarbeiten. Ohne deine Mitarbeit ginge es nicht. Ist das klar?« »Ja!« hauchte Anima. Im nächsten Augenblick stachen ihre Bewußtseinsimpulse hart und fordernd auf sein eigenes Bewußtsein ein. Er stöhnte, aber er flüchtete nicht, sondern hielt stand. Als es zu schlimm wurde, schrie er, gab aber immer noch nicht auf, obwohl er vergleichsweise das Gefühl hatte, in jeder Hand ein Ende einer zerschnittenen und stromführenden Hochspannungsleitung zu halten.
Irgendwann war es vorbei. Alle Impulse erloschen. Stille breitete sich aus. Über die Projektionsplatte tanzten stechend grelle Lichtpunkte. Das Steuergerät übermittelte Goman-Largo das Gefühl, auf etwas zu materialisieren. Im nächsten Moment wurde die Projektionsplatte wieder dunkel. Dafür erhellten sich die Bildflächen – und sie zeigten eine wüste, von wirbelnden Wolkenfetzen überschattete Landschaft. »Ein Planet!« stellte Neithadl-Off fest. »Und monströse Bewußtseinsimpulse«, sagte Nussel und, schnaubte erregt. »Eigentlich müßten wir in die Nähe deines Ritters gekommen sein, Anima«, meinte Goman-Largo und sah die Hominidin fragend an. Anima lauschte mit weit aufgerissenen Augen in sich hinein, dann fing sie an zu zittern. Nussel schien von ihren Empfindungen angesteckt worden zu sein. Er stieß einen klagenden Schrei aus und begann danach ebenfalls zu zittern. »Ist irgend etwas mit deinem Ritter nicht in Ordnung?« erkundigte sich der Modulmann verwirrt. »Er ist nicht da!« flüsterte Anima mit bebenden Lippen. »Aber es ist die richtige Galaxis. Das spüre ich, und ich ahne, daß der Erleuchtete nur hierher geflohen sein kann. Atlan muß von den Kosmokraten ebenfalls hierher gebracht worden sein, wenn alles logisch abgelaufen ist. Doch genau das scheint nicht der Fall zu sein. Atlan hat niemals hierher gefunden – oder er ist im Kampf mit dem Erleuchteten gefallen.« »Ich kann nicht glauben, daß Atlan plötzlich vom Erleuchteten besiegt worden sein soll, nachdem dieses Wesen doch offenkundig erst in panischer Angst vor ihm aus Alkordoom geflohen ist«, wandte Goman-Largo ein. »Eher glaube ich, daß mir bei der Bedienung des Time-Shuttles ein Fehler unterlaufen ist oder daß der Zeitgruftwächter mir absichtlich oder unabsichtlich falsche Informationen gab.« »Das wäre möglich?« rief Anima mit neuerwachter Hoffnung. »Ich muß es überprüfen«, erwiderte der Modulmann. »Hab ein wenig Geduld!« »Du wirst dich beeilen müssen, Modulmann«, sagte das Einhorn. »Anima’ ist vielleicht geduldig, aber dieses Monstrum, das sich uns dort draußen nähert, wahrscheinlich nicht.« * Goman-Largo sah auf die Bildflächen – und erschrak. Denn was sich dort draußen auf das Time-Shuttle zubewegte, war ein wahres Gebirge aus amorpher organischer Substanz, ein monströses Lebewesen von Millionen Tonnen Masse, die das Shuttle plattwalzen würde, wenn sie es unter sich begrub. Und wie es aussah, würde das innerhalb der nächsten zehn Minuten der Fall sein. »Alles ist irgendwie unwirklich«, sagte Nussel. »So, als könnte es jeden Augenblick wieder verschwinden oder sich zu einer völlig anderen Welt formen.« »Das erhärtet meinen Verdacht«, meinte der Modulmann. »Wir sind durch einen Bedienungsfehler zwar in die richtige Galaxis gekommen, aber in der falschen Zeit gelandet. Es ist die Zukunft, aber nicht unsere Relativzukunft, sondern eine absolute.« »Das ist nicht möglich!« pfiff Neithadl-Off protestierend. »Niemand kann in seine Realzukunft gehen! Als Parazeit-Historikerin kann ich das mit Bestimmtheit sagen.«
»Das weiß ich selbst«, gab Goman-Largo zurück. »Aber ich habe ja auch nicht behauptet, wir befänden uns in unserer Realzukunft. Ganz im Gegenteil. Die absolute Zukunft ist ein äußerst labiles, variables Etwas, das sich infolge der ständig näher heranbrandenden Gegenwartswirklichkeit unablässig verändert. Sie kann sich erst dann endgültig herausformen, wenn sie von der Gegenwart erreicht worden ist. Natürlich weiß ich, daß die Zusammenhänge viel komplexer sind, aber da wir uns in Zeitnot befinden, kann ich sie nicht exakter formulieren.« Er wandte sich wieder an Anima. »Wir müssen einen zweiten Versuch unternehmen – und zwar schnell!« »Wartet noch!« rief Nussel. »Ich sehe jemanden, der sich nicht nur in Zeitnot befindet, sondern in höchster Lebensgefahr. Vielleicht sollten wir versuchen, ihn zu retten.« »Wo?« rief Neithadl-Off. »Wer?« fragte Anima. Goman-Largo hatte inzwischen gesehen, was das Einhorn meinte. Es handelte sich um ein hominides Lebewesen, und es befand sich auf der Flucht vor dem Monstrum – auf einer aussichtslosen Flucht, denn seine Geschwindigkeit lag erheblich unter der des organischen Gebirges. »Atlan?« hauchte Anima hoffnungsvoll, dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Nein, das ist nicht mein Ritter. Aber wir müssen ihn vor dem Ungeheuer retten. Modulmann, unternimm etwas!« »Es ist ein Raumfahrer«, erklärte Neithadl-Off, als sie sah, daß Goman-Largo zögerte, etwas zu unternehmen. »Bestimmt kann er uns etwas über die Verhältnisse in dieser Galaxis sagen.« »Informationen, ja«, pflichtete Goman-Largo ihr bei und zog seinen Quintadimwerfer. »Öffne das Schott, Anima! Wir nehmen den Fremden an Bord.« Als das Schott sich öffnete, sprang Goman-Largo hinaus. Im ersten Moment hätte er beinahe seinen Druckhelm geschlossen, denn von dem Monstrum her schlug ihm ein infernalischer Gestank entgegen. Er beherrschte sich jedoch, weil er wollte, daß der Flüchtling sein Gesicht sah und ihn dadurch eher als verwandtes Wesen erkannte. Die Zeit würde auch so knapp werden. Aber es sah ganz danach aus, als könnte der Flüchtling ihn nicht sehen. Er wankte und rannte wie blind und taub auf das Time-Shuttle zu. Goman-Largo hob seine Waffe, zielte auf das zirka fünfhundert Meter hohe obere Drittel des Monstrums und preßte die Hand um das Griffstück. Am Rand der Organmasse bildete sich ein zirka fünf Meter durchmessendes nachtschwarzes Kugelfeld. Als es im nächsten Moment wieder erlosch, klaffte eine Lücke vom gleichen Durchmesser in der organischen Substanz. Sie wurde allerdings mit unheimlicher Geschwindigkeit wieder geschlossen. Goman-Largo feuerte weiter, aber soviel Masseverluste er dem Monstrum auch zufügte, es ersetzte sie praktisch genauso schnell wieder. Allerdings verlangsamte sich sein »Vormarsch«. Der Flüchtling merkte es und nahm sich deshalb zum erstenmal die Zeit, sich umzusehen. Dabei entdeckte er das Time-Shuttle und vor der Öffnung am »hinteren« Ende den Modulmann und die Hominidin. Goman-Largo winkte mit einer Hand, während er mit der anderen weiter den Quintadimwerfer betätigte. Der Flüchtling stockte nur kurz, dann beschleunigte er seinen Lauf. Sekunden später erreichte er das Time-Shuttle – und brach total erschöpft zusammen. Anima fing ihn auf und zog ihn in die Kapsel zurück. Goman-Largo stellte den Beschuß ein und
kehrte ebenfalls um. Das Schott schloß sich automatisch wieder. »Kümmere dich später um ihn!« rief Goman-Largo Anima zu. Er eilte in den Kontrollraum, wartete, bis Anima ihre Hand um den Knauf des Steuergeräts geschlossen hatte, und legte seine Hand auf die ihre. Von weiter hinten ertönte ein Entsetzensschrei Neithadl-Offs. Als der Modulmann den Kopf wandte, wurde ihm ebenfalls mulmig. Das Monstrum hatte nicht nur alle Substanzverluste wieder wettgemacht, sondern seine Geschwindigkeit auch noch beschleunigt. Es ragte gleich einem Gebirge halb über das Time-Shuttle – und es sah so aus, als würde es das Gerät im nächsten Augenblick unter sich begraben. Goman-Largo konzentrierte sich. Das Abbild des Ungeheuers verschwand von den Bildflächen. Statt dessen war wieder nur die absolute Finsternis einer Nullzeit-Spur zu sehen. Der Tigganoi spürte durch Animas Vermittlung und mit Hilfe der Verstärkung durch seine Module den psionischen Wellenschlag, der der von Atlan sein mußte – und er spürte Animas Furcht, ihren Ritter abermals zu verfehlen. Das spornte ihn zur Aufbietung seiner letzten Kraftreserven an. Und plötzlich packte irgend etwas sein Bewußtsein und versetzte ihn in einen euphorischen Sinnestaumel, der alle seine Verkrampfungen hinwegschwemmte, die sich bisher hinderlich ausgewirkt hatten. Mit schlafwandlerischer Sicherheit manövrierte Goman-Largo das Time-Shuttle – und diesmal wußte er, daß sie ihr Ziel nicht verfehlen würden. Die Kapsel stoppte zwischen verschiedenen Zeitgrüften, dann schwang sie abermals über eine Nullzeit-Spur, tangierte eine Zeitgruft, von der aus die Reisenden einen Ausblick auf einen vor Leben strotzenden, aber infolge des Fehlens intelligenter Lebensformen ungewöhnlich friedlichen Planeten hatten. Goman-Largo kam gerade noch dazu, sich die Schaltungen zu merken, durch die das Time-Shuttle zu dieser friedlichen Welt zurückfinden würde, dann schwang das Fahrzeug bereits in die nächste Nullzeit-Spur hinein – und als es sie Stunden später wieder verließ, stand es auf einer Hochebene, und die Bildflächen zeigten außer Grasland und Dschungel eine im Tal ausgebreitete riesige Stadt, von der ein unwirklicher Glanz ausging. Anima stieß einen Freudenschrei aus, dann sank sie in Ohnmacht. Langsam nur löste sich Goman-Largo aus dem Bann, in den ihn seine Konzentration gezwungen hatte. Auch er spürte die Erschöpfung, die in erster Linie psychisch bedingt war. Er zwang sie nieder, erhob sich und musterte den Geretteten, der weiter hinten zwischen Neithadl-Off und Nussel kauerte. »Dann wollen wir uns mal deine Geschichte anhören«, sagte er.
9. »Ich bin Raman und gehöre zum USO-Klan«, berichtete der Flüchtling, nachdem Neithadl-Offs Kombinationsgerät mit seiner Sprache zurechtkam und Goman-Largo ihn darüber aufgeklärt hatte, daß er sich unter Freunden befand. »Vom USO-Klan?« schnappte Anima überrascht. Sie war schon nach kurzer Zeit wieder zu sich gekommen. »Atlan hat mir etwas von einer Organisation erzählt, die er einmal leitete und die er USO nannte.« »Atlan?« echote Raman, nicht weniger überrascht. »So hieß der König der Strahlenden Heerscharen, dessen Andenken von unserem Klan heilig gehalten wird. Ihn willst du gekannt haben? Dann müßtest du uralt sein.« »Also hat es in eurer Zeit Atlan tatsächlich gegeben«, meinte die Hominidin nachdenklich. »Aber dort habe ich nichts von ihm gespürt. Hier dagegen spürte ich sofort bei unserer Ankunft, daß mein Ritter da ist.« »Du vergißt, daß wir in einer noch nicht richtig ausgeprägten Zukunft waren, die sich vielleicht nie realisiert«, gab Goman-Largo zu bedenken. Er wandte sich an den Geretteten. »Was weißt du über euren Atlan, Raman?« »Nicht viel«, antwortete der Fremde. »Er ist der Held in einem uralten Mythos, das von einem Kampf zwischen den Strahlenden Heerscharen und den Dunklen Mächten der Unterwelt berichtet, die später die Ungeheuer gebaren, die unsere Galaxis beherrschen.« Goman-Largo musterte Raman aufmerksam, während er ihm zuhörte. Der Mann war eindeutig hominid, zirka zwei Meter groß, athletisch gebaut, aber durch Entbehrungen und Strapazen fast zum Skelett abgemagert. Er trug sein strähniges, verklebtes mattblaues Haar schulterlang, hatte eine mit zahlreichen Thermoflicken ausgebesserte Raumfahrerkombination an und war mit einem leistungsschwachen Handlaser bewaffnet. Um den Hals trug er eine geflochtene Plastikschnur, an der ihm vor der Brust ein eiförmiges Amulett aus Bronze oder einer ähnlichen Legierung baumelte. »Haben die Ungeheuer einen Namen?« erkundigte er sich. »Sie nennen sich selbst ›Götter des Großen von Evoll‹,« antwortete Raman. »Aber wir vom USOKlan und von den anderen Widerstandsorganisationen nennen sie nur ›Blutsauger‹ oder einfach ›Diktatoren‹. Etwas anderes sind sie nicht. Sie tauchen nur auf solchen Planeten auf, die bereits besiedelt und einigermaßen kultiviert sind. Dort unterwerfen sie die Eingeborenen und lassen sie durch Tributzahlungen förmlich ausbluten. Wenn die Unterworfenen nicht willfährig genug sind, begraben die Diktatoren deren Städte unter sich, zermalmen sie und entziehen ihnen alle organischen Substanzen.« »Das ist ungeheuerlich!« pfiff Neithadl-Off. »Sie nennen sich ›Götter des Großen von Evoll‹«, sagte Anima nachdenklich. »Sie sind also intelligent«, meinte Goman-Largo erschüttert. »Und ich hatte anfangs gehofft, sie wären nur eine primitive tierische Lebensform.« Er runzelte die Stirn. »Raman, du sagtest, die Diktatoren würden auf Planeten auftauchen. Das könnten sie doch aber nur dann, wenn sie durch den Weltraum gereist sind. Wie machen sie denn das? Besitzen sie Raumschiffe?« »Das nicht«, erwiderte Raman. »Sie können sich ohne technische Hilfsmittel frei durch den Weltraum bewegen. Man sagt, sie würden dazu zu einem sogenannten Lichtkern schrumpfen, der
mit Überlichtgeschwindigkeit auf fünfdimensionalen Linien durchs All rast und sich dort, wo er landet, wieder zu seiner alten Daseinsform entwickelt.« »Das macht sie fast unbesiegbar«, stellte Anima fest. »Was mich wieder an euren mythischen Helden Atlan erinnert«, hakte Goman-Largo ein. »Da es ihn in der ungewissen Zukunft nicht gibt und dafür die Monstren dominieren, muß er den Kampf gegen die Dunklen Mächte der Unterwelt verloren haben.« »Die Legende berichtet, daß Atlan mit den damaligen Zivilisationen unterging, als die Dunklen Mächte siegten«, erklärte Raman. »Aber er selber soll damals nur schwer verwundet worden sein und in einer Scheintodstarre im Gläsernen Berg weiterleben, so daß er sich an die Spitze aller Freiheitskämpfer setzen wird, wenn es Zeit für die Letzte Schlacht ist.« »Phantastisch!« schwärmte Anima. »Aber irreal«, ernüchterte der Modulmann sie. Er deutete hinab auf die schimmernde Stadt. »Dort müssen wir ansetzen, denn in dieser Zeit existiert dein Ritter, wie du sagtest. In der fernen Zukunft aber wird es ihn nicht als Legende geben, sondern als Lebenden, wenn es gelingt, die Entstehung der Diktatoren zu verhindern.« »Bringst du nicht einiges durcheinander, Modulmann?« wandte Neithadl-Off ein. »Das bezweifle ich«, erwiderte Goman-Largo. »Es ist die Zeit, die alles so kompliziert.« Er wandte sich wieder an den Geretteten. »Du trägst eine Raumfahrerkombination«, stellte er fest. »Bist du ein Raumfahrer? Und wenn ja, was für Raumschiffe kennst du, und wer gehörte zu dir, bevor du vor dem Monstrum um dein Leben laufen mußtest?« »Ich war ein Raumfahrer«, antwortete Raman. »Und zwar der Zweite Pilot des Schiffes PURUSH, dessen Besatzung aus neunhundertsiebzig Angehörigen des USO-Klans bestand. Ein Diktator rammte uns während des Überlichtfluges. Wir mußten auf Nasindra, dem Planeten, auf dem ihr mir das Leben gerettet habt, notlanden. Seitdem haben wir gegen den dortigen Diktator gekämpft. Die meisten von uns fielen. Was aus dem Rest wurde, weiß ich nicht. Ich versuchte, das Monstrum mit einem Sturmsegler voller Sprengstoff zu rammen, stürzte aber in einem Orkan ab. Zwar konnte ich mich mit dem Fallschirm retten, doch dabei entdeckte mich der Diktator. Ich mußte um mein Leben laufen.« »Das ist alles ganz interessant«, meinte Anima. »Doch sagtest du nicht selbst, wir müßten in der Stadt ansetzen, Modulmann? Wann gehen wir endlich hin?« Goman-Largo blickte sie an und wölbte die Brauen. »Selbstverständlich müssen wir in dieser Stadt ansetzen«, erklärte er. »Aber warum hast du es plötzlich so eilig? Du fieberst ja förmlich danach, endlich dorthin zu kommen. Was ist los?« »Diese Stadt ist der Schlüssel zu der Spur, die zu Atlan führt«, antwortete die Hominidin. Sie deutete auf das bronzene Amulett, das Raman auf der Brust trug. »Etwas Ähnliches besitzt mein Ritter auch. Er nannte es Zellaktivator. Wie nennst du es?« »Es ist das Klan-Zeichen«, antwortete der Gerettete. »Wahrscheinlich eine Art Reliquie«, überlegte Goman-Largo laut. »Eine Nachbildung dieses Dingsda von Atlan, mit dem sein Vermächtnis beschworen werden soll. Wir sollten uns nicht um solche Nebensächlichkeiten kümmern, Anima. Denke lieber darüber nach, was wir mit dem TimeShuttle machen sollen! Wir können es nicht durch den Raum bewegen – und ich möchte es auch nicht unbedingt den Stadtbewohnern zeigen. Wer weiß, was das für Leute sind.« »Auf jeden Fall Raumfahrer«, warf Neithadl-Off ein und deutete auf eine der Bildflächen des
Shuttles. Goman-Largo sah hin und erblickte vier kurz nacheinander hinter der Stadt landende Raumschiffe. »Zumindest verfügen sie über Raumschiffe«, sagte er mehr im Selbstgespräch als zu seinen Begleitern. »Unter diesen Umständen werde ich es riskieren, unsere Kapsel wegzuschicken.« »Wegzuschicken?« fragte die Parazeit-Historikerin. »Wohin?« »Zu der Zeitgruft, die wir zuletzt tangierten, bevor wir hierher kamen«, erklärte der Modulmann. »Dort dürfte unser Gefährt sicher sein, bis wir es wieder brauchen.« »Ich hoffe, wir brauchen es nie mehr«, entgegnete Anima. »Das können wir nie wissen«, meinte Goman-Largo. »Vorsichtshalber schicke ich ein Modul mit, das ein Raum-Zeit-Signal aussendet, sobald es den Aktivierungsimpuls eines meiner anderen Module empfängt. Auf diese Weise finden wir wieder hin, so daß wir immer wieder auf das TimeShuttle zurückgreifen können.« »Aber wir brauchten ein Raumschiff, um es wiederzufinden!« pfiff Neithadl-Off. »Natürlich«, erwiderte Goman-Largo lässig. »Aber nur eines, während es auf diesem Planeten mindestens vier gibt.« »Und du denkst, daß die Leute hier uns so ohne weiteres ein Raumschiff zur Verfügung stellen werden?« entrüstete sich die Vigpanderin. Der Modulmann schmunzelte verstohlen. »Warum denn nicht, Prinzessin! Wenn du es geschafft hast, den drei schlitzohrigen Prospektoren auf Kaldoch ihr Raumschiff abzuschwatzen, wirst du doch auch den vergleichsweise gutgläubigen und harmlosen Stadtbewohnern etwas vorflunkern können, das sie veranlaßt, uns ein Raumschiff praktisch hinterher zu werfen.« »Vorflunkern!« pfiff Neithadl-Off empört und gekränkt. »Du vergißt, daß ich niemals lüge, ohne die Wahrheit zu erfinden, Modulmann!« * Das Time-Shuttle war gerade verschwunden, als hätte es sich in Luft aufgelöst, da schossen von unterhalb der Hochebene plötzlich fünf Gleiter heran, schwärmten aus und landeten in einem lockeren Kreis, der die fünf Zeitreisenden einschloß. Fünf leichte Energiegeschütze drehten sich und zeigten auf einen gemeinsamen Mittelpunkt. Aus jedem Gleiter stiegen vier Gestalten und zielten mit unterschiedlichen Handwaffen auf die Reisenden. Die Gestalten waren abenteuerlich gekleidet und gehörten zu mindestens drei verschiedenen Völkern. »Das sind Piraten!« pfiff Neithadl-Off ungeniert, während sie ihre knallroten Sensorstäbchen abwechselnd in verschiedene Richtungen wandte. Sie hielt dabei ihr Kombinationsgerät »verkehrt« herum an ihre Mundleiste, ohne jedoch damit zu rechnen, daß es sofort als Translator wirksam sein würde. Um so mehr erschrak sie, als eines der fremden Wesen etwas sagte und ihr Gerät übersetzte: »Diese lebende Hüpfmatte ist ja sehr geradeheraus, Freunde. Aber Wesen dieser Art sind mir noch nie begegnet, deshalb frage ich mich, woher es wußte, daß wir Piraten sind.« »Was?« rief Goman-Largo. »Ihr seid tatsächlich Piraten?«
»Natürlich sind es Piraten, Modulmann«, erklärte die Vigpanderin. »Ich bin schon zu oft Intelligenzen des gleichen Schlages begegnet, um sie mit ehrbaren Kaufleuten zu verwechseln. Das ist durchtriebenes Gesindel, das vor nichts zurückschreckt.« »Bist du verrückt!« flüsterte Anima ihr zu. »Jetzt hast du sie gegen dich aufgebracht.« Die Piraten brachen wie auf Kommando in schallendes, krähendes und schnarrendes Gelächter aus, dann sagte das Wesen, das offenbar ihr Anführer war und das am ehesten noch einem rasierten Ursinen mit holzgeschnitzter, grell bemalter Clownsmaske glich, wenn es einen halbwegs haltbaren Vergleich gab: »Wir lieben Offenheit fast ebenso wie reiche Beute. Deshalb wollen wir auch nicht lange herumreden. Wo ist das Raumschiff, mit dem ihr gelandet seid?« »Verschwunden«, erklärte Neithadl-Off. »Es war nicht unser Schiff, sondern ein Raumtaxi, das wir auf der Zentralen Kommunikationsplattform des Sektors Nasindra nahmen, um hierher zu kommen. Nachdem wir bezahlt hatten, entfernte es sich natürlich sofort wieder, da es diesen Planeten als gefährlich einstufte.« Wieder lachten die Piraten – und wieder sprach ihr Anführer. »Der Planet ist zwar nicht gefährlich, aber wir werden allgemein so eingeschätzt. So schlimm sind wir zwar auch wieder nicht, aber das Taxi hätten wir selbstverständlich gern erbeutet. Doch weshalb wolltet ihr unbedingt hierher?« »Wir hörten von der wundervollen Stadt dort unten«, antwortete die Vigpanderin. »Oh, jetzt habe ich den Namen vergessen!« »Barquass«, sagte der Piratenführer. »Wie der Planet.« »Ach, ja!« pfiff Neithadl-Off. »Genau wie der Planet. Und wie nennt ihr euch?« »Wir?« echote der Piratenführer. »Wir sind die Barquass-Piraten. Ich heiße übrigens Hurgiss Fa Hatcher. Aber ihr dürft Hatchiss zu mir sagen, wie alle meine Freunde.« »Deine Freunde?« echote Goman-Largo. »Selbstverständlich«, versicherte Hatchiss. »Jeder, dem ich Beute und Leben nehmen kann, ist mein Freund – auch wenn sein Geist längst zu den Himmelsfeuern emporgestiegen ist.« »Das sind ja schöne Aussichten!« entrüstete sich Anima. »Warum konnten wir nicht zuerst mit Atlan zusammentreffen. Er hätte diesem Mörderpack die Hälse verbogen, sofern vorhanden.« »Atlan?« schrie Hatchiss – und plötzlich redeten seine Spießgesellen erregt durcheinander. »Kennt ihr ihn?« pfiff Neithadl-Off so durchdringend, daß die Piraten verstummten. »Wir haben schon viel von ihm gehört«, erklärte Hatchiss. »Erst gestern brachte mir ein Kurier die Nachricht, daß dieser Atlan eine bestimmte Aktion plant. Wir haben vor, ihm dabei aufzulauern.« »Wollt ihr ihn umbringen?« fragte Anima erschrocken. »Nein«, anwortete Hatchiss. »Wir hoffen nur, durch ihn eine Spur zu dem sogenannten Erleuchteten zu finden, der in Manam-Turu eine geheimnisvolle Rolle spielt. Möglicherweise lohnt es sich für uns, mit diesem Wesen Kontakt aufzunehmen.« »Atlan ist mein Ritter«, erklärte Anima. »Bringt mich zu ihm, dann werdet ihr reich belohnt werden!« »Das klingt gut«, meinte Hatchiss. »Wenn er dein Ritter ist, was immer das bedeutet, so zahlt er sicher einen guten Preis für deine Freiheit. Ich denke, wir werden euch mit auf die Suche nach Atlan nehmen.« »Als Gefangene?« erkundigte sich Goman-Largo.
»Nein!« wehrte Hatchiss ab. »Das Unternehmen birgt zahlreiche Gefahren. Da können wir jeden Verbündeten gebrauchen. Ihr dürft sogar eure Waffen behalten.« »Wie großzügig!« spottete der Modulmann. »Euer Unternehmen muß ja unheimlich gefährlich sei, wenn ihr uns Waffen zugesteht. Aber von mir aus gehen wir mit.« »Ich brenne schon darauf!« sagte Nussel. »Ich auch«, stimmte Neithadl-Off ein. »Und du, Anima?« »Ich will Atlan wiederfinden!« stieß die Hominidin leidenschaftlich hervor. »Dafür würde ich sogar ein Zeitparadoxon riskieren. Aber ich will garantiert haben, daß wir anschließend nach Barquass zurückkehren.« »Warum?« erkundigte sich Goman-Largo. »Ist für dich nicht alles egal, wenn du nur deinen Ritter wieder hast?« »Nein!« erwiderte Anima heftig. »An dieser Stadt dort unten ist etwas, das mir so vertraut vorkommt, als wäre ich ein Stück von ihr. Ich will Atlan wiedersehen, aber ich muß auch wieder hierher zurückkehren. Irgendwie ist mein Schicksal mit Barquass verknüpft.« »Das erinnert mich an eine alte Legende«, meinte Hatchiss grübelnd. »An was für eine Legende?« fragte Neithadl-Off. Der Piratenführer winkte ab. »Vielleicht erzähle ich euch später mehr davon«, sagte er ungeduldig. »Jetzt steigt erst einmal ein! Unsere Schiffe stehen schon bereit – und sie müssen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt durch das Helle Tor fliegen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen.« »Ja!« erwiderte Anima. »Zögern wir nicht länger!« »Abenteuer!« frohlockte Neithadl-Off. »Endlich darf ich wieder ein Abenteuer erleben!« Goman-Largo seufzte. »Als ob wir nicht eben erst mehr als genug Abenteuer erlebt hätten!« rief er in komischer Verzweiflung. »Du bist mir ein Rätsel, Prinzessin!« »Welche Frauen sind keine Rätsel!« bemerkte das Einhorn und drängte in einen der Gleiter, nachdem die anderen Zeitreisenden bereits in anderen Fahrzeugen Plate genommen hatten. Der Modulmann lächelte flüchtig, dann eilten seine Gedanken der Gegenwart voraus – der Begegnung mit Atlan entgegen –, und er ahnte, daß ein neuer Abschnitt in seinem Leben begonnen hatte. Während die Gleiter starteten, zog Neithadl-Off ihr Kombinationsgerät erneut aus dem Futteral, hielt es mit ihren Vordergliedmaßen fest und bewegte es vor der Mundleiste hin und her, als sie ihren Bericht über die letzten Ereignisse hineinpfiff… ENDE
Im Atlan-Band der nächsten Woche wechseln wir die Szene und blenden um zum Planeten Cirgro. Dort, auf der Welt der Krelquotten, gibt es Bodenschätze, die hauptsächlich von verbannten Daila abgebaut werden. Unter den Schürfern nach seltenen Mineralien ist auch der Daila Moxey, der im Gegensatz zu seinen Artgenossen über keinerlei Psikräfte verfügt. Dennoch gelingt Moxey der ganz große Fund… Mehr darüber berichtet Peter Terrid im Atlan-Band 728. Der Roman trägt den Titel: DIE PROSPEKTOREN VON CIRGRO