Nr. 341
Die Todeskarawane Unter den Nomaden von Loors von Horst Hoffmann
Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pt...
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Nr. 341
Die Todeskarawane Unter den Nomaden von Loors von Horst Hoffmann
Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans und Razamons Eingreifen wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem neuen Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wie der auf die Reise durch Zeit und Raum – auf eine Reise, von der niemand weiß, wo sie eines Tages enden soll. Doch nicht für lange! Der überraschende Zusammenstoß im Nichts zwischen den Dimensionen führte dazu, daß der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeit-Kontinuum gezwungen wurde. Und so geschieht es, daß Pthor auf Loors, dem Planeten der Brangeln, niedergeht, nachdem der Kontinent eine Bahn von Tod und Vernichtung über die »Ebene der Krieger« gezogen hat. Daß Atlan und seine Gefährten keinen Augenblick zögern, diese neue Welt auszu kundschaften, ist nur zu verständlich. Im Zuge dieses ihres Unternehmens entdecken sie DIE TODESKARAWANE …
Die Todeskarawane
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan, Thalia, Razamon und Kolphyr - Der Arkonide und seine Gefährten unter Brangeln.
Gfluurt - Die alte Spitze der Karawane Jarsys.
Ponkorn - Ein Brangel übt schreckliche Rache.
Kryanur - Die neue Spitze der Karawane Jarsys.
Wommser - Kolphyrs Symbiont macht einen Kurzbesuch.
1. Die drei Brangeln saßen mit bebenden Gliedern auf der obersten Latte der Umzäu nung, hinter der sich die riesige Herde be fand. Das Brüllen der Spyten ließ ihre wulst förmigen Gehörorgane auf dem oberen Ende des Körpers, der einer überdimensionalen Wurst glich, heftig pulsieren. Die Tiere wa ren unruhig und aggressiv. Seit nunmehr drei vollen Zeltlagern saß die Karawane hier am nördlichen Rand der Fläche JellCahrmere fest. Die Spyten drängten sich an den Zaun. Manchmal kamen sie so nahe, daß Kryanur und seine beiden Gefährten sich mit ihren langen Lanzen Respekt verschaffen mußten. Noch gehorchten die Tiere den Brangeln, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihrem unbändigen Wandertrieb folgen würden. Es hatte bereits die ersten Amokläufer un ter den Spyten gegeben. Sechs Mitglieder der Familie Gastayer hatten bei dem Ver such, sie zu bändigen, den Tod gefunden. Mit jeder Sonne wurden die Tiere gereiz ter. Nur ein Verrückter konnte sich allein unter sie wagen. Solch ein Verrückter war für den jungen Kryanur Gfluurt, die unersetzliche Karawa nenspitze. Noch einmal versuchte Kryanur, Gfluurt zurückzurufen. Die drei Saugrüsselfinger seiner Hände schmatzten so laut, daß es ihm körperliche Schmerzen bereitete. Aber Gfluurt hörte ihn nicht. Die uner setzliche Karawanenspitze war zwischen den mächtigen Leibern der Spyten ver schwunden. Nur die in die Höhe ragende Lanze verriet, daß er sich genau auf Mierjot,
den Leitbullen dieser Herde zubewegte. Der Brangel rechts neben Kryanur gab ei nige schmatzende Laute von sich. Kein Mensch wäre bei dem Anblick der drei plump wirkenden Wesen auf den Gedanken gekommen, daß zwischen ihnen eine aufge regte »Unterhaltung« im Gange war. Die Brangeln hatten keine Sprechwerkzeuge im menschlichen Sinne. Sie verständigten sich durch Schmatzlaute, die sie mit ihren Sau grüsselfingern produzierten. »Das ist die Gelegenheit, ihn loszuwer den«, schmatzte Ponkorn. Kryanur bebte vor Erregung. Er war unsicher. Es war noch frü her Morgen, und die anderen Brangeln sch liefen noch in ihren Zelten. Wenn Gfluurt von Mierjot zu Tode ge trampelt oder aufgespießt wurde, würde nie mand Kryanur die Schuld dafür geben kön nen. Jeder wußte, daß Gfluurt schwer krank war und daß sich seine Sinne vernebelt hat ten. Das Gift wirkte langsam, aber sicher. »Es ist zu früh«, gab Kryanur auswei chend zurück. »Niemand außer ihm ist im stande, die Karawane zu führen.« »Du bist sein Nachfolger, Kryanur. Du kennst die Geheimnisse des Herdenzugs.« »Einen Teil davon, Ponkorn – lange noch nicht alle.« Gfluurt tauchte vor Mierjot auf. Nur noch wenige Hörnerlängen trennten ihn von dem schnaubenden Bullen. Kryanur mußte erken nen, daß er die Karawanenspitze nicht mehr retten konnte – selbst, wenn er wollte. Plötzlich bückte sich Ponkorn und hob einen Stein auf. Bevor Kryanur ihn daran hindern konnte, schleuderte er ihn auf den Bullen. Kryanur mußte sich beherrschen, um Pon korn nicht mit der Lanze vom Zaun zu sto ßen.
4 Der Leitbulle brüllte auf und fuhr herum. Als er keinen Angreifer fand, bäumte er sich auf und stampfte mit den Hufen. Gfluurt war jetzt bis auf zwei Hörnerlängen heran. Kryanur wollte dem Alten helfen, aber die Spyten würden ihn zertrampeln, bevor er Gfluurt erreicht hatte. Sie respektierten nur die Karawanenspitze. Der Leitbulle wartete, bis Gfluurt direkt vor ihm stand. Was macht er jetzt? dachte Kryanur fast von Sinnen, als Gfluurt mit der Lanze aus holte und dem Bullen mit aller Wucht gegen die Hörner schlug. Kryanur blockierte die Sehorgane. Er hörte ein wildes Schmatzen, das ungestüme Schlagen von Hufen, das Ge brüll des Leitspyten. Instinktiv ließ er sich rückwärts vom Zaun fallen. Auch Ponkorn und Weljost brachten sich schnell in Sicher heit, als die Spyten am Zaun mit gesenkten Köpfen auf sie losgingen. Die ganze Herde war in Aufruhr. Kryanur und seine beiden Gefährten schlugen mit ihren Lanzen gegen die Hörner der Tiere, die etwa die dreifache Körpergrö ße eines Schweines hatten. Die Spyten wi chen langsam zurück. Kryanur hörte, wie jetzt von allen Seiten Brangeln herange stürmt kamen, die durch den Lärm geweckt worden waren. »Lenkt sie ab!« gab er ihnen zu verstehen. »Ich kümmere mich um Gfluurt!« Jetzt blieb ihm keine Wahl mehr. Er muß te versuchen, die unersetzliche Karawanen spitze zu retten. Kryanur stieg auf den Zaun und versuchte, Gfluurt irgendwo zwischen den mächtigen Leibern der Spyten auszuma chen. Er achtete nicht auf das aufgeregte Schmatzen der Brangeln um sich herum, die mit ihren Lanzen die Tiere fernhielten. Wo war die Karawanenspitze? Plötzlich teilte sich die Herde. Kryanur weigerte sich einige Augenblicke lang, zu glauben, was er sah. Gfluurt ritt auf Mierjot! Der Leitspyte vollführte wütende Sprünge, um Gfluurt ab zuschütteln, aber der alte Brangel hielt sich mit beiden Saugfingerhänden an Mierjots Hörnern fest und glich die ruckhaften Bewe-
Horst Hoffmann gungen des Bullen mit einer Geschicklich keit aus, die ihm niemand mehr zugetraut hätte. Trotzdem hatte er keine Chance. Der Bulle stürmte genau auf die Stelle zu, an der Kryanur wartete. Jetzt wurde die Ka rawanenspitze schwächer. Gfluurt hielt sich nur noch mit einer Hand fest, während er mit den Saugfingern der anderen klagende Schmatzlaute von sich gab. Kryanur hatte schreckliche Angst, aber er konnte nicht mehr länger zögern. Er sprang vom Zaun und hob ein paar schwere Steine auf. Mierjot raste genau auf ihn zu. Gfluurt verlor den Halt. Seine Hände versuchten, ei nes der Hörner zu erreichen, aber Mierjot bäumte sich auf und schleuderte den alten Brangel in hohem Bogen vor den Zaun. Er wird ihn zertrampeln! durchfuhr es Kryanur. Mit aller Kraft schleuderte er die Steine auf den Bullen. Mierjot brüllte wild auf und stemmte die Vorderhufe in den wei chen Boden. Wieder fuhr er herum und suchte nach Angreifern. Die anderen Brangeln folgten Kryanurs Beispiel und bombardierten Mierjot mit Steinen. Der Leitspyte bäumte sich brüllend auf und stieß mit den Hörnern um sich. Die Hufe des Bullen zertrampelten das Gras we nige Hörnerlängen neben dem bewußtlosen Gfluurt. Kryanur überwand die Angst und stieß sich vom Zaun ab. Ponkorn und Weljost be griffen seine Absicht und veranstalteten auf den Zaunlatten einen Höllenspektakel, um Mierjot abzulenken. Der Bulle hob den Kopf und raste auf den Zaun zu. Kryanur lief auf Gfluurt zu und erreichte ihn, ohne daß Mierjot Notiz von ihm nahm. Erst als er nach den Armen des Alten griff, fuhr der Bulle herum. Einen Moment lang sah Kryanur dem Spyten in die kleinen Augen. Mierjot wirkte erstarrt. Eine unheimliche Stille lastete über der Szene. Und dann griff Mierjot an. Es war eines der größten Verbrechen, einen Leitspyten zu verletzen oder gar zu tö ten. Trotzdem hob Kryanur die Lanze und
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schleuderte sie dem Bullen entgegen. Sie traf ihn genau in eines der beiden großen Fettreservoire unter dem Hals. Mierjot brüll te auf und preschte auf Kryanur los. Der jun ge Brangel warf sich geistesgegenwärtig zur Seite und entging den tödlichen Hörnern. Mierjot stampfte an ihm vorbei und raste in den Lattenzaun. Kryanur packte die Karawa nenspitze und zog Gfluurt unter den Latten hindurch, wo Weljost ihn in Empfang nahm. Kryanur kroch hinterher und half Weljost, Gfluurt zu seinem Zelt zu schaffen. Alle Brangeln, die nicht um ihr Leben liefen, sa hen zu. Niemand würde Kryanur einen Vor wurf machen können. Niemand würde glau ben, daß Kryanur und die herrschende Fami lie Frotheyer die Hände im Spiel hatten, wenn Gfluurt, die unersetzliche Karawanen spitze, nach wenigen Sonnen an seiner »Krankheit« sterben würde. Sie hatten Gfluurts Zelt bereits erreicht, als hinter ihnen die Hölle losbrach. Kryanur fuhr herum und erstarrte. Die Herde des Leitspyten brach aus und folgte ihrem Bullen. Die Zäune wurden nie dergewalzt, und die wenigen mutigen Bran geln, die versuchten, sie aufzuhalten, starben unter den Hufen der Spyten.
* Alles hatte damit begonnen, daß die Fremden mit dem Himmelsfeuer über den Flächen erschienen waren und den Brangeln alle Karawanenzüge untersagt hatten. Einige Karawanen hatten sich gegen die Anordnungen aufgelehnt. Die Fremden hat ten sie furchtbar bestraft. Vor drei Zeltlagern hatten die Führer der Karawanen beschlos sen, vorerst abzuwarten und sich der Macht der Eroberer zu fügen, um weitere Tote zu vermeiden. Seitdem gab es so gut wie keine Verbin dung mehr zwischen den einzelnen Stäm men der Brangeln. Die Spyten standen in ih ren Umzäunungen und wurden von Sonne zu Sonne aggressiver. Viele von ihnen wur den krank und starben.
Die Karawane Jarsys bestand aus 12 000 Brangeln und 6500 Spyten. Sie war die größte Karawane der Fläche Jell-Cahrmere. Als die Fremden erschienen, lagerte sie am nördlichen Rand der Fläche, im Grenzgebiet zu Coll-Herest im Westen und Purgh-Simz im Osten, der berüchtigten Fläche des To des. Die Karawane Jarsys wurde ebenso wie alle anderen Karawanen von einer Familie beherrscht, die während der Lagerperioden über die Geschicke der Brangeln zu bestim men hatte. Während der Züge über die Flä chen führte Gfluurt, die Karawanenspitze, die Eingeborenen und die Spyten. Nur die Karawanenspitze, die die Geheimnisse der Herdenwanderung von ihrem jeweiligen Vorgänger erfahren hatte und ihrem Nach folger weitergeben würde, war in der Lage, den Wandertrieb der Spyten zu lenken. Unter normalen Umständen deckten sich die Interessen der herrschenden Familie und der Karawanenspitze. Diesmal aber war das anders. Gfluurt weigerte sich, in die Fläche JellCahrmere zurückzukehren oder die Brangeln auf den Spyten in eine andere der sieben Flächen ihrer Welt, die die Eingeborenen Loors nannten, zu führen. Gfluurt fürchtete den Zorn der Fremden, die Loors besetzt und Jell-Cahrmere zu ihrem Hauptquartier gemacht hatten. Er hatte auf ihren Befehl hin die gewaltige Herde in eine kleine Senke zwischen den Hügeln geführt, die die Fläche im Norden begrenzten. Der Boden war schlecht, und die Jäger kehrten meist ohne Beute ins Lager zurück. Zu allem Übel wurde Gfluurt nach einem Zeltlager krank und war kaum imstande, die Herde und den Stamm weiterzuführen, selbst wenn er gewollt hätte. Gfluurt erholte sich von seiner Krankheit. Er litt darunter, die Karawane stillstehen zu sehen, aber lieber wartete er darauf, daß die Fremden wieder von Loors verschwanden, als daß er die wertvollen Spyten und die ihm anvertrauten Brangeln der vernichtenden Strafe der Eroberer preisgab.
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Die Familie Frotheyer verschärfte ihre Forderungen. Als Gfluurt auch weiterhin »uneinsichtig« blieb, begann die Familie, das Problem auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen. Die Karawanenspitze mußte sterben, wenn sie sich weigerte, ihre Aufgabe zu er füllen. Andererseits mußte sie so lange le ben, bis sie Kryanur, ihrem designierten Nachfolger, auch die letzten Geheimnisse der Herdenwanderung anvertraut hatte. Gfluurts Krankheit verschlimmerte sich wieder …
* Die drei führenden Mitglieder der Familie Frotheyer saßen im Halbkreis um das kleine Feuer in ihrem Spitzzelt herum, als Kryanur, Ponkorn und Weljost das Ledertuch vor dem Eingang zurückschlugen. Ein schmatzender Laut forderte die drei auf, einzutreten. Kryanur setzte sich ans Feuer und starrte in die Flammen, während seine Begleiter hinter ihm stehenblieben. »Du hast deine Sache gut gemacht, Kryanur«, begann schließlich Taslyn, das Familienoberhaupt. »Gfluurts Dummheit kann die entscheidende Wende bedeuten. Niemand wird jetzt Verdacht schöpfen, wenn sich sein Zustand plötzlich abrupt ver schlechtert. Von nun an mischst du ihm die doppelte Menge Gift in den Heilbrei. Du hast endgültig sein Vertrauen gewonnen. Jetzt wird er nicht mehr zögern, dir alle Ge heimnisse zu verraten. Vielleicht können wir schon in wenigen Sonnen aufbrechen.« »Wenn es nicht vorher zur Katastrophe kommt«, warnte Kryanur düster. Taslyn schmatzte ärgerlich. »Wenn wir uns ruhig verhalten, werden wir die Spyten noch ein paar Sonnen lang bändigen können. Nur Narren beschwören das Chaos herauf. Sie werden ihre Strafe er halten.« Ponkorn fuhr zusammen, als Taslyn sei nen Körper hob und ihn direkt ansah.
»Ponkorn und Weljost, ihr werdet euch einen Spyten geben lassen und helfen, die entlaufene Herde Mierjots einzufangen.« »Erlaubt mir, sie zu begleiten«, bat Kryanur. Taslyns Organwülste bebten abweisend. »Ponkorn hat sich schuldig gemacht. Er gehört nicht mehr zu unserem Kreis. Es ist eine Gnade für ihn, daß er nicht alleine rei ten muß. Du mußt hierbleiben, Kryanur, und dich um Gfluurt kümmern. In wenigen Son nen wirst du uns als neue Karawanenspitze in eine Fläche führen.« Einer der Frotheyers stand auf und gab Ponkorn und Weljost ein Zeichen. »Ihr werdet es bereuen!« verkündete Pon korn mit wütendem Schmatzen. »Ihr werdet es bitter bereuen – alle!« »Hinaus!« schmatzte Taslyn ungeduldig. »Hoffentlich habt ihr keinen Fehler ge macht«, meinte er nachdenklich. »Ponkorn ist ein guter Kämpfer und treuer Gefährte, aber er wird sich für die Schmach rächen wollen.« Taslyn machte eine unwillige Geste mit den Saugrüsselhänden. »Wir können uns keine Unbeherrschthei ten leisten, Kryanur.« Kryanur schwieg lange. Er spürte ein be drückendes Gefühl, für das er keine Erklä rung fand. »Du mußt jetzt gehen, Kryanur«, schmatzte Taslyn. »Gfluurt wird mittlerwei le bei Bewußtsein sein und auf dich warten. Er braucht die Medizin.« »Und das Gift«, fügte Fernog, der neben Taslyn saß, hinzu. Kryanur betrachtete den Brangel ihm ge genüber. Er fühlte sich plötzlich angeekelt von Fernogs Gefühlskälte. »Ich weiß, was in dir vorgeht«, hörte er Taslyns Stimme, die wie aus weiter Ferne zu kommen schien. »Gfluurt war immer dein väterlicher Freund, aber die Karawane ist jetzt wichtiger. Du mußt sie retten, Kryanur.« Der junge Brangel erhob sich und verließ schweigend das Zelt, auf dem in grellen Far
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ben das Symbol der Familie Frotheyer prangte. Mehrere Brangeln standen zwi schen kleinen Feuern und sahen ihn abwar tend an. Als Gfluurts Nachfolger war es für Kryanur eine Selbstverständlichkeit, sich mit der herrschenden Familie zu beraten. Dennoch hatte er das Gefühl, daß ihm eine Welle von Mißtrauen entgegenschlug. Die Karawane ist jetzt wichtiger … Der Gedanke an die vierzehn Brangeln, die bei dem Ausbruch von Mierjots Herde den Tod gefunden hatten, gab den Aus schlag. Widerstrebend machte Kryanur sich auf den Weg zu Gfluurts Zelt. Die Lebensgefährtin der Karawanenspitze erwartete ihn bereits, als er mit der Schale, in der sich das Gift befand, Gfluurts Zelt be trat. Er kam als Meuchelmörder, aber Selnga trat auf ihn zu und preßte voller Dankbarkeit für Gfluurts Rettung ihre drei Saugrüsselfin ger gegen eine besonders empfindliche Stel le an seiner Organverdünnung. Dann führte sie die andere Hand nahe an eines von Kryanurs Hörorganen. »Es geht ihm sehr schlecht«, berichtete sie, und aus den Schmatzlauten war ihre ganze Verzweiflung und ihr Schmerz her auszuhören. »Sein Geist ist verwirrt. Er ver langt nach dir, Kryanur. Ich glaube, daß die Zeit gekommen ist.« Der junge Brangel wäre am liebsten aus dem Zelt gelaufen, weit weg von der Kara wane, wo er sein bohrendes Gewissen ver gessen konnte. Aber immer wieder hämmerten die Worte Taslyns in seinem Bewußtsein: Die Karawa ne ist jetzt wichtiger …
2. Ponkorn und Weljost ritten auf einem schmalen Pfad zwischen den Hügeln hin durch, die die Fläche Jell-Cahrmere im Nor den begrenzten. Auf einem eigens für sie ausgesuchten, schnellen Spyten folgten sie den Brangeln, die vor einem halben Sonnen bogen die Verfolgung der ausgebrochenen
Tiere aufgenommen hatten. Mehrmals hatten die beiden Brangeln ver endete Spyten am Wegrand gefunden: Die in Panik ausgebrochenen Tiere hatten sich zwi schen Felsen hindurchgezwängt und dabei gegenseitig ihre spitzen Hörner in den Leib gerannt. Ihr Fluchtweg führte nach Nordwe sten, in Richtung der Fläche Coll-Herest, wo die Karawane Lhirrl beheimatet war. Die Sonne stand hoch am Himmel, als Ponkorn und Weljost das Brüllen der Spyten hörten. »Sie sind kurz vor uns«, erklärte Ponkorn. »Wir müssen uns vorsehen.« Weljost sah den Gefährten erstaunt an. »Sie werden die Tiere unter Kontrolle ha ben«, meinte er. »Wir stoßen zu ihnen und treiben sie gemeinsam mit ihnen ins Lager zurück. Taslyn wird einsehen müssen, daß er im Unrecht war.« »Taslyn wird überhaupt nichts einsehen«, gab Ponkorn wütend zurück. »Wir werden nicht ins Lager zurückkehren, Weljost. Die Karawane Jarsys wird untergehen, noch be vor die Sonne dreimal aufgestiegen ist.« »Was hast du vor?« wollte Weljost wis sen. »Wir werden uns rächen und eine neue Heimat finden«, verkündete Ponkorn. »Wir werden schon bald wieder durch die weiten Flächen ziehen – jenseits der Hügel.« Weljost erschrak. »Du willst doch nicht etwa in die Todes fläche?« »Wir werden in die Fläche Coll-Herest ziehen und uns der Karawane Lhirrl an schließen.« »Das ist Wahnsinn!« widersprach Weljost heftig. »Es verstößt gegen die Gesetze der Karawanen, ins Territorium anderer Stämme einzudringen. Außerdem stehen alle Kara wanen, die an die Fläche Jell-Cahrmere an grenzen, still.« »Narr«, schmatzte Ponkorn ungehalten. »Hör zu!« Dann erläuterte er dem Gefährten seinen Plan. »Das ist ungeheuerlich, Ponkorn, beim
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Herrn der Ewigen Flächen! Du bist verrückt geworden.« »Ich weiß, was ich tue. Und ich kann auch auf dich verzichten. Entscheide dich, Wel jost. Du kannst mit mir kommen und große Macht gewinnen. Du kannst aber auch zum Lager zurückkehren und mit der Karawane untergehen, denn Gfluurt wird niemals mehr aufbrechen können, und Kryanur ist zu weich, um den Willen der Familie Frotheyer zu erfüllen.« Weljosts Organwülste bebten heftig. »Ich wünschte, Burtimor, Tarsyr und Ot lusg wären hier. Sie wüßten, was zu tun ist.« »Sie wissen es, Weljost. Was glaubst du, weshalb sie nicht von der Jagd zurückkehr ten? Sie haben erkannt, daß es in der Kara wane Jarsys keine Zukunft mehr für sie gibt.« »Vielleicht hast du recht, Ponkorn, aber der Preis …« »Wir haben keine Wahl.« Ponkorn schlug dem Spyten mit der Lan ze gegen die Hörner. Das Tier stampfte mit den Hufen auf und ließ sich auf einen Hügel dirigieren, von wo aus sie in das Tal blicken konnten, in dem etwa ein halbes Dutzend Brangeln der Karawane Jarsys die Herde zu sammengetrieben hatte.
* Die sieben Brangeln, die die Herde Mier jots zusammengetrieben hatten, nachdem der Leitbulle durch ein Lähmgift außer Ge fecht gesetzt worden war, schöpften keinen Verdacht, als Ponkorn und Weljost auf ih rem Spyten den Hügel herabgeritten kamen. Sie konnten nicht wissen, daß Ponkorn ver stoßen worden war. So waren sie vollkommen unvorbereitet, als die beiden jungen Brangeln ihre Speere aus der Halterung rissen und sie schleuder ten. Zwei von ihnen starben auf der Stelle, zwei andere durch die Wurfmesser der An greifer. Ponkorn und Weljost sprangen von ihrem Reittier und stürzten sich auf die fassungslo-
sen Stammesgenossen, die kaum zu einer Gegenwehr fähig waren. Zwei weitere Bran geln starben unter den Schlägen von Pon korns und Weljosts Kampfbeilen. Ponkorn fuhr herum und suchte nach dem letzten Widersacher. »Yanusg, komm heraus! Du hast keine Chance. Wir übernehmen die Herde!« Schweigen. Nur das Brüllen einiger ver unsicherter Spyten erfüllte das kleine Tal. »Es ist sinnlos, Ponkorn«, schmatzten Weljosts Saugrüsselfinger leise. »Hat es nicht schon genug Tote gegeben?« »Du steckst jetzt ebenso tief drin wie ich«, herrschte Ponkorn den Gefährten an. »Schweig und überlasse Yanusg mir!« Ponkorn ergriff eines der Hörner seines Spyten und dirigierte das Tier langsam in die Richtung, in der er Yanusg zum letzten Mal gesehen hatte. Weljost ging in Deckung. »Zeige dich, Yanusg. Du kannst mit uns kommen. Wir suchen eine neue Karawane. Jarsys ist zum Untergang verurteilt.« Immer noch Schweigen. »Es hat keinen Sinn, Yanusg. Wir finden dich doch!« Kein Laut. Ponkorn führte seinen Spyten weiter. Plötzlich hörte Ponkorn Weljosts Schrei hinter sich. Er fuhr herum und sah die Spy ten, die direkt auf ihn losstürmten. Mit ei nem Satz auf sein Reittier brachte er sich zu nächst in Sicherheit. Im nächsten Augen blick flog eine Lanze heran. Ponkorn bückte sich und entging dem Ge schoß. Und dann sah er Yanusg.
* Die beiden Jäger der Karawane Lhirrl hat ten sich unter unsäglichen Mühen und Schmerzen bis zur Kuppe des Hügels ge schleppt. Das Brüllen der Spyten hatte sie noch einmal all ihre Kräfte aktivieren lassen. »Siehst du das, Torltot?« brachte Jeindal hervor. »Eine ganze Herde. Wir … wir ha
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ben es geschafft, Torltot … sie werden uns helfen …« Torltot gab keine Antwort. Jeindal drehte sich um und erschrak. Torltot war tot. Sein Körper war geschrumpft. Die roten Blasen waren aufgeplatzt, und die violette Körperflüssigkeit trat aus ihnen hervor. Jeindal gab einen klagenden Laut von sich und betrachtete die eigenen Gliedmaßen. Überall wölbten sich die Blasen auf. Jeindal packte seine Lanze und kroch über die Hügelkuppe, auf die Herde zu. Der Herr der Ewigen Flächen mußte sie geschickt ha ben. Es mußte ein Zeichen sein! Plötzlich fühlte Jeindal, wie ihm übel wurde. Die Hügel um das Tal herum began nen sich im Kreis zu drehen. Stechender Schmerz durchfuhr den Jäger. Noch einmal gelang es ihm, sich aufzu richten. Er sah die Spyten und die Brangeln, die gegeneinander zu kämpfen schienen. Dann breitete sich die Schwärze des Todes über ihn aus.
* Yanusg ritt mit gesenkter Lanze auf Pon korn zu. Die Spyten zwischen ihnen bildeten schnell eine Gasse und schoben sich brül lend zur Seite. Ponkorn hatte nur noch sein Kampfbeil. Der junge Brangel wartete auf den Angriff. Er hatte jetzt nichts mehr zu verlieren. Yanusg schleuderte die Waffe, als er noch drei Hörnerlängen von Ponkorn entfernt war. Ponkorn versuchte auszuweichen, aber Yanusg hatte seine Bewegung geahnt. Der junge Brangel spürte einen höllischen Schmerz in der Schulter. Er verlor den Halt und fiel von seinem Spyten. Nur um eine Hörnerbreite entging er den Hufen des Tie res. Ponkorn richtete sich auf, als Yanusg schon wieder im Anritt war. Der Alte schwang sein Kampfbeil wild in der Luft und schleuderte es. Doch diesmal hatte Pon korn mehr Glück. Die Waffe flog an seinem Kopf vorbei durch die Luft und blieb im nie
dergetrampelten Gras stecken. Blitzschnell bückte Ponkorn sich und hob sie auf. »Jetzt warte, Yanusg!« Ponkorn schwankte erheblich, dennoch gelang es ihm, sich auf den Beinen zu hal ten. Ponkorn hatte zwei Waffen, während Yanusg nur noch über sein Messer verfügte. Yanusg dachte jedoch nicht daran, aufzu geben. Seine Organwülste pulsierten vor un bändigem Haß, als er an Ponkorn vorbei preschte und das Messer schleuderte. Der junge Brangel bückte sich und entging dem tödlichen Geschoß. Im nächsten Augenblick hatte er sich auf gerichtet und holte aus. Das Kampfbeil traf Yanusg im Rücken, bevor er den Spyten wenden konnte. Noch einmal drehte Yanusg sich um. Er starrte Ponkorn an, als könne er nicht begrei fen, was sich hier im Tal zugetragen hatte. »Der … Herr der Ewigen Flächen … wird dich strafen, Pon …« Yanusg vollendete den Satz nicht. Von violetter Flüssigkeit überströmt, rutschte er vom Nacken des Spyten ins Gras, wo er leb los liegenblieb. Weljost kam hinter ein paar Tieren zum Vorschein. »Und nun?« wollte er wissen. Ponkorn stand bei seinem Spyten und hol te ein Tuch aus einer der Satteltaschen, mit dem er seine Wunde verband. »Wir treiben die Herde in die Fläche CollHerest, zu den Lhirrls, wie besprochen. Sie werden uns dankbar aufnehmen und unseren Rat befolgen, wenn wir ihnen erzählen, daß die Karawane Jarsys in die Fläche JellCahrmere zog, ohne von den Fremden ge straft zu werden.« »Sie werden uns nicht glauben«, prophe zeite Weljost. »Sie werden. Wir bringen ihnen die Herde und werden ihnen berichten, daß wir die Ausbrecher in den Hügeln einfingen, unsere Karawane aber in der Zwischenzeit aufge brochen war. Sie werden nicht viele Fragen stellen, wenn sie die Spyten sehen.« Weljost gab keine Antwort. Er half Pon korn, der sich nur langsam bewegen konnte,
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die Seile, die an Mierjots Hufen befestigt waren, an den Geschirren zweier Spyten zu befestigen. Dann stiegen beide auf den Rücken der Tiere und trieben sie auf die Hü gel zu, hinter denen sie die Fläche CollHerest wußten. Mierjot wurde hinter ihnen her geschleift.
3. Gfluurt fühlte sich elend. Es waren weni ger die Schmerzen, die ihn peinigten, als die Sorge um die Herde. Er wußte, daß er diesen Lagerplatz nicht mehr lebend verlassen würde. Seine ganze Hoffnung war Kryanur, sein Nachfolger. Kryanur stand neben dem Krankenlager und sah die Karawanenspitze schweigend an. Gfluurt spürte allmählich die heilsame Wirkung der Nährflüssigkeit. Sie wirkte be lebend. Und sie war gefährlich. Wenn er zu viel davon zu sich nahm, geriet er in einen Rauschzustand wie am frühen Morgen, als er versucht hatte, Mierjot zuzureiten. Die ewigen Flächen warfen ihre Schatten auf Gfluurt, und er wußte, daß es an der Zeit war, Kryanur in die letzten Geheimnisse des Herdenzuges einzuweihen. Aber Kryanur wirkte unsicher. Es schien so, als ob er große Sorgen hätte. »Was bedrückt dich, Kryanur?« brachte Gfluurt unter Schmerzen hervor. Der junge Brangel zuckte zusammen. »Es … es ist die Sorge um die Karawane. Sie wird untergehen, wenn sie noch länger hier festgehalten wird. Die Spyten werden gefährlich.« »Ich weiß«, sagte Gfluurt leise und ließ sich von Selnga einen Trog mit kühler Flüs sigkeit reichen, die er gierig in sich aufsaug te. »Eines Tages werden die Eroberer unsere Welt wieder verlassen. Du wirst die Kara wane in die Fläche führen, und es wird wie der Friede unter den Brangeln herrschen.« Gfluurt glaubte immer noch daran, daß die Fremden wieder in die Himmel zurück kehrten. Er war immer noch gegen einen
Aufbruch. Kryanur mußte so tun, als wäre er auf Gfluurts Seite. »Ich werde es versuchen«, versprach der junge Brangel deshalb. Gfluurt bat Kryanur, sich neben das Kran kenlager zu setzen. Dann schickte er Selnga aus dem Zelt. Mit leisem Schmatzen begann er, seinen Nachfolger in die letzten Geheim nisse des Herdenzugs einzuweihen. Kryanur hörte geduldig zu und lernte. Als die Sonne hinter den Hügeln versank, ver ließ er das Zelt der Karawanenspitze. Er hat te sein Ziel erreicht, aber er war nicht glück lich, denn er wußte, daß Gfluurt jetzt sterben würde. Die Familie Frotheyer, von der er abhän gig war, würde schon morgen zum Aufbruch drängen, jetzt, da Kryanur die Herden führen konnte. Mit gemischten Gefühlen ging Kryanur zu seinem Zelt, das er bisher mit Ponkorn, Weljost und ihren Gefährtinnen geteilt hatte. Es war dunkel geworden. Kryanur schlug das Ledertuch über dem Eingang zurück und trat ein, um einen Holzscheit von der Feuer stelle zu holen, den er an einem der jetzt überall zwischen den Zelten aufflackernden Feuer anzünden konnte. Kryanur bückte sich und hörte im glei chen Moment ein Geräusch hinter sich. Be vor er sich herumdrehen konnte, traf ihn ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand am Ansatz der Organverdünnung. Kryanur brach bewußtlos zusammen. Er spürte nicht mehr, wie zwei Armpaare zupackten und ihn nach draußen schleiften.
* Die Brangeln waren keine kriegerische Rasse – im Gegenteil. Die einzelnen großen Karawanen, die über die sieben großen Flä chen von Loors zogen, vermieden es, sich gegenseitig den Lebensraum streitig zu ma chen. Loorsat, die Welt zwischen den Was sern, war groß. Auch innerhalb der Karawanen herrschte Ruhe und Frieden. Die Familien hatten jede
Die Todeskarawane ihre spezielle Aufgabe. Sie teilten sich die anfallende Arbeit und kamen in der Regel gut miteinander aus. Es war so gewesen, solange die Brangeln sich zurückerinnern konnten. Nun aber hat ten drei Zeltlager ausgereicht, um den Frie den zu zerstören. Die Karawane Jarsys hatte seit der Zu sammenkunft der Karawanenführer unmit telbar nach dem Auftauchen der Fremden nichts mehr von anderen Karawanen gehört. Niemand im Lager konnte wissen, in wel chem Zustand sich die anderen befanden. So konnten sie auch nicht ahnen, was jen seits der Hügel in der Fläche Coll-Herest passiert war. Andernfalls hätte es vielleicht noch eine Rettung für die Karawane Jarsys gegeben. Vorerst waren die Brangeln im Lager vollkommen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Zum ersten Mal in der Ge schichte der Karawane standen sich die Fa milien mit offener Feindschaft gegenüber. Der größte Teil der Nomaden war für den sofortigen Aufbruch, während die andere Partei hinter Gfluurt stand. Es war später Abend, als sich die Ober häupter der zwölf Familien der Karawane Jarsys am großen Feuer in der Mitte des Zeltlagers trafen. Taslyn hatte sie zusam mengerufen. Voller Verwunderung bemerkte das Ober haupt der Familie Frotheyer, daß Kryanur nicht anwesend war. Gfluurts Gefährtin stand etwas abseits und beobachtete die Männer schweigend. Taslyn schmatzte die übliche Begrü ßungsformel. Dann begann er: »Unsere Jäger Burtimor, Tarsyr und Ot lusg sind noch immer nicht zurückgekehrt. Das gleiche gilt für unsere Gefährten, die die Herde Mierjots zurückbringen sollen.« »Wir wissen es, Taslyn«, erklärte Los layn, das Oberhaupt der Familie Tsantayer, die sich zum Sprecher jener Brangeln ge macht hatte, die Gfluurt unterstützten. »Doch das ist nicht der Grund, weshalb du uns hierher zusammengerufen hast.«
11 Taslyn betrachtete die Familienoberhäup ter der Reihe nach. Fünf von ihnen hatten sich um Loslayn gruppiert. »So ist es«, schmatzte Taslyn. »Ich habe euch hierhergerufen, um euch allen den Be schluß der herrschenden Familie Frotheyer zu verkünden.« »Wir hören, Taslyn.« Der Brangel, dessen Lederbekleidung die Zeichen seiner Familie und des Stammes führers trug, hob beide Saugrüsselhände. »Die herrschende Familie Frotheyer hat beschlossen, beim Aufgang der nächsten Sonne in die Fläche Jell-Cahrmere zurück zukehren. Alle Brangeln sind aufgerufen, sich noch in der Nacht zum Aufbruch vorzu bereiten.« Loslayn fuhr in die Höhe. Die um ihn her umsitzenden Brangeln standen ebenfalls auf. »Das wirst du nicht wagen, Taslyn!« »Es ist unsere einzige Chance!« fuhr Tas lyn auf. »Die Spyten werden alle ausbrechen und uns niedertrampeln. Keine noch so gute Karawanenspitze wird in der Lage sein, sie aufzuhalten. Wir werden aufbrechen, Los layn.« »Gfluurt wird niemals …« »Die neue Karawanenspitze heißt Kryanur«, unterbrach Taslyn den Kontra henten. »Gfluurt hat ihn in die Geheimnisse des Herdenzugs eingeweiht und ihm die Würde der Karawanenspitze übertragen.« Loslayns Wülste bebten heftig. »Und wo ist dein Kryanur, Taslyn? Ich sehe ihn nicht.« Der Frotheyer wurde unruhig. Kryanur war unersetzlich für die Pläne der Familie Frotheyer geworden. Wo steckte er? Ein böser Verdacht stieg in Taslyn auf. Plötzlich glaubte er, einige Gestalten hinter Loslayn stehen zu sehen. Als er genauer hin sah, waren sie verschwunden. »Weshalb schweigst du, Taslyn? Zeige uns die neue Karawanenspitze.« Irgend etwas an Loslayns Auftreten machte Taslyn stutzig. Sein Verdacht wurde immer stärker. Taslyn gab einem seiner Vertrauten einen
12 Wink. Der Frotheyer kam heran. Taslyn schmatzte so laut, daß alle ihn hören konn ten. »Hole Kryanur, Fernog!« Die Familienoberhäupter schmatzten er regt. »Laßt euch nicht täuschen!« fuhr Loslayn auf. »Taslyn kann Kryanur nicht holen, weil …« Das Oberhaupt der Familie Frotheyer sprang auf. Seine kleinen Ärmchen zitterten vor Abscheu und Erregung. »Ihr habt es alle gehört. Wieso kann ich Kryanur nicht herbeischaffen, Loslayn?« Loslayn gab keine Antwort. »Dann will ich es euch sagen. Loslayn hat die neue Karawanenspitze entführen lassen. Das ist ein Frevel ohne Beispiel in der Ge schichte aller Karawanen. Du hast den Tod verdient, Loslayn!« Das Oberhaupt der Familie Tsantayer sprang zurück und stieß ein wütendes Schmatzen aus. Sofort tauchten hinter ihm mehrere bewaffnete Brangeln auf. »Wir werden sehen, wer den Tod ver dient«, schmatzte Loslayn. »Nehmt den Ver räter und seine Helfer fest!« Taslyn hatte seinerseits Vorsichtsmaßnah men getroffen. Auf ein Signal hin erschie nen seine Brangeln zwischen den Zelten. Auch sie trugen Lanzen, Messer und Kampfbeile. Es waren Hunderte. Die beiden feindlichen Parteien standen sich abwartend gegenüber. Zum ersten Mal in der Geschichte der friedlichen Karawanen stand ein Bruderkriege unmittelbar bevor. Aber bevor einer der Kontrahenten den Befehl zum Angriff geben konnte, geschah etwas Ungeheuerliches. Ein mächtiges Rauschen erfüllte die Luft, und plötzlich war der Nachthimmel in einen dunkelroten Schein getaucht. Blitze zuckten über das Zeltlager hinweg. Das Brüllen der Spyten mischte sich in den nie gehörten Laut. Sofort war aller Streit vergessen. Die Brangeln rannten in alle Richtungen ausein ander. Einige suchten Schutz in ihren Zelten,
Horst Hoffmann andere flohen in heller Panik in die Hügel. Die meisten von ihnen starben unter den Hu fen der ausbrechenden Spyten. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.
4. »Bei den Ewigen Flächen!« sagte Weljost fassungslos. »Was ist das, Ponkorn?« Ponkorn zügelte den Spyten und stieg ab. Die Herde blieb in einigen Hörnerlängen Entfernung stehen. »Sei vorsichtig«, warnte Weljost. Das Ge fühl der Gefahr wurde übermächtig. Ponkorn näherte sich dem Toten. Es war zweifellos ein Brangel, aber er konnte nicht zur Karawane Jarsys gehören. Es sah so aus, als ob er ausgetrocknet wäre. Die Gliedma ßen ragten wie verkrümmte Stummel aus der Lederkleidung. Die Organverdünnung war kaum noch als solche zu erkennen. Die Wül ste waren zu Staub zerbröckelt. Erst jetzt erkannte Ponkorn die aufge platzten roten Blasen. »Komm zurück!« rief Weljost. Ponkorn winkte ab. Er fand einen ver trockneten Ast und stieß mit ihm in den toten Körper. Eine Wolke aus feinem Staub stieg unter der Kleidung hervor. Ponkorn sprang angeekelt zurück. »Weiter!« Der Brangel stieg auf den Spyten und gab Weljost ein Zeichen. Ihre beiden Reittiere setzten sich auf einen Schlag gegen die Hör ner hin in Bewegung und schleiften Mierjot, der immer noch gelähmt war, hinter sich her. Die Herde folgte ihnen. Die Sonne näherte sich dem Horizont, als Ponkorn und Weljost die Fläche Coll-Herest erreichten. In der Ferne sahen sie die Zelte der Karawane Lhirrl. »Was ist mit dir?« fragte Weljost, als Ponkorn begann, sich an den Armen und Beinen zu kratzen. »Nichts«, entgegnete Ponkorn. Er legte eine Decke über die Beine. Äußerlich war ihm nichts anzumerken, aber er fühlte die Angst in sich emporkriechen.
Die Todeskarawane Auf seiner Haut bildeten sich winzige, ro te Blasen. Die beiden jungen Brangeln ritten über die Fläche, auf den Lagerplatz der Karawane Lhirrl zu. Je näher sie dem großen Zeltlager kamen, desto deutlicher spürten die beiden, daß et was nicht stimmte. Sie konnten keine Bewe gung zwischen den Zelten ausmachen, und noch etwas fehlte. Normalerweise hätten sie längst das qual volle Brüllen der Spyten hören müssen. Die Karawane Lhirrl verfügte, wie sie wußten, über fünf große Herden, die ebenso unter dem erzwungenen Aufenthalt leiden mußten wie Gfluurts Tiere. Entweder befanden sich alle Brangeln in ihren Zelten, oder aber … Ponkorn dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sie hatten jetzt keine Wahl mehr, kei ne Möglichkeit zur Rückkehr. Taslyn würde sie von den Spyten für ihr Verbrechen zu Tode schleifen lassen, und allein hatten Weljost und Ponkorn in den Hügeln keine Überlebenschance – trotz der riesigen Her de, die sie bei sich hatten. Wieder kratzte der Brangel sich unter der Decke. Als Weljost einen Augenblick fortsah, hob er sie an einer Seite hoch und erschrak. Die Blasen waren größer gewor den – und zahlreicher. Einen Moment lang drohte die Panik ihn zu übermannen. »Schneller«, drängte er Weljost und schlug seinem Spyten mit voller Wucht ge gen die Hörner. Das Tier brüllte vor Schmerzen auf, beschleunigte seinen Lauf aber nur zögernd. Weljosts Spyte blieb sogar stehen. Nur mit Mühe gelang es den beiden Brangeln, ihn zum Weitergehen zu bewe gen. »Sie haben Angst, Ponkorn. Laß uns um kehren. Dort vorne erwartet uns irgend et was Furchtbares, ich spüre es!« »Schweig!« schmatzte Ponkorn wütend. Weljost fügte sich. Die Dämmerung hatte mittlerweile einge setzt. Jetzt müßten die ersten Feuer zwi
13 schen den Zelten des großen Lagerplatzes aufflammen. Doch wie der Schleier des Todes lastete die unheimliche Stille über der Fläche. Ponkorn blickte sich um. Die Herde folgte Mierjot, den die Brangeln hinter sich her schleiften. Aber die Tiere wurden zusehends unruhiger. Einige von ihnen brachen seitlich aus und liefen auf die Hügel zu. Sie hatten furchtbare Angst. Doch der blinde Trieb, hinter ihrem Leitbullen herzu laufen, war stärker. Ponkorn und Weljost erreichten eine nie dergewalzte Umzäunung, hinter der sich ei ne mindestens tausend Spyten umfassende Herde befunden haben mußte. Tote Tiere und schrecklich verstümmelte Brangeln lie ßen die beiden Flüchtlinge ahnen, was sich hier zugetragen hatte. Die Herde war mit ihrem Bullen ausge brochen. Viele Tiere hatten dabei den Tod gefunden. Von den anderen war weit und breit nichts zu sehen. Bisher hatte Ponkorn angenommen, daß sich der Hauptteil der Spyten jenseits des Zeltlagers befand, in Einzäunungen zwi schen den kleinen Hügeln, die auch hier noch an einigen Stellen aus der Fläche rag ten. Jetzt begann er zu zweifeln. Dennoch wollte er sich immer noch nicht eingestehen, daß er sich und Weljost betrog. Es mußte ei ne zufriedenstellende Erklärung für den Zu stand der Karawane geben. Ponkorn verschloß sich jeder Einsicht. Weljosts Warnungen und Bitten prallten wirkungslos an ihm ab. »Bleib hier«, forderte er Weljost auf und stieg wieder von seinem Reittier. Bestürzt mußte er feststellen, daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Ponkorn hatte die Decke fallen lassen, die über seinen Beinen gelegen hatte. Weljost schmatzte in höchster Verzweiflung, als er den Körper des Gefährten sah. Immer wie der drehte er die Organverdünnung und sah von Ponkorn zu den toten Brangeln am Bo den und zurück zum Gefährten.
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Auch die toten Spyten hatten überall am Körper die roten Blasen, die zum größten Teil aufgesprungen waren. Weljost schied große Mengen der violetten Körperflüssig keit durch seine Hautporen aus. Er war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Welches Drama hatte sich hier vollzogen? Lebte überhaupt noch jemand hier? Als Weljost das Jucken am rechten Bein spürte und die sich schnell rötende Stelle sah, drehte er durch. Er schlug seinem Spy ten gegen das Ende des rechten Horns. Das Tier bäumte sich brüllend auf und raste da von. Es gab einen heftigen Ruck, als sich das Seil, an dem Mierjot an ihm und Pon korns Spyten festgebunden war, gespannt hatte und es zurückriß. Weljost verlor den Halt und wurde in hohem Bogen zu Boden geschleudert, wo er direkt neben einem toten Brangel der Karawane Lhirrl landete. Die Leiche war so sehr zusammenge schrumpft, daß ihre Gliedmaßen gerade noch aus der Bekleidung hervorragten. Wel jost zitterte. Seine Saugrüsselhände ver krampften sich ineinander und produzierten unartikulierte Schmatzlaute. Weljost versuchte, sich aufzurichten. Er sah, wie Ponkorn auf ihn zukam – ein Mon strum, über und über von roten Blasen be deckt. Weljosts Verstand setzte aus. Er glaubte, den leibhaftigen Boten der Ewigen Flächen auf sich zukommen zu sehen. Die Ewigen Flächen! Der Herr aller Flä chen hatte ihn und Ponkorn furchtbar für ihr feiges Verbrechen gestraft! Plötzlich blieb Ponkorn stehen und drehte sich um. Weljost schaffte es noch einmal, den Oberkörper aufzurichten. Er folgte Ponkorns Blick und sah die Gestalten, die sich ihnen von den Zelten aus näherten. Der Anblick war zuviel für ihn. Weljost verlor endgültig das Bewußtsein.
* Sie sahen aus wie Wesen aus einer ande ren, finsteren Welt. Sie trugen Fackeln in ih-
ren unförmigen Händen, die die Körper in gespenstisches Licht tauchten und sie noch monströser erscheinen ließen. Ponkorn verlor das Gleichgewicht und sank zu Boden. Einige der roten Blasen platzten auf, und die violette Körperflüssig keit spritzte heraus. Unfähig, eine Bewegung zu machen, starrte der Brangel die Spukgestalten an, die jetzt den zerstörten Zaun erreichten und zwei Hörnerlängen vor ihm haltmachten. Sie sahen sich schweigend an. Nur das qualvolle Brüllen der Spyten war zu hören. Die Fremden waren zu viert. Ihr Anführer war etwa zehn Zentimeter größer als die an deren. Allein daraus ließ sich schließen, daß es sich um eine Frau handelte. Die freie Saugrüsselhand der Fremden be wegte sich. Die verkrüppelten Finger brach ten ein kaum verständliches Schmatzen her vor. »Wer … wer seid ihr?« brachte Ponkorn hervor. Seine Saugfinger zitterten, und er mußte die Frage dreimal wiederholen, bis er eine Antwort erhielt. »Wer bist … du?« Ponkorn kam unter großen Schmerzen auf die Beine. »Ich komme als Freund«, antwortete er. Seine Finger produzierten die Laute jetzt in so schneller Folge, als ob er sich eine furcht bare Last von der Seele reden wollte. Er merkte nicht einmal, wie unsinnig das war, was er von sich gab. »Ich bringe euch viele Spyten. Wir sind Freunde, ihr müßt uns an hören. Wir wollen zur Karawane Lhirrl und mit ihr in die Fläche ziehen. Ihr müßt uns zu der Karawanenspitze führen, es ist wichtig. Wir sind Freunde, wir sind …« Die Frau brachte ihn mit einer unwilligen Bewegung der Fackel zum Schweigen. Pon korn kam sich dumm und hilflos vor – verlo ren. Verzweifelt sah er sich nach Weljost um, aber von ihm konnte er keine Unterstüt zung erwarten. »Es gibt keine Karawane Lhirrl mehr«, erklärte die Fremde. »Wir sind die letzten, die noch am Leben sind. Sie sind alle tot,
Die Todeskarawane und auch wir werden …« Offensichtlich hatte das Schmatzen ihre Kräfte überfordert. Einer der hinter ihr ste henden Brangeln stützte sie und sprach für sie weiter. »Wir alle haben nur noch wenige Sonnen strahlen zu leben. Ihr seid wie wir den Ewi gen Flächen nahe und werdet unser Schick sal teilen.« »Nein!« schmatzte Ponkorn in höchster Verzweiflung. Die Haut zwischen den Saug fingern platzte auf. »Niemals! Wir kehren um! Weljost!« Ponkorn lief schwankend auf den Gefähr ten zu und rüttelte an Weljosts Organver dünnung. Weljost rührte sich nicht. Ponkorn fuhr herum. Haßerfüllt sah er die vier Gestalten an. »Daran seid ihr schuld!« Die Verzweiflung und der Haß hatten die Sinne des jungen Brangels verwirrt. Er wuß te nur eines. Er mußte leben! All seine Plä ne, die Macht, die große Zukunft, die er sich ausgemalt hatte – all das durfte nicht plötz lich zu Ende sein. Alle hatten sich gegen ihn verschworen, aber er würde es ihnen zeigen! Er würde sich rächen, an allen! Ponkorn griff nach dem Kampfbeil, das in einer Schlaufe seiner Bekleidung steckte. Er umklammerte den Griff und kroch auf die vier wartenden Brangeln zu. Sie rührten sich nicht. Ihre unheimliche Ruhe machte Pon korn rasend. Mit einem Ruck war er auf den Beinen und holte aus. Das Beil traf einen der Fremden in der Brust. Ohne einen Laut sank der Getroffene in sich zusammen. Ungläubig sah Ponkorn, wie die anderen immer noch reglos stehen blieben. Wieso griffen sie ihn nicht an? Wieso wehrten sie sich nicht, kämpften um ihr Le ben? Ponkorn beugte sich über den Toten. Eine Wolke aus feinem Staub stieg auf und hüllte ihn einen Moment lang ein. Ponkorn entriß dem Brangel die Fackel und zog mit der an deren Hand das Beil aus seiner Brust.
15 Er richtete sich auf und kippte hilflos zur Seite. Ponkorn begriff, daß er sich über schätzt hatte. Er hatte seine letzten Kräfte verbraucht. Noch einmal versuchte er aufzu stehen, aber seine Beine gaben immer wie der nach. Es war stockfinster. Trotzdem glaubte der junge Brangel, einen Schatten auf sich zu kommen zu sehen. Der Schatten der Ewigen Flächen! »Du bist ein Narr«, hörte er. Er erkannte das Schmatzen der Frau, als er sich im Gras wälzte und das Gesicht zwischen den Hän den verbarg. Überall drang Flüssigkeit aus seinem Leib. Ponkorn wurde von furchtba ren Krämpfen geschüttelt, als er angesichts der Ewigen Flächen erkannte, was er getan hatte. Unbarmherzig drang die Stimme der Frau auf ihn ein. Wenn sie erschöpft war, redete einer ihrer Begleiter weiter. Ponkorn mußte mitanhören, wie die Kata strophe über die Karawane Lhirrl hereinge brochen war – vor weniger als sechs Son nen. Ebenso wie die anderen an die Fläche Jell-Cahrmere angrenzenden Karawanen hatten die Fremden aus dem Himmel die Karawane Lhirrl an den Rand ihrer Fläche getrieben und jede Wanderung bei Andro hung vernichtender Strafen verboten. Die herrschende Familie und die Karawanenspit ze waren sich darin einig gewesen, sich zu beugen – im Gegensatz zu den Verantwortli chen bei den Jarsys. Ponkorn dachte kurz daran, daß sein Plan, die Karawane Lhirrl mit einer Lüge zum Weiterzug zu bewegen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Er hatte ihnen erzählen wollen, daß die Kara wane Jarsys wieder in die Fläche JellCahrmere zurückgezogen wäre, ohne von den Eroberern gestraft worden zu sein. Er und Weljost seien zu dieser Zeit unterwegs gewesen, um eine ausgebrochene Herde ein zufangen und hätten ihre Stammesgefährten nicht mehr vorgefunden. Ponkorn begriff, daß er nie eine Chance
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gehabt hatte. Die Demütigung war vollkom men. Ponkorn hörte, wie die Seuche unter den achttausend Spyten der Karawane Lhirrl ausgebrochen war. Eine Herde nach der an deren fiel ihr zum Opfer. Zwei Leitbullen waren ausgebrochen und mit ihnen ihre Her de. Das Brüllen der verendeten Tiere war sonnenlang weit über die Fläche zu hören gewesen. Und dann, vor drei Sonnen, erkrankten die ersten Brangeln. Im Gegensatz zu den Spyten starben sie innerhalb kürzester Zeit. Nur wenige waren widerstandsfähiger, was ihre Qualen aber nur ausdehnte. Sie starben in ihren Zelten im Kreis ihrer Familien. Die drei Brangeln vor Ponkorn hatten die größte Widerstandskraft gehabt, aber nie mand von ihnen würde die nächste Sonne sehen. Ponkorn kroch auf die Frau zu. Die bei den Männer halfen ihm auf. Plötzlich war der Haß aus seinen Gedanken verschwun den. Die Frau sah ihn an und hob eine Hand. Ponkorn berührte sie schweigend. Er wußte nun, daß sie und ihre Begleiter ihm vergeben hatten. Aber er selbst würde keinen Frieden finden. Die Schuld, die er im Tal auf sich geladen hatte, bereitete ihm stärkere Qualen als die Schmerzen. Die vier standen immer noch beieinander, als das Rauschen den Himmel erfüllte und der Horizont zu glühen begann. Innerhalb weniger Sonnenstrahlen wurde es taghell. Ein riesiges, flammendes Gebilde erschien am Himmel. Blitze zuckten über das Firma ment, und das Rauschen drohte die Hörorga ne der Brangeln zum Platzen zu bringen. Die Frau bewegte ihre Saugrüsselfinger und schmatzte etwas, aber Ponkorn nahm es nicht mehr wahr.
* Als Weljost zu sich kam, war es hell. Der junge Brangel lag eine Weile reglos im Gras, dann drehte er den Kopf und versuch te, sich aufzurichten. Zu seiner Überra-
schung gelang es ihm ohne große Mühe. Weljost erinnerte sich an das Auftauchen der vier fremden Brangeln und an Ponkorn. Unwillkürlich fuhr er sich mit den Händen über die Glieder. Er fühlte die kleinen Bla sen und wußte, daß die jähe Hoffnung, daß alles nur ein böser Traum gewesen war, ihn getrogen hatte. Weljost sah die Leichen der Fremden und einen Toten, den er nur an seiner Bekleidung als Ponkorn erkannte. Bebend vor Schmerz drehte Weljost sich um. Er sah an sich hinab. Arme und Beine waren von den Blasen übersät, aber er fühlte sich kräftiger als am Vorabend, bevor er zu sammenbrach. Wieso lebte er noch? Die Spyten! Ehe Weljost sich nach der Herde umsah, wußte er, was ihn erwartete. Dennoch wurde er vom Grauen gepackt, als er die über tau send Tiere weit über die Fläche verstreut am Boden liegen sah. Alle waren voller roter, aufgeplatzter Blasen. Die Seuche hatte sie hinweggerafft, daran gab es keinen Zweifel, aber seltsamerweise waren ihre Körper noch fest, im Gegensatz zu den Spyten der Kara wane Lhirrl. Gab es etwas anderes, das sie getötet hat te? Etwas, von dem Weljost nichts wissen konnte? Was war während der Nacht geschehen, als Weljost ohne Bewußtsein war? Erst jetzt fiel ihm auf, daß mehr als die Hälfte der Spitzzelte abgebrannt waren. Bei genauem Hinsehen erkannte der Brangel, daß die Kuppen der Hügel schwarz waren. Auch dort mußte das Feuer gewütet haben. Weljost sah sich immer wieder nach allen Seiten um. Wohin sollte er sich wenden? Hatte es überhaupt noch einen Sinn, zwi schen Toten herumzustreifen? Was erwarte te er noch von den letzten Strahlen seines Lebens? Plötzlich hörte er das Brüllen eines Spy ten. Weljost fuhr herum. Ungläubig sah er, wie sich ein mächtiger Leib hinter einem der
Die Todeskarawane Zelte hervorschob. Mierjot! Die starken Stricke hingen immer noch von den Hufen des Leitbullen herab. Mierjot schleifte sie hinter sich her, als er langsam auf den jungen Brangel zukam. Jetzt erkann te Weljost, daß sie nicht zerschnitten, son dern zerrissen worden waren. Mierjot mußte sich mit unvorstellbarer Gewalt befreit ha ben. Aber das war nicht alles. Fassungslos sah Weljost, daß der Bulle völlig gesund war. Zumindest waren keine äußerlichen Zeichen einer Erkrankung an ihm festzustellen. Eine Hörnerlänge vor Weljost blieb Mier jot stehen und schien auf etwas zu warten. Weljost begriff nicht, was um ihn herum vorging. Er ließ sich auf den Boden fallen und dankte dem Herrn der Ewigen Flächen, denn plötzlich glaubte er, daß Mierjot ihm geschickt worden war. Ein unbegreifliches Schicksal hatte ihn dazu ausersehen, eine letzte Aufgabe zu erfüllen, seinem Leben noch einmal einen Sinn zu geben. Weljost richtete sich auf und stieg auf den Rücken des Bullen, nachdem er einen Reit sattel von einem der toten Spyten geholt und einige Ausrüstungsgegenstände daran befe stigt hatte. Er verzichtete auf eine Waffe, denn er würde sie nicht mehr brauchen. Weljost schlug leicht gegen Mierjots Hör ner. Der Spyte setzte sich in Bewegung, auf die Hügel zu, hinter denen die Flächen JellCahrmere lag. Mierjot mußte sich seinen Weg durch die toten Leiber seiner ehemali gen Herde suchen. Soweit das Auge reichte, war der Boden von verendeten Tieren be deckt. Weljost wollte dafür sorgen, daß die Ka rawane Jarsys von diesem grausamen Schicksal verschont blieb. Vielleicht konnte er sein Verbrechen auf diese Weise wieder gutmachen. Aber auch Weljosts Sinne waren bereits verwirrt. Er glaubte daran, seiner Karawane die Rettung zu bringen, indem er sie warnte und dazu bewog, das gefährdete Gebiet zu
17 verlassen. In Wahrheit brachte er den Keim der Seu che zu den Seinen. Die Sonne stand hoch am Himmel, als er die Hügel erreichte. Er fühlte sich wieder schwächer, aber ein nie gekannter, unbändi ger Wille trieb ihn voran.
* Kryanur befand sich in einer Höhle. Er war gefesselt. Die beiden Wächter, von de nen er erfahren hatte, wem er seine Entfüh rung zu verdanken hatte, waren geflohen, als in der Nacht der helle Schein am Himmel aufgetaucht war. Kryanur hatte das Tosen gehört, die aufgeregten Schmatzlaute der Wachen und das Brüllen der ausbrechenden Spyten, das ihm bewies, daß er sich in der Nähe des Lagers befand. Als das Rauschen seinen Höhepunkt er reicht hatte, waren große Brocken von der Höhlendecke herabgestürzt. Kryanur hatte großes Glück gehabt, daß er nicht erschla gen worden war. Seitdem hatte er nichts mehr gehört. Nur dann und wann brüllte ein Spyte. Kryanur wußte nicht, was sich draußen im Freien er eignet hatte, aber er hatte ein ungutes Ge fühl. Eine Zeitlang war es fast unerträglich gewesen, als ob vor dem Eingang der Höhle ein Feuer entfacht worden wäre. Nach dem nur schwach einfallenden Licht zu urteilen, war die Sonne schon ein gutes Stück über den Himmel gewandert. Kryanur war klar, daß er auf sich selbst angewiesen war. Er mußte hier heraus. Irgend etwas Un heimliches war geschehen. Die Ungewißheit verursachte seelische Qualen, die Sorge um die Karawane war schlimmer als die um das eigene Schicksal. Zuerst mußte Kryanur eine Möglichkeit finden, sich der Fesseln zu entledigen. Im merhin bestanden sie nicht aus Spytenleder, sondern aus geflochtenem Blaugras, das kaum weniger reißfest war als Lederstrie men, aber Kryanur konnte es durchscheuern, wenn er einen scharfen Felsvorsprung fand.
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Das von draußen einfallende Licht war zu schwach, um Einzelheiten des Höhleninnern erkennen zu lassen. Kryanur schob sich an der Wand entlang, bis seine tastenden Finger einen Vorsprung fanden, der ihm spitz ge nug erschien. Kryanur brachte sich in eine günstige La ge und begann, die Fesseln, mit denen die Hände auf den Rücken gebunden waren, an dem Stein zu scheuern. Dicke Perlen von Körperflüssigkeit drangen aus den Poren. Kryanur mußte wiederholt Pausen einlegen, um zu Kräften zu kommen. Endlich hatte er es geschafft. Er rieb sich die entzündeten Armgelenke und löste die Fußfesseln. Einen Moment lang blieb er ru hig stehen und lauschte. Nichts. Vorsichtig schlich sich der junge Brangel aus der Höhle. Obwohl er gehört hatte, wie die beiden Wachen voller Panik geflohen waren, muß er mit einer Überraschung rech nen. Kryanur trat ins Freie. Er befand sich am ziemlich steil abfallenden Abhang eines Hü gels am Rand der Fläche. Fassungslos starrte er auf das Bild der Zerstörung, das sich ihm bot.
* Die Hälfte aller Zelte war niedergerissen worden, andere waren völlig abgebrannt. Überall bemühten sich Brangeln, die schlimmsten Schäden zu beseitigen und ihre Habe in heil gebliebene Zelte zu schaffen. Weit und breit waren die Zäune, hinter de nen sich die Spyten befunden hatten, zer stört. Trauernde Brangeln, in der Hauptsa che Frauen und Kinder, saßen um ihre toten Angehörigen herum. Zwischen den Zelten, in der Fläche und selbst weit hinten in den Hügeln standen verstreute Spyten in Gruppen um ihre Leit bullen herum. Sie brüllten vor Hunger. Kryanur wunderte sich darüber, daß sie jetzt, wo sie frei waren, nicht ihrem Wandertrieb folgten und in die Fläche hinauszogen. Kryanur erreichte das Lager. Die Bran-
geln erkannten ihn und machten ihm re spektvoll Platz. Die umstrittene neue Kara wanenspitze bemerkte verwundert, wie auch Mitglieder der Familie Tsantayer vor ihm zurückwichen. Er sah, wie ein paar Brangeln auf das Zelt der Frotheyers, das unversehrt geblieben war, zuliefen. Kurze Zeit später wurde das Tuch vor dem Eingang zurückgeschlagen und Taslyn erschien in Begleitung zweier Vertrauter. Taslyn und Kryanur drückten ihre Hände gegeneinander, und Kryanur merkte, daß der andere heftig zitterte. Plötzlich erschien Los layn mit bebenden Organwülsten und gesell te sich zu ihnen. Kryanur traute seinen Sin nen nicht, als der Alte ihn als neue Karawa nenspitze begrüßte und eine Respektbezei gung machte. »Der Herr der Ewigen Flächen hat uns be straft«, erklärte das Oberhaupt der Familie Tsantayer, das noch vor einer Sonne seine Entführung angeordnet hatte, um den Wei terzug der Karawane zu verhindern. »Wir wissen nun, daß wir unsere von ihm uns an vertrauten Flächen nicht den fremden Erobe rern überlassen dürfen. Mehr als 3000 unse rer Gefährten kamen unter den Hufen der Spyten um. Du sollst uns führen, Kryanur – uns, die wir das Glück haben, leben zu dür fen.« Der junge Brangel sah Taslyn an. »Wo ist Gfluurt? Lebt er?« »Er lebt, aber es geht ihm nicht gut. Willst du ihn sehen, Kryanur?« Wenig später stand Kryanur neben Gflu urts Krankenlager. Und plötzlich wußte er, daß er in diesem Augenblick gefunden hatte, wonach er unbewußt gesucht hatte, seitdem er von Taslyn zum Nachfolger der Karawa nenspitze erklärt worden war. Kryanur war erwachsen geworden. Selnga hockte über dem Gefährten und pflegte ihn. Sie begrüßte Kryanur ohne jeden Vorwurf, dabei mußte sie wissen, wel che Rolle er in Taslyns Plänen hatte spielen sollen. Gfluurt schob sie sacht beiseite und
Die Todeskarawane streckte Kryanur eine Hand entgegen. Der junge Brangel preßte seine Saugrüsselfinger gegen die des Alten, und es war ihm, als ob ein warmer Gefühlsstrom von Gfluurt auf ihn überfloß. »Ich wußte, daß du zurückkehren wür dest«, schmatzte Gfluurt leise. Jede Bewe gung der Finger schien ihm Schmerzen zu bereiten. »Gfluurt, ich …« Die alte Karawanenspitze brachte Kryanur mit einer Geste zum Schweigen. »Ich weiß, daß du das beste für die Kara wane willst; ich wußte, daß du sie zurück in die fruchtbare Ebene führen wolltest, als ich dir das Geheimnis des Herdenzugs verriet. Handele so, wie du es für richtig hältst, Kryanur. Nur vermeide es, die Fläche JellCahrmere zu bereisen. Suche uns eine neue Fläche, jenseits der Hügel. Wir stehen am Anfang einer neuen Zeit, Kryanur. Bald wird es keine Karawanen mehr geben, die eine ganze Fläche für sich beanspruchen können. Versuche, in Frieden mit der Kara wane Lhirrl zu leben und die Reste unserer Herden über die Fläche Coll-Herest zu trei ben. Die Spyten werden neue Wandergründe finden, und vielleicht werden beide Herden sich eines Tages vermischen. Tue das, was du für richtig hältst, Kryanur. Ich vertraue dir.« Der junge Brangel kämpfte mit seinen Gefühlen. Violette Flecken bildeten sich auf seiner Haut. Als er die seelische Anspan nung nicht mehr aushielt, stürzte er aus dem Zelt, wo Taslyn auf ihn wartete. Sechs Fa milienoberhäupter standen bei ihm. Kryanur faßte sich. Er verkündete seinen Beschluß, beim Aufgehen der nächsten Son ne nach Nordwesten zu ziehen, in die Fläche Coll-Herest. Alle Familienoberhäupter zeigten Erleich terung und sprachen ihm Mut zu. In diesem Augenblick begriff Kryanur, daß alle Diffe renzen zwischen den einzelnen Familien der Karawane Jarsys vergessen waren. Kryanur zog sich zurück, um zu sich zu finden. Er saß lange auf einer Zaunlatte hin
19 ter dem Lager und grübelte vor sich hin. Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Wußte Gfluurt, daß er ihm Gift in den Heilbrei gemischt hatte? Mehr als einmal verspürte Kryanur den dringenden Wunsch, zu Gfluurt zu gehen und ihm die volle Wahrheit zu sagen. Dann aber dachte er an die Karawane und daran, daß Gfluurt seinen Entschluß rückgängig machen könnte. Taslyn tauchte zwischen den Zelten auf. Er setzte sich neben Kryanur auf die Latte. »Ich werde nicht zulassen, daß er stirbt«, schmatzte Kryanur. »Er ist tot«, antwortete Taslyn leise. »Gfluurt ist in das Reich der Ewigen Flä chen eingegangen.« Kryanur glaubte, daß alles Leben aus ihm wich. »Das … das Gift?« »Er wollte gehen, Kryanur. Seine Aufga be war erfüllt. Dich trifft keine Schuld.« Allein der Vorsatz ist Schuld genug, dach te Kryanur bitter. Rechtfertigte die Sorge um das Wohl der Karawane einen heimtücki schen Mordanschlag?
5. Burtimor, Tarsyr und Otlusg lagen er schöpft und niedergeschlagen in einer klei nen Mulde zwischen hohen Gräsern am Rand der Hügelkette. Die drei Jäger waren deprimiert. Zu sicher hatten sie die Beute geglaubt, zu sicher den Triumph, wenn sie mit einem der Diener der Eroberer im Lager aufgetaucht wären. Die drei Jäger waren die ganze Nacht hin durch marschiert. Bald mußte die Karawane auftauchen. Es war nicht abzusehen, wann sie endlich weiterzog. Der Respekt vor den Fremden steckte zu tief in den Brangeln. Burtimor, Tarsyr und Otlusg konnten nicht ahnen, was sich in der Zwischenzeit bei der Karawane ereignet hatte, obwohl das brausende, blitzende Etwas am Himmel sie verunsichert hatte. Sie hatten geglaubt, daß Loors in einer furchtbaren Katastrophe ver
20 gehen würde, aber das Etwas war über die Jäger hinweggezogen, ohne sie zu töten, nachdem sie bereits mit ihrem Leben abge schlossen hatten. »Laßt uns aufbrechen«, schmatzte Tarsyr ungeduldig. Burtimor und Otlusg erhoben sich schwerfällig. »Hätten wir nur einen Spyten«, gab Ot lusg mürrisch von sich. »Es ist nicht mehr weit«, meinte Tarsyr. »Je eher wir aufbrechen, desto früher sind wir bei der Karawane.« Die Jäger machten sich auf den Weg. Sie hielten sich dicht an der Hügelkette, denn niemand von ihnen hatte große Lust, noch einmal mit einem Diener der Eroberer Be kanntschaft zu machen. Außerdem waren sie hungrig. Ihre Vorräte waren erschöpft. Die Sonne hatte den Zenit überschritten, als Burtimor stehenblieb und eine warnende Geste machte. »Was ist?« wollte Tarsyr wissen. Burtimor bedeutete ihm, zu warten. Und dann hörten sie es alle. Irgendwo hinter dem nächsten Hügel brüllte ein Spyte seine Qual in die weite Ebene hinaus. »Wie kommt ein Spyte hierher?« wunder te sich Otlusg. »Außer uns gibt es weit und breit keine Karawane!« »Da stimmt etwas nicht«, schmatzte Bur timor aufgeregt. »Sehen wir nach. Wenn wir Glück haben, bekommen wir unser Reit tier.« Die andere Überlegung ließ er offen. Ein Spyte der Karawane Jarsys hier in der Wild nis – was hatte sich bei der Karawane zuge tragen? An den Mienen der beiden Gefährten konnte Burtimor ablesen, daß sie sich die gleichen Sorgen wie er machten. Kein Spyte brach ohne seinen Leitbullen aus, abgesehen von den Amokläufern der letzten Sonnen, aber die waren sofort unschädlich gemacht worden. Vorsichtig näherten die drei Jäger sich der Stelle, von der das Brüllen gekommen war. Wieder schrie das Tier. Der Laut fuhr den Brangeln durch alle Sinnesadern ihrer plump
Horst Hoffmann wirkenden Körper. »Es hört sich an, als ob es verletzt wäre«, vermutete Otlusg. Sie pirschten sich in der Deckung einiger kleiner Bäume und Sträucher über die Kup pe des flachen Hügels an die Senke heran. Es war nicht ausgeschlossen, daß sich dort mehrere Tiere befanden, und einmal außer Kontrolle geratene Spyten waren oft unbere chenbar. Burtimor, Otlusg und Tarsyr waren Jäger, und ihre Aufgabe bestand darin, wäh rend der Aufenthalte aus dem Lager auszu schwärmen, um Wild und Kräuter zu be schaffen, die die Frauen für die Zubereitung des Nährbreis benötigten. Keiner der drei verfügte über große Kenntnisse im Umgang mit den Spyten. »Es sind zwei«, schmatzte Tarsyr kaum hörbar. »Sie können nur aus unseren Herden stammen. Sie sehen völlig ausgehungert aus.« »Sie haben Futter in Hülle und Fülle«, meinte Burtimor. »Sie wollen nicht fressen, solange sie an einem Ort festgehalten wer den.« »Riskieren wir's?« fragte Otlusg unsicher. »Was bleibt uns anderes übrig? Wir müs sen Sicherheit haben. Besonders aggressiv sehen sie nicht aus.« Vorsichtig stiegen die drei Jäger in die kleine Senke hinab. Die Tiere hoben die Köpfe, rührten sich aber nicht. »Sie sind tatsächlich sehr schwach«, stell te Otlusg fest. Er griff nach einem der Hör ner des ersten Spyten und betrachtete die feinen Schnitzereien darauf. »Jarsys. Sie gehören zu unserer Karawa ne, kein Zweifel.« »Dann muß eine ganze Herde ausgebro chen sein«, schmatzte Tarsyr erregt. »Also müssen ihre Verfolger in der Nähe sein. Vielleicht sollten wir hier warten und uns bemerkbar machen, wenn sie …« Burtimor machte eine abwehrende Geste. »Wir sollten uns nichts vormachen. Wir müssen jetzt noch schneller zum Lagerplatz, um zu sehen, was dort passiert ist. Vielleicht braucht man uns. Ich versuche, diesen hier«,
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der Brangel zeigte auf den Spyten vor ihm, »zu besteigen. Helft mir.« Wider Erwarten ließ das Tier sich ohne Widerstand reiten. Otlusg stieg hinter Burti mor auf, während Tarsyr auf den zweiten Spyten kletterte. Wenig später waren die Brangeln unter wegs. Sie kamen jetzt bedeutend schneller vorwärts. Noch wenige Hügel bis zum Lagerplatz. »Dort drüben!« rief Tarsyr. »Spyten, viele von ihnen!« Burtimor und Otlusg sahen die Tiere, die wie verloren in der Fläche und in einigen Einschnitten zwischen Hügeln herumstan den. Offensichtlich hatten sie ihren Leitbul len verloren. Sie mußten in Panik vor irgend etwas geflohen sein. Die Brangeln wurden immer unruhiger. Was, beim Herrn der Ewigen Flächen, war während ihrer Abwesenheit geschehen? Hat te es etwas mit dem flammenden Etwas am Himmel zu tun, das sie beobachtet hatten? Die ersten toten Spyten tauchten auf. Ei nige waren dermaßen abgemagert, daß die Erklärung nahelag, sie seien vor Erschöp fung gestorben. Andere hatten tiefe Wunden in den Seiten, die zweifellos von den Hör nern anderer Spyten stammten. Die Sonne stand bereits tief am Horizont, als Burtimor, Otlusg und Tarsyr die ersten Brangeln erspähten, die dabei waren, Spyten einzufangen und ins Lager zurückzutreiben. Sie wurden freudig begrüßt und ritten mit ei ner kleinen, zusammengetriebenen Herde ins Zeltlager. Weder die Jäger noch die an deren Brangeln bemerkten den Schatten am Himmel, der Burtimor, Otlusg und Tarsyr bis zum Lager gefolgt war.
* Kryanur hatte den Tag damit verbracht, die fünf der ehemals achtzehn ausgebildeten Spytenführer, die die Katastrophe überlebt hatten, auf die vor ihnen liegende Aufgabe vorzubereiten. Die Spytenführer waren seit jeher die Helfer der Karawanenspitze. Sie
ritten die Leitbullen der Teilherden oder sorgten dafür, daß die Herden nicht ausein anderliefen, fingen verirrte Spyten ein und erkundeten im Auftrag der Karawanenspitze das Gelände. Kryanurs Entschluß stand fest. Sobald die nächste Sonne am Himmel erschien, würde die Karawane aufbrechen und in die Fläche Coll-Herest ziehen. Die Brangeln waren schon dabei, ihre bescheidene Habe zusam menzupacken und auf Spyten zu befestigen. Mittlerweile war es Kryanur und seinen fünf Helfern, die ihn jetzt als neue Karawanen spitze anerkannten, gelungen, die überall herumirrenden Spyten zusammenzutreiben. Von den ehemals sieben Leitbullen lebten noch drei. Drei Herden würden am Morgen die Hügel im Nordwesten überqueren, aber es waren kleine Herden. Zwar kamen immer noch Suchtrupps, die Spyten ins Lager zu rückbrachten, aber von den 12 000 Tieren der Karawane Jarsys waren nicht mehr als 3500 übriggeblieben. Es gab keine Streitereien mehr zwischen den Familien der Karawane. Der gemeinsa me Feind hatte sie zusammengeschweißt. Niemand glaubte mehr an ein Wunder, und Kryanur war froh zu wissen, daß auch Gflu urt kurz vor seinem Tod seinen Irrtum ein gesehen hatte. Dieses Wissen gab ihm Kraft. Dennoch hatte er erkannt, daß die Bran geln sich in ihrem Haß auf die Eroberer, die, wie sie glaubten, an der Katastrophe der letzten Nacht schuld waren, nicht zu blinden Aktionen und Provokationen hinreißen las sen durften. Die Macht der Fremden war zu groß. Die Karawane mußte sich eine neue Heimat jenseits der Hügelkette suchen. In der Fläche Jell-Cahrmere herrschten die Er oberer, wie die Berichte der endlich zurück gekehrten Jäger bestätigt hatten. Am Abend, als die Sonne sich dem Hori zont zuneigte, stand Kryanur seine größte und entscheidende Bewährungsprobe bevor. Zwar hatten er und seine Helfer die Spyten zurücktreiben können, aber immer noch wußte er nicht, ob er von den Leitbullen als
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Horst Hoffmann
Karawanenspitze akzeptiert werde, wenn die Wanderung begann. Die Herde des Leitspyten Kerall befand sich am weitesten außerhalb des Zeltlager platzes. Kerall war der eigensinnigste und wildeste der drei noch lebenden Bullen. Kryanur kletterte, nur mit einem langen Stab ausgerüstet, über den wiedererrichteten Zaun, hinter der sich Keralls Herde befand – knapp eintausend brüllende und abgemager te Spyten. Langsam arbeitete der junge Brangel sich durch die mächtigen Leiber der Tiere vor, bis er vor Kerall stand. Der Bulle sah ihn aus seinen kleinen Au gen mißtrauisch an. Kryanurs Organwülste bebten, als er lang sam weiterging.
* Weljost hielt sich mit letzter Mühe auf dem Bullen. Mehrmals war er während des Rittes durch die Einschnitte zwischen den Hügeln fast aus dem Sattel gestürzt, und im mer hatte Mierjot eine kurze Pause einge legt, als ob er ahnte, was in seinem Reiter vorging. Weljosts Zustand hatte sich zusehends verschlechtert. Er zweifelte daran, daß er die Karawane lebend erreichen würde, aber er wurde von unbändigem Willen vorangetrie ben. Manchmal hatte er das Gefühl, daß Mierjot ihm Mut machen wollte, wenn er für kurze Zeit anhielt, aber das war schier un möglich, obwohl die Leitspyten als außeror dentlich intelligent galten. Immer noch zeigte der Bulle keinerlei An zeichen einer Erkrankung, ganz im Gegen satz zu Weljost. Die Blasen waren zum großen Teil aufgeplatzt, und jede Bewegung verursachte furchtbare Schmerzen. Der Brangel hatte das Gefühl, daß seine Haut vom Körper abspringen wollte. Sie wurde rissig und zäh. Und immer wieder sah er den dunklen Schatten der Ewigen Flächen. Weljost lag fast flach auf dem mächtigen
Rücken des Bullen und hielt sich mit beiden Händen an den Hörnern fest. Er sah Gras, Felsbrocken und Buschwerk unter sich hin wegziehen. Dann und wann schob Mierjot sich an toten Spyten aus seiner ehemaligen Herde vorbei, und plötzlich sah Weljost, daß sie die Hügel hinter sich gelassen und die Fläche erreicht hatten. Der Anblick des vertrauten Bodens gab ihm noch einmal alle Kraft zurück. Weljost richtete sich auf und sah das zerstörte Zeltla ger. Aber Weljosts Verstand war zu ver wirrt, um darüber nachzudenken. Er mußte die Karawane warnen, alles andere war un wichtig. Als sie die erste niedergerissene Umzäu nung, noch weit außerhalb des Lagers, er reichten, blieb Mierjot stehen. Weljost ver suchte, ihn anzutreiben, aber der Bulle rühr te sich nicht mehr von der Stelle. Weljost ließ sich seitlich aus dem primiti ven Sattel fallen. Einen Moment lang war er ohne Bewußtsein, dann hörte er Mierjots un geduldiges Brüllen, das ihn wieder zur Be sinnung brachte. Aus dünnen Furchen der aufgerissenen Haut drang seine Körperflüs sigkeit. Weljost achtete nicht darauf. Er mußte zum Lager! Weljost schleppte sich über den grasbe wachsenen, weichen Boden. Wieder brüllte Mierjot auf, und diesmal klang es drohend. Weljost hörte seine Hufe aufstampfen. Er achtete nicht darauf. Zum Lager … Der todgeweihte Brangel wußte nicht, wie lange er über den Boden gekrochen war, als die Gestalten vor ihm auftauchten. Ein letz tes Mal klärte sich sein Blick. Er erkannte einige Mitglieder der Familie Frotheyer. An dere Brangeln trieben Mierjot zurück, der sich plötzlich wie besessen gebärdete. Weljost fühlte, wie seine Saugfinger in kühle Nährflüssigkeit getaucht wurden. Er riß die Hände zurück. Mit letzter Kraft be richtete er über das, was er jenseits der Hü gel erlebt hatte und was sich in dem Tal er eignet hatte, wo er und Ponkorn die sieben Brangeln getötet hatten. Dann senkte sich die Schwärze der Ewi
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gen Flächen über Weljost. Er sah nicht mehr, wie die Brangeln, die sich über ihn gebeugt hatten, entsetzt zu rückwichen und ins Zeltlager zurückliefen.
* Kryanur hielt die Stange fest umklam mert. Während er bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte, dachte er an das, was Gfluurt ihm anvertraut hatte. Kerall stampfte mit den Hufen in den Bo den und senkte drohend den Kopf. Kryanur sah die meterlangen Hörner. Er versuchte, ruhig zu bleiben. Jede Unachtsamkeit konnte seinen Tod bedeuten. Noch griff Kerall nicht an. Kryanur senk te langsam den Stab. Dann begann er mit der Zeremonie, die er niemals zuvor ausgeführt hatte. Einen Moment lang dachte er daran, daß Gfluurt nicht mehr Herr seiner Sinne gewe sen sein könnte, als er ihm den Vorgang be schrieb. Die rechte Hand produzierte leise, mono ton klingende Schmatzlaute, während die linke sich unendlich langsam einem der Hör ner näherte. Der Leitbulle verfolgte jede seiner Bewe gungen. Manchmal hatte Kryanur das Ge fühl, daß Keralls prüfender Blick durch ihn hindurchfuhr. Ruhig bleiben! Weiter! Kryanur berührte das Horn fast an der Spitze. Unter leisem Schmatzen fuhr er dar an entlang, bis er den Ansatz über den Au gen des Bullen erreicht hatte. Immer noch wartete Kerall ab. Kryanur trat noch einen Schritt vor. Er wußte, daß er einem Angriff jetzt schutzlos ausgeliefert wäre. Keralls Kopf drehte sich, als der Brangel seitlich an ihn herantrat, sich unter dem Horn hindurchschob und ruhig über die borstige Haut des Bullen strich. Kerall stampfte mit den Hufen auf und brüllte. Nur mit äußerster Überwindung brachte Kryanur es fertig, nicht davonzuren nen.
Der entscheidende Moment kam, als der junge Brangel mit beiden Händen nach den Hörnern griff. Am Zaun standen mehrere seiner Stammesgefährten und verfolgten atemlos die Szene. Selbst die Spyten hatten zu brüllen aufge hört. Die Tiere schienen zu spüren, was in diesem Augenblick vorging. Kryanur blockierte einen Sonnenstrahl lang seine Sinnesorgane und schickte ein Gebet zum Herrn der Ewigen Flächen. Dann war er soweit. Aber bevor er Anstalten machen konnte, den Leitspyten zu besteigen, geschah etwas Unerwartetes. Kerall ging in die Knie! Sein mächtiger Kopf senkte sich bis fast auf den Boden her ab. Die kleinen Augen sahen Kryanur auf fordernd an. Ein bisher nie erlebtes Triumphgefühl be schlich den jungen Brangel, als er auf den Nacken des Leitspyten stieg. Auf einen leichten Schlag gegen die Hörner hin richte te Kerall sich auf und begann, langsam auf den Zaun zuzulaufen. Die Gefährten hatten ungläubig zugesehen, als aus Kryanur nun endgültig die neue Spitze der Karawane Jar sys geworden war. Kerall hatte ihn akzep tiert, und die anderen Bullen würden seinem Beispiel folgen. Kryanur winkte den Freunden zu und ließ sich von Kerall durch die Herde tragen. Die Spyten wichen respektvoll zur Seite. Selbst jetzt, wo sie dezimiert war, wirkte die Herde immer noch wie ein unübersehbares Meer aus erdgrauen, wuchtigen Körpern, das sich nach allen Seiten hin weit ausbreitete. In stillem Einverständnis mit Kerall ritt er an ihr vorbei, bis er den dem Zeltplatz ge genüberliegenden Zaun erreichte. Plötzlich gewann jedes einzelne Tier eine völlig neue Bedeutung für ihn. Er, Kryanur, hatte nun die alleinige Verantwortung für die Spyten. Es war wie ein Wunder. Und jetzt wußte Kryanur, daß Gfluurt niemals anders hätte handeln können. Er war sich des Risikos be wußt, das eine Rückkehr in die angestammte Fläche Jell-Cahrmere mit sich gebracht hät
24 te. Gfluurt hatte die Herden nicht abstrakt gesehen, sondern als ihm anvertraut. Kryanur glaubte, die Qualen der Tiere, die daran gehindert wurden, ihrem Wandertrieb zu folgen, körperlich zu spüren. Er konnte die plötzliche Bindung zu den Spyten nicht erklären – sie war einfach da. »Laß uns zurückreiten, Kerall«, schmatzte die Karawanenspitze. Der Bulle setzte sich in Bewegung. Während sich noch einmal die Leiber der Spyten zur Seite schoben, um ihm bereitwil lig Platz zu machen, festigte sich Kryanurs Entschluß, beim Aufgehen der nächsten Sonne nach Nordwesten zu ziehen, selbst auf die Gefahr hin, von den Eroberern noch mals gestraft zu werden. Die Brangeln und die Spyten waren verlo ren, wenn sie sich weiterhin festnageln lie ßen. So aber hatten sie wenigstens eine Chance. Die von den Eroberern ausgelöste Kata strophe hatte den Ausschlag gegeben. Das Gefühl, nicht mehr nur eine Marionette der Familie Frotheyer zu sein, gab Kryanur Si cherheit. Der Brangel war so in Gedanken versun ken gewesen, daß er nicht bemerkt hatte, wie die Spyten um ihn herum langsam unru hig wurden. Jetzt sah er, wie einige Bran geln vom Zeltlagerplatz her auf den Zaun zugerannt kamen. Sie schmatzten laut, aber noch war Kryanur zu weit weg, um etwas zu verstehen. Auch Kerall zeigte Anzeichen von Erre gung. Kryanur hatte es plötzlich eilig, in die Nähe des Zaunes zu gelangen. Er schmatzte beruhigend und stieg von Kerall ab. Wenig später war er bei den Gefährten. Die Spyten waren kaum noch zu bändigen, aber immer noch wichen sie vor ihm zurück. Die Organwülste der Brangeln bebten vor Panik. »Gophkor«, rief Kryanur einen Angehöri gen der Familie Frotheyer. »Was ist pas siert?« Der Angesprochene war unfähig, einen zusammenhängenden Bericht abzugeben.
Horst Hoffmann Kryanur verstand nur Bruchteile. Dazu kam, daß die anderen Brangeln so laut durchein anderschmatzten, daß Kryanurs Gehörorga ne schmerzten. Irgend etwas mußte jenseits des Lagers, in der Nähe der Hügel, geschehen sein. »Komm«, forderte die Karawanenspitze den Frotheyer auf. »Führe mich hin!« Der Brangel zitterte am ganzen Leib. Im mer wieder machte er wilde Gesten, bestrich seine Gliedmaßen mit den Händen und schmatzte unverständliche Laute. Kryanur riß die Geduld. Er packte Goph kor und zerrte ihn solange mit sich, bis er sich beruhigt hatte und willig vor Kryanur herlief. Als sie das Lager erreichten, trat Taslyn aus dem Zelt der Familie Frotheyer und stellte sich ihnen in den Weg. »Du darfst nicht weiter, Kryanur.« »Aber warum? Bei den Ewigen Flächen, was ist geschehen, Taslyn?« »Ich werde dir alles erklären«, verkündete der Alte mit trockenem Schmatzen, das Kryanur noch mehr erschreckte als die über all in Panik umherirrenden Brangeln. Schweigend folgte er Taslyn ins Zelt. Vorher fiel sein Blick wie zufällig auf die untergehende Sonne, die in einem grandio sen Schauspiel hinter der Hügelkette ver sank. Sie machte ihm Angst.
* Sie saßen schweigend um das kleine Feu er herum, das in der Mitte des Zeltes, unter dem offenen Rauchabzug, flackerte. Nie mand wollte als erster aussprechen, was die Konsequenz aus Taslyns Bericht war. Außer dem Familienoberhaupt der Fro theyer und Kryanur befanden sich noch die anderen überlebenden Familienoberhäupter und die fünf Spytenführer im Zelt. Draußen war es ruhig – vom furchtbaren Brüllen der Spyten abgesehen. »Ich will ihn sehen«, schmatzte Kryanur schließlich. »Wo ist er jetzt?«
Die Todeskarawane »Weljost liegt nach wie vor bei den Zäu nen, wo er starb«, erklärte Taslyn. »Kein Brangel wagt sich an die Leiche heran, und das ist gut so. Weljost hat uns allen das Ver derben gebracht. Er war ein Verbrecher.« »Ich kannte ihn besser als du, Taslyn. Weljost war nicht wirklich schlecht. Er ließ sich von Ponkorn leiten – das war sein Ver hängnis, so wie es fast meines geworden wä re.« Taslyn zuckte zusammen. Er wußte, daß der Vorwurf an ihn gerichtet war. Er als Oberhaupt der Familie Frotheyer hatte Pon korn beauftragt, auf Kryanur zu achten und dafür zu sorgen, daß Gfluurt auch wirklich aus dem Weg geschafft wurde. Der Überei fer war Ponkorn dann zum Verhängnis ge worden. Und er hatte sich bitter gerächt. »Ich glaube Weljost, wenn er im Sterben sagte, daß er uns warnen wollte, um sein Verbrechen wiedergutzumachen. Wäre er nicht zurückgekommen, so hätte uns jenseits der Hügel das gleiche Schicksal wie ihn, Ponkorn und die Herde ereilt.« »So wird es uns hier ereilen!« schmatzte einer der Brangeln wütend. »Der Keim der Seuche ist bereits unter uns.« »Das steht noch nicht fest«, wehrte Kryanur ab. »Jedenfalls werden wir morgen aufbrechen. In die Fläche Coll-Herest kön nen wir nicht mehr ziehen, uns bleibt nur ei ne Möglichkeit.« »Purgh-Simz!« entfuhr es Taslyn. »Ich dachte mir, daß du diesen Vorschlag machen würdest. Die Fläche des Todes …« »Wir sollten hierbleiben und in der Hei mat die Ewigen Flächen betreten«, schmatz te einer der Spytenführer. Kryanur sah sich unter den anderen um. Wie schon einmal, als die wichtigsten Bran geln der Karawane zusammengesessen hat ten, teilten sie sich in zwei Lager. Einige waren offensichtlich bereit, Kryanur zu fol gen, während die anderen sich sträubten und das Ende hier erwarten wollten. Noch gab es keinen Beweis dafür, daß die Seuche auf die Karawane übergegriffen hat te, aber wenn Kryanur ehrlich zu sich selbst
25 war, so rechnete er jeden Moment mit den ersten Kranken. »Die Fremden!« erklang das wütende Schmatzen Loslayns. »Nur die fremden Er oberer sind an unserem Unglück schuld!« Unbändiger Haß schwang in den Lauten mit. Die anderen machten zustimmende Ge sten, und auch Kryanur spürte, wie er bei dem Gedanken an die Ungeheuer, die mit dem Himmelsfeuer der letzten Nacht die Ka tastrophe ausgelöst hatten, ohne daß die Brangeln ihnen einen Grund zum Zorn ge liefert hatten, zu beben begann. »Wir sollten uns rächen, solange wir noch reiten und kämpfen können«, schlug der Spytenführer vor. »Mit dem Rest unserer Herden können wir sie niederwalzen, bevor sie …« »Schluß mit dem Unsinn!« fuhr Taslyn dazwischen. »Ihre Macht ist zu groß, oder habt ihr das Himmelsfeuer schon verges sen?« Kryanur sah Taslyn dankbar an. Die Hilf losigkeit machte die Brangeln krank. Und sie hatten nur ein einziges Ventil, durch das sie ihre ohnmächtige Wut ablassen konnten. Sollte jemals einer der fremden Eroberer in die Hände der Brangeln fallen … Kryanur hatte den Gedanken kaum zu En de gedacht, als Taslyn ein Zeichen machte. Die Brangeln schwiegen. Und dann hörten sie das Rauschen in der Luft. Es war nicht so stark wie am Vorabend und verstummte so fort wieder. Kryanur, der dem Eingang des Zeltes am nächsten saß, sprang auf und schlug das Tuch zurück. Er glaubte, einen hellen Punkt am Himmel zu sehen, der hinter den Zelten versank, während das Rauschen abebbte. Andere Brangeln hatten es auch gehört. Sie schlichen vorsichtig aus ihren Zelten und be trachteten den Himmel. »Ihr drei dort drüben«, schmatzte die Ka rawanenspitze. »Geht und seht nach, ob ihr etwas findet. Aber seid vorsichtig.« Die drei Brangeln konnten Kryanurs Or ganverdünnung im Dunkeln nicht gleich er kennen, aber sie kannten seine Stimme. Wi
26 derstrebend setzten sie sich in Bewegung. Irgend etwas störte die Karawanenspitze an ihnen, aber er kam nicht darauf, was es war. Er kehrte ins Zelt zurück und beruhigte die anderen. Sie sprachen weiter über das Schicksal der Karawane, kamen aber, wie erwartet, zu keiner Einigung. Kryanur und Taslyn würden schließlich den Ausschlag geben. Immer wieder wurde Rache an den Fremden gefordert, aber das brachte der Karawane keine Rettung. Die Spyten mußten wandern, sonst würden sie kläglich verenden. Als Taslyn nach einigen erneuten heftigen Meinungsverschiedenheiten aufstand und seine Entscheidung verkünden wollte, wurde der Eingang des Zeltes aufgerissen. »Fremde«, schmatzten die Saugrüsselhän de eines Brangels aufgeregt. »Es sind Frem de vom Himmel gestiegen und nähern sich dem Lager.« Sofort war aller Streit vergessen. »Wo?« wallte Kryanur wissen, der bereits im Freien war. Der Brangel streckte den Arm aus und zeigte in eine bestimmte Richtung. »Bei allen …« Kryanurs Finger verkrampften sich, als er die roten Blasen auf der Haut seines Gegen übers sah. Das aus dem Zelt der Frotheyers dringende Licht ließ ihn und die anderen ge nug erkennen. »Das werden sie büßen müssen«, hörte Kryanur. Bevor die Karawanenspitze sie daran hindern konnte, rannten die Spyten führer wie auf ein Zeichen los, in Richtung auf die Herde, die sich dort befand, wo die Fremden gelandet sein mußten. Andere Brangeln stürzten aus ihren Zelten und folgten ihnen. Bestürzt sah Kryanur, daß viele von ihnen ihre Arme und Beine in Tü cher eingewickelt hatten. Sie alle trugen ihre Waffen. Niemand dachte in diesem Augenblick mehr an den nächsten Sonnenaufgang, an die Karawane oder an den sich schneller als erwartet ankündigenden Tod. Sie hatten nur
Horst Hoffmann noch eines im Kopf. Den Tod der Fremden. »Bleib, Kryanur«, schmatzte Taslyn leise. »Du kannst sie nicht zurückhalten, selbst wenn du wolltest.« Die Karawanenspitze sann über Taslyns Worte nach. Wollte er die Rasenden denn eigentlich aufhalten? Hatten sie nicht recht? Kryanur und Taslyn blieben allein bei den mittlerweile angezündeten großen Feuern zurück. Sie hörten das Brüllen der Spyten, als die Herde von den Spytenführern aus der Umzäunung getrieben wurde. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was sie vorhatten. Kryanur rieb sich den linken Arm. Es juckte.
6. Es war Nachmittag, als Atlan, Razamon, Kolphyr und Thalia das riesige, größtenteils verwüstete Zeltlager der Eingeborenen sa hen. Die drei Jäger, die sie in ihrem Zugor verfolgt hatten, wurden von ihren Artgenos sen empfangen und ins Lager geführt. Auch hier zeigten sich die Spuren der Verwüstung, die Pthor in seinem Landean flug angerichtet hatte, aber sie war nicht so fatal wie in der großen Ebene der geschmol zenen Roboter. Der Zugor flog so hoch, daß er nur durch einen unwahrscheinlichen Zufall entdeckt werden konnte. Trotzdem blieb Atlan in si cherer Entfernung vom Lagerplatz. Die riesigen Herden boten einen phanta stischen Anblick. Dennoch mußten sie noch viel größer ge wesen sein, denn überall in der Ebene hatten die Freunde herumirrende, verendende und bereits tote Tiere gesehen. Atlan erklärte: »Diese Burschen dort unten haben nie und nimmer etwas mit der Station und den ver glühten Robotern zu tun.« »Ein Nomadenstamm«, vermutete Raza mon. »Wahrscheinlich sind sie die Urein
Die Todeskarawane wohner dieser Welt.« »Das würde, wie wir schon annahmen, bedeuten, daß die Station auf dem Hügel von Wesen errichtet wurde, die nicht von Loors stammen«, murmelte der Arkonide. »Nicht unbedingt«, meinte Razamon. »Wir sollten uns hinter der Hügelkette um sehen. Es ist doch möglich, daß Loors zwei intelligente Rassen hervorgebracht hat. Wenn wir nichts finden, können wir immer noch hier landen, obwohl ich dir's nicht ra ten würde. Pthor hat ihr Lager verwüstet. Wahrscheinlich sind ihre Tiere ausgebro chen, als wir über das Land hinwegsausten. Sie werden uns dafür verantwortlich ma chen.« Atlan blickte über den Rand des Zugors nach unten. Dann nickte er und steuerte die Flugmaschine vom Lagerplatz weg, über die Hügel. Vielleicht hatte der Atlanter recht. Noch hatten sie nicht viel von diesem Planeten ge sehen. Sie durften nicht nach dem ersten Eindruck urteilen. Ein fremdes Raumschiff, das die Erde des 20. Jahrhunderts besucht hätte und dabei zufällig im südamerikani schen Urwald gelandet wäre, hätte auch einen vollkommen verfälschten Eindruck bekommen müssen. Der Zugor überflog die Hügelkette, die in drei Richtungen auseinanderlief. Dazwi schen befanden sich neben der mittlerweile bekannten zwei weitere Ebenen. Atlan steuerte den Zugor nach Nordwe sten, nachdem Razamon und Thalia in dieser Richtung weitere tote Tiere entdeckt hatten. Schon nach kurzer Zeit erblickten sie ein zweites, völlig verwüstetes Zeltlager und riesige, umzäunte Flächen. Und überall lagen tote Tiere. Es waren Tausende. »Um Himmels willen«, entfuhr es dem Arkoniden. »Die Zelte sind abgebrannt wie das Gras auf den Hügeln. Was haben wir an gerichtet?« »Es ist unsinnig, sich Selbstvorwürfe zu machen«, sagte Thalia. »Was geschehen ist, ist geschehen, und hätten wir den Absturz
27 Pthors nicht abfangen können, wäre die Ka tastrophe für diese Welt und ihre Bewohner noch viel schlimmer gewesen.« »Außerdem habe ich nicht den Eindruck, daß die Tiere durch uns ums Leben kamen«, brummte Razamon. »Sie wären ausgebro chen und nun überall verstreut, so wie bei der Karawane, zu der uns die drei Eingebo renen führten. Hier aber liegen sie dicht ne beneinander, als hätte sie von einem Augen blick zum anderen der Schlag getroffen.« »Keine Spur von Leben«, bemerkte Atlan und ließ den Zugor absinken. Jetzt konnten sie die schweineähnlichen, aber mindestens dreimal so großen Tiere genauer erkennen. Sie waren über und über mit roten Flecken bedeckt, die Haut schien sich verzogen und teilweise von den Knochen abgelöst zu ha ben. Und jetzt sahen sie die ersten toten Einge borenen. Unwillkürlich ließ Atlan den Zugor wie der an Höhe gewinnen. Der Anblick drohte ihm die Kehle zuzuschnüren. »Eine Seuche«, stellte Razamon fest. Auch ihm, der schon so viel Grausames in seinem langen Leben erlebt und gesehen hatte, war die Erschütterung anzuhören. »Keine noch so große Hitzeentwicklung durch unseren Anflug kann dies hier bewirkt haben.« Atlan steuerte die Flugmaschine über die nach Norden verlaufende Hügelkette ost wärts. Wieder erreichten sie eine bis über den Horizont hinausreichende Ebene, die mit spärlichem Gras bewachsen war, wie die Landschaft auf Loors überhaupt den Step pengebieten der Erde ähnelte. Nach etwa zwei Stunden entdeckten sie eine weitere Karawane. Vorsichtshalber überflog Atlan sie in großer Höhe. Die Tiere zogen in einer unübersehbaren Schlange über die Ebene. Eingeborene saßen auf ihren mächtigen Rücken und trieben sie vorwärts. Viele Tiere waren mit schweren Lasten beladen. »Wollen wir weitersuchen?« fragte Raza mon ungeduldig. »Es sieht tatsächlich so
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aus, als ob Loors nur von diesen Nomaden bewohnt wäre.« Mittlerweile war es Abend geworden. Die Sonne ging im Nordwesten in einem gran diosen Schauspiel unter. »Wir kehren zurück«, schlug Atlan vor. »Vielleicht können wir uns mit den Einge borenen verständigen.« »Du wirst leichtsinnig, Arkonide«, warnte Razamon erneut. »Ach was«, winkte Atlan ab. »Wir sind auf diesem Planeten gestrandet und müssen wissen, mit wem wir es hier zu tun haben. Eventuell kann Pthor nie mehr starten. Viel leicht brauchen wir Hilfe.« »Von diesen Nomaden?« fragte Razamon sarkastisch. »Von jenen, die die Station auf dem Hü gel bauten.« Und vielleicht müssen wir rechtzeitig ler nen, uns gegen sie zu verteidigen, fügte der Arkonide in Gedanken hinzu.
* Im Zeltlager der Nomaden brannten zahl reiche Feuer, als der Zugor zur Landung an setzte. Er überflog die Zelte in geringer Hö he und setzte etwa dreihundert Meter jen seits der Zelte auf. Atlan wurde nicht nur von der Neugierde getrieben. Er fühlte sich verantwortlich für das Unglück, das durch Pthor über die Ein geborenen gekommen war. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den unfreiwillig verur sachten Schaden wiedergutzumachen. Der Arkonide nahm Razamons Warnung ernst. Er rechnete damit, daß es nur unter großen Schwierigkeiten möglich sein würde, die Eingeborenen von ihrer »Unschuld« zu überzeugen. Dennoch war er zuversichtlich. »Kommt!« rief er den Freunden zu. Nach einander sprangen Razamon, Thalia und Kolphyr vom Zugor. Thalia verhielt sich schweigsam. Atlan konnte sie gut verstehen. Er wußte nicht, ob sie Pthor im Laufe der letzten Jahrtausende während des Aufent halts auf einer der heimgesuchten Welten
verlassen hatte und wie lange dies her war. Auf jeden Fall war sie seit langer Zeit wie der gezwungen, die vertraute Umgebung zu verlassen – ohne die Hilfe des Machtinstru mentariums von Pthor. »Dort«, sagte Razamon halblaut. »Wir be kommen Besuch!« Atlan und seine Begleiter waren langsam auf das Zeltlager zugegangen. Jetzt sahen sie die ersten Gestalten im Schein der Feuer auf sich zukommen. Eine andere Gruppe lief auf die Umzäunung rechts von dem Zugor zu, hinter der sich eine der vier großen Teilherden befand. Atlan schenkte ihnen keine Beachtung und konzentrierte sich auf die Eingeborenen, die sich ihnen näherten. Es wurden immer mehr. Er erwartete, laute, aufgeregte Schreie zu hören, aber sie verhielten sich still. Nur manchmal glaubte der Arkonide, seltsame, schmatzende Laute wahrzunehmen. Razamon stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Das gefällt mir nicht«, knurrte der Atlan ter und deutete auf die Herde zu ihrer Rech ten. Es war zu dunkel, um Einzelheiten an zumachen, aber die Eingeborenen an den Zäunen waren verschwunden. »Behalte sie im Auge«, riet Atlan, wäh rend er langsam weiterging. Als die Einge borenen noch etwa zwanzig Meter entfernt waren, blieb er stehen. »Sind nicht gut gelaunt«, piepste Kol phyrs Stimme hinter dem Arkoniden. »Wäre ich an ihrer Stelle auch nicht«, gab Atlan zu. Beunruhigt sah er, daß die Wesen bewaffnet waren. Schon vom Zugor aus war ihre Fremdartigkeit erkennbar gewesen, aber nun wurde sie den Freunden in ihrem gan zen Ausmaß bewußt. Die Eingeborenen gli chen überdimensionalen Würsten auf kurzen Beinen. Ein Kopf war nicht zu erkennen, je denfalls kein Kopf im menschlichen Sinn. Nach oben hin verjüngte sich der längliche Körper, aber Atlan konnte weder Augen noch einen Mund oder Ohren erkennen – nur schwarze Wülste, die wie aufgesetzt wirkten. Die Eingeborenen kamen weiter auf sie
Die Todeskarawane zu. Atlan sah sich nicht zum ersten Mal vor der schwierigen Aufgabe, Kontakt mit einer fremden Lebensform aufzunehmen. Trotz dem fühlte er sich ziemlich hilflos. Jede Ge ste konnte genau das Gegenteil von dem be wirken, was beabsichtigt war. Atlan hob eine Hand. Gleichzeitig rief er einige Begrüßungsworte in Pthora. Selbst verständlich würden sie ihn nicht verstehen, aber vielleicht reichte der Klang seiner Stim me … Die Eingeborenen blieben stehen. Jetzt hörte Atlan wieder die Schmatzlaute. Sie produzierten sie mit ihren Händen. »Sind dumm«, bemerkte Kolphyr. »Nix verstehen die Dummköpfe. Kolphyr früher auch nix verstehen, aber wissen. War nix Dummkopf Kolphyr.« Atlan ließ sich durch die gewollte Rede brecherei des Beras nicht ablenken. Die Ein geborenen schienen sich untereinander nicht einig zu sein. Ihre Speerspitzen zeigten auf die Freunde, aber es sah so aus, als ob sie auf etwas warteten. »Razamon«, flüsterte der Arkonide, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Paß auf den Zaun auf!« »Es gibt Ärger«, brummte der Atlanter. »Wir … Achtung! Sie greifen uns von der Seite her an!« Atlan fuhr herum. Im nächsten Augen blick war die Hölle los. Die Herde rechts von ihnen brach durch die Umzäunung und wälzte sich auf den Zugor zu. Das war das Signal für die Eingeborenen. Sie stürzten sich mit einer angesichts der plump wirkenden Körper nie für möglich gehaltenen Wucht auf die kleine Gruppe. Razamon stürmte vor und beförderte die er sten Angreifer im Handumdrehen zu Boden. »Nicht!« schrie Atlan. Er war einen kurz en Augenblick lang unaufmerksam. Dieser Moment genügte einem der Eingeborenen, ihn durch einen heftigen Schlag mit der fla chen Klinge seines Kampfbeils gegen die Schläfe außer Gefecht zu setzen. Atlan stürzte zu Boden, aber sofort sorgten die be lebenden Ströme des Zellaktivators dafür, daß die Kräfte zurückkehrten.
29 Als er sich aufrichten wollte, spürte er zwei scharfe Speerspitzen an seiner Brust. Er schlug sie einfach zur Seite, denn sie konnten das Goldene Vlies nicht durchdrin gen. Immer mehr Eingeborene kamen aus dem Lager. Razamon wütete furchtbar unter ih nen. Bestürzt erkannte Atlan, daß es ein Blutbad geben würde, wenn sie sich weiter wehrten. »Hör auf, Razamon. Wir geben uns ge schlagen!« »Bist du verrückt?« »Es hat keinen Sinn. Wir müßten sie alle umbringen. Sie sind ja wie besessen.« »Und wie willst du ihnen erklären, daß sie uns ›besiegt‹ haben?« Der Arkonide wehrte drei weitere Angrei fer ab. Dann entriß er zweien von ihnen die Lanzen, packte ihre dreifingrigen Hände und legte sie um seine Armgelenke. »So!« Die Eingeborenen schienen nicht zu wis sen, wie ihnen geschah. Sie stellten ihre An griffe ein und schmatzten wild durcheinan der. »Das ist das Verrückteste, das mir in mei nem Leben passiert ist, aber wenn du meinst …« Razamon tat es dem Arkoniden gleich. Endlich begriffen die Nomaden. Jeweils zwei von ihnen packten Thalia und Kolphyr. »Ein Bild für die Götter«, kommentierte Razamon, der sich willig zum Lager führen ließ, als er sah, wie die beiden Eingeborenen den fast doppelt so großen Bera mit wüten dem Schmatzen »abführten«. »Nix lachen«, piepste der Riese. »Sind Dummköpfe.«
* »Ich muß sagen, deine Idee war großar tig«, knurrte Razamon und zerrte demonstra tiv an seinen Fesseln. Selbst bei seinen im mensen Körperkräften würde es ihm schwerfallen, die dicken Lederriemen, mit denen fast der ganze Körper eingewickelt
30 war, zu sprengen. »Was nun, großer Mei ster?« Atlan drehte den Kopf. Die Eingeborenen hatten sich nicht nur auf die Fesseln verlas sen, sondern vier Wachen im Zelt der Ge fangenen zurückgelassen, deren Lanzenspit zen sich in gefährlicher Nähe ihrer Köpfe befanden. Atlan war durch das Goldene Vlies geschützt, Kolphyr durch seinen VelstSchleier. Thalia und Razamon hingegen wa ren den tödlichen Waffen schutzlos ausge liefert, wenn die Eingeborenen die Nerven verloren – trotz der Rüstung der Odinstoch ter. »Immerhin haben sie uns nicht umge bracht, als sie es konnten.« »Der Versuch wäre ihnen schlecht be kommen«, sagte der Atlanter. »Meine Ge duld hat Grenzen. Sie werden uns irgend welchen Göttern opfern!« »Wir müssen versuchen, uns mit ihnen zu verständigen. Mittlerweile glaube ich, ein System in ihrem Geschmatze zu erkennen.« »Na, wunderbar«, stöhnte Razamon. »Dann schmatz mal schön.« »Wird er nicht tun«, meldete sich Kol phyr. »Ist sich nicht nötig.« »Was hat er jetzt schon wieder?« fragte der Pthorer gequält. »Kannst du zur Ab wechslung nicht wieder mal normal reden? Wir wissen alle, daß dir dein Kauderwelsch unheimlichen Spaß macht, aber allmählich geht's mir auf die Nerven.« »Wirst sehen«, piepste der Bera nur. Atlan konzentrierte sich auf die Laute der Eingeborenen. Auch vor dem Zelt mußten sich Wachen befinden, denn auch von dort kam gelegentlich das Schmatzen. »Habt ihr die roten Blasen gesehen, die einige von ihnen an Armen und Beinen ha ben?« fragte Thalia, ohne den Blick von ih rem Bewacher zu nehmen. »Allerdings«, brummte Atlan. »Sie sind krank – wahrscheinlich die gleiche Seuche, an der die Karawane jenseits der Hügel zu grunde gegangen ist.« »Und wer sagt, daß nicht auch wir davon befallen werden?«
Horst Hoffmann Atlan schwieg betroffen. Natürlich hatte auch er schon daran gedacht. »Der Zugor ist ein Wrack, nachdem diese Besessenen ihre Viecher auf die Maschine losgetrieben haben. Wir sitzen fest, sind ver mutlich längst schon von einer tödlichen Seuche befallen – ein gelungenes Unterneh men, fürwahr«, fluchte Razamon. Nur Kolphyr schien guter Dinge zu sein. Plötzlich spitzte er den breiten, einem Froschmaul ähnlichen Mund, und gab einen schmatzenden Laut von sich. Die Eingebore nen fuhren herum. Einige der schwarzen Wülste bebten heftig. »Was hast du ihnen gesagt?« wollte Raza mon wissen. »Weiß nicht«, gab das Antimateriewesen zu. »Aber hört gut an.« »Ich frage mich, wer hier ein Dummkopf ist.« »Alles Dummköpfe, sagt Kolphyr.« Atlan achtete nicht auf die Unterhaltung. Ihm war etwas anderes aufgefallen. Die Wülste am »Kopf« der Eingeborenen mußten ihre Sinnesorgane sein. Zumindest konnten sie damit hören, mit großer Wahr scheinlichkeit auch sehen. Es mußte eine Möglichkeit zur Verständi gung geben. Draußen waren Schritte und schmatzende Laute zu hören. Eine größere Anzahl Noma den näherte sich dem Zelt.
7. Kryanur hatte sich nicht an den Beratun gen der Familien beteiligt. Das Urteil stand sowieso schon fest: Man würde die Fremden von den Spyten zu Tode schleifen lassen. Die Karawanenspitze war unruhig. Irgend etwas paßte nicht in das Bild, das Kryanur sich von den Eroberern gemacht hatte. Er wanderte voller Unrast an den Zäunen ent lang. Immer öfter sah er nun Spyten, die die ersten Anzeichen der Erkrankung zeigten. Noch etwas anderes beschäftigte ihn. Weljost hatte Mierjot ins Lager zurückge bracht, und der Leitbulle, der mittlerweile
Die Todeskarawane eine neue Herde erhalten hatte, war völlig gesund. Aus irgendeinem Grund mußte Mierjot gegen die Seuche immun sein. Kryanur blieb an der Umzäunung stehen, hinter der sich Mierjots Herde befand. Sie bestand zum größten Teil aus jenen Tieren, die in der Nähe des Zeltlagers eingefangen worden waren, den Rest hatte man von den drei anderen Herden herübergeschafft. Es war Nacht, und die Karawanenspitze suchte in dem Meer aus Leibern vergeblich nach dem Bullen. Kryanur mochte einige Sonnenstrahlen lang am Zaun gestanden haben, als er die rötliche Leuchterscheinung bemerkte, eine spytenkopfgroße Kugel, die wie aus dem Nichts entstand und sich auf die Herde hin absenkte. Einmal glaubte er, eine seltsame Gestalt zu sehen, die den geflügelten Wesen glich, die hoch über den Flächen ihre Bahnen zo gen und in den Hügeln nisteten. Die Spyten wurden unruhig und wichen zur Seite. Nur einer blieb völlig ruhig an sei nem Platz, und jetzt erkannte Kryanur den Bullen. Das rätselhafte Leuchtwesen saß auf Mierjots Nacken. Kryanur hatte den Ein druck, daß eine stumme Zwiesprache zwi schen den beiden stattfand – er fühlte es ein fach. Gebannt sah er, wie das Wesen immer wieder für kurze Zeit zu verschwinden droh te. Es leuchtete dann schwächer und war kaum noch in seinen Umrissen zu erkennen. Die Karawanenspitze wollte schon zu den Zelten zurücklaufen und die Familienober häupter alarmieren, als das Leuchtgebilde wieder in die Höhe stieg. Es schwebte etwa eine Hörnerlänge über Mierjot, der nun langsam auf ihn zukam! Kryanur war unfähig, wegzulaufen, ob wohl sein Körper vor Erregung bebte. Er war wie gefesselt, unter einem unerklärli chen Bann. Er wartete zitternd, bis Mierjot heran war. Dann schwebte das Leuchtwesen zu ihm herüber. Kryanurs Körper war in unwirkli
31 ches, rotes Licht getaucht. Er blockierte die Sehorgane. Und dann hörte er eine Stimme. Es war kein Schmatzen, und er nahm sie auch nicht durch die Organwülste wahr. Sie entstand mitten in seinem Gehirn und wisperte leise. Als Kryanur wieder er selbst war und die Blockierung löste, sah er nur Mierjot vor sich. Das Leuchten war verschwunden. Es war wieder finstere Nacht. Die Karawanenspitze blickte Mierjot in die kleinen Augen. Kryanur hatte das Ge fühl, daß der Leitspyte ihm etwas sagen wollte. Nein, dachte der Brangel. Er bat um etwas. Kryanur stieg auf die oberste Zaunlatte und streckte eine Hand aus. Mierjot kam heran und ließ sich zwischen den Ansätzen der Hörner streicheln. Seine Augen schienen zu mahnen, und Kryanur wußte, daß er keine Zeit zu verlie ren hatte. Er stieg vom Zaun und machte sich auf den Weg zu Taslyns Zelt. Es war leer. Die Familienoberen hatten also ihr Urteil schon gefällt. Kryanur sah, wie überall Fackeln an gezündet wurden. Sie wollten das Urteil also noch in der Nacht vollstrecken lassen. Er erreichte sie, als sie gerade dabei wa ren, das Zelt der Gefangenen zu betreten. »Taslyn!« Der Frotheyer drehte sich um. Auch die anderen blieben stehen. »Kryanur! Wir war teten auf dich.« Die Karawanenspitze packte den Alten am Arm. Taslyn wollte zurückweichen, als er die roten Blasen auf Kryanurs Arm er kannte. Dann sah er ein, daß es sinnlos war. Auch Loslayn und andere Familienober häupter hatten Teile ihrer Gliedmaßen mit Tüchern eingewickelt. »Ich habe eine Bitte an euch«, erklärte Kryanur. »Laßt mich zu den Fremden. Ich will allein mit ihnen sein.« »Wozu?« wollte einer der Brangeln wis sen. Sein Schmatzen verriet Unsicherheit und Mißtrauen. »Sie müssen sterben.« »Das weiß ich«, schmatzte Kryanur unge
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halten. »Ich muß zu ihnen, nur für kurze Zeit, Taslyn.« »Was du nicht weißt, ist, daß inzwischen die ersten von uns unter entsetzlichen Qua len gestorben sind. Die Fremden haben den Tod hundertfach verdient!« »Nur kurz, Taslyn. Vielleicht gelingt es mir, ihren Zauber zu brechen.« In der Not fiel der Karawanenspitze keine bessere Ausrede ein. Loslayn hob die Hand mit der Lanze. »Das wird ihren Zauber brechen. Sie sind nicht so mächtig, wie wir glaubten, sonst hätten wir nicht ihr Himmelsfeuer zerstören können.« »Dann besteht kein Risiko, wenn ich zu ihnen gehe. Wo bleibt euer Vertrauen zu eu rer Karawanenspitze? Ihr wißt, daß Gfluurt mir viele Geheimnisse verraten hat, bevor er starb.« »Also gut«, schmatzte Taslyn. Er nahm einem der Wächter eine zur Hälfte herunter gebrannte Fackel aus der Hand. »Du hast Zeit, bis sie erloschen ist.« »Danke, Taslyn.« Kryanur achtete nicht weiter auf die Fa milienoberhäupter und betrat das Zelt. Dann schickte er die vier Wachen hinaus.
* Razamon beobachtete mißtrauisch, wie sich der Eingeborene unsicher im Zelt um sah. Atlan bedeutete dem Atlanter, sich ru hig zu verhalten. Auch dieser Planetarier war von der Seuche befallen. Irgend etwas an ihm sagte dem Arkoniden, daß er eine hochgestellte Persönlichkeit vor sich hatte. Allerdings hütete er sich davor, dies überzu bewerten. Der Brangel konnte auch gekom men sein, um ihnen ihr Todesurteil zu ver künden. Besonders lange wandte er die Organwül ste auf der Vorderseite des »Kopfes« dem Bera zu. Atlan sah, wie er plötzlich leicht zitterte. »Hat er mich erkannt?« schrillte Kolphyrs Stimme. Der Eingeborene zuckte zusammen
und trat schnell zwei Schritte zurück. »Was soll das nun wieder?« brummte Razamon. Er wechselte einen verständnislo sen Blick mit Atlan. Kolphyrs Verhalten war mehr als sonderbar. Die Vorliebe des Beras für Scherze aller Art war zwar bekannt, aber jetzt überspannte er den Bogen. Oder stand etwas anderes hinter seinen orakelhaften Andeutungen? Kolphyr befand sich in einem geradezu euphorischen Zustand, obwohl er mit Si cherheit wußte, in welcher Lage sie waren. Zwar würden sie bei der Vollstreckung des Todesurteils, das jeder von ihnen insgeheim erwartete, noch ein gewaltiges Wörtchen mitzureden haben, aber sie hatten keinen Zugor mehr. Der Eingeborene hockte sich nun vor At lan und Razamon. Die beiden Männer hatten das Gefühl, von den schwarzen Wülsten am oberen Ende des Wurstkörpers förmlich ab getastet zu werden. Dann nahm der Nomade seine Lanze. »Mach keinen Unsinn, Junge!« knurrte Razamon. Aber der Eingeborene richtete die Lan zenspitze gegen den Boden. Dann begann er, feine Linien in die freie Fläche zwischen den Lederfetzen, auf denen die Gefangenen lagen, zu ritzen. Atlan erkannte sofort seine Absicht. »Was sagst du nun?« »Abwarten«, meinte Razamon. Zuerst zeichnete der Planetarier eine Ge stalt, die offenbar ihn selbst oder einen sei ner Artgenossen darstellen sollte. Nach vollendetem Werk wandte er Atlan den »Kopf« zu. Er zeigte mit der freien Saugrüs selhand auf seine Körpermitte und gab ein kurzes Schmatzen von sich. »Das ist er«, flüsterte Razamon. »So heißt er. Jetzt will er deinen Namen wissen. Du mußt antworten, Atlan.« »Sehr witzig«, brummte der Arkonide. »Haha!« »Du mußt dich deutlicher ausdrücken, oder soll er glauben, daß du ›Haha‹ heißt?« Atlan stöhnte unterdrückt. Plötzlich muß
Die Todeskarawane
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te er grinsen. Und dann spitzte er die Lippen und schmatzte herzhaft.
* Kryanur fuhr zusammen. Ungläubig starr te er mit bebenden Sehorganen den Fremden an, der der Oberste der Gefangenen sein sollte. Die Fremden sahen seltsam aus, und ihre Sprache war für Kryanurs Begriffe unglaub lich primitiv – vorausgesetzt, seine Vermu tung stimmte, und die merkwürdigen Laute aus den Öffnungen an den runden Gebilden auf ihrem Körper bildeten ihre Sprache. Um so größer war Kryanurs Überra schung, als der Fremde mit den feinen hellen Strähnen über den Augen plötzlich zu schmatzen begann. Dabei zeigte der Fremde immer wieder auf seinen Körper. Kryanur versuchte, einen Sinn in die Schmatzlaute zu bringen. Diese Wesen muß ten tatsächlich unglaublich fremdartig sein. Sie schmatzten aus der Öffnung, die auch ih re Sprachlaute produzierte! Er durfte sich nicht an diesen Äußerlich keiten stören. Die Zeit drängte, und die Lage war zu ernst. Also versuchte Kryanur, sich ganz auf diesen einen Fremden zu konzen trieren, dessen Name, wenn er das Schmat zen richtig verstanden hatte, lautete »Der unter der Erde schläft«. Der Fremde hatte ihn also begriffen. Kryanur machte eine weitere Zeichnung auf dem Boden. Er dachte an das, was ihm das Leuchtwesen mitgeteilt hatte. Wie sollte er erfahren, daß es die Wahrheit war? Kryanur zeichnete einen Kreis, darunter einen langen Strich. Die Sonne und die Flä che. Der Fremde schien nicht zu begreifen. Also zeichnete Kryanur einen Spyten und ein Zelt auf den Strich. Jetzt stieß der Fremde wieder diese häßli chen Laute aus. Offensichtlich unterhielt er sich mit seinem Gefährten. Die Karawanen spitze zeichnete weiter: eine Flamme, die vom Himmel auf die Fläche hinabstürzte.
Der Fremde begriff nicht, und Kryanur begann noch einmal von vorne. Er zeigte auf den Kreis und schmatzte den Laut, der die Sonne bezeichnete. Die Augen des Fremden sahen ihn an. Kryanur wiederholte das Schmatzen, bis der Gefangene ebenfalls schmatzte. Er versuch te, den Laut nachzuahmen, aber statt »Sonne« hörte Kryanur einen Laut, der mit viel Phantasie »Die Spyten fliegen hier aber sehr hoch« bedeutete. Die Karawanenspitze war der Verzweif lung nahe. So kam er nicht weiter, erkannte Kryanur. Dennoch wiederholte er den Versuch im mer wieder. Es gab keine andere Möglich keit, die Fremden zu retten, wenn das, was er von dem Leuchtwesen erfahren hatte, tat sächlich stimmte. Der Fremde gab sich Mühe, und nach ei niger Zeit schmatzte er »Sonne«. Kryanur bebte vor Erregung. Das war der Anfang! Er war gerade dabei, dem Gefangenen den Schmatzlaut für »Fläche« beizubringen, als das Tuch vor dem Zelteingang zurückge schlagen wurde und Taslyns Stimme ihn aufforderte, nun herauszukommen. Die Fackel war abgebrannt. Kryanur versuchte, noch eine Frist zu ge winnen, aber Taslyn war entschlossen, mit der Vollstreckung des Urteils nicht mehr länger zu warten. Traurig verließ der junge Brangel das Zelt. Er war nun sicher, daß die Gefangenen nicht zu den Eroberern gehörten und daß sie der Karawane helfen konnten. Aber wie sollte er dies den Familienoberhäuptern bei bringen? Sie würden ihn für verrückt halten. Erst jetzt spürte er die furchtbaren Schmerzen an den Gliedern. Bisher hatte er sich ganz auf seine Aufgabe konzentriert und alles andere vergessen. Vielleicht würde es schon beim Aufgang der Sonne keinen lebenden Brangel mehr im Lager geben. Die Fremden konnten helfen, hatte das Leuchtwesen gesagt.
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Taslyn winkte die bewaffneten Wachen heran. Kryanur sah vier Spyten, die bereit standen, die Gefangenen zu Tode zu schlei fen – die vier Leitbullen. Warum erschien das Leuchtwesen nicht noch einmal und hinderte Taslyn daran, den schwersten Fehler seines Lebens zu bege hen? Kryanur konnte nichts mehr tun.
* »Es geht los«, prophezeite Razamon. »Du hättest dich auch etwas mehr anstrengen können. Schmatzen scheint nicht deine Stär ke zu sein.« Atlan hatte eine zornige Entgegnung auf der Zunge, sagte aber nichts. Er suchte fie berhaft nach einem Ausweg. Zwar wußte er nicht, was die Eingeborenen mit ihnen vor hatten, aber sie würden sich schon eine teuf lische Art und Weise ausgedacht haben, sie umzubringen. Sie machten sie für die Kata strophe, die über ihre Karawanen hereinge brochen war, verantwortlich. Oder hielten sie sie sogar für Angehörige jenes raumfahrenden Volkes, das die Station in der Ebene errichtet hatte? Atlan wußte so gut wie überhaupt nichts von diesen Frem den. Der Eingeborene hatte versucht, sich mit ihm zu verständigen. Galt der Haß der Pla netarier in Wirklichkeit gar nicht ihnen, son dern den Besuchern aus dem Weltraum? At lan fielen die zerschmolzenen Roboter ein. »Alles klappbar«, piepste Kolphyr. »Wirst sehen.« »Langsam regt der Kerl mich wirklich auf«, knurrte Razamon. Draußen vor dem Zelt schmatzten die Eingeborenen laut durcheinander. Die Lage war alles andere als rosig. »Ein Königreich für einen guten Telepa then«, sagte der Arkonide grimmig. »Willst du wirklich zulassen, daß sie uns umbringen?« fragte Thalia verständnislos. »Wir spielen das Spiel mit, solange uns keine unmittelbare Gefahr droht«, verkünde-
te Atlan. »Wenn's sein muß, werden wir mit ihnen fertig. Aber ich will nicht das Blut dieser unschuldigen Wesen vergießen. Ihr Haß muß einen Grund haben, der über das, was wir mit Pthor angerichtet haben, hinaus geht. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir nur für andere den Kopf hinhalten sollen.« »Du bist ein Phantast und wirst dich nie ändern«, meinte Razamon. Bevor Atlan eine Antwort geben konnte, drangen mehrere bewaffnete Eingeborene in das Zelt ein und packten die Gefangenen. »Wartet, bis ich euch ein Zeichen gebe. Dann reißt ihr euch los, Kolphyr und Raza mon!« rief Atlan schnell, bevor zwei Noma den ihn ins Freie schleppen konnten. Kolphyr, an dem sich gleich fünf Einge borene zu schaffen machten, rief schrill zu rück: »Wird nix sein nötig, wirst sehen!«
* Kryanur stand etwas abseits von den an deren. Er fühlte sich zwischen widersprüch lichen Gefühlen hin und her gerissen. Die innere Festigkeit, das erst vor kurzem errun gene Selbstvertrauen war kaum noch vor handen. Taslyn beging einen furchtbaren Fehler, aber was sollte er tun? Plötzlich bemerkte er, daß Selnga, Gflu urts ehemalige Gefährtin, neben ihm stand. Gemeinsam sahen sie eine Weile zu, wie die Gefangenen aus ihrem Zelt geschleift und auf den freien Platz zwischen den Zel ten geführt wurden. Die Bullen standen be reit. Dicke Riemen aus Spytenleder waren auf ihren Rücken befestigt worden. Taslyn würde das Urteil verkünden, eine Farce angesichts des bevorstehenden Unter gangs der Karawane, und dann würden die Spytenführer, die während der Lagerperi oden nicht der Karawanenspitze, sondern der herrschenden Familie und somit Taslyn zu gehorchen hatten, die Fremden an den Riemen festbinden und die Bullen davonja gen.
Die Todeskarawane »Wieso bist du nicht bei den Oberhäup tern, Kryanur?« fragte Selnga. Sie schmatzte so leise, daß nur er sie verstehen konnte. Einen Moment lang fragte er sich, ob ihr Interesse echt war. Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen Selnga gegenüber. Sei ne Unsicherheit verstärkte sich noch. »Sie tun ihnen unrecht. Die Fremden sind nicht die, für die Taslyn sie hält. Sie sind nicht schuld an unserem Unglück.« »Woher willst du das wissen, Kryanur?« »Ich weiß es, bitte frage nicht weiter.« Taslyn trat vor die Gefangenen und be gann mit der Zeremonie. »Ich glaube dir, Kryanur. Ich glaube an dich, wie Gfluurt es tat.« Kryanur begann zu zittern. Es war, als ob tausend Lanzenspitzen gleichzeitig in ihn eindrangen. Weshalb quälte sie ihn? »Du mußt etwas wissen, Selnga. Ich bin …« »Du brauchst mir nichts zu erklären, ich weiß, was dir Qualen bereitet.« Der Brangel fuhr herum und starrte sie mit bebenden Sehorganen an. »Und … Gfluurt wußte es auch? Ich habe ihn … Ich habe ihn vergiften wollen, Seln ga! Ich bin unwürdig und schlecht!« »Gfluurt wußte es. Er vergab dir, als du zu ihm zurückkehrtest. Er war den Ewigen Flächen nahe, lange bevor die Familie Fro theyer dich schickte.« »Ist das wahr, Selnga?« »Ich weiß es.« Eine ungeheure Last fiel von dem jungen Brangel ab. Er war unvorstellbar erleichtert – und doch hilflos. »Wenn sie schuldlos sind, mußt du ihnen helfen, Kryanur.« »Wie, Selnga? Taslyn ist das Oberhaupt der herrschenden Familie. Seine Entschei dung ist Gesetz.« »Auch, wenn es ungerecht ist? Wenn es der Zukunft der Karawane schadet?« Kryanur spürte, wie große Mengen seiner Körperflüssigkeit aus den Poren der mittler weile gekräuselten Haut drangen. Es schmerzte furchtbar.
35 »Geh, Kryanur. Handle, wie du es für richtig hältst. Ich weiß, daß du mächtiger als Taslyn bist. Wir leben nicht in normalen Sonnen.« Die Karawanenspitze zögerte noch einen Moment. Selngas Worte gaben ihm neuen Mut. Sie alle hatten nichts mehr zu verlie ren. Kryanur drückte dankbar eine Hand ge gen Selngas Saugrüsselfinger. Dann bahnte er sich einen Weg durch die Mauer der Zu schauer hinter den Oberhäuptern. Er stieß zwei Brangeln, die mit ihren Lanzen bei den Fremden standen, beiseite und stellte sich vor die Gefangenen. »Mach Platz, Kryanur!« schmatzte Taslyn erregt. »Nein, Taslyn. Erst werdet ihr mir zuhö ren.« Aber der Frotheyer war blind in seinem Haß auf die Fremden. Die Krankheit machte sich bemerkbar. Sie griff bereits nach sei nem Verstand. »Packt ihn!« befahl er den Wachen. »Schafft ihn zur Seite und vollstreckt das Urteil!«
* Aus! Kryanur mußte, von zwei starken Brangeln gehalten, hilflos zusehen, wie die Gefangenen an die Lederriemen gebunden und zu Boden gestoßen wurden. Wieso versuchten sie nicht, sich zu weh ren? Immer wieder war es der Riese, jenes furchteinflößende Wesen von der Größe zweier Spyten, das seltsame Laute ausstieß und damit offensichtlich auf die anderen ein wirkte. Irgend etwas an dem Riesen wirkte ver traut. Es erinnerte Kryanur an das Leucht wesen. Und dann gab Taslyn den Befehl. Die vier Spytenführer, die auf den Rücken der Bullen saßen, schlugen hart mit ihren Lanzen gegen die Hörner der Tiere. Die Bullen brüllten wütend auf. Aber sie bewegten sich nicht von der Stel
36 le! Fassungslos starrte Kryanur auf das Wun der. Er hatte selbst die Idee gehabt, die Tiere durch seinen Einfluß am Davonrennen zu hindern, aber sie waren durch die Fackeln und das laute Schmatzen der Brangeln, die sich mittlerweile in eine wahre Ekstase hin eingesteigert hatten, irritiert. Wieder hämmerten die Lanzen gegen die Spytenhörner. Die Bullen bäumten sich wild auf. Sie schleuderten die Spytenführer meilen weit durch die Luft! Die Brangeln, die in weitem Kreis um die Tiere und die Gefangenen herum standen, hörten auf zu schmatzen. Ihre Saugrüssel hände hingen schlaff nach unten, die Organ wülste pulsierten im Schein der Fackeln. Sie konnten nicht begreifen, was sie sahen. Aber es kam noch phantastischer. Mierjot drehte sich langsam um und stampfte auf den Fremden zu, der an den von seinem Rücken fallenden Riemen hing. Unmittelbar vor ihm hielt er an und senkte den Kopf, und zwar so, daß die meterlangen Hörner auf die Brangeln zeigten, die sich in unmittelbarer Nähe befanden. Es konnte kei nen Zweifel geben. Mierjot wollte den Fremden schützen! Die Szene hatte etwas Unwirkliches an sich. Die anderen Bullen folgten Mierjots Bei spiel. Sie senkten die mächtigen Köpfe schützend über die gefesselten Gefangenen. Plötzlich kam Leben in den Riesen. Er sprengte die Fesseln, als ob sie aus einfa chen Gräsern bestünden. Die Brangeln wi chen entsetzt zurück. Der Riese schob den Kopf des Bullen mü helos zur Seite und richtete sich neben ihm auf. Er überragte den Spyten um fast eine halbe Hörnerlänge. Dann strich er ihm – es war Kerall – über das Borstenfell und stieß schrille Laute aus. Wenige Sonnenstrahlen später geschah das, auf das Kryanur die ganze Zeit über ge wartet hatte. Die Luft über Kerall und dem unheimlichen Wesen begann zu flimmern,
Horst Hoffmann dann rötlich zu leuchten. Die Brangeln lie fen in heller Panik in alle Richtungen davon, nur Taslyn und Loslayn blieben bebend ste hen. Das Leuchtwesen nahm Gestalt an und senkte sich auf eine der mächtigen Schultern des Riesen herab. Kryanur wollte seinen Sinnen nicht glauben, als es verschwamm und in den Körper des Fremden glitt. Ein anderer der Gefangenen sprengte sei ne Fesseln und befreite die beiden übrigen, ohne daß die Bullen sich von der Stelle rühr ten. Die Brangeln, die sich hinter den Zelten versteckt und die Vorgänge beobachtet hat ten, kamen nun langsam zurück, als sie merkten, daß die Fremden keine Anstalten machten, sie anzugreifen. Sie hockten sich nieder und preßten zum Zeichen der Unter werfung die Saugfinger beider Hände fest auf den Boden. Nur Kryanur blieb stehen. Dann ging er langsam auf den Fremden mit den hellen Strähnen zu und streckte ihm eine Hand ent gegen. Der Fremde sah ihn lange an, dann preßte er drei seiner fünf Finger gegen Kryanurs Saugnäpfe.
8. Sie konnten sich frei im Zeltlager bewe gen. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die Ebene, und erst jetzt erkannten At lan, Razamon, Kolphyr und Thalia das gan ze Ausmaß der Verwüstung, die das heran rasende Pthor angerichtet hatte. Aber das war gar nichts gegen das Elend, das die Seu che über die Eingeborenen gebracht hatte. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde kein einziger der Nomaden das Ende des Ta ges erleben. Gott sei Dank zeigten sich bei den Freunden bisher noch keine Anzeichen einer Erkrankung. Der Eingeborene, der versucht hatte, einen Kontakt herzustellen, begleitete die Freunde zum Zugor. Die von den Nomaden aus der Umzäunung getriebenen Tiere hatten nicht viel von dem Fahrzeug übriggelassen.
Die Todeskarawane Der Zugor war nicht mehr zu reparieren. Kolphyr hatte sich die ganze Zeit über mit dem Eingeborenen »unterhalten«. Mittler weile wußte Atlan, daß Wommser, Kolphyrs ehemaliger Symbiont, der sich in der Dunklen Region von dem Bera gelöst hatte, zumindest vorübergehend zurückgekehrt war. Kolphyrs Bemerkung kurz nach dem Erscheinen des Brangels in ihrem Zelt ließ den Arkoniden vermuten, daß Wommser auch mit dem Eingeborenen Kontakt hatte. Niemand wußte, was sich hinter diesem rät selhaften Wesen verbarg. Aber Atlan war si cher, daß sie ohne die Hilfe Wommsers die ses Abenteuer nicht so gut überstanden hät ten. Alles deutete darauf hin, daß Wommser als »Dolmetscher« fungierte. Kolphyr brach te die Schmatzlaute der Nomaden fast spie lerisch hervor und übersetzte sie. Atlan kannte inzwischen die Umstände, die zum erbärmlichen Zustand der Karawa ne geführt hatten. Es waren tatsächlich jene unbekannten Raumfahrer, die die Station auf dem Hügel errichtet hatten, gewesen, die für die Misere der Brangeln, wie die Nomaden sich nach Kolphyrs Aussage selbst nannten, verantwortlich waren. Kryanur, wie der Brangel hieß, der sie begleitete, hatte auch über die Seuche berichtet. Dabei erwähnte er immer wieder einen der Leitbullen, der an scheinend immun war. »Wie lange wird Wommser noch bei dir sein?« fragte der Arkonide den Bera. »Weiß nichts«, schrillte Kolphyrs Stim me. »Wird gehen Wommser.« »Wann?« »Weiß nix Kolphyr. Du nicht bist so neu gieriger.« Atlan schloß die Augen. Er wußte sehr gut, daß Kolphyr in der Lage war, fast per fektes Pthora zu sprechen. Nur dann und wann kam es über ihn, und er begann mit seinem schrecklichen Kauderwelsch, vor al lem, wenn er gut gelaunt war. Dies wieder um war der Fall, wenn er jemanden zum Schmusen gefunden hatte oder wenn er Wommser spürte.
37 Sobald der Symbiont wieder verschwun den war, würde der Bera ein Bild des Jam mers bieten, wie damals in der Dunklen Re gion. Aber er würde sich ebenso schnell wieder fangen wie beim ersten Verschwin den des geheimnisvollen Wesens. Es kam nun darauf an, daß Wommser so lange wie möglich bei ihm blieb. Im Augen blick war er unersetzlich. Atlans Gedanken kreisten immer wieder um Mierjot, jenen Leitbullen der Spyten, wie die Eingeborenen ihre Herdenstiere nannten, der bisher nicht von der Seuche an gesteckt worden war. Weshalb war das Tier immun? Verbarg sich hier eine Möglichkeit, den Brangeln zu helfen? »Frage ihn noch einmal«, forderte Atlan den Bera auf und deutete auf den Eingebore nen. »Er soll dir alles erzählen, was er über den Bullen weiß.« Kolphyr wandte sich Kryanur zu, und wieder schmatzten die beiden aufgeregt – Kolphyr mit dem breiten Froschmaul, der Brangel mit den Saugrüsselhänden. In re spektvoller Entfernung beobachteten die Eingeborenen aus dem Lager das für sie un faßbare Schauspiel. In einer ersten Anspra che hatte Kolphyr ihnen mitgeteilt, daß At lans Gruppe nichts mit den Raumfahrern zu tun hatten, die Loors erobert hatten. Mit Unbehagen dachte der Arkonide dar an, daß sie diesen Fremden vielleicht schon bald gegenüberstehen würden. Alles, was er bisher über sie erfahren hatte, war nicht ge rade dazu angetan, Sympathien für sie ent stehen zu lassen. Sie hatten diese Welt für sich in Besitz genommen, ohne sich um die Eingeborenen zu scheren. Nach der Vernichtung der Robo ter war es wahrscheinlich, daß sie zurück kehrten und Pthor für den Ausfall verant wortlich machten. Kolphyr kam zurück. »Und?« »Vielleicht interessant«, schrillte die Stimme des Beras. »Bulle war kaputt, als Seuchenlager ankam.«
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Atlan war einem Wutausbruch nahe. »Kolphyr! Wie kann ein Zeltlager ankom men?« Der Bera schwieg und schien in sich hin einzulauschen. »Wommser sagt, Kolphyr soll besser sprechen.« »Wommser wird mir immer sympathi scher«, stöhnte Atlan. »Also – was ist nun mit dem Bullen?« »Bulle war betäubt durch Gift, Gift von Lanze. Eingeborene haben ihn gelähmt, weil Mierjot zu wild war.« Der Arkonide horchte auf. »Hat Kolphyr wieder schlecht gespro chen?« »Bringe mir Kryanur her. Ich muß mit ihm reden. Wommser soll übersetzen. Schnell, Kolphyr!« Wieder entwickelte sich jene seltsame »Unterhaltung« zwischen zwei völlig ver schiedenen Wesen. Kolphyr schmatzte mit Kryanur und übertrug den Sinn der Laute in Pthora und umgekehrt. Nach einigen Minuten wußte Atlan ge nug. Noch einmal gab der Bera ein paar Schmatzlaute von sich, dann lief der Einge borene zurück ins Zeltlager. »Hat Kolphyr die Sache gut gemacht?« erkundigte sich der Bera. »Sehr gut, Kolphyr«, sagte Atlan. Hoffen wir, daß es etwas nützt, fügte er in Gedanken hinzu. Er hatte getan, was er konnte. Alles andere lag nun an den Bran geln – und an jenem Faktor, den man ge meinhin »Schicksal« nannte.
ZWISCHENSPIEL Seit vielen Zeltlagern durchstreifte die Karawane Purlotz die Fläche Purgh-Simz. Im Gegensatz zu anderen Karawanen hatte sie sich nur für kurze Zeit von den fremden Eroberern einschüchtern lassen. Die herr schende Familie Stacho trieb sie über die Fläche, und die befürchtete Rache der Er oberer blieb aus. Die Brangeln der Karawane Purlotz wa-
ren Piraten. Sie waren die unumstrittenen Herrscher der Fläche Purgh-Simz, die von den anderen Stämmen der Brangeln »Fläche des Todes« genannt wurde. Die Rechnung der Familie Stacho war denkbar einfach. Irgendwann würden die Karawanen der benachbarten Flächen gezwungen sein, das Verbot der Eroberer zu durchbrechen und neuen Lebensraum zu suchen, wenn ihre Spyten nicht jämmerlich zugrunde gehen sollten. Das galt nicht nur für die kleinen Karawanen, die keine angestammte Fläche hatten, sondern ebenso für die großen, wie Lhirrl in Coll-Herest und Jarsys in JellCahrmere. Die Piraten konnten nicht wissen, was sich in der Fläche Coll-Herest ereignet hatte. Sie hatten Zeit. Ihre Herden waren lange ge nug gewandert. Ihr Trieb war zunächst be friedigt. In der Nähe der Hügel, hinter denen CollHerest im Nordwesten und Jell-Cahrmere im Südwesten lagen, hatte die Karawane Pur lotz nach der langen Wanderung ihre Zelte aufgeschlagen. Kundschafter und Jäger durchstreiften die nähere Umgebung, um so fort das Auftauchen einer Beute zu melden. Wer in die Hände der Piraten fiel, war verloren. Meist waren es die kleinen Kara wanen. Die Piraten nahmen ihnen die Spy ten und ließen die Brangeln hilflos zurück, wo sie nach kurzer Zeit verhungerten, oder sie töteten sie sofort mit vergifteten Pfeilen. Bisher war es niemandem gelungen, aus Purgh-Simz in eine andere Fläche zurückzu kehren. Deshalb mieden die Karawanen Pur gh-Simz und gaben ihr den Namen »Fläche des Todes«. Die Familie Stacho wußte, daß die frem den Eroberer ihr Lager in Jell-Cahrmere auf geschlagen hatten. Die Fläche war unbegeh bar geworden. Irgendwann würden die ersten Karawanen über die Hügel kommen. Die Piraten waren gut vorbereitet. Sie erwarteten sie.
*
Die Todeskarawane Kryanur war es schnell gelungen, die Fa milienoberhäupter für die Idee des Fremden zu gewinnen. Die Brangeln standen den We sen nicht mehr feindselig gegenüber, dafür vergötterten sie sie nun fast. Kryanur, der sich mit ihnen unterhalten konnte, wurde mit Respekt behandelt. Die Brangeln erkannten ihn als ihren unumschränkten Führer an. Taslyn hatte seine Herrschaftsansprüche auf gegeben und half der Karawanenspitze, wo er nur konnte. Die Nacht war vorbei. Kryanur hatte den Aufbruch der Karawane bis zur nächsten Sonne aufgeschoben. Bis dahin würde er wissen, ob der Fremde recht hatte und es ei ne Rettung für die Brangeln gab. Viele waren in der Nacht gestorben, und fast die Hälfte der Gefährten lag in den Zel ten, wo sie sich auf die Ewigen Flächen vor bereiten wollten. Auch unter den Spyten wü tete die Seuche. Kryanur hatte mehr als fünfzig Brangeln um sich geschart, die, wie er, noch nicht so sehr unter der Krankheit litten wie ihre Ge fährten und Gefährtinnen. Zusammen bestri chen sie alle Lanzenspitzen, Pfeile und Mes ser mit dem Lähmgift, mit dem Yanusg nach Weljosts Aussage Mierjot betäubt hatte. Es war nur eine Vermutung, daß Mierjot durch das leichte Gift gegen die Seuche immun ge worden war, und es war vollkommen unge wiß, ob es auch jetzt, nach erfolgter Infekti on, noch gegen die Krankheit half. Ein winziger Hoffnungsschimmer gegen den sicheren Tod. Als alle verfügbaren Waffen präpariert waren, nahm Kryanur sein Messer und ritzte sich in den linken Arm. Die Haut riß auf, und ein Strahl der violetten Körperflüssig keit spritzte auf den Boden. Nur widerstrebend folgten die anderen Kryanurs Beispiel. »Jetzt geht zu euren Familien und verab reicht ihnen das Gift. Danach treffen wir uns bei Keralls Herde.« Die Brangeln zerstreuten sich. Nur Taslyn blieb stehen. Seine Organwülste zeigten kei ne Regung, als er die Saugrüsselfinger
39 krümmte. »Bist du noch immer entschlossen, mit der Karawane aufzubrechen, auch wenn das Gift nicht hilft?« Kryanur wußte, worauf der Frotheyer an spielte. Er hatte sich selbst lange Gedanken darüber gemacht. Es war einer der Gründe, weshalb er den Aufbruch aufgeschoben hat te. »Wir haben schon genug Schuld auf uns geladen«, schmatzte die Karawanenspitze wehmütig. »Es ist eine schwere Entschei dung.« »Auch ich fühle das Leid der Spyten«, er klärte Taslyn. »Aber wenn wir die Seuche nicht besiegen können, werden sie in den Hügeln sterben. Was noch schlimmer ist – die Krankheit würde zu anderen Karawanen getragen. Es wäre ein Verbrechen, Kryanur.« Die Karawanenspitze machte eine hilflose Geste. Er betrachtete den Alten lange. Tas lyns Haut war über und über mit roten Bla sen bedeckt, von denen einige bereits aufge platzt waren. Die lange Wunde, die der Schnitt mit dem präparierten Messer hinter lassen hatte, schloß sich allmählich. Taslyn – der Mann, der ihm noch vor we nigen Sonnen befohlen hatte, Gfluurt heim tückisch zu vergiften. Kryanur sollte ihn da für hassen, aber er hatte mittlerweile er kannt, daß der Frotheyer tatsächlich nur das Wohl der Karawane im Sinn gehabt hatte. Er hatte ihm vergeben, so wie Gfluurt und Selnga ihm vergeben hatten. »Wir werden warten, bis wir und die Spy ten gesund sind – oder wir werden hier den Schatten der Ewigen Flächen empfangen.« Taslyn berührte dankbar Kryanurs Sau grüsselfinger. Dann verschwand er in sei nem Zelt. Kryanur suchte die Fremden. Er fühlte sich einsam, die Verantwortung lastete schwer auf ihm. Die Fremden hatten erklärt, daß die Flä che Jell-Cahrmere für lange Zeit nicht mehr begehbar war. Sie hatten auch berichtet, daß die Diener der Eroberer nicht mehr lebten.
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Der Gedanke an die Fläche des Todes hinter den Hügeln jagte dem Brangel Angst ein. Aber nur dort konnten sie eine neue Heimat finden. Vorerst aber mußten sie die Seuche besiegen. Kryanur nahm seinen aus Spytenleder ge fertigten Beutel mit den Pfeilen. Dann ging er zu Keralls Herde. Er schoß einen Pfeil nach dem anderen auf die vor Schmerzen brüllenden kranken Spyten ab. Nach und nach erschienen die anderen Brangeln, die sich noch auf den Beinen hal ten konnten. Kryanur schoß wie besessen. Er spürte, wie ihn die letzte Kraft verließ. Das Gift wirkte. Kryanur wurde vom Schwindel gepackt und fiel rückwärts vom Zaun. Er fühlte noch den höllischen Schmerz, der ihm den geschundenen Körper auseinanderzureißen drohte. Dann senkte sich tiefe Schwärze über die Karawanenspit ze.
* »Ob sie durchkommen werden?« fragte Thalia besorgt. »Ich bezweifle es«, meinte Atlan. Der Ar konide und die Odinstochter saßen auf der Kuppe eines kleinen Hügels in der Nähe des Zeltlagers und beobachteten, wie einige Brangeln die Spyten aus Mierjots Herde mit ihren Pfeilen beschossen. Kolphyr und Raz amon befanden sich mitten unter den Tieren und »impften« die Spyten in der Mitte der großen Herde, die von den Pfeilen nicht er reicht wurden. »Allmählich sollten wir uns Gedanken über unsere Zukunft machen«, sagte Thalia. »Wir sitzen hier hoffnungslos fest. Zu Fuß kommen wir nie nach Pthor zurück.« »Wir müssen Geduld haben.« »Optimist«, meinte Thalia. »Ihr gebt die Hoffnung nie auf, oder?« Der Arkonide mußte grinsen. »Hätten wir sonst die Herren der FESTUNG besiegen können?« »Gemeinsam mit Odins Kindern, Atlan, vergiß das nie.«
Der Arkonide schmunzelte, dann aber verhärteten sich seine Züge. Sie konnten nichts tun als warten. Unten im Lager kämpften Tausende von Eingeborenen um ihr Leben. Einer nach dem anderen sank be wußtlos zu Boden. Kolphyr und Razamon arbeiteten wie besessen. Die Tiere brüllten und liefen, verrückt vor Schmerzen und Angst, wild durcheinander, sofern sie nicht schon vom Lähmgift niedergestreckt worden waren. Es waren zu viele, um sie alle zu retten, wenn eine Rettung möglich war. Atlan fragte sich, ob ein paar gesunde Spyten in der Lage waren, sie nach Pthor zu rückzutragen. Er sehnte sich nicht nach einer frühzeitigen Begegnung mit den Raumfah rern. Das Warten wurde zur Tortur. Atlan wünschte sich, ebenfalls in eine der Umzäu nungen steigen zu können, um Razamon und Kolphyr zu helfen. Aber die Tiere würden ihn und Thalia niedertrampeln, bevor sie ei nige Schritte getan hatten. Nur die Bindung an die Leitbullen verhinderte, daß sie aus brachen. Die Sonne stieg höher und erreichte den Zenit. Im Lager war es ruhig. Es gab fast keinen Brangel mehr, der jetzt noch bei Be wußtsein war. Wie ein gigantischer Friedhof! durchfuhr es Atlan. Er bemerkte, daß Thalia zitterte. Wortlos ergriff er ihre Hand und erntete einen dankbaren Blick.
9. Am frühen Abend geschah das Wunder. Zuerst erholten sich die Spyten. Die Tiere, die fast den ganzen Nachmittag über wie tot am Boden gelegen hatten, sprangen eines nach dem anderen auf die Beine. Die Stel len, an denen die Blasen aufgeplatzt waren, begannen schnell zu vernarben. Dann kamen die ersten Brangeln aus ihren Zelten. Auch ihre Wundmale heilten bereits. Sie wußten, wem sie ihre Rettung zu verdan ken hatten und führten wahre Freudentänze
Die Todeskarawane auf, wenn Atlan, Razamon, Kolphyr oder Thalia in ihre Nähe kamen. Kryanur war der gefeierte Held des Stam mes. Feuer wurden überall angezündet und große, flache Schüsseln mit einem zähen Brei herumgereicht, in den die Brangeln ihre Saugrüsselfinger tauchten. Der Brei schien eine berauschende Wirkung auf die Einge borenen auszuüben. Atlan wurde ebenfalls eine Schüssel angeboten. »Du mußt die Finger hineintauchen und so tun, als ob es dir schmeckt«, flüsterte Razamon. »Sonst sind sie beleidigt.« Hintereinander vollzogen Atlan und seine Begleiter die Zeremonie und versuchten, die begeisterten Schmatzlaute der Brangeln nachzuahmen, die daraufhin in Verzückung gerieten. Der Bann war endgültig gebro chen. Kryanur setzte sich zu den Freunden, ebenfalls jener Brangel, den Kolphyr bei früherer Gelegenheit als Taslyn bezeichnet hatte – neben Kryanur der wichtigste Einge borene. »Was sagen sie?« fragte Atlan den Bera. Kolphyr hockte wie ein Häufchen Elend neben Razamon. »Kolphyr nix versteht. Wommser ist wie der weg.« »Du liebe Zeit«, entfuhr es Razamon. »Wie sollen wir uns jetzt mit ihnen unterhal ten?« »Schmatzen, Razamon«, grinste Atlan. »Dein Vorschlag, erinnerst du dich?« Atlan hatte mittlerweile einige charakteri stische Schmatzlaute, die besonders oft zu hören waren, »aufgefangen«. Er wußte, wie die Brangeln Freude, Leid und Ärger aus drückten. Das war der Anfang. Die Eingeborenen schienen zu begreifen, daß Kolphyr nicht mehr als Übersetzer zur Verfügung stand. Sie gaben sich redliche Mühe, es Atlan so leicht wie möglich zu ma chen, sie zu verstehen, wobei sie immer wie der Zeichnungen auf dem Boden machten und mit ihren Ärmchen gestikulierten. Nach einer Weile wußte der Arkonide, daß die Karawane am nächsten Morgen auf brechen und über die Hügel ziehen wollte.
41 Aus den Lauten glaubte er herauszuhören, daß die Brangeln Angst vor etwas hatten, das er noch nicht begriff. Das Fest dauerte die ganze Nacht. Am Morgen wurden die Toten zusammengetra gen und außerhalb des Zeltlagerplatzes ver brannt. Die Seuche hatte immerhin ein Drit tel der Spyten und ein Viertel der Brangeln hinweggerafft, die die durch Pthor verur sachte Katastrophe überlebt hatten. Dann wurden die Zelte abgebrochen und mit dem Besitz der Brangeln auf die bereit stehenden Spyten geladen. Kryanur, der sich um die vier Leitbullen gekümmert hatte, kam zu Atlan und machte ihm nach einigen Mißverständnissen klar, daß er, Razamon und Thalia mit ihm zusammen die Herde führen sollten. »Wir sollen die Bullen reiten«, erklärte der Arkonide den Gefährten. »Sie scheinen Gefallen an uns gefunden zu haben.« »Kolphyr nix reiten?« schrillte die Stim me des Antimateriewesens. Atlan und Razamon wechselten einen leidvollen Blick. »Nein«, brummte der Atlanter. »Kolphyr nix reiten, bis vernünftig werden und spre chen wie normaler Mensch.« »Kolphyr Bera«, entrüstete sich der Riese. »Nix normal Mensch.« »Gib's auf, Razamon«, riet Atlan dem Freund. Er zwinkerte Razamon zu und be merkte gerade so laut, daß der Bera es noch hören konnte: »Kolphyr kann eben nicht besser spre chen, Kolphyr Dummkopf.« »Kolphyr ist kein Dummkopf!« schrillte der Bera in reinem Pthora. »Ich bin schlauer als ihr alle, ihr werdet sehen, eingebildete Köpfe!« Atlan und Razamon grinsten sich an. Selbst Thalia mußte schmunzeln. Die Kara wane brach auf. Gegen Mittag erreichte der scheinbar endlose Zug der Spyten und ihrer Reiter die Fläche Purgh-Simz.
*
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»Ihr habt eure Sache gut gemacht«, schmatzte Netcher, Oberhaupt der Familie Stacho und unumschränkter Herrscher der Piratenkarawane Purlotz. »Laßt euch eine Schüssel vom besten Matz geben und taucht eure Finger hinein, bis ihr die Goldenen Lichter seht!« Die Kundschafter verließen vor Begeiste rung schmatzend das große Zelt der Familie Stacho. »Das Warten hat sich also gelohnt«, ver kündete Netcher den anwesenden Mitglie dern seiner Familie. »Die Falle braucht nur noch zuzuschnappen. Wir werden die größte Beute seit den Zeltlagern des Großen Purlotz machen. Dank sei den fremden Eroberern!« »Es ist eine große Karawane«, gab Sua huzt, Netchers Sohn, zu bedenken. »Ach was«, erwiderte das Oberhaupt der Piraten karawane ungehalten. »Unsere Kampfspyten und Pfeile werden sie schnell schrumpfen lassen – zumindest, was die Brangeln an geht.« Suahuzt verließ das Zelt und kehrte kurz darauf mit einer Schüssel Matz zurück. Die Piraten tauchten ihre Finger in den Brei und gaben begeisterte Laute von sich. Einer der Jäger erschien und meldete, daß die Vorbereitungen für den Überfall getrof fen waren. »Sehr gut«, lobte Netcher. »Setz dich zu uns, Girrol! Auf unsere Beute!« »Auf die Beute!« riefen die anderen im Chor.
* »Sie haben schreckliche Angst«, flüsterte Razamon, als die Karawane am frühen Nachmittag die erste Rast machte. Sie be fand sich schon tief in der Fläche PurghSimz. Die Hügel waren nur noch als dunkle Linie am Horizont zu erkennen. Die von den Brangeln insgeheim befürch tete Rache der Eroberer von den Sternen war ausgeblieben. Das verstärkte Atlan in seiner Annahme, daß die Raumfahrer nur einen einzigen Stützpunkt auf Loors errichtet hat-
ten. Die Spyten waren ruhig. Es war förmlich zu spüren, wie sie auflebten, nachdem die Tage des Zwangsaufenthalts vorbei waren. Razamon und Thalia konnten ihre Leitbullen sich selbst überlassen. Sie saßen mit Atlan und Kolphyr im hohen Gras der Ebene und beobachteten das rege Treiben der Brangeln. »Wer weiß, was hier auf uns wartet«, sag te Atlan mit finsterer Miene. »Es ist zu ru hig. Ich traue dem Frieden nicht.« »Die armen Burschen«, meinte Thalia. »Sie haben viel mitmachen müssen. Ich wünschte ihnen, daß sie irgendwo in dieser großen Ebene eine neue Heimat finden.« »Das wünschen wir alle«, brummte Atlan. »Aber ich spüre, daß uns etwas bevorsteht. Sie bezeichnen diese Ebene als ›Fläche des Todes‹.« »Du machst Fortschritte«, bemerkte Raza mon. »Eigentlich ist ihre Sprache nicht allzu schwer zu begreifen, zumindest, was die ele mentaren Begriffe betrifft. Der Haken ist, daß wir ungleich mehr Schwierigkeiten ha ben, uns ihnen verständlich zu machen.« »Und du hast keine Ahnung, wovor sie sich so fürchten?« fragte Thalia. Atlan schüttelte den Kopf. »Böse Leute hier«, meldete sich Kolphyr unvermittelt. Atlan und Razamon wechselten einen schnellen Blick. »Ist … Wommser zurückgekehrt?« »Wommser nicht zurück. Er sagt mir vor her.« Kryanur erschien bei den Gefährten und gab zu verstehen, daß die Karawane auf bruchbereit war. Atlan bemerkte mit Genug tuung, daß die Narben an seinen Gliedma ßen fast ganz verschwunden waren. Er spitzte die Lippen und produzierte je nen Schmatzlaut, der Zustimmung signali sierte. Wenige Minuten später waren sie wieder unterwegs. Bis zu drei Brangeln ritten auf einem Spyten. Die Tiere wirkten frisch und liefen mit einer Schnelligkeit, die Atlan ih
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nen kaum zugetraut hätte. Es war fast Abend, als die Karawane leicht hügliges, von dichtem Buschwerk be wachsenes Gebiet erreichte. Der Überfall er folgte so plötzlich, daß sie nicht den Hauch einer Chance hatte. Hunderte von Brangeln, deren Haut in grellen Farben leuchtete, tauchten aus den Büschen auf und schossen ihre Pfeile ab. At lan spürte einen heftigen Schlag gegen die Brust, als ein Geschoß am Goldenen Vlies abprallte. Kerall, sein Reittier, bäumte sich so stark auf, daß Atlan das Gleichgewicht verlor. Noch im Sturz sah er, wie Razamon getroffen wurde. Die Spyten liefen wild durcheinander. Geistesgegenwärtig konnte der Arkonide sich an Keralls Hörnern fest klammern. Nach einigen vergeblichen Ver suchen gelang es ihm, sich wieder auf den Rücken des Bullen zu schwingen. Die Pfeile prasselten auf die Brangeln herab. Die No maden sanken einer nach dem anderen von ihren Spyten und starben unter den Hufen der vor Angst halb verrückten Tiere. Wo war Razamon? Atlan entdeckte Thalia und Kolphyr hin ter einer Mauer aus sich aufbäumenden und alles niedertrampelnden Leibern. Kerall ließ sich nur widerwillig dirigieren. Kolphyr packte Thalia und zog sie zu sich auf seinen Spyten. Atlan schrie etwas, aber seine Stim me ging im Brüllen der Tiere unter. Die Angreifer schossen weiter. Plötzlich erschien eine Herde riesiger Spyten auf der kleinen Anhöhe zur Rechten. Der Boden er zitterte, als die mächtigen Tiere mit gesenk ten Hörnern in die Karawane hineinrasten. Ein Beil flog heran. Atlan wich instinktiv aus, aber das Geschoß streifte ihn am Kopf. Die Welt schien in einem blendendhellen Lichtermeer zu vergehen …
* Nur langsam kehrte das Bewußtsein zu rück. Atlans erste Wahrnehmung war ein ste chender Schmerz im Kopf. Er schlug die
Augen auf und sah in ein kleines, flackerndes Feuer. Atlan lag auf dem Rücken. Der Kopf ruh te auf einem harten Gegenstand, so daß er die Gefährten sehen konnte. Sie befanden sich in einem der Spitzzelte der Brangeln. »Nicht bewegen!« zischte Razamon, als der Arkonide sich aufrichten wollte. Weder er noch die anderen waren gefesselt. »Razamon … was ist …?« »Bleib ruhig liegen und rühre keinen Fin ger, oder wir müssen alle dran glauben.« »Besser tun, was Razamon sagt«, schrillte Kolphyr. »Biester nicht gesund für uns.« Erst jetzt sah Atlan den senkrecht aufge richteten Kopf der Schlange vor seinen Fü ßen. Sie glich einer terranischen Kobra. Vor jedem der Gefährten befand sich eine solche Schlange, bereit, bei der erstbesten Bewe gung vorzuschnellen. »Das sind unsere Wächter?« »Sieht ganz so aus«, knurrte der Atlanter. »Man braucht nicht viel Phantasie, um zu wissen, daß ihr Biß tödlich ist.« »Was ist passiert?« »Du lange kaputt«, piepste der Bera. »Länger als Razamon.« »Uns beide hat's erwischt«, erklärte Raza mon. »Kolphyr können wir's verdanken, daß unsere Odinstochter noch lebt. Als er sah, daß wir außer Gefecht waren und die Piraten die Karawane übernahmen, ergab er sich und ließ sich mit uns abführen. Die Piraten halten uns offenbar für eine ganz besonders wertvolle Beute, wenn nicht sogar für die Raumfahrer, die auf Loors landeten.« »Piraten?« Atlan hatte laut gesprochen. Sofort be gann der Kopf der Schlange hin und her zu schwingen. »Ich wüßte nicht, wie ich sie sonst be zeichnen sollte. Sie haben uns mit vergifte ten Pfeilen beschossen. Ich bekam einen Treffer ins Bein, aber das Gift scheint nur bei Brangeln tödlich zu wirken. Ich wurde gelähmt und kam zu mir, als zwei der Brü der gerade die Schlangen brachten und unser Zelt verließen.«
44 »Warum seid ihr nicht geflohen – du und Thalia?« fragte Atlan den Bera. »Wohin gehen?« fragte Kolphyr zurück. »Außerdem Thalia wollte sie dich nicht …« »Schweig!« zischte Thalia. Die Gefährten lagen in einem Halbkreis um das Feuer in der Zeltmitte. Atlan konnte Thalias Gesicht nur undeutlich sehen, aber er glaubte, darin Verlegenheit zu bemerken. Er ging nicht weiter auf Kolphyrs Bemer kungen ein. »Was ist mit den Brangeln geschehen?« »Keine Ahnung«, flüsterte Razamon. »Aber ich habe keine große Hoffnung, daß viele von ihnen am Leben blieben.« Atlan gab sich keine Mühe, seine Verbit terung zu verbergen. Auf was für einer Welt waren sie gestrandet? Du mußt die Frage anders stellen, melde te sich sein Extrasinn. Zu welchem Zeitpunkt hat es euch auf Loors verschlagen? Die Ka rawanen der Brangeln wandern seit Ewig keiten über die Ebenen. Das Unheil muß von außen über sie gebracht worden sein, bevor Pthor auf Loors landete. »Die Raumfahrer«, murmelte Atlan. Er hatte im Lauf der Jahrtausende ein untrügli ches Gefühl für kommende Schwierigkeiten entwickelt, und dieses Gefühl meldete sich nun. »Was meinst du?« fragte Razamon. »Ach, nichts. Wir sollten darüber nach denken, wie wir hier herauskommen, ohne daß uns diese lieben Tierchen ihre Giftzähne ins Fleisch schlagen.« Wieder waren Razamon und Thalia ihre Achillesferse. Kolphyr war ebenso geschützt wie Atlan. Auch Thalias Rüstung bot einen gewissen Schutz, aber darauf wollte er sich nicht verlassen. Diesmal saßen sie wirklich in der Falle. Atlans Gehirn arbeitete fieberhaft. Was mochte inzwischen auf Pthor gesche hen sein? Als sie mit dem erbeuteten Zugor den Dimensionsfahrstuhl verlassen hatten, herrschten dort chaotische Zustände. Hatten Odins Söhne und ihre Helfer die Lage in den Griff bekommen können, oder
Horst Hoffmann kämpften die Bewohner dieses kosmischen Schmelztiegels in diesen Stunden ums nack te Überleben? »Wenn die Burschen uns für so wichtig halten, werden sie bald auftauchen und uns in Augenschein nehmen wollen«, brummte Atlan, ohne den Blick vom Kopf der Schlan ge zu nehmen. »Vielleicht ergibt sich dann eine Möglichkeit zur Flucht.« »Ich möchte wissen, was sie mit uns vor haben«, sagte Thalia mit finsterer Miene. »Du nix Angst haben müssen«, schrillte Kolphyrs Stimme. »Atlan überlegt schon, wie dir zu helfen, so wie sich gehört für Ka valier.« »Vielleicht können wir ihnen klarmachen, daß Beras ganz besonders wertvolle Tausch objekte sind«, knurrte Razamon. »Vor allem Beras, die ihren Mund nicht halten können, obwohl sie kaum vernünftig sprechen kön nen.« »Wen meint Freund Razamon? Meint Freund Kolphyr?« »Jetzt haltet endlich den Mund!« stieß At lan hervor. Wieder begann der Kopf der Schlange hin und her zu schwingen. »Atlan muß denken«, kommentierte Kol phyr ungerührt. »Denken, wie Thalia zu ret ten.« »Ich weiß jedenfalls, wer nicht mehr zu retten ist«, meinte Razamon leise und zwin kerte Atlan zu. »Still!« zischte der Arkonide. Draußen waren Schritte und Schmatzlaute zu hören. Dann wurde das Tuch am Eingang zu rückgeschlagen, und drei wild aussehende Brangeln traten ein. Atlan verstand nicht viel von dem Ge schmatze ihrer Saugrüsselfinger, aber was er heraushören konnte, reichte ihm vollauf. Die Piraten waren nicht gekommen, um sich mit ihnen zu verständigen. Sie waren da, um die Gefangenen zu töten. Atlan war verzweifelt. Er konnte nicht einmal eine Hand ausstrecken, ohne damit für Thalia und Razamon den augenblickli chen Tod heraufzubeschwören. »Nimm keine Rücksicht auf uns«, flüster
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te Razamon kaum hörbar. Atlan versuchte, die Chancen abzuschät zen, die beiden Schlangen, die Thalia und den Atlanter bewachten, blitzartig unschäd lich zu machen. Wenn er schnell genug war und Kolphyr seine Absicht begriff.
10. Kryanur hatte Mühe, seine Umgebung zu erkennen. Das Gift hatte einen großen Teil seiner Organwülste gelähmt. Er konnte zwar hören, was die Wächter sagten, aber kaum etwas sehen. Aus den Gesprächen der Wachen wußte er, was geschehen war. Kryanur war einer der ersten Brangeln gewesen, die von den Giftpfeilen getroffen worden waren. Es war ein Wunder, daß er überhaupt noch lebte. Die Karawanenspitze lag zwischen Toten und Sterbenden in einer kleinen Senke zwi schen drei Hügeln. In den kurzen Momen ten, in denen es ihm gelungen war, seine Sehorgane zu aktivieren, ohne daß die Pira ten es bemerken konnten, hatte er sich ein Bild des Grauens um ihn herum machen können. Es war Nacht, und der Schein der Feuer und Fackeln drang in die Senke. Kryanur konnte drei Wächter erkennen. Sie standen dicht beisammen und schossen mit ihren Pfeilen auf jeden Brangel, der sich rührte. Kryanur bebte innerlich vor Haß, Enttäu schung und tiefer Verzweiflung. Dreimal in nerhalb kürzester Zeit war das Verderben über die Karawane Jarsys gekommen. Die Brangeln hatten die Fläche Jell-Cahrmere friedlich durchwandert, solange Kryanur sich erinnern konnte. Alles hatte mit dem Auftauchen der Frem den aus dem Himmel begonnen. Sie allein waren daran schuld, daß die Karawane Jar sys ausgelöscht worden war. Und mit Si cherheit herrschte ähnliches Unglück in den anderen Teilen seiner Welt. Kryanur fühlte den Schatten der Ewigen Flächen, der nun immer öfter nach ihm griff. Aber ein unbändiger Wille ließ ihn sich ge
gen den Tod auflehnen. Kryanur mußte le ben, nur noch wenige Sonnenstrahlen. Der Untergang der Karawane Jarsys durfte nicht umsonst gewesen sein. Es gab nur eine Möglichkeit, Rache an den fremden Eroberern zu nehmen. Die Karawanenspitze hatte aus der Unter haltung der Wachen herausgehört, daß die vier Wesen, die wie die Eroberer aus dem Himmel herabgekommen waren, noch leb ten. Allerdings sollten auch sie getötet wer den. Die Piraten waren nicht an ihnen selbst interessiert, sondern lediglich an dem, was sie bei sich trugen. Die vier durften nicht sterben. Wenn es jemanden gab, der Rache an den Eroberern nehmen konnte, dann waren sie es. Die Piraten feierten in ihren Zelten. Wenn sie genug Matz gesaugt hatten, ergab sich vielleicht eine Chance, die Wachen zu über wältigen und unbemerkt zum Zelt der Ge fangenen zu gelangen. Er hatte nicht viel Zeit, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Kryanur versuchte, das Beben seiner Organwülste unter Kontrolle zu halten, um sich nicht frühzeitig zu verra ten. Vorsichtig bewegte er seine Glieder. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen, aber der Gedanke an das Schicksal seiner Karawane und der Haß auf die Eroberer trie ben Kryanur immer wieder von neuem an. Die drei Piraten am Rand der Senke hat ten sich um eine Schüssel mit Matz gehockt und tauchten die Saugrüsselfinger in die be rauschende Flüssigkeit. An ihren Schmatz lauten merkte Kryanur, daß sie nicht mehr so aufmerksam waren wie zuvor. Das Matz tat seine Wirkung. Langsam zog die Karawanenspitze die Beine an. Wieder versagten die Sehorgane. Die Umgebung hüllte sich in schwarze Schatten, die von allen Seiten nach ihm grei fen wollten. Du darfst nicht sterben! Noch nicht! mahnte er sich immer wieder. Die Schatten wichen zurück, und Kryanur spürte, wie neue Kraft in seine Glieder strömte. Er tastete nach dem Körper eines
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toten Gefährten und zog vorsichtig einen Pfeil heraus. Kryanur kroch über die kalten Leiber der Ermordeten auf den Rand der Senke zu. Noch hatten die Wachen ihn nicht bemerkt. Wahrscheinlich glaubten sie, daß in der Senke niemand mehr lebte. Ohnmächtige Wut trieb Kryanur voran. Er wußte nun, was sich hinter der »Fläche des Todes« verbarg. Wie viele Karawanen fried licher Brangeln waren diesen Ungeheuern bereits zum Opfer gefallen? Immer wieder mußte er eine Pause einle gen, um neue Kräfte zu schöpfen, aber jede Etappe brachte ihn näher an die Piraten her an. Als Kryanur nur noch wenige Hörnerlän gen von ihnen entfernt war, fand seine ta stende Hand einen Bogen. Die Piraten muß ten sich ihrer Sache so sicher sein, daß sie zumindest einem Teil der Getöteten ihre Waffen gelassen hatten. Kryanur wunderte sich über soviel Leicht sinn. Langsam zog er den Bogen zu sich heran und wartete darauf, daß die Wächter ihre Finger wieder in die Schüssel steckten. Mittlerweile hatte die Karawanenspitze drei Pfeile sammeln können. Kryanur richte te sich auf. Die Piraten waren nun viel zu sehr mit sich selbst und dem Matz beschäf tigt, um weiter auf die Senke zu achten. Sie ärgerten sich darüber, daß sie hier Wache halten mußten und nicht in den Zelten mit den anderen feiern konnten. Kryanur wartete ab, bis seine Sinne sich nach einem erneuten Schwächeanfall wieder geklärt hatten. Dann spannte er den Bogen. Alles hing davon ab, wie schnell die Pira ten noch reagieren konnten. Der Pfeil schwirrte durch die Luft und traf einen der drei im Rücken.
* Wenn ich wenigstens alles verstehen könnte! durchfuhr es Atlan, als die drei Pira ten neben dem Feuer standen und wild durcheinanderschmatzten. Sie hatten kleine Stöcke und aus Spytenhörnern gefertigte Messer in den Händen. Trotzdem brachten
sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit ihrer Finger eine »Unterhaltung« zustande. »Sie streiten sich um die Beute«, flüsterte Atlan den Gefährten zu. »Vermutlich haben wir die Anführer der Bande vor uns.« »Du darfst keine Rücksicht nehmen«, zischte Razamon erneut. »Besser, du und Kolphyr entkommt, als daß wir alle vier hier wie Schlachtvieh aufs Ende warten, während draußen alles mögliche geschehen kann.« »Wir werden nicht mehr warten«, knurrte Atlan. »Keine Minute. Kolphyr, traust du dir zu, Thalias Schlange zu packen, ehe sie zu beißen kann?« »Mich kann sie ruhig beißen«, entgegnete der Bera so leise wie möglich und in rein stem Pthora. Die Piraten konnten die Worte zwar nicht verstehen, aber sie hörten auf, sich zu streiten und traten mit erhobenen Messern vor die Gefangenen. Die kleinen Stöcke näherten sich den Köpfen der Schlangen. Erleichtert erkannte Atlan, daß Kolphyr seine Absicht begriff. Gerade wollte er das Zeichen zum Angriff geben, als die drei Brangeln ausholten und die Stöcke gegen die Köpfe der Schlangen schlugen. »Jetzt!« schrie Atlan und warf sich her um. Blitzschnell packte er den Hals des Tie res, das in diesem Augenblick auf Razamon zuschnellte. Der Arkonide spürte einen hef tigen Schlag gegen die Hüfte, als »seine« Schlange versuchte, ihre Fänge in seinen Körper zu schlagen. Das Reptil prallte am »Anzug der Vernichtung« ab. Razamon sprang zur Seite und schmetter te einen der Piraten, die ihre Überraschung schneller als erwartet überwunden hatten, mit einem furchtbaren Hieb zu Boden. »Gib mir sein Messer!« rief Atlan. »Schnell!« Der Atlanter wehrte einen weiteren An greifer ab und warf dem Arkoniden die Waf fe zu. Sekunden später war das Reptil tot. Die zweite Schlange versuchte vergeblich, sich im Goldenen Vlies festzubeißen. Atlan hatte wenig Mühe mit ihr. Kolphyr stieß einen schrillen Laut aus.
Die Todeskarawane Atlan und Razamon fuhren herum. Der Arkonide glaubte, daß ihm das Blut in den Adern erstarren würde. Zwei der Piraten waren bewußtlos. Der dritte hatte gar nicht erst versucht, es mit Razamon, Atlan oder Kolphyr aufzunehmen. Der Brangel hatte mit einer Hand Thalia an der schlaff von ihrem Gürtel herabhän genden Rüstung und mit der anderen den Hals der letzten Schlange gepackt. Der Kopf des Reptils befand sich kaum mehr als zwei Zentimeter unterhalb von Thalias Kinn. »Er benutzt sie als Geisel«, fluchte Raza mon. »Komm her, Kolphyr!« Der Bera, der Anstalten gemacht hatte, sich auf den Piraten zu stürzen, gehorchte widerwillig, während der Brangel die Odins tochter mit einer Kraft, die ihm niemand zu getraut hätte, zum Ausgang des Zeltes schleifte. Atlan suchte fieberhaft nach einem Aus weg. »Sobald sich einer von uns bewegt, wird sie tot sein«, knurrte der Arkonide. »Er auch, das verspreche ich dir, und all seine Komplizen!« »Davon haben wir nichts, Razamon. Wir …« Atlan bemerkte die Bewegung am Ein gang. Das Tuch wurde langsam zurückgezo gen, und die Spitze eines Pfeiles ragte in das Zelt. Sie zielte genau auf den Piraten, der sich, rückwärts gehend, darauf zu bewegte. Sekunden später steckte das Geschoß in seinem Rücken. Der Brangel ließ Thalia los und fuhr herum. Atlan zögerte nicht länger. Mit einem gewaltigen Satz war er bei der Frau und zerrte sie schnell zur Seite aus der Gefahrenzone. Als er sich umdrehte, lag der Pirat bereits am Boden. Razamon stand breitbeinig über ihm und machte der Schlange den Garaus. Ein Körper schob sich durch den Eingang. Razamon war sofort bei ihm und stützte ihn. »Kryanur«, flüsterte Atlan. »Dann sind sie doch nicht alle tot.« »Ich fürchte doch«, meinte der Atlanter. »Sieh dir seine Wunde an. Er muß Über
47 menschliches geleistet haben, um noch hier her zu gelangen.« »Laß ihn«, bat Atlan, ohne Thalia loszu lassen, die sich an ihm festklammerte und leise schluchzte. Razamon legte den Brangel vorsichtig auf den Boden. Atlan hatte das Gefühl, daß die Organwülste Kryanurs sich auf ihn richteten. Der Schein des flackernden Feuers warf ein gespenstisches Licht auf die schwarzen Auf sätze am Kopf des Eingeborenen. Kryanurs Finger krampften sich zusam men. Atlan empfand unendliches Mitleid mit dem Sterbenden, als Kryanur mit bebenden Gliedern versuchte, Schmatzlaute hervorzu bringen. Nur vereinzelte Begriffsfetzen – und doch hatte der Arkonide das Gefühl, alles zu ver stehen, was Kryanur ihm mitteilen wollte. Ganze Welten taten sich vor ihm auf, der Schmerz eines Wesens, das nicht verstehen konnte, was mit ihm und seinen Gefährten geschehen war, und immer wieder die Auf forderung, für das, was mit den Brangeln ge schehen war, Rache zu nehmen. Dann schwieg Kryanur. »Er ist tot«, stellte Razamon mit belegter Stimme fest. Atlan nickte schweigend. Er bemühte sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu brin gen. Vor dem Zelt waren Schmatzlaute zu hö ren. Offenbar hatte der Lärm die Piraten alarmiert. »Du kommst mit mir, Razamon«, sagte Atlan. »Kolphyr, traust du dir zu, so lange auf Thalia aufzupassen, bis wir zurück sind? Ihr darf nichts geschehen, verstehst du?« »Kolphyr versteht«, versicherte das Anti materiewesen. »Ruhig geht, Kolphyr passen auf.« »Nun fängt das Kauderwelsch schon wie der an«, stöhnte Razamon. »Also passen auf und nicht mit Thalia schmusen, sonst Atlan sehr böse.« »Mir ist nicht nach dummen Scherzen zu mute«, brummte der Arkonide. »Also komm schon.«
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* Sämtliche in den letzten Stunden aufge staute Wut entlud sich, als Atlan und Raza mon sich einen Weg durch die Piratenscha ren bahnten, die überall aus ihren Zelten ka men. Gott sei Dank waren die meisten be rauscht und nicht in der Lage, mit ihren Waffen gut genug umzugehen, um die bei den Männer ernsthaft zu gefährden. »Zu den Spyten!« rief Atlan. »Allmählich begreife ich, was du vor hast«, schrie Razamon, um das aufgeregte Schmatzen der Brangeln zu übertönen. »Das ist heller Wahnsinn!« »Das werden wir sehen, oder hast du eine bessere Idee?« Razamon schwieg und teilte nach allen Seiten Fausthiebe aus. Ein Pirat nach dem anderen sank zu Boden. Endlich ließen die anderen von den vermeintlichen Flüchtlin gen ab und suchten das Weite. »Die wären wir vorläufig los«, brummte Razamon. »Und nun?« »Wir kennen die Hörnerschnitzereien der Karawane Jarsys«, erklärte Atlan. »Wir brauchen also nur die richtige Herde zu fin den. Wahrscheinlich haben die Piraten die gestohlenen Tiere in eine separate Umzäu nung getrieben.« »So einfach ist das«, meinte der Atlanter sarkastisch. »Wir brauchen uns nur vier Spyten auszusuchen und ihnen gut zuzure den, damit sie uns von hier wegbringen.« Atlan gab keine Antwort. Nach einer halben Stunde hatten sie die geraubte Herde gefunden. Die Piraten hatten keine Wachen aufgestellt. Atlan stieg auf den Zaun und produzierte die Schmatzlaute, die er von Kryanur gelernt hatte, als sie die Herde über die Hügel trie ben. Nach einigem Zögern machte Razamon es ihm nach. Als sie kaum noch an einen Erfolg glau ben wollten, bildete sich in der Mauer der riesigen Leiber eine Gasse, und Kerall, einer der vier Leitbullen, erschien am Zaun. Mi-
nuten später zeigten sich die drei übrigen Bullen: Mierjot, Dognar und Kossys. »Wie willst du verhindern, daß die Herde ihnen folgt, wenn wir sie besteigen?« wollte Razamon wissen. »Sie wird ausbrechen.« »Wer sagt dir, daß ich das verhindern will?« fragte Atlan mit finsterer Miene. »Komm zu dir«, zischte Razamon. »Dein Haß macht dich blind. Wem ist damit ge dient, daß noch mehr dieser armen Burschen ihr Leben lassen müssen? Sie sind Verbre cher, aber das gibt uns nicht das Recht, ihre Richter zu spielen.« »Sie hätten eine Lektion verdient«, preßte Atlan hervor. »Gedient wäre all den Kara wanen, die irgendwann einmal in die Hände dieser Banditen fallen werden. Aber keine Sorge, die Herde wird uns bis hinaus in die Ebene folgen. Irgendwann wird eine Kara wane sie aufnehmen, wenn die Piraten sie nicht vorher wieder einfangen.« »Hoffen wir's. Wir müssen uns um Kol phyr und Thalia kümmern.« Die beiden Männer marschierten auf das Zeltlager der Piratenkarawane zu. Zu ihrer Überraschung trafen sie keinen Brangel mehr an. Dafür kam Kolphyr ihnen mit Tha lia auf halbem Weg entgegen. »Sie sind alle geflohen, als Kolphyr ihnen gezeigt hat, wer hier Herr ist«, schrillte die Stimme des Beras. »Ich habe gesagt, wer Chef ist und was Kolphyr mit ihnen macht, wenn sie nicht brav sind. Als sie nicht hör ten, hat Kolphyr anders mit ihnen gespro chen.« Der Bera machte eine bezeichnende Handbewegung. »Sie werden wiederkommen«, prophezei te Atlan. »Also los, kommt mit uns. Noch einmal dürften wir nicht soviel Glück haben, sie sind gewarnt.«
* Es war immer noch Nacht, als Atlan, Raz amon, Thalia und Kolphyr die Hügel er reichten. Die vier Leitbullen waren ohne Unterbrechung nach Westen gerannt. Wie
Die Todeskarawane
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erwartet, war die Herde ausgebrochen, hatte sich aber schon bald in der Fläche verloren. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die Piraten die Tiere einfangen. Atlan, Razamon und Kolphyr ritten ne beneinander, Atlan auf Kerall, Razamon auf Dognar und der Bera auf Mierjot. »Na schön«, rief Razamon, als die Spyten im mittlerweile erreichten unwegsamen Ge biet gezwungen waren, langsamer zu laufen, »wir sind den Piraten entkommen und wie der unter uns, noch dazu beritten. Aber was nun? Ich habe wenig Lust, eine Weltreise auf dem Rücken der Bullen zu unterneh men.« »Wir können keine großen Ansprüche stellen«, gab Atlan zurück. »Noch haben wir keinen Anhaltspunkt. Vielleicht gelingt es uns bei Tagesanbruch, uns zu orientieren. Vielleicht finden wir weitere Spuren der Raumfahrer, die auf Loors landeten. Die Brangeln können uns nicht weiterhelfen.« »Mir wäre lieber, wenn wir so bald wie möglich nach Pthor zurückfinden würden. Im Augenblick sehne ich mich fast nach den Gesichtern unserer lieben Odinssprößlinge.« »Pthor ist gestrandet, und es ist mehr als fraglich, ob wir den Dimensionsfahrstuhl aus eigener Kraft wieder starten können«, gab Atlan zurück. »Wir befinden uns auf ei ner Welt einer unbekannten Galaxis, in der es zumindest eine raumfahrende Rasse gibt. Vielleicht können uns die Unbekannten so gar bei unseren Problemen helfen.« Razamons Blick sagte alles. Nach dem wenigen, was die Freunde bisher über die Raumfahrer erfahren hatten, hatten sie eher mit Schwierigkeiten als mit Hilfe zu rech nen. Außerdem war es mehr als fraglich, ob sie in der Lage waren, die komplizierte Technik des Dimensionsfahrstuhls zu be greifen. Möglicherweise waren nur die Magier in
der Großen Barriere von Oth in der Lage, Pthor wieder »flottzumachen«, aber die Ma gier standen den neuen Herrschern – zumin dest im Augenblick – nicht zur Verfügung. »Du wirst lachen, Atlan«, rief Razamon unvermittelt, »aber ich frage mich, was nun auf der Erde vorgeht. Einige tausend Jahre lassen sich nicht einfach aus dem Gedächt nis streichen. Vielleicht geht es mir ähnlich wie dir, und ich habe mich zu sehr an diese ›Barbaren‹ gewöhnt.« Als der Arkonide keine Antwort gab, drehte Razamon sich herum. Er sah in Kol phyrs breites Gesicht. »Wo ist er?« fragte Razamon. »Nicht umdrehen«, piepste der Bera. »Atlan probiert sprechen mit Brangeln. Hörst das Schmatzen?« Razamon mußte plötzlich grinsen. »Auch Unsterbliche sind nur Menschen«, lachte er. »Und solange es nur ein Kuß auf die Wange ist …« »Kuß?« fragte Kolphyr. »Was ist das, Kuß?« »Das brauchst du nicht zu wissen, sonst kommst du Schmuser nur auf seltsame Ide en.« »Schmusen!« schrillte Kolphyrs Stimme. »Das ist gut! Kolphyr hat lange nicht mehr schmusen können.« »Oh nein!« stöhnte der Atlanter und schlug Dognar gegen die Hörner, so daß der Bulle einen weiten Satz nach vorne machte. »Was ist nun wieder?« wunderte sich der enttäuschte Bera. »Hat Kolphyr wieder schlecht gesprochen? Razamon ist komi scher Mensch, das muß Kolphyr schon sa gen!«
E N D E
ENDE