Die Totengöttin von Christian Schwarz
Die dunkle Gestalt warf einen kurzen Blick auf die umliegenden Berge. Der giftgr...
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Die Totengöttin von Christian Schwarz
Die dunkle Gestalt warf einen kurzen Blick auf die umliegenden Berge. Der giftgrüne Schein, der über den Himmel kroch und nur auf den ersten Blick an ein aufziehendes Unwetter erinnerte, schälte die Konturen der schroffen Riesen aus der Nacht und ließ sogar das Licht des Mondes ein wenig verblassen. Es handelte sich um eine Frau, die den kleinen Friedhof an der Kirchenmauer erst vor wenigen Augenblicken betreten hatte. Sie kniete mit einem leisen Kichern vor einem bestimmten Grab nieder. Mit ihren Fingern wob sie Linien, Kreise, Dreiecke und andere seltsame Zeichen in die Luft. Wie hingezaubert erschienen sie parallel dazu in der lockeren Erde des Grabs. »Die Zeit der wandelnden Toten beginnt nun …« Kein Mensch hörte das leise, böse Flüstern.
Die unheimliche Besucherin ging äußerst sorgfältig vor und murmelte unablässig Zaubersprüche. Dabei wurde es immer kälter. Eine Aura baute sich auf, die einen einfachen Menschen, wäre er gerade in der Nähe gewesen, vor Angst hätte wimmern lassen. Die gemalten Zeichen vereinigten sich schließlich zu einem Bild, das einem liegenden Toten glich. Die Gestalt schloss die letzte Linie. Im gleichen Moment begann das Grab von innen in einem höllischen Rot zu glühen. Das unheimliche Leuchten durchdrang den Boden und gab dessen Geheimnisse frei. Nicht allzu tief unter der Kruste wurde ein menschlicher Körper sichtbar. In einem prunkvollen Sarg ruhte er in der Erde. Eine Frau, die nicht verwest war und so aussah, als wäre sie erst heute Morgen zur letzten Ruhe gebettet worden. Aber das war sie nicht. Um den Hals trug sie noch den Strick, mit dem sie einst erstickt worden war. Das interessierte die Unheimliche allerdings weniger als das, was sie im Mund der Toten erblickte. Zufrieden leuchteten ihre Augen. Tatsächlich das richtige Grab! Die Frau fasste durch den durchsichtig gewordenen Boden in den Sarg. Und holte den Gegenstand aus dem Mund der Toten. Sofort ging ein Zittern durch deren Körper, während erste Blitze durch das grünliche Leuchten am Himmel zuckten. Lautlos, gespenstisch … Die Beschwörerin zog den Gegenstand aus der Erde. Schlagartig erlosch das rote Glühen. Das Grab lag so dunkel da wie zuvor. Einen Moment lang herrschte auch hier Totenstille – in einem Sinn, wie er wahrer nicht sein konnte. Ein leises Geräusch drang in diese Stille. Es hörte sich an wie das Rieseln von Erde. Der Boden auf der Oberfläche des Grabes bewegte sich! Etwas drückte von unten. Es sah aus, als wolle sich eine Wühl-
maus an die Erdoberfläche graben. Dabei wusste die Unheimliche, dass sich eine Wühlmaus momentan nicht einmal auf einen Kilometer an dieses unheimliche Stück Erde herangetraut hätte. Eine Hand durchschlug den Boden und reckte sich in den Nachthimmel. Die Beschwörerin konnte sie deutlich sehen. Die Finger bewegten sich in einem ungelenken Rhythmus, schienen sich erst wieder vorsichtig in eine Welt tasten zu wollen, in der sie schon längst nichts mehr zu suchen hatten. Die Frau, die das angerichtet hatte, stöhnte vor Begeisterung. Das Gelenk schob sich nach, der Unterarm. Gleichzeitig durchschlug die zweite Hand die Oberfläche. Erdkrumen rieselten von den Fingern, die eindeutig nach Halt suchten. Die Beschwörerin beugte sich nach vorne und legte ihre Hände in die eiskalten, klebrigen der Erwachten. Sofort griff sie zu, umklammerte die warmen Glieder, in denen das Leben strömte. »Los, komm schon«, flüsterte die Frau, während sie an den Händen zu zerren begann. Die Erweckte schien nur auf diese kleine Hilfe gewartet zu haben. Plötzlich durchschlugen Kopf und Schultern die Erde. Schräg nach vorne geneigt hing die Frau im Griff ihrer Herrin. Ihre beiden Gesichter berührten sich fast. Ein paar Maden fielen von den Schultern der Erweckten, ein Käfer huschte in den Ausschnitt des hellgrünen Sommerkleids, das sie noch immer trug. Die Beschwörerin roch die frische Erde. Sie starrte in weit aufgerissene Augen, in denen nur das Weiße zu sehen war und die durch den Erstickungstod verzerrten Gesichtszüge. Der Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch. Mit unbändiger Kraft löste die Erweckte ihre Hände aus denen der Beschwörerin. Dann fetzte sie sich den Strick vom Hals. Schließlich stemmte sie sich mit beiden Händen auf die wunderschöne schmiedeeiserne Grabumrandung und zog sich hoch. Dass sie die Eisenspitzen dabei durch ihre Hände bohrten, interessierte sie nicht. Stück für Stück arbeitete sie sich aus der Erde.
Die Unheimliche, die aufgestanden und ein Stück zurückgetreten war, beobachtete die Bemühungen der Untoten fasziniert. »Ja, komm, Baby, nur noch eine Kleinigkeit«, murmelte sie. Zwei Minuten später stand die Wiedergängerin vor dem Grab. Ein paar ungelenke Schritte brachten sie in Richtung Kirchenwand. »Halt«, befahl die Beschwörerin. Die Untote dachte nicht daran, dem Befehl Folge zu leisten und ging weiter. »Halt sofort an. Du bist meine Sklavin und wirst mir gehorchen.« Ein Fauchen löste sich aus dem Mund des Zombies. Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort. Zorn funkelte in den Augen der Beschwörerin. Sie richtete ihre Finger auf die Wiedergängerin. Ein greller Blitz löste sich aus den Spitzen und schlug in den Rücken der wandelnden Toten. Im nächsten Moment stand sie in grellen blauen Flammen …
* 3483 v. Chr. Ötztaler Alpen Ki-Ri verharrte, als er die Baumgrenze erreichte. Er schaute kurz zurück ins Tal und dann das steile Eisfeld hoch, das sich vor ihm erstreckte. Er kniff die Augen zusammen, denn der strahlend weiße Schnee blendete ihn. Die Gelbe Göttin am wolkenlosen blauen Himmel war früher als sonst aus ihrem Winterschlaf erwacht und sandte den Menschen nun ihr Licht und ihre Wärme. Teile des Schnees waren bereits geschmolzen und ließen weite Flächen aus Felsen, Geröll und niedrigen Pflanzen sehen. Der Mann mit der lederartigen, dunkelbraunen Haut kicherte leise, während er sich die langen, strähnigen Haare aus dem Gesicht strich. Früher, da hatte er nach den langen, dunklen Tagen das Erscheinen der Gelben Göttin herbeigesehnt, hatte ihre Gaben in sich
aufgesogen und ihr dankbar Opfer dargebracht. Heute verachtete er sie, denn nun stand er im Dienst einer anderen Göttin. Der Schamane vom Volk der Tii strich kurz über die blaue Blume, die an seiner linken Halsseite prangte. Das Geschenk der Totengöttin mochte für Uneingeweihte wie eine der zahlreichen heiligen Tätowierungen wirken, die er an Lenden, Knien und Knöcheln trug, aber er wusste es besser. Für jede Tätowierung hatte er die Schmerzen unzähliger kleiner Einstiche in die Haut mit spitzen Nadeln aus Steinbockknochen erdulden müssen und dann noch einmal, als der alte Tuu die Asche des heiligen, niemals erlöschenden Feuers in die noch frischen Wunden geschmiert hatte. Die blaue Blume hatte sich dagegen ganz ohne Schmerz mit ihm verbunden, als er sie auf Befehl der neuen Herrin an seinen Hals gedrückt hatte. Seitdem diente er der Totengöttin, die durch die blaue Blume zu ihm sprach. Und seine Macht wuchs unaufhörlich … Ki-Ri kicherte erneut. Er öffnete seinen Mantel aus Schaffell, den seine Gefährtin abwechselnd aus längs geführten weißen und schwarzen Fellstreifen zusammengenäht hatte, denn ihm war warm. Dann fasste er den Bogen fester und stapfte weiter den Hang hinauf durch den bereits weichen Schnee. Irgendwo in diesem weiten Land, vielleicht in den unzugänglichen Tälern, die einst die schwarzen Titanen mit ihren Beilen in die ewigen Berge gehackt hatten, würde er der Totengöttin persönlich begegnen. In ein, zwei Tagen vielleicht. Genau wusste er es nicht, denn er vermochte nicht zu sagen, wo genau sie ihn empfangen würde. Er wusste nur, dass sie ihn aufforderte, zu ihr zu kommen. Das immerhin verstand er, auch wenn er noch nicht jedes Bild und jeden Befehl begriff, den sie ihm übermittelte. Zu stark waren die Visionen, in die sie ihre Anweisungen packte. Visionen von Toten, die die Ausgänge der Ewigen Höhlen sprengten, über die Erde wandelten und die Lebenden fraßen. Wunderbare, erhebende Visionen. Ki-Ri begriff nicht, dass er derartige Dinge, die zu den normalsten der Welt gehörten, bis vor Kur-
zem abgrundtief gefürchtet hatte. Immer drängender waren die Aufforderungen der Totengöttin geworden, bis er ihr schließlich nachgegeben und die Tii verlassen hatte. Die meisten seiner Stammesgenossen waren froh darüber gewesen, denn Ki-Ri war ihnen unheimlich geworden, seit er im Auftrag seiner neuen Herrin durch die Nacht schlich, die doch eigentlich den schrecklichen Dämonen und Schwarzmagiern gehörte. Noch so ein Irrtum, dem er als Eingeweihter nie wieder aufsitzen würde. Die Nacht ist das wahre Leben. Wahrscheinlich aber würden mich meine Stammesbrüder auf der Stelle töten, wenn sie wüssten, was ich wirklich in der Nacht mache. Zumindest würden sie es versuchen … Ein tückisches Grinsen erschien auf dem Gesicht des Schamanen, während er mit den stark abgenutzten Zähnen knirschte und sich im brustlangen, verfilzten Vollbart kratzte. Die Totengöttin stattete ihn mit derart starken magischen Kräften aus, dass es keinem Menschen mehr möglich war, ihn zu töten. Nicht einmal der fremde Magier, der sehr stark war und ihm mit einer magischen Keule den Schädel zertrümmert hatte, hatte das geschafft. Leider verstehe ich diese wunderbaren Kräfte noch immer nicht vollkommen einzusetzen, so wie ich die Göttin nicht vollkommen verstehe. Vielleicht holt sie mich deswegen zu sich in ihre Nähe. Vielleicht verstehe ich sie erst dann genau, wenn ich sie von Angesicht zu Angesicht erblickt habe! Unverdrossen stapfte Ki-Ri weiter über die Schneehänge. Er wusste einfach, wo er hin musste, denn die Totengöttin selbst lenkte seine Schritte. Er freute sich auf die Begegnung mit ihr, gleichzeitig hatte er Furcht davor. Was, wenn sie ihn zu sich holte, um ihn zu bestrafen? Weil er versagt hatte! Aber hatte er wirklich versagt? Die Bilder seines nächtlichen Tuns stiegen vor seinem inneren Auge auf. Ki-Ri ging zu den Ewigen Höhlen, verschaffte sich Zugang und beschwor die Toten in den
Felsnischen. Die Kraft der Göttin durchpulste ihn dabei machtvoll und so war es ihm gelungen, eine Handvoll von ihnen aus dem ewigen Schlaf zu erwecken. Zwei Speerwürfe weit waren sie ihm gefolgt, staksend und wankend wie neugeborene Lämmer, bevor sie zusammengebrochen und liegen geblieben waren. Er hatte es nicht mehr vermocht, sie durch die Kräfte der Göttin erneut auf die Beine zu bringen, denn er war selbst erschöpft zusammengesunken. War das also Versagen? Nein. Allerdings wusste kein Lebender, wie Götter dachten und fühlten, und Göttinnen schon zwei Mal nicht. Immerhin war er sich sicher, dass er den Spaziergang der Toten mit jeder Übung besser hinbekommen würde. Ich werde es ihr sagen. Ki-Ri ging über ein breites Geröllfeld auf eine Gruppe einzeln stehender Birken zu. Abrupt blieb er stehen. Auf einer Hügelkuppe schräg vor ihm waren vier Gestalten aufgetaucht. Männer. Er sah sie als Schattenrisse vor der Gelben Göttin, die hinter ihnen am Himmel hing. Kajaaj! Das Volk der Menschenfresser lebte hier oben und er war längst in ihr Gebiet eingedrungen. Das duldeten die Kajaaj nicht und bestraften die Eindringlinge in der Regel mit Zerteilen bei lebendigem Leibe. Bis vor Kurzem hätte er sich nicht auf ihr Stammesgebiet getraut. Nun aber hatte er keine Angst vor ihnen. Die Totengöttin wird mich beschützen. Oder will sie mich dadurch bestrafen, dass sie sich im Angesicht der Kajaaj von mir abwendet und mich so meinem Schicksal überlässt? Für einen Moment wurde Ki-Ri unsicher. Er fühlte Angst in sich hochsteigen. Doch im selben Moment begann sein Schädel zu pochen. Wellen der Macht gingen von der blauen Blume aus und ließen ihn spüren, dass die Göttin mit ihm war und ihn unterstützte. Gelassen setzte er seine Rückentrage ab und stellte sie neben sich. Die Kajaaj-Menschenjäger hielten sich nicht lange mit Reden auf.
Sie schienen dieses Mal auch nicht auf lebende Beute aus zu sein. Zwei von ihnen legten ihre Bogen an. Die Pfeile lösten sich von den Sehnen und zischten auf den Schamanen zu. Er versuchte erst gar nicht, ihnen auszuweichen. Es knirschte hässlich, als sie seinen Schaffellmantel durchschlugen und in Brust und Bauch stecken blieben. Ki-Ri fühlte keinerlei Schmerz. Das tat er nicht mehr, seit die Kraft der Göttin in ihm war. Um seine Gegner zu täuschen, ließ er sich auf die Knie fallen und sank dann seitlich auf eine kleine Schneefläche. Verkrümmt blieb er liegen und lauschte dem Triumphgeheul der Kajaaj. Er sah sie vorsichtig näher kommen. Drei von ihnen trugen schlagbereit umwickelte Kupferbeile in den Händen, der Vierte war Herr über ein großes Messer, dessen Feuersteinklinge sicher sehr scharf war. Jeder wusste, wie scharf Kajaaj-Messer waren. Sie konnten mühelos Oberschenkel durchtrennen, mitsamt den Knochen. Ki-Ri ließ sie herankommen. Als die Jäger, die in Ziegenfelle und Menschenhäute gekleidet waren, nur noch einige Schritte vor ihm standen, sprang der Schamane hoch. Er tat es trotz des pfeilgefüllten Köchers elegant und geschmeidig. Seit die Kräfte der Göttin in ihm waren, fühlte er die Schmerzen im Rücken und in den Gelenken nicht mehr und auch nicht die in den Zähnen. Selbst der fast unerträgliche Druck, der sich gelegentlich in seiner rechten Seite ausbreitete, kam nicht mehr zurück. Und auch die Flöhe ließen seine Haut nicht mehr jucken. Die Kajaaj prallten zurück. Ki-Ri starrte in furchterregende Gesichter, die mit Asche geschwärzt waren. Die Kajaaj hatten Menschenknochen durch ihre Wangen und ihre Stirnhäute getrieben, zwei von ihnen auch durch die Nase. Der Größte von ihnen trug einen Gürtel, an dem rundum Schrumpfköpfe mit weit aufgerissenen Mündern baumelten. Trotz dieses martialischen Aussehens wirkten die fremden Jäger nun verunsichert. Zumal Ki-Ri höhnisch lachte und sich die Pfeile aus dem Körper zog.
Die Verunsicherung der Kajaaj hielt jedoch nicht an. Sie schienen zu glauben, dass ihre Pfeile den eventuell verstärkten Mantel ihres Opfers einfach nicht durchschlagen hatten. In ihren Augen konnte Ki-Ri plötzlich seinen Tod lesen. Einen grausamen Tod durch langsames Gefressenwerden. Ihr täuscht euch. Es wird euer eigener sein. Mit erhobenen Beilen drangen die Jäger auf den Schamanen ein. Ki-Ri hob beide Arme und streckte ihnen die Handflächen entgegen. Um drei der Kajaaj entstand ein bläuliches Leuchten, das sie wie eine Kugel umhüllte. Für einen Moment sah der Schamane die Schattenrisse ihrer Knochen, denn das bläuliche Licht durchdrang sie vollkommen. Aus der Bewegung heraus wurden sie zu Asche, die sanft zu Boden rieselte. Der vierte Jäger jedoch erreichte Ki-Ri. Er brüllte, als er den Schamanen umarmte, an sich presste und zu Boden rang. Seine Hände mit den langen Fingernägeln drangen unter den Mantel seines Opfers und krallten sich in dessen nacktem Rücken fest. Ki-Ri, mit 46 Wintern schon ein alter Mann, konnte nicht dagegen halten. Zumindest mit seinen Körperkräften nicht. Aber mit der Macht der Göttin! Er schob seinen Zeigefinger unter den Bart des unglaublich stinkenden Kajaaj, der ihm durch Zusammenpressen des Brustkorbs die Luft abzudrücken drohte. Als der Zeigefinger am Hals lag, stellte sich Ki-Ri vor, wie sein Finger immer länger wurde, den Hals des Jägers wie eine Tiersehne umschlang und sich schlagartig zuzog. Der Kajaaj begann plötzlich zu gurgeln, zu strampeln und zuckend um sich zu schlagen. Verzweifelt versuchte er von Ki-Ri wegzukommen, während seine Augen immer weiter aus den Höhlen traten. Die Fingernägel des Jägers kratzten Ki-Ris Rücken auf, aber der Schamane verspürte auch jetzt nicht den geringsten Schmerz. Nur Triumph und das irre Pulsieren der blauen Blume, die durch den Tod des Jägers in Ekstase zu geraten schien.
Der Körper des Kajaaj erschlaffte. Ki-Ri stieß einen Siegesschrei aus, der als tausendfaches Echo von den stillen Bergwänden widerhallte und wälzte den Toten von sich. Dann erhob er sich und dankte der Totengöttin mit gegen die Gipfel gereckten Armen. Und er war zufrieden, dass er die Kräfte, die sie ihm verlieh, immer genauer und zielgerichteter einsetzen konnte. Ki-Ri ließ den Toten liegen, nahm seine Sachen und ging weiter in Täler hinunter und wieder hinauf in die Höhe, selbst dorthin, wo schon keine Bäume mehr wuchsen, bevor er dann doch wieder in die Täler abstieg. Den ganzen Tag und die halbe Nacht war er unterwegs. Erst dann legte er eine Rast in einer kleinen Höhle ein, streckte sich auf der mitgeführten Liege aus getrocknetem Pfeifengras aus und schlief erschöpft ein. Unerschöpflich waren die Kräfte, die die Göttin ihm verlieh, nämlich nicht. Am nächsten Morgen weckten ihn Traumbilder von wiedererstandenen Toten, die die Hänge hinunter wankten und die Dörfer der Lebenden überfielen. Mit einem leisen Schrei schrak er hoch. Sein ganzer Körper war schweißbedeckt. Der Ruf der Göttin! Ki-Ri sprach ein kurzes Gebet zu ihr. Dann rieb er seinen Körper mit Schnee ab und zog gestärkt weiter, auch wenn ihn so langsam der Hunger übermannte. In den späten Vormittagsstunden stieß er in einem kleinen Waldgebiet auf eine Herde Steinböcke, die über die schroffen Felsen zogen. Der Schamane hielt im Schutz eines Felsüberhanges an, setzte seine Rückentrage ab und nahm den kräftigsten Steinbock ins Visier. Gleich darauf umhüllte eine bläuliche Kugel das Tier. Es schrie kläglich auf und brach zusammen, während der Rest der Herde erschrocken das Weite suchte. Ki-Ri war zufrieden, als er an den Kadaver des Steinbocks herantrat. Beim letzten hatte diese Art des Tötens nicht geklappt. Als er das so erlegte Tier suchte, war es verschwunden gewesen. Der Schamane trug Äste und Holzstücke zusammen und schichtete sie zu einem Haufen auf, nachdem er sich versichert hatte, dass
ihn die Göttin nicht weiter drängte. Dann nahm er einen der zwei Glutbehälter, die er stets mit sich trug, aus der Rückentrage. Vorsichtig öffnete er das Gefäß aus Birkenrinde und nahm die frisch gepflückten Blätter des Spitzahorns heraus. Noch glühende Holzkohlestücke, die er mit brennbaren Pflanzen vermischt hatte, kamen zum Vorschein. Er schüttete die Holzkohle unter die Äste und legte Zunderschwamm und Schwefelkies darüber, die er aus seiner Gürteltasche entnahm. Gleich darauf brannte ein munteres Feuer, über dem er Teile des Steinbocks briet. Ki-Ri aß das Fleisch zusammen mit getrockneten Äpfeln und Brot, die er mit sich führte, und stieg danach gesättigt in die Eisfelder hinauf. Der Ruf der Göttin war wieder drängender geworden. Auf seinem Weg glaubte er zwei, drei Mal den Schatten eines Mannes zu sehen, der ihn verfolgte. Es war ihm egal. Er musste auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen. Dass er sich nicht getäuscht hatte, wurde Ki-Ri in den nächsten Minuten bewusst. Als er auf einem links und rechts steil abfallenden Grad ging, trat ein großer, finsterer Mann aus dem Schutz eines Felsens und verstellte ihm den Weg. Der fremde Magier! Er hatte also noch immer nicht aufgegeben. Ki-Ri musterte ihn von oben bis unten, während er seine Rückentrage abstellte. Niemand wusste, zu welchem Stamm der Magier gehörte, denn bis vor Kurzem hatte ihn noch nie jemand gesehen. Wahrscheinlich war er von weiter her gekommen. Dafür sprachen auch seine Statur und sein glattes Gesicht. Denn der Fremde war ein Hüne und hatte sich die Barthaare sorgfältig ausgezupft. Sehr unpraktisch, vor allem, wenn es beißend kalt wurde. Er hatte sich in Wolfsfelle gehüllt und trug einen Bogen. Im Köcher steckte, so weit es Ki-Ri sehen konnte, nur ein Pfeil. Glühende, tief schwarze Augen starrten ihn an. »Hast du noch immer nicht genug, Fremder?«, rief Ki-Ri mit seiner
kräftigen Stimme. »Lass mich meines Weges gehen, dann verschone ich dich. Du weißt, dass du mir nichts anhaben kannst. Solltest du mich trotzdem wieder angreifen, töte ich dich dieses Mal.« »Was du nicht sagst.« Der fremde Magier kicherte höhnisch. Für einen Moment erschienen grellrote rotierende Feuerräder in seinen Augen. Ki-Ri schrak zusammen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Seine Selbstsicherheit verschwand vollends, als sich der Körper seines Gegenübers plötzlich auszudehnen begann! Die Wolfsfelle rissen. Fetzen flogen nach allen Seiten weg, während sich die Gestalt verformte und auf das ungefähr Vierfache anwuchs. Ein riesiger Dämon mit schwarzer Haut, Hörnern und einem furchtbaren Gesicht, das ein wenig dem einer Ziege glich, stand vor ihm. Dampf fuhr aus seinen Nüstern, während die Feuerräder in seinen Augen auf die Größe von Kornmahlscheiben anwuchsen. »Na, was sagst du jetzt, Menschlein?« Ki-Ri folgte seinen Ur-Instinkten. Er warf sich herum und floh. Als ihm die Göttin Einhalt gebot, war es bereits zu spät. Der Pfeil schlug mit ungeheurer Wucht in sein linkes Schulterblatt und fällte ihn. Wellen des Schmerzes brandeten durch seinen Körper, während er stöhnend auf dem Boden lag. Wie…so empfinde ich plötzlich wieder … Schmerzen …? Neben sich sah er einen Schatten auftauchen. Auf dem Bauch liegend, die linke Hand unter dem Körper angewinkelt, hob er den Kopf. Der Dämon hatte wieder menschliche Gestalt angenommen, war dieses Mal aber nackt. Er schob dem Schamanen etwas in den Mund. Etwas Hartes, das Ki-Ri loszuwerden versuchte. Aber er schaffte es nicht. Schlagartig riss der Kontakt zu der blauen Blume ab. Da war plötzlich nichts mehr. »Wer … bist du?«, flüsterte Ki-Ri und fühlte bereits, wie der Tod nach ihm griff.
»Oh, ich heiße Asmodis«, gab der Fremde zurück. »Ich bin der Fürst der Finsternis, Herr der Hölle, aber damit kannst du sicher herzlich wenig anfangen, mein Lieber. Momentan zumindest. Wenn ich mir gleich deine Seele hole, wird dir allerdings schmerzhaft bewusst werden, wovon ich rede.« »Wie…so kannst du mich jetssss …« Die Stimme des Sterbenden war immer schwächer geworden und versagte schließlich ganz. »Warum ich dich jetzt doch töten kann, meinst du?« Asmodis kicherte. »Du erinnerst dich an den erlegten Steinbock, den du nicht mehr gefunden hast? Nun, das war ich. Du warst so freundlich, mir dadurch ein wenig deiner Magie zu überlassen, sodass ich sie analysieren und eine wirksame Gegenmagie entwickeln konnte.« »Ich …« Ki-Ris Augen brachen.
* Asmodis starrte einen Moment lang finster auf den Toten, während er dessen wimmernde Seele fing und verschlang. Er musste ein wenig ausruhen, denn der Gebrauch der Alten Kraft hatte ihn angestrengt. »Verzeih mir, Merlin, Bruder«, murmelte er. Der Zauberer von Avalon und er hatten sich einst geschworen, die Alte Kraft niemals anzuwenden, da jeder Einsatz zulasten des anderen ging und diesem ein wenig von seiner Lebenssubstanz raubte. Aber dieses Mal war es nicht anders möglich gewesen. Asmodis war bereit, eine mögliche Racheaktion Merlins klaglos hinzunehmen. Nachdem er sich erholt fühlte, woben seine Finger magische Muster in die kühle, klare Bergluft. Der Boden unter der Leiche begann bis in gut zehn Metern Tiefe zu flimmern. In dem Flimmern sanken Ki-Ris sterbliche Überreste hinab. Asmodis warf die Rückentrage hinterher. Als das Flimmern erlosch, lag die Leiche im Gletscher begraben. »So, das dürfte erstmal genügen«, murmelte Asmodis. »Du bist
mir einfach zu mächtig geworden, Jüngelchen. Das kann ich nicht dulden.« Dabei wusste der Fürst der Finsternis ganz genau, dass nicht Ki-Ri das eigentliche Problem war. Es gab hier eine magische Wesenheit, die sich die Totengöttin nannte und nicht der Schwarzen Familie angehörte. Die Totengöttin benutzte eine völlig fremdartige Magie, gegen die er anfänglich kein Mittel gefunden hatte. Er wusste nicht, wo sie herkam und wer sie war. Aber sie schien mächtig zu sein und so wollte er ihre Bestrebungen, auf der Erde Fuß zu fassen, gleich im Keim ersticken. Dieser Bereich des Multiversums gehörte den Schwefelklüften. Der Höllenadel duldete hier keine außerhöllische Konkurrenz. Asmodis war erfolgreich gewesen. Aber das Problem war noch nicht vom Tisch. Denn an die Totengöttin selbst kam er nicht heran. Möglicherweise saß sie in einem Zwischenreich, denn sie brauchte Menschen als Katalysatoren, um ihre Ziele auf der Erde, welche das auch immer sein mochten, durchzusetzen. Die Versklavung ihrer Diener geschah wohl durch diese seltsame blaue Blume, deren Struktur er nach wie vor nicht wirklich erfassen konnte und die sich auch nicht vom Hals des Toten hatte lösen lassen. Nun, so wichtig ist die Sache dann auch wieder nicht. Die akute Gefahr ist gebannt, sofern es denn tatsächlich eine geworden wäre. Ich werde das Ganze im Auge behalten und schauen, wie es sich weiter entwickelt. Sollte plötzlich wieder eine der blauen Blumen am Berg wachsen, werde ich der Situation angemessen handeln. Asmodis drehte sich drei Mal blitzschnell um seine Körperachse, stieß ein Schnauben aus und verschwand schwefelstinkend im Nichts.
* Château Montagne, Frankreich
Gegenwart Nicole Duval rekelte sich in einer Liege am Pool von Château Montagne. Die Sonne brannte heiß vom spätvormittäglichen fast wolkenlosen Hochsommerhimmel; ein fürwahr himmlischer Zustand, den sie nutzen wollte, um sich so viel wie möglich hüllenlose Bräune zu verschaffen. Die Attacke des brennenden Geiernasen-Mannes vor einigen Tagen hier im Château, ihrem ureigensten Refugium, hatte sie längst abgehakt. Sie verschwendete bestenfalls noch flüchtige Gedanken an diesen seltsamen Eric Thomson, der sich Dylan McMours Tattoo-Armreif unter den Nagel hatte reißen wollen und ihn irrtümlich bei Zamorra vermutet hatte. Thomson war beim finalen Showdown gestorben. Und Dylan, der ebenfalls aufgetaucht war, besaß nun neben seinem Tattooreif auch noch Thomsons Feuerreif, was ihn in nicht unbeträchtliche Aufregung versetzt hatte. Denn beide Artefakte schienen zusammenzugehören, jedenfalls hatte Dylan sich in diese Richtung geäußert. Möglicherweise war das auch der Grund, warum der Schotte so schnell wieder verschwunden wie er gekommen war. Butler William, der stets aufs Neue kühlende bunte Cocktails servierte, störte sich am Anblick einer nackten Nicole schon lange nicht mehr. Aber kalt ließ er ihn auch nicht. Sie amüsierte sich heimlich, wenn er die Drinks mit betont gleichgültigem Gesicht brachte, seine Blicke dabei aber nicht immer im Zaum halten konnte und sie immer wieder kurz über die Kurven der Schlossherrin gleiten ließ. Kein Problem. Sie genoss es durchaus, wenn Männer sie so betrachteten. Die Dämonenjägerin außer Betrieb, wie sie sich selbst nannte, wenn sie einmal einige Tage keinem Schwarzblütigen an den unheiligen Kragen musste, seufzte. Sie blätterte im Le Dauphiné Libéré, einer der großen Lyoner Zeitungen. Dabei blieb sie hauptsächlich an den Lifestyle-Seiten hängen, aber auch der groß aufgemachte Bericht über
einen Einbruch im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen interessierte sie. Noch unbekannte Einbrecher hatten es anscheinend auf die dort ausgestellte Mumie des Gletschermannes Ötzi und dessen Ausrüstungsgegenstände abgesehen gehabt. Laut Bericht waren sie zwar an den Sicherheitseinrichtungen gescheitert, hatten jedoch derart große Verwüstungen angerichtet, dass das Museum die kommenden zwei Wochen geschlossen werden musste. Was aber weit schlimmer war: Sie hatten dabei einen Menschen, der sie anscheinend auf frischer Tat ertappt hatte, ermordet. So war die umfangreiche Spurensicherung sicher der zweite Grund für die längere Schließung. Ts ts, wahrscheinlich sollten die Typen die gefriergetrocknete Mumie für irgendeinen privaten Sammler besorgen. Wie verrückt ist die Welt? Wer sich so einen hässlichen Vogel ins Wohnzimmer stellt, der kann doch nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen sein! Nicoles Grinsen wollte nicht so recht gelingen, als sie an den Toten dachte. Aber das Ganze war zu weit weg und zu abstrakt, um sie wirklich betroffen zu machen. Bozen an sich war da schon präsenter. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen. Zehn Jahre? Fünfzehn? Die Zeit verging so schnell. Aber Bolzano, wie es auf Italienisch hieß, die Hunderttausend-Einwohner-Stadt im Kessel des Eisacktals mit seinen bunten, mittelalterlichen Gebäuden in der Innenstadt und den engen Gässchen vor atemberaubender Alpenkulisse war ihr in lebhafter Erinnerung geblieben. Vielleicht auch wegen der ausgezeichneten Weine, denn Bozen gehörte zu den größten Weinbaugebieten Südtirols. Nicole lächelte versonnen vor sich hin. Weil William mit einem frisch gemixten Caipirinha daher kam, ließ sie die Zeitung neben den Liegestuhl sinken und widmete sich ganz dem eiskalten hochprozentigen Traum. Wie hat er es wirklich weggesteckt, dass Thomson ihm so übel mitgespielt hat? William zeigt nie, was er wirklich denkt. Sein wahres Innenleben ist nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Ob ich ihn mal telepa-
thisch sondieren sollte? Wäre sicher interessant. Nicole verbannte diesen Plan sofort wieder dorthin, wo er hingehörte, ins Off nämlich. Obwohl sie leicht telepathisch begabt war und Gedanken anderer Menschen lesen konnte, wenn sie Blickkontakt hatte, tat sie das nur im äußersten Notfall. Es wäre ihr niemals eingefallen, einfach so aus Spaß die Intimsphäre Anderer auszuspionieren. Wolken zogen auf und schoben sich vor die Sonne. Es wurde sogleich empfindlich kühl. Hier will ich nun nicht länger bleiben, deklamierte sie in Gedanken eine Zeile aus irgendeinem Klassiker, der ihr partout nicht mehr einfallen wollte, und lachte dabei in sich hinein. Nicole schlüpfte also in ihre engen Jeans, zog eine leichte Bluse mit einem nach dem Jugendschutzgesetz völlig inakzeptablen Ausschnitt über und ging in den Fitnessraum des Châteaus. Dort, so wusste, sie, plagte sich in diesen Momenten Professor Zamorra mit diversen Kampfsportübungen herum. Normalerweise quälte sie sich neben ihm ab, doch momentan war ihr einfach nicht danach. Der Meister des Übersinnlichen, nur mit einer knappen, blauen Sporthose bekleidet, übte gerade Kendo, die abgewandelte, moderne Art des ursprünglichen japanischen Schwertkampfes. Nicoles Kennerblick zufolge führte er aktuell die Kihon-waza durch, die Grundübungen. Mit schweißbedecktem Oberkörper wirbelte er das Übungsschwert aus vier Bambuslamellen, das Shinai, durch die Luft, holte weit aus und zog den Schlag bis in Kniehöhe eines imaginären Gegners. Ein lauter Schrei begleitete die präzise Aktion. Die Übungswaffe rief ein paar flüchtige Bilder in ihr Gedächtnis. Ganz kurz sah sich Nicole wieder in drei Metern Höhe vom Ast eines Baumes hängen. Über zwei sehr spitzen und scharfen Schwertern. Thomson hatte die Waffen den Château-eigenen Ritterrüstungen entnommen und mit den Spitzen nach oben in den Boden vor dem Nordturm eingegraben. Von schmalen Feuersträngen gefesselt,
die Thomsons Feuerreif produziert hatte, hatte Nicole dem Tod in die spitzen, scharfen Augen geblickt, jederzeit gewärtig, dass die Flammenstränge sich lösen und sie abstürzen lassen konnten. Das war schließlich auch passiert. Doch zuvor hatte es die Dämonenjägerin noch geschafft, mit dem Dhyarra-Kristall, dieser absoluten Wunderwaffe, die Schwertklingen nachgiebig wie Gummi zu machen. So war sie weich gefallen, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit dieser Aktion hatte Thomson Zamorra zur Herausgabe des Tattooreifs zwingen wollen. Nicole klatschte anerkennend. »Super gemacht, Chéri. Allerdings würde sich dein Kendo-Meister im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass du einfach die Rüstung weglässt. Ich dagegen finde diese Variante doch ziemlich anregend.« »Schweiß nicht, was soll es bedeuten«, gab Zamorra grinsend und kaum außer Atem zurück. Seine grauen Augen funkelten vergnügt. »War das eben so eine Art verkapptes, unmoralisches Angebot?« »Kannst du so sehen. Aber wenn du es annimmst, solltest du vorher noch kurz unter die Dusche hüpfen.« Zamorra stellte das Shinai an die Sprossenwand, an der bereits Merlins Stern baumelte, als sei das Amulett nichts als ein Schmuckstück. »Was hast du gegen Männerschweiß?« »Verschiedene Duschgels und Deodorants«, gab Nicole trocken zurück und löste damit einen Lachanfall bei ihrem Geliebten und Kampfgefährten aus. »Genug für heute«, entschied der Professor und grinste. »Ich fühle gerade ein dunkles Verlangen in mir hochsteigen, wenn ich dich so anschaue, weißt du das?« »Zumindest seh ich’s«, gab Nicole zurück. »Hm, wenn ich über die Dusche so nachdenke, könnte ich dich begleiten und mit dir unter die Strahlen hüpfen.« Zwei Minuten danach verschwanden sie endgültig in der Dusche. Später saßen sie, glücklich und entspannt bei weiteren hauptsäch-
lich auf Whisky basierenden Cocktails und Eiskaffee zusammen. William brachte nicht nur eine weitere Runde Drinks, sondern auch einen lieben Gast mit. Pascal Lafitte lächelte. »Hallo Leute. Das sieht so gut hier aus, da möchte ich mich doch glatt dazusetzen.« »Red nicht, tu’s einfach«, gab Zamorra zurück. »Und bestell beim Cateringservice Willi, wonach auch immer dir ist.« Er stand auf und drückte dem Ankömmling herzlich die Hand. »Freut mich, dich zu sehen. Ist schon eine ganze Weile her, dass wir das letzte Mal zusammen an einen Baum gepinkelt haben.« »Pfui«, kommentierte Nicole und zog ein Gesicht, als habe sie gerade in etwas extrem Saures gebissen. »He, Nicole, das tun wir tatsächlich hin und wieder«, gab Lafitte, dessen Alter sich irgendwo zwischen 45 und 50 bewegte, todernst zurück. »Das letzte Mal Baumpinkeln ist aber sicher schon ein Jahr oder so her.« »Männer. Pah. Bevor ihr beiden weitere Ferkeleien austauscht, muss ich dich darauf aufmerksam machen, mein lieber Pascal, dass sämtliche Zeitungen, die ein gewisser Monsieur Lafitte ins Château zu bringen gedenkt, umgehend konfisziert und durch ein von William zu beschaffendes Feuerzeug noch umgehender vernichtet werden.« »Hä?« »Stehst du heute auf der Leitung, mein Lieber, oder was? Zeitungen, die du hier anschleppst, bedeuten Arbeit für uns. Für den ollen Professor, das ist der da …« Sie zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Zamorra, »… und für seine liebreizende Sekretärin, Kampfgefährtin, Geliebte und Zusatzgedächtnis. Das bin ich.« Ihr Finger drehte sich und wies nun auf ihre Brust. »William, Feuer frei!« »Ist mir jetzt richtig peinlich«, sagte Pascal mit einer Spur echter Verlegenheit in der Stimme und legte die Zeitung auf den Beistelltisch.
»Muss es nicht. Setz dich erst mal. Und erzähl, wie’s dir so geht.« Ihr Gast lächelte und strich sich durch die schütter gewordenen Haare. »Eigentlich geht’s gut. Ich bin gerade mal nicht arbeitslos. André hat genug für mich zu tun. Und auch bei Charles komm ich immer mehr zum Zug. Er wird langsam alt, will aufhören und glaubt wieder mal, dass ich der Richtige wäre, um die Werkstatt zu übernehmen.« Mit André meinte er Zamorras größten Weinbergpächter Goadec, mit Charles den Schmied des kleinen Dorfes unterhalb des Châteaus, der auch Autos reparierte, worin auch Pascal Lafitte großes Geschick bewies. »Und?« »Mal sehen, vielleicht mache ich’s ja tatsächlich. Joaquin und Yvonne sind jetzt schon länger aus dem Haus. Ging so schnell, dass die lieben Kleinen flügge geworden sind und nun stehen sie bereits im Berufsleben ihren Mann beziehungsweise Frau. O Mann, manchmal will mir das noch gar nicht so richtig in den Kopf. Meine kleine Yvonne hat die Krankenpflegeschule in Lyon erfolgreich absolviert, Jo studiert an der Sorbonne Wirtschaftswissenschaften.« Lafitte kicherte vor sich hin. »Wisst ihr, Mostache hat ihm bereits das Angebot gemacht, dass er ihn mit Handkuss als Wirtschaftsweisen einstellt und hinter der Theke beschäftigt, wenn er fertig studiert hat. Und dann hat Mostache doch tatsächlich allen Ernstes behauptet, Wirtschaftswissenschaften heiße nichts anders, als dass man nur in der Wirtschaft wisse, wie man schafft.« »Der gute Mostache.« Heute schien der Tag des großen Grinsens angesagt zu sein. Nicole tat es im Moment. »War wohl mal wieder selbst sein liebster Kunde.« Mostache, der Wirt, betrieb die einzige und daher beste Kneipe im Dorf. Sie hieß Zum Teufel und der Platz davor verwandelte sich bei Regen in eine riesige Pfütze, die so genannte Mostach’sche Seenplatte. Pascal winkte ab. »Der trinkt noch immer keinen Alkohol. Bei ihm
ist das eher eine Form von Altersstarrsinn mit einhergehender Verkalkung. Na ja, bis auf unsere zwei Ausnahmen werden auch wir nicht davon verschont.« Er blickte Zamorra und Nicole an. »Aber ich möchte trotzdem nicht mit euch tauschen«, fügte er schnell hinzu, als er deren irritierte Blicke bemerkte. »Äh ja, auf jeden Fall werde ich, ich meine, egal, was ich mache, ich werde auch weiterhin die Zeitungen und das Internet für euch nach irgendwelchen dämonischen Aktivitäten durchstöbern. Das mach ich nun schon so lange, das ist mir richtig ans Herz gewachsen. Wahrscheinlich sterbe ich irgendwann mal mit den berühmten letzten Worten: Zamorra, Nicole, fahrt nach Südtirol. Dort scheint ein Dämon sein Unwesen zu treiben.« »Red keinen Blödsinn«, verlangte der Parapsychologe. »Sagtest du Südtirol?«, fragte Nicole. »Seltsam, es ist noch keine zwei Stunden her, dass ich ebenfalls davon gelesen habe. Worum ging’s da noch mal? Ah ja, richtig, um den Einbruch ins Ötzi-Museum in Bozen und den Ermordeten. Das kann kein Zufall sein. Genau deswegen bist du hier. Also, schieß schon los.« Pascal nickte und genehmigte sich zwei große Schlucke Caipirinha. »Ah, tut das gut. Du bist zwar sonst ein richtiges Trüffelschwein, Nicole, aber dieses Mal liegst du falsch.« »Danke. Diese gesetzten Worte haben mir in der Galerie meiner sieben wichtigsten jemals erhaltenen Komplimente noch gefehlt.« »Du weißt schon, wie ich’s meine. In diesem Fall versagt dein Instinkt kläglich. Beide Sachen haben nichts miteinander zu tun.« Pascal nahm die Zeitung an sich und faltete sie auf. Einige Computerausdrucke lagerten darin. Zamorra erkannte das Logo des Internetauftritts einer Zeitung namens Dolomiten. »Wahrscheinlich Zufall, das mit dem Einbruch in Bozen«, nahm Pascal den Faden wieder auf. »Bei mir geht’s um was ganz Anderes. Um angebliche Grabschändungen in einem kleinen Ort namens Stilfs.«
»Stilfs? Wo ist denn das? Nie gehört«, sagte Zamorra. »Da siehst du mal, was es wert ist, wenn man sich in der Welt ein bisschen auskennt, Chéri«, erwiderte Nicole und grinste wölfisch. »Ich kenne das Stilfserjoch in Südtirol. Und in dieser Ecke muss logischerweise auch Stilfs sein.« »Exakt.« Pascal nickte. »Stilfs ist nicht allzu weit vom Reschenpass entfernt, aber rund 80 Kilometer von Bozen. Wollte ich nur nochmals gesagt haben.« »Du hast es gesagt. Was ist nun mit den Grabschändungen? Bei denen es sich wahrscheinlich um keine handelt«, fügte der Meister des Übersinnlichen hinzu. »Sehr scharfsinnig, Chéri. Sonst wäre Pascal schließlich nicht hier.« »Äh, ja, das müsst ihr entscheiden. Ich mache euch lediglich mit der Faktenlage vertraut. Also, ich habe hier im Internetauftritt der Dolomiten, der ältesten und meistgelesenen Südtiroler Tageszeitung in deutscher Sprache, schließlich macht man sich ja kundig, bevor man mit so was ankommt, einen bemerkenswerten Artikel gefunden. Schaut mal, hier.« Er nahm den Ausdruck in die linke Hand, zeigte ihn im Halbprofil und wischte mit der rechten Hand darüber. »Hier steht, dass es auf dem Friedhof der Stilfser Pfarrkirche St. Ulrich einige Grabschändungen mit zwei Fällen von Leichenraub gegeben habe. Der Verfasser des Artikels, ein gewisser Johann Kuntner, macht seine Leser mit einigen Ungereimtheiten und gruseligen Einzelheiten bekannt. So will der Pfarrer Martin Plangger nachts ein unheimliches rötliches und dann blaues Glosen auf dem Gottesacker gesehen haben. Und aus dem Untersuchungsbericht der Polizei ist angeblich durchgesickert, dass zumindest ein Sarg von innen aufgebrochen worden ist.« »Ein Zombie?«, fragte Nicole verblüfft. »Hört sich ganz danach an, nicht wahr?« Pascal lächelte. »Muss natürlich nicht sein, ich weiß ja nicht, inwieweit dieser Kuntner
einen auf Sensation macht. Allerdings ist der Dolomiten, hört sich irgendwie blöd an, oder? … nicht gerade als Revolverblatt bekannt, wie ich recherchiert habe. Und …« »Jetzt kommt’s«, sagte Nicole, die sich längst gespannt nach vorne gebeugt hatte. »Tatsächlich?«, erwiderte Zamorra grinsend. »Du elender Chauvi«, gab seine Geliebte im Bewusstsein, dass sie selbst bei derart schweren Anschuldigungen nicht mit einer Kürzung ihres Sekretärinnengehalts zu rechnen hatte, zurück. »Sofort gehst du in die nächste Kirche und spülst deinen Mund mit Weihwasser aus.« »Dann doch lieber mit einem kräftigen Bordeaux bei Mostache. Wäre das alternativ drin?« »Äh, ich bin auch noch da«, meldete sich Pascal fast schüchtern. »Wie? Ach so, ja, entschuldige. Aber dieser verrückte Professor hier will einfach nicht erwachsen werden. Nie enden wollende Analphase, weißt du. Also weiter im Text.« »Wo war ich? Ach so, ja. Es gibt da nämlich einen weiteren Artikel im liebsten Tagblatt der Südtiroler. Demnach ist in der Nacht der Grabschändung gar nicht weit von Stilfs entfernt eine übel zugerichtete Leiche gefunden worden. Ihr Herz hat gefehlt. Es wird noch untersucht, ob das ein Wolf oder eventuell ein Bär gewesen sein könnte.« »Hm. Vielleicht ist der Arme auch einem Zombie über den Weg gelaufen«, sinnierte Nicole. »Als Trüffelschwein rieche ich diesen Zusammenhang förmlich. Chéri, wenn du mich fragst, sollten wir in Stilfs mal nach dem Rechten sehen. Und das sage ich nicht nur, weil ich vorhin beschlossen habe, unbedingt mal wieder nach Südtirol zu wollen. Soll ich schon mal die Flüge buchen?« »Aber nur Touristenklasse. Bei deinem letzten Einkaufsbummel hast du eine komplette Monatseinnahme verprasst.« »Aber wer wird denn, mein geliebter Chéri«, flötete sie und
schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich habe nichts verprasst, sondern die Wirtschaft gefördert. Das ist etwas völlig anderes. Frag mal Mostache. Aber wenn’s so schlimm mit unseren Finanzen aussieht, dann fahren wir eben einfach mit dem BMW. Ist sicher viel billiger bei den momentanen Benzinpreisen.« Das Visofon genannte Bildtelefon schlug an. Zamorra nahm ab. »Ein Ferngespräch aus Italien, Monsieur le professeur«, meldete sich William mit würdevoller Stimme, »genauer gesagt aus Bozen. Wollen Sie geruhen, es anzunehmen?« Der Meister des Übersinnlichen veranstaltete ein Stirnwettrunzeln mit Nicole, das seine Geliebte knapp nach Falten gewann. »Bozen? Wenn man vom Teufel spricht, erscheint einem meistens Beelzebub. Oder so. Wer ist denn dran?« »Ein Signore namens Roberto Tomassini. Sagt Ihnen der Name etwas?« »Nie gehört. Dir, Nicole?« »Nein. Aber ich fresse einen Besen mit der dazugehörigen Hexe, wenn dieser Tomassini nichts mit dem Ötzi-Museum zu tun hat.« »Stellen Sie’s durch, William.« Gleich darauf drang eine aufgeregte Stimme an Zamorras Ohr. Da Tomassini nicht ebenfalls ein Bildtelefon besaß, konnten sie alle ihn logischerweise nur hören, denn der Professor schaltete auf laut. »Professore Zamorra, sind Sie’s?« »In Lebensgröße, Signore Tomassini«, gab der Meister des Übersinnlichen in einwandfreiem Italienisch zurück. »Was kann ich für Sie tun?« »Professore Zamorra, entschuldigen Sie, dass mein Französisch etwas gelitten hat. Sie werden mich nicht kennen. Aber ich kenne Sie ganz gut, denn ich habe früher zahlreiche Parapsychologie-Vorlesungen von Ihnen an der Sorbonne besucht. Wissen Sie, dieses Thema hat mich immer interessiert.« »Hm, ja, freut mich.«
»Ja, nicht wahr? Heute bin ich Leiter des Südtiroler Archäologiemuseums.« Mit dem Lächeln in Nicoles Gesicht hätte man einen kompletten Triumphbogen samt Nebengängen schmücken können. Sie imitierte das Schnüffeln eines Schweins in Pascals Richtung. »Gratulation, Signore Tomassini. Sicher ein hochinteressanter Job.« »Danke, Professore, Sie ahnen ja gar nicht, wie interessant. Äh, ich weiß nicht, vielleicht haben Sie ja schon von dem Einbruch in unser schönes Museum gehört. Und von den schweren Untaten, die man unserem Ötzi und seiner nicht ganz so natürlichen Umgebung angetan hat.« »Ja.« »Dann vergessen Sie bitte ganz schnell alles, was Sie gehört und gelesen haben …«
* Bozen, Südtirol Aurelio Limongelli dankte den Berggöttern, an die er glaubte, vier Mal täglich, dass die beiden deutschen Bergwanderer Erika und Helmut Simon 1991 auf die Gletschermumie am Hauslabjoch gestoßen waren. Und dass wegen der Streitigkeiten um den sensationellen Fund die Neuvermessung der österreichisch-italienischen Grenze an der Fundstelle zugunsten Italiens ausgegangen war. Gerade mal 93 Meter machten »Ötzi« nun zum Südtiroler. Gut so. Denn ohne Ötzi wäre das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen – davon war Aurelio jedenfalls zutiefst überzeugt – 1998 vermutlich niemals eröffnet worden. Und Aurelio hätte keinen Job mehr gehabt, nachdem er aus dem Sicherheitsdienst einer großen Firma entlassen worden war. So aber hatten sich die Umstände glücklich gefügt, denn sein Neffe
Roberto Tomassini war zum Leiter des neuen Museums ernannt worden. Und der hatte ihm den Wächter-Job hier zugeschanzt. Einen Job, der keine allzu großen Anforderungen an Aurelio stellte, der aber sein Auskommen garantierte und darüber hinaus sehr interessant war. Denn Aurelio bemühte sich, alle Fakten über Ötzi wie ein nasser Schwamm aufzusaugen. Nicht nur, weil er den über 5000 Jahre alten Gletschermann zu bewachen hatte, sondern weil er ihn täglich sah und ihn längst als eine Art »Kumpel« betrachtete. Das hing nicht zuletzt mit der rekonstruierten lebensgroßen Figur des Gletschermannes zusammen, die so echt wirkte und deren Augen so tief und klar und intelligent schauten, als würde sie jeden Moment zu sprechen anfangen. Wenn Aurelio alleine mit Ötzi war, schaute er die Mumie (denn er sprach natürlich nur zum Original, nicht zur Rekonstruktion), die er im Gegensatz zu fast allen Besuchern nicht als abgrundtief hässlich empfand, durch die Glasscheibe an, erzählte ihr, was ihn gerade umtrieb, klagte ihr sein Leid und fragte sie um ihre Meinung, natürlich ohne jemals Antwort zu erhalten. Denn Aurelio hatte sonst kaum mehr jemanden, mit dem er sich hätte unterhalten können. Gut, manchmal konnte er Roberto in ein kurzes Schwätzchen verwickeln. Aber der war immer gestresst und dementsprechend kurz angebunden. Und hin und wieder traf er auf die Pathologen um Eduard Egger-Waigel, die damit beauftragt waren, Ötzi weitere seiner Geheimnisse zu entlocken. Auch von denen redete kaum einer mit ihm. Am ehesten noch Eduard, den er sogar duzen durfte. Eduard machte allerdings nur Konversation mit ihm, wenn er gute Laune hatte. Was schade war, denn Aurelio legte durchaus Wert darauf, Neuigkeiten über seinen Kumpel als Erster zu erfahren. Dann fühlte er sich, als sei er einer der wichtigsten Menschen auf der Welt. Für heute Nacht hatte sich Egger-Waigel wieder angekündigt. Vielleicht ist Eduard ja heute gut drauf. Wenn ihn seine Alte mal wieder nicht geärgert hat. Sonst gehe ich ihm halt aus dem Weg. Anmachen lassen
muss ich mich ja von dem nicht. Ich bin ja auch wer. Der kleine, dickbäuchige Mann mit dem grauen Haarkranz und dem ungepflegten Vollbart strich seine dunkelblaue Wachmannuniform glatt und ging durch die ausgedehnten nächtlichen Museumsräume. An die geheimnisvollen Geräusche, die ihn begleiteten, hatte er sich längst gewöhnt. Er hielt sie nach wie vor für das Flüstern von Toten oder für Botschaften Ötzis, der versuchte, mit den Lebenden Kontakt aufzunehmen, aber er hatte es aufgegeben, sie verstehen zu wollen. Anfänglich hatte er sich davor gefürchtet. Denn es war etwas völlig anderes, sich nachts in einem Museum mit einer wispernden Leiche zu bewegen oder in den glatt gestriegelten Räumlichkeiten einer modernen Firma. Aber irgendwann gewöhnte man sich an alles. Heute schienen die Stimmen viel intensiver als sonst zu wispern. Aurelio Limongelli glaubte sie auch viel deutlicher zu verstehen. Sie drängten ihn, verursachten ihm Kopfweh. Und er sah seltsame Bilder in seinem Kopf, von denen er nicht wusste, wo sie herkamen. Aurelio schüttelte den Druck ab und sang ein Liedchen vor sich hin. Es klang ziemlich krampfhaft. Er mied den Blick in die Kühlzelle, in der sein schwarz verschrumpelter Kumpel lag. Reden wollte er heute schon gar nicht mit ihm, denn es wäre ihm peinlich gewesen, hätte ihn Eduard dabei erwischt. Der Pathologe schien Katzen unter seinen Vorfahren gehabt zu haben, denn er tauchte im Allgemeinen sehr leise und damit überraschend auf. Nicht, dass Eduard noch glaubt, ich bin nicht ganz richtig im Kopf … Im heruntergedimmten Licht, das geheimnisvolle Schatten durch die Räume huschen ließ, schaute sich Aurelio die Filmchen an, die in kleinen, in die Wand eingelassenen Monitoren in Endlosschleifen abliefen. Sie zeigten die Fundstelle der Mumie beim Tisenjoch und die Bergungsarbeiten, bei denen schlimm geschlampt worden war. Aurelio seufzte. Er kannte die Filme auswendig. Was sind das nur für schlimme Bilder in meinem armen Kopf? Ich will
sie nicht mehr sehen. Ich glaube, ich muss mal wieder zum Arzt. Vielleicht bin ich ja überarbeitet. Dann schaute er in die Glasvitrinen. Sie standen frei im Raum und beherbergten die ganzen Gegenstände, die Ötzi einst auf seiner letzten Reise mit sich geführt hatte. Der Bogen aus Eibenholz wirkte unscheinbar. Ebenso die vierzehn Pfeile, die der Gletschermann im Köcher stecken gehabt hatte. Aber das sieht eben nur so aus, denn mit dem Bogen, das haben die ja in einem Experiment herausgefunden, kann man Hirsche und Rehe und das ganze Zeug noch auf 50 Meter umnieten, sodass sie mausetot sind, sinnierte er vor sich hin. Und das Kupferbeil sieht auch nicht aus, als ob man damit wirklich jemand den Schädel einschlagen könnte. Aber wenn die’s sagen … Schon wahnsinnig, was man alles über meinen Kumpel rausgefunden hat. Ob die bei mir auch wegen dem, was ich gegessen habe, rausfinden könnten, was ich die Stunden und Tage davor gemacht habe? Würde nur kein Schwein interessieren … Hm, Alpensteinbock soll der gefressen haben und wegen der ausgiebigen Mahlzeit nicht auf der Flucht gewesen sein. Ich würde auch nichts fressen, wenn ich abhauen müsste, das ist ja mal klar. Und er soll vielleicht ein Zauberer gewesen sein wegen der Medizinpflanzen, die er dabei hatte und wegen der ganzen Tattoos. Und wegen der Marmorscheibe mit dem Loch, die irgend so ein magischer Gegenstand sein soll. Bis heute hat keiner eine Ahnung davon, was das sein soll, die Scheibe. Ja, Kumpel, ich hab’s dir ja schon gesagt, dass ich mir das gut vorstellen kann, dass du ein Zauberer warst. Aber mich verfluchst du nicht, ja? Weil … Hinter Aurelio erklang ein Schaben. Er fuhr herum. Sein Herz ging schneller, während seine Hand ganz automatisch zum Schlagstock fuhr, den er am Gürtel hängen hatte. Doch dann entspannte er sich sofort wieder. Eduard Egger-Waigel, der am liebsten nachts arbeitete, war eingetroffen und stand nur drei Meter hinter ihm. Der groß gewachsene, hagere Mann mit den dichten weißen Haaren und dem glatt rasierten, asketischen Gesicht grinste freundlich. Das Zeichen, dass er gut aufgelegt war. Aurelio freute sich so sehr
darüber, dass er seinen Ärger, das Kommen des Pathologen wieder nicht gehört zu haben, augenblicklich vergaß. »Hallo Aurelio. Alles klar mit deinem Kum… ich meine, mit unserem Freund hier?« »Hallo Eduard.« Limongelli grinste verschwörerisch und drückte das Kreuz durch. »Alles klar. Melde: keine besonderen Vorkommnisse.« »Tatsächlich? Als ich hergefahren bin, war mir für einen Moment, als sei alles dunkel. Sind die Sicherungen rausgeflogen?« »Nein. Da musst du dich getäuscht haben, Eduard.« Gott sei Dank sind die Bilder wieder weg. Und die Stimmen. Das war ja nicht mehr auszuhalten. »Und dir geht’s gut, Aurelio? Du schwitzt ja, dass man vier Liter aus deinem Anzug wringen könnte.« »War nur ein bisschen krank, das ist alles. Was untersuchst du heute beim Ötzi? Die drei Gallensteine nochmals? Oder die Parodontose und die Karies? Oder die Borreliose, die der Ärmste hatte?« Aurelio wusste natürlich, dass über diese Dinge längst Klarheit herrschte, aber er genoss es, Eduard zu zeigen, wie gut er informiert war, wenn der ihm schon mal zuhörte. Und nun konnte er sich endlich wieder konzentrieren. Der Pathologe hörte tatsächlich geduldig zu und gab sogar Antwort. Dabei verfiel er sofort wieder ins Dozieren, was er immer tat, wenn er mal redete. »Keine Untersuchungen heute Nacht, Aurelio. Du weißt ja, die Mumie wird in einer Kühlzelle gelagert, die mit minus 6,5 Grad Celsius und 97 bis 99 Prozent Luftfeuchtigkeit die Bedingungen im Inneren des Gletschers imitiert und damit den Gefriertrocknungsgrad optimal erhalten soll. Da die Mumie trotzdem jeden Tag vier bis sechs Gramm Wasser verliert, führen wir ihr dieses alle drei Monate wieder zu. Dazu wird in der Kühlzelle warmes Wasser als feiner Nebel versprüht, der sich auf die Mumie legt, teil-
weise in die Haut dringt und darauf eine dünne Eisschicht bildet. Wir haben jetzt aber ein Verfahren in Planung, bei dem die Atmosphäre in der Kühlzelle durch reinen Stickstoff ersetzt werden soll. Der soll das Wachstum aerober Bakterien verhindern und außerdem die Radikale, die die Mumie angreifen könnten, aus der Umgebung entfernen. Ich mache lediglich ein paar Messungen, damit wir die Bedingungen in unserem Labor weiter optimieren können.« Limongelli war glücklich, wenn ihm der Pathologe diese Vorträge hielt. Obwohl er das alles tatsächlich schon wusste. Wichtig war nur, dass sich ein weltbekannter Wissenschaftler auf gleicher Stufe mit ihm unterhielt. »Das ist atemberaubend«, pflegte er dann immer zu sagen. Heute kam er umgehend auf das zu sprechen, was ihn im Moment am meisten beschäftigte. »Glaubst du, dass Ötzi die Leute verflucht, die irgendwas mit ihm zu tun haben? So wie dieser Tutanchamun? Das habe ich erst vor zwei Tagen wieder mal in der Zeitung gelesen.« »So ein Blödsinn.« Egger-Waigel verzog das Gesicht, als hätte er in etwas extrem Saures gebissen. »Ich mein ja nur, weil ja auch der Helmut Simon beim Geisskarkopf in die Schlucht gestürzt ist und sechs andere auch tot sind, die mit Ötzi zu tun hatten. Stand da jedenfalls.« »Ich könnte ausflippen, wenn ich so einen Dreck höre«, erwiderte der Pathologe ungnädig und stellte sein Metallköfferchen auf den Boden. »Wer hat am engsten mit Ötzi zu tun? Ich. Und du von mir aus. Und? Sind wir tot? Hat uns irgendein Fluch geholt?« »Äh, nein, nicht direkt …« Aurelio Limongelli wurde unruhig. Er mochte es nicht, wenn ihn Eduard wie einen kleinen Jungen behandelte. »Eben. Und ganz direkt auch nicht. So sind die Leute halt. Machen aus allem Schauergeschichten und geheimnisvolle Flüche. An unserem Ötzi ist garantiert nichts Übernatürliches, der war mal ein ganz
normaler Mensch. So, und jetzt mach ich mich mal an die Arbeit.« »Darf ich zusehen?« »Von mir aus.« Eduard Egger-Waigel nahm sein Köfferchen wieder hoch und ging durch eine Sicherheitstür, die er zuvor aufschloss, in den Kühlzellen-Vorraum. Hier war nicht nur die ganze Technik untergebracht, von hier aus konnte er die Kühlzelle auch öffnen. Währenddessen trat Aurelio hinter den hölzernen Sichtschutz, der vor dem »Schaufenster« stand, um wenigstens den Anschein von Pietät zu wahren. Er starrte durch das etwa einen auf einen Meter große Fenster auf die schwarzbraun verfärbte, auf dem Rücken liegende Mumie. Ein Teil der Oberlippe und der Nase fehlte. Die Fehlteile rissen ein grässliches Loch, das wie eine riesige Hasenscharte wirkte, in das augenlose Gesicht und ließen die abgeriebenen Vorderzähne mit der auffallenden Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen sehen. Der linke Arm lag angewinkelt waagrecht vor dem Körper und stützte das Kinn, der rechte lag ein wenig abgespreizt entlang des Körpers. Der Wachmann wusste, dass Eduard einige Riegel umlegen musste, um die Kühlzellentür zu öffnen, was er wohl gerade machte. In der Tat. In der Hinterwand erschien ein viereckig herausgestanztes Loch, in dem der Pathologe sichtbar wurde. Er hatte sich Handschuhe übergestreift und nahm nun mit zwei Apparaten, die Aurelio nicht identifizieren konnte, seine Messungen vor. Dann drehte er sich um, um irgendwelche Werte besser erkennen und aufschreiben zu können. Aurelio Limongelli erstarrte. Verwirrt blickte er auf seinen Kumpel. War da nicht gerade eine Bewegung gewesen? Dort, wo die rechte Hand lag? Unsinn. Er hatte sich von Eduards Bewegungen bluffen lassen, das war alles. Wirklich? Aurelio kannte jedes Detail der Mumie. Die Finger der rechten
Hand waren angewinkelt, sodass sie fast wie eine Faust aussahen. Normalerweise. Mann, spinne ich jetzt plötzlich? Das … das gibt’s doch auf keinem Dampfer … Aurelio spürte, wie sich Kälte in seinem Nacken bildete und unangenehm langsam über seinen Rücken nach unten zu kriechen begann. Er schluckte ein paar Mal schwer. Mittel- und Ringfinger der Mumie standen plötzlich nach oben weg! Und auch der Zeigefinger zuckte schlagartig nach oben, als habe ihn eine unsichtbare Schnur gehalten, die plötzlich durchgeschnitten wurde. Der Wachmann glaubte ein unheimliches Stöhnen und Ächzen zu hören, das sich durch das Gebäude fortpflanzte. Da er nichts trank und keine Drogen nahm, konnte er auch keine Halluzinationen haben. Aber wie dann sollte er … das da … nennen? Die Eiseskälte hielt nun seinen ganzen Körper gepackt. Aurelios Arme führten plötzlich ein Eigenleben, denn er konnte ihr Zittern nicht mehr unterdrücken. Es war ein Eigenleben, das ganz anders war als das, welches in die Mumie gefahren zu sein schien. Schien, ja, denn der Wachmann glaubte es noch immer nicht. Obwohl sich Ötzi gerade ruckartig aufrichtete! Aurelio gurgelte. Denn in diesem Moment drehte sich Eduard wieder um. Der Pathologe erstarrte ebenfalls, als er des auf der Liege sitzenden Ötzis ansichtig wurde. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen, gepaart mit der gleichen Verwirrung, die auch Aurelio spürte. Das Messinstrument löste sich aus Egger-Waigels Fingern und zerschellte am Boden. Aurelio sah zudem, wie sich die Lippen Eduards stumm bewegten. Es erinnerte ihn ein wenig an einen Fisch auf dem Trockenen. Er sah das Gesicht des Pathologen über die knochige Schulter des Gletschermannes hinweg, neben dem schmalen Rücken, aus dem jeder einzelne Knochen des Rückgrats und der Rippen stach. War ja nur ein ganz normaler Mensch, was …
Ötzi erhob sich von der Liegefläche, ohne sich abzustützen. Als er auf seinen Füßen zu stehen kam, taumelte er und fiel nach vorne. Dabei stieß er gegen den Pathologen, krallte seine Finger in dessen Hemd und riss ihn mit zu Boden, hinaus aus Aurelios Sichtfeld. Eduard Egger-Waigel schrie wie ein Irrer. Noch niemals zuvor hatte Aurelio einen Menschen so schreien gehört. Kein Tier hätte Panik und Todesangst in solche Laute kleiden können. Abrupt verstummte das Schreien. Der Wachmann wimmerte. Und spürte seine Zähne aufeinander schlagen, als sich der Gletschermann plötzlich wieder erhob. Sein Mund war in frischem Blut gebadet, eigentlich bedeckte es das ganze Gesicht und einen Teil der Brust. Unter der mumifizierten Haut sah der Wachmann etwas Großes durch die Kehle der Mumie in Richtung Magen rutschen. Es beulte seinen Hals aus. Als Aurelio das Gefühl hatte, der Gletschermann drehe, nachdem das … Ding in seinem Inneren verschwunden war, den Kopf ein wenig in seine Richtung, löste sich die Anspannung schlagartig. Wie von Furien gehetzt rannte er ins Museum hinein. Sein Verstand hatte längst ausgesetzt, nur noch seine Instinkte reagierten. Und die rieten ihm, sich in die nächste finstere Ecke zu kauern. Dort drückte er sich sitzend an die Wand, obwohl ihn das Adrenalin förmlich überflutete. Er versuchte, sein Wimmern zu unterdrücken. An der gegenüberliegenden Wand erschien ein Schatten. Er bildete lediglich den Oberkörper der knochigen Figur ab, jedenfalls aus Aurelios Blickwinkel. Mit seltsam eckigen Bewegungen schob sich der Schatten an dem Wachmann vorbei. Dann war er verschwunden. Aurelio kauerte noch einige Minuten bewegungslos, bis ihn die anschwellenden Alarmsirenen aus seiner Starre rissen.
*
Château Montagne / Südtirol »Zuerst dachte ich, Aurelio sei angesichts der Ereignisse nun vollkommen durchgedreht, als er mir das erzählt hat«, schloss Roberto Tomassini seine lebhafte Erzählung. »Wissen Sie, mein Onkel ist zwar lieb und nett und harmlos, aber er ist psychisch sehr labil, wenn Sie wissen, was ich meine, Professore Zamorra.« »Ich denke schon.« »Ja. Er redet gerne mit Toten, als seien Sie noch lebendig. Manchmal habe ich das Gefühl, er glaubt, sie seien es tatsächlich. Äh, und bildet sich auch sonst eine Menge abstruser Sachen ein. Wie gesagt, eigentlich ganz harmlos.« Tomassini stockte. »Na ja, das ist jetzt etwas schwierig, Professore. Wissen Sie, ich habe ja auch ein Faible für das Übersinnliche. Aber auf eher wissenschaftlicher Basis, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Natürlich, Signore Tomassini.« »Ja. Auf jeden Fall … nun, als ich die Überwachungsvideos gesehen habe, ist mir fast der Atem gestockt. Darauf war ganz deutlich …« Tomassini ächzte kurz, »ganz deutlich Ötzi zu sehen, wie er durchs Museum wankte und dann verschwand. Wissen Sie, wenn Egger-Waigel nicht ermordet worden wäre und sein Herz nicht gefehlt hätte, hätte ich an einen üblen Scherz geglaubt. Aber so …« Tomassinis Stimme wurde drängender. Und rauer. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, Professore. Und die Polizei weiß es auch nicht. Die hat die Videos beschlagnahmt und mir strengstes Stillschweigen auferlegt.« »Warum halten Sie sich nicht daran?« »Warum? Warum? Weil die Polizei mich und Aurelio verdächtigt, mit in dem angeblichen Diebstahl drinzuhängen und das mit der wandelnden Mumie als Ablenkung inszeniert zu haben, auch wenn sie das noch nicht so deutlich sagt. So ein Schwachsinn, ehrlich. Wer käme denn auf die Idee, ein Zombievideo als falsche Spur zu prä-
sentieren? Wer, Professore? Da müsste ich ja komplett verrückt sein.« »Haben Sie von dem Leichendiebstahl in Stilfs gehört, Signore Tomassini? Und von der Toten, der das Herz fehlt?« »Wie? Ach so, ja«, schnaubte er. »Wie kommen Sie jetzt da drauf?« »Ich überlege bloß gerade. Und ich schreibe es Ihrer Aufgeregtheit zu, dass Sie diesen Zusammenhang noch nicht selber hergestellt haben. Möglicherweise ist die Polizei ja gar nicht so schwachsinnig und bringt beide Ereignisse ebenfalls zusammen. Liegt zumindest auf der Hand. Und da fällt den Beamten vielleicht eine Bande verrückter Esoteriker ein, denen man so was durchaus zutrauen könnte. Und wenn sie dann noch von Ihrem Interesse für Parapsychologie wissen, dann kann man auf diese Zusammenhänge schon mal kommen.« »Papperlapapp. Woher sollte die Polizei das wissen?« »Vielleicht haben Sie ja mal in einem Profil, das man im Internet nachlesen kann, entsprechende Angaben gemacht. Oder Bekannten davon erzählt, bei denen die Polizei nachgefragt hat, was weiß ich?« »So, meinen Sie? Vielleicht, na ja. Aber das ist es nicht. Ich möchte Sie dringend bitten, nach Bozen zu kommen und sich dieses Falls anzunehmen. Die Polizei kann damit nicht alleine fertig werden. Da müssen Leute wie Sie ran.« Der Professor zögerte keine Sekunde. »Wir kümmern uns drum, Signore Tomassini, versprochen.« Nicole studierte die Flugpläne des Bozener Flughafens. »Hm, da fliegt ausschließlich die Air Alps im Linienverkehr. Und das auch nur nach Rom. Aber, Überraschung, der nächste Flug von Rom aus nach Bozen geht in knapp zwei Stunden. Das sollten wir schaffen. Damit wären wir um viele Stunden schneller als mit den eigenen Autos. Für die 600 Kilometer über enge Straßen und Alpenpässe brauchen wir sicher acht, neun Stunden.« »Also gut, dann buch die Flüge, wenn’s noch Plätze gibt.« Zamor-
ra grinste. »Mein Budget wird’s schon noch aushalten. Ansonsten breche ich eben das Sparbuch an, das mir mein reicher Erbonkel hinterlassen hat.« »So was hast du?«, staunte Nicole. »Sparbuch oder reicher Erbonkel?« »Beides. Und dass du das bisher vor mir verschwiegen hast, zeigt deutlich, welchen Stellenwert ich tatsächlich in deinem Leben habe. Ich glaube, ich kündige. Allerdings erst, nachdem ich auf deine Kosten noch einen Abenteuerurlaub in Südtirol verbracht habe.« Beide lachten, während sich Pascal am Kopf kratzte. Nicole hängte sich ans Telefon und buchte die zwei Flüge nach Bozen. Dann rief sie bei einem römischen Taxiunternehmen an. Nachdem die beiden Dämonenjäger das Wichtigste gepackt hatten, gingen sie durch die Regenbogenblumen nach Rom. Im Keller von Ted Ewigks Villa, in der ebenfalls eine Kolonie der Transmitter-Blumen stand, kamen sie wieder heraus. Ihr Freund war schon lange nicht mehr hier gewesen. Es roch muffig, als sie durch das Haus gingen. Die Zugehfrau, die Ted beauftragt hatte, schien es mit ihrer Pflicht nicht so genau zu nehmen. Aber im Moment war das nicht ihr Problem. Mit den Nachschlüsseln, die Zamorra auf Château Montagne verwahrte, kamen sie bequem nach draußen. Das Taxi fuhr gerade her und brachte sie zum Flughafen Fiumicino. Drei Stunden später landeten sie bereits in Bozen. Dort nahmen sie zwei Mietwagen, da sie beschlossen hatten, sich der beiden Fälle getrennt anzunehmen. Nicole blieb in Bozen, während sich Zamorra auf den Weg nach Stilfs machte. Mit seinem schwarzen BMW brauchte er keine zwei Stunden durch den wunderschönen Vinschgau. Es begann gerade zu dämmern, als er das kleine Städtchen Prad erreichte und die Ausfallstraße in Richtung Gomagoi nahm. »Was ist denn das?«, murmelte er plötzlich verblüfft. Links und
rechts der ansteigenden Straße erhoben sich steile, bewaldete Felsen. Während sie es auf der linken Seite praktisch übergangslos taten, erstreckte sich rechts, zwischen der Straße und einem kleinen Bergfluss, ein etwa 50 Meter breiter Geländestreifen. Und der war, Zamorra musste unwillkürlich blinzeln, mit indianischen Totempfählen, Knochenbäumen, skurrilen Skulpturen und anderen Kunstgegenständen geradezu übersät! Und das Ganze setzte sich, um ein einsam stehendes Haus herum, auf der gegenüberliegenden Straßenseite fort. Was ihn aber weit mehr aus seiner beschaulichen Konzentriertheit riss, war die Tatsache, dass Merlins Stern sich plötzlich erwärmte! Ein untrügliches Zeichen für dämonische Aktivitäten. Der Meister des Übersinnlichen fuhr auf den kleinen Parkplatz etwas oberhalb dieses wunderlichen Stückchens Erde. Er stieg aus, warf einen interessierten Blick auf das hölzerne Schild am Felsen und sah sich dann um. Ein Silberstreif lag über den Silhouetten der umliegenden Berge und trennte sie fein säuberlich vom samtenen Graublau des Himmels. Alles war ruhig, niemand schien hier zu sein. Aber das Amulett erzählte ihm etwas anderes. Und es hatte sicher noch niemals geirrt in dieser Beziehung. Obwohl eine erfrischende Brise ging und die laue Abendluft auf angenehme Weise verwirbelte, spürte der Meister des Übersinnlichen die drückende Stimmung, die sich hier eingenistet zu haben schien. Zamorra, in Jeans und kurzärmligem, braunem Hemd, ließ Merlins Stern frei vor der Brust hängen. An der Straße entlang ging er die paar Schritte zu dem zweigeschossigen Haus mit dem kleinen Hof davor. Ein Holzzaun, auf dem »arte« stand, grenzte den Hof vor der Straße ab. Eine Reihe bunt bemalter Steine, die lustige Gesichter zeigten und oben auf den Zaunlatten angebracht waren, schützte das Grundstück. Wir sehen zwar lustig aus, aber wir sind gefährlich für jeden Eindringling, schienen sie zu sagen. Jedenfalls Zamorra. Und dahinter …
»Unglaublich.« Der Professor schüttelte den Kopf. Gleich hinter dem Haus schraubte sich eine Felswand senkrecht und schroff in schwindelerregende Höhen. Felsenmalereien nach dem Vorbild der australischen Aborigines zierten sie. Zudem stand auf einem kleinen kühnen Vorsprung in über zehn Metern Höhe ein Totempfahl. Zamorras Blicke wanderten weiter. Er hatte Mühe, ob der verwirrenden Vielfalt, die sich vor ihm auftat, einen Angriffspunkt zu finden, von dem aus er seine optischen Erkundungstouren starten konnte. Die Vorderfront des Hauses, die von der Straße weg in den Hof schaute, war übersät von Hirschgeweihen, Steinbockhörnern und Gamsschädeln. Dazwischen hing ein Kreuz mit dem leidenden Jesus daran. Das alles nahm sich jedoch geradezu bescheiden aus gegen die Masse an Geweihen, Knochen und seltsam geformten Wurzeln, die den kleinen Hof »schmückten«. Es waren sicher Hunderte, wenn nicht Tausende. Sie hingen an rundherum eingeschlagenen Auslegern von einem etwa vier Meter hohen Mast, an den überdachten Holzbeugen, die den Hof einrahmten, unter deren Dächern und an geschwungenen Eisenskulpturen. Dazwischen machte Zamorra einen bunten Totempfahl und einige fast naiv gemalte Bilder aus, die ebenfalls Gesichter zeigten. Da muss ja jeder Großhandel neidisch werden, dachte Zamorra. Zudem frage ich mich, ob es in dieser Gegend überhaupt noch lebendes Wild gibt … »Hallo? Ist da jemand? Hört mich einer?« Niemand antwortete. Der Professor erklomm die frei vor der Hauswand schwebende Treppe, die zu einer Tür im Obergeschoss führte. Sie war abgeschlossen. Auf sein Klingeln hin öffnete ebenfalls niemand. »Hm.« Da sich Merlins Stern nicht weiter erwärmte, schenkte Zamorra auch der Tür darunter nur noch mäßige Aufmerksamkeit. Elegant sprang er die schmalen Steintreppen hoch, die vom Hof auf eine sich ein Stück weit fortsetzende Steilwiese führten. Auch sie diente als Ausstellungsgelände für Totempfähle und bemalte Steine,
aber auch als Heimat für einige kleinere Bäume. Der Meister des Übersinnlichen ließ seine Blicke über das deutlich tiefer liegende Gelände auf der anderen Straßenseite schweifen. Dort bot sich ihm das gleiche Bild. Nur dass sich dort die Unmengen an Gegenständen auf rund 80 Metern Länge wesentlich besser verteilten. Und zwar um drei hölzerne Unterstände, einige Gemüsebeete und einen hellgrün bemalten Kleinwagen herum, der vor einem der Unterstände parkte. Die Berge warfen schwere, wie dunkle Zungen wirkende Schatten auf das Gelände. So konnte Zamorra nicht mehr alles im Detail sehen. Aber auch auf der anderen Seite schien sich nichts zu regen. Zwei Autos fuhren vorbei. Die Motorengeräusche erstarben genauso wie die Scheinwerfer an der nächsten Straßenbiegung. Der Professor ging über die Straße. Hinter der durchbrochenen Leitplanke führte ein schmaler Grasweg auf das Ausstellungsgelände. Ein rundes, buntes Schild verkündete, dass es sich tatsächlich um ein »Freilichtmuseum« handelte. Zamorra betrat den Pfad. Totempfähle, rostige Eisenskulpturen und bunte Steingesichter säumten ihn. Und Merlins Stern erwärmte sich mit jedem Schritt, den er sich der Quelle des Dämonischen näherte, weiter! Der Professor ging nach hinten und stieg den kleinen Hang zu den Hütten hinab. Wie beim gegenüber liegenden Haus konzentrierten sich hier die Kunstgegenstände in so verwirrender Vielzahl, dass er nicht erkennen konnte, was sich zwischen ihnen in den Schatten bewegte. »Hallo? Ist da jemand?« Zamorra war angespannt, aber ruhig. Wenn er dämonisch angegriffen wurde, würde das Amulett sofort zum Gegenschlag ausholen. Und es würde den grünen Schutzschirm um ihn legen. Kein Problem, falls er es tatsächlich mit Zombies zu tun haben sollte. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Neben einem Totempfahl, der dicht an der Wand der Holzhütte stand, bewegte sich etwas. Eine
menschliche Gestalt löste sich aus den Schatten und torkelte wie betrunken auf Zamorra zu, während das Amulett nun glühende Hitze verstrahlte, ohne seinen Benutzer zu verbrennen. Eine Frau? Vielleicht. Der Meister des Übersinnlichen konnte es nicht mehr genau erkennen. Nur noch eine Gesichtshälfte war einigermaßen heil, die andere vollkommen zerfressen. Das linke Auge lag komplett frei, ebenso wie die krummen Zähne. Haarreste standen wirr um den teilweise blanken Schädel. Das einst weiße und jetzt von Erdkrumen bedeckte Totenhemd war vollkommen durchlöchert und hing an einigen Stellen in Fetzen von den bleichen Knochen. Tatsächlich, ein Wiedergänger! Zamorra wusste im ersten Moment nicht, warum er so irritiert war. Vielleicht, weil das Amulett nicht kontinuierlich heiß blieb, sondern pulsierend, fast wie ein Warnzeichen, den Hitzegrad veränderte, was es in dieser Art noch niemals zuvor getan hatte? Oder weil es nicht einfach angriff und die Kreatur der Finsternis mit einem kurzen Blitz vernichtete? Aus den Augenwinkeln bemerkte der Professor einen weiteren Schatten, der sich durch abgehackte Bewegungen auszeichnete. Er hatte hinter einem Stangenbündel gelauert, das an eine der Hütten gelehnt war. Auch er stakte jetzt direkt auf Zamorra zu. Der Meister des Übersinnlichen sah einen Mann. Zumindest etwas, das einmal ein Mann gewesen war. Ein zerfetzter schwarzer Anzug hing traurig um bleiche Knochen, an denen sich nicht einmal mehr ein winziger Fetzen Fleisch befand. Da der Untote sich nur noch auf einem Bein bewegen konnte, weil das andere fehlte, verliehen ihm die Hüpfer zusätzlich etwas Groteskes. Aus einem weiteren Versteck löste sich Zombie Nummer drei, ein riesiger Kerl mit weit aufgerissenen Augen, in denen nur noch das Weiße zu sehen war. Er näherte sich in Zamorras linker Flanke. »Herzallerliebst«, knurrte der Meister des Übersinnlichen. »Habt
ihr heute Abend schon was vor? Ich würde euch wahnsinnig gerne zum Essen einladen. So was Hübsches wie euch bekomme ich nie wieder an den Tisch.« Angriff!, befahl er dem Amulett. Merlins Stern zögerte für seinen Geschmack einen Moment zu lange. Dann löste sich ein unglaublich hell strahlender silberner Blitz aus dem Amulettzentrum. Greller, als Zamorra das gewöhnt war. Viel greller! Er schlug in den Untoten mit der zerfressenen Gesichtshälfte. Von dessen Brust aus, wo der Blitz eingeschlagen war, breitete sich ein silberner Schimmer langsam über seinen Körper aus. Zäh, als käme die Kraft nicht so richtig voran, als müsse sie sich gegen starke Widerstände durchsetzen. Zamorra röchelte derweil leise – und brach auf der Stelle zusammen. Er fühlte sich mit einem Mal unendlich schwach, völlig ohne Kraft. Schwarze und rote Schlieren tanzten wie irr vor seinen Augen. Im Hintergrund sah er bereits die Schwärze, in die er im nächsten Moment zu gleiten drohte. Unwiderstehlich zog sie ihn an. Nein! Mit der ganzen Macht seines Willens kämpfte Zamorra gegen die Bewusstlosigkeit an. Die Schwärze war plötzlich nicht mehr ganz so attraktiv und wich ein wenig zurück. Stattdessen sah der Professor wieder rote Schlieren, die wie ein überdrehtes Karussell um ihn wirbelten. Alles dahinter wirkte ganz weit weg und irgendwie dumpf, so, als ginge ihn das alles gar nichts an. Er sah Merlins Stern aus den Augenwinkeln neben seinem Gesicht liegen, überdimensional, und schloss daraus, dass er auf dem Rücken lag. Eine Knochengestalt beugte sich zu ihm herunter, die bleiche Knochenhand, die auf ihn zukam, wurde größer und größer. Dann war sie so überdimensional, dass sie sein ganzes Gesichtsfeld füllte. Nein!, brüllte alles in Zamorra. Er versuchte sich zu drehen und zu winden, in seinem Innern zog sich alles zusammen, ebenso wie alle
seine Muskeln. Er wartete auf die erlösende Explosion, die es ihm gestatten würde, aufzuspringen und den Gegner anzugreifen oder zu fliehen, wenn er keine Chance hatte. Aber sie blieb aus. Zamorra hatte nicht einmal das Gefühl, sich in einem zähen Sumpf zu bewegen. Denn es passierte gar nichts. Unaufhaltsam kam das Verhängnis näher. Als sich die bleiche Klaue um seinen Hals legte und anfing zuzudrücken, schickte die Schwärze wieder ihre Ausläufer zu Zamorra. Plötzlich fühlte er sich wieder müde und war bereit, sich in sein Schicksal zu ergeben. Er hörte schreckliche Laute und begriff zuerst nicht, dass es sein Röcheln war. Abrupt flog der Knochenkopf über ihm, der ihn die ganze Zeit anzugrinsen schien, weg. Sofort wurde ihm etwas leichter, denn mit diesem ungeheuerlichen Vorgang schien eine Lockerung der zugreifenden Knochenhand einherzugehen. Das Skelett über ihm brach zusammen. Gleichzeitig glaubte Zamorra einen Mann zu sehen, der einen Spaten schwang und irgendetwas keuchte. Im nächsten Moment sah er neben sich eine grelle Fackel leuchten. Dann schwanden ihm die Sinne.
* Stilfs Der sechzigjährige Johann Kuntner, der schon seit vielen Jahren als freier Journalist für verschiedene Südtiroler Zeitungen arbeitete, stammte aus Stilfs. Er kannte Land und Leute und die Befindlichkeiten der Südtiroler wie seine Westentasche, war »einer von ihnen« und schaffte es so immer wieder, an heiße Geschichten zu kommen, die die Kollegen nicht hatten. Das garantierte ihm ein gutes Einkommen, Ruhm und Ehre auf der einen und eine Menge Feinde auf der
anderen Seite. Doch irgendwie schaffte er es immer wieder, sich auch mit diesen einigermaßen zu engagieren. Kuntner war unter Strom geraten, als er vom Leichenraub in »seinem« Dorf gehört hatte und sofort aus Bozen, wo er normalerweise wohnte, angereist. Sein Gespür für Sensationen sagte ihm, dass diese Geschichte mehr hergeben könnte als der versuchte Ötzi-Diebstahl, an dem sich ohnehin Kollegen aus aller Welt abarbeiteten. Kuntners Mutter Amalia, mit 98 Jahren die weitaus älteste Bewohnerin, hatte praktisch ihr ganzes Leben in dem kleinen Haufendorf Stilfs verbracht, das sich kühn in steile Felsen schmiegte und wie ein Mensch gewordener Adlerhorst aussah. Das jedenfalls war Johann Kuntners Lieblingsvergleich, wenn er von seinem Heimatdorf erzählte. Und so hatte er Quartier bei seiner Mutter in ihrem Häuschen in der Kurzngasse oberhalb der Kirche genommen und den Kontakt zu einigen alten Freunden und Bekannten hergestellt, wie er das immer machte. Dazu gehörte auch der Carabiniere Lukas Pigneter, der seit vielen Jahren in der Polizeistation unten in Prad Dienst tat. Von dessen einst hoch fliegenden Träumen war nicht viel geblieben außer einem sicheren Job, der sich hauptsächlich im Absitzen der Zeit beschränkte, unterbrochen nur hin und wieder von Patrouillenfahrten und der Aufklärung kleiner Diebstähle. Pigneter hatte es schon früher immer genossen, im Mittelpunkt zu stehen und tat dies auch heute noch, was aber in seiner untergeordneten Funktion eher selten der Fall war. Eigentlich nie. So war er für Kuntner, der seinem alten Schulfreund drei, vier Schnäpse spendiert hatte, zur sprudelnden Quelle geworden. Der Journalist wusste bis jetzt nicht, was er von den Aussagen zweier Spurensicherer halten sollte, die Särge seien zweifelsfrei von innen aufgebrochen worden. Pigneter behauptete, diese Worte noch auf dem Friedhof aufgeschnappt zu haben. Kuntner hatte zuerst eine Prahlerei des Carabiniere dahinter vermutet, aber Pigneter konnte seine Aussage mit einem Ausdruck des vorläufigen Untersu-
chungsberichts untermauern. So hatte sich der Chefredakteur der Dolomiten entschlossen, dieses absolut ungeheuerliche und verstörende Detail zu drucken. Johann Kuntner glaubte nicht an Zombies, die aus ihren Gräbern stiegen. Er glaubte aber, dass hinter dieser Aussage eine weitere sensationelle Geschichte steckte, der es sich nachzurecherchieren lohnte. Denn er konnte sich nicht im Ansatz vorstellen, wie es die Leichenräuber hinbekommen hatten, den Vorgang so aussehen zu lassen, als sei der Aufbruch von innen erfolgt. Momentan war seine sprudelnde Quelle allerdings versiegt, denn in der Prader Polizeistation machte sich die Polizia di Stato, die Staatspolizei, breit, die die Untersuchungen übernommen hatte. Da die Beamten von der Quästur Bozen abgeordnet waren, kannte Johann Kuntner einige von ihnen. Allerdings war keiner dabei, dem er auch nur die kleinste Information hätte entlocken können. Das ärgerte ihn und machte ihn gleichzeitig nervös. Kuntner saß am Holztisch vor dem Haus, trank ein Bier und schaute griesgrämig zur nahen Kirche hinüber, von der er momentan nur den Turm sah. Die Polizei hatte den Friedhof wieder freigegeben, die Spuren waren anscheinend alle gesichert. Seit den Leichendiebstählen hier vor drei Tagen hatte es keine weiteren Vorkommnisse in dieser Art mehr gegeben, in der ganzen Region nicht. Kuntners Finger trommelten auf die Holzplatte. Anfänglich hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Leichen könnten ganz gezielt gestohlen worden sein. Da es sich aber um eine bereits 1929 gestorbene Frau und einen erst vor zehn Jahren dahingeschiedenen Mann handelte, war er von dieser Idee wieder abgekommen. Die Diebstähle schienen Zufall zu sein. Kuntners Mutter war gerade mit dem Zubereiten des Abendessens beschäftigt. Es würde Speckknödel geben, eines seiner Lieblingsgerichte. Mit der Kräutersoße, die so nur seine Mutter zuzubereiten verstand, konnte er sie eigentlich zu jeder Tages- und Nachtzeit essen.
Und danach würden sie in die Kirche gehen, um den Rosenkranz für die unglückliche Ressel Oberhaidacher zu beten, die ihr Herz an einen Bären verloren hatte. Wenn das wirklich stimmt. Wer Leichen klaut, tötet vielleicht auch eine harmlose pensionierte Schulführungskraft und reißt ihr das Herz heraus! Auf dem Rosenkranz hatte seine Mutter bestanden. Die Totengebete und die Beerdigungen waren die einzigen Tätigkeiten, mit denen sie noch am öffentlichen Leben teilnahm. Ansonsten lebte sie in ihrer eigenen Welt, die kaum einmal von jemandem gestört wurde. Selbst Vaters Grab besuchte sie höchstens noch einmal im Monat. Von den Leichendiebstählen hatte sie erst durch ihn erfahren. Und auch nicht weiter nachgefragt, als klar war, dass Peter Kuntner noch immer in Frieden ruhte. »Essen ist fertig!«, rief seine Mutter aus der Küche. Johann Kuntner ging hinein und saugte den Duft der dampfenden Speckknödel in die Nase. Amalia Kuntner saß bereits. Sie schob die Brille auf die Nasenspitze, während sie die Kräutersoße auf die Teller schöpfte. Ihr einst schönes Gesicht war heute unendlich faltig und die hoch toupierten weißen Haare sahen auch nicht gerade vorteilhaft aus, aber ihre blitzenden Augen verrieten einen immer noch wachen Geist. »Geht’s dir gut, Junge?« »Ja. Aber du sollst nicht immer Junge zu mir sagen, Mamscherl. Ich bin kurz vor dem Ruhestand.« »Du wirst immer mein Junge bleiben. Und jetzt hau rein. So gute Knödel kriegst du bei den Stess-mi-nets nicht zu essen.« Johann Kuntner musste unwillkürlich lächeln. Den Schimpfnamen für die nicht ganz zu Unrecht als überheblich geltenden Bozener hatte er schon länger nicht mehr gehört, da ihn fast nur noch die alten Leute benutzten. Stess mi net – Stoß mich nicht, ich bin ein Bozener, sollte einst ein solcher zu einem vom Land gesagt haben. Seine Laune besserte sich wieder ein wenig.
Nach dem Abendessen zog Amalia Kuntner ihre schwarzen Sachen an. Die alte Frau schaffte das immer noch alleine. Danach ging sie am Arm ihres Sohnes die steile, schmale Kurzngasse zur Kirche hinunter. Ein gutes Dutzend weiterer Rosenkränzler strebte über den kleinen, gepflegten Vorplatz mit gesenkten Häuptern und in sich gekehrt dem Kirchenportal zu, während die Glocken zu läuten begannen. »Wir haben noch etwas Zeit, Junge. Ich will zuerst noch meinem Peter einen kleinen Besuch abstatten. Führst du mich hin?« »Aber natürlich, Mamscherl.« Johann Kuntner grüßte die neugierig herschauenden Leute mit einem kurzen Kopfnicken, das in den allermeisten Fällen erwidert wurde. Durch das schmiedeeiserne Tor betraten sie den gekiesten Friedhof, der in einem Halbrund um die Kirche angelegt war. Die äußere Grabreihe bildeten, vom schmiedeeisernen Zaun verbunden, eine Reihe überdachter Grabmale, die wie Wärterhäuschen auf Johann Kuntner wirkten. Davor gingen zwei weitere, exakt angelegte Grabreihen den Bogen um die Kirche mit. Die vierte und letzte Reihe erstreckte sich schließlich direkt an der Kirchmauer entlang. Fast alle Grabstätten besaßen kunstvoll gestaltete, schmiedeeiserne Kreuze, schmiedeeiserne Grabumrandungen und Bilder der Verstorbenen. Nicht zum ersten Mal bekam der Journalist den Eindruck, dass den Toten mehr Sorgfalt und Pflege zuteilwurde als so manchem Lebenden. Er schaute zu den noch immer schneebedeckten Hochgebirgsgipfeln hinüber, die als Mahnmal für die Vergänglichkeit der Menschen hier aufgestellt zu sein schienen. Schaut her, nur wir Berge leben ewig. Johann Kuntner seufzte leise, als sie die Rückseite der Kirche erreichten. Sein Vater Peter ruhte im hinteren Teil des Friedhofs, dort, wo die Leichen gestohlen worden waren. Als sie das väterliche Grab erreichten, spürte Kuntner plötzlich,
wie die Mutter an seinem Arm zu zittern begann. Erstaunt sah er sie an. »Mamscherl, was ist? Ist dir nicht gut?« Sein Erstaunen steigerte sich noch, als er ihren Blick bemerkte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie über das Grab ihres Mannes hinweg auf eine schmale Verzweigung, an deren Ende es nur ein einziges Grab gab. Es war vergleichsweise einfach ausgestattet. Ein eisernes Kreuz und eine Grablaterne waren im »Wächterhäuschen« angebracht, daneben war eine eiserne Tafel mit den für diesen Ort wichtigen Daten angebracht: Carola von Bärwangen Geboren 1903 Gestorben 1929 Und, kleiner, ein frommer Wunsch: Möge der Herr ihrer Seele gnädig sein! Um das Grab, dessen Erde frisch umgepflügt worden zu sein schien, spannte sich ein rotweißes Band, auf dem Polizeiabsperrung stand. Mit wachsender Besorgnis sah Kuntner, dass seine Mutter kalkweiß im Gesicht geworden war. »Was … was ist das?«, flüsterte sie. Kuntner konnte sie wegen der Glocken, die allerdings bereits am Abklingen waren, kaum verstehen. »Das ist eine der Leichen, die gestohlen worden sind, Mamscherl. Was ist, kanntest du die Frau etwa?« »Lieber Gott, sei uns allen gnädig. Das … hätte niemals passieren dürfen. Carola von Bärwangen ist wieder frei. Das Kreuz hält die Hexe nicht mehr in Schach. Die blaue Blume bringt wieder das Verderben zu uns …«Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie schlug furchtsam drei Kreuze.
»Mamscherl, um Gottes willen, was redest du da?« So durcheinander hatte Johann Kuntner seine Mutter erst einmal erlebt: Damals vor 18 Jahren, als der Vater gestorben war. So schnell brachte sie nichts aus der Fassung. Normalerweise. Und jetzt … Die Glocken waren verstummt. »Junge, bitte bring mich wieder nach Hause.« »Aber du wolltest doch … der Rosenkranz …« »Bring mich nach Hause, bitte.« »Soll ich einen Arzt holen?« »Nein, der hilft auch nicht. Ich will nur nach Hause, Junge.« Im Haus zurück, setzte er seine Mutter vorsichtig in ihren Lieblingssessel. Das Jagdfieber war längst wieder in Johann Kuntner erwacht. »So, jetzt brauche ich erstmal einen Likör. Bringst du mir einen?« Kuntner lieferte das Bestellte prompt. »Mamscherl, was hast du nur?«, fragte er, während er zusah, wie seine Mutter sich einen Doppelten einschenkte und in einem Zug hinunterkippte. »Ich habe vorhin nicht alles verstanden, aber du hast irgendetwas von einer Hexe erzählt. Stimmt’s? Und von einer blauen Blume. Was ist das für eine Geschichte? Mann, mir läuft’s eiskalt den Rücken runter, wenn ich an deine Reaktion vor dem Grab denke. Du hast diese Carola von Bärwangen gekannt, ja? Erzählst du mir von ihr?« Die alte Frau seufzte und schenkte sich erneut nach. »Ich … ich … es ist nicht gut, die alten Geschichten wieder aufzuwühlen, mein Junge. Vor allem diese Geschichte nicht. Was nicht tot ist und besprochen wird, kann großes Unglück über die Menschen bringen. Bitte tu mir einen Gefallen, Junge. Setz dich umgehend in deinen Wagen und fahr nach Bozen zurück. Und nimm mich bitte mit.« »Mamscherl! Was ist nur los? Du willst plötzlich weg von hier? Ich hätte geschworen, dass dich keine zehn Ochsen auch nur runter bis Prad bringen.« Er kniete vor ihr nieder, was ihm angesichts fort-
schreitender Arthrose nicht gerade leicht fiel, und hielt ihre faltige Hand, die von dicken blauen Adern überzogen war. Sie war kalt wie die einer Leiche und zitterte immer noch ein wenig. »Du kennst meinen Beruf, Mamscherl. Ich bleibe, wenn’s hier irgendwas Sensationelles gibt. Und so schaut’s ja wohl aus. Vielleicht erzählst du’s mir ja, dann können wir gemeinsam nach einer Lösung suchen. Einverstanden?« Die Greisin überlegte lange. Es schien Johann Kuntner, als könne sie ihre Gedanken nicht mehr klar ordnen und verfolgen. »Setz dich«, sagte sie plötzlich. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich hier tue. Aber ich tu’s …«
* 1929, Südtirol Carola von Bärwangen saß am hölzernen Ecktisch unter dem reich geschmückten Herrgottswinkel und schaute auf ihren Vater. Oskar von Bärwangen, ein großer, kräftiger Mann mit dichtem, weißem Haar und vollem, glatt rasiertem Gesicht, in das sich die Falten fast so tief gegraben hatten wie die Täler in die Berge, ging in der Stube auf und ab. Immer wieder strich er sich mit den Fingern der rechten Hand durch die Haare, ein untrügliches Zeichen seiner großen Erregung. Mit der Linken umklammerte er die ganze Zeit das silberne Kreuz, das er an einer dünnen Kette um den Hals trug. »Ich habe Angst, dass dieser Verrückte in Deutschland tatsächlich an die Macht kommt, dieser Hitler. Wenn das passiert, wird er seine Heimat Österreich annektieren, ganz sicher. Und danach wird er sich Südtirol krallen und seinem unchristlichen, teuflischen Reich einverleiben. Das aber darf niemals passieren.« Er schaute inbrünstig zum Erlöser am großen hölzernen Kreuz hin. »Jesus, du musst das unbedingt verhindern. In einem Reich Hit-
lers will ich nicht leben. Er ist ein Dämon, von Satan selber auf die Welt gesandt. Dann will ich doch lieber unter italienischer Herrschaft weiterexistieren, was mir allerdings auch nicht gefällt, seit sich die Faschisten an unserer Religion und unserem Kulturgut vergreifen. Aber allemal besser ist es schon …« Carola von Bärwangen musste ein Gähnen unterdrücken. Politik interessierte die junge Frau ganz und gar nicht. Sie hatte keine Vorund keine Nachteile davon, dass Südtirol vor elf Jahren, nach Ende des Ersten Weltkriegs also, von italienischen Truppen besetzt und schließlich ganz offiziell dem damaligen Königreich Italien zugesprochen worden war. Seit 1922 herrschten die Faschisten, aber sie selbst war noch niemals von ihnen belästigt worden. Eher im Gegenteil. Federico war Faschist gewesen, was aber bei dem, was sie zusammen getan hatten, eher zweitrangig gewesen war. Die junge Frau mit der atemberaubenden Figur und den weißblonden, bis weit auf ihre Brust fallenden Lockenhaaren schaute zur halb offen stehenden Tür. Durch den Spalt sah sie die 15-jährige Amalia Rosendorfer in der Küche hantieren. Das Mädchen war von ihren Eltern hierher auf den Bärwangen-Hof in die Lehre als Magd gegeben worden. Auch deswegen, weil ihr Vater den Ruf besaß, seine Bediensteten gut zu behandeln und sich nicht an den Mägden zu vergreifen. Das stimmte auch, denn dazu war er viel zu fromm. Er konnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Amalia wandte den Kopf und warf Carola ein scheues Lächeln zu. Die junge Frau und das Mädchen verstanden sich sehr gut. Carola war sicher, dass sie Amalia irgendwann für das begeistern konnte, was sie selbst so gerne tat. »Ja, Vater, ich hoffe auch, dass dieser Hitler niemals an die Macht kommt«, sagte Carola so pflichtschuldig wie lahm. »Kann ich dir noch was bringen, bevor ich in die Berge gehe?« »Immer gehst du in die Berge, Kind.« Oskar von Bärwangen sah sie aus stechenden Augen an. »Was willst du dort nur? Wenn du nur auch so oft in die Kirche gehen würdest …« Er seufzte.
»Du weißt doch, wie gerne ich in den Bergen bin, Vater. Und ich pass’ schon auf mich auf.« Carola zwinkerte Amalia zu, dann ging sie hinaus. Der Bärwangen-Hof lag hoch über Stilfs auf steilen Wiesen im Blickfeld des Ortlers. Um den Gipfel des erhabenen Bergriesen hatten sich Wolken gelegt, die von schlechtem Wetter kündeten, aber hier schien noch die Sonne. Die junge Frau stieg ein ganzes Stück den Berg hinauf und verschwand zwischen schroffen Felsen. Ihr Herz pochte hoch oben im Hals, je näher sie ihrem Ziel kam. Als sie die kleine, gut versteckte Höhle betrat und hinter eine Felsnase tastete, atmete sie auf. Die Bücher waren noch da. Und die anderen Dinge auch. Natürlich. Wer hätte sie auch nehmen sollen? Diese Höhle hier kannte nur sie. Mit zitternden Fingern und bereits voller Adrenalin zog sie das größte Buch hervor. Liber Al vel Legis stand darauf. Und darunter: Von Aleister Crowley. Carola von Bärwangen hatte den geheimnisumwitterten Magier vor zwei Jahren persönlich kennengelernt. Auf einer Party ihrer Tante in Paris. Die Bilder traten ihr so plastisch vor ihr inneres Auge, als erlebe sie die Begegnung erneut. Sie stand im roten Kleid am Buffet, wunderschön zurechtgemacht. Crowley, im grauen Cutaway, kam auf sie zu. Er erwies sich als düstere Erscheinung. Aus dem bereits völlig haarlosen Eierkopf mit den aufgedunsenen Backen blickten stechende Augen. Carola hatte sofort das Gefühl, dass sie sie bis auf die Seele sezierten. Angst setzte sich in ihr fest. Und Faszination. »Glauben Sie an Schutzengel, junge Dame?«, fragte Crowley unvermittelt, während er eine Pfeife stopfte. Sein Französisch war holprig, aber gut zu verstehen. Carola schaute ihn verwirrt an. »Wie bitte? Nun, wenn Sie mich so direkt fragen, nein, Monsieur Crowley.« Ihr Französisch war um vieles besser als seines. Die Privatschule in Bozen, die ihr Vater ihr ermöglicht hatte, machte sich bezahlt.
Crowley schien es als völlig selbstverständlich zu nehmen, dass sie ihn kannte. »Sollten Sie aber. Ich versichere Ihnen, junge Dame, dass Sie ebenfalls einen Schutzengel haben. Ich sehe ihn hinter Ihnen stehen. Als verschwommenes Schemen zwar nur, aber immerhin. Wenn ich Ihnen einen kleinen Rat geben dürfte: Stellen Sie seine Existenz nicht länger in Abrede, dann wird er Ihnen helfen. Auch Schutzengel sind eitel und schnell in ihrer Ehre verletzt.« »Tatsächlich?«, murmelte Carola und ihre Verwirrung stieg. Der Raum war von Menschen gefüllt, aber sie sah plötzlich nur noch diesen Mann. Aleister Crowley lachte leise, zündete die Pfeife an und zog daran. Gleich darauf stieg würziger Tabakrauch in ihre Nase und reizte die Schleimhäute. Sie bemühte sich, nicht zu husten. »Wissen Sie, Mademoiselle von Bärwangen – das sind Sie doch? Ja, natürlich sind Sie die reizende Nichte unserer Gastgeberin! – ich habe auch einen Schutzengel. Und ich nehme ihn ernst. So redet er mit mir, gibt mir gute Tipps für alle Lebenslagen und ist auch sonst ein ganz umgänglicher Zeitgenosse. Er heißt übrigens Aiwaz.« »Ja? Und seit wann wissen Sie von seiner Existenz?« »Es interessiert Sie? Das ist sehr gut, denn so finden Sie vielleicht den Weg zu Ihrem Schutzengel. Wissen Sie, Aiwaz schwebt in einer Art Wolke. Er sieht aus wie ein großer dunkler Mann in den Dreißigern, wohl gebaut, stark und lebhaft, mit dem Gesicht eines grausamen Herrschers und verschleierten Augen, damit ihr Strahl nicht zerstört, worauf er seinen Blick richtet.« Carola fröstelte es. Unwillkürlich blickte er sich um. »Ist er … ist er hier?« Crowley nickte. »Aber natürlich. Schutzengel befinden sich immer in Rufweite ihrer Menschen. Nun, ich habe Aiwaz bereits im April 1904 kennengelernt. Ich war mit meiner damaligen Frau Rose auf Hochzeitsreise, die uns auch nach Kairo führte. Rose besaß hellsehe-
rische Fähigkeiten. Dadurch wurde sie im Boulak-Museum auf eine Holzstele aufmerksam. Es ist die Stele des Anchefenchons, auch Stele der Offenbarung genannt. Sie stellt eine Opferszene dar, bei der der Besitzer der Stele vor dem ägyptischen Gott Re-Harachte steht.« Crowley nickte erneut. »Die Tatsache, dass diese Stele im Ausstellungskatalog die Nummer 666 trug, betrachtete ich als ein Zeichen, da ich mich selbst schon seit frühester Zeit mit dieser Zahl, auch die Zahl des großen Tieres genannt, identifiziere. Nun, nachdem ich vor dieser Stele den Horus angerufen hatte, meldete sich Aiwaz und diktierte mir das Buch, in dem all meine Lehren niedergeschrieben stehen. Es heißt Liber Al vel Legis. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen ein Exemplar und signiere es Ihnen sogar.« »Es hat etwas mit … Magie zu tun, nicht wahr?« Sie lächelte scheu. »Ja. Denn sie ist die natürlichste Kraft der Welt. Und mit Sexualität. Sie ist die zweitnatürlichste Kraft auf der Welt.« Carola von Bärwangen spürte, wie sie errötete. »Aber … aber das würde mein Vater niemals zulassen. Diese … Themen sind nicht christlich.« »Nein? Wie alt sind Sie, Mademoiselle? Vierundzwanzig? Da sollten Sie nicht mehr unbedingt tun, was Ihr Vater sagt. Werden Sie frei im Fühlen und im Denken. Lesen Sie einfach mein Buch. Es soll Ihnen Hilfe auf diesem Weg sein, der nicht immer einfach ist.« Carola hatte das Buch tatsächlich angenommen und mit nach Hause gebracht. Ein großer Schock hatte sie erwartet. Ihre Mutter hatte ihren Vater verlassen und war mit ihrem Liebhaber geflohen. In einem Abschiedsbrief warf sie Oskar von Bärwangen seine Bigotterie und seine Langweiligkeit vor. Seitdem war ihr Vater noch tiefer in seinem Glauben versunken. Und seitdem versteckte sie das Buch vor ihrem Vater, aber auch vor allen anderen Menschen hier, denn Anhänger Crowleys galten nur allzu schnell als Hexen. Sie las es nun sicher zum zehnten Mal und war immer wieder aufs Neue fasziniert. Längst waren dunkle
Triebe in ihr erwacht. Das Verlangen nach den beschriebenen Spielarten der Sexualität, die ihr Vater sicher als abartig und pervers und als Versuchungen des Teufels bezeichnet hätte, wurde immer stärker in ihr. Wenn sie nach Bozen reiste, um ihre Freunde zu besuchen, geschah es oft genug nur, um sich heimlich mit fremden, jungen Männern einzulassen. Wie Federico. Ganz besonders liebte sie es, sich wie eine antike Amazone zu kleiden, nur mit einem kleinen Lederslip und ein paar Riemen am Oberkörper, die wie ein Geschirr wirkten und ihre wunderbaren Brüste perfekt zur Geltung brachten. Zudem trug sie unterarmlange Lederhandschuhe mit in Stacheln auslaufenden eisernen Schutzflächen und einen Helm mit Nasensteg auf dem Kopf. Dieses Kostüm hatte sie in einem Geschäft für Theaterkostüme erstanden. Da es im Haus nicht sicher war, bewahrte sie es auch hier oben in der Höhle auf und nahm es mit, wenn sie wieder Bozen, Meran oder andere Städte, in denen sie angeblich Freunde hatte, besuchte. Geld spielte dabei keine Rolle, denn ihr Vater besaß genug davon. Er war zudem der Erste in der ganzen Gegend gewesen, der sich ein Automobil zugelegt hatte, einen deutschen Mercedes 630. Und er hatte ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag einen Dixi 3/15 geschenkt, der aus der Fahrzeugfabrik Eisenach stammte. Der Kleinwagen machte vieles leichter. Und er lohnte sich wirklich. Es gab zwischenzeitlich genügend befestigte Straßen in Südtirol, auf denen sie fahren konnte und es wurden immer mehr, denn die Industrialisierung des Landes wurde von Bozen aus nach wie vor stark forciert. Und bisher hatte sie noch überall Männer gefunden, die bereit waren, sich mit ihr selbst auf die abartigsten Dinge einzulassen. Carola von Bärwangen beschäftigte sich zudem mit Magie, weil sie unbedingt ihrem Schutzengel begegnen wollte, es aber bisher nicht geschafft hatte. Bei einem ihrer Ausflüge hatte sich Carola in Innsbruck in einem Antiquariat ein uraltes Buch besorgt, in dem die Kontaktaufnahme mit Geistern genau beschrieben wurde. Dazu musste man einen Sud
aus Pflanzen trinken, dessen Rezept genau beschrieben wurde. Er sollte den Geist weit öffnen. Carola, die in dem neuen Buch las, nachdem sie sich zuvor mit Crowleys Zeilen Befriedigung verschafft hatte, nahm sich vor, morgen die nötigen Pflanzen zu besorgen. Der Himmelsherold würde ihr am meisten Probleme bereiten, da die blau wachsende Pflanze sehr selten war und zudem nur in Felsspalten und auf steilen Graten wuchs. Aber sie hatte auf ihren Wanderungen schon welche gesehen. Schon früh am Morgen enterte Carola von Bärwangen ihren Dixi und fuhr los. Die Ötztaler Alpen waren ihr Ziel. Beim Similaun stieg sie zum Hauslabjoch hoch. Sie bewegte sich sicher in der hochalpinen Bergwelt, denn schon als kleines Mädchen hatte ihr Vater ihr das Bergsteigen beigebracht und war oft mit ihr gewandert. Carola lächelte, als sie einen kleinen Teppich aus blauen Vergissmeinnicht auf einem Felsvorsprung stehen sah. Die waren dem Himmelsherold zwar sehr ähnlich, aber sie kannte die Unterschiede durchaus. Auf einem schmalen Felsgrat stutzte sie. In einer steil aufsteigenden, aber durchaus machbaren Wand direkt vor ihr krallte sich in etwa zehn Meter Höhe eine einzelne blaue Blume in einen Felsspalt. Carola jubelte innerlich. Das konnte eigentlich nur ein Himmelsherold sein! Mit sicherem Tritt machte sie sich an den Aufstieg. Der Felsen bot genug Spalten und Vorsprünge, um sicher nach oben zu kommen. Je näher sie der Pflanze kam, desto unsicherer wurde sie. Die blaue Blume war kein Himmelsherold. Überhaupt wirkte sie extrem fremdartig. So was habe ich ja überhaupt noch nicht gesehen. Was ist das nur? Carola fühlte sich, nachdem sie eine bestimmte Grenze überschritten hatte, mit einem Mal wie magisch von dieser Blume angezogen. Sie konnte es kaum erwarten, sie zu pflücken. In der Wand hängend, brach sie sie schließlich ab. Und drückte sie sich an den Hals, denn das war genau das, was sie mit der Blume tun musste. Sofort
verband sie sich mit ihrer Haut. Wie eine Körperzeichnung prangte sie nun an der linken Halsseite. Im selben Moment sah Carola von Bärwangen dunkle Schatten in ihrem Geist. Sie wanderten durch eine rötlich braune Landschaft, in deren Hintergrund etwas Furchtbares zu lauern schien. Die Stimmen, die plötzlich im Kopf der jungen Frau wisperten, kamen von dort. Diene mir und mache deine Welt zu meiner. Erwecke meine Armeen … Carola von Bärwangen wollte am liebsten auf die Knie fallen, aber irgendetwas in ihr wehrte sich erfolgreich gegen das Wispern. Eine Mischung aus Angst und Panik, die sich zu einer machtvollen Kraft aufschaukelten und sie davor schützten, der fremden Wesenheit umgehend zu verfallen. Carola schaffte es, die Visionen zurückzudrängen, aber los wurde sie sie nicht mehr. Wie ein ständig durchlaufender Film hatten sie sich hinter ihr Denken gelegt. Die junge Frau war verstört. Begegnete sie etwa gerade ihrem Schutzengel? Hatte Crowley sie belogen? Waren die Schutzengel gar nicht nett und hilfsbereit? Sondern … … Monster? Die junge Frau fuhr nach Stilfs zurück. Die Orte, durch die sie auf ihrem Weg kam, waren zerstört, als sie sie hinter sich ließ, die Lebenden tot, während die Herrschaft der Toten begann. Allerdings nur auf dem Hintergrundfilm in ihrem Kopf. Die Bilder entstanden einfach, sie konnte sich nicht dagegen wehren. Nur dagegen, dass sie den drängenden Impulsen, die Toten dieser Orte zu erwecken, nicht nachgeben musste. Kalter Schweiß überzog ihren ganzen Körper. Als sie auf dem elterlichen Hof zurück war, bedeckte sie ihren Hals mit einem Schal, um unangenehmen Fragen auszuweichen. Niemand sollte die blaue Blume sehen. Aber die war längst unsichtbar geworden. Dann stieg Carola erneut zu ihrer Höhle hoch. Im Buch Crowleys suchte sie nach Möglichkeiten, diese Visionen wieder los zu werden, denn diesem dunklen Engel, der sie pausenlos peinigte, wollte sie
nicht nahe sein. Irgendwann war ihr so kalt, dass ihre Zähne aufeinander klapperten. Die dunklen Schatten ihrer Visionen wanderten nun nicht mehr im Hintergrund durch die braungelb leuchtende Landschaft. Sie kamen beständig näher. Carola sah sie hinter ihren eigentlichen Gedanken gehen, sie sah ihre zerfressenen Gesichter und verdrehten Augen und die Haut, die ihnen in Fetzen vom Leib hing. Ihre Arme waren nach vorne gestreckt, während sie den Friedhof in Stilfs verließen und über die Lebenden herfielen. Weitere diese Albtraumgestalten stiegen aus ihren Gräbern. Und ganz Stilfs war bald darauf eine einzige Leichenhalle … Carola von Bärwangen zitterte nun am ganzen Körper. Irgendwann schlief sie ein. Diene mir und mache deine Welt zu meiner. Erwecke meine Armeen … Die junge Frau konnte sich jetzt, da ihr bewusster Wille ausgeschaltet war, nicht mehr gegen die stakkatoartig anbrandenden Befehle wehren. Sie verfiel der fremden Wesenheit. Ja, meine Göttin, ja, ich diene dir. Sag mir, was ich tun soll und ich tue es für dich. Ich bin dein! Diene mir und mache deine Welt zu meiner. Erwecke meine Armeen! Carola von Bärwangen kannte diesen Befehl bereits. Im Gegensatz zu vorher wusste sie nun aber auch, wie sie es zu bewerkstelligen hatte, um der Totengöttin eine gehorsame Dienerin zu sein. Sie besaß die Macht der blauen Blume. Die Toten faszinierten sie, machten sie glücklich, sie wollte so viele wie möglich für die Göttin erwecken. Denn der wandelnde Tod war die einzig wahre Existenzform, vitales Leben unwert und falsch. Das Fieber und die Gier ließen Carola von Bärwangen erwachen und trieben sie aus der Höhle. So rasch wie möglich wollte sie die ersten Toten erwecken, damit sie die Lebenden in die einzig wahre Existenzform überführen konnten.
Es war inzwischen Nacht geworden, ein fast voller Mond verschwand immer wieder hinter jagenden Wolken. Die Dienerin der Göttin trotzte den starken Windböen und stieg den Berg hinunter. Sie konnte die Toten nun förmlich wittern. Was für ein unglaublich intensiver, betörender Duft! Er machte sie fast wahnsinnig vor Gier. Um die ersten Toten zurück in die Existenz zu holen, musste sie gar nicht zum Friedhof nach Stilfs gehen. Einige von ihnen lagen näher zu ihr in der Erde. Sehr viel näher sogar. Als sie den elterlichen Hof erreichte, war alles still. Nur im Zimmer ihres Vaters sah sie noch Licht brennen. Wahrscheinlich betete er wieder bis in die frühen Morgenstunden für seine verschwundene Frau, ihre Mutter. Vater? Was ist ein Vater? Was eine Mutter? Der flüchtige Gedanke machte sofort dem machtvollen Bild wandelnder Toter Platz. Erwecke sie. Lass sie das unwerte Leben vernichten und führe sie in die wahre Existenz! Die Kühe im Stall begannen unruhig zu werden und dann schrecklich zu brüllen, die Schweine in den Stallungen nebenan quiekten wie wild. Was sind Kühe? Carola ging zu dem riesigen Heuschober hinüber, während sie im Gesindehaus Geräusche vernahm. Die Knechte würden gleich herauskommen und nach dem Rechten sehen, weil sie Wölfe oder einen Bären in der Nähe vermuteten. Carola von Bärwangen machte kein Licht, denn sie sah nun ausgezeichnet in der Finsternis. Im hinteren Teil, unter einer Tenne, kniete sie sich auf den holzbeplankten Boden und legte ihre Hände darauf. Die blaue Blume an ihrem Hals schien förmlich zu explodieren. Kaltes blaues Licht umflorte ihren Körper und wanderte ihre Arme entlang in den Boden. Gleich darauf durchstieß eine Hand das splitternde Holz. Von un-
ten. Eine zweite schob sich nach, ein Kopf, ein Oberkörper, bedeckt von Schmutz und Maden, die sich in den verwesenden Fleischresten sichtlich wohlfühlten. Die Reste des Gesichts glaubte Carola als das ihrer Mutter zu identifizieren. Es berührte sie nicht. Mutter, ich hole dich in die wahre Existenz zurück … Was ist eine Mutter? Ein zweiter Toter folgte. Der Körper eines Mannes im ungefähr gleichen Verwesungszustand. Holt euch die Lebenden … Carola von Bärwangen fühlte so etwas wie Ekstase, als die beiden Untoten unbeholfen los tappten. An der großen Scheunentür tauchte ein Lichtschein auf. Der Schattenriss eines Mannes bewegte sich hinter der schwankenden Sturmlaterne. »Hallo, ist da wer?«, fragte er mit kräftiger Stimme. »Komm heraus, Gesinde! Mit erhobenen Armen. Ich bin bewaffnet.« Jonas, einer der Knechte, ein Bär von einem Mann. Die Zombies wankten auf ihn zu. »Wer … wer seid ihr? Bleibt sofort stehen, oder ich schieße … Oh mein Gott, was … Aaaaaaah …!« Der schrille Schrei brach bereits im Ansatz ab, während die Kühe und die Schweine nun wie irre brüllten und gegen die Wände ihrer Boxen sprangen. Hinter den beiden wahren Existenzen her ging Carola von Bärwangen auf den Hof hinaus. Ihre Mutter … Was ist eine Mutter? … kniete gerade über dem zweiten Knecht und biss ihn in den Hals. Dann drangen die beiden zuerst erweckten wahren Existenzen in das Gesindehaus ein. Die Knechte, von der Macht der blauen Blume ebenfalls auf die wahre Existenzebene gehievt, lauerten an den Ausgangstüren. Vier Mägde, die in Panik fliehen wollten, ließen ihr Leben, drei weitere waren im Gesindehaus gefangen und konnten nicht mehr
fliehen. Plötzlich versuchte sich Amalia Rosendorfer mit panikgeweiteten Augen und keuchendem Atem an Carola von Bärwangen vorbei zu drücken. Die Dienerin der Totengöttin packte blitzschnell zu und bekam das Mädchen am Hals zu fassen. Amalia gurgelte und schlug um sich. Dabei traf sie die blaue Blume am Hals der Dienerin. Wieder schien das Relikt einer fremden Macht zu explodieren. Carola von Bärwangen wollte nun auch selbst verhasste Vitale in die wahre Existenz überführen. Sie konnte es genauso gut wie die Wandelnden. Ihre kleine Freundin … Was ist eine Freundin? … würde die Erste sein. In diesem Moment erschien ein Schatten neben ihr. Oskar von Bärwangen brüllte wie ein Tier, als er sich gegen seine Tochter warf. Unter der Wucht des Aufpralls taumelte Carola nach hinten und ließ Amalia dabei los. »Kind, was um Gottes willen tust du?«, schrie Oskar von Bärwangen mit sich überschlagender Stimme. »Hat dich der Teufel in seinen Klauen?« Was ist ein Teufel? Carola von Bärwangen rappelte sich wieder hoch und ging auf den Vitalen mit den weit aufgerissenen Augen zu. Der stand neben der knienden Amalia und reckte ein silbernes Kreuz gegen sie. »Vade retro, Satanas! Verlasse sofort meine Tochter!« In diesem Moment wankten weitere wahre Existenzen in den Raum und gingen auf Oskar von Bärwangen zu. Der schaute sich gehetzt um und streckte das Kreuz nun ihnen entgegen. Aber natürlich ließen sich die wahren Existenzen davon nicht beeindrucken. Was für eine lächerliche Waffe … Was ist eine Waffe? Als eine der Mägde, der das Blut über den ganzen Körper lief, den
Mann berührte, schrie er schrill und schlug und trat um sich. Es gelang ihm tatsächlich, zwei der wahren Existenzen zurückzuschleudern, aber dann zog sich der Ring immer enger. In diesem Moment erschien ein großer, düsterer Mann im Raum. Carola von Bärwangen hatte nicht gesehen, von wo er gekommen war. Sie spürte nur, dass die Göttin die Ausstrahlung des Mannes, der nicht zu den Vitalen gehörte, hasste. Sie hatte sogar ein klein wenig Angst davor. Vernichtet den Fremden! Carola von Bärwangen und die wahren Existenzen wandten sich ihm sofort zu. Er hob die Hände. Eine unglaubliche Kraft ging von ihnen aus, eine Kraft, die sie alle lähmte und die Göttin aufbrüllen ließ. Etwas zuckte wie irr im Hintergrund ihrer Gedanken, dort in den braungelben Nebeln, wohin sie nicht sehen durfte, weil es die Heimat der Göttin war. Die wahren Existenzen brachen zusammen und vergingen. Carola spürte die furchtbare Kraft, die die Göttin bezwang, ebenfalls. Sie brach zusammen und konnte sich nicht mehr rühren. Im Gegensatz zu den wahren Existenzen behielt sie ihre Existenz allerdings. Nachdem die Göttin spürte, dass sie sich nicht mehr behaupten konnte, zog sie sich vollkommen zurück, behielt aber den Kontakt zu Carola, worüber diese unglaublich erleichtert war. Es gab nichts Schlimmeres, als wenn die Göttin sie im Stich gelassen hätte. Der Mittelpunkt und der Quell ihrer Existenz. Carola von Bärwangen konnte nach wie vor alles hören und sehen, was um sie herum vorging. »Wer … wer sind Sie?«, fragte Oskar von Bärwangen mit leiser, zitternder Stimme, während er Amalia aufhalf. »Sie … haben uns gerettet.« Der düstere, schlanke Mann, der das Aussehen eines Südländers hatte, lachte leise. »Nenn mich Samuel Dios, mein Lieber. Wie mir scheint, bin ich ja wirklich im allerletzten Moment gekommen.«
»Sam… Samuel Dios …« Unwillkürlich nahm Oskar von Bärwangen die leise wimmernde Amalia in den Arm. »Dios ist das spanische Wort für … Gott. Und Samuel heißt doch … einer der Erzengel, nicht wahr? Du bist … der von Gott gesandte Erzengel Samuel. Danke, danke, dass du uns ge…« Erst jetzt schien ihm wieder einzufallen, dass seine Tochter leblos vor ihm auf dem Boden lag. Mit einem schrillen Schrei, der in ein leises Wimmern überging, kniete er neben sie und streichelte ihre Wange. »Ist sie … tot, Samuel? Hat der Teufel sie geholt?« »Nun, das könnte man durchaus sagen, ja.« »Mein armes Kind. Warum nur? Was hat es nur getan? Hat es unchristlich gelebt?« Samuel Dios lachte erneut. »Möglicherweise muss das Kind auch nur für die Sünden seiner Väter büßen, mein Lieber. Deine Frau und ihr Liebhaber sind auf ihrer Flucht ja nicht sehr weit gekommen. Warum wohl?« »Ich … ich …« »Ach, vergiss es einfach. Wir sehen uns irgendwann ohnehin wieder und dann reden wir nochmals ausführlich darüber. Ich denke, dass es genau richtig war, was du mit den beiden gemacht hast. Deine Tochter wirst du allerdings auch nicht mehr zurückbekommen. Und das ganze Gesinde ist ebenfalls hinüber. Außer euch beiden lebt keiner mehr. Da hat deine Tochter, diese Blume der Berge, wirklich gute Arbeit geleistet. Oder besser, der Teufel in ihr.« Oskar von Bärwangen schluchzte laut. Unsanft stieß ihn Samuel Dios zur Seite. Carola sah sein Gesicht groß über ihrem auftauchten. Unbemerkt von den anderen öffnete er ihren Mund und legte ihr etwas auf die Zunge. Es besaß so große Kraft, dass es die Verbindung zur Göttin trennte. Carola wollte schreien, brüllen, toben, aber sie konnte nichts von alledem.
»Ich werde mein Kind christlich beerdigen lassen, damit der Teufel nicht in es zurückkommen kann.« »Ja, tu das«, erwiderte Samuel Dios und betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. »Eine wirklich sehr gute Idee.« Er kicherte wieder. »Also dann, wir sehen uns. Meine Mission hier ist erledigt. Welche Geschichte du der Polizei gegenüber erfindest, warum deine Tochter tot und dein kompletter Hofstaat, na ja, fast dein kompletter Hofstaat«, sagte er mit Blick auf Amalia Rosendorfer, »plötzlich verschwunden ist, überlasse ich dir.« Damit ging Samuel Dios zur Tür hinaus. Einige Tage später wurde Carola von Bärwangens toter Körper neben der Kirche von Stilfs in die Erde gesenkt.
* Bozen, Gegenwart Nicole fuhr in die Innenstadt und checkte im Hotel Alpi ein. Dann rief sie Roberto Tomassini an. Sie vereinbarten ein Treffen nach acht Uhr abends, da Tomassini vorher keine Zeit hatte. Ihm war etwas Dringendes dazwischengekommen. Der Museumsleiter war zuerst nicht begeistert, dass der Professor nicht persönlich vorbei kam, sondern ihm eine »Assistentin« schickte. Nachdem er Nicole aber persönlich traf, schlug seine Skepsis in italienische Begeisterung um. »Ist es möglich, dass ich mich im Museum umschauen kann, Signore Tomassini?«, fragte Nicole bei einem Glas Wein in einem kleinen Restaurant im Zentrum Bozens. Sie mochte den mittelgroßen, hageren Mann mit den feurigen Augen vom ersten Moment an. Er strahlte etwas Sympathisches, Mitreißendes aus. »Das sollte kein Problem sein, Signora Duval. Da keine konkreten Verdachtsmomente gegen mich vorliegen, muss mich die Polizei ins
Museum lassen. Darf ich Sie zuvor noch zum Essen einladen? Es wäre mir eine Freude und Ehre.« Nicole willigte ein. Sie ließ sich die bekannten Umstände des ÖtziVerschwindens noch einmal genau erzählen. Danach gingen sie die paar Schritte zum Südtiroler Archäologiemuseum, das am Rande der Fußgängerzone lag. Tomassini schloss auf. Sie betraten den dunklen, verwaisten Bau. Etwa zum selben Zeitpunkt traf Aurelio Limongelli ein. Nicole wollte sich auch mit dem Wächter unterhalten. Der alte Mann machte einen überaus nervösen Eindruck. Er schien die schockierenden Ereignisse noch nicht verarbeitet zu haben. Bei einem Rundgang durchs Museum erzählte Aurelio Limongelli, den Nicole nicht sonderlich mochte – auch weil er es mit der Körperpflege nicht so genau zu nehmen schien –, noch einmal sein furchtbares Erlebnis. Dabei redete er schnell und verhaspelte sich ständig. Die rechte Hand, die er in seiner Hosentasche stecken hatte, bewegte sich ständig, so als knete sie etwas. Der Kerl wird doch nicht etwa Taschenbillard spielen? Ach Quatsch, da stimmt was nicht, das kann ich tausend Meilen gegen den Wind riechen. Den drückt irgendwas. Der will was erzählen, aber kriegt die Kurve noch nicht so ganz. Ob das was mit dem Ding in seiner Tasche zu tun hat? Nicole lächelte Limongelli an. »Möchten Sie uns vielleicht sonst noch etwas sagen, Signore Limongelli? Ich meine, vielleicht erinnern Sie sich an etwas, was Ihnen bei Ihrer polizeilichen Aussage noch nicht eingefallen ist. Das ist ja oft so. Manchmal fällt einem hinterher noch etwas ein. Und dann traut man sich nicht mehr.« Limongelli schluckte schwer und versuchte zurück zu lächeln. »Nein, Signora Duval. Das … das … äh ist schon alles, wirklich. So war’s, ich schwör’s.« Das ist ein glatter Meineid. Deine zuckenden Augenlider verraten dich. Und in die Augen kannst du mir auch nicht schauen. »Ich muss mal kurz aufs … äh Häuschen, ich meine Klo … Toilette
…« Geh schnell, bevor du dir noch in die Hosen machst. Und wehe, du willst das loswerden, was du in der Hosentasche hast! Der alte Wachmann ging mit hastigen Schritten zum Treppenhaus, denn die Toiletten lagen im Eingangsgeschoss. »Was meinen Sie, Signora Duval?« Tomassini sah sie fragend an. »Glauben Sie, dass mein Onkel uns was verschw…« Ein schriller, hoher Schrei hallte durch das stille Museum. Er kam von unten. Und drückte Todesnot aus. Limongelli! »Mist.« Nicole wirbelte auf dem Absatz herum. Mit wahren Panthersätzen erreichte sie die Treppe und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter. Tomassini versuchte ihr auf den Fersen zu bleiben, wurde aber weit abgehängt. Im Foyer, vor der breiten Verkaufstheke, lag der Wachmann auf dem Rücken. Eine Gestalt kniete über ihm. Ein Mann. Anscheinend nackt. Mit der rechten Hand würgte er den unglücklichen Wachmann, der unter ihm zuckte, strampelte und gurgelte, mit der linken tastete er nach irgendetwas. »Loslassen!«, schrie Nicole. Der Nackte zeigte keine Reaktion. Nicole rannte auf ihn zu und prallte mit voller Wucht gegen ihn. Dabei merkte sie, dass der Mann eiskalt war. Und tot. Ein Zombie! Durch die Wucht des Aufpralls riss Nicole den Untoten von Limongelli herunter. Es knackte, als er auf den Steinboden knallte. Während der Widergänger auf dem Rücken lag, wälzte sich Nicole blitzschnell seitlich weg. Doch der Nackte bekam ihren Knöchel zu fassen. Ein unnachgiebiger Griff schloss sich darum. Nicole stöhnte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, in eine Stahlpresse gekommen zu sein. Die Schmerzen, die ihren Körper durchfluteten, waren so
stark, dass sie für einige Augenblicke ihr Bewusstsein trübten. Der Zombie zog sie zu sich her und stieg unbeholfen auf ihren Bauch. Gleich darauf spürte die Dämonenjägerin den stahlharten Griff um ihre Gurgel. Verzweifelt versuchte sie an ihren Blaster zu kommen. Es ging nicht. Aber der Dhyarra war zu erreichen! Nicole versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben, obwohl sie der aufkommenden Panik am liebsten nachgegeben hätte. Die Erfahrung aus hunderten von Kämpfen half ihr. Sie umklammerte den Sternenstein in ihrer Jackentasche und stellte sich bildlich vor, wie der Zombie über ihr in helle Flammen aufging und sich in Staub auflöste. Tatsächlich hüllten den Untoten bereits im nächsten Moment hellblaue Flammen ein. Und konnten ihm nichts anhaben! Er drückte weiter zu, als spüre er die Flammen gar nicht. Nicole stöhnte und gurgelte und versuchte, den Griff um ihren Hals zu lösen. Sie zuckte und drehte sich unter dem Untoten und gab der Panik nun doch nach. Rote Nebel waberten vor ihren Augen, sie kämpfte verzweifelt gegen die dahinter lauernde Finsternis. Es konnte die des Todes sein. Nein, nein, Chéri, hilf mir bitte, bitte …! Ihre Gedanken voller Todesangst wirbelten kreuz und quer. Alles um sie herum drehte sich. Grelle Sonnen explodierten vor ihren Augen, die roten Nebel verdichteten sich zu wahnsinnig schnell rotierenden Spiralen. Im nächsten Moment ließ der Druck schlagartig nach. Nicole würgte und keuchte und umklammerte ihren Hals, durch den die Luft nur langsam wieder in die Lungen strömte. Als sie sich, von Roberto Tomassini unterstützt, aufrichtete, sah sie den Zombie verkrümmt, in annähernd stabiler Seitenlage, neben sich liegen. Blicklose Augen starrten auf den Boden. Aus seiner linken Schläfe ragte der Griff eines Dolchs.
»Der Dolch von Ötzi«, sagte Tomassini, der ihren Blicken mit seinen folgte. »Ich bin gerannt wie noch nie in meinem Leben und habe ihn von oben geholt. Als Leiter hat man ja Gott sei Dank einen Generalschlüssel für alles. Wirklich gute Arbeit, Feuersteinklinge, Eschenholzgriff. In Zombiefilmen habe ich mal gesehen, dass man ihnen das Gehirn zerstören muss.« »Der gute alte George Romero«, ächzte Nicole. »Hätte auch nicht gedacht, dass ich dem mal dankbar sein muss. In allererster Linie natürlich Ihnen, Roberto. Danke. Die richtige Idee zur richtigen Zeit. Wer … ist das da?« Sie richtete sich auf. Schneller, als das ein normaler Mensch gekonnt hätte. Das Wasser des Lebens in ihren Adern machte sie rasch wieder fit. »Eduard Egger-Waigel«, flüsterte Tomassini und schluckte schwer. »Er … er muss aus der Pathologie geflohen sein. Geflohen, ha. Das ist wirklich ein … ein Untoter, nicht wahr?« Erst jetzt schien Tomassini die tatsächliche Tragweite des Ereignisses bewusst zu werden. »Er war einer, ja. Dank Ihnen.« Nicole nickte und klopfte sich imaginären Staub von den Kleidern. »Egger-Waigel ist also zurückgekommen. Was wollte er bloß hier? Vielleicht sollten wir da mal Ihren Onkel Aurelio fragen, Roberto. Möglicherweise war es ja kein Zufall, dass er ausgerechnet ihn angegriffen hat.« »Meinen Sie, Nicole? Das … das verstehe ich nicht. Ach, verdammt, ich verstehe hier gar nichts.« Aurelio Limongelli lag vor sich hin wimmernd in einer Ecke. Er streckte Nicole und dem Museumsleiter abwehrend die Hände entgegen, als sie vor ihn traten. »Nein, geht weg, bitte …« Kurze Zeit später hatten sie ihn beruhigt. »So, mein Lieber, und nun mal raus mit der Sprache. Und natürlich mit dem Ding in Ihrer Hosentasche …«
* Prad Als Zamorra wieder zu sich kam, lag er in einem Bett, das mit hellgrün karierter Wäsche überzogen war. An den Wänden hingen bunte Gesichter in der Art, wie er sie von dem seltsamen Freilichtmuseum kannte. Ein Mann trat soeben ins Zimmer. Er war mittelgroß, fast schmächtig, um die fünfzig Jahre alt und trug ein graues, gepflegtes Oberlippenbärtchen. Auch seine glatt an den Kopf geklatschten halblangen Haare schienen in Ehren ergraut zu sein, sein Gesicht war offen, seine Augen funkelten freundlich. Zamorra glaubte zudem eine gehörige Portion Schalk darin auszumachen. Um den Hals trug der Mann ein Amulett an einer braunen Lederschnur. Es zeigte eine kleine Schildkröte, die aus einem grünlich schimmernden Stein gefertigt war. »Ah, da sind Sie ja wieder«, sagte der Mann, der sich in eine etwas abgeschabte graue Jacke und hellblaue Jeans kleidete, mit freundlicher Stimme. »Verstehen Sie Deutsch, Professor Zamorra? Der sind Sie doch?« »Ja und ja.« Zamorra setzte sich auf die Bettkante und fuhr mit allen zehn Fingern durch die Haare. Obwohl er an seiner Schwäche beinahe gestorben wäre, fühlte er sich wieder frisch und erholt. Dafür sorgte, wie bei Nicole, das Wasser des Lebens in seinen Adern. »Wo bin ich? Wie viel Uhr ist es? Und wer sind Sie, mein Herr?« Der Mann lachte. »Immer langsam mit den jungen Pferden, Herr Zamorra. Ich bin ›Der-mit-dem-Windhauch-spricht‹ und ich glaube, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe.« Zamorra nickte und verzog das Gesicht. »Ja, ich glaube, ich erinnere mich an Sie. Vielen Dank, Herr Latiner.« Der Grauhaarige starrte ihn verblüfft an. »Woher kennen Sie den Namen, den ich in meinem früheren Leben getragen habe, Herr Za-
morra?« Der Meister des Übersinnlichen grinste leicht. »Oben am Parkplatz an der Tafel hängt ein, wenn auch schon etwas verblichener, Zeitungsbericht über Sie. Michael Latiner, nicht wahr? Philosoph und Schriftsteller, Hobbyindianer und Künstler.« »Letzteres stimmt alles. Ersteres nicht. Ich heiße ›Der-mitdem-Windhauch-spricht‹. Aber das sagte ich ja bereits.« Zamorras Grinsen verstärkte sich, brach aber umgehend ab. »Wie spät ist es? Und was genau ist passiert?« »Wollen Sie denn gar nicht wissen, wo Ihr seltsames Amulett abgeblieben ist?« »Nein. Es ist so treu wie ein Hund und kommt auf Pfiff umgehend zurück.« Latiner setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer, der aus rostigen Eisenteilen zusammengeschweißt war und in dessen Lehne eine Art Gesicht zwischen zwei nach oben gerichteten Flügeln integriert war. Es wirkte wie eines der Gesichter, die die Azteken einst gemalt hatten. An der geschwungenen Sitzfläche stand Besetzt und darunter Eile mit Weile. »Auf Pfiff, was? Das ist witzig. Ich mag witzige Leute«, erwiderte Latiner. »Sie haben die ganze Nacht durchgeschlafen, Herr Zamorra. Es war absolut beeindruckend, wie Sie mit diesem … Amulett oder was immer das auch sein mag, den Zombie vernichtet haben. Plötzlich war er ganz silbrig und durchsichtig. So wie beim Röntgen, verstehen Sie. Und dann ist er zu Staub zerfallen. Aber mit Verlaub, das hat doch ziemlich lange gedauert. Und es scheint Sie gehörig fertiggemacht zu haben. Ich war da mit den beiden anderen wesentlich schneller durch.« »Ach ja? Und wie haben Sie das gemacht, wenn man fragen darf?« »Da schrieb seine Hand in das rinnende Blut, auch althergebrachte Methoden sind gut«, summte der Grauhaarige. »Das hat mal ein deutscher Liedermacher gesungen.«
»Reinhard Mey, ja. Ich kenn’s. Also?« Zamorra erhob sich und ging zum Fenster. Draußen schien die Sonne. Dem Stand nach musste es früher Vormittag sein. »Man kann sie ganz einfach killen. So, wie sie’s in den Filmen immer gezeigt haben. In den Schädel schießen oder Kopf abhacken. Ich hab beides schon probiert. Funktioniert ausgezeichnet.« Zamorra nickte nachdenklich. »Was geht hier vor, Herr Windhauch? Ich kürze das jetzt einfach mal so ab, der Rest ist mir zu lange.« »Wenn ich das wüsste. Bevor ich weiter spreche, beantworten Sie mir bitte zuerst eine Frage, Herr Zamorra.« »Gerne. Wer kann seinem Lebensretter schon einen Wunsch abschlagen?« »Jagen Sie diese Wesen der Finsternis, um sie zu vernichten? Sind Sie deswegen hier in der Gegend?« »Ja. Ich hab davon gelesen.« Latiner nickte nachdenklich. »Gut. Ich hab’s mir gleich gedacht, als ich den Angriff Ihres Amuletts gesehen habe. Ich habe Sie nämlich die ganze Zeit beobachtet, weil ich nicht wusste, auf welcher Seite Sie stehen. Und ich wusste nicht, ob solche wieder da sind.« Er verdrehte die Augen, streckte die Arme nach vorne und zuckte unkontrolliert herum. Eine durchaus amüsante Zombie-Imitation, wie Zamorra fand. Er unterbrach Latiner nicht. »Ja, wie soll ich sagen. Ich habe natürlich auch von der verschwundenen Leiche auf dem Stilfser Gottesacker gehört. Und vom schrecklichen Tod der armen Ressel Oberhaidacher. Wie alle die anderen Leute hier habe ich bezüglich der gestohlenen Leiche an einen Perversen gedacht und bezüglich der armen Ressel an einen Bären. Auch wenn es schon etwas seltsam war, dass ihr das Herz herausgerissen worden ist. So gehen Bären normalerweise nicht vor.« Zamorra nickte.
»Ja. Und gestern ist dann plötzlich eine Frau bei mir im Freilichtmuseum aufgetaucht. Eine absolute Schönheit. Spanierin, würde ich mal tippen, südländisches Gesicht und glutvolle schwarze Augen, lange schwarze Haare wie Rabenfedern und eine Figur … ich sag’s Ihnen. Tief ausgeschnittenes, eng anliegendes Kleid, eine Wucht. Ja, sie sah irgendwie südländisch aus, auch wenn sie sich als Elena Kofler vorgestellt hat …« Michael Latiner stand auf, verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging ein paar Schritte hin und her. Erregung hatte ihn plötzlich gepackt. »Aber sie war auch irgendwie … unheimlich, wenn Sie verstehen, was ich meine, Herr Zamorra. Herrisch, bestimmend. Sie forderte meine Hilfe, wollte mit mir zusammenarbeiten …« »Ja? In welcher Beziehung?« »Sie sagte, ich solle ihr die Kraft meiner magischen Waffe zur Verfügung stellen. Wenn ich es tue, würde es mein Schaden nicht sein. Sie stellte mir sogar in Aussicht, mit mir zu schlafen und Dinge mit mir anzustellen, die ich zuvor garantiert noch nicht erlebt hätte. Ha …« Latiner schüttelte den Kopf, dann hielt er abrupt an. »Die Verlockung war groß, Herr Zamorra, ganz sicher. Aber erstens machte sie mir Angst, wie gesagt. Zweitens wusste ich gar nicht, von was die Dame sprach. Ich habe keine magische Waffe.« Zamorra deutete auf das Amulett an seinem Hals. »Doch, die Schildkröte da. Ich spüre ihre Ausstrahlung. Wenn Sie wollen, kann ich sie nachher mit meinem Amulett mal testen. Sie scheint wirklich sehr stark zu sein. Woher haben Sie sie?« Latiner verzierte seine Stirn mit zahlreichen Falten, die allesamt als Zeugen seines Unglaubens fungierten. »Die Schildkröte? Sie machen wohl Witze. Na ja, obwohl … Ich habe sie vor einigen Jahren von einem Touristen geschenkt bekommen. Der sagte, er sei Navaho-Indianer und war ganz fasziniert von meiner Kunst. Er sagte, ich soll
die Schildkröte immer um den Hals tragen, sie würde mir irgendwann sicher Glück bringen. Was man halt so sagt.« »Vielleicht hat mehr dahinter gesteckt. Wie ging das mit dieser Elena Kofler weiter?« »Da ich davon ausging, keine magische Waffe zu haben, habe ich sie für leicht verrückt erklärt und abgelehnt. Daraufhin hat sie versucht, mich … mich …« »Ja?« »Na, das klingt jetzt vielleicht blöd, aber sie hat versucht, mich zu hypnotisieren. Aber ich hab’s nicht nur gemerkt, ich konnte den Versuch auch abwehren, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie. Lieber Gott, ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das erzähle. Es klingt irgendwie wie Fantasy.« Er stieß ein fast ärgerliches Lachen aus. »Wie hat die Kofler reagiert?« »Total abgedreht. Das Weib hat gefaucht und gezischt und mir mit den schrecklichsten Strafen der Hölle gedroht, ist dann aber abgezittert. Kurze Zeit später, nach Einbruch der Dunkelheit, ist der erste Zombie bei mir aufgetaucht. Den hat mir die Kofler aus Rache auf den Hals gehetzt, da bin ich mir völlig sicher. Mann, was hatte ich Angst. Aber gleichzeitig auch Mut, der irgendwo von innen kam. Ich … ich hätte mir das selber nicht zugetraut, aber ich bin ins Haus gerannt, hab mir das Jagdgewehr geschnappt, das ich von meinem Vater geerbt habe und hab dem … Ding den Schädel weggeblasen. Dummerweise hatte ich nur noch diese eine Patrone. Den beiden nächsten Zombies, die im Morgengrauen auftauchten, musste ich deswegen die Schädel einschlagen. Einen weiteren habe ich mit dem Feuerzeug angesteckt. Sie alle haben sich aufgelöst, sodass ich mit meiner Geschichte nicht mal zur Polizei gehen konnte. Na ja, den ganzen Tag über habe ich voller Angst hier verbracht. Den Fluchtreflex habe ich unterdrückt, ich will das alles hier natürlich nicht so einfach aufgeben. Und dann kamen Sie daher. Ich wusste
zuerst nicht, ob Sie vielleicht zu der Kofler gehören, ob die Sie geschickt hat. Deswegen habe ich mich ruhig und abwartend verhalten. Als dann wieder Zombies aufgetaucht sind und Sie angriffen, wusste ich, dass ich Ihnen beistehen muss.« »Wie lange habe ich geschlafen? Die ganze Nacht?« »Tief und fest. Und geschnarcht haben Sie auch, als Sie wieder kräftiger waren.« »Unmöglich, Herr Windhauch, das hätte ich gehört. Ich liege mir ja schließlich am nächsten.« Zamorra grinste schräg. »Kennen Sie die Kofler?« »Nein. Das könnte irgendeine Touristin sein, habe ich mir gedacht. Und deswegen heute ein wenig herumtelefoniert. Und ich war erfolgreich. Eine Elena Kofler ist tatsächlich im Hotel Traube in Stilfs abgestiegen.« Zamorra lächelte. »Sehr gut. Dann gehe ich die Herrin der Zombies doch mal besuchen.« »Ich komme selbstverständlich mit. Immerhin scheine ich ja auch über eine starke magische Waffe zu verfügen. Wollten Sie die Schildkröte nicht ausloten, Herr Zamorra? Was immer das heißen mag …« Der Professor nickte. Er hob seine Hand in die Höhe und rief das Amulett. Im selben Moment materialisierte es in seiner Hand. Der staunende Michael Latiner bekam den Mund fast nicht mehr zu. Kurze Zeit später konnte Zamorra mit ersten Ergebnissen glänzen: »Tatsächlich eine sehr starke magische Waffe, Herr Latiner. Der Navaho, der sie gemacht hat, muss ein Schamane oder etwas in der Art gewesen sein. Die Magie der Waffe ist allerdings nicht weißmagisch, sondern ganz ähnlich wie bei meinem Amulett hier, neutral. Sie lässt sich also weiß- und schwarzmagisch einsetzen. Was immer diese Elena Kofler mit der Schildkröte will, sie weiß ebenfalls um ihre Macht. Da frage ich mich natürlich, woher. Und ich frage mich weiter, ob der Navaho-Schamane das Amulett so eingestellt hat, dass es
Sie selbstständig schützt. Ich meine, weil es die Hypnose-Attacke der Kofler in Eigenregie abgewehrt hat. Es muss die Schildkröte gewesen sein. Ich glaube, dass die Kofler uns jede Menge erklären wird müssen.«
* Stilfs Zamorra fuhr die steilen Kehren nach Stilfs hinauf. Er hatte Latiner davon abbringen können, ihn zu begleiten. Das Argument, dass die Kofler misstrauisch werden würde, wenn sie Zamorra in Latiners Begleitung sah, hatte schließlich gezogen. In Gomagoi klingelte das TI-Alpha des Professors. Nicole war dran. Sie brachten sich gegenseitig ganz kurz auf den neuesten Stand. »Unglaublich«, sagte Zamorra. »Das Amulett hat mir so viel Kraft abgezogen, dass ich fast gestorben wäre. Und das für einen einzelnen Zombie. Da sie sich auf herkömmliche Weise problemlos töten lassen, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie besonders stark sind. Wahrscheinlich ist es eher so, dass sie von einer völlig fremdartigen Magie beseelt sind, die das Amulett nur mit erhöhtem Aufwand bekämpfen kann.« »Und das macht den Gegner dann doch wieder stark«, gab Nicole zurück. »Ich kann’s auch nicht fassen, dass ich nicht mal mit dem Dhyarra erfolgreich war. Bisher dachte ich immer, das Steinchen kann wirklich alles. Pustekuchen. Wahrscheinlich sollten wir es mal zwecks Inspektion zu Assi bringen … he, Chéri, jetzt reg dich doch nicht gleich auf. War doch nur ein Scherz.« Auf Scherze in diese Richtung reagierte Zamorra tatsächlich leicht allergisch, seit er Merlins Stern bei Asmodis zum »TÜV« gegeben und das Amulett mit einer magischen Wanze versehen wieder zu-
rückbekommen hatte. Gut, sie wussten zwischenzeitlich von der Wanze und Asmodis wusste nicht, dass sie es wussten. So konnten sie den Trick des Ex-Fürsten der Finsternis vielleicht mal zu ihrem Vorteil nutzen. Aber Nicoles Vorwürfe »Ich hab’s dir doch gleich gesagt, dass man diesem Mistkerl nicht trauen kann. Teufel bleibt eben Teufel« konnte er langsam nicht mehr hören. Da es in Bozen momentan nichts mehr für Nicole zu tun gab, versprach sie, so schnell wie möglich nach Stilfs zu kommen. Das Dorf kam in Sicht. Die Häuser schienen sich am steilen Felshang wie eine Herde ängstlicher Schafe zusammenzudrängen. In der ungefähren Mitte ragte die Kirche St. Ulrich mit ihrem viereckigen Turm aus den weiß im Sonnenlicht glitzernden Häusern heraus. Wirklich ganz schön steil, dachte Zamorra und an Latiners Spruch, dass in den Dörfern hier oben selbst die Hennen Steigeisen trügen. So falsch schien das gar nicht mal zu sein. Das Hotel Traube lag gleich am Ortseingang auf der rechten Seite. Zamorra stellte seinen BMW auf dem Parkplatz neben dem Hotel ab. Ein freundlich blickender junger Mann mit Brille kam auf sein Klingeln hin aus dem Raum hinter der Rezeption. In seinem Gefolge lärmten zwei kleine Mädchen, musterten den neuen Gast mit kurzen Blicken, schienen ihn nur mäßig interessant zu finden und verschwanden durch die Tür der Gaststube. »Reizende Kinder«, stellte Zamorra fest und bekam Magendrücken, als er sie sich in den Klauen von Zombies vorstellte. »Das sind meine«, erwiderte der Mann, der sich als Hotelbesitzer Martin Schäfer vorstellte. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?« »Haben Sie noch ein Zimmer für mich frei?« Der Meister des Übersinnlichen lächelte zuvorkommend. »Ich würde nämlich sehr gerne bei Ihnen wohnen.« Schäfer strahlte. »Oh, tatsächlich? Das freut mich aber. Mein Haus ist Ihnen empfohlen worden?« »Ja. Ich möchte nämlich eine alte Bekannte hier treffen, die bereits
hier wohnt. Elena Kofler heißt sie.« Schäfer nickte. »Die Frau Kofler, ja, die wohnt bei uns. Ich habe sie allerdings schon seit zwei Tage nicht mehr gesehen und weiß auch nicht, wo sie sich gerade aufhält. Ich hoffe, die Frau Kofler ist nicht wegen dieser unerfreulichen Ereignisse hier geflüchtet. Verdenken könnte ich ihr’s ja nicht, aber wenn’s so ist, hätte sie natürlich vorher schon bezahlen können.« »Sie sprechen von dem Leichenraub.« »Sie haben davon gehört, ja?« Martin Schäfer verzog das Gesicht, als habe er in etwas ganz besonders Saures gebissen. »Wer macht denn so was? Das ist ganz schlimm für unseren Ort, da bleiben die Touristen weg. Dabei sind wir auf jeden angewiesen, wissen Sie. Die italienische Regierung quetscht Südtirol ohnehin schon aus, weil wir die reichste Region sind. 75 Prozent Steuern müssen wir zahlen. Wer soll das schaffen? Vor allem, weil die Leute sowieso nicht mehr so viel Geld haben. Wenn sie überhaupt noch kommen, dann vielleicht noch zwei, drei Tage anstatt früher zwei Wochen … Aber entschuldigen Sie, Herr Zamorra, ich wollte Sie nicht mit unseren Sorgen belästigen.« »Tun Sie nicht. Mir macht dieser Leichenraub übrigens nicht so viel aus. Ist seither nochmals was passiert?« »Nein. Gott sei Dank nicht. Alles still und friedlich. Ich hoffe, dass diese Perversen längst weitergezogen sind. Äh, sind Sie vielleicht Journalist und deswegen hier?« »Nein. Mich interessiert nur Frau Kofler.« »Natürlich. Entschuldigen Sie bitte meine Frage. Wenn Sie also Kontakt zu Frau Kofler haben und vielleicht auf sie warten wollen, könnte ich Ihnen ein Zimmer vermieten. Allerdings nur noch ein Doppelzimmer.« Zamorra nahm an. »Äh, ist die Elen… Frau Kofler wieder in Zimmer 218 abgestiegen? Das tut sie meistens, wissen Sie. Denn damit sind, wie soll ich sagen, sehr angenehme Erinnerungen für uns beide
verbunden.« Schäfer grinste verstehend. »Nein, dieses Mal nicht. Wir haben der Frau Kofler die 117 reserviert. Sie war einverstanden und hat die 218 nicht mal nachgefragt.« »Wie schade. Muss ich mir etwa Sorgen machen? Na, egal. Ich bin mit der Nummer 209 ebenfalls zufrieden.« Der Professor nahm die Codekarte in Empfang und begutachtete sein Zimmer. Es war völlig in Ordnung, vom Balkon aus hatte er direkte Sicht auf die nahen Berge und den Ortler. Es interessierte ihn nur mäßig. Im Gegensatz zu dieser Elena Kofler. Vielleicht finde ich ja in ihrem Zimmer was, das mich weiterbringt. Schauen wir doch mal … Nicht ohne Grund hatte der Professor die Zimmernummer der Kofler in Erfahrung gebracht. Er wandte den alten Trick an, den er einmal von einem tibetanischen Mönch gelernt hatte, und machte sich unsichtbar. So ging er durchs Treppenhaus zur Rezeption hinunter und hoffte, dass ihm niemand entgegen kam. Eine eventuelle Berührung hätte ihn sofort wieder aus der Unsichtbarkeit gerissen. Zudem hoffte er, dass Schäfer wieder in seinem Räumchen hinter der Rezeption verschwunden war. Zamorra hatte Glück. Den beiden Mädchen, die »Fangen« spielten, konnte er ausweichen. Er schnappte sich die Codekarte von Zimmer 117 und ging wieder nach oben. Niemand war im Gang. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Angespannt trat Zamorra in das Zimmer. Merlins Stern hatte er in seinem eigenen zurückgelassen. In diesem Fall konnte er es nicht riskieren, das Amulett erneut einzusetzen, wenn es ihm derart viel Kraft entzog. Denn er musste damit rechnen, dass die Kofler das Zentrum dieser fremdartigen Magie war und die Zombies damit versorgte. Wenn man denn so wollte. Zumal zwei Tage ohnehin zu lang waren, um noch die Zeitschau einzusetzen. Das hatte selbst in den Zeiten, als ihm das Amulett für seine Aktivitäten noch keine Kraft entzog, nur über die vergangenen
24 Stunden geklappt. So verließ er sich lieber auf seinen E-Blaster, denn er auf Betäubung gestellt hatte. Unnötig, wie sich gleich darauf herausstellte. Die Kofler war tatsächlich nicht hier. Sie hatte auch nichts zurückgelassen. Keine Kleider, rein gar nichts. Tatsächlich ein Anzeichen, dass sie nicht wiederkommen würde? Nicht unbedingt. Wenn sie ein magisches Wesen ist, braucht sie keine Klamotten. Der Meister des Übersinnlichen verließ die Nummer 117 wieder. »Haben Sie sie erreicht?«, fragte Michael Schäfer an der Rezeption. »Ich meine, per Handy oder so. Entschuldigen Sie, dass ich so neugierig bin, das ist sonst nicht meine Art. Ich wüsste nur gerne, ob ich mit der ausstehenden Bezahlung noch rechnen kann oder nicht.« Der Professor lächelte. »Nein, ich hab sie leider nicht erreicht. Aber ich sichere Ihnen zu, dass ich ihre Rechnung übernehme, wenn sie nicht mehr auftauchen sollte.« Schäfer strahlte. »Das ist doch mal ein Wort. Vielen Dank, Herr Zamorra.« »Ich mache einen Spaziergang. Ist der Friedhof wieder offen? Ich muss gestehen, ein wenig neugierig bin ich schon.« »Natürlich, Sie können ihn begehen.« Schäfer nickte leicht. »Aber allzu viel werden Sie da nicht sehen. Die Polizei hat dafür gesorgt, dass die ausgeraubten Gräber wieder hergerichtet werden. Wenn Sie nicht wissen, welche es sind, werden Sie’s nicht mehr sehen.« Unwillkürlich senkte er die Stimme. »Schauen Sie bei Carola von Bärwangen und Christoph Pan im hinteren Friedhofsteil. Das sind sie. Und die Ressel Oberhaidacher, das ist die, die angeblich von dem Bären getötet wurde.« »Ah, danke. Sagen Sie, irgendwo hab ich gelesen, dass die Gräber von innen aufgebrochen worden seien.« Michael Schäfer zog ein ärgerliches Gesicht. »So ein Blödsinn. Das hat der Johann geschrieben, der Kuntner, wissen Sie. Normalerweise
schreibt der nicht so einen Mist, aber er sagt, dass er’s aus dem Polizeibericht hat und es jederzeit belegen kann. Aber das hat er bisher nicht gemacht.« »Sie haben Kontakt zu Kuntner?« »Ja. Der stammt von hier und ist gerade wieder hier vor Ort. Wohnt bei seiner alten Mutter oberhalb der Kirche in der Kurzngasse.« »Danke.« Zamorra ging in Richtung Kirche. Die Gassen und Sträßchen waren zum Teil so schmal, dass gerade ein Auto durchpasste. Über ihm waren die dicht stehenden Häuser aus Stein und Holz in den Steilhang gebaut und unterhalb der Straßen genauso. Zamorra sah auf Terrassen und in enge Hinterhöfe. Unterhalb von Stilfs fiel das Gelände mehrere Hundert Meter steil in die Tiefe ab, auch innerhalb des Ortes gab es einen 50 Meter tiefen Einschnitt mit einem Fluss, über den eine breite Brücke führte. Die Leute, denen er begegnete, grüßten ihn allesamt freundlich und lächelten ihm sogar zu. Ein Stück weiter sah Zamorra auf einen kleinen Fußballplatz mit Kunstrasen hinunter, der direkt am Abgrund lag und deswegen mit einem grünen Netz überzogen war. Er wirkte wie ein Käfig. Die Kirche St. Ulrich lag ein Stückchen weiter in der Ortsmitte. Auf dem gepflasterten Platz davor stand ein Brunnen, dahinter erhob sich ein überdimensionales, gut fünf Meter hohes Holzkreuz mit dem Erlöser daran. Die schmiedeeiserne Tür zum Friedhof stand offen. Zamorra sah eine alte Frau, die mit gebeugtem Rücken und einer Gießkanne in der Hand über den Kiesweg zu einem Grab an der Kirchenmauer schlurfte. Alles wirkte still und friedlich. Zamorra ging zum Tor, um den Friedhof zu betreten. In diesem Moment überkam ihn ein seltsames Gefühl, eine Art Unruhe. Mit dem nächsten Schritt wusste er, warum. Es war ihm, als zerreiße ein Schleier, der ihm eine völlig andere Welt offenbarte. Der Professor starrte auf den Friedhof. Er schluckte schwer. »Mer-
de«, murmelte er und umfasste den Griff seines Blasters fester. »Ich krieg hier gleich die Krise.« Zamorras Blicke wanderten über aufgebrochene Gräber, so weit sein Auge reichte. Kein Einziges mehr in allen vier Reihen präsentierte sich unversehrt. Überall war die Erde aufgewühlt. Windlichter baumelten mit zerstörten Gläsern an ihren Haken, Weihwasserkessel lagen umgekippt auf dem Boden, ebenso einige Kreuze. Die schmiedeeisernen Grabumrandungen sahen so krumm gebogen aus, als habe sie Herkules für seine täglichen Übungen benutzt. Wer hier von einem Schlachtfeld gesprochen hätte, hätte gar nicht so falsch gelegen. Zamorra hatte nach seinen Erfahrungen in Latiners Freilichtmuseum schon mit einigen Zombies mehr gerechnet, als Schäfers »Alles-ruhig-geblieben-seither«-Erzählungen suggerierten. Aber doch nicht mit dem hier! Überschlagsweise waren bereits hundert Untote aus der Erde gekrochen. Aber wo waren sie? Bei Elena Kofler? Wenn ja, was plante sie mit dieser Armee? Dieser magische Illusionsschirm über dem Friedhof dient ja wohl dazu, dass sie in aller Ruhe die Untoten aus den Gräbern holen kann. Merde. Normalen Friedhofsbesuchern wird heile Welt vorgegaukelt, die merken gar nicht, was hier wirklich vorgeht. Warum aber ich? Zamorra hatte das dumpfe Gefühl, dass es mit dem Wasser des Lebens in seinen Adern zusammen hing. Warum das so war, konnte er im Moment auch nicht sagen. Der Meister des Übersinnlichen schluckte ein paar Mal. Mit schussbereitem Blaster ging er weiter. Er schaute sich zwei, drei der Gräber genauer an. Nachgesunkene Erde und Blumen lagen in leeren, zersplitterten Särgen. Schließlich bog er um die Ecke des Kirchengebäudes. Er ging über den hinteren, kurzen Teil an einem ebenfalls aufgebrochenen Priestergrab vorbei und weiter zur gegenüberliegenden Längsseite.
Und erstarrte. Vor einem Grab mit Dach kniete eine seltsame Frau auf dem Boden. Weißhaarig, wunderschön, gekleidet wie eine antike Kriegerin. Das hieß, eigentlich war sie fast nackt. Sie presste ihre Hände auf die Graboberfläche. Zamorra glaubte, bläuliches Licht in die Erde fließen zu sehen. Die Frau fuhr hoch. Bösartige Blicke aus grausamen Augen trafen Zamorra. Sie erkannte sofort, dass er die Tarnung durchdrungen hatte und sie wahrnehmen konnte. Zamorra hob den Blaster. Mit dem Daumen schaltete er blitzschnell auf den tödlichen Lasermodus um. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass es hier auf der hinteren langen Seite noch einige Gräber gab, die unbeschädigt waren. »Wer bist du?«, fragte er die Amazone. »Elena Kofler?« Keine Antwort, stattdessen ein schlangenhaftes Zischen. Voller Hass verzog die Frau das Gesicht. Hinter sich hörte Zamorra ein Schaben. Er fuhr herum. Zwei Zombies standen dicht hinter ihm. Wahrscheinlich hatten sie hinter dem Priestergrab gelauert und griffen auf Anweisung ihrer Herrin an. Denn ihre halb vermoderten schwarzen Anzüge wiesen sie als ehemalige Pfarrer aus. Eine Totenklaue legte sich blitzschnell um Zamorras Hals und drückte zu. Der Professor löste aus. Der nadeldicke blassrote Laserstrahl des Blasters bohrte sich in die Brust des untoten Priesters und trat am Rücken wieder aus. Sofort ging der Zombie in Flammen auf. Als lebende Fackel torkelte er auf das Priestergrab zu und zerfiel noch im Gehen zu Asche. Auch den zweiten Zombie erledigte Zamorra auf diese Weise. Dann fuhr er herum. Die Fremde stand an der Begrenzungsmauer des Friedhofs. Blitzschnell kletterte sie hoch, als Zamorra sich ihr zuwandte. Darüber, gut drei Meter höher, führte die Kurzngasse vorbei.
Zamorra spurtete zum Ausgang und über den Vorplatz. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe zur Kurzngasse hoch. Er sah die Fremde nicht mehr. Ohne dass sein Atem schneller gegangen wäre, sah der Professor sich um. Da! Die seltsame Kriegerin war bereits wieder auf dem Niveau der Kirche. Sie stand am Eingang der Straße, die vom Kirchplatz wegführte. Also wieder runter. Zamorra hastete nach unten. Die Kriegerin rannte vor ihm weg. Sie hatte einen Vorsprung von gut 50 Metern. Er traute sich nicht zu schießen, weil der Laser bei einem unglücklichen Treffer die trockenen Holzteile der Häuser in Brand stecken konnte. Zamorras Spurtqualitäten waren also gefragt. Die Fremde floh weiter. Und sprang über die Straßenbegrenzung auf einen kleinen Balkon zwei Meter tiefer. Als Zamorra eintraf, sah er sie auf einem Hausdach viel weiter unten stehen. Sie sah noch einmal zu ihm hoch. Dann sprang sie auf das Netz des Käfigsportplatzes, federte wie auf einem Trampolin hoch und verschwand dahinter in der Tiefe. »Merde«, murmelte Zamorra wieder. »Was haben Sie denn dafür eine seltsame Waffe?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Er fuhr herum. Ein etwa zehnjähriger Junge stand in einer Nische vor einem hölzernen Brunnen und starrte ihn interessiert an. »Und was war das für eine Frau? Die hat ja komisch ausgesehen.« Zamorra grinste. »Ach weißt du, wir drehen hier einen Film.« »Wirklich? Was denn für einen?« »Ein Zombie hing am Glockenseil, Teil sechzehn. Musst du dir unbedingt anschauen, wenn er fertig ist. Das ist ganz großes Kino.«
*
Elena Kofler kam kurz vor Mitternacht nach Stilfs zurück. Zwei Tage hatte sie gebraucht, um Garrucha, den Herrn der Innsbrucker Vampirsippe, zur Hilfe zu überreden. Zwingen konnte sie ihn nicht, da er sehr mächtig und ihr mit seinem blutsaugenden Anhang überlegen war. Aber er hatte bindend zugesagt, dass er morgen Nacht mit einem kleinen Heer hier auftauchen würde. Die Zufriedenheit der Schwarzhaarigen schlug schnell in Wut und Hass um, als sie gerade den Gastraum des Hotels Traube betreten wollte und zuvor durch die Glasscheibe schaute. »Zamorra und seine Schlampe«, zischte sie leise. »Was wollen die denn hier? Hat man vor denen nirgends Ruhe?« Elena Kofler wusste im Moment nicht, was sie tun sollte. Die ganze Situation war ohnehin unklar und wurde jetzt durch die Dämonenjäger noch zusätzlich erschwert. Und dann logieren sie auch noch im selben Hotel wie ich. Ist das Zufall? Oder wissen sie von mir? Ich muss mich auf jeden Fall höllisch vorsehen! Elena Kofler verließ die Traube wieder unauffällig. Sie würde sich eine andere Bleibe suchen. Doch zuerst musste sie schauen, was auf der Gegenseite Sache war. Als Erstes inspizierte sie den Friedhof. Carola von Bärwangen hatte weitere Tote aus der Erde geholt und sie in ihre Zombie-Armee eingegliedert. Auch die vergessene Gruft unter der Kirche, in der ein gutes Dutzend Ritter eines ebenso vergessenen Geschlechts beigesetzt worden waren, stand offen und war leer. Die Beobachterin schätzte, dass Carola von Bärwangen in der Zwischenzeit weit über 100 Untote befehligte. Kurze Zeit später tauchte Elena Kofler über Stilfs in den Bergen auf. Aus einem sicheren Versteck beobachtete sie den schon lange nicht mehr bewohnten Hof mit den verfallenden Gebäuden, der im Volksmund als Spukhaus galt und gemieden wurde. In zahlreichen Räumen warteten die Untoten, zum Teil eng zusammengepfercht. Nur, auf was? Elena Kofler verstand nicht, was Carola von Bär-
wangen beabsichtigte. Die Zombies hatten nur eine Aufgabe: Über die Lebenden herzufallen und sie selbst zu Untoten zu machen. Das hätte längst passieren können. Holte die Bärwangen etwa zum ganz großen Schlag aus? Das wird dein Fehler sein, dachte Elena Kofler hämisch. Denn morgen erscheint hier die Vampirarmee. Und dann werden die Karten neu gemischt! Carola von Bärwangen tauchte jetzt auf dem ehemaligen elterlichen Hof auf. Sie brachte fünf weitere Untote mit, die unbeholfen hinter ihr her wankten. Mit Sicherheit bedient sie sich auch auf anderen Friedhöfen. In Stilfs war sie jedenfalls nicht zugange. Die Frau in ihrem Amazonenkostüm, das Elena Koffer extrem lächerlich fand, ging durch die Häuser an den Widergängern vorbei. Fast wie bei einer Parade. Sobald Carola von Bärwangen vor ihnen auftauchte, begannen sie unruhig zu werden und sich zu bewegen. Sie versuchten zu knurren und zu kreischen, ein Versuch, der wegen fehlender Stimmbänder gespenstisch lautlos blieb, und schlugen mit ihren Totenklauen nach der Frau. Die wich ihnen aus und lachte dabei schrill. Im großen Schuppen warteten die Ritter aus der Kirchengruft. Ihre mumifizierten, zum Teil noch mit Spinnweben behangenen Körper hatten in einem Halbkreis Aufstellung genommen und stützten sich auf ihre Schwerter. Carola von Bärwangen nahm eines davon in die Hand. »Die Zeit ist nahe«, sagte sie laut, während die Luft um sie plötzlich braungelb zu leuchten schien. »Ich spüre, dass wir nicht mehr lange warten müssen. Dann vollenden wir unsere Aufgabe und ihr, die Ritter von Ruwenstein, werdet in vorderster Front für die Göttin kämpfen.« Die untoten Ritter rissen ihre Münder weit auf. Auch sie in gespenstischer Lautlosigkeit. Carola von Bärwangen wandte sich plötzlich um und schaute di-
rekt in Elena Koflers Richtung. Sie zog den Spangenhelm über den Kopf. Die heimliche Beobachterin glaubte, ein spöttisches Lächeln auf ihrem Gesicht auszumachen. Hat die mich etwa entdeckt? Wut wallte in Elena Kofler hoch. Du hältst dich wohl für total überlegen, was? Aber pass nur auf, du wirst dich noch wundern. Elena Kofler verschwand von ihrem Beobachtungsposten.
* Zamorra und Nicole trafen sich im Hotel Traube in Stilfs. »Schau mal, Chéri, was ich mitgebracht habe«, sagte sie lächelnd und zeigte ihrem Lebens- und Kampfgefährten eine kleine runde, in der Mitte gelochte Marmorscheibe. Zamorra nahm sie in die Hand und betrachtete sie prüfend. »Was ist das?«, murmelte er. »Davon hast du mir bei unserem Telefonat gar nichts erzählt.« »Sagtest du nicht, dass wir die Details persönlich besprechen sollten? Face to face sozusagen. Und ich tue ja immer, was du willst. Also, die Scheibe gehört zu den Ausrüstungsgegenständen Ötzis. Sie war auf ein Bündel verdrillter Rohhautstreifen aufgefädelt. Das ist die Scheibe, von der bis heute keiner weiß, zu was sie eigentlich gut sein soll.« »Und?« Nicole grinste. »Rate doch mal.« »Keine Lust. Erzähl’s mir umgehend oder ich kürze dir dein Sekretärinnengehalt um satte zwanzig Prozent.« »Huch, das ist zu viel. Da rede ich doch lieber. In der Nacht, als sich Ötzi vom Acker gemacht hat, hat Aurelio Limongelli, der Museumswächter, seltsame Visionen gehabt.« »Zu viel Grappa?«
»Keine Ahnung. Wie auch immer, Limongelli verspürte den Drang – er sagte, es sei wie ein unsichtbarer Befehl der blauen Blume gewesen –, diese Scheibe zu nehmen und sie ein ganzes Stück aus Ötzis Reichweite zu bringen. Er hat es schließlich gemacht, indem er die Alarmanlage ausgeschaltet und die Scheibe in den Keller gebracht hat. Danach hat das Wispern in seinem Kopf schlagartig nachgelassen, sagte er. Und kurze Zeit später ist Ötzi dann plötzlich lebendig geworden.« Nicole kicherte. »So würde ich das auf keinen Fall nennen. Na egal. Ich bin mir sicher, dass es sich bei dieser Scheibe um ein magisches Bannutensil handelt. Erst als es weit genug weg war, konnte sich der Gletschermann erheben. Außerdem kam der untote EggerWaigel ins Museum zurück, um Limongelli die Scheibe abzunehmen. Der Wachmann hatte sie wieder aus dem Keller geholt und bei sich behalten, weil er geglaubt hat, dass die Scheibe ihn vor einer erneuten Attacke dieser blauen Blume schützen könne. Wären Tomassini und ich nicht zufällig da gewesen, hätte das Limongelli das Leben kosten können. Erst danach hat er uns alles gestanden, weil er Angst hatte, er könnte deswegen entlassen werden.« »Hm. Was ist mit dieser blauen Blume?« »Keine Ahnung. Möglicherweise ist sie die zentrale Macht, die das ganze Zombie-Walking hier veranstaltet. Wahrscheinlich hat sie Egger-Waigel zurückgeschickt, um die Scheibe zu vernichten. Und Ötzi bleibt erst mal verschwunden. Das Ganze ist noch ziemlich rätselhaft. Mit dem Dhyarra hat’s nicht geklappt. Unglaublich eigentlich, das lässt fast mein komplettes Weltbild zusammenstürzen. Andererseits war er dann wieder ganz einfach zu besiegen. Dolch ins Hirn und fertig. Tomassini hat das mit einer steinzeitlichen Waffe besorgt, sonst wäre ich jetzt nicht mehr hier. Das war ganz ähnlich wie bei dir und diesem Lateiner da.« »Latiner.« »Von mir aus.«
Nachdem er alle Details wusste, erzählte Zamorra von seiner Begegnung mit der Fremden auf dem Stilfser Friedhof. »Es gibt also zwischen den Vorgängen in Stilfs und Bozen Parallelen. Möglicherweise arbeiten wir hier tatsächlich an ein- und demselben Fall. Warum hat dieser Limongelli ausgerechnet in dieser Nacht die Visionen empfangen? Warum nicht schon vorher? Und wo finden wir diese blaue Blume, die dafür verantwortlich ist? Übrigens ging von dieser Zombiebeschwörerin auf dem Friedhof ebenfalls ein blaues magisches Licht aus. Was, wenn Elena Kofler die blaue Blume ist? Dann könnte sie nicht nur die Zombies hier erweckt, sondern auch die Visionen nach Bozen geschickt haben, um an Ötzis Leiche zu kommen. Aber was will sie ausgerechnet mit der? Komisch.« »Schon. Und hieße das dann, dass Ötzi vielleicht demnächst hier in Stilfs auftaucht?« »Gut möglich. Ich werde jetzt mal die Marmorscheibe mit dem Amulett auszuloten versuchen. Bisher habe ich’s in diesem Fall komplett deaktiviert, weil’s mir einfach zu riskant war. Ich befehle ihm, sofort abzubrechen, sollte es auch dieses Mal wieder zu viel Energie brauchen.« Zamorra aktivierte Merlins Stern, der sich sofort leicht erwärmte. »Hm. In der Scheibe steckt also etwas Schwarzmagisches. Mal sehen.« Er verband sich in Halbtrance mit dem Amulett und spürte tatsächlich schwarzmagische Strömungen auf, die an die der Höllendämonen erinnerten. Aber eben nur entfernt. Sie vermischten sich mit derart fremdartigen magischen Strukturen, dass sie sich Zamorras Begreifen komplett entzogen. Immerhin spürte er die große Bannkraft, die in der Scheibe steckte. Schlagartig schaltete das Amulett ab. »Also gut. So kommen wir nicht wirklich weiter. In diesem Fall ist uns Merlins Stern keine große Hilfe. Und der Dhyarra auch nicht. Vielleicht sollten wir mal ein bisschen mit den Leuten hier reden. Kuntner, der Journalist, ist hier in Stilfs. Vielleicht kontaktieren wir den mal. Ich weiß, wo er wohnt.«
Sie trafen Johann Kuntner nicht an und auch seine alte Mutter öffnete nicht. »Wahrscheinlich schwerhörig«, stellte Nicole trocken fest. »Auch gut. Vielleicht klappt’s ja später. Schäfer hat gesagt, dass jeden Abend Stammtisch in der Traube ist. Vielleicht setzen wir uns da dazu.« Das taten sie. Die Runde meist älterer Männer war es gewöhnt, dass sich immer wieder Touristen zu ihnen gesellten. Eine Schönheit wie Nicole, die dazu hin noch so charmant war, hatten sie aber nicht oft am Tisch und so wollte ihr jeder einen Schnaps spendieren. Vor allem, nachdem sie vor den Augen der staunenden Männer ein riesiges Vesperbrett verputzt hatte und den Südtiroler Speck als ganz hervorragend lobte. Auch Michael Latiner erschien und wurde von der Runde mit großem Hallo empfangen. »Und?«, fragte ihn Zamorra. »Nichts mehr bis jetzt.« Ein weiterer Mann betrat die Gaststube. Er trug Jeans und Jackett, hatte lichte, halblange Lockenhaare und schob einen stattlichen Bauch vor sich her. Wache, misstrauische Augen musterten die Leute am Stammtisch und speziell die Dämonenjäger durch eine große Hornbrille hindurch. »Der Herr Kuntner Johann«, sagte Latiner. »Schon lange nicht mehr gesehen. Willst du dich zu uns setzen?« Kuntner lächelte und willigte ein. Sogleich sah er sich allerdings scharfzüngigen Attacken der Stammtischler ausgesetzt. »Gehen dir so langsam die Geschichten aus, dass du diesen Mist mit den von innen aufgebrochenen Särgen schreiben musst, Johann?« »Das ist reine Sensationsmache und verschreckt die Leute nur. Die Einheimischen und die Touristen.« Es half Kuntner nicht viel, dass er sich auf den polizeilichen Untersuchungsbericht berief. Da er den auch jetzt nicht vorlegen konnte,
wurde weiter gestichelt und gehöhnt. Der Journalist fühlte sich anscheinend in die Enge getrieben. »Was wollt ihr?«, fragte er schließlich aufgebracht und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ihr wisst doch alle, dass es Dinge gibt, die nicht erklärbar sind. Einige von euch haben mir selber schon erzählt, dass sie Berggeister am Ortler und sonst wo gesehen haben. Alle glaubt ihr an die jenseitige Welt, aber wenn ich was drüber schreibe, verarscht ihr mich.« Er blickte in die Runde der still gewordenen Männer. Auch Zamorra und Nicole musterten ihn gespannt. »Ihr erinnert euch alle an die Geschichte mit dem BärwangenHof?« Die Männer nickten zögerlich. »Ja«, erwiderte Michael Latiner schließlich und wandte sich dabei hauptsächlich Zamorra und Nicole zu. »Muss so 1930 herum gewesen sein, nicht wahr? Damals verschwanden doch acht Leute spurlos vom Hof. Die sind bis heute nie wieder aufgetaucht. Man hat den alten von Bärwangen, wie hieß der nochmals, Oskar, glaube ich, seinerzeit verdächtigt, seine ganzen Bediensteten und seine Familie ermordet und beseitigt zu haben. Ja, richtig, nur die Leiche seiner Tochter wurde noch aufgefunden. Die konnte er wohl nicht mehr rechtzeitig beseitigen. Er wurde festgenommen und hat sich in seiner Zelle erhängt, nachdem seine Tochter auf dem Friedhof beerdigt worden war. Wenn ich’s richtig im Kopf habe, hat nur eine der Bediensteten überlebt.« »Ja, so ungefähr stimmt’s. Diese Bedienstete damals hieß Amalia Rosendorfer.« Die Männer schauten verblüfft. »Das ist doch deine Mutter, Johann. Oder?«, fragte Latiner. »Ja. Das wusste ich bisher auch nicht, sie hat immer darüber geschwiegen. Mir war nur bekannt, dass die Überlebende monatelang psychiatrisch behandelt wurde, aber niemals irgendwelche Aussagen gemacht hat. Ihr könnt euch vorstellen, was für ein Schock das
für mich war, als meine Mutter mir das gestern erzählt hat. Und sie hat noch viel mehr erzählt. Ihr werdet euch wundern …« Kuntner gab das zum Besten, was er von seiner Mutter erfahren hatte. Während er sprach, glaubte Zamorra die Umrisse einer schwarzhaarigen Frau vor dem milchigen Glaseinsatz zu sehen. Aber sie war sofort wieder weg. Nach Kuntners Bericht sahen sich alle sprachlos an. Nicole stand auf. »Ich gehe mir mal kurz die Füße vertreten. Kommst du mit, Chéri?« »Ich glaub’s nicht«, murmelte Nicole, als sie auf dem Parkplatz neben dem Haus standen. »Samuel Dios! Also hat damals unser Freund Assi mitgemischt. Von wegen Engel des Herrn. Ha!« Ein Fußgänger mit einem kleinen Hund an der Leine ging vorbei. Zamorra nickte. »Nicht so laut, Nici. Muss ja nicht jeder gleich mitkriegen. Und bei der Amazone, die ich auf dem Friedhof gesehen habe, handelt es sich ja dann wohl um diese Carola von Bärwangen. Dann ist sie es, die die Zombies erweckt, nicht diese Elena Kofler. Jetzt verstehe ich so langsam gar nichts mehr.« »Männer«, fauchte Nicole. »Denk einfach mal ganz logisch nach, Chéri. Oder nein, ich mach’s für dich, da kommt mehr dabei raus. Diese Elena Kofler, wie du sie nennst, kennt diese alte Geschichte auch. Wahrscheinlich ist sie eine Hexe oder eine schwache Dämonin und holt Carola von Bärwangen aus ihrem Grab, um sie für ihre Zwecke einzusetzen, wie auch immer die geartet sein mögen …« Nicole, die vom hinter ihr stehenden Mond beschienen wurde, grinste. »Aber die Kofler hat die Bärwangen unterschätzt und sie nicht in den Griff bekommen. Wir haben ja auch Probleme mit der fremdartigen Magie dieser Totengöttin, die sich durch die seltsame blaue Blume manifestiert. Die Bärwangen ist seither frei, hat vielleicht sogar Danke gesagt und macht nun das, was die Totengöttin ihr aufträgt, Zombies zu schaffen nämlich. Die Kofler will sich mit ihrer Niederlage aber nicht abfinden und sucht nun Verbündete, die
ihr helfen, doch noch Macht über die Bärwangen und damit die Totengöttin zu gewinnen. Deswegen war sie auch bei Latiner, weil sie die Macht seines Amuletts gespürt hat. Ich denke, dass ihm dann nicht die Kofler die Zombies auf den Hals gehetzt hat, sondern die Bärwangen, weil die einen potenziellen Verbündeten der Kofler ausschalten wollte.« »Könnte tatsächlich so sein«, murmelte Zamorra. »Eins mit Stern, setzen. Dein Sekretärinnen- und Zusatzgedächtnisgehalt wird um satte hundert Prozent erhöht.« »Darauf warte ich schon lange, mein Lieber. Und deswegen denke ich auch noch ein bisschen für dich weiter. Die Bärwangen hat diese blaue Blume am Hals, die ich bei Ötzi ebenfalls gesehen habe. Möglicherweise ist Ötzi also damals ebenso in direkten Kontakt mit der blauen Blume gekommen und Sklave der Totengöttin geworden. Da liegt die Vermutung nahe, dass Assi auch Ötzis vorübergehende Stilllegung im Gletscher veranlasst hat. Keine Ahnung, wie viele Menschen noch betroffen sind. Vom zeitlichen Ablauf her könnte es aber so gewesen sein, dass die wieder aktive Carola von Bärwangen die mentalen Impulse nach Bozen gesandt hat, um irgendjemanden zu veranlassen, die bannende Marmorscheibe zu beseitigen. Möglicherweise hat sie mit dem labilen Limongelli ein HeidenGlück gehabt.« Der Professor nickte und legte seinen Arm um Nicoles Hüfte. »Möglich, ja. Die Totengöttin scheint alles daran zu setzen, dass ihre Premium-Zombies wieder frei agieren können.« »Premium-Zombies?« »Das sind die, die direkt mit der blauen Blume in Berührung gekommen sind. Hätte das mit dem Wachmann nicht geklappt, wäre die Bärwangen vermutlich irgendwann selber in Bozen aufgetaucht.« »Möglich. Und der untote Egger-Waigel wurde wohl geschickt, um die Bannscheibe zu vernichten oder an sich zu bringen. Keine
Ahnung.« »Ich hoffe, dass nicht noch weitere Premium-Zombies befreit worden sind.« »Ja, hoffe ich auch. Das könnte zur Katastrophe führen. Stell dir vor, dass Ötzi unter einem ähnlichen Tarnschirm wie hier damit beschäftigt ist, in Bozen ebenfalls eine Zombie-Armee aufzustellen. Und wer weiß, wo das sonst noch der Fall ist. Wenn diese Armeen dann gleichzeitig auf die Lebenden losgelassen werden, dann gute Nacht.« »Gruselige Vorstellung. Die Totengöttin geht zum Großangriff über. Wir müssen das auf dem Friedhof in Bozen unbedingt überprüfen. Aber zuerst schauen wir, wo die hiesige Armee der Untoten abgeblieben ist.« »Ja. Ich würde sagen, dass wir mal auf dem alten Bärwangen-Hof anfangen.« »Das Gleiche wollte ich auch gerade vorschlagen.« Zamorra grinste. »Ich hole die Blaster und dann geht’s auch schon los.« Zwei Minuten später war er wieder zurück. Zwei Gestalten kamen behäbig die Straße herauf. Wahrscheinlich Betrunkene, denn sie gingen etwas unkoordiniert. Nicole schaute ihnen irritiert entgegen. »Da stimmt doch was nicht …«, murmelte sie. In diesem Moment begannen zwei Hunde wie irre zu bellen. In das Gekläff mischte sich ein schriller Schrei. Ein Todesschrei! »Merde«, murmelte Nicole und zog den Blaster.
* Hartmut Diener aus Deutschland ging niemals ohne seinen Hund Hardi in Urlaub. Er hatte den kleinen Jack Russell seit neun Jahren und liebte ihn mehr, als er seine geschiedene Frau und seine zwei Kinder jemals geliebt hatte. Südtirol, vor allem Stilfs, gehörte zu sei-
nen bevorzugten Reisezielen, denn das Tollen auf den Bergwiesen machte dem Hund viel Spaß. Im Hotel Traube logierte Diener bereits zum dritten Mal, denn hier wurde der Hund nicht nur geduldet, sondern richtig vergöttert. Vor allem von den beiden kleinen Töchtern des Hotelbesitzers, der zudem auch schon Hunde gehalten hatte. Hardi kratzte an der Tür. »Ja, ich weiß, Zeit für dein Abendgassi«, sagte Diener und erhob sich vom Bett. Er ließ den Fernseher laufen, zog sich Schuhe und Jacke an, legte Hardi an die Leine und ging mit ihm nach draußen. Am Stammtisch in der Gaststube schien es heiß her zu gehen. Es interessierte ihn nicht besonders. Vor dem Hotel sah er die extrem gut aussehende Frau (mit Sicherheit Topmodel) und ihren Begleiter (mit Sicherheit reicher Stinker) stehen und sich angeregt unterhalten. Sie redeten Französisch, er schnappte ein paar Wortfetzen auf. Es interessierte ihn nicht. Auch Hardi interessierten die Franzosen (oder waren es Schweizer? Egal …) nicht. Er zog an der Leine, um seinen Herrn in die ihm angenehme Richtung zu zwingen und schnüffelte dann angeregt an Holzzäunen und Laternenfüßen. Heute zog Diener den Hund weiter, weil er noch Fußball im Fernsehen sehen wollte. Sie gingen einen schmalen Weg hinunter auf die saftigen Steilwiesen, die sich unterhalb des Ortes erstreckten und irgendwann in einen Abgrund fielen. Bereits zwischen den letzten Häusern blieb Hardi plötzlich stehen, stemmte sich ins Geschirr und sträubte die Nackenhaare. Ein leises Knurren stieg aus seiner Kehle. Es klang drohend und ängstlich zugleich. Hartmut Diener runzelte die Stirn. So hatte er seinen Hund noch niemals erlebt. Auch diese Tonlage kannte er nicht von ihm. »Na, jetzt komm schon, Hardi. Was hast du bloß? Ein Wolf oder ein Bär wird’s schon nicht sein. So nahe an die Häuser kommen die nicht.« Aus den gitterförmigen verzerrten Schatten, die der mächtige
Strommast vor ihm auf die Wiese warf, lösten sich drei dunkle Gestalten. Sie schwankten direkt auf ihn zu. Hartmut Diener verzog geringschätzig das Gesicht. Besoffene. Die kann ich ohnehin leiden wie Zahnweh. Was wollen die hier unten? Hardi schien seine Meinung über Betrunkene zu teilen. Sein Knurren wurde lauter und ging in ein Winseln über, während er sich nun mit aller Macht in die Leine stemmte. Diener erwartete keine Schwierigkeiten, deswegen wich er den Betrunkenen auch nicht aus. Gleich darauf starrte er in zerfressene Gesichter und tote Augen. Die vom Mondlicht beschienenen Gestalten, denen die Kleider in Fetzen vom Leib hingen, schienen einem Albtraum entsprungen zu sein. Was ist das? Drehen die hier tatsächlich einen Film? Das hat der kleine Junge heute schon gesagt. Aber wo sind die Kameras? Irgendetwas in Dieners Innerem weigerte sich standhaft, diese Version zu akzeptieren. Es schickte ihm stattdessen ein Gefühl des Unwohlseins und schob Wellen der Angst hinterher. Denn die furchtbare Gestalt, die als erstes bei ihm war, roch nach frischer Erde. Sie hob die Arme. Skelettartige Klauen klammerten sich um seinen Hals. Eine furchtbare Kälte ging von ihnen aus. Während Hardi wie ein Irrer zu bellen begann und vor dem Unheimlichen Reißaus nahm, weil sein Herrchen die Leine fahren ließ, war die zweite Schauergestalt heran. Ihre Klauen bohrten sich unter dem linken Rippenbogen in die Weichteile des Mannes. Hartmut Diener erwachte endlich aus seiner Starre. Zu spät. Die Augen traten aus seinen Höhlen. Er stieß einen schrecklichen Schrei aus.
* »Aber setz deinen Helm auf, ja?« »Natürlich, Mama.« Der sechzehnjährige Hubert Stuppner stülpte
sich den Zweiradhelm über und schwang sich auf sein Mofa. Es sprang sofort an. Hubert gab Gas und fuhr mit hoher Drehzahl die Hauptstraße hinunter. Er hatte Verspätung. Sein Freund Hannes wartete sicher schon an der Bushaltestelle und stand sich die Beine in den Bauch. Zusammen wollten sie noch hinunter nach Prad, mit einem Kumpel Geburtstag feiern. Vor allem deswegen, weil besagter Kumpel zwei Mädels eingeladen hatte, an denen Hubert und Hannes brennend interessiert waren. Tatsächlich. Hannes stand bereits da. Er lehnte an der Seitenwand des Bushäuschens. Dahinter bewegte sich irgendetwas auf dem Boden. Das interessierte Hubert jedoch nicht. Er hielt mit laufendem Motor vor dem Häuschen. »Los, spring auf, wir müssen!«, rief er durchs hochgeschobene Helmvisier. Hannes löste sich von der Wand und kam schräg von hinten auf Hubert zu. Der drehte den Kopf nicht, da er durch seinen Helm ohnehin nur eingeschränkte Sicht hatte. Hannes setzte sich hinter ihn aufs Mofa. Zwei Hände schoben sich um seine Hüften und schlossen sich vor seinem Bauch. Hubert gab Gas und fuhr weiter. Sein Fahrgast hatte Mühe, sich zu halten und kippte fast vom Mofa. Der ist so groß. Und stinkt! Und die Hände sind so kalt. Das ist doch nicht … Huberts aufkommender Schrecken wurde jäh unterbrochen. Die linke Hand griff an seine Brust, während sein Kopf brutal nach vorne gedrückt wurde. Es knackte in seinem Genick. Gleich darauf spürte er eiskalte Zähne an seinem Hals. Das Mofa geriet ins Schlingern, rutschte über die Straßenkante und in eine Wiese hinein …
* Zamorra und Nicole spurteten zu dem kleinen Weg, den der Fußgänger mit seinem Hund hinunter gegangen war. Soeben kam ihnen
das Tier wie von Furien gehetzt entgegen. Ein Stück weiter unten, auf der Wiese, sahen sie die Bewegung einiger Schatten. Sie schienen über etwas herzufallen, das auf der Wiese lag. Die beiden Dämonenjäger kamen in Höchstgeschwindigkeit. Sie rammten jeweils eine der Gestalten weg, die immerhin in die Wiese fielen. Tatsächlich, Zombies. Es roch nach frischem Blut. Zudem war ein Schmatzen zu hören, das Zamorra und Nicole als unerträglich widerlich empfanden. Zwei Blasterschüsse in den Kopf setzten die Zombies in helle Flammen. Den dritten, der an dem Toten herum fraß und sich durch das Schicksal seiner Artgenossen nicht stören ließ, erwischte es als Nächsten. Die Dämonenjäger ließen das Opfer mit verbrennen, da ihm nicht mehr zu helfen war. Sein herausgerissenes Herz lag neben ihm auf dem Boden. So vermieden sie, dass auch der Hundebesitzer zum Wiedergänger wurde. Von überall her ertönten plötzlich Schreie. Lichter gingen an. Das Kreischen von Bremsen, dann ein mächtiger Knall. Und kurz darauf weitere Schreie. »Oh Gott, sie sind überall«, sagte Nicole. »Das ging schneller, als wir befürchtet haben.« Elena Kofler hatte sich im Hotel Deutsches Haus in der Ortsmitte eingemietet. Von ihrem Beobachtungsposten aus sah sie, wie die Zombies über die Steilwiesen nach Stilfs herunter kamen und sich über den ganzen Ort verteilten. Es waren weit über 150, die Carola von Bärwangen nun über die Lebenden herfallen ließ. Die Amazone kam hinter den Untoten her. Neben ihr ging jemand, den Elena Kofler bis jetzt nicht kannte. Er besaß eine ähnliche Ausstrahlung wie die Bärwangen. »Was ist das?« Elena Kofler schlug um sich. Urplötzlich wurde sie von einer unbekannten Kraft erfasst, die sie umschlang und zu erdrücken drohte. Zaubersprüche flossen über ihre Lippen, ihre Fin-
ger woben magische Muster in die Luft. Sofort ließ der Druck auf ihren Körper etwas nach. Elena Kofler keuchte. Die Kraft war um vieles stärker als die, die sie bei Carola von Bärwangen ausgemacht hatte. Weg, ich muss weg! Aber sie schaffte es nicht, egal, welchen Zauber sie auch anwandte. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Carola von Bärwangen und ihr seltsamer Begleiter, von denen diese unglaublich starke Kraft ausging, immer näher kamen. Deren Ziel war eindeutig. Es war Elena Kofler selbst …
* Zamorra und Nicole hasteten zurück auf die Straße. Plötzlich zersplitterte das Gastraumfenster der Traube. Ein Scherbenregen ergoss sich auf die Straße, gefolgt von einem taumelnden Mann, während dahinter panische Schreie hörbar wurden. Der Mann war Johann Kuntner. Er kam Zamorra und Nicole mit weit aufgerissenen Augen entgegen und taumelte an ihnen vorbei. »Herr Kuntner!« Zwecklos. Er schien sie nicht zu sehen. Sie mussten ihn gehen lassen. In der Traube eskalierte die Situation. Ein weiterer Mann sprang durch das zerstörte Fenster auf die Straße, brach mit einem Schrei zusammen und blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen. Er schien sich den Knöchel gebrochen zu haben. Aus den Schatten des über der Straße liegenden Gebäudes löste sich bereits der nächste Untote und stapfte auf ihn zu. Nicole erledigte ihn mit einem gezielten Schuss, während Zamorra durch die Tür in den kleinen Flur sprang. Die Tür zur Gaststube stand weit offen. Dahinter spielte sich das blanke Chaos ab. Sechs Zombies drängten vier Männer in die Enge. Vor ihnen stand Michael Latiner und stieß mit einem großen Bowie-
messer, das er wohl unter dem Hemd bei sich getragen hatte, in Richtung der Angreifer. Ein weiterer Mann lag tot unter dem Tisch. Ein Untoter hatte sich in seinem Hals verbissen. Zamorra schoss zwei Zombies in den Kopf. Auch sie gingen in Flammen auf. Den dritten, eine Frau, erwischte Latiner durch einen mutigen Angriff. Er rammte ihm das Bowiemesser mit voller Wucht in den Schädel. Es knirschte. Die Wiedergängerin brach auf der Stelle zusammen und verging. »Ihr müsst sie in den Kopf treffen!«, brüllte Michael Latiner. »Und ihnen die Birnen abschneiden.« Zamorra erledigte den vierten Untoten. Auch von dem blieb nichts übrig. »Alles klar?«, fragte er Latiner, der gerade wieder zu sich kam und stark keuchte. »Ja, wieder klar. Sind sie … überall jetzt?« »Ja, leider.« Zamorra drehte sich um. »Ich muss …« »Ich … komme mit …« Latiner taumelte hinter ihm her auf die Straße, wo Nicole bereits wartete. Sie blickte in Richtung Ortsmitte. »Da, schaut mal«, flüsterte sie fast andächtig. Über den Häusern hing, wie ein zweiter Mond, eine in kaltem Blau schimmernde durchsichtige Sphäre. Und darin befand sich … ein Mensch? »Wollen wir, Chéri?« Latiner hastete zu seinem kleinen, hellgrünen Opel, riss die Tür auf, holte sein Gewehr, für das er sich neue Patronen besorgt hatte, aus dem Kofferraum und lud es durch. Dann ging er hinter den Dämonenjägern her, die mit schnellen Schritten in Richtung Ortsmitte gingen. Überall kamen Zombies hervor und taumelten ihnen entgegen. Zamorra und Nicole schossen sie allesamt ab, kühl und präzise wie auf dem Schießstand. Latiner stieß ein Gartentürchen auf und hastete die schmalen Steintreppen zu einem Holzhaus hoch, aus dem schrille Schreie drangen. Gleich darauf ertönte ein Schuss. Und Lati-
ner kam zurück, während Zamorra und Nicole nach allen Seiten sicherten. »Nur einer«, sagte der Künstler. »Ich konnte Frau Durnwalder gerade noch retten.« »Los, weiter.« Von einem hohen Steinwall, über dem ein altes, zerfallendes Holzhaus thronte, sprang ein Wiedergänger auf sie herunter. Er erwischte Nicole und riss sie um. Bevor der Untote zubeißen konnte, setzte Latiner sein Gewehr an dessen Schädel und drückte ab. Es wummerte ohrenbetäubend, als der Kopf auseinander flog. »Danke«, sagte Nicole und erhob sich geschmeidig. »Wenn wir mal zu wenig Personal haben, könnten wir Sie dann in Teilzeit engagieren, Herr Latiner?« Schreie und metallene Geräusche wurden lauter. Sie bogen um eine Hausecke. Auf der breiten Brücke, die vor dem Feuerwehrgebäude über den tiefen Bacheinschnitt führte, stand ein Reisebus. Er hatte das Geländer halb durchschlagen und hing nun mit dem Vorderteil über dem kleinen Abgrund. Um den Bus verstreut lagen einige Tote, über die sich ein gutes Dutzend Wiedergänger hermachte. Direkt am Bus standen welche mit schweren Bihändern, wie sie Ritter einst getragen hatten. Sie droschen immer wieder auf den Bus ein. In dessen Innerem hatten sich der Fahrer und mehrere Fahrgäste verschanzt. Noch hielten die Türen. Es sprach nicht gerade für einen eventuell vorhandenen Verstand der Untoten, dass sie stoisch auf die Karosserie des Fahrzeugs eindroschen und die Fenster in Ruhe ließen. Da das Licht im Bus brannte, sah Zamorra die schreckensbleichen Gesichter dreier Männer, die sich trauten, nach draußen zu schauen. Er legte an und schoss den ersten Schwertträger in den Kopf. Latiner tat es ihm nach, während Nicole Flanken und Rücken sicherte. »Runter!«, brüllte sie. Zamorra reagierte geistesgegenwärtig und ließ sich fallen. Ein
waagrecht geführter Schwerthieb sauste knapp über seinen Haarschopf hinweg. Der mumifizierte Zombie-Ritter, dessen Totenschädel zu grinsen schien, war aus den Schatten einer Bushaltestelle aufgetaucht. Wieder war Latiner am schnellsten zur Stelle und schoss ihm in den Kopf. Gleich darauf war der Spuk am Bus vorbei. Während Latiner den Überlebenden half, erreichten Zamorra und Nicole die Ortsmitte. Vor dem Deutschen Haus standen Carola von Bärwangen und Ötzi einträchtig nebeneinander. An den Hälsen der beiden leuchtete jeweils eine blaue Blume grell auf. Die daraus entstehende magische Kraft war für die leuchtende Sphäre verantwortlich, die ungefähr zehn Meter über dem Hotel frei in der Luft hing. Darin schwebte eine wunderschöne nackte Frau mit perfekter Figur, roten Haaren, weit ausladenden, zuckenden Flügeln und mächtigen Teufeishörnern, die aus ihrer Stirn wuchsen. Eine dünne schwarze Blase umfloss die Konturen der Teufelin in der Art, wie auch Merlins Stern den Schutzschirm für Zamorra bildete. Aber diese Schutzblase schien auszudünnen. Die kalte blaue Kraft arbeitete beständig daran. »Stygia«, murmelte Zamorra. »Da wird doch der Höllenhund in der Pfanne verrückt.«
* Während sich Zamorra für einen Moment unschlüssig verhielt, richtete Nicole den Blaster auf Carola von Bärwangen und löste aus. Der blassrote tödliche Strahl schlug durch den Kopf der Amazone – und in die Hauswand dahinter, ohne Schaden anzurichten. Jedenfalls bei der Totenbeschwörerin. Sie machte weiter, als sei nichts geschehen, während Zamorra zwei weitere Zombie-Ritter, die sich aus einem dunklen, offenen Kartoffelkeller lösten, um die untote Existenz brachte.
»Merde«, presste Nicole zwischen den Zähnen hervor, während neben ihr zwei Bihänder zu Boden klirrten. »Nicht mal der Laser macht sie alle.« »Ich versuch’s mit dem Schwert«, sagte Zamorra, hob einen Bihänder auf und rannte schlagbereit auf die beiden unheimlichen Gestalten zu. Mit einem Kampfschrei zog er die schwere Waffe waagrecht in Halshöhe Ötzis durch. Die Klinge schnitt durch seinen Hals. Und traf einen hölzernen Brunnen dahinter. Auch die Mumie des Gletschermannes blieb heil, während der Schwung Zamorra das Schwert aus der Hand prellte. Schlimme Schmerzen rasten seine Arme hoch bis in die Schultern und den Kopf. Der Meister des Übersinnlichen stöhnte auf und versuchte das Taumeln, in das er geraten war, durch seine Körperbeherrschung abzufangen. Dabei schaffte er es gerade noch, nicht in Ötzi hineinzuprallen. Weder der Gletschermann noch Carola von Bärwangen nahmen auch nur Notiz von diesen Angriffen. »Die scheinen sich in einer anderen Dimension zu befinden!«, brüllte er. »Zumindest auf einem magischen Energielevel, der sie unangreifbar macht.« Es gab nicht viele Momente, in denen Zamorra nicht mehr weiter wusste. Dies war so einer. Sein Blick ging kurz hoch zu Stygia. Die Teufelin kämpfte in der Sphäre verzweifelt um ihre Existenz, aber der schwarzmagische Schutz um sie schien immer dünner zu werden. Plötzlich setzte sich Nicole in Bewegung. In ihrer rechten Hand sah Zamorra die magische Bannscheibe. Vielleicht ist das die rettende Idee!, durchzuckte es ihn. Nicole wieselte zu Ötzi hin. Die furchtbar aussehende Mumie, die ungefähr ihre Größe hatte, drehte immerhin kurz den Kopf, als sie in seine Nähe kam. Dann rannte Nicole auch schon durch sie hindurch. Immerhin schienen die beiden Unheimlichen die Angriffe der Dämonenjäger als lästig zu empfinden, denn von beiden Seiten der
Straße tauchte plötzlich eine Horde Untoter auf. »Wir müssen weg, überlegen«, keuchte Zamorra und sah gehetzt nach allen Seiten. »Das gibt’s doch gar nicht.« In diesem Moment materialisierte eine weitere Gestalt auf dem Platz vor dem Hotel. Neben Carola von Bärwangen fiel sie praktisch aus dem Nichts. Ein düsterer, südländisch aussehender Mann mit gescheitelten Haaren und einem dandyhaften Anzug. »Assi«, keuchte Nicole. Asmodis wob blitzschnell magische Zeichen in die Luft, die sofort zu knistern begann. Tiefschwarz leuchtende Blitze zuckten kreuz und quer über den Platz. Zamorra und Nicole spürten die unglaublich mächtige Magie, die sich zu manifestieren begann. Asmodis’ Kraft löste die ersten ernsthaften Reaktionen bei den beiden Sklaven der Totengöttin aus. Sie drehten die Köpfe und starrten den ehemaligen Fürsten der Finsternis an, während die Sphäre über dem Deutschen Haus durchsichtig wurde und sich dann schlagartig auflöste. Stygia schrie schrill, flatterte noch zwei Mal kurz mit den Flügeln und verschwand dann so schnell wie ein Komet im Nachthimmel. In dem Moment, als sich die Sphäre auflöste, schienen Carola von Bärwangen und Ötzi ein wenig materieller zu werden. »Schnell, leg ihm die Bannscheibe nochmals auf die Zunge!«, brüllte Asmodis, der seine Gestalt nicht mehr halten konnte und urplötzlich zu einem vier Meter großen Teufel mit schwarzer, ledriger Haut, Schweif und Hörnern mutierte. Grellrote Feuerräder drehten sich in seinen Augen. Nicole reagierte sofort. Sie sprang Ötzi wie ein Panther an. Dieses Mal bekam sie Körperkontakt. Der Gletschermann fühlte sich eiskalt und ein wenig seifig an. Sie drückte die Marmorscheibe zwischen die abgewetzten Zähne seines leicht geöffneten Mundes, bevor er auch nur eine Abwehrbewegung machen konnte. Sofort ging ein Ruck durch den Körper der Mumie. Das Leuchten
der blauen Blume an ihrem Hals erlosch schlagartig, sie verschwand von einem Moment zum anderen. Ötzi fiel um wie ein steifes Brett und blieb liegen. Carola von Bärwangen drehte sich wie ein Kreisel, Hass verzerrte ihr Asmodis zugewandtes Gesicht. Zamorra glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Ein überaus gespenstischer Vorgang begann. Während Asmodis plötzlich eine zweite gelochte Marmorscheibe, die er Stygia entwendet hatte, in den Klauen hielt und sie Carola von Bärwangen in den Mund zu drücken versuchte, begann diese plötzlich zu schrumpfen. Und zwar um die blaue Blume herum! Während das leuchtende magische Relikt die Größe einer Hand beibehielt, wurde die menschliche Gestalt um sie herum immer kleiner und verlor den Boden unter den Füßen. Blume und Frau schwebten nun frei in der Luft. Carola von Bärwangen war schließlich nicht mehr größer als ein Finger und wurde von der Blume eingesaugt! Nachdem sie darin verschwunden war, leuchtete die Blume noch einmal grell auf – und implodierte. Sie verschwand in sich selbst, bis sie völlig von der Bildfläche verschwunden war. Im allerletzten Moment überfluteten starke Visionen den Platz. Braungelbe Nebel, in denen Legionen Untoter als düstere Schatten wandelten, gelenkt von etwas Schrecklichem, das im Hintergrund lauerte. Mit einem Ächzen sank Asmodis zusammen. Als Zamorra und Nicole die riesige Teufelsgestalt fast zeitgleich erreichten, verwandelte sich der Erzdämon wieder in seine vorige Tarnexistenz zurück. Auf die Ellenbogen, gestützt lag er auf dem Rücken. Ohne dass die Dämonenjäger gesehen hätten, wie er sich erhob, stand er übergangslos vor ihnen und lachte meckernd. »Es geht eben doch nichts über eine gedeihliche Zusammenarbeit.« Nicole spuckte verächtlich aus. »Red hier keinen Schwachsinn, Assi. Klär uns lieber mal auf, was hier vorgeht.«
* Asmodis schien ziemlich viel Kraft gebraucht zu haben. Auf jeden Fall beleidigte er Nicole heute ausnahmsweise nicht. »Die Zombies sind alle weg«, sagte er unaufgefordert. »Wir können also in Ruhe reden.« »Du hast tatsächlich Redebedarf?«, wunderte sich Zamorra und stützte sich auf den Rand des Brunnens. »Na, dann schieß mal los.« »Ich rede mit euch, damit ihr künftig die Finger von diesem Fall lasst«, erwiderte Asmodis großspurig. »Denn der ist eine Nummer zu groß für euch.« »Was du nicht sagst …« Nicole produzierte ein höhnisches Lächeln. Asmodis betrachtete seine Fingernägel, als ginge ihn das Ganze wenig bis gar nichts an. »Die Macht, die hinter den wandelnden Toten steckt, nennt sich die Totengöttin. Sie ist ein mächtiges magisches Wesen, das wahrscheinlich in einer anderen Dimension zu Hause ist. Ich habe bis heute aber weder herausgefunden, wer sie ist noch wo sie wohnt.« Der Erzdämon grinste. »Auf jeden Fall versucht die Totengöttin, Kontakt mit der Erde aufzunehmen, um sie mit wandelnden Toten zu überschwemmen. Das scheint ihr einziges Ziel zu sein. Den Kontakt kann sie aber nur alle paar tausend Jahre herstellen. In Form einer blauen Blume, die an den Felsen wächst. Wer sie berührt, wird umgehend zum Sklaven der Totengöttin und bekommt die Macht und den Auftrag, so viel Tote wie möglich zu erwecken und sie auf die Lebenden zu hetzen, um auch diese zu Zombies zu machen. Ihr könnt euch vorstellen, dass das nicht unbedingt im Sinne der Hölle ist … äh, war.« Asmodis stieß eine Schwefelwolke aus der Nase. »Der SteinzeitMagier Ki-Ri war der erste, der auf die blaue Blume der Totengöttin
stieß. Und weil die Göttin mächtig und eine potenzielle Bedrohung für die Hölle war, habe ich mich als damaliger Fürst der Finsternis daran gemacht, ihr ein wenig auf die Finger zu klopfen.« »Dieser Ki-Ri, das war Ötzi, nicht wahr?«, fragte Nicole. »Wie scharfsinnig, ja. Wenn du mich aber nochmals unterbrichst, lasse ich euch dumm sterben. Wo war ich? Ach ja, es war gar nicht einfach, die Totengöttin zu bekämpfen, denn sie verfügt über eine absolut fremdartige Magie, deren Strukturen ich zuerst analysieren musste. Es gelang mir schließlich mit einem Trick. Ich konnte Ki-Ri besiegen und mit der magischen Marmorscheibe, die ich ihm auf die Zunge legte, von den ständigen Impulsen der Totengöttin trennen. Als ich ihn im Gletscher versenkte, war mir aber schon klar, dass dieses Intermezzo unter Umständen noch ein Nachspiel haben könnte.« Asmodis grinste erneut. »Ab jetzt sind Fragen wieder erlaubt. Der Vortrag wird mir doch ein wenig zu eintönig. Eine lebhafte Diskussion würde mir besser gefallen.« »Das Nachspiel hieß Carola von Bärwangen, nicht wahr?«, nahm Professor Zamorra das Angebot an. »Oder gab es weitere, die der blauen Blume verfielen?« »Nein. Die Bärwangen war die zweite. Ich konnte sie auf die bewährte Weise besiegen und mit der Bannscheibe, die ich übrigens wie auch die erste im siebten Kreis der Hölle habe herstellen lassen, kaltstellen. Da Aufzeichnungen über diese Vorgänge bei den Teuflischen Archivaren lagerten, muss Stygia irgendwie Wind davon bekommen haben.« »Oh je«, erwiderte Zamorra. »Ich befürchte, dass sie nach den letzten Niederlagen gegen uns nach mächtigen Verbündeten suchte, mit denen sie uns den Marsch blasen kann.« »Wenn du’s so ausdrücken willst, Zamorra …« Asmodis’ Kichern hörte sich wie ein Glucksen an. »Ja, Stygia sucht tatsächlich Verbündete. Oder besser, mächtige Untergebene, die sie beherrschen kann.
Schlauer ist sie aber nicht geworden. Sonst hätte sie sich daran erinnert, dass bereits ich als Erzdämon die größte Mühe mit der fremdartigen Magie der Totengöttin hatte. Und so kam es, wie’s kommen musste. Stygia erweckte Carola von Bärwangen, indem sie ihr die Bannscheibe aus dem Mund nahm, konnte die Erweckte aber nicht beherrschen. Denn magische Wesen schaffen es nicht, das Bannamulett nahe genug an die Sklaven der Totengöttin heranzubringen, um sie wieder zu bannen. Menschen hingegen schon, weswegen die Totengöttin wohl die Absicht hegte, das Bozener Bannamulett von diesem Zombie Egger-Waigel holen zu lassen, um es irgendwo unauffindbar zu deponieren. Aber das nur nebenbei. Nach ihrer Auferstehung hatte Carola von Bärwangen sofort wieder Kontakt zur Totengöttin, machte sich selbstständig und tat das, was die Göttin ihr befahl.« »Zombies zu erwecken.« Nicole schenkte Zamorra ihren triumphierenden Hab-ich’s-dir-nicht-gesagt?-Blick. »Ja, Duval. Aber nicht nur. Die Totengöttin fürchtet mich, weil ich in der Lage bin, sie zu besiegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, denke aber, dass sie bei Stygia die höllische Aura spürte, die meiner zumindest in groben Grundzügen gleicht. Deshalb sah sie Stygia als gefährlich an. Die Teufelin war dumm genug, in der Gegend zu bleiben, weil sie sich mit ihrer Niederlage nicht abfinden wollte und Wege suchte, die Totengöttin doch noch beherrschen zu können. So beschloss besagte Totengöttin, mit Dringlichkeitsstufe eins erst mal Stygia aus dem Weg zu räumen, um freie Bahn zu haben. Ich hatte es jeweils nur mit einem Träger der blauen Blume zu tun. Jetzt gab es aber zwei.« »Hm. Und so erweckte die Totengöttin über die bereits wiedergekehrte Carola von Bärwangen auch Ötzi. Sie wollte ihre beiden Premium-Zombies zusammenführen und mit deren doppelter oder potenzierter oder was weiß ich Macht Stygia besiegen«, führte Professor Zamorra den Gedanken fort. »Exakt. Und es wäre ihr ja auch beinahe gelungen, wenn ich nicht im letzten Moment Wind davon bekommen und eingegriffen hätte.«
Asmodis nickte. Er hatte die menschlichen Gesten längst verinnerlicht. »Tatsächlich waren die beiden Blumenträger gemeinsam ungeheuer stark. Und sie konnten sich vor allen Angriffen schützen, weil die Totengöttin sie ein Stück weit auf das magische Niveau ihrer Welt hob. Und trotzdem agierten sie ungehindert in uns… in dieser Welt. Allein wäre es mir nicht mehr gelungen, das Totengöttinnen-Doppel zu besiegen. Ich habe es lediglich geschafft, die beiden für einen Moment zurück in unsere Existenzebene zu holen. So konnte Duval den Magier Ki-Ri mit der Bannscheibe wieder erreichen. Zum Glück hast du so schnell reagiert und Ki-Ri damit von der Macht der Totengöttin getrennt. Die Bärwangen alleine hätte ich besiegen können. Leider hat die Totengöttin, der das auch klar war, sie vorher meinem Zugriff entzogen. So ist das Leben, auch wenn’s nur untot ist: Mal gewinnt man, mal verliert man.« »Sag mal, Assi, alter Tränensammler …« Das Gesicht des Erzdämons verfinsterte sich schlagartig. »… was mir schon die ganze Zeit im Kopf herum spukt«, sagte Nicole. »Als die Hölle untergegangen ist, muss in diesem Teil des Multiversums ein enormes Ungleichgewicht der Kräfte entstanden sein. Das Gute war plötzlich sehr im Vorteil. Gut für uns, möchte ich mal sagen. Aber sicher nicht für das Gleichgewicht der Kräfte und den Wächter der Schicksalswaage.« »Was genau willst du sagen?« »Nach dem Höllen-Crash können wir überall auf der Welt plötzlich aufblühende schwarzmagische Aktivitäten beobachten. Es scheint so, als wären diese, hm, wie soll ich sagen, Black Spots, bisher von der übermächtigen Hölle unterdrückt worden und könnten sich nun frei entfalten. Nach ersten zaghaften, aber nichtsdestotrotz erfolgreichen Versuchen scheint das nun immer häufiger der Fall zu werden.« »Das hast du gut beobachtet, ja.«
»Um das Ungleichgewicht von Gut und Böse wieder ins Lot zu bringen, müsstest du als Sklave des Wäch…« »Ich bin nicht dessen Sklave«, zischte Asmodis böse. »Also gut. Als verdienter Mitarbeiter des Wächters müsstest du eigentlich gehalten sein, diese Black Spots wachsen zu lassen. Aber den hier hast du ganz schön in die Pfanne gehauen, obwohl er ja jetzt keine Konkurrenz für die Hölle mehr sein kann.« Nicole kicherte. »Hast du da nicht sozusagen deine Dienstpflicht verletzt?« Asmodis starrte sie an. Nachdenklich, wie es schien. »Lasst künftig die Finger davon«, sagte er noch einmal. Und verschwand in einer Wolke aus Schwefel im Nichts. »Huch«, sagte Nicole. »Jetzt bin ich ihm anscheinend auf die hässlichen Teufelsfüße getreten. Mit was nur bloß?« Unten im Tal waren zuckende Blau- und Rotlichter zu sehen und näher kommende Sirenen zu hören. Zamorra und Nicole machten sich wieder auf den Weg, denn jetzt mussten andere helfen. Als sie Stilfs an den entgegen kommenden Krankenwagen und Polizeiautos vorbei verließen, plagte Zamorra das dumpfe Gefühl, etwas übersehen zu haben. Etwas Entscheidendes. Epilog Asmodis suchte Caermardhin auf. Wie immer fand er seine Gefährtin Kühlwalda, die alte, warzige Kröte, auf einem Stein sitzend vor. Er nahm sie vorsichtig hoch. »Es stimmt tatsächlich, meine Schleimige«, flüsterte er. »Die Alte Kraft fühlt sich nun anders an. Sie gibt mir mehr Macht. Viel mehr Macht …« ENDE
Das dunkle Juwel von Michael Breuer Der Werdingo La Grange, der lange in Newcastle, Australien sein Unwesen trieb, hat sich zur Ruhe gesetzt, sein Clan ging unter. Doch es scheint, als sei LaGrange kein harmonischer Lebensabend gegönnt – denn Shado, der Yolngu, spürt, wie sich über dem Land Böses zusammenbraut. Doch worin besteht es? Und was hat das alles mit den anscheinend von Werwesen gerissenen Touristen zu tun? Shado weiß sich keinen Rat mehr – er träumt sich Zamorra herbei …