Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Als Oberst Cliff McLane...
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Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Als Oberst Cliff McLane die ersten Träumer sieht, glaubt er anfangs, Rauschgiftsüchtige vor sich zu haben. Doch der Kommandant der ORION irrt sich. Die Epidemie der Träume hat bereits verheerende Ausmaße angenommen, Menschen in Schlüsselpositionen fallen aus. Die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern bricht an vielen Orten der Welt zusammen. Dann, als die Ursache der Traumepidemie mit Sicherheit ermittelt ist, handelt Oberst Villa, der Chef des Galaktischen Sicherheitsdienstes, schnell und folgerichtig. Er schickt Cliff McLane mit der ORION zum Planeten Cassina. Nur von dort aus kann die träumende Erde noch gerettet werden.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22) Entführt in die Unendlichkeit (O 23) Die phantastischen Planeten (O 24) Gefahr für Basis 104 (O 25) Die schwarzen Schmetterlinge (O 26) Das Eisgefängnis (O 27) Bohrstation Alpha (O 28) Das Team der Selbstmörder (O 29) Der Raumpirat (O 30) Der Königspfad (O 31)
BAND 32
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
DIE TRÄUMENDE ERDE Zukunftsroman
Deutsche Erstveröffentlichung
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie »Raumpatrouille«, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Foto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott + Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Buches enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer
1 Das kleine, weiße Boot lag nahe bei der großen Bucht von Veruda vor Anker, sicher vertäut und jetzt im halben Schatten eines gewaltigen Baumes. Der Baum legte seine Krone weit über das stille Wasser, und sein Stamm war schräg und voller Runzeln. Man sah dort, wo die Wurzeln in den Stamm übergingen, die Spuren von Ankerketten und von dicken Tauen; Nylonfäden und Manilareste hatten sich in der Borke verfangen. Cliff Allistair McLane dehnte sich unruhig unter dem weißen Sonnensegel des Achterdecks und öffnete die Augen. Er fühlte sich ausgezeichnet. Er überlegte, was jetzt zu tun sei und beschloß, Kaffee zu kochen. Eine riesige Tasse voll heißen Kaffees mit viel Alkohol. Das war gut gegen Müdigkeit, Hitze und Schlangenbisse. »Naja«, murmelte er, »ich spüre es förmlich – die Schönheiten des Urlaubs sind in Kürze vorbei. Es wäre, wenn ich alle meine Erfahrungen zusammenrechne und durch mein ungutes Gefühl dividiere, schon längst Zeit für einen ungemein wichtigen Einsatz. Die Welt sehnt sich danach, von McLane gerettet zu werden!« Und als die blauen Flammen aus dem Brenner schossen, schloß er: »Aber wer rettet McLane?« Irgendwie sehnte er sich schon wieder danach, in seiner Wohnung im hundertsten Stockwerk zu sitzen und zu versuchen, aus dem vielfältigen Angebot dieser Zeit für sich richtige Gedanken, Verhaltensweisen und Aktionen herauszufinden.
Aufmerksam beobachtete er, wie das Wasser in dem kleinen Topf Blasen entwickelte und zur Oberfläche entließ. In der Stille des frühen Nachmittags, in der jeder und alles den Schatten und den Schlaf suchten, hörte er nur das Zischen des Brenners. Das Zischen riß ab, zwei kleine, dünne Explosionen ertönten, und dann hörte der Kommandant nichts mehr. »Verdammt!« murmelte er. Er sah nach; der Hahn war vorschriftsmäßig geöffnet, der Schlauch nicht geknickt, das Reduzierventil offen. Dann sah er die Anzeige auf der winzigen Skala des Ventils. Auch die letzte Flasche Brenngas war leer. Er hatte sie vor vier Tagen ausgewechselt. »Dieser Raguer mit seiner andauernden Fischbraterei!« rief er verärgert. Commander Prac'h Glanskis war von Cliffs Boot auf das Schiff der Familie La Grange umgewechselt, das sie unverhofft wieder mitten in der südlichen Adria getroffen hatten. Auch Raghilt hatte ihre zwei Bordtaschen genommen und war nach einem Abschiedsessen, das ›Mama‹ in gewohnt großzügiger Art gekocht hatte, von Bord der Nova Ljubav gegangen. Cliff war allein geblieben. Er ärgerte sich nicht darüber – alle Dinge waren vergänglich; menschliche Beziehungen waren oftmals schneller als die Gedanken vorbei und verweht. »Jedenfalls ist die Flasche leer!« sagte er voller Resignation. Gleichzeitig regte sich sein Starrsinn. Er hatte Kaffee kochen wollen, und er würde ihn kochen. Und wenn er ans Ufer gehen und dort Holz sammeln mußte! Er überlegte.
Eine halbe Seemeile entfernt, auf der anderen Seite der Bucht, war die Station, an der die Schiffe gebunkert werden konnten. Dort gab es auch neues Brenngas – die leeren Flaschen wurden gegen die vollen umgetauscht. Cliff nickte voller Entschlossenheit und schloß den Hahn, klemmte die beiden Flaschen ab und holte auch die Reserveflasche aus der Plicht hervor. Dann ging er über das Achterdeck und löste die Klemmen des Beibootes, brachte es in waagrechte Lage und ließ es zu Wasser. Die Badeleiter wurde heruntergeklappt, dann stellte Cliff die Gasflaschen zurecht. Schließlich stand er im Beiboot, nahm die Flaschen herein und löste die Sorgleinen. »Ein sehr arbeitsaufwendiger Kaffee«, stellte er fest, als er den Starter zog. Augenblicklich sprang der Außenborder an. In einer eleganten Kurve fuhr das Beiboot, eine schäumende Bugwelle aufwerfend, vom Schiff weg. Cliff setzte sich neben den Motor und richtete den Bug des Bootes auf den langen, weißen Landungssteg am gegenüberliegenden Ufer aus. Brummend fuhr das Boot durch die Ruhe des Nachmittags und durch das spiegelglatte, warme Wasser. McLane brachte das Boot genau bis auf die Höhe, in der das große, blauweiße Hausboot ankerte. Dann war auch der Spritvorrat zu Ende, und knatternd starb der Motor. Cliff fluchte genau eine Minute lang. Die dazu verwendeten Ausdrücke hatte er von den Pionieren auf Wenatchee gelernt in den ersten Tagen des Einsatzes, als die Laune entsprechend schlecht war. Dann griff er zu den Riemen, setzte sie ein und ruderte
langsam hinüber zum Hausboot. An der Reling war ebenfalls ein Beiboot festgemacht, und der Außenborder war von derselben Herstellerfirma. »Vielleicht bekomme ich einen Schluck Gemisch!« tröstete er sich. Zehn Minuten lang ruderte er, dann drehte er sich herum, warf einen Tampen an Deck, fischte danach und zog ihn durch einen Aluminium-Klampen. Er hörte das dumpfe ›Plop‹, mit dem das Boot gegen die Polyesterschale des Hausbootes stieß und wartete darauf, daß sich jemand an Deck zeigen würde, den er bitten konnte, ihm etwas Gemisch zu verkaufen. Er brauchte nur zwei Liter, mehr nicht. Nichts regte sich. »He, Skipper!« rief Cliff. Er wartete weiter, einige Minuten lang – nichts. War niemand an Bord? Oder hatten sie zwei Beiboote? Unwahrscheinlich. Er sah sich aufmerksam um. Geradeaus nach Nordwest mündete ein kleiner Fluß in die Bucht. An seinen Rändern befanden sich flache, moderne Gebäude – vermutlich Gewächshäuser, vollautomatisch und ertragsintensiv. Die Ufer waren mit Schilf bestanden und mit Weiden, die auch unter der Hitze zu leiden schienen; sie ließen die Zweige schlaff ins Wasser hängen. Cliff sah einige blitzende Libellenflügel. Sonst rührte sich nichts; jene träge, stille Hitze schien alles gelähmt zu haben. Cliff zuckte die Schultern und beschloß, diejenige Person zu wecken, die hier anscheinend in guter Ruhe schlief. Er rief noch einmal. Wieder gab niemand Antwort. »Dann nicht!« murmelte Cliff, zog das Boot heran
und sprang auf das tiefliegende Achterdeck des Hausbootes. Er bemerkte, daß die Vorhänge des Bootes zugezogen und die Türen offen waren. Er enterte vorsichtig einen Niedergang und blieb vor einem zugezogenen Vorhang stehen. »Verzeihung«, sagte er laut. »Mein Name ist McLane, und ich möchte ...« Er beendete den Satz nicht, weil er durch einen Spalt im Vorhang gesehen hatte, daß eine ganze Familie von vier Leuten hier lag und schlief. Schlief? Sie lagen in reichlich unbequemen Stellungen da. Ein etwa zwanzigjähriges Mädchen sogar neben dem Tisch. »Sie liegen da in guter Ruhe«, sagte Cliff laut. »Sie hätten sicher auch gern einen Kaffee, ja?« Niemand rührte sich. Cliff schob die beiden Teile des Vorhangs auseinander und machte einige Schritte nach vorn. Er sah die Schlafenden genauer an – sie bewegten sich nicht einmal. Jetzt war Cliff alarmiert. »Tot?« Er betrat den geräumigen Salon des Bootes. Hier herrschte der Geruch, den schlafende Menschen verströmten. Ein etwa fünfzigjähriger Mann, eine Frau von etwa vierzig Jahren lagen da, in moderner Freizeitkleidung. Zweifellos Leute, die weder arm noch betrunken waren. Ein fünfzehnjähriger Junge und das erwähnte Mädchen schliefen ebenfalls. Das Bordradio war eingeschaltet, aber die Lautsprecher blieben stumm. Auf dem Tisch standen die Reste einer Mahlzeit und vier Gedecke. Einer der Becher war umgefallen; roter Wein trocknete bereits im Tuch. Cliff ging schnell durch den Raum in die anderen Zimmer, riß die Tür zur Pantry auf und zur Toilette – niemand
sonst war an Bord. Cliff blieb neben dem Mann stehen und faßte das Handgelenk an. Er suchte nach dem Pulsschlag und stellte fest, daß er normal war. Normal für einen Schlafenden. Er rüttelte den Mann an den Schultern, und schläfrig öffnete der Mann die Augen. »He, was ist los?« fragte Cliff halblaut und scharf. Der Mann lallte: »Lassen Sie mich ... ich schlafe ... schöner Traum.« Es konnte sein, daß die vier Personen vergiftet waren. Cliff ließ den Oberkörper des Mannes zurücksinken und schaute die Essensreste auf dem Tisch an. Reis, ein Obstsalat, einige Reste von Steaks. Keine Pilze, keine Meerestiere ... also mit Sicherheit auch keine Vergiftung. »Merkwürdig.« Das Mädchen, das neben dem Tisch auf dem weichen Teppich lag, lächelte plötzlich glücklich auf und begann zu summen. Es waren zusammenhanglose Tonfolgen, keine erkennbare Melodie. Cliff begann zu ahnen, daß diese vier Menschen vielleicht eine Art Rauschgift genommen hatten. Je länger er sich umsah, desto wahrscheinlicher wurde diese seine Annahme. Er sah nirgends Spuren oder deutliche Anzeichen dafür. »Verdammt!« murmelte er. »Was soll ich tun?« Er konnte hier im Augenblick nichts unternehmen. Vier Menschen schienen hier in einem Rauschzustand zu liegen, und der Kommandant war kein Mediziner. Er zuckte die Schultern, umfaßte noch einmal mit einem langen Blick den Raum und ging dann zurück auf das Achterdeck. Er suchte an Stellen, die er öffnen und einsehen
konnte, nach Gemisch und fand nach einigen Minuten einen Fünf-Liter-Kanister. Er holte aus der Brusttasche seiner Hansen-Jacke die Karte des eigenen Schiffes, schrieb ein paar Zeilen darauf und füllte dann den Tank des Outborders. Kurze Zeit später, nachdem der leere Tank wieder auf dem Deck des Hausbootes stand und Cliff die beschriebene Karte darangesteckt hatte, brummte das Beiboot dem langen Steg entgegen. Cliff schleppte die Gastlaschen an Land und ließ sie auffüllen; Umtausch war hier aus einem nicht erkennbaren Grund nicht mehr möglich, entgegen dem Text im Küstenhandbuch. Dann fragte er sich nach dem Büro des Hafenkapitäns durch und trat ein. An einem beladenen Schreibtisch saß ein junger Mann in einer Uniform. Er schaute auf, als Cliff eintrat und nach dem Kapitän fragte. »Sie suchen mich?« fragte er. Cliff sagte höflich: »Ich suche den Hafenkapitän!« »Dann haben Sie mich gefunden«, bestätigte der junge Mann. Cliff ging auf den Schreibtisch zu, und die Männer schüttelten sich die Hände. Cliff stellte augenblicklich eine direkte Beziehung her, indem er sagte: »Kapitän – ich bin Raumfahrer auf Urlaub hier. Ich habe ein verdammt ernstes Problem.« Der andere lachte. »Im Urlaub hat man meistens keine Probleme. Es muß also ernst sein. Haben Sie ohne Erlaubnisschein geangelt? Vielleicht auch noch mit dem Parangal?« »Nein«, sagte Cliff. »Ich habe Gemisch gestohlen ...« Er berichtete wahrheitsgemäß und in kurzen Sät-
zen, was vorgefallen war und wie er in diese Lage gekommen war. Der junge Hafenkapitän hörte ihm schweigend zu und machte sich ein paar Notizen, dann legte er die Hand auf die Tastatur des modernen Videophongerätes. »Was schlagen Sie vor?« fragte er. Cliff hob die Schultern. »Auf keinen Fall viel Aufsehen erregen. Erstens schadet es dem Tourismus, und zweitens bin ich alles andere als sicher. Ich glaube, Sie sollten eine Routinekontrolle durchführen, im Rahmen dieser Überprüfung können dann Ihre Beamten auch das Hausboot untersuchen. Ich glaube, diese vier Leute sollten möglichst schnell in ärztliche Behandlung.« Der Kapitän nickte langsam. »Ich glaube, das wäre sehr gut und unauffällig«, sagte er leise. »Wo haben Sie festgemacht?« »Gegenüber«, antwortete Cliff. »Etwa das weiße Schiff, das unter dem großen Baum liegt?« »Genau dieses«, erwiderte Cliff. »Benachrichtigen Sie mich nach Ende der Aktion?« Der Kapitän betrachtete ihn prüfend. »Persönliches Interesse, ja? Dieses Mädchen, wie?« »Antwort auf ersten Teil der Frage: Ja. Antwort zum zweiten Teil: Nein. Mein Name ist Cliff McLane von der ORION VIII, und ich pflege ständig unverschuldet in größere Sachen dieser Art hineinzuschlittern. Vielleicht auch hier. Sie würden die letzten Tage meines Urlaubs retten, wenn Sie mir den Befund des Arztes durchgeben würden.« Der Kapitän stand auf und setzte seine Dienstmütze auf.
»Einverstanden. Ich werde Sie heute abend versuchen zu erreichen. Klar?« »Klar.« Sie verließen zusammen das Büro, und der junge Mann ging neben Cliff bis zum Anfang des Stegs. Dort verabschiedeten sie sich voneinander, und der Kapitän sprang an Deck des Polizeibootes. Als Cliff etwa zweihundert Meter zurückgelegt hatte – mit neugefülltem Tank, einem Reservekanister und drei vollen Gasflaschen, hörte er das sonore Brummen der starken Doppelmaschine. Der Bug des Polizeibootes hob sich aus dem Wasser, als es vom Steg losmachte und auf das Ende der doppelten Bucht zufuhr. Der Kapitän stand neben dem Rudergänger und winkte kurz, als er mit Cliffs kleinem Beiboot auf gleicher Höhe war. Für den Augenblick war Cliff beruhigt. Er schloß die Gasflasche an und kochte seinen Kaffee, und dann schaltete er das kleine, vom Bordstrom gespeicherte Videophongerät ein. Er sah auf die Uhr; in wenigen Minuten würden die Nachrichten gesendet werden. * Gegen sieben Uhr, in der sinkenden Dämmerung, hob der Kommandant den Kopf und spähte über die Reling. Gerade fiel der Bug des Polizeibootes wieder zurück in die Wellen. Langsam trieb das Boot heran, wendete halb und kam breitseits heran. »Nehmen Sie ein Tauende?« fragte einer der Hafenpolizisten. »Mit Vergnügen«, sagte Cliff.
Vier zylindrische Kunststoffender wurden ausgebracht, und ein Mann sprang mit einem zweiten Tau auf das Vorderschiff. Minuten später lagen beide Boote längsseits nebeneinander und schaukelten leicht. Der Hafenkapitän kam herüber, und Cliff sah durch das Seitenfenster des Polizeibootes den Jungen, den er schlafend und träumend angetroffen hatte. »Ahoi«, sagte der Kapitän mürrisch. »Sie haben mir da etwas Hübsches beschert, Kommandant McLane!« »Nehmen Sie's als Geburtstagsgeschenk«, sagte Cliff und goß Whisky auf die Eiswürfel in den Gläsern. »Und das hier dazu.« Der junge Hafenkapitän musterte den Raumfahrer mit einem langen, nachdenklichen Blick und erwiderte dann leise und, wie es schien, niedergeschlagen: »Ich bin noch zuwenig alt, um meine Geburtstage zu feiern. Trotzdem besten Dank. Nehmen Sie auch einen?« Cliff beteuerte: »Hilft sehr gegen Seekrankheit!« Er hob sein Glas und schüttelte lächelnd die Flasche. Sie war beängstigend leer. »Sie werden einen großen Schluck brauchen, Raumfahrer«, sagte der Kapitän trocken. »Hören Sie zu: Wir machten also, wie abgesprochen, die Kontrolle und nahmen uns auch des Hausbootes an. Wir betraten den Salon und fanden, wie Sie es sagten, dort vier schlafende und intensiv träumende Menschen. Sie wurden sofort an Bord genommen und nach Pula ins Hospital geflogen, nachdem wir angelegt hatten. Dort stellte man fest, daß sie bis über sämtliche Ohren voller Rauschgift waren – mit einer Ausnahme.«
Wortlos goß Cliff die Gläser wieder voll. Er hatte jetzt wirklich einen großen Schluck nötig. »Also doch!« murmelte er. »Der Junge hatte am wenigsten abbekommen?« »Ja. Hatten Sie das vermutet?« »Etwa«, sagte Cliff. »Entschuldigen Sie, ich habe unterbrochen. Wie ging es weiter mit unseren Findlingen?« Nachdenklich starrte der Kapitän in das Glas, als wolle er die Eiswürfel zählen. Dann schob er die Dienstmütze in die Stirn und kratzte sich im Nacken. »Den Ärzten ist es relativ schnell geglückt, den Jungen aus dem Traum zu reißen und ihn wieder zu ernüchtern. Die anderen drei, also Vater, Mutter und Schwester«, er pfiff anerkennend durch die Zähne, »liegen weiterhin da und schlafen. Sie sind in einem ausnehmend süßen Traum gefangen, wenn ich den trockenen Bericht des Chefarztes richtig interpretiere. Was hat das zu bedeuten, Kommandant?« Cliff sagte halblaut: »Das ist eine Eigenart des Homo sapiens. Sehen Sie ... die Erde ist der Mittelpunkt unseres kleinen Sternenreiches, das aus einigen wenigen autarken Kolonien besteht. Und wir Terraner bilden uns ein, nur weil wir von hier aus aufgebrochen sind, den Nabel des Universums zu bilden. Wir haben die Slums und die Armut besiegt und das Analphabetentum. Wir haben die Wüsten bewässert und fruchtbar gemacht, und niemand braucht mehr zu hungern. Verglichen mit der Zeit um das Jahr zweitausend herrscht geradezu ein luxuriöser Lebensstil in allen Teilen des Planeten und erst recht in den Kolonien. Wir haben hier auf Terra, so scheint es, keine Aufga-
ben mehr. Glücklicherweise auch keine Kriege. Dafür haben wir die Anfänge einer partiellen Degeneration. Die Menschen haben alles und brauchen etwas Neues. Sie haben alle Drogen und Stimulanzien durchprobiert, und offensichtlich sind ein paar von ihnen inzwischen wieder auf neue Arten oder Mischungen gestoßen. Hoffentlich war es hier nur ein Einzelfall.« »O verdammt!« flüsterte der Hafenkapitän. Seine Reaktion machte Cliff stutzig. »Sie wissen mehr«, sagte er scharf. »Also, heraus mit der Sprache!« »Der Chefarzt sagte mir, daß dies nicht der erste Fall in den letzten zwei Monaten sei.« Augenblicklich war der Kommandant alarmiert. »Hören Sie«, sagte er. »Ich habe von Oberst Henryk Villa, dem Chef aller Abwehrleute, eine Berechtigung, nach der ich sämtliche Geheimdokumente der Abwehr einsehen darf. Sollte der Chefarzt Ihnen noch mehr gesagt haben, dann berichten Sie es mir bitte. Ich werde anschließend gleich mit Oberst Villa Verbindung aufnehmen.« Der junge Mann nahm endlich seine Mütze ab, die er inzwischen ständig auf dem Kopf umhergeschoben hatte, und sagte nach einer kleinen Zeitspanne: »Es ist nicht viel. Der Arzt sagte mir, daß sämtliche Mediziner gehalten sind derartige Fälle sofort an den nächsten Vertrauensmann des Galaktischen Sicherheitsdienstes, also das GSD, zu melden. Vermutlich ist die Sache umfangreicher, als Sie oder ich im Augenblick ahnen.«
»Aha!« murmelte Cliff. »Das verändert meinen Denkansatz. Holen Sie bitte einmal den Jungen zu uns herüber!« Der Kapitän drehte sich herum und sagte scharf: »Vojmir!« Der Steuermann des Polizeibootes erschien auf Deck. »Ja?« »Bringe bitte den Jungen zu uns herüber. Paß auf, daß er nicht in die Bucht fällt; er wird noch etwas schwach sein.« »Verstanden!« Polternde Geräusche waren auf dem anderen Boot zu hören. Der Kapitän und Cliff McLane schwiegen und warteten. Dann brachte der stämmige Steuermann des Polizeibootes den Jungen auf das Achterdeck und half ihm, über die Reling zu klettern. Beide Männer setzten sich zu Cliff auf die große Heckbank. Schweigend musterte Cliff den Jungen. Sein Gegenüber wurde unter diesem Blick unruhig und unsicher. Schließlich fragte der Raumfahrer: »Du weißt vermutlich, worüber wir uns unterhalten haben?« Der Junge nickte. »Über uns ... drüben, vom Hausboot!« »Genau«, erwiderte Cliff. »Es wurde festgestellt, daß deine gesamte Familie voller Rauschgift war und ist. Du hast die kleinste Dosis abbekommen. Was war los? Haben deine Eltern Drogen genommen?« Entschlossen erwiderte der Junge: »Nein!« Cliff langte hinter sich und schaltete das Licht ein. Unter der Reling flammten kleine, indirekte Be-
leuchtungskörper auf. Ein ruhiges, helles Licht brannte jetzt auf dem Achterdeck. »Nein? Bestimmt nicht?« fragte Cliff. Deutlich war aus seiner Stimme Ironie herauszuhören. »Bestimmt nicht. Wir saßen beim Essen. Das müssen Sie gemerkt haben, denn die Reste standen noch auf dem Tisch.« Cliff nickte, während der Junge weitersprach. »Plötzlich fiel Mutter zurück, schnappte nach Luft und schlief dann sofort ein. Vater sprang auf und kümmerte sich um sie, aber er kippte plötzlich auch zur Seite und konnte sich nicht mehr bewegen. Ich glaube, ich habe etwas gesehen, Kapitän!« »Ja, was war das?« fragte der junge Mann. Der Steuermann schaute langsam von einem der Männer zum anderen und betrachtete dann schweigend das Profil des Jungen. »Irgendein Insekt. Ein großes, buntes Insekt ohne Flügel!« sagte der Junge aufgeregt. Cliff grinste. »Ein Insekt ohne Flügel ist so häufig wie ein Fisch ohne Flossen«, sagte er. »Du mußt zugeben, daß dies nicht gerade sehr überzeugend klingt.« Der Junge starrte ihn wütend an. »Ja. Sie scheinen recht zu haben. Aber ich weiß es genau. Das Insekt schwirrte von meinem Vater hinüber zu meiner Schwester und biß sie in den Arm, genauso wie nachher mich. Ich versuchte, mit der Serviette das Insekt zu erschlagen, aber es wich immer aus. Schließlich hat es auch mich gebissen. Hier!« Er streifte seinen Ärmel hoch, zog das kleine, weiße Pflaster auseinander. Cliff beugte sich vor. Er sagte leise:
»Eine Bißstelle. Das ist richtig.« Leise und stockend sagte der Junge zum Hafenkapitän: »Sie haben es doch auch gehört: der Arzt sagte, daß wir alle Insektenstiche aufweisen. Ich sage Ihnen, dies war ein Insekt.« »Einverstanden«, sagte Cliff. »Angenommen, es ist richtig Hat jemand in deiner Familie früher einmal Rauschgift genommen?« Der Junge flüsterte fast entsetzt: »Nein! Auf keinen Fall! Mein Vater hätte mich totgeschlagen ... keiner von uns hatte Lust. Wir brauchten es nicht und niemals. Wir sind weder besonders reich noch unglücklich.« Cliff beugte sich vor und sagte eindringlich: »Hör zu, mein Sohn. Es ist wichtig. Solltest du mich jetzt anlügen, so werde ich es später sehr genau feststellen können. Bitte, sage mir die Wahrheit. In einigen Punkten. Zuerst: Niemals Rauschgift in eurer Familie?« Der Junge schüttelte den Kopf und sagte halblaut: »Nein! Niemals. Bestimmt nicht, Mister ...« »McLane«, murmelte Cliff. »Cliff McLane.« Die Augen des Jungen leuchteten auf. »Von der ORION VIII?« »Ja«, sagte Cliff. »Reden wir weiter – von deiner Familie. Wie ist es mit dem Insekt?« Der Junge deutete mit beiden Zeigefingern eine Größe von rund fünfzehn Zentimetern an. Dann sagte er: »Es war sicher ein Insekt. Oder ein Ding, das so ähnlich aussah. Es war kaum zu hören und ungeheuer schnell. Die Farbe war dunkelrot, mit silbernen
Ringen. Ich habe keine Flügel sehen können ...« Der Kapitän warf ein: »Bei bestimmten Insektenarten sind die Flügelbewegungen so schnell, daß man sie nicht mehr erkennen kann. Zum Beispiel bei Libellen.« »Sie haben recht«, sagte Cliff. »Könnte es eine Libelle gewesen sein, mein Junge?« »Ja. Könnte sein. Sie war rasend schnell und biß uns nach einander. Es ging so schnell, daß keiner von uns richtig reagieren konnte. Und diese Träume ... ich habe nie etwas so Schönes und Logisches geträumt. Ich war wohl high?« Cliff antwortete: »So high, wie du jetzt down bist. Ich habe von euch fünf Liter Gemisch geliehen; nimm bitte den Kanister mit auf das Hausboot. Danke für die ehrlichen Auskünfte. Du bist möglicherweise von diesem Insekt zuletzt gebissen worden. Vielleicht war das Gift schwächer oder die Menge zu gering. Jedenfalls schlafen deine Eltern und deine Schwester noch im Städtischen Krankenhaus in Pula. Wo wirst du diese Nacht bleiben?« Der Junge zuckte hilflos die Schultern und sagte leise: »Ich weiß es nicht. Vielleicht auf dem Hausboot?« Cliff nickte. »Lassen Sie einen Polizeibeamten auf dem Hausboot schlafen. Sämtliche Gazevorhänge zuziehen. Und morgen sehen wir weiter. Das war alles, was mich interessierte. Wollen Sie mein Beiboot nehmen, Steuermann? Es ist noch auf dem Wasser.« Der Steuermann stand auf und legte seinen kurzen, gedrungenen Arm um die Schultern des Jungen.
»Wird gemacht. Komm, Junge!« Cliff und der Hafenkommandant blieben sitzen und sahen zu, wie der Junge und der Steuermann über die Badeleiter kletterten. Scheinwerfer flammten auf, und der Außenborder begann zu brummen. Langsam zog das Boot dem anderen Ufer entgegen. Als das Licht im Hausboot sichtbar wurde, atmete der Hafenkommandant auf. »Der Junge sagt die Wahrheit«, sagte er. »Oder zumindest das, was er für die Wahrheit hält. Ich glaube ihm. Ich habe in der Zentralen Rechenanlage nachfragen lassen. Die Familie ist hochanständig. Der Mann hat einen kleinen Betrieb mit dreißig Angestellten und hundert Robots. Er stellt Verbindungsstecker für Robotschaltungen her. Keinerlei Bemerkungen, ein ausgezeichneter Bürger der Erde. Jetzt kommen Sie dran, Raumfahrer.« Cliff sagte kurz: »Wenn Sie ein Wort von dem, was Sie jetzt hören, weitergeben, legen Sie sich mit Villa und allen seinen Leuten an. Dies kann für Sie das Ende Ihrer Karriere bedeuten. Also hören Sie gut zu und schweigen Sie noch besser. Klar?« »Danke für den Tip, Raumfahrer«, sagte der Hafenkommandant. Cliff wußte rein instinktiv und mit der Sicherheit langer Jahre voller schmerzlicher Erfahrungen, daß die folgenden Aktionen seinen Urlaub beenden würden. Er winkte dem Hafenkommandanten und kletterte den Niedergang in die Kabine hinunter. Zuerst schaltete er das Kurzwellenfunkgerät ein. Dann rief er die radiofonische Station des hydrometereologischen Dienstes in Split an und bat um ei-
ne dringende Vermittlung nach Australien. »Sie brauchen dafür eine Legitimation«, beharrte die Sprecherin. »Ich habe eine solche«, sagte Cliff. »Ich muß unbedingt mit Oberst Henryk Villa sprechen. Mein Name ist Cliff Allistair McLane. Dringlichkeitsstufe Eins, Kode Rot Vier.« »Bitte warten Sie!« »In Ordnung«, murmelte Cliff und nahm die Feinabstimmung vor. Einige Minuten später, während beide Männer schweigend warteten und der Hafenkommandant wieder die Gläser mit Eis und Alkohol füllte, hörte Cliff die ferne Stimme von Oberst Villa. Sie klang sehr ärgerlich. »Sie, McLane?« fragte Villa sarkastisch. »Wissen Sie, wie spät es gerade in Groote Eylandt ist?« »Im Augenblick nicht«, sagte Cliff kurz. »Und es interessiert mich auch nicht wesentlich. Was wissen Sie und Ihre Organisation über Libellen, die Menschen beißen und dadurch Rauschzustände von längerer Dauer hervorrufen?« Villa schwieg ein paar Sekunden lang. Dann sagte er laut und scharf: »Was wissen Sie darüber, Oberst McLane?« Cliff grinste den Hafenkapitän über das kleine Handmikrophon hinweg an. »Ich habe einen akuten Fall entdeckt. Ist dies ein interessantes Thema für Sie?« »Geheimsache!« sagte Villa kurz. »Hört jemand zu?« »Nein«, sagte Cliff lachend. »Nur die Wellen, die See und die Nacht der Adria. Wie geheim ist die Sache?«
»Sehr geheim«, sagte Villa. »Seit rund zwei Monaten. Wir beschäftigen uns intensiv damit.« »Nicht genügend intensiv«, sagte Cliff, »denn hier, in diesem herrlich gelegenen Punkt der Erde fliegen die Libellen frei herum. Ich nehme an, Sie lassen bereits Insektenpulver tonnenweise versprühen?« »Die Angelegenheit ist vielschichtiger, als Sie es sich erträumen wurden«, sagte der Geheimdienstchef aufgebracht. »Wir sind ratlos.« »Den Eindruck habe ich auch«, sagte Cliff. »Soll ich kommen und helfen?« Villa schrie aufgebracht: »Haben Sie denn Ihren Befehl noch nicht bekommen? Sie sollten schon längst auf dem Marsch sein!« Cliff wurde ernst und erwiderte: »Sie scheinen die falsche Brieftaube geschickt zu haben. Oder vielleicht hat sich ein Falke an ihr vergriffen. Ich habe nichts von einem solchen Befehl gehört. Außerdem habe ich das Boot, auf dem ich mich befinde, in Zadar gechartert und muß es wohl dorthin zurückbringen. Die Fahrt dauert mindestens einen Tag. Ich kann nicht vor morgen nachmittag starten.« Villa war wütend und machte nicht einmal den Versuch, dies zu verbergen. Er schrie in das Mikrophon: »Sie fahren so schnell wie möglich nach diesem Ort, steigen dort in eine LANCET um und melden sich bei mir. Ihre Crew wartet bereits. Und eine Überraschung ganz besonderer Art habe ich auch für Sie!« »Sie machen mich neugierig«, sagte Cliff. »Sehr neugierig. Haben Sie eine Libelle gefangen?« Schweigen ...
Villa atmete schwer, dann sagte er mühsam beherrscht: »Hören Sie zu: Wir brauchen Sie und Ihre Erfahrung. Sie haben damals die Angelegenheit mit den Mordwespen reibungslos über die Bühne gebracht, und Sie werden uns auch hier helfen können. Wir haben Anzeichen dafür entdeckt, daß die Angelegenheit von weltweiter Wichtigkeit ist. Die gesamte Erde kann unter diesem Rauschgift leiden. Kommen Sie bitte also so schnell, wie Sie können. Wir warten auf Sie!« »Selbstverständlich«, antwortete Cliff. »So schnell ich kann. Gibt es sonst noch etwas dazu zu bemerken?« »Nein«, sagte der GSD-Chef kurz. »Nichts, was Sie sich nicht selbst denken könnten, McLane.« »Einen schönen Gruß auch an Bela Rover und Marschall Wamsler«, sagte Cliff. »Ist der Raguer schon bei Ihnen?« »Er wartet auf Sie«, versicherte Villa und schaltete ab. Cliff bedankte sich bei der Vermittlung in Split und schaltete seinen Apparat aus. Dann klinkte er das Mikrophon wieder ein und hob bedauernd die Schultern. »So ungefähr unterhält man sich mit verdienten Raumfahrern«, sagte er mürrisch. »Sie haben hier einen fabelhaften Job, junger Freund. Ruhig und ohne solche Vorgesetzte, die noch in der alten Militärtradition erzogen worden sind. Ein Glück, daß dies alles Relikte einer alten Zeit sind. Relikte können nur noch aussterben.« »Ich kenne einen alten Mann«, meinte der Hafenkapitän zögernd, »der könnte Ihnen vielleicht helfen.
Er hat eine riesige Sammlung von allen möglichen Insekten, die er in Kunststoffwürfel eingegossen hat. Sie sollten sich mit ihm unterhalten. Er wohnt dort drüben in einem alten Turm aus der Römerzeit, den er selbst ausgebaut hat. Wollen Sie ihn sprechen?« Cliff überlegte; es konnte nicht schaden, vor dem Einsatz mehr über diese Problematik zu wissen. Diesmal würde es noch schwerer sein, die Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft zu integrieren ... aber dann kamen ihm einige klare Gedanken, und er wußte plötzlich, daß das Problem zwar groß, seine Lösung aber mit durchaus konservativen Mitteln herbeizuführen war. Er stand auf. »Gehen wir«, sagte er. »Ihr Steuermann wird sicher mein Beiboot wieder zurückbringen, und wir könnten das Polizeiboot nehmen.« »Wir sind in zehn Minuten dort.« Kurze Zeit später brummten die schweren Maschinen des Polizeibootes auf, hoben bei einer Geschwindigkeit von elf Stundenkilometern das Boot aus dem Wasser und jagten es dem Scheinwerferstrahl nach quer über die stille Bucht von Veruda. An den Ufern brannten jetzt, um acht Uhr und vierzig Minuten, sämtliche Lichter in vielen Farben. Irgendwann tauchte wie ein weißer Zylinder der alte Turm zwischen den Fichten, Tannen und Pinien auf. * Aus der Nähe betrachtet, glichen sich Turm und Bewohner in eigentümlicher Weise. Außen bestand
noch das antike, bleigefaßte Mauerwerk eines römischen Wehrturmes, das innen in Beton vergossen und mit weißen Kunststoffflächen verkleidet war. Der alte Mann wohnte in vier verschiedenen Ebenen, die im Hohlraum des zylindrischen Bauwerkes zu schweben schienen und mit einer Wendeltreppe verbunden waren. Der Mann stand unter dem Schutzdach aus Milchglas und sah Cliff und dem Hafenkapitän entgegen. Am Steg wurde gerade das weiße Boot belegt. »Willkommen«, sagte der Mann. »Wen bringst du mit?« »Einen sehr geplagten, berühmten Mann«, sagte der Kapitän. »Er braucht deinen Rat, Patrik.« Der alte Mann nickte. Er hatte einen weißen Bart und unzählige Runzeln im Gesicht. »Wer braucht keinen Rat?« fragte der alte Mann, der auf den Namen Patrik hörte. »Wie wahr, wie wahr«, sagte Cliff. »Darf ich einige Minuten von Ihrer Zeit beanspruchen?« »Natürlich. Kommen Sie herein, setzen Sie sich, fragen Sie.« Cliff und der Kapitän folgten ihm, und kurz darauf saßen sie um einen offenen Kamin herum, in dem eine Menge Holzkohle und viele trockene Scheite lagen. Es brannte kein Feuer. Der alte Mann kochte Kaffee. »Was ist Ihr Problem, Raumfahrer?« fragte er. Cliff berichtete, was er erlebt hatte, führte dann an, was die Ärzte gefolgert hatten, und fragte schließlich: »Was ist davon zu halten? Gibt es auf Terra Libellen – oder andere Insekten –, die in der Lage sind, durch einen Biß einen länger anhaltenden Rauschzustand zu erzeugen oder hervorzurufen?«
Patrik schüttelte den Kopf und stellte geräuschvoll große, dicke Tassen auf die Untertassen. »Es gibt keine solchen Insekten auf Terra. Wenigstens keine, die in der Lage sind, erwachsene Menschen in einen Traum zu versetzen. Einige andere Formen sind bekannt; aber Sie haben ja sehr genau geschildert, was passiert ist.« Cliff murmelte vor sich hin: »Der Junge hat etwas von einer Libelle gesagt. Er zeigte auch die Länge an. Und die Farbe.« Patrik goß schwarzen, heißen Kaffee ein und fragte Cliff: »Sind Sie sicher, Raumfahrer, daß dieses Insekt, ob nun Libelle oder nicht, aus der Fauna der Erde stammt?« Cliff ließ die Tasse sinken und fragte entgeistert: »Verdammt – das ist die Lösung. Importe! Diese Biester kommen von einem anderen Planeten.« Patrik beugte sich vor und sagte mit erhobenem Zeigefinger: »Ehe Sie solche Schlüsse ziehen, Raumfahrer, würden Sie besser daran tun, alles noch einmal genau zu überlegen. Vielleicht helfen Ihnen auch die Ermittlungen, die der GSD angestellt hat. Wollen Sie meine Meinung hören, Cliff McLane?« Cliff verbrannte sich an der Tasse beinahe die Finger. Er sagte kurz: »Ja. Bitte.« Patrik antwortete: »Der Homo sapiens, der, wie wir wissen, alles hat, was er braucht, greift ins All hinaus. Er sucht dort alles mögliche. Unter anderem einen neuen Begriff für Leben und meinetwegen auch Glück. Und hin und
wieder findet der Mensch etwas, das ihn plötzlich fasziniert. Diesmal scheint es eine Flucht nach innen zu sein, in den Traum, in eine Scheinwelt. Vielleicht ist das ein Punkt, den Sie in Betracht ziehen sollten.« Cliff nickte schwer.
2 Oberst Henryk Villa, weder älter noch irgendwie verändert wirkend, saß hinter der riesigen Platte seines Schreibtisches. Die Fingerkuppen schlugen einen harten, schnellen Wirbel. Oberst Villa sagte leise: »Danke, daß Sie so schnell gekommen sind. Es brennt an allen Ecken und Enden, Cliff!« McLane nickte und schlug seine Beine übereinander. Er antwortete: »Ich weiß nur Bruchstücke, Oberst. Wo bekomme ich einen zusammenfassenden Bericht, der mich erst einmal klar sehen läßt?« »In Kürze von mir. Wissen Sie, daß wir seit rund acht Wochen immer mehr Fälle dieser Art hatten?« »Nein«, versicherte Cliff wahrheitsgemäß. »Woher sollte ich das auch wissen? Mich hat nichts gestochen.« Oberst Villa schluckte eine scharfe Erwiderung hinunter und schlug mit der flachen Hand auf einen exakt geordneten Stapel von Unterlagen. »Scherzen Sie nicht«, sagte er düster. »Dieses Problem, das auf uns zukommt, ist sehr vielschichtig. Es zeigt sämtliche – ich betone: sämtliche – Anzeichen der klassischen Seuche und alle Merkmale einer klassischen Sucht.« Cliff murmelte mit geschlossenen Augen: »Also Süchtige, die ihre Sucht nicht selbst bestimmt haben. Zwischenhändler der Droge, reiche Händler und unschuldige Opfer ... und viele Menschen, die sich ihren Träumen bedingungslos hingeben.« Oberst Villa sagte hart:
»So ist es. Sämtliche Agenten des Galaktischen Sicherheitsdienstes sind alarmiert, alle Raumschiffsbesatzungen und nach Möglichkeit sämtliche Beamte und Angestellte unserer Behörden sind in Alarmzustand versetzt worden. Sie wissen nicht, worum es geht, aber sie sind jederzeit bereit, einzugreifen.« »Geben Sie mir bitte einen Überblick, Oberst?« fragte Cliff. Villa holte tief Atem. »Ich kann es nicht«, sagte er leise. »Natürlich weiß ich eine ganze Menge. Aber wir stecken noch mitten in den ersten, grundsätzlichen Ermittlungen. Eines ist klar: eine große Gefahr kommt auf die Erde zu. Entweder aus der heimischen Fauna und Flora oder aus derjenigen eines fremden Planeten.« Cliff spreizte die Finger seiner linken Hand und zählte auf was er wußte und ahnte. »Erstens: Menschen werden von Insekten gebissen und verfallen daraufhin in einen sehr beglückenden Traum.« Villa hüstelte und ergänzte: »Der achtundvierzig Stunden dauert. Die Zeit, die man nach Ende des Traumes braucht, um sich wieder zu erholen, dauert ebenfalls achtundvierzig Stunden. Meist müssen die Träumer medizinisch nachbehandelt werden – nicht immer.« Cliff pfiff durch die Zähne. »Zweitens«, sagte er. »Jeder Träumer fällt also für rund vier Tage aus. Er beschäftigt mindestens einen Arzt oder einen Hilfsroboter. Richtig?« »Leider«, sagte Villa. »Das bedeutet bereits jetzt eine außerordentlich hohe Gefahr. Wurde ein Mensch von einem Insekt
gebissen, war er und alles, was von ihm abhing, dazu noch ein Arzt, eine Krankenschwester oder ein Krankenhausbett, vier Tage lang ausgeschaltet. Das bedeutete wenig, solange sich die Anzahl der ›Träumer‹ in einem Zahlenbereich bewegte, der einen gewissen Prozentsatz nicht überschritt. Ging die Menge aber darüber hinaus, begann die Erde zu veröden. Energieerzeugung, Wartung und Nahrungsmittelnachschub, Informationsfluß und darüber hinaus die gesamte Infrastruktur – alles würde nach und nach zusammenbrechen.« »Gut. Das habe ich begriffen«, sagte Cliff. »Drittens: Sie wissen nicht, ob die Insekten dieses Rauschgift in sich selbst entwickelt haben?« »Wir wissen es nicht«, erklärte Villa. »Wir haben einen Verdacht. Er besagt, daß eine gewisse Libellenart an allem schuld ist.« Cliff dachte an seine eigenen Beobachtungen, an das Gespräch mit Patrik in dessen Turm, damals, vor einigen Tagen in der großen Bucht von Veruda. Er dachte an die Aussage des Jungen, der als letzter gebissen worden war. »Viertens: Diese Libellen oder was auch immer können natürlich auch dadurch dieses Gift entwickelt haben, indem sie ihrerseits gewisse Pflanzen oder andere Kleininsekten absorbieren. Sie können. Aber darüber haben wir noch keine Unterlagen. Wir brauchen Sie und Ihr Team, um sie zu beschaffen.« Cliff nickte. »Mache ich. Wie hoch ist der Prozentsatz der träumenden Menschen im Augenblick?« »Er liegt bei etwa null Komma fünf Prozent«, erwi-
derte der Geheimdienstchef. Das hörte sich wenig beunruhigend an, aber die absolute Zahl war erschreckend hoch. »Soso«, sagte Cliff. Villa warf einen traurigen Blick auf die Projektion der Raumkugel der Erde. Sie war an einigen Punkten, aus der Kugelform abweichend, erweitert worden: diese neuen Gebiete waren angeflogen und vermessen worden. Eine Neunhundert-Parsek-Raumkugel, von den terranischen Schiffen beherrscht, und wie sich heute wieder einmal zeigte, noch lange nicht absolut beherrscht. Man kannte die Umrisse von Kontinenten, aber man hatte von den Auswirkungen der pausenlosen Austauschvorgänge keine Ahnung. Man wußte nicht, welche Spätgefahren man mit einem Tier oder einer Pflanze importierte, die man zur Verschönerung des Kugel-Mittelpunktes aussetzte oder einpflanzte. »Wir haben freiwillige und unfreiwillige Träumer«, rekapitulierte Cliff. »So ist es.« »Wir haben Menschen, die mit diesem lebenden Rauschgift handeln und verdienen?« »Ja. Meine Leute fertigen bereits Listen an. Sie arbeiten ununterbrochen, und diese Arbeit ist natürlich sehr schwer. Aber nach meinen Meldungen stimmt es, daß die Mehrzahl der Fälle mit Libellen in Verbindung zu bringen ist. Schönen, schnellen und ästhetischen Insekten. Wir ermitteln gerade die Art und die Herkunft. Meine Meinung ist, daß sie importiert worden sind. Vor etwa einem halben Jahr.« Cliff fragte weiter: »Die Anzahl der Träumer steigt? Gibt es Wiederholungsfälle?«
Oberst Villa schaute auf die spiegelnde Fläche der Tischplatte. Sie zwang, wie auch die übrige Einrichtung dieses Raumes, zur Konzentration. Die Möbel und die technischen Zubehörteile waren wenig farbig, kantig und zeitlos modern. Nichts gab es hier, das die Aufmerksamkeit auf sich zog. Cliff und Villa blieben mit ihren Problemen allein. »Ja. Leider. Mehr, als uns lieb sind. Fast alle, die einmal unter dem Einfluß dieser Droge standen, versuchen mit aller Macht, sie wieder zu bekommen. Sie sind wie jene Laboratoriumsratten, die jedesmal ein starkes Lustgefühl bekommen können, wenn sie auf einen Hebel drücken. Die Opfer dieser noch unbekannten Droge drücken den Hebel ebenfalls, so oft sie können. Wir versuchen, diese Entscheidung zu blokkieren, indem wir sie isolieren.« Cliff grinste kalt. »Also einsperren?« »Darauf läuft es letzten Endes hinaus. Sie haben eben eine Zusammenfassung gebracht, Cliff. Ich kann sie ergänzen. Bei allen Träumern wurde, meist in den Armen, ein Biß festgestellt. Zwei Einstiche oder ein Biß von kleinen, scharfen Kiefern.« Cliff erklärte, was ihm Patrik, der Einsiedler in dem weißen Turm aus der Römerzeit, erzählt hatte. »Mandibeln«, sagte Cliff. »Wie?« »Die Mundwerkzeuge der Libellen sind für das Leben eines insektenfressenden Räubers sehr gut ausgebildet. Zwei große, chitinisierte Oberkiefer – man nennt sie ›Mandibeln‹ – sind mächtige, mit spitzen Zähnen versehene Zangen. Deswegen sehen die Bißstellen so aus, wie Sie es aus Fotos erkennen. Außer-
dem sind die Libellen gewandte Flieger. Die riesigen Facettenaugen können dreihundertsechzig Grad der Umgebung überblicken, sogar die beiden Hemisphären. Libellen sind sehr schnell und nur schwer zu fangen.« »Das kommt noch dazu«, sagte Oberst Villa. »Jetzt wissen Sie alles, Cliff. Was schlagen Sie vor? Was können wir tun? Schließlich kann nicht jeder meiner Beamten auf Insektenjagd gehen.« Cliff begann nachdenklich mit dem Sessel zu schaukeln und sagte nach einiger Zeit der Überlegung: »Mit herkömmlichen Mitteln ist einem solchen Problem nicht beizukommen. Wir haben dies im Fall der importierten Mordwespen gesehen. Wir müssen wissenschaftlich und gezielt vorgehen. Ich kenne da einen Mann ...« Er suchte nach dem Namen, obwohl er das Gesicht des Professors genau vor sich sah; er hatte mit ihm und einigen aus dem Team lange gearbeitet. Ein etwa fünfzigjähriger Mann mit einem völlig haarlosen Schädel, mit buschigen, silbergrauen Brauen und dunklen Augen. Professor Macauley. »Ja. Professor Macauley. Ich muß mich mit ihm unterhalten. Besorgen Sie mir bitte einen Wagen. Er ist einer der besten Entomologen der Erde.« Villa nickte und murmelte: »Professor Gant Macauley. Er kann uns helfen. Meine letzte Information besagt, daß er eine Expedition unternommen hat. Vielleicht ist er schon wieder da. Besuchen Sie ihn, und dann werden wir klarer sehen.« »Zweifellos«, sagte Cliff. »Sie versprachen mir eine Überraschung?«
Villa sah ihn aufmerksam an und fragte zurück, ohne jeden Sarkasmus: »Sind Sie sicher, daß Sie Schicksalsschläge mit Würde überstehen?« Cliff verzichtete darauf, Bishayr anzuwenden; der Charakter dieses Mannes war ihm seit Jahren bekannt. Es war ein sandiger, trockener Charakter, der sich fast nur an den pragmatischen Angelegenheiten von Beruf und Verantwortung orientierte. Villa war mit Maßen ironisch, aber sonst war er trotz seiner Position ein fast unschuldiger Mann ohne persönliche Ambitionen. Vermutlich war er dafür schon zu alt. »Ein Brief«, sagte Villa. »Wollen Sie ihn lesen?« Villa legte den langen, schmalen Umschlag auf den Tisch, so daß er ein wenig über die Tischkante hervorstand. Dann schnippte er mit den Fingern, und der Brief rutschte über die schwarze, spiegelnde Fläche. Cliff nahm ihn auf, steckte den Finger zwischen das Papier und riß den Umschlag auf. Er las, langsam und schweigend. Dann faltete er Brief und Umschlag zusammen und steckte beides in die Brusttasche. »Kein Kommentar?« fragte Villa leise. »Fast erwartet«, sagte Cliff. »Mein Kompliment. Sie haben sie sicher sehr geschätzt, denke ich – aber dies ist Ihr Problem, Kommandant.« »Richtig. Eines von der Sorte, die immer kleiner werden, je mehr Zeit vergeht.« Cliff stand auf und hob kurz die Hand. »Sie haben den Wagen gerufen, Oberst?« »Ja. Er wartet oben bei Liftanlage Zwei.« Cliff sagte halblaut:
»Ich werde in zwei Stunden wieder den Professor verlassen haben. Laden Sie bis zu diesem Zeitpunkt meine Mannschaft, einschließlich Commander Prac'h Glanskis, in meine Wohnung ein?« »Selbstverständlich.« McLanes Gesicht war sehr ernst geworden, aber er zeigte nicht, wie scharf ihn die Information getroffen oder berührt hatte. Er ging langsam auf die flimmernde Lichtflutbarriere zu. Villa legte einen Schalter herum, das Summen der tödlichen Elektronen hörte auf. Oberst McLane ging durch den Rahmen, hinaus in das Vorzimmer und auf den Ausgang des Bürotraktes in die Stollen und Gänge der Basis 104 hinaus. Er war lange nicht mehr hier gewesen, und irgendwie genoß er das Treiben und die Farben der gewaltigen unterirdischen Anlage. Pflanzen, Licht und Bauelemente vereinigten sich hier zu einer einmalig schönen Synthese, die vorbildlich für eine solche submarine Anlage war. Ständig wurde ausgebaut und verbessert. Cliff grüßte einige Bekannte, stieg eine Treppe hinauf und blieb vor dem Expreßlift stehen. Er wartete zwanzig Sekunden, dann glitten die Türen auseinander. Er stieg ein und setzte sich. Der Lift raste nach oben, in die Sonne des australischen Vormittags. »Danke«, sagte er, setzte die leichte Polaroidbrille auf und sah sich um. Auch hier war gebaut worden. Der schwere, schwarze Turbinenwagen mit dem Zeichen des GSD, dem geschlungenen S im Kreis, stand bereits auf der Anfahrtsrampe. Cliff öffnete die Tür und setzte sich. Der Wagen war vollklimatisiert.
»Sie kennen das Ziel?« fragte Cliff. »Jawohl, Kommandant«, sagte der Fahrer. Der Wagen setzte sich in Bewegung und raste dann die lange, geschwungene Uferstraße entlang. Minuten später hielt der Wagen vor dem Eingang des großen, flachen Laborgebäudes, das weiß und geduckt zwischen den d'Itviapflanzen stand. Der Fahrer fragte: »Soll ich warten, Sir?« Cliff sah auf die Ziffern der Digitaluhr und erwiderte: »Ich bitte Sie, in neunzig Minuten wieder hier zu sein. Dann werde ich vermutlich fertig sein.« »In Ordnung.« Cliff ging unter den Kronen der Bäume entlang, bis er durch den kühlen, von zahlreichen Fontänen feuchten Garten bis an die breiten Glastüren kam. Er drückte sie auf und ging bis in die Mitte der Eingangshalle. Er durchschritt auf diesem Weg mehrere Lichtschwellen, die ihn anmeldeten. Er blieb stehen und wartete einige Sekunden, dann öffnete sich eine Tür, und ein dunkelhäutiges Mädchen kam auf ihn zu. Der Kommandant zuckte zusammen. »Du hier?« fragte er in kaum mehr überbietbarer Einfalt. »Ich bin hier«, sagte sie. »Es freut mich, daß sich Commander McLane an mich erinnert.« »Kommandant«, korrigierte Cliff mechanisch. »Arlene. Was tust du hier bei Professor Macauley?« »Ich vertrete ihn«, sagte sie mit Bestimmtheit. Sie wirkte etwas aggressiv, aber auf diese Weise überspielte sie ihre augenblickliche Verlegenheit. »Dann ist er also nicht da?« fragte Cliff. Auch dies eine überflüssige Frage. Er bekam zur Antwort:
»Würde ich ihn sonst vertreten?« Cliff grinste unbehaglich und erwiderte: »Wohl kaum. Ehe unser kurzes Gespräch in ein Feuerwerk von sarkastischen Bemerkungen ausartet: Du solltest mich einladen, mit dir dort drüben Platz zu nehmen. Ich habe, abgesehen von der Freude über unser unvermutetes und sensationelles Wiedersehen, ein wissenschaftliches Problem.« »Einverstanden. Kaffee?« Cliff folgte ihr. Er hatte ausnahmsweise keinen Appetit auf Kaffee. »Ein Glas Milch mit Früchten, bitte«, sagte er. »Und eine fachliche Beratung.« Sie setzten sich, zwischen ihnen einen niedrigen Tisch, in zwei flache Sessel und sahen sich an. »Immer originell, immer etwas Neues ... der gute, alte McLane«, sagte Arlene nachdenklich. »Vorsicht, du sprichst mit Doktor Arlene.« »Respekt!« knurrte Cliff. »Kalte Milch!« »Einen Moment.« Kurze Zeit standen zwei schlanke Gläser vor ihnen die mit blaßroter Milch gefüllt und außen beschlagen waren. Cliff trank einen Schluck und sagte ausatmend: »Wo ist Gant Macauley?« »Zehn/West 989. Der Planet heiß Cassina.« »Potz Wamsler!« sagte Cliff. »Ausgerechnet Cassina. Dort steht der stählerne Turm. Eine leere Dschungelwelt. Was tut Gant dort?« »Er hat eine Expedition unternommen, um die Fauna und natürlich hauptsächlich die Insekten dieses Dschungelplaneten zu katalogisieren. Ein Forschungsauftrag vom BEA. Er ist vor einem Monat ge-
startet und bleibt ein halbes Jahr.« Cliff lehnte sich zurück und murmelte: »Ausgerechnet. Arlene – die Erde, ich und Villa haben ein Existenzproblem.« Das dunkelhäutige Mädchen, das noch hübscher geworden war, hob die wohlgeformten Schultern. »Die Träumer?« Cliff nickte schweigend. »Woher weißt du davon?« fragte er. »Natürlich sind Villas Leute an uns herangetreten«, sagte sie ernsthaft. »Wir haben einige Leute abgestellt, die zusammen mit den Geheimdienstleuten die ersten Untersuchungen durchführten.« Cliff murmelte: »Arlene – es sieht im Augenblick so aus, als ob eine Insektenart, vermutlich sogar große, sehr schöne Libellen, für alles verantwortlich ist. Mit einiger Sicherheit sind die Libellen von irgendeinem Planeten eingeführt worden. Im Augenblick ist noch alles offen – niemand weiß etwas Genaues.« »Ich auch nicht«, sagte Arlene und schlug ihre bemerkenswerten Beine übereinander. Cliff knurrte: »Was können wir tun?« Arlene erwiderte schnell und ohne zu überlegen: »Ehe wir anfangen, die Libellen zu bekämpfen, müssen wir sie genau kennen. Ihre Herkunft, ihre Lebensbedingungen, ihre Vermehrungsraten und ihren seltsamen Metabolismus. Vielleicht gelingt es uns, diese Rausch-Substanz zu analysieren. Vermutlich aber nicht sofort. Das erste Problem: Ich brauche eine Anzahl derjenigen Insekten, die für diesen Rausch verantwortlich sind. Und – seht zu, daß ihr einen der
Verteiler zu fassen bekommt.« Cliff nickte mit Bestimmtheit. »Du wirst bekommen, was du brauchst. Ich kann nur nicht versprechen, wann wir Libellen und Verteiler finden. Schließlich müssen wir einen solchen Verbrecher auf frischer Tat fassen.« »Okay. Ich helfe euch natürlich«, sagte Arlene. »Was hört man über deinen Lebenswandel?« Cliff stand auf und trank das Glas leer. »Nichts Interessantes. Und nichts, das ungewöhnlich wäre. Wir sehen uns wieder?« »Wir werden uns wiedersehen«, sagte sie. »Im Zeichen der Libellen.« Sie brachte den Kommandanten hinaus. Cliff wartete im Schatten der überhängenden Baumkronen genau fünf Minuten auf seinen Wagen, dann stieg er ein und gab sein Ziel an. »Selbstverständlich. Haben Sie etwas erreicht?« fragte der Fahrer. »Ich gehe umher und suche Hilfe«, sagte Cliff. »Vielleicht sehen wir in einigen Tagen etwas weiter. Was wir brauchen, sind Beweise und Beweisstücke. Ehe wir irgendwo angreifen, müssen wir Fakten in der Hand haben.« Der Fahrer sagte: »Wir haben hier auf der Insel bereits einige sehr dramatische Fälle gehabt. Sie werden sicher in Kürze Gelegenheit haben, sehr deutliche Beobachtungen zu machen und Fakten zu sammeln.« Cliff öffnete die Tür und schloß: »Genau das habe ich befürchtet.« Er stieg aus, schlug die Tür zu und ging schnell auf die Anlage zu, die sich vor ihm am Strand ausbreite-
te. Treppen, Bäume und Rampen, einige verschieden hoch angelegte Ebenen und schließlich der Eingang zur unterseeischen Transportröhre. Langsam bewegte sich das Band und brachte ihn in die Basisstockwerke von ORION-Island. Im einhundertsten Stockwerk stieg er aus und ging am Schwimmbecken vorbei auf den Eingang seiner Wohnung zu. Er schloß auf und hörte bereits am Stimmengewirr, daß das alte Team vollständig versammelt war. »Starten wir also!« sagte er. Er ging in den großen Wohnraum hinein, blieb neben der Tür stehen und sagte halblaut: »Wieder einmal fangen wir beim Punkt Null an. Ich begrüße euch!« Er sah von Atan Shubashi zu Hasso Sigbjörnson, neben dem der Raguer auf dem weichen Teppich lag und sich wohl zu fühlen schien. Helga Legrelle stand neben Mario de Monti am Eingang zur kleinen Robotküche. »Vom Raumfahrer zum Seemann«, sagte Helga. »Wie ist dir der Urlaub bekommen, mein Kommandant?« Sie grinste, und Cliff lachte zurück. »Ich bin nicht einmal in der südlichen Adria vor Villa und seinen Problemen sicher. Aber inzwischen habe ich eingesehen, daß die Welt von einer ähnlich großen Gefahr bedroht wird wie damals von den Mordwespen, beziehungsweise den Goldaugenwicklern.« »Berichte!« sagte der Raguer laut und bewegte seine Pranken. »Gibt es Abenteuer?« »Übergenug«, tröstete ihn Cliff. »Du wirst voll auf deine Kosten kommen. Vorausgesetzt, du siehst In-
sekten als echte Gegner an.« Hasso fragte alarmiert: »Was ist los, Cliff? Das klingt verdammt ernst!« Cliff setzte sich auf sein viereckiges Schaumstoffkissen, zog die Beine unter sich und berichtete, was er erlebt und gehört hatte. Als er fertig war, fragte die Funkerin: »Wird uns Ishmee auch helfen?« »Nein!« Hasso blickte Cliff nachdenklich und ein wenig besorgt an; dieses Nein kam zu hart und zu schnell. Hasso spürte, daß offensichtlich zwischen Ishmee und Cliff nicht mehr das alte, gewohnte Verhältnis herrschte, aber er schwieg bewußt. Irgendwann würde es ihm Cliff selbst erzählen. »Wie gehen wir vor?« fragte er leise. Cliff hob die Schultern und sagte: »Ich glaube, das wird uns zum Teil von den Ereignissen abgenommen. Ich fürchte sogar, daß wir viel weniger eigene Initiative entwickeln können, als wir uns vorstellen. Die ersten Entscheidungen werden uns vermutlich abgenommen.« »Mit Sicherheit«, sagte Mario. »Ich habe von all dem bisher wirklich nichts gemerkt. Bin ich nun deswegen leicht schwachsinnig?« Helga warf spitz ein: »Deswegen nicht, Kybernetiker.« »Keine Schlägerei zwischen Teamkameraden«, rief der Raguer. »Spart eure Energie für die Insekten auf!« Mario deutete auf die Wand des Raumes. »Cliff. Ein Anruf!« McLane stand auf, schob ein Segment der Wandverkleidung zur Seite und schaltete den Bildschirm
des Videophons an. Das Bild stabilisierte sich, und er sah den Oberkörper von Oberst Villa. »Haben Sie Zeit, Cliff?« fragte er. Der Kommandant nickte und erwiderte: »Wir hatten eben unsere erste Besprechung, Oberst. Sie sehen alarmiert aus. Ist etwas Besonderes passiert?« »Ja, leider«, sagte Villa. »Kennen Sie die Anlage der Firma Pateyn?« Hier auf der Insel produzierten die Pateyn-Werke Zubehör für Nachrichtengeräte aller Arten. Es war ein fast vollständig robotisierter Betrieb mit schätzungsweise fünfzig Menschen, die in der Verwaltung und in den letzten Kontrollen beschäftigt waren. Ein Werk, das reiche Erträge abwarf und völlig in der Landschaft integriert war. »Ich kenne das Werk«, sagte Cliff. »Wir erhalten eben von der zentralen Wachautomatik einen Anruf. Sämtliche Menschen innerhalb dieses Komplexes sind krank. Da aber die externen Beobachtungselemente der Kybernetik nicht auf ›Rauschgift‹ programmiert worden sind, glaube ich, daß es ein neuer, akuter Fall ist. Meine Männer sind unterwegs – wir treffen uns dort. Einverstanden?« »Wir kommen sofort hin«, sagte Cliff. »Sie haben sicher schon die Wagen bereitgestellt?« »Ja«, bestätigte Oberst Villa. Cliff schaltete das Gerät ab und sah sich um. Die Mannschaft, aus vielen Kämpfen und Abenteuern stets siegreich hervorgegangen, stand bereits und verließ das Zimmer. Sie besaßen einen der besten Navigatoren und Astrogatoren der 900-Parsek-Kugel, nämlich den kleinen,
cholerischen Atan Shubashi. Hasso Sigbjörnson, der ruhige und besonnene Bordingenieur und Erfinder, war Vorbild vieler Kadetten und der beste Mann, den man an Bord haben konnte. Seine Ruhe hatte schon oft die Situation gerettet. Sie fuhren mit dem Lift nach unten. Niemand sprach im Augenblick; jeder überlegte sich, was da auf die Erde zukam ... nein, nicht mehr zukam, sondern bereits angekommen war und sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreitete. Nicht einmal Mario de Monti, Erster Offizier und Chefkybernetiker des Teams, stritt sich in kameradschaftlicher Art mit Helga Legrelle, der Funkerin. Und das neue Teammitglied, sozusagen sechster Mann an Bord der ORION, der Raguer Prac'h Glanskis, schlich wie ein sattes, faules Raubtier hinter ihnen her. In schneller Fahrt ging es zu den Pateyn-Werken. Vor dem Werkseingang standen bereits die Helikopter und die schwarzen Fahrzeuge des GSD. Cliff und die Crew stiegen aus, und ein Posten kam aufgeregt angerannt. »Sie haben hier nichts ...«, fing er an, »Entschuldigung Mister Sigbjörnson. Oberst Villa hat mich verständigt. Gehen Sie bitte genau geradeaus. Dort finden Sie, was Sie suchen.« Hasso schob ihn vorsichtig zur Seite und brummte: »Gerade das haben wir gefunden, ohne es gesucht zu haben.« Sie gingen schnell die flache Rampe entlang, die auf das Bauwerk hinführte. Die rechteckigen, flachen Gebäude waren zur Hälfte in die Erde versenkt und bekamen ihr Tageslicht durch lange, schmale Licht-
bänder aus Glas, dicht unterhalb des Flachdaches. Auf den Dächern hatte man Pflanzen ausgesetzt, so daß dieser Werkskomplex fast völlig mit der Natur verschmolz. Das benutzte Kühlwasser für die Aggregate wurde in Form einer riesigen Fontäne in einen Teich gesprüht, auf diese Weise mit Sauerstoff angereichert und gekühlt. Der Teich hatte einige Abflüsse, so daß das Gelände nicht überflutet werden konnte. »Hier!« sagte Hasso und schob die schwere Tür auf. Er befand sich im Empfangsraum der Firma. Zwei Mädchen lagen hier in schweren Sesseln und schliefen. Vier oder fünf GSD-Leute standen umher und machten Aufnahmen. »Hier sind Sie ja!« rief Villa und lief auf die Crew zu, die sich jetzt langsam zerstreute und aufmerksam die Umgebung zu betrachten begann. »So ist es«, sagte Cliff unbehaglich. »Eine größere Sache?« »Das werden Sie gleich selbst sehen. Kommen Sie mit!« sagte Villa und ging entschlossen auf eine riesige Tür aus Milchglas zu. Mario und Atan blieben dicht hinter Cliff. Die Gruppe der vier Männer eilte durch den Türrahmen in ein kleines, vollautomatisiertes Büro hinein, offensichtlich eine Verwaltungseinheit. Die kleinen Komputer und Rechenmaschinen summten ununterbrochen, und eine Kaffeemaschine schickte riesige Wolken von Dampf durch die Luft. Villa lief vorbei, aber Atan blieb stehen. Er ging auf das Verbindungskabel zu und schaltete die Maschine ab. Dann erstarrte er plötzlich. »Cliff! Oberst!« sagte er gepreßt.
Cliff hörte den eigentümlichen Klang in Atans Stimme und wirbelte herum. Langsam ließ sich der Astrogator auf die Hacken nieder. »Etwas gefunden?« fragte der Kommandant. Atan griff in die Innentasche seiner hellen Privatkleidung und holte zwei dünne Handschuhe heraus. Er streifte sie schnell über und deutete dann in den Dampf hinein. Dann schob er die schwere Maschine zur Seite, schlenkerte die Hände, weil er sich beinahe verbrüht hatte, und deutete nach vorn. »Hier!« Villa, Hasso und Cliff, neben ihnen Mario, sahen jetzt, was er meinte. »Eine Libelle. Sie zuckt noch«, sagte Atan. Der Kommandant öffnete die Schublade eines Schreibtisches, suchte dort zwischen den Papieren und fand schließlich eine dicke, durchsichtige Folie, in die man Frachtpapiere einsiegeln konnte. Er gab sie dem Astrogator, und vorsichtig schob Atan das farbenprächtige Insekt in die Plastikhülle und drehte diese am oberen Rand zu. »Das erste Beweismaterial!« sagte er und drückte die Plastiktasche an die heiße Wandung der Maschine. Das durchsichtige Gespinst wurde durch Hitze und Druck versiegelt. »Tadellos«, sagte Villa. Als er Cliffs Gesicht sah, zuckte er zusammen. Der Kommandant sah durch das große Fenster auf einen Teil des Innenhofes hinaus. Dort war, mit sehr viel Geschmack und noch mehr Aufwand, eine künstliche Teichgegend angelegt worden. Bambus und Riedgräser wuchsen dort, Steintreppen und kleine Brücken schwangen sich durch die Grünzonen, und am Ufer
des Sees oder Teiches wuchsen die typischen Pflanzen, an denen sich die Libellen wohl fühlten. Der obere Teil des Fensters war trotz laufender Klimaanlage geöffnet. »Im Augenblick haben wir keinen Grund, sehr optimistisch zu sein«, knurrte Cliff voller Enttäuschung. »Die Libelle kann durchaus harmlos sein, denn sie kommt mit einiger Sicherheit aus dieser Anlage dort.« »Etwa so harmlos wie der gesunde Büroschlaf dieser Menschen hier?« fragte Villa hart. Jetzt hörten sie das Heulen einer Sirene. Ein schweres Sanitätsfahrzeug kam, dahinter zwei andere, kleinere Fahrzeuge, die alle das Rote Kreuz trugen. »Kein Kommentar.« In diesem Büro waren sämtliche Sessel belegt. Zehn Menschen – sechs Männer und vier Frauen – saßen und lagen darin und schliefen. Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen mußten sie sehr schöne Dinge träumen. Grimmig bemerkte Mario de Monti: »Sie schlafen, als würden sie dafür bezahlt.« »Ein teurer Schlaf!« Sie gingen weiter, und hinter ihnen kamen die GSD-Spezialisten in den Raum. Sie machten Fotos mit verschiedenen Kameras und komplizierten Filtern. Sie nahmen von jedem Gegenstand Fingerabdrücke ab, suchten dann jeden Winkel durch und lasen die Korrespondenz, die teilweise ausgeschrieben in den Maschinen steckte. Sie fanden auch in dem feinen, weißen Kies einer Pflanzenbank eine erschöpfte Libelle. Flügelspannweite rund siebenunddreißig Zentimeter.
Länge des Körpers: sechzehn Zentimeter. Farbe: ein irisierendes Blau mit silbernen Ringen. »Das zweite Beweisstück«, sagte Shubashi. »Was haben Sie angeordnet, Oberst Villa?« Villa erwiderte: »Wir versuchen, den fremden Stoff in den Körpern, beziehungsweise im Kreislauf der Menschen zu analysieren. Und wir versuchen nachzuweisen, daß dieser Stoff auch in den Körpern der Libellen enthalten ist.« »Das dürfte im Augenblick das beste sein«, sagte der Kommandant zufrieden. »Gehen wir weiter.« Sie verließen diesen Büroraum. In den nächsten fünfundachtzig Minuten bekam Cliff einen überzeugenden Eindruck von der massierten Gefahr, die diesem Planeten – und darüber hinaus auch den Kolonialwelten – drohte. Dieses kleine Werk, eine voll integrierte und fast energieautarke Fabrik, war gefährdet. Nicht alle Funktionen wurden von Robotern oder Komputern gesteuert, die sich bei einer bestimmten, genau feststellbaren Belastung automatisch abschalteten. Menschliche Wachsamkeit, Intuition und persönlicher Einsatz galten noch an jenen Stellen, die von Maschinen nur unter Schwierigkeiten wahrgenommen werden konnten. Hier arbeiteten die Maschinen, selbst die hochorganisierten und teuren, nur als Helfer der Menschen und mußten zu dieser Hilfe eingeschaltet und ausgeschaltet werden. Eine Maschine, die ein gesamtes Band kontrollierte, produzierte mit fabelhafter Geschwindigkeit Berge von Ausschuß. Die Transporteinrichtungen konnten die Menge nicht mehr wegschaffen. Ratternd, heiß-
gelaufen, teilweise verstopft und nach Öl stinkend arbeitete das Band ... der Kontrolleur der Maschine, die Bandüberwachung und die Endabnahme waren Menschen. Sie schliefen und träumten. Und neben ihnen arbeitete die Anlage mit hohen Verlusten, sogar an der maschinellen Substanz. Die Energieerzeuger kochten bereits. Hasso Sigbjörnson legte das Band lahm, schaltete die Meiler zurück und zog die Regler wieder auf die geringsten Werte zurück. Dröhnende und kreischende Geräusche erstarben. GSD-Leute schafften die Träumer weg. Und überall wurden die Bißstellen der Libellenmandibeln festgestellt. Ein Robot, der die Gänge säuberte, hatte sich in einem Winkel zwischen einer halb geöffneten Tür verklemmt und begann zu rauchen. In wenigen Sekunden würden die Kabel durchschmoren, der Brand würde auf den Teppich übergreifen und größer werden. Das konnte das Ende dieses Werkes bedeuten – rund fünfzig Menschen würden dann verbrannt sein. McLane schaltete den Robot aus. Oberst Villa betrachtete die Maschine, deren Kunststoffumhüllung an einigen Stellen bereits Blasen warf und zu stinken begann, und sagte: »Oberst?« Cliff, der in einem anschließenden Raum stand, drehte sich herum. »Ja?« Villa sagte schroff, fast etwas verlegen über seine Reaktion: »Multiplizieren Sie das, was Sie hier sehen, mit Unendlich – dann haben Sie den Zustand der Erde und
bald darauf einiger anderer Planeten in einigen Wochen. Falls es uns nicht gelingt, die gesamten Vorgänge unter unsere Kontrolle zu bekommen, tritt dieser Zustand mit Sicherheit ein.« Cliff nickte schweigend. Sein Gesicht war bleich geworden. Er wußte, daß Oberst Villa recht hatte.
3 Binnen weniger Tage waren deutliche Schichten innerhalb der Erdbevölkerung zu erkennen. Die Nachrichten sagten es sehr exakt: Zuerst gab es fast nur Opfer. Es waren Menschen, wie etwa die Besatzung des Hausbootes oder die Mitglieder der kleinen Firma, die von den Libellen gebissen worden waren, ohne etwas dafür zu können. Sie schliefen ein und träumten. Ein Teil von ihnen lehnte diese künstlich hervorgerufenen Träume ab; man schlief lieber dann, wenn man müde war, oder betrank sich von Zeit zu Zeit. Der Prozentsatz derjenigen, die gegen die Verlockungen des natürlichen Rauschgiftes immun blieben, war nicht sehr hoch. Aber er blieb nahezu konstant. Dann gab es die Süchtigen. Wie auch immer sie den ersten Traum kennengelernt hatten, durch freiwilligen Bißkontakt mit einer Libelle oder unfreiwillig – sie blieben dabei. Sie versuchten mit aller Kraft, sich den Rausch wieder zu verschaffen. Jedesmal nach einem Biß waren sie mehr als vier Tage ausgeschaltet und blockierten die Krankenhäuser. Sie arbeiteten nichts mehr und zahlten für jeden Biß. Diese Gruppe war es, die die Versorgung des Planeten mit Material und Energie jeder Art empfindlich störte. Die Menschen mußten zum Teil isoliert werden, zum Teil übernahmen ihre Posten Gruppen von Polizisten Raumfahrern oder Kadetten, von Beamten oder Angestellten der Raumfahrtbehörde. Dadurch wurde die Effektivität dieser Behörden stark eingeschränkt.
Die Süchtigen gingen zu den ›Schakalen‹. Man hatte in voller Absicht diesen Ausdruck gewählt, weil dies Menschen waren, die diese Libellen im geheimen züchteten und einzelne Bisse verkauften. Die Anzahl der Schakale stieg etwa in der Progression, die sich anhand der Vermehrungsrate der Libellen errechnen ließ. Nur langsam und unter großen Schwierigkeiten gelang es, Schakale ausfindig zu machen, ihren gesamten Bestand an Libellen und Eiern zu vernichten und die Händler einzusperren. Diese Maßnahme, obwohl selten Erfolge zu melden waren, half im Augenblick noch am meisten. Und dann gab es das Heer derjenigen Menschen, die auf vielfältige Weise darunter litten. Dieses Heer war riesengroß. Es war praktisch der Rest der Erdbevölkerung. Diese Zusammenfassung war innerhalb von zwei Tagen nach dem Erlebnis der Pateyn-Angelegenheit fertig. Eine zweite Untersuchung half entscheidend weiter. Sie fand unter Aufsicht von Arlene statt. Die anschließende kleine Konferenz brachte Licht in das Dunkel. »Kein Zweifel, Arlene?« fragte Cliff McLane düster. Er betrachtete die lebende Libelle in dem dünnen, durchsichtigen Kunststoffwürfel vor sich. »Nein. Die Katalogisierung stammt von Gant Macauley selbst. Wir haben alle unsere Feststellungen selbst in Frage gestellt und sind immer wieder zum gleichen Resultat gekommen.« »Megaloprepus coerulatus cassinae«, sagte eine Mitarbeiterin. Mario de Monti starrte ebenfalls das große Insekt an.
»Diese Großlibelle vom Planeten Cassina ... ist es wahr, daß Macauley auch dort ist?« »Ja«, sagte Helga. Oberst Villa hob die Hand und fuhr dozierend fort: »Wir haben ferner herausgefunden, daß im Blutkreislauf und in einigen Hirnzellen von Süchtigen derselbe Stoff enthalten ist, wenn auch in Spuren, wie in den Drüsen nahe den Mandibeln dieser Libellen. Das ist einwandfrei bewiesen. Die Libellen wurden ungefähr vor sieben Monaten als Zierinsekten eingeführt und ausgesetzt, und vor fünf Monaten wurde der erste Fall von Rauschgift-Traum gemeldet, den wir damals natürlich nicht mit den Libellen in Zusammenhang brachten. Jetzt wissen wir es besser.« Hasso Sigbjörnson sah das Mädchen Arlene an und fragte leise: »Gibt es eine Möglichkeit, die Libellen auszurotten? Mit Hilfe eines natürlichen Feindes beispielsweise.« Langsam schüttelte die Negerin den Kopf. »Ausgewachsene Libellen sind schwer zu fangen. Sie sind im Flug über einhundert Stundenkilometer schnell und ausgezeichnete Flieger. Jeder Helikopterpilot beneidet Libellen um die Fähigkeit, derart schnell und perfekt manövrieren zu können – sie sehen obendrein alles, weil die Facettenaugen je eine vollständige Hemisphäre überblicken können. Die Libellenart, die wir hier haben, fliegt bei Sonne, wie die meisten irdischen und außerirdischen Insekten dieser Art. Sie fliegt aber auch bei bedecktem Himmel und in der Dämmerung. Direkte Feinde sind Vögel und der Mensch, vielleicht auch Fische, aber das dürfte fast aussichtslos sein.
Am meisten gefährdet ist die Libellenlarve kurz nach dem Schlüpfen. Aber ich weigere mich, anzunehmen, daß sämtliche GSD-Leute ausschwärmen und nach Libellen suchen. Natürlich haben einige schnelle Aktionen, bei denen ein gewisses Ufergebiet zuerst mit Lähmstrahlern beschossen und dann mit Ultraschall oder Feuer behandelt wird, einen kleinen Erfolg. Aber wir können nichts tun gegen die heimlichen Züchtungen. Wir werden in verschiedenen Stadien vorgehen müssen.« Cliff fragte: »Impfungen beispielsweise?« »Ja«, sagte Arlene. »Impfungen mit einem Gegenmittel, das aber erst entwickelt und ausprobiert werden muß. Einige Milliarden Impfungen. Und eine riesige Public-Relations-Aktion.« Helga erkundigte sich: »Wie lange dauert es im Mittel, ein solches Gegenmittel zu entwickeln?« »Zwischen vier Tagen und zwei Jahren haben wir genügend belegte Beispiele für eine Aussicht auf Erfolg. Zwei Jahre – das bedeutet das Ende für Terra!« Oberst Villa senkte den Kopf und betrachtete seine Finger und den schweren Ring daran. »Noch etwas«, sagte Arlene. »Und es ist wichtig. Natürlich pflanzen sich diese Libellen auch fort. Sie legen etwa einhundert Eier, und bis eine neue Libellengeneration entstanden ist, vergeht genau ein Jahr. Das würde, bei Erfolg eines entsprechenden Versuchs, folgendes bedeuten: Angenommen, es gelingt uns, Weibchen zu erzeugen, die diese unheilvolle Fähigkeit nicht weitervererben, dann können wir innerhalb eines Jahres – mit
den gebotenen Ausnahmen – alle Libellen ›entgiften‹. Auch hier müssen wir lange probieren und können das Resultat erst nach einem Jahr feststellen. Also nicht zu großen Hoffnungen neigen, Oberst Villa.« Villa sagte fast traurig: »Glauben Sie, daß ich als alter, ergrauter Mann noch große Hoffnungen habe? Ich kenne die menschliche Psyche sehr genau, allerdings meist nur ihre dunklen Flecken. Ich sehe jedenfalls, daß wir auf verschiedenen Wegen gleichzeitig vorgehen müssen. Einer dieser Wege ist der direkte Angriff – also Ausrottung der Megaloprepi. Ein zweiter Weg wäre die Impfung aller Terraner, falls wir nicht mit anderen Methoden eine auffällige Besserung erzielen konnten. Der dritte Weg ist eine Züchtung der neuen Weibchen. Wie sie allerdings in die Zuchtbestände der Schakale eingeschleust werden können, ist zur Stunde noch fraglich.« Cliff McLane murmelte: »Ich kenne noch eine vierte Möglichkeit. Auch sie hat sich bereits einmal voll bewährt.« Mario hob den Kopf und erkundigte sich: »Welche, Kapitän?« »Nach Cassina fliegen und dort herausfinden, welche natürlichen Feinde wir importieren können, ohne daß sie sich ihrerseits zu einer echten Gefahr entwikkeln können.« »Professor Gant Macauley wird Ihnen sicher bei dieser Arbeit sehr helfen können«, sagte Arlene laut zu Mario. »Er ist dort ... und da fällt mir etwas ein. Ich muß hier einen der ersten Expeditionsberichte haben, direkt übermittelt. Einen Augenblick!« Sie befanden sich in den Laborräumen der Ento-
mologischen Station von Groote Eylandt. Arlene bückte sich, tippte auf einige Tasten, und neben ihrem rechten Knie schoben sich einige flache kastenförmige Elemente aus der Schreibtischfront heraus. Sie suchte schweigend, und nur das verzweifelte Summen der gefangenen Riesenlibellen aus den Kunststoffwürfeln unterbrach die Stille des Raumes. Überall, wo man Ufergebüsch als Brutplatz für Libellen vermutete, wurden jetzt Hubschrauber eingesetzt und Mannschaften. Insektizide wurden abgesprüht, gezielte und ungezielte Vernichtung. Man rottete vielleicht auch einige andere Arten Lebewesen aus, aber das hier war wichtiger – es ging um den Menschen und letztlich die Erde. Überall setzte ein erbarmungsloser Kampf gegen die Libellen ein. Man hatte auch noch genauere Beobachtungen gemacht: Sämtliche Cassina-Libellen besaßen, ähnlich wie Wespen, silberne Ringe um ihren Hinterleib. Die Breite dieser Ringe war besonders hervorstechend. Andere Libellen ließ man frei, beziehungsweise man bekämpfte sie nicht. Aber die Erfolge mußten naturgemäß gering bleiben; man konnte bestenfalls eine rasche Vermehrung ausschalten. »Was suchen Sie?« fragte Helga. Arlene richtete sich auf, einen ausgedruckten, gehefteten Bericht in den Fingern. »Ich habe es bereits. Ein Expeditionsbericht. Soll ich vorlesen? Ich habe hier ein paar Stellen entdeckt, die hauptsächlich für dich – Verzeihung – für Sie, Kommandant, wichtig sein können.« »Das ist reizend von dir, Arlene«, sagte Cliff und bereinigte mit seiner Form der persönlichen Anrede letzte Zweifel.
Arlene las: »Unsere Basis ist der stählerne Turm, den die ORIONCrew entdeckte. Er blieb unser Materiallager, während wir in den Dschungel eindrangen. Schon nach einhundert Kilometern oder fünf Tagen entdeckten wir eine Siedlung, in der sich einhundertdreißig junge Terraner befanden. Sie waren einmal, so wurde mir berichtet, als Bedienungsmannschaft der Maschinen hergekommen, mit denen man den Turm instandsetzte und konservierte und Grabungen anstellte. Eines Tages aber waren einige von ihnen von einem Rausch mit nachfolgender Gleichgültigkeit befallen worden und hatten beschlossen, hierzubleiben.« Hasso und Cliff warfen sich einen langen, nachdenklichen Blick zu. War dies eine erste Spur in diesem drohenden Chaos? »Lies weiter, bitte«, sagte Cliff. »Nach und nach schlossen sich mehr Interessenten an. Einige Schiffe landeten, und ein Teil der Mannschaften wollte ebenfalls diesem paradiesischen Leben frönen. Die Menge vergrößerte sich bis auf einhundertfünfzig Menschen. Zwanzig von ihnen kehrten wieder in die Kultur zurück, einhundertdreißig blieben hier. Sie arbeiten kaum etwas (die Siedlung besteht aus Fertighaus-Pfahlbauten und liegt ausgesprochen idyllisch in einer Bucht), schlafen und träumen und holen sich aus dem Wald und aus der See, was sie brauchen. Wenn man sie so sieht, kommt einen die Lust an, ebenfalls hierzubleiben. Aber sie haben keinerlei Ziel, als in Ruhe zu leben, in Ruhe gelassen zu werden und jeden in Ruhe zu lassen, und das ist schließlich nicht ganz meine Art von Daseinsbewältigung. Wir verließen die kleine Siedlung ›Port Nirwana‹ wieder ...« Arlene schaute auf. Sie musterte McLane sehr genau.
»Das war der Bericht Professor Macauleys«, sagte sie dann. »Was entnehmen Sie aus diesen Zeilen?« Villa drehte seinen Sessel und wandte sich an den Kommandanten. »Cliff«, sagte der Oberst. »Ich glaube, es ist das beste, Sie fliegen dorthin nach Cassina und versuchen herauszubekommen, ob die Libellen aus dieser Nirwanabucht stammen.« »Das ist sicher ausgezeichnet«, warf Hasso Sigbjörnson ein. »Wenn die Leute in der Siedlung seit Monaten so leben, müssen sie Möglichkeiten haben, ihre Süchtigkeit zu dosieren. Vielleicht verraten sie uns ein Gegenmittel.« Cliff sagte: »Ich halte einen Flug für unumgänglich. Ein Gespräch mit Macauley wird die Sache noch weiter klären.« Oberst Villa beendete die Diskussion, indem er auf die große Uhr an seinem Finger sah und deutlich eine Anordnung aussprach: »Sie können meinetwegen in zwei Stunden mit der ORION starten, Cliff«, sagte er laut. »Ihr Auftrag: Suchen Sie Macauley auf, zeigen Sie ihm Ihre Vollmachten und versuchen Sie, das Problem zu klären. Dasselbe gilt für die Siedlung an der Bucht. Was wir für Probleme haben, wissen Sie genau. Was wir brauchen, wissen Sie ebenso gut wie jeder hier. Cassina und der stählerne Turm sind Ihnen bekannt – Sie werden also ohne Schwierigkeiten hinfinden können. Die Mannschaft ist komplett, und ich persönlich bin der Meinung, daß auch Miß Arlene mitfliegen sollte, mit einer guten Ausrüstung und eventuell auch mit Nachschub für die Expedition des Professors. Sind Sie
damit einverstanden?« Arlene nickte, offensichtlich hatte sie sich schnell entschieden. Sie sagte halblaut: »Ich werde einige Kisten und Ballen mit Material in die Basis 104 schicken, Oberst Villa ...« Villa winkte ab. »Nicht nötig. Meine Leute und ich organisieren alles. Es ist jetzt fünf Uhr dreißig. Start der ORION VIII in zweieinhalb Stunden, also um acht?« Cliff salutierte flüchtig. »Geht in Ordnung. Der Raguer kommt mit.« Glanskis flüsterte heiser: »Wieder ein Flug ins Abenteuer! Mit Cliffs Hilfe erschließe ich unserer Rasse das Universum.« Mario de Monti grinste breit und konterte: »Ein Dschungeluniversum voller Insekten. Vielleicht träumst du, nachdem dich eine Libelle gebissen hat, von einer neuen Eiszeit.« »Mich beißt nichts und niemand. Nicht einmal eine farbensprühende Riesenlibelle!« versicherte Glanskis glaubhaft. Cliff wußte, daß es so war. Vielleicht stellte es sich heraus, daß Glanskis der beste Mann der Crew war. Besondere Attraktion dieses Fluges war natürlich Arlene. Cliff hatte sie zuletzt vor siebzehn Monaten gesehen. Sie war um siebzehn Monate schöner geworden, und um zwei Jahre netter und klüger. Und emanzipierter, also schwieriger. Cliff freute sich auf diesen Flug nach Cassina. *
Während des ersten Tages des Fluges vertiefte sich Cliff in die Unterlagen, die ihm Arlene zur Verfügung gestellt hatte. Er las alles über Insekten und speziell über Libellen nach. Und mit jedem Kapitel und jeder weiteren Zeichnung, jedem Bild, staunte er mehr. Die Natur war unübersichtlicher, als er dachte. Wieder einmal machte er die Erfahrung, daß der Mensch von seinem eigenen Planeten zu wenig wußte, um ihn verlassen zu dürfen. Und trotzdem verließ er ihn. Oder gerade deswegen. »Fast viertausendsechshundert Arten von Libellen!« stöhnte er. »Und das allein auf der Erde. Einhundert Arten sind importiert worden – darunter ist eine, die wir ausrotten müssen.« »Wenn wir es schaffen!« schränkte knurrend der Raguer ein. Er lag zwischen dem Funkpult von Helga Legrelle und Cliffs Steuerpult und richtete seine riesigen Augen auf Arlene, die eine phantasievolle Variante des Bordanzugs trug. »Libellen fressen Fischbrut«, sagte Mario. »Ja. Und es gibt sogar eine Art, die als ›Bienenschlächter‹ bekannt ist. Wir haben eine RauschgiftVariante zu fangen.« Hauptsächlich fraßen die ausgewachsenen Libellen und auch die im Larvenstadium gewaltige Mengen anderer, kleinerer Insekten. Die meisten Libellenarten waren gefräßige Jäger und Räuber. Sie jagten allein und in Gruppen. Und sie waren tatsächlich etwa hundertmal so gute Flieger wie ein hervorragender Helikopter mit einem Klasse-A-Piloten. »Was wissen wir über die Art, die wir suchen?« erkundigte sich Atan Shubashi. Das Schiff war seit über fünfundzwanzig Stunden
unterwegs. Sie hatten sehr schnell geladen, waren mit Vorzugsmeldungen gestartet und hatten direkt Kurs auf Cassina genommen. Zehnter Entfernungskreis, Raumkubus West 989. »Cliff – du hast die Fotos. Und hier sind die Spezifikationen von Macauley. Er hatte damals die Leitung der Katalogisierarbeiten.« Langsam und methodisch arbeiteten sich die Mitglieder des Teams unter der Hilfestellung Arlenes durch die Unterlagen. Megaloprepus coerulatus cassinae ... Siebenundzwanzig bis maximal dreißig Zentimeter weit spannten die fast durchsichtigen Flügel. Die vorderen Flügel waren größer und schlanker, das hintere Paar war kleiner, auch eine Spur gedrungener. Die Adern in den Flügeln waren von einem goldenen Schimmer; ebensolche Reflexe spielten über die riesigen Facettenaugen. Der Körper war rund sechzehn Zentimeter lang, also fast so lang wie eine geöffnete Hand. Arlene sagte leise: »Die Farben und die Ringe auf dem Hinterleib sind sichere Zeichen. Daran sollten wir uns halten. Sie sind, nach Macauley, artspezifisch. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß wir sie verwechseln. Sehen Sie ...« Arlene blätterte einige Farbaufnahmen, dreidimensional, auf die Glasplatte des zentralen Bildschirms. »Hier sind die terranischen Arten von Megaloprepus. Sie sind in verschiedenen Farben ausgerüstet. Nicht zu verwechseln mit den ringförmigen Einschnürungen des langen Libellenleibes von cassinae.« Sie hatten also auf Libellen zu achten, die wie Wes-
pen ringförmig geschmückt waren. Ihre Farben bildeten zudem ein sicheres Unterscheidungsmerkmal: ein kräftiges Purpurrot, ein dunkles Saharagelb und jeweils eine etwas schwächere Farbe für die gleichgroßen Weibchen. Das Charakteristische war der Kopf des Tieres. Große Augen, verhältnismäßig große und wuchtige Oberkiefer und kleinere Unterkiefer, also zweiteilige Maxillen. Das Labium, die schüsselförmige Unterlippe, war mit Zähnen und Haken bewehrt. »Brrrr!« machte Helga. »Vergrößert sehen diese Köpfe wie Alpträume aus.« Sie hatte recht, aber dieser Kopf war für dieses Insekt charakteristisch und sehr zweckmäßig. »Immerhin wissen wir, wonach wir suchen müssen. Wie kann es geschehen, daß diese Insekten solch ein Rauschgift entwickeln können?« fragte Cliff. Sorgfältig legte er die Fotos zusammen und ordnete die geschriebenen Unterlagen vor ihm. Arlene antwortete: »Ich nehme an, sie brauchen es so wie die Grabspinnen.« »Wie brauchen es die Grabspinnen?« fragte Hasso zurück. »Sie injizieren einem wesentlich größeren Tier eine Substanz, die vermutlich Nervenstränge zerstört. Das Tier stirbt nicht und bleibt lebender Wirt der Eier und der Larven. Sie fressen dieses Tier von innen her bei lebendigem Leib auf. Ich kann mir vorstellen, daß die Libellen das gleiche tun. Vermutlich aber ist es etwas anderes: Vielleicht braucht sie Blut. Sie ist, wie wir wissen, ein ortstreues Tier. Wenn jemand zwei Tage lang schläft und sich in
den nächsten zwei Tagen kaum von der Stelle bewegen kann, dann ist er insgesamt vier Tage lang eine sichere Beute für die Libelle. Das halte ich für wahrscheinlicher. Aber keine dieser beiden Thesen ist bewiesen – das ist unsere Arbeit in zehn Tagen oder so.« Cliff grinste freundlich und erwiderte: »Wir alle danken Frau Doktor Arlene für diese ungewöhnlich erhellenden Vorlesungen über entomologische Spezialprobleme. Das meine ich nicht sarkastisch – danke, Mädchen!« Arlene erwiderte: »Sarkasmus ist der geglückte Versuch, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Mehr weiß ich allerdings auch nicht. Warten wir auf den Kontakt mit Gant Macauley.« Der Raguer knurrte: »Noch neun Tage!« Der Flug verlief in den nächsten neun Tagen normal wie erwartet. Die Crew beschäftigte sich mit den vorliegenden Problemen und lernte immer mehr über Insekten und Ökologie, über Libellen und über Rauschgifte. Sie erwarteten den Moment, wo sie über dem Dschungel Cassinas einschwebten und den stählernen Turm sehen würden. Sie unterhielten sich nicht darüber oder nur in kurzen Sätzen. Sie wußten, daß die Welt, die sie eben verlassen hatten, am Rand einer Krise stand. Einer Krise, die unblutig war, aber nicht weniger gefährlich. Die Menschen des Planeten Erde begannen zu schlafen, nachdem eine Libelle sie gebissen hatte. Zu schlafen und zu träumen. Und nach den herrlichen, farbigen Träumen erwachten sie nur deshalb wieder, um neues Rauschgift in ihren
Kreislauf einführen zu können. Sie arbeiteten nicht mehr und gaben ihre letzten Barmittel aus, um sich einen neuen Traum kaufen zu können. Die Erde war in gewisser Beziehung eine schlafende Welt geworden. Von Tag zu Tag wuchs die Anzahl der Schläfer und Träumer. »Zehn Tage Hinflug, zehn Tage für den Flug zurück«, rechnete Cliff leise. »Und einige Tage Aufenthalt, bis wir Macauley gefunden haben. Und keinerlei Gewähr dafür, daß er uns helfen kann.« Sie wußten viel über Libellen, beinahe alles. Ebenso genau wußten sie, wie aussichtslos ihre Versuche waren. Nur eine winzige Möglichkeit oder etwas Glück konnte sie und die Erde retten. Plötzlich wurde Cliff aus seinen Gedanken geschreckt. Die kühle Stimme von Arlene fragte: »McLane?« »Ja?« murmelte er. »Bist du nicht daran interessiert, einmal einen solchen Traum zu haben, um die gesamte Situation besser beurteilen zu können?« Cliff spürte, wie er sich versteifte. Er drehte langsam seinen Kommandantensessel um hundert Grad, sah in die großen, dunklen Augen des Mädchens und sagte seltsam unbetont: »Ich habe keine Lust, denn wenn ich versuchen würde zu träumen, würde ich mir andere Möglichkeiten hierfür aussuchen. Eine ganze Menge anderer Möglichkeiten, Doktor Arlene.« Sie erwiderte leise: »Eine davon glaube ich flüchtig kennengelernt zu haben, Kommandant McLane.« »So ist es«, schloß Cliff.
Sein Glaube war eine Art von sechstem Sinn, und er wurde immer dann wirksam, wenn seine Vernunft versagte. Dies hier war ein solches Versagen der Vernunft. Cliff wußte, daß einige Hunderttausend GSDLeute nicht die Macht hatten, gegen Millionen von Menschen anzutreten, die fest entschlossen waren, sich beißen zu lassen und dann achtundvierzig Stunden lang zu träumen. Also mußte es noch einen Ausweg geben. Einen, den keiner von ihnen entdeckt hatte. Es war überflüssig, sich jetzt Sorgen und Gedanken zu machen. Dieser Teil des Problems wurde erst auf Cassina akut. Auf Cassina, in der Bucht Nirwana. Cliff stand allein in der Steuerkanzel. Der Autopilot des Schiffes summte. Alle anderen Besatzungsmitglieder befanden sich in ihren Kabinen und schliefen oder lasen. Der Kommandant kontrollierte sorgfältig sämtliche Uhren und Skalen, alle Anzeigen und die Zieleinstellung. Alles funktionierte mit gewohnter Zuverlässigkeit. »Ausgezeichnet«, sagte Cliff. »Offenbar ist doch etwas Gutes an der Technik. Ich werde beruhigt schlafen können.« Dann dachte er wieder an den Brief, den ihm Oberst Villa übergeben hatte. Warum eigentlich ausgerechnet Oberst Villa? Cliff hätte sich nicht gewundert, wenn er jene Nachricht von Ishmee in seiner Wohnung unter der angehäuften Post gefunden hätte – aber in Villas Büro? Vermutlich, dachte er, während er mit dem kleinen Lift hinunter in den Ringkorridor fuhr, wollte sie sichergehen, daß er diese Botschaft auch wirklich bekam und beachten mußte. Er verließ den Lift.
»Schön«, sagte er. »Sie hat zwar keinen Grund, aber auch viele Vermutungen erzeugen eine Reaktion dieser Art. Alt genug ist sie, sie muß also wissen, was sie will. Mich wollte sie offensichtlich nicht.« Er öffnete die Tür zu seiner Kabine, schaltete die Automatik der Alarmanlage auf höchste Lautstärke und zog sich die Stiefel aus. Dann setzte er sich in den bequemen Sessel. Später duschte er und zog seinen weißen Morgenmantel an. Er setzte sich vor die breite Schreibplatte und starrte, ohne wirklich etwas genau wahrzunehmen, auf den kleinen Monitorschirm der Bordsprechanlage. »Cassina ...«, murmelte er. Er hatte in seinem Gedächtnis sehr genaue Bilder von diesem Planeten. Zweimal war er dort mit seiner Crew gelandet. Sie hatten zuerst den stählernen Turm entdeckt, ein erstes Zeichen der Dherrani, und dann hatte er dort den Staatsfeind Nummer eins gefangen und sozusagen bekehrt. Dschungel, Wasser und Buchten – eine Welt, entfernt ähnlich mit derjenigen des schwarzen Vulkans. Diesmal aber bewohnt von mehr als einhundert jungen Terranern, die aus der Kultur und Zivilisation Terras ausgebrochen waren und hier lebten. Besaßen sie die Geheimnisse um die rätselhaften Libellen? »Keine Ahnung«, sagte Cliff. Der Summer der Bordsprechanlage war zu hören. Der Kommandant zuckte zusammen und schaute eine Sekunde lang verständnislos den leeren Schirm an, dann begriff er und drückte den Kontaktknopf. Auf dem Schirm war das Gesicht Arlenes zu sehen. »Du schläfst noch nicht?« fragte sie mit ihrer höchst angenehmen Altstimme.
»Nein«, sagte Cliff. »Ich meditiere. Hast du ein besonderes Anliegen?« Zwischen ihnen herrschte jener Tonfall, der stets dann gebraucht wird, wenn sich zwei Menschen unverhofft wiedertreffen, die sich einmal ineinander verliebt und dann der Dinge oder Umstände wegen getrennt hatten. Eine gereizte Nervosität, die daher kam, weil jeweils der andere nicht wußte, was sein Gegenüber heute, älter und reifer geworden, von ihm dachte. Vermutlich eine Fehlreaktion, die mit dem Mangel an Kritik-Bereitwilligkeit zusammenhing. Gleichzeitig war deutlich zu spüren, daß sich Cliff und Arlene noch immer ausnehmend sympathisch fanden. Das merkte sogar der Raguer, und hin und wieder, wenn niemand zuhörte, machte er zu Cliff ein paar dumme, aber zutreffende Bemerkungen. Prac'h entwickelte sich langsam, aber mit geradezu mathematischer Sicherheit, zu einem großen Kenner und Bewunderer weiblicher Schönheit. Er hatte Grund dazu. »Ja. Ich möchte mit dir sprechen«, sagte sie. Cliff lächelte verloren und wurde gleich wieder ernst. »Das tust du bereits, Teuerste«, bemerkte er. »Ich benütze lediglich die BSA«, sagte sie. »Gewährst du mir noch Audienz?« »Natürlich«, sagte Cliff. »Bringe aus der Kombüse zwei Packungen kalten Fruchtsaft mit.« »Alkohol hast du?« »Alkohol, gute Einfälle und Schlaflosigkeit ... alles bei Kommandant McLane«, sagte Cliff lakonisch, winkte kurz und schaltete die Bordsprechanlage ab. Sie antwortete noch etwas, aber er konnte es nicht mehr verstehen.
Minuten später schob Arlene die Tür zu Cliffs Kabine auf. Sie kam herein, stellte die Gläser mit dem Fruchtsaft auf die Schreibtischplatte und setzte sich auf die Decken des Bettes. Aufreizend langsam schlug sie ihre langen Beine übereinander und sagte unvermittelt: »Du machst mir Sorgen, verehrtester Kommandant. Nicht zuviel Alkohol!« Cliff füllte die Gläser auf; ihr Glas erhielt einen Millimeter weniger von dem aromatisch riechenden Stoff. Dann rührte er mit einem astrogatorischen Lineal vorsichtig um und wischte das Lineal an der Kante des Papierkorbes ab. »Ich habe Sorgen«, erwiderte er. »Alkohol kann nie zuviel im Fruchtsaft sein. Er ist gut gegen Tollwut.« Er gab ihr das Glas. »Im Ernst«, sagte sie träumerisch. »Als ich dich kennenlernte, da warst du ein selbstbewußter, harter, zu allem entschlossener Raumfahrer. Als ich dich vor einigen Tagen wieder traf, da hast du einen Eindruck gemacht, als habe man dir die ORION gestohlen oder die Bezüge gekürzt.« Cliff zuckte die Schultern. »Weder noch. Ich habe nur erlebt, wie typisch die Reaktion ist. Die Reaktion der Frauen. Sie urteilen nicht nach dem Eindruck der Wirklichkeit, sondern nach dem Schein. Und genau das ärgert mich. Wenn diese Reaktion dann noch von einer intelligenten Frau kommt, bin ich doppelt sauer.« Arlene betrachtete ihn, als sähe sie ein völlig fremdes Insekt zum erstenmal unter einem Mikroskop. Dann sagte sie: »Hast du Kummer mit Leutnant Jagellovsk?«
Cliff winkte matt ab. »Schon seit der letzten Eiszeit nicht mehr. Du bist wirklich nicht auf dem laufenden!« »Keine Vorwürfe«, sagte sie. »Dann kann es nur die Turceed sein. Sie beherrscht Bishayr wie du, und sie kann die Natur von Gedanken feststellen. Außerdem ist es unmöglich, daß sie nicht die Wahrheit sagt. Was hast du anderes erwartet, werter Freund und Kommandant?« Cliff dachte nach. Das Mädchen hatte natürlich recht. Ishmee hatte seinen Charakter kennengelernt. Gut, das war nicht unbillig, und er brauchte sich seines Charakters nun wirklich nicht zu schämen. Er war nicht schlechter und vermutlich eine Kleinigkeit besser als der des Durchschnittes. Vielleicht eine Spur komplizierter. Das mit den Gedanken war schon schlimmer. Niemand kann auf die Dauer seine Gedanken verbergen und stets dann, wenn er an ein Steak denken würde, an einen Kaktus denken. Das war entscheidend. Und für Ishmee mußte es natürlich ungeheuerlich frustrierend wirken, wenn sich Cliff umdrehte und dachte, daß dies doch ein bemerkenswert hübsches Mädchen sei – und dies, während er neben Ishmee ging oder saß. Und schließlich hatte sie die einzige wahre, rechtschaffene Reaktion wahrgenommen. »Ich habe nichts dergleichen erwartet«, sagte er. »Schließlich bin ich nicht Frank Hoium Dougherty. Aber ich hätte genau das erwarten sollen. Ich werde alt, Mädchen. Und jetzt ... was willst du wirklich?« »Dein mildes Auge soll weiterhin auf mir ruhen«, sagte sie, »deshalb bin ich hier und rede mit dir. Mir
ist daran gelegen, den Fall der merkwürdigen Libellen schnell zu lösen, und ein unsicherer, skrupelbehafteter McLane ist dabei ein starker Hemmschuh.« »Die Anzahl der Dummheiten, die ein intelligenter Mensch im Laufe eines Tages sagen kann, ist unglaublich«, sagte Cliff. »Meinst du etwa, ich wüßte das nicht schon seit Tagen? Keine Sorge, ich werde, wenn es nötig ist, so schnell und unbarmherzig handeln wie stets.« Arlene sagte schnippisch: »Man muß die Tatsachen kennen, ehe man sie verdrehen kann. Ich habe mich auch verändert, nicht wahr?« Cliff grinste und nahm einen tiefen Schluck. »Ja«, sagte er. »Die akademische Würde hat ein eigenartiges Leuchten in deine Augen gezaubert. Wenn du mich so ansiehst, beginne ich, meinen Haarausfall zu bedauern und den Bauch einzuziehen.« Sie lachte auf. »Ich glaube, wir werden einige nette Tage auf Cassina haben. Ich werde, wie in früheren Tagen, Hand in Hand mit dir über den Strand und durch die Brandung laufen.« Cliff lachte laut. »... barfuß, denke ich«, sagte er. »Der Strand ist aber enorm steinig!« »Wenn schon. Natürlich barfuß. Du bist nämlich in Wirklichkeit der am meisten romantische Kommandant der Schnellen Kreuzer. Das Glas ist leer, wir beginnen, Unsinn zu reden und ich finde dich noch immer nett. Es wird Zeit, daß ich meine Kabine aufsuche.« Cliff stand auf und sagte leise:
»Stolpere nicht im dunklen Ringkorridor. Und wenn du einen Hund vor der Tür liegen siehst, tritt nicht darauf. Es ist Glanskis.« Sie ging, lachend und bester Laune. Etwas von dem alten Zauber aus der Zeit der Mordwespen war noch übriggeblieben. Aber dann mußte Cliff wieder an Ishmee denken, und seine vorübergehende gute Laune verging rasch. Schließlich kam der Tag der Landung. Die Mannschaft saß an ihren Plätzen, und die Routine griff wieder nach den fünf Menschen des Teams. Vor ihnen lag Cassina. Eine Kugel, zu zwei Dritteln vom Licht der Sonne angestrahlt. Eine Kugel in den Hauptfarben Blau, Weiß und Grün. Wolken glitten unmerklich langsam durch das Bild, tauchten aus der Schwärze der Nachthälfte auf und lösten sich am äußersten Rand der Tageshälfte wieder auf. Atan Shubashi versuchte sich an Oberflächenstrukturen und planetare Karten zu erinnern und suchte den metallenen Turm, der endlich auf den Testschirmen ein deutliches Echo hervorrief. Hasso meldete sich vom Schirm und fragte: »Maschinenraum an Kommandant: Alles klar zum Landeflug?« Cliff hob die Hand und koordinierte den Kurs mit den Anzeigen auf dem Monitor, die von Shubashis Astrogatorenpult kamen. »Alles klar, Hasso«, sagte er. »Grober Richtwert ist der stählerne Turm. Wenn wir näher heran sind, wird Helga versuchen, Professor Macauley anzufunken.« »Verstanden«, sagte die Funkerin. Endlose Dschungel breiteten sich unter ihnen aus,
als der silberglänzende Diskus tiefer fiel, zwischen den Wolken hindurchschoß und dann dicht unter sich die fast durchgehende Decke kleiner, runder Wölkchen hatte. Kleine Seen wurden zwischen der waagrechten, weißen, unregelmäßig geformten Schicht sichtbar, dann ein riesiges Binnenmeer. Als die große, geschwungene Bucht des Ozeans unter ihnen auftauchte, ließ der Kommandant das Schiff durchfallen und stabilisierte es wieder in eintausend Meter Höhe. »Acht Grad vor uns ist der Turm«, sagte er. »Helga. Jetzt beginnt deine Arbeit.« Die Funkerin suchte auf der Skala die Wellenlänge, auf die sämtliche Funkgeräte der Expedition geeicht waren. Schließlich bekam sie Kontakt. Sie drehte die Lautsprecher auf und hob den Arm. »Achtung, Kontakt. Ich schneide die Unterhaltung mit«, sagte sie. »Klar!« »Hier Raumschiff ORION VIII. Wir versuchen, Funkkontakt mit Professor Macauley zu bekommen. Haben wir den richtigen Partner?« Eine dunkle Männerstimme sagte deutlich: »Wir verstehen Sie ausgezeichnet. Wo stehen Sie?« Cliff schaltete sein Mikrophon ein und erklärte: »Wir fliegen im Augenblick von Westen auf den Mittelpunkt der ozeanischen Bucht zu. Abstand von der Küstenlinie ungefähr hundertneunzig Kilometer.« Der andere sagte: »Sie liegen richtig, McLane. Fliegen Sie gerade weiter. Sollen Sie uns etwa abholen? Wir freuen uns, Sie zu sehen!« Cliff sagte laut und etwas beklommen:
»Ich glaube nicht, daß Sie sich freuen werden, wenn Sie hören, was wir zu fragen haben. Bitte, senden Sie einen Funkpeilstrahl. Wir landen in ungefähr einer Stunde bei Ihnen.« Der andere schien erschrocken zu sein, denn er antwortete nur noch: »Selbstverständlich, Kommandant. Ich verstehe. Es gibt wieder einmal Ärger.«
4 Sie überflogen den stählernen Turm und die kreisrunde Fläche um seinen Fuß, auf der kaum mehr als Gräser und verkrüppelte kleine Büsche wuchsen. Zwischen dem Turm und der riesigen Bucht herrschte uneingeschränkt der Dschungel. Der Funkleitstrahl stand und führte die ORION schräg zur Erde auf eine völlig unübersichtliche Dschungellandschaft zu. Langsam ging das Schiff tiefer und trieb gleichzeitig dem Endpunkt des Leitstrahls zu. Auf den Bildschirmen erschien die Landschaft: schmale Flüsse zwischen den dichten Uferwäldern, kleine Lichtungen und Wald, Bäume und Büsche. Zwischen den Stämmen löste sich gerade der letzte Nebel auf. Was sie erwartete, war eine heiße, feuchte Welt voller Tiere und Gestank. Dort hielt sich seit geraumer Zeit die kleine Expedition Professor Macauleys auf. Das Funkgerät meldete sich wieder. »Wir sehen Sie, ORION. Der Kurs ist exakt – bitte versuchen Sie, über der Lichtung voraus zu landen.« »Danke«, sagte Cliff. »Sie meinen jene ovale Lichtung mit der kleinen Sandfläche darin?« »Genau diese.« Das Schiff senkte sich zwischen den Baumwipfeln und kam zehn Meter über der Sandfläche zum Stehen. Langsam schaltete Cliff die Maschinen ab, schweigend bewegte er die Linsen und konzentrierte sich auf das Bild, das der zentrale Sichtschirm zeigte. Die Lichtung unter ihnen war zum Teil gerodet worden; man hatte aus einem Teil der Stämme einen Palisadenzaun errichtet. Dort standen die runden, auf-
blasbaren Behausungen der Forscher und Wissenschaftler. Wege waren angelegt worden, eine Antenne stach in den Himmel, einige Tiere standen in einem Pferch. Zwei geländegängige Fahrzeuge parkten unter einem großen, dunkelgelben Sonnensegel, das sehr schmutzig war, und auf dessen Oberfläche abgerissene Äste und Blätter lagen. Das diskusförmige Raumschiff schwebte jetzt dreißig Meter von dieser leicht ramponierten Idylle entfernt über dem Sand, der feucht war und von Spuren aufgewühlt. »Wir sind angekommen«, sagte Cliff ruhig. »Hoffentlich erledigen wir schnell, was wir uns vorgenommen haben.« Arlene erwiderte: »Jedenfalls wird uns Gant eine Menge sagen können. Steigen wir aus?« Cliff, Hasso und Mario de Monti nahmen die Sicherheitsschaltungen vor. Das Schiff blieb zehn Meter über dem Boden, und die Mädchen fuhren, zusammen mit dem Raguer, mit dem Zentrallift aus dem Unterschiff. Cliff hatte angeordnet, die Expeditionskleidung anzulegen. Das galt natürlich nicht für Glanskis, der jedoch seine technische Ausrüstung trug, mit breiten, federnden Metallbändern an seine muskulösen Schenkel geheftet. »Wir steigen aus!« sagte Cliff und sprach einen kurzen Vermerk für das elektronische Bordbuch. Dann gingen Atan, Hasso, Mario und Cliff der ersten Gruppe nach. Professor Macauley lief ihnen entgegen und begrüßte sie mit der Freude eines Verschollenen, der seine Retter kommen sieht. »Ich freue mich, daß ausgerechnet Sie mich mit Ih-
rer Mannschaft begrüßen, Cliff!« rief er, legte seinen Arm um Arlenes Schultern und schüttelte Cliff die Hand, als wolle er dessen Arm behalten. Cliff grinste kalt und erwiderte: »Es ist nicht die reine Freude, die uns hierher bringt, Gant. Im Gegenteil. Wir verließen eine Erde, die voller Probleme ist. Wie weit sind Sie mit der Katalogisierung der Fauna?« Gant hob die Arme und rief: »Trinken wir doch zuerst ein Glas oder mehrere, dann sprechen wir über das Geschäft. Sollen Sie mich abholen?« »Nein«, erklärte Arlene. »Wir sollen alles über eine Libellenart erfragen – alles und noch etwas darüber hinaus.« Die beiden Gruppen bewegten sich zurück zum Lager, passierten das Palisadentor und näherten sich dem zweiten Sonnensegel, das auf vier Leichtmetallstreben ruhte und durch Kunststoffseile gespannt wurde. Darunter standen Klappstühle um einen Tisch aus einer riesigen Platte, die man auf Abschnitte dikker Baumstämme gelegt hatte. Man setzte sich, und jemand brachte Früchte und große Thermoskannen und Becher. Cliff zählte nach; zehn Männer lebten hier. Gant Macauley erkundigte sich beunruhigt: »Was gibt es? Wenn ich in Ihre Gesichter sehe ...« Mario de Monti berichtete in einigen Sätzen, welche Probleme sie hatten. Die Gesichter der Männer wurden ernster, je mehr er berichtete. Als ausgebildete Wissenschaftler konnten sie sich sehr genau vorstellen, worum es ging und wie groß die Gefahren zu werden drohten. Auch Macauley blieb ernst. Schließ-
lich lehnte sich Mario zurück und sagte, indem er den Schweiß von seiner Stirn wischte: »Jetzt wissen Sie alles. Was sagen Sie zu der Gefahr, die auf Terra zukommt?« Macauley, der beste Entomologe, den Terra kannte, überlegte eine Weile und ging dann schweigend zurück in eine der Wohnkugeln. Nach einigen Minuten kam er mit einem buchähnlichen Band gehefteter Fotos und Kunststoffolien zurück. Er warf den Folianten auf den Tisch. »Hier sind die Untersuchungen enthalten, die wir gemacht haben. Wir sind ziemlich gut ausgerüstet.« Arlene unterbrach und wies darauf hin, daß sie zusätzliche Geräte, Maschinen und Ausrüstungsgegenstände mitgebracht hatte. Macauley dankte kurz. »Mich interessieren nur die Ergebnisse, die über jene Libellenart vorliegen«, sagte Cliff. »Alles andere ist sicher sehr reizvoll, aber im Augenblick herrlich unwichtig.« »Ich verstehe«, sagte Gant. »Ich verstehe Sie sehr gut. Die Unterlagen, über die mein Institut verfügt, und die Arlene sicher mitgebracht hat, sind um vieles vervollständigt worden. Aber ich habe natürlich keine einzige Qualitätsanalyse gemacht, die mit dem artspezifischen Rauschgift etwas zu tun hat.« Er schlug die betreffenden Seiten auf und klemmte sie dann aus dem federnden Rücken des Buches aus. »Megaloprepus coerulatus cassinae ...«, sagte er nachdenklich. »Das ist diese Libellenart, die ihre Beutetiere wegen einiger Gramm Blut lähmt und einschläfert. Jetzt wird mir einiges klar.« Er starrte Cliff an und murmelte dann: »Wir wissen alles über diese Libelle. Population,
Eigentümlichkeiten, Zuchtfolge, Eiablage, Lebensdauer und Abhängigkeit im ökologischen System. Nur von dem Rauschgift wissen wir nichts. Das läßt sich nachholen. Ich kann Ihnen aber eine sehr heiße Spur zeigen, Cliff.« Hasso klopfte auf die handgeschriebenen Unterlagen und sagte: »Wie wäre es, wenn wir diese Spur verfolgten, und wenn Sie mit Ihrem Stab in der Zwischenzeit das nachholen, was Sie eben erwähnten?« Gant erwiderte lächelnd: »Ein vorzüglicher Plan, wenn ich auch noch nicht sagen kann, wie lange wir brauchen werden.« Er stützte sich schwer auf die Ellenbogen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er dachte schweigend nach, während seine Leute nacheinander aus den Wohnkugeln kamen und Stühle mitbrachten. Schließlich, als alle hier unter dem Sonnenschutzdach versammelt waren, sagte Macauley langsam, als überlege er sich jedes einzelne Wort besonders sorgfältig: »Wir müssen zuerst feststellen, welche Substanz für den traumhaften Rausch verantwortlich ist.« »Das sagte auch schon McLane zu Villa«, warf Atan Shubashi ein. Macauley sprach weiter, als habe er nichts gehört. »Dann versuchen wir, diese Substanz zu synthetisieren, beziehungsweise die entsprechende Formel zu entwickeln. Das wird sehr schwierig sein. Erzeugen können wir das Gegenmittel hier ohnehin nicht.« Cliff murmelte: »Wir können es durchfunken, und Villas Labors können sich auf Terra damit beschäftigen. Sie haben
alle Möglichkeiten und jede Art von Unterstützung.« »Klar«, sagte Gant. »Wir könnten auch versuchen, Weibchen zu züchten, die dieses Rauschgift neutralisieren und diese Anlage rein weitervererben. Verdammte Dekadenz!« »Richtig«, sagte Mario mit steinernem Gesicht. »Die guten, alten Faustkeil-Zeiten, das war doch noch etwas nach Mannes Art!« Macauley grinste ihn humorlos an. »Es ist natürlich ganz klar, daß wir augenblicklich damit beginnen werden, dieses Phänomen zu untersuchen. Wir werden schuften wie die Wahnsinnigen, aber ich kann nichts versprechen. Vielleicht haben wir Glück. Aber zurück zur heißen Spur.« »Ich bitte sehr darum!« grollte der Raguer. Macauley musterte ihn überrascht und deutete dann nach Westen. »Port Nirwana«, sagte er. »Dort leben hundertdreißig Träumer. Früher einmal hätte man sie als Gammler oder Hippies bezeichnet. Es sind sympathische, aber etwas lethargische junge Menschen. Gehen Sie dorthin, Cliff, und fragen Sie, wie sie es aushalten, seit geraumer Zeit zu träumen und nicht völlig zu verwahrlosen. Vielleicht haben sie so etwas wie ein Gegenmittel.« »Gut«, sagte Cliff. »Wir werden losfliegen.« Einer der Männer hob die Hände und schüttelte energisch den Kopf. Dann lachte er kurz auf und sagte: »Wir können Ihnen eines unserer Fahrzeuge leihen. Fliegen, selbst mit der LANCET, ist unmöglich. Sie würden nicht landen können. Es gibt eine Möglichkeit, die Bucht von dem Meer aus zu erreichen, aber
auf keinen Fall durch die Luft.« »Verdammt!« sagte Mario. »Schon wieder Fußmärsche durch den Dschungel!« »Gibt es hier wilde Bestien?« erkundigte sich der Raguer hoffnungsvoll. Ein Forscher aus Macauleys Stab deutete auf Prac'h und sagte grinsend: »Etwa in Ihrer Größe. Nur etwas schneller und, ich vermute, eine Kleinigkeit blutrünstiger. Schwarz und hauptsächlich in der Nacht jagend!« Der Raguer wandte sich an Arlene und sagte voller Freude: »Ich danke dir, daß du mich mitgenommen hast. Ich liebe das große Abenteuer. Ich liebe es – brennend.« Cliff und Arlene sahen sich an und schüttelten dann die Köpfe. Glanskis Sucht nach dem Abenteuer oder dem, was er als solches bezeichnete, war schon fast krankhaft. Nicht einmal Vulkanausbrüche und Landstriche, die sich unter riesiger Dampfentwicklung aus dem Meer hoben, schienen ihm zu genügen. Offensichtlich fühlte er sich erst dann wohl, wenn er jeden Tag kurz nach dem Aufwachen eine Herde Tyrannosaurier in die Flucht schlagen konnte. Vielleicht kam er hier auf seine Kosten. Mario und Hasso dachten an die würfelförmigen Nüsse, die empfindliche elektrische Schläge austeilten, und grinsten still in sich hinein. »Schon gut«, sagte der Kommandant. »Gibt es Karten?« Sekunden später lag eine Gebietskarte auf der Tischplatte. »Hier ist der stählerne Turm«, sagte einer der Forscher. »Er ist restlos konserviert und verschlossen
worden, aber wir haben einen Schlüssel. Sie können natürlich dort ebenfalls Schutz suchen, falls es notwendig wird. Von diesem Turm aus gehen Sie am besten geradeaus, bis Sie an den Fluß kommen.« Cliff zirkelte die Entfernung aus. Es waren dreißig Kilometer. Neben dem stählernen Turm konnten sie sogar mit der ORION landen; es gab keinerlei Schwierigkeiten. Aber dann würde ein beschwerlicher Weg durch den Dschungel beginnen. »Am Fluß nach Westen. Sie kommen, ehe das Delta anfängt, auf eine felsige Schicht, die der Fluß durchbrochen hat. Vor den Felsen gehen Sie nach rechts und immer geradeaus nach Norden. Das Gelände ist recht gut für einen Wagen. Hier könnte man auch eventuell mit einer LANCET landen, aber das ist verdammt riskant – schlechter Boden. Ständig gibt es Sandrutsche und Steinschläge.« Die Entfernung entlang dieser Strecke betrug noch einmal dreißig oder fünfunddreißig Kilometer. »Anschließend senkt sich das Gelände zu einem amphitheatralischen Fjord ab. Die Felsen sind bewaldet. In dieser Bucht liegt Port Nirwana«, erklärte der Forscher weiter. »Wir haben sechs Tage gebraucht, aber wir haben Ihnen einen einigermaßen markierten Weg hinterlassen. Sie können es also mit etwas Glück in fünf Tagen schaffen.« Cliff vertiefte sich in die Karten und fragte nach einigen Minuten: »Keine Möglichkeit, hier im Hafen mit der LANCET zu landen?« »Nein«, sagte Professor Macauley. »Wir haben es versucht, als wir abgesetzt wurden. Man müßte eini-
ge der Hütten sprengen. Oder die LANCET als Küstenkreuzer benutzen.« Cliff zuckte die Schultern. »Dann eben nicht. Ich schlage vor, wir bilden zwei Gruppen. Erste Gruppe: Hasso, Glanskis und ich. Wir nehmen Ihren Wagen. Zweite Gruppe: Atan, Mario und Helga. Arlene ist hier im Lager am besten aufgehoben; sie kann Ihnen, Professor, helfen. Einverstanden?« Es gab keine Gegenstimme. Shubashi aber fragte: »Und nach der Meinung unseres geliebten Kommandanten sollen wir drei uns vielleicht wie die Affen von Ast zu Ast schwingen oder zu Fuß gehen, ja?« Cliff sagte: »Ganz im Gegenteil zu gewissen anderen Raumfahrern denke ich, ehe ich rede. Ich werde, in der Nähe von Port Nirwana angekommen, eine Landefläche für die LANCET roden. Ihr könnt in der Luxusklasse reisen; die Entbehrungen, das Fleckfieber und die Mücken nehmen wir auf uns. Ist das einleuchtend?« Atan brummte: »Ich bin pflichtgemäß beschämt.« Cliff rollte die Karte zusammen und stand auf. Er blickte schweigend auf die Versammlung und dachte, daß dies wohl die Mannschaft war, von der hauptsächlich die Rettung der Erde abhängen konnte. Insgesamt sechzehn Personen, mitten im feuchtheißen Dschungel von Cassina. »Okay!« sagte Cliff entschlossen. »Brechen wir auf. Vorräte und Ausrüstung für sieben Tage. Und die LANCET-Mannschaft hält sich bitte bereit, auf einen
Funkspruch hin loszustarten. Kann sein, daß wir in Gefahr geraten.« »Hoffentlich!« knurrte der Raguer. Cliff hatte kurz und unauffällig seine BishayrFähigkeit angewandt und versucht, etwas über die Charaktere des Forschungsteams herauszufinden. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn sie würden mit einer an Aufopferung grenzenden Begeisterung und Geschwindigkeit versuchen, die Geheimnisse der Libellen zu lösen. Drei Männer schwärmten aus, um einige Libellen zu fangen. »Lassen Sie sich nicht beißen!« rief ihnen Arlene nach. »Wir können alles hier gebrauchen, nur keine Träumer.« »Keine Sorge.« Die Wissenschaftler hatten aus einer militärischen Erfindung, nämlich einem speziellen Lähmstrahl, einen kleinen Apparat entwickelt, der in der Lage war, kleinere Lebewesen zu betäuben. Die Wahrscheinlichkeit, ziemlich bald eine genügend große Menge der schnellen Libellen zu fangen, war also groß. Normalerweise war es ein gewaltiger Glücksfall, wenn ein Wissenschaftler einen dieser blitzschnellen Räuber fing. Die ORION-Crew unterzog den Amphibienwagen einer schnellen Überprüfung. Dann wurden die Ausrüstungsgegenstände herangeschafft und sorgfältig verladen. Auch hier halfen die Erfahrungen langer Jahre und vieler Abenteuer, die Arbeit exakt und schnell hinter sich zu bringen. Schließlich probierte Cliff die Steuerung und die Maschinen aus und fuhr zwanzig Meter weit bis zu der
schmalen Schneise in den Dschungel hinein. Er stieß wieder zurück und blieb neben der ORION stehen. »Das Transportgeschirr!« sagte er. Er stieg herunter und befestigte zusammen mit Mario die Endstücke von vier Drahtseilen mit wuchtigen Karabinerhaken an den äußersten Enden der Achsen. Dann klinkten sie die Seile zusammen und schraubten die Verlängerung an. In der Zwischenzeit waren Hasso und Atan im Schiff verschwunden und machten die LANCET I klar. Kurz darauf ertönte ein fauchendes Geräusch. Das Beiboot schoß senkrecht aus dem Startschacht hervor, wurde abgefangen und senkte sich in einer engen Kurve wieder. Es schwebte heran, mit ausgefahrenen Landebeinen. Tiefer und tiefer kam es, und schließlich machte Mario einen Satz und enterte die breite Leiter. In der Hand hielt er das Ende des Verbindungsseiles. Er klinkte es in die Spezialhalterung neben der Schleuse ein, sicherte es und sagte dann durch die offene Schleuse: »Klar. Lande so weit entfernt, wie es gerade möglich ist.« »Verstanden!« erwiderte Atan Shubashi. Die LANCET fiel langsam auf die Sandfläche herunter, und zwischen den Landebeinen ringelte sich das dicke Stahlseil hervor. Cliff, Hasso und der Raguer verabschiedeten sich von Macauley und den anderen, dann stiegen sie in das Beiboot. »Sehen Sie zu«, warnte Macauley, »daß Sie nicht von dem eigentümlichen Zauber und dem Reiz von Port Nirwana eingefangen werden!« Cliff winkte ab. »Gegen Rauschgift bin ich eigentlich bisher immer
immun gewesen. Diese Gefahr ist ziemlich gering, Gant!« Der Raguer turnte hinauf und legte sich zwischen die Sitze. Er fieberte förmlich vor Aufregung. Arlene stand zwischen den Landestützen und sagte etwas leiser, aber nicht weniger eindringlich: »Erinnere dich an das Funkgerät und rufe nach Hilfe, wenn es nötig ist. Wir werden hier eine Weile lang unruhig sein!« »Ihr werdet vor lauter Arbeit nicht dazu kommen, unruhig zu sein!« versicherte der Kommandant grimmig. Hasso, Atan, der Raguer und Cliff befanden sich jetzt in der LANCET. »Los! In die unmittelbare Nähe des stählernen Turmes. Richtung Südwest zu West«, sagte Cliff. Systematisch prüfte er seine Ausrüstung, während Atan die LANCET startete. Das Beiboot hob sich zentimeterweise, schwebte dann, als es einhundertfünfzig Zentimeter Höhe erreicht hatte, hinüber zum Fahrzeug und ging langsam höher. Die Stahlkabel strafften sich, die Federn des Wagens fauchten auf, und schließlich baumelte der Expeditionswagen, sich langsam drehend, unter der LANCET. Mit aller Kraft der Maschinen stieg das Beiboot höher und höher, bis über die Wipfel der Bäume und schlug dann die angegebene Richtung an. Es wurde schneller, und die Luft erzeugte am Fahrzeug pfeifende Geräusche. Atan fragte leise: »Was versprichst du dir von diesem riskanten Ausflug, Cliff?« Der Kommandant antwortete nicht sofort, aber
dann erklärte er etwas unsicher: »Es besteht der starke Verdacht, daß die Bewohner von Port Nirwana die ›Erfinder‹ dieser Rauschgiftsucht sind. Vielleicht können sie uns einen Rat geben, wie man diese Sucht bekämpfen kann, denn sie haben sicher bereits die Notwendigkeit eingesehen, daß dieser Traumrausch nicht ewig andauern kann, ohne das Leben des Menschen zu gefährden.« »Zumindest«, fuhr Hasso Sigbjörnson fort, »ist auch für mich diese Wahrscheinlichkeit sehr groß. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß sie durch Beobachtungen, also rein empirisch, ein Gegenmittel gefunden haben. Wir brauchen jede Art von Gegenmittel, gleichgültig, wie es wirkt und wie es angewendet wird.« »Und wir werden auf dem Weg dorthin sicher jeder Menge von Gefahren begegnen«, schloß der Raguer. Cliff lachte. »Eines Tages wird dich jemand angreifen, der dich in kleine Stückchen zerbeißt«, sagte er. Auch ihn begeisterte die Aussicht auf Arbeit, auf sinnvolle Beschäftigung nach den langen, ereignislosen Tagen des Fluges. Und grundsätzlich waren ihre Chancen nicht gerade niedrig zu nennen. »Kaum«, erwiderte der Raguer. »Wesen, die eine Million Jahre alt sind, werden nicht von den Aasgeiern gefressen!« »Auch richtig.« Die Crew flog mit der LANCET und der Last im Schlepp über den Dschungel. Sie beobachteten das Gebiet, das sie überflogen, sehr genau. Die Richtung wurde eingehalten, und unter ihnen zogen breite
Streifen von verfilztem Dschungel, von kleinen Bächen mit sumpfigen Ufern und Sandadern vorbei. Hin und wieder sahen sie größere Tiere, die vor dem schwachen Maschinengeräusch in Deckung flohen. »Ziemlich friedlich«, stellte Hasso fest. »Am Boden wird es sich ändern«, meinte Cliff. »Und zwar bald.« Die Minuten vergingen sehr schnell. Wie ein merkwürdiger Berg tauchte über dem Rand des Horizontes das stählerne Bauwerk auf. Es leuchtete dort auf, wo die Sonnenstrahlen darauf trafen; ein stählerngrauer Schimmer ragte über die grünen Flächen. Als Cliff den Turm sah, spürte er direkt körperlich, wie ein fatales Gefühl von ihm Besitz ergriff. Es hatte weniger mit ihm und den zu erwartenden Strapazen zu tun, sondern mit den Chancen, die Terra noch hatte. Eine Vision tauchte auf: die Erde, ein schlafender Planet, dessen Versorgung restlos zusammengebrochen war und dessen Einrichtungen begannen, sich selbst zu zerstören. Je näher sich der stählerne Turm schob, desto unruhiger wurde der Kommandant. Hasso fragte: »Was ist los, Cliff? Du machst ein Gesicht wie einer, der sich mit dem Henker unterhält.« Vor ihnen tauchte der breite, ringförmige Streifen aus Sand und niedrigen Gräsern auf. Einige weiße, ausgebleichte Skelette lagen im Schlagschatten der wuchtigen Metallröhre. »Ich hoffe, wir haben mehr Glück, als ich mir vorstelle. Wenn es nämlich nach meiner Stimmung gehen würde, wäre die Erde schon jetzt verloren.« Atan meinte: »Wer gibt dir die Gewißheit, daß die
Erde noch nicht verloren ist? Wir sind jetzt fast elf Tage unterwegs. In dieser Zeit kann viel geschehen.« »Richtig«, sagte McLane und schnippte mit den Fingern. »Das bringt mich darauf, euch zu bitten, einen Funkspruch abzusetzen und auf Antwort zu warten. Gebt bitte den Text dann an uns hier weiter, ja?« »In Ordnung«, sagte Atan Shubashi. »Achtung, es geht nach unten.« Die LANCET sank jenseits der Wipfel ab, nachdem sie ein Drittel des Kreises umrundet hatte. Das Beiboot blieb in der Luft stehen, sechs Meter über dem Boden. Dann drosselte Atan den Auftrieb um Zentimeter, und das Fahrzeug an den vier Trageleinen berührte den Boden. Die Räder federten wieder ein, und das Stahltau wurde locker. Dann setzte Atan auf, einige Meter neben dem Wagen. Mit einem riesigen Satz sprang der Raguer nach draußen und sah sich um, als erwarte er den Angriff einer Staffel von Flugsauriern. Nichts geschah, und grinsend folgte ihm Hasso. Cliff stand am Fußende der Leiter und sagte zu Atan hinauf: »Du startest sofort und bleibst im Lager, bis wir den Landeplatz gerodet haben. Sollte etwas passieren – sofort Funkkontakt.« Er schlug leicht auf das Armbandfunkgerät. »Verstanden!« sagte Shubashi. »Wir starten nur dann, wenn du uns brauchst. Oder bei Gefahr. Wir senden den Funkspruch an Oberst Villa?« »Ja«, sagte Cliff. »Ich hoffe, daß wir in spätestens einer Woche wieder im Lager sind und ein Ergebnis mitgebracht haben werden.«
Sie schüttelten sich die Hände. »Das hoffe ich auch«, sagte Atan. »Ist das Seil abgeklemmt?« Die vier Haken wurden gelöst, und die Seile wurden zu Shubashi hinaufgereicht. Er verstaute sie seitlich im Schleusenraum, dann sicherte er nach unten und startete. Binnen Sekunden war die LANCET hinter den Bäumen verschwunden. Hasso und Cliff waren allein. Cliff nahm die Heliumkapseln und schraubte sie nacheinander an die Ventile der Reifen. Ein Knopfdruck, ein Sicherheitsventil brach, und die Reifen wurden auf den sechsfachen Durchmesser aufgeblasen. Schwankend hob sich die Plattform des Wagens. Die Reifen waren jetzt fast zweieinhalb Meter hoch, und das geschmeidige Gewebe würde eine Fahrt durch den Dschungel erleichtern. »Wo ist der Raguer?« erkundigte sich Hasso und schob die dunkle Brille in die Stirn. Cliff kletterte in den Fahrersitz und schnallte sich fest. »Er sucht gerade das Abenteuer«, sagte er und steckte zwei Finger zwischen die Lippen. Ein gellender Pfiff ertönte. Während Sekunden später das Fahrzeug auf den vier riesigen Reifen anrollte, kam das raubtierähnliche Wesen vom Planeten Terrossian durch den Sand gesprungen. Der Raguer verschwand vor dem Wagen in der schmalen Schneise des Waldes, und sie sahen seinen Körper noch einige Sekunden lang. Das Wesen glitt federnd durch die halbe Dunkelheit. Der lange Weg nach Port Nirwana fing an. *
Am Ende des ersten Tages, der nur ab Mittag zählte, denn zu dieser Zeit waren sie vom Turm aus gestartet, hatten sie zwölf Kilometer zurückgelegt. Zuerst waren sie einem breiten Wildwechsel gefolgt, der Jahrhunderte alt sein mußte. Hunderttausende von Tierfüßen hatten aus dem Urwald einen fünf Meter breiten Pfad planiert, der ziemlich gerade durch den Dschungel führte. Natürlich wich er den riesigen Wurzeln wuchtiger Bäume aus, umrundete große, weiße Felsen und verzweigte schließlich. Dann kamen Büsche verschiedener Größe, unterbrochen von kleinen Inseln aus Bäumen. Der Wagen war ein ausgezeichnetes Mittel, durch diese Landschaft durchzubrechen – die riesigen, weichen Räder wälzten und kletterten über alles hinweg, und nur die Fahrersitze schaukelten nach allen Seiten, hoben sich wie der Sattel auf dem Rücken eines exotischen Tieres. »Und das rund einhundert Kilometer in dieser Gangart!« ächzte Hasso. »Immer werden wir geschunden, wenn wir die Erde retten müssen!« »Irgend jemand muß es schließlich sein«, sagte Cliff. »Manchmal wünschte ich mir, ich hätte dasselbe kindliche Gemüt wie der Raguer, was Abenteuer betrifft.« »Ich werde gebraucht?« Prac'h sprang neben dem dahinrollenden Wagen in die Höhe. »Noch nicht«, sagte Cliff. »Du könntest aber vorauslaufen und uns einige Informationen über die Beschaffenheit der Piste geben!« »Mit Vergnügen!« Der Wagen rollte weiter, schaukelnd und stamp-
fend. Das weiche Material der Reifen und die würfelförmigen Stollen bahnten breite Spuren in Gras und durch die Büsche. Vögel schwirrten kreischend davon, und Affen turnten schreiend durch das Geäst. Hin und wieder fiel eine jener elektrischen Nüsse, und einmal bekam der Raguer, als er sie wegtreten wollte, einen starken Schlag. Hasso und Cliff hatten dies erwartet und lachten. Die Sonne sank dem Horizont zu, der ständig wechselte, je nach Position des Fahrzeugs. Im letzten Licht der Abenddämmerung stellte Cliff die zurückgelegte Entfernung fest und sah zu, wie die drei Moskitonetze ausgepackt und die Hängematten festgezurrt wurden. Sie hatten während des langen Nachmittags sicher Tausende Libellen gesehen, aber kein einziger Angriff war erfolgt. Cliff sagte: »Elf Kilometer und neunhundert Meter. Eine beachtliche Leistung.« Sie aßen einen Teil des mitgebrachten Proviants und tranken heißen Tee mit Vitaminen aus den Thermoswürfeln. Dann krochen sie in die Hängematten, breiteten die Moskitonetze aus und versuchten zu schlafen. Gegen Mitternacht wurde Cliff wach. Er hörte deutliche Geräusche – als ob zwei riesige Tiere sich unter ihnen durch Büsche und Gräser bewegen würden. Cliff langte nach links und schüttelte die Matte, in der sich Hasso befand. Hasso fuhr hoch und murmelte: »Ja?« Cliff flüsterte: »Dort unten bewegt sich etwas. Hast du den Raguer gesehen?«
Hasso warf das Moskitonetz auf einer Seite hoch, langte nach der schweren Stablampe und zog die Gasdruckwaffe aus der Hülle. »Im Dunkeln? Ich habe keine Infrarotaugen, Freund Cliff!« flüsterte er mit verschlafener Stimme zurück. Die Geräusche wurden deutlicher und lauter. Ein kleiner Ast knackte. Dann ertönte ein langgezogenes Fauchen. Auch Cliff griff jetzt zur Waffe und tastete nach dem Schalter seiner Lampe. Insekten schwirrten oben über das Netz und fingen sich in den Fäden des Gespinstes. »Cliff! Licht!« Das war die Stimme des Raguers. Gleichzeitig wurden zwei Lampen eingeschaltet. Zwei stark konzentrierte Lichtkegel zuckten nach unten, streiften über den Boden, und zufällig bekam Cliff einen großen, schwarzen Körper ins Blickfeld. Der Strahl der Lampe huschte weiter, und plötzlich war der Körper verschwunden. »Nicht schießen. Ich werde allein fertig!« sagte der Raguer durch die angespannte Stille. Jetzt hat er sein verdammtes Abenteuer, dachte der Kommandant wütend, warum ist er nicht zu uns auf einen starken Ast geklettert. Wieder ein Fauchen, dann ein grollendes Geräusch, als greife ein wütender Leopard an. Dann der Zusammenprall zweier schwerer Körper und das Knistern und Knacken von brechenden Ästen. Steine und Erdbrocken polterten irgendwo unter den beiden Männern. Cliff und Hasso versuchten, ihre Scheinwerfer auf die Kämpfenden zu richten, aber die Bewegungen waren zu schnell, die Ortswechsel zu rasch.
Endlich hatte Cliff den Kopf des Angreifers im Fokus. Der Forscher aus Macauleys Team hatte nicht übertrieben. Ein Tier, das wie ein Leopard aussah, pechschwarz, mit riesigen Augen und scharfen, weißen Fangzähnen. Nur um vieles größer, wesentlich größer als der Raguer. Cliffs Besorgnis wuchs, als er den Angriff des schwarzen Riesen mit der Lampe verfolgte. Er schrie: »Glanskis!« Undeutlich kam die schnelle Antwort: »Ja?« »Ich schieße!« Cliff versuchte, Kimme und Korn zu erkennen; sie waren selbstleuchtend, aber das Licht aus den starken Lampen täuschte und rief störende Reflexe hervor. Trotzdem blieb der Kommandant im Ziel, mit dem Licht und dem Lauf der Gasdruckwaffe. »Nein! Ich werde mit ihm fertig. Keine Sorge. Er ist langsam. Er denkt nicht ... ahhhh!« Wieder ein Zusammenprall; im Licht sahen die Männer, wie der Raguer mit seiner Vorderpranke ausholte und den Kopf des angreifenden Raubtieres fast in den Boden rammte – mit einem einzigen, wilden Hieb. Das Tier schrie. Cliff brüllte hinunter: »Macht es Spaß?« »Un ... geheuer ... lustig!« keuchte der Raguer. Er schien diesen Angriff, der tödlich gemeint war, für eine lustige Rauferei zu halten. Jetzt prallte er vor, rammte seinen Schädel gegen den Brustkasten des schwarzen, leopardenähnlichen Tieres und warf es um. Sich überschlagend, fauchend und um sich
schlagend rollte der Angreifer nach hinten, kam wieder auf alle vier Füße und sprang senkrecht in die Luft. Der Raguer schien jetzt ernst machen zu wollen. Er schoß unter den Angreifer, erhob sich auf die Hinterbeine und packte das Tier um die Körpermitte. Dann stemmte er den schwarzen Riesen hoch, nahm einen Anlauf und schmetterte ihn gegen den Baum, in dessen Ästen Cliff und Hasso hingen. Das Holz bebte, als habe es eine Granate getroffen. Blätter und Insekten, Raupen und ein halbes Dutzend elektrischer Nüsse fielen herunter. Eine der Nüsse fegte dicht an Cliffs Knie vorbei, eine andere traf das schwarze Tier, das betäubt dalag, direkt zwischen die Vorderbeine. Ein Kreischen war zu hören. Andere Tiere schrien ebenfalls. Vögel schwirrten davon, kleine Affen turnten wie besessen durch die Äste und wurden so laut, daß die Ohren zu schmerzen begannen. Der Baum zitterte noch immer. Cliff richtete seinen Scheinwerfer auf das Tier und sah, wie es sich langsam erhob, den Kopf schüttelte und den Raguer anstarrte. Dann verschwand es, humpelnd und bei jedem Sprung aufwimmernd, zwischen den Hochwurzeln. »Mache dich fit! Sport hält gesund und jung!« rief Glanskis von unten herauf. »Ich glaube, dieses schwarze Untier wird an diesem Erlebnis verzweifeln. Ein stark frustrierendes Schlüsselerlebnis.« »Für mich auch«, sagte Cliff ärgerlich und entfernte eine Raupe von seinem Unterarm. »Können wir jetzt vielleicht schlafen?« »Sofern ich nicht wieder angegriffen werde – gern!« sagte Glanskis.
Cliff steckte kopfschüttelnd die Waffe wieder weg, schaltete die Lampe aus und klappte das Moskitonetz wieder zurück. Sein neuer Freund war wirklich ein hervorragender Raufbold. Er schien nicht einmal einen Kratzer davongetragen zu haben, und seine Laune war auf einem unvermuteten Höhepunkt angelangt. Hasso sagte brummend: »Wir werden noch viel Freude an ihm haben.« »Wenigstens brauchen wir keinen Wachtposten«, tröstete ihn Cliff. »Gute Nacht. Hast du auch so viele Moskitos in den Ohren?« »Nein, aber einige Käfer in den Nasenlöchern«, erwiderte Hasso. Zehn Minuten später waren sie eingeschlafen. Sie träumten allerlei, aber nichts, das sich mit der Süße eines Traumes nach einem Libellenbiß vergleichen lassen könnte.
5 Nach fünf Tagen erreichten sie endlich den Felsenkessel, der nach Port Nirwana abfiel. Es war später Nachmittag, und die Sonne stand lodernd über dem Meer. Der Wagen mit seinen vier riesigen Reifen hielt an, und Cliff deutete nach vorn. »Dort hinunter«, sagte er leise. »Ob wir dieses Fahrzeug nehmen können?« »Zumindest für die ersten Meter«, erwiderte Hasso. Der Raguer kehrte von einem seiner kleinen Streifzüge zurück und sagte: »Wenn du ein ganz guter Lenker bist, Kommandant, dann kommst du bis an die Rückwand einer Hütte. Du mußt allerdings auf den letzten Metern starke Serpentinen fahren.« »Ausgezeichnet«, sagte Cliff. »Bleibt nur noch die Arbeit, einen Landeplatz für Atans LANCET zu schaffen.« »Ja. Auch das wird nicht lange dauern.« Cliff und Hasso schalteten die Maschinen ab und kletterten aus den hohen Fahrersitzen. Unter der Plane lagen die Vorräte und Ausrüstungsgegenstände fest verzurrt. Die beiden Raumfahrer zogen die langen, schlanken Strahlwaffen aus den Taschen und sahen sich um. Sie befanden sich hier auf einem Hügelrücken, der aus viel Gras und vielen Felsen bestand, die tiefe Zwischenräume hatten. In diesen Spalten gab es kleine Tiere und tückische Fallen für den Fuß des Wanderers. Weiter drüben standen kleine Bäume, und hinter dem Kommandant turnte Hasso auf diese Gegend zu.
»Hier könnte es gehen«, sagte Cliff. Er schritt eine Sandfläche ab, untersuchte das Gras an deren Rändern und fand einen tragenden Unterbau. Hier konnte die LANCET landen, aber noch war der Platz nicht groß genug, außerdem war er schlecht gekennzeichnet. »Glanskis!« schrie Cliff. Er ließ sich auf die Hacken nieder, visierte waagrecht über dem Boden mit der Strahlwaffe entlang und drückte dreimal ab. Er schnitt dicht über der Sandfläche in drei breiten Streifen sämtliche Gewächse ab. »Hier!« Der Raguer sprang neben Cliff in den Sand, daß hohe Fontänen den Kommandanten überschütteten. Cliff sagte mit säuerlicher Miene: »Hin und wieder übertreibst du mit deiner Kraftmeierei, Freund Prac'h. Würdest du die Güte haben, diejenigen Bäume, die ich abschneide, umzuwerfen. Nach innen, dem Mittelpunkt des Waldes zu.« »Mit Vergnügen!« versicherte der Raguer und lief schnell hinüber. Während Hasso sämtliche Büsche und Sträucher zusammentrug und sie in einem Ring rund um die feste Sandfläche stapelte, schnitt Cliff sieben Stämme mit der Strahlwaffe ebenfalls dicht über dem Boden ab und achtete darauf, daß er das Unterholz nicht in Brand setzte. Dann wurden auch hier die Abfälle zusammengetragen. Ein Ring aus Büschen, Ästen und Gras entstand, ungefähr fünfzehn Meter im Durchmesser. Cliff zündete einen trockenen Ast an. Binnen kurzer Zeit brannte der Ring, und als die Flammen erloschen waren, zeichnete sich klar gegen
den hellen Sand ein Kreis aus schwarzer Asche ab. Das war aus einigen Hundert Meter Höhe klar zu erkennen und würde einige Tage lang ein deutliches Zeichen sein. »Atan wird sich freuen«, sagte Glanskis. »Ihr seid doch rechte Pfadfinder!« »Hoffentlich glauben dies auch die hundertdreißig Bewohner der Siedlung dort unten«, sagte Cliff und kontrollierte genau, ob noch etwas brannte. Er trat einige schwelende Gräser aus und kletterte wieder zurück in den Fahrersitz. »Los!« Brummend und mit betätigten Bremsen kippte der Wagen langsam über die nahezu ebene Fläche und schaukelte über den ersten Teil des Abhanges. Langsam drehten sich die riesigen Niederdruckreifen. Büsche wurden niedergewälzt, den Bäumen wichen sie aus, und die Felsen wurden vorsichtig umrundet. So ging es Meter um Meter abwärts, und der Raguer erwies sich als eine ausgezeichnete Hilfe; er lief im Zickzack vor den beiden Raumfahrern und ihrem merkwürdigen Fahrzeug her und schilderte ihnen den besten Weg. Der Hang wurde steiler, und die Sonne hing jetzt dicht über dem Meeresspiegel. Sie wurde langsam feuerrot, je mehr sie sich der Dunstschicht am Horizont näherte. »Jetzt neunzig Grad nach links!« sagte das Raubtierwesen. Cliff hatte mit viel Verwunderung feststellen müssen, daß der erbitterte nächtliche Kampf am Körper des Wesens von Terrossian keinerlei Spuren hinterlassen hatte. »Verstanden.«
Der Wagen fuhr jetzt in Schlangenlinien hin und her und verlor immer mehr Höhe. Das Meer, also die Bucht, kam näher. Hin und wieder sahen die Männer zwischen den Bäumen die Hüttendächer und eines der kleinen, hölzernen Boote. Schließlich, fast dreißig Minuten später, bremste Cliff, schaltete die magnetische Feststellvorrichtung ein und die Maschinen aus. »Schluß«, sagte er. »Die letzten Meter müssen wir wirklich zu Fuß zurücklegen.« Vor ihnen regte sich nichts. Keine Gespräche, keine Musik, keinerlei Geräusche. Entweder träumten alle hundertdreißig Personen, oder sie suchten Pilze oder fingen Libellen. »Ist ja ein irrsinniger Betrieb hier!« sagte Hasso. »Verlängerter Mittagsschlaf, überleitend in den gesunden Nachtschlaf vor Mitternacht?« Sie gingen zwischen zwei flachen, weißen Kunststoffbauten mit geflochtenen Dächern und langen, weißen Stahlstelzen vorbei, erreichten eine Treppe aus halbierten Baumstämmen und kamen auf einen Platz, der wie ein Halbmond angelegt war. Die Krümmung wies in Richtung der Hütten, die halbkreisförmig und in mehreren Reihen ansteigend den Platz umstanden. Zwischen den ersten Hütten und der Flutmarke waren etwa vierzig Meter Abstand. Kein Mensch war zu sehen. Der Raguer blieb zwischen Hasso und Cliff stehen. Die drei Raumfahrer bildeten eine kleine, schweigende Gruppe, deren Schatten fast die Pfähle des ersten Hauses berührten. Cliff wandte sich an den Ingenieur:
»Was hältst du von dieser geradezu auffälligen Ruhe, Hasso?« Hasso zuckte die Schultern. »Vergiß bitte nicht«, sagte er warnend, »hier deine hochmoralischen und erzkonservativen Maßstäbe abzulegen. Wir sind in einer anderen Welt, inmitten einer radikal veränderten Auffassung vom Leben. Die Kommunikation wird zweifellos durch die Gemeinsamkeit unserer Sprache erleichtert, aber durch alles andere erschwert. Wir brauchen Erfolge – schnelle und gute Erfolge. Erfolg werden wir aber nur dann haben, wenn wir vollkommen unvoreingenommen sind. Zumindest, wenn wir es zu sein scheinen. Klar?« Cliff grinste unbehaglich und murmelte: »Ich werde mich zumindest bemühen.« Er blickte sich um. Im letzten Licht der untergehenden Sonne sah er eine Menge jener furchtbaren Libellen, die von Sträuchern und Binsen am Ufer aufflogen und Jagd auf andere Insekten machten. Eine terranische Kleinkuh stand am Rand des Platzes, an ein Hanfseil angebunden, und auf ihrem Rücken saßen mindestens zwanzig von diesen Riesenlibellen. Cliff deutete auf das Tier. »Diese Kuh«, sagte er, »ist ein nützliches Tier. Sie gibt Milch, Quark, Schmelzkäse, Butter und Butterschmalz. Eigentlich müßte sie daliegen und bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes schlafen, träumen und schnarchen. Warum, frage ich dich, schnarcht diese Kleinkuh nicht? Sie scheint sich außerdem nicht unwohl zu fühlen, obwohl die Libellen an ihr nagen.« Hasso breitete die Arme aus. »Frage den Wind oder die Wellen, aber frage mich
nicht. Ich habe nur eine Antwort«, sagte er. »Sie lautet: Ich habe keine Ahnung.« »Die habe ich auch!« bestätigte Cliff. »Wir wollen anklopfen.« Er zog seine Gasdruckwaffe, veränderte die Einstellung und hielt den Lauf fast senkrecht nach oben. Dann drückte er in Sekundenabständen dreimal den Auslöser. Drei donnernde Entladungen fanden statt. Die Kuh brüllte, die Libellen vollführten einen schnellen Tanz, und aus einer der Hütten rief jemand: »Ruhe, bitte!« Cliff schrie: »Besuch, bitte!« Nach fünf Sekunden kam eine Art Antwort. Eine helle Frauenstimme rief: »Einen Moment. Ich muß nur noch mein Haar feststecken!« Cliff starrte Hasso an, zog die Stirn in Falten und wollte eben etwas sagen, als ihn Hasso stoppte. »Keine Vorurteile!« sagte er. »Im Zweifelsfall mußt du einfach schweigen! Wir dürfen hier niemanden verärgern, denn wir haben dringende Wünsche!« Cliff brummte etwas Unverständliches und drehte sich langsam in die Richtung, aus der die Frauenstimme gekommen war. Die junge Dame mußte eine Unmasse Haare haben, denn das Feststecken dauerte mindestens fünf Minuten. Langsam gingen die drei Ankömmlinge auf das Haus zu, in dem sie die Frau vermuteten. Der Raguer schien Unheil zu wittern, jedenfalls verzichtete er darauf, hier herumzurennen und alles zu untersuchen und zu begutachten. Cliff war ihm sehr dankbar
für diese taktvolle Zurückhaltung. »Aha!« flüsterte Hasso. »Beachtlich!« Ein junges Mädchen kam die schmale Leiter herunter, die vom Sandboden bis zur überdachten Terrasse eines der Pfahlbauten hinaufführte. Sie war bekleidet mit zwei Rechtecken aus weißem Wildleder, das an den vier Kanten mit einer Art Stickerei verziert war. Breite Lederbänder an den Seiten des Körpers hielten die Lederflächen zusammen. Barfuß, ohne Brille und ohne Kopfbedeckung. Zwei echte Blüten, deren Stengel kunstvoll verschlungen waren, hielten eine Menge dunkelbraunen Haares an beiden Seiten des Kopfes fest. Eine symmetrische Aufmachung; eine spiegelbildlich gleiche Kleidung und eine ebensolche Haartracht. Cliff sagte wohlerzogen: »Guten Abend, gnädige Frau. Sie sind hier die Chefin oder der Bürgermeister?« Sie kam lächelnd auf ihn zu und schaukelte mit den Hüften. »Etwa«, sagte sie. »Und nehmen Sie die Sonnenbrille ab, wenn Sie mit einer Dame reden.« Cliff sagte, noch immer mit Wohlklang in der Stimme: »Es ist der Glanz Ihrer Erscheinung, der mich so blendet. Deswegen die dunklen Gläser. Mein Name, falls Sie Wert darauf legen ...« Sie lächelte wieder; wie Hasso feststellte, schien es ein träges, irgendwie robotähnliches Lächeln zu sein. Aber er konnte sich irren. »Ich lege«, sagte sie. »... ist Cliff McLane von der ORION. Ich glaube, ich brauche Ihre Hilfe.«
Sie legte ihm eine schmale, gebräunte und nach Pflanzenöl riechende Hand auf den Unterarm. »Sie wollen ebenfalls ein Häuschen in Port Nirwana beziehen, Kommandant?« Hasso erwiderte vorsichtig: »Zumindest für diese Nacht, wenn Ihre Gastfreundschaft dies zuläßt. Und wir brauchen Ihre Hilfe auf eine etwas andere Art. Haben Sie Lust, mit uns eine Stunde lang ernsthaft zu diskutieren?« Sie deutete auf eine Hütte in der dritten Reihe, die sich an einen Felsen zu lehnen schien. »Sie können für sich und Ihren Bernhardiner diese Hütte haben. Sie gehört Dany und Uschi ... aber sie sind im Wald und kommen erst wieder in ein paar Tagen.« Cliff erwartete, daß der Raguer völlig hysterisch reagieren würde, aber er benahm sich wirklich wie ein ausgezeichnet dressierter Hund. Vielleicht, ahnte der Kommandant, war dies ein Trick – solange er nicht als ein intelligentes Wesen galt, konnte er sich mit der gleichen selbstverständlichen Unverschämtheit bewegen wie ein Haustier, das dem Gast auf die Smokinghose springt, nachdem es im Garten nach Mäusen gesucht hat. »Danke«, sagte Cliff. »Haben Sie Lust, mit uns zu diskutieren?« »Aber gern. Ich werde Ihnen etwas zu essen und zu trinken bringen, und dann können wir reden. Ich werde heute nicht träumen, und das bringt mich zu der Frage: Möchten Sie heute eine Libelle?« Cliff hob die Hand. »Nein, danke. Ich bin heute nicht in der Laune dazu.« Er fühlte, wie sich entlang der Oberarme und des
Rückens eine Gänsehaut bildete und wie sich die feinen Härchen im Nacken aufrichteten. »Bitte!« Cliff deutete auf die Treppe, von der sie gekommen waren, und erklärte in ruhigem Tonfall, obwohl ihm wirklich nicht nach Ruhe und abendlichem Frieden zumute war: »Wir holen nur noch unsere Zahnbürsten und die Spraydosen mit Insektizid, dann erwarten wir Sie. Sie sind sehr nett!« Sie winkte ab. »Das sagt man allgemein, aber das hat nichts zu bedeuten. Wir haben hier die Omniarchie. Und – lassen Sie diese Insektentöter in Ihrem Gepäck. Damit bekommen Sie bei mir jede Menge Ärger.« Cliff nickte und wandte sich zum Gehen. Er konnte sich nicht zurückhalten und schnippte mit den Fingern. Er sagte in kindischem Ton zum Raguer: »Komm, braver Hund. Du mußt etwas tragen. Komm zum Herrchen.« Glanskis knurrte wütend. Minuten später waren sie wieder an ihrem Wagen und packten die Taschen mit dem Gepäck und den Vorräten. Sie vergaßen nicht einmal die Moskitonetze, und Cliff sagte zu Glanskis: »Entschuldige, aber diesen Trick sollten wir durchführen bis zu den letzten Möglichkeiten. Du läufst hier als Expeditionshund herum und machst Augen und Ohren auf. Jede Information kann von entscheidender Bedeutung sein. Du weißt, worum es geht!« Der Raguer sagte verächtlich: »Unter diesen Umständen verzeihe ich dir die Beleidigung.«
Sie schleppten das Gepäck wieder hinunter auf den Platz und kletterten dann die Treppe und endlich die Leiter zu dem bezeichneten Haus hoch. Es war leer und trotzdem in einer bemerkenswerten Unordnung. Die Kulturgüter der Erde – Kassettenrecorder, Lesespulen, Seife und ähnlicher Kram – lagen umher, waren verschmutzt und nicht mehr voll funktionsfähig, und nachdem die beiden Raumfahrer ihre Lampen angezündet hatten, räumten sie erst einmal den einzigen großen Raum auf. Sämtliche Abfälle – und es gab davon nicht gerade wenig – warfen sie über die Terrasse. Dann breiteten sie ihre Ausrüstung aus. Hasso umfaßte das Stilleben mit einem langen Blick und zog sich die Stiefel aus. »Gemütlich!« bemerkte er lakonisch. »Klein, aber fein«, sagte Cliff und befestigte die Moskitonetze. Er konnte auf diese Weise verhindern, daß eine Libelle in diesen Raum kam. Er hatte etwas gegen Libellenbisse. Besonders gegen die der Art coerulatus cassinae. Sie waren hungrig und müde. Hätten sie gewußt, was dieser Abend und diese Nacht ihnen bringen würde, hätten sie sich bis an die Zähne bewaffnet und beim geringsten Verdacht um sich gefeuert. Aber niemand sagte es ihnen. Eine Stunde später kam das braunhaarige Mädchen zu ihnen herauf. »Ich bin Ulrike«, sagte sie. »Sehr angenehm«, erwiderte Hasso. Er ordnete sorgfältig hinter ihr das dünne, weiße Moskitonetz. Daß er den gesamten Raum vor einigen Minuten mit Insektizid eingesprüht hatte, verschwieg er. Um den Geruch zu vertreiben, hatte Cliff sein ge-
samtes Rasierwasser gegen die Wände und auf die Bodenmatten geschüttet. Es roch wie in der Fabrikationshalle eines Parfümherstellers. * Cliff war nur noch mit einer leichten Leinenhose und einem kurzärmeligen Hemd bekleidet. Der Rest seiner Kleidung stand und hing ordentlich aufgeräumt in einem Winkel der Behausung. Das Mädchen setzte sich zwischen die beiden Männer und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Plastikwand. Vor ihr, auf der nunmehr sauberen Matte, stand ein Tablett mit Früchten, mit ausgehöhlten Nüssen voller Saft und einige Fleischstücke. »Wir begrüßen Sie, Ulrike«, meinte Cliff. »Danke, daß Sie gekommen sind und uns etwas zu essen gebracht haben. Ahnen Sie, weswegen wir hier sind?« Die Unbefangenheit dieses Mädchens irritierte ihn; normalerweise hatten Außenseiter der Gesellschaft stets das erbittert vorgetragene Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, und sei es mit den ausgefallensten Motivierungen. »Um neue Bewohner von Port Nirwana zu werden«, sagte sie. Hasso schüttelte den Kopf. Er spielte auffallend nervös mit dem Armbandfunkgerät. »Keineswegs«, sagte er. »Leider nicht.« »Dem ließe sich abhelfen«, sagte Ulrike heiter. »Warum sind Sie hier?« Cliff nahm eine der Früchte und schälte sie sorgfältig.
»Ohne Sie im geringsten treffen zu wollen«, begann er wohlüberlegt zu sprechen, »ist es richtig, daß hier rund hundertdreißig Terraner leben und keinerlei Lust haben, wieder zurückzukehren?« Ulrike sagte lachend: »Das ist richtig, Raumfahrer. Halten Sie es für falsch?« Cliff betrachtete ruhig und sorgfältig abschätzend das Gesicht und das Mienenspiel des Mädchens. Sie war völlig gelöst und selbstsicher. Offensichtlich schien die Beschäftigung mit dem Libellen-Rauschgift einige psychische Veränderungen auch auf diesem Sektor hervorzurufen. »Nicht richtig für mich«, sagte er. »Was einschließt, daß es für Sie durchaus richtig sein kann. Haben Sie verstanden, was ich meinte?« »Ich denke schon«, sagte Ulrike. »Meine – unsere – intellektuellen Fähigkeiten haben nicht gelitten.« »Diese Feststellung kommt unserem Vorhaben sehr entgegen«, meinte Sigbjörnson, »Sie werden hier von Terra vollkommen fair toleriert. Richtig?« Ulrike nickte schweigend. Hasso fragte weiter: »Wie würde es Sie und die anderen hier treffen, wenn der Planet Terra von innen heraus vernichtet würde?« Sie sah Hasso erschrocken an. »Unsere Angehörigen ... unser terranischer Besitz ... und die gesamten Kulturgüter. Es wäre furchtbar!« »Ausgezeichnet!« stellte Cliff fest. Die Dunkelheit war herabgesunken: die Bucht und die Pfahlbauten lagen bis auf wenige Ausnahmen in tiefer Dunkelheit. Irgendwo spielte jemand auf einer Oboe oder einem Fagott. Zwischen den drei Personen
brannte eine Lampe, und sämtliche Öffnungen des Raumes ließen ungehindert frische Luft herein. Aber vor jeder Öffnung hingen die dichten Schleier der Moskitonetze. Ulrike drehte den Kopf und sah Cliff entsetzt an. Sie stieß hervor: »Ausgezeichnet? Das finde ich merkwürdig.« Cliff wehrte lächelnd ab. »Ich finde es ausgezeichnet«, erklärte er ruhig, »daß Sie unserer Meinung sind. Folgendes ist geschehen: Jemand hat von diesem Planeten hier eine Libellenart eingeführt, nämlich Megaloprepus coerulatus cassinae. Diese Libellen haben sich, unbeaufsichtigt und wohl auch gezüchtet, ungeheuer schnell verbreitet Sie beißen die Menschen, und jeder Gebissene ist für vier Tage unbrauchbar geworden und mit einiger Sicherheit auch echt süchtig. Wir haben, als wir starteten, einen Planeten verlassen, der in den ersten Atemzügen eines langen Schlafes liegt. Was sagen Sie dazu?« Ulrike überlegte eine Weile, dann sagte sie leise und stoßweise: »Es muß jemand aus der Gruppe gewesen sein, die Port Nirwana freiwillig verlassen haben. Das, was Sie andeuteten, ist furchtbar, Raumfahrer.« Cliff sah sie an; eine Antwort erübrigte sich in diesem Fall. Schließlich fragte das braunhaarige Mädchen: »Was ist Ihr Problem?« Hasso murmelte: »Wir müssen versuchen, die Erde z u retten. Wir haben eine Serie von wichtigen Fragen an Sie, Ulrike.« »Bitte.« Cliff bog mit dem Zeigefinger der Rechten den linken Daumen zurück und sagte:
»Erstens: Sie alle hier leben mit diesem Rauschgift. Wie leben Sie?« »Angenehm und träumend«, erklärte das Mädchen und schüttelte ihr Haar auf die Schultern zurück. Zwischen den Blüten schien sich etwas zu bewegen. »Aber wir sind nicht süchtig. Wir können jederzeit anfangen und jederzeit aufhören.« »Interessant«, sagte der Kommandant. »Jederzeit? Ohne Störungen?« »Ja.« Hasso schränkte ein: »Wir haben das Problem, wie wir die Ausbreitung der Sucht stoppen können. Wir wollen auf keinen Fall die Erde mit Terror überziehen. Meine Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die Verbreitung der Rauschgiftsucht aufzuhalten?« »Die Libellen sind harmlose Tiere.« »Das sagt Villa auch«, murmelte Hasso. »Seien Sie nicht so sarkastisch«, meinte das Mädchen. »Die Libellen jagen und fressen Insekten. Sie brauchen aber zur Verdauung gewisse Bestandteile tierischen oder menschlichen Blutes. Sie beißen also Tiere oder Menschen, und durch den Biß wird die traumerzeugende Substanz in den menschlichen Kreislauf eingeschleust. So entsteht der Rausch. Er dauert in der Regel zwei Tage lang.« Cliff sagte: »Das wissen wir bereits. Wir untersuchen soeben in zwei unabhängigen Gruppen die Substanz, die den Rausch erzeugt. Aber wie schaffen Sie es hier, wieder aufzuhören?« »Wir haben für diesen Zweck besondere Pflanzen gefunden.«
Hasso flüsterte begeistert: »Das ist ja phantastisch!« »So phantastisch ist es auch wieder nicht«, sagte das Mädchen. »Diese Früchte wachsen nur hier. Und sie müssen frisch sein, denn wir pflücken sie direkt von den Sträuchern.« Cliff setzte sich auf. Dies war die Lösung – mit Hindernissen ... »Wie funktioniert das?« »Auf zwei Arten«, sagte Ulrike leichthin. »Wenn wir jeden Tag etwas davon essen, dann können uns die Libellen beißen, sooft sie wollen. Sie merken es übrigens selbst und stechen, beziehungsweise beißen nur aus Versehen.« Hasso Sigbjörnson klemmte das Funkgerät auf sein Handgelenk und schaltete es ein und wieder aus. »Und die zweite Möglichkeit?« fragte er. »Wir bitten jemanden, uns einige Tropfen von dem Saft dieser Frucht einzuflößen. Wir sind dann sofort wieder klar.« Cliff schnippte mit den Fingern. »Tadellos«, sagte er. »Ich hatte nicht im Traum gehofft, daß wir so schnell vorwärtskommen würden.« »Halt!« sagte das Mädchen. »Sie sind überhaupt nicht vorwärtsgekommen. Das, was Sie hier erfahren haben, gilt für Cassina. Es gilt nicht für die Erde.« Hasso schaltete das Funkgerät ein und sagte: »Hier ist Hasso. Bitte startet morgen bei Sonnenaufgang und landet auf der Anhöhe östlich der Bucht.« Shubashi hatte Funkwache und erwiderte hastig: »Gefahr?« »Im Gegenteil«, erwiderte Hasso. »Lösungsmög-
lichkeit. Bringe Arlene und Gant Macauley mit. Ein Landekreis aus schwarzer Asche ist markiert.« »Verstanden. Sonst noch etwas?« »Nein«, sagte Sigbjörnson, »alles in Ordnung. Wenigstens im Augenblick. Ende.« »Ende.« Die ununterbrochenen Tonfolgen aus dem hölzernen Blasinstrument waren noch immer zu hören. Sie illustrierten akustisch die paradiesisch freie und unschuldige Lebensart dieser Bucht. Das Mädchen trug ihre spärliche Kleidung mit derselben Menge an Charme und Selbstverständlichkeit, mit der sie einst ein Abendkleid, eine Technikerinnenuniform oder einen Bikini getragen hatte. Die Grenzen zum absoluten Leben in der Natur waren verwischt, aber auf keine unangenehme Weise. Cliff glaubte fast wörtlich, was Ulrike erklärt hatte, und das brachte ihn zu folgender Frage: »Die Früchte müssen frisch sein?« »Ja«, sagte Ulrike. »Wir haben natürlich empirische Versuche gemacht, wobei wir nicht systematisch, sondern vollkommen zufällig vorgegangen sind. Spätestens eine Stunde, nachdem die Früchte von den Ästen abgebrochen worden sind, ist die Wirkung dahin. Wir gehen einfach in den Wald und holen uns etwas.« »Wie Adam und Evelyne«, murmelte Cliff. »Idyllisch. Was tun wir?« »Keine Ahnung!« sagte Hasso. Ulrike zuckte die hübschen, nackten Schultern und meinte: »Sicher werden Sie einige Tage lang hier bleiben und uns zusehen. Bleiben Sie unsere Gäste! Wir zei-
gen Ihnen alles, was wir haben, wie wir es machen. Vielleicht wollen Sie auch einmal träumen?« »Das tun wir fast jede Nacht«, versicherte der Bordingenieur. »Aber wir bringen unsere Träume selbst mit.« Er gähnte provozierend laut und entschuldigte sich. »Ja«, sagte Cliff. »es ist spät geworden, aber Sie haben den Tag gerettet. Wir werden uns morgen sehen und alles noch einmal besprechen. Dann werden Sie uns auch die bewußten Früchte zeigen?« Ulrike stand auf und deutete auf das Tablett. »Ja, gern. Und wenn Sie Hunger oder Durst haben sollten – ich habe alles frisch für Sie gepflückt.« Cliff schob das Moskitonetz zurück und machte Anstalten, das Mädchen die Leiter hinunterzubegleiten. Sie lachte und wehrte ab. »Nein, danke«, sagte sie. »Wir sind hier alle voll emanzipiert. Wir brauchen keinerlei Assistenz von Männern, um eine Leiter hinunterzusteigen.« Cliff sagte höflich: »Ein paradiesischer Zustand, fürwahr!« »Richtig. Nichts anderes wollen wir.« Cliff blickte ihr nach, wie sie langsam die Leiter hinunterstieg und neben dem Raguer stehenblieb. Er blickte sie mit treuen, seelenvollen Augen an und spielte den exotischen Bernhardiner sehr gekonnt. Schließlich, als sich das Mädchen über den Platz entfernt hatte, kletterte Prac'h Glanskis gewandt die Leiter hoch, die unter seinem Gewicht zu ächzen begann. »Ein geruhsames Dörfchen«, stellte der Raguer fest. »Und voller Libellen. Sie jagen jetzt wie rasend. Einige haben mich gebissen!«
»Träumst du?« »Nein, Hasso«, sagte Glanskis ernst. »Meine Haut ist zu dick; sie haben sich die Mandibeln verbogen. Außerdem glaube ich, daß mein Blutkreislauf anders geartet ist. Jedenfalls habe ich nichts gemerkt.« »Gut«, sagte Hasso. »Ich bin dafür, daß wir jetzt schlafen. Wir hatten einen sehr schweren Tag, und morgen liegt ein noch härterer, wichtigerer Tag vor uns.« Cliff streckte sich aus. »Verdammt«, sagte er leise, »das hörte sich so leicht an. Und jetzt erfahren wir, daß nur Frischobst so ungemein gesund ist. Nun ... warten wir ab.« Er schloß die Augen. Ziemlich müde, merkte er undeutlich, wie sich der Raguer quer über die ›Türschwelle‹ legte. Hasso schaltete die Lampe aus. Das Zirpen einiger Insekten, das Schwirren der Flügel einiger Nachtvögel und andere, verschwommene Geräusche kamen aus dem Dschungel. Cliff spürte, wie die Müdigkeit ihn überwältigte. Und bevor er einschlief, zuckte er zusammen, rührte sich aber nicht mehr. Eine Libelle hatte ihn nahe der Halsschlagader gebissen. Das Insekt war in der Blüte verborgen gewesen; irgendwann hatte sie den Haarschmuck verlassen und sich an das Dach der Hütte geheftet. Und in der Dunkelheit sickerte durch die winzigen Wunden ein Sekret in den Blutkreislauf des Kommandanten hinein. Es waren nur Tausendstel Gramm, eine fast nicht mehr meßbare Menge ... Augenblicklich verteilte sich die Flüssigkeit, wurde vom Kreislauf durch den gesamten Körper ge-
schwemmt und erreichte das Gehirn. Die Träume begannen augenblicklich. Sie waren lebhaft, farbig und ungeheuer plastisch. Sie unterschieden sich von den Träumen, die Menschen seit Jahrtausenden träumten, durch eine wichtige Variante. Es trat kein Bewegungsdrang auf. Derjenige, der in den künstlichen Träumen befangen war, blieb nahezu bewegungslos liegen. Die Träume dauerten nicht mehr Sekunden oder Sekundenbruchteile, sondern schlichen geradezu dahin. Sie vermochten in gewisser Weise die Zeit zu dehnen. Cliff lag da und träumte. * Für den Mann, der hier lag und träumte, verwandelten sich die letzten Informationen, die in seinen Erinnerungen festgehalten waren. Sie entsprachen einer vorhandenen Umgebung, einem genauen Bild. Dieses Bild wurde idealisiert. Idealisiert? Hoffnungslos übertrieben! Der letzte Eindruck: die Hütte am Ende der Pfähle. Sie wandelte sich in einen Palast; zwar in einen kleinen Palast, aber in ein Bauwerk, in dem sämtliche Köstlichkeiten der Architektur, des Komforts und der Wohnkultur vereinigt waren. Der Traum zeigte die Details in perfekter Genauigkeit. Fabelhafte, wertvolle Tapeten. Möbel, die in Farbe, Form und Strukturen das Erlesenste waren, das die menschliche Phantasie hervorzubringen imstande war, beflügelt durch das Sekret aus den Kieferdrüsen der Libellen.
Die Grenzen der Phantasie wurden nur geringfügig erweitert; sämtliche Eindrücke, die das Hirn Cliffs jemals empfangen hatte, wurden aktiviert. Sie summierten sich, und sein eigener Geschmack war hier die deutliche Grenze. Er erlebte die Hütte, in der er mit Hasso und Prac'h schlief, in den größtmöglichen Dimensionen und als Gebilde einer Traumwelt. Er entschloß sich in seinem Traum, die zu verlassen und den Ort zu erforschen. Das Bild änderte sich langsam ... bereits eine Stunde war vergangen. Auch in der objektiv meßbaren Wirklichkeit vergingen sechzig Minuten bis zu diesem Punkt des Traumes. Cliff spürte weder Hunger noch Durst, weder Müdigkeit noch Hitze. Er ging die Leiter hinunter, um den Strand zu erreichen. Die Leiter verwandelte sich ebenfalls. Aus leichtmetallenen Sprossen und stählernen Röhren wurde eine Treppe aus weißem Marmor, kühn, geschwungen und lang. Die Stufen und das Geländer waren Kunstwerke der Steinmetzarbeit und hatten nicht ihresgleichen auf Terra oder auf den Planeten der Dara. Langsam schritt Cliff diese Freitreppe hinunter und befand sich auf der Ebene eines Strandes, der alles Schöne in sich vereinigte, das Cliff in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Es war der weichste und goldenste Sand ... Die schönsten Wellen, das Wasser von einem Blau, das nicht mehr wiederzugeben war ... Die Boote am Strand: Schiffchen, zusammengesetzt aus Schönheit und Weiß, aus Gedanken und Meisterschaft. Realität und Phantasie vereinigten sich, schoben sich übereinander. Cliff wanderte zwei Tage lang durch eine Traumwelt,
die mit Gestalten aus seiner Phantasie bevölkert war. Diese Gestalten wiederum setzten sich aus Wünschen und aus Bildern zusammen; eine fast wirkliche und von Lauten, Gerüchen und Farben erfüllte Salvador-Dali-Welt umgab den Kommandanten. Achtundvierzig Stunden lang. Er bekam Hunger und aß. Schöne Mädchen brachten ihm Delikatessen auf wertvollen Schalen und in überirdisch schönen Schüsseln. Er bekam Durst und trank. Erlesene Weine und Sekte, schärfere Alkoholika wurden serviert. Cliff liebte und wurde geliebt, und sämtliche Abenteuer, die er erlebte, hingen zusammen wie eine endlose Kette aus Gold. Alles, was er sich je in seinem Leben vorgestellt hatte, wurde in diesem Traum aktiviert. Er sah Dinge, die er schon immer sehen wollte. Er sah sie, weil er sie sehen wollte, und dort, wo seine Erinnerung an einige flüchtige Eindrücke nicht mehr ausreichte, ersetzte die Phantasie die Bilder und Aktionen und deren Teile zu einem wunderschönen Ganzen. Stunden um Stunden vergingen. Cliff wußte, während er ging oder getragen wurde, während er fuhr oder schwamm, daß er träumte. Er konnte innerhalb gewisser Grenzen diesen Traum auch steuern. Er dachte einmal, als er im warmen Sand einer winzigen, nur für ihn erschlossenen Bucht lag, darüber nach: Er konnte den Traum jede Sekunde unterbrechen. Aber er wollte nicht. Hier war er frei, hier steuerten ihn keine Sachzwänge, hier konnte er tun, was er wollte, und selbst totaler Unsinn wurde sinnvoll und konstruktiv. Cliff versuchte einen Ausflug in den Raum hinaus, in den bekannten Weltraum,
und er fand heraus, daß dieser Raum sich ihm bisher verborgen hatte. Er erlebte einen veränderten Weltraum voller Strukturen, die er niemals gekannt hatte – jetzt aber sehr genau identifizieren und benennen konnte. Eine Wohltat, Raumfahrer zu werden. Weitere Stunden vergingen ... Er wanderte weiter durch diese Landschaft, die farbig war und voller Verlockungen des Körpers und des Geistes. Und er machte die Feststellung, daß die Farben langsam verblichen und die Formen ihre Beständigkeit nicht mehr halten konnten. Er wußte, daß dies der Abschied war. Die neue Welt, die er betreten hatte, bedeutete ihm er solle jetzt gehen und sich erholen, sollte sich wieder in die Wirklichkeit zurückbegeben und dort prüfen, was besser sei. Dann würde diese Landschaft ihn wieder aufnehmen, denn sie war sicher, daß er wiederkam. Cliff ging. Er ging den Weg zurück, den er gekommen war. Schließlich, nachdem er die oberste Sprosse der Leiter – für ihn natürlich eine Freitreppe aus weißem, verschwimmendem Marmor wie dickem Nebel – erreicht hatte, verblaßten die letzten Farben. Er erwachte. Er drehte sich herum und sah das rote Licht einer untergehenden Sonne, die durch den freien Raum zwischen vier glattgehobelten Brettern schien. Er war allein, und er drehte sich noch einmal herum. Er spürte bei jeder Bewegung, wie schlaff und matt er war. »Hasso!« Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. Keine Antwort. »Hasso! Atan! Glanskis!«
Er wartete vergeblich. Niemand kam. Er fühlte sich, als sei er achtundvierzig Stunden langsam gelaufen, ohne Pause und ohne Verpflegung ... und genau das war es. Cliff Allistair McLane lag da, unfähig, sich zu bewegen, und er war vollkommen seinen furchtbaren Gedanken ausgeliefert. Diese Gedanken aber zielten deutlich in zwei Richtungen. Ein Teil von ihm wollte wieder zurück in jene Welt, an deren Bestandteile er sich sehr genau erinnerte. Der andere Teil bekämpfte diese Einstellung; er sagte aus, daß Cliff genau das erlebt hatte, was viele Bewohner der Erde auch erlebten. Eine Wiederholung dieses rauschhaften Traumes war so gefährlich, daß sie für Cliff einem Todesurteil nahekam. Cliff bewegte unruhig und hilflos den Kopf und rief: »Hasso!« Erst nach einigen Minuten bewegte sich etwas außerhalb seines Blickfeldes. Er hob mit unmenschlicher Anstrengung den Kopf und sah, daß es das Mädchen Ulrike war, das die Leiter heraufgeklettert war und jetzt vor ihm stand. »Es tut mir leid«, sagte sie.
6 Sechs Stunden, nachdem Hasso, Cliff und der Raguer eingeschlafen waren, wimmelte es in Port Nirwana sozusagen von Terranern, beziehungsweise genauer: von Raumfahrern und Wissenschaftlern. Atan landete oberhalb der Bucht, und mit ihm kamen Helga und Arlene und Mario de Monti. Die drei Personen beluden sich mit den Ausrüstungsgegenständen, ließen die andere Hälfte am Rand des kleinen Wäldchens stehen und stiegen über den Hang hinunter, in den kaum zu übersehenden Spuren des Wagens. Sie erreichten die Bucht, traten auf den Platz hinaus und suchten nach McLane und Hasso. Vor einer halben Stunde war die Sonne aufgegangen. »Als ob alles verlassen sei«, murmelte Arlene. »Ich bin sehr gespannt darauf, was Cliff herausgefunden hat.« »Ich nicht minder«, erwiderte Helga. Eine Bewegung lenkte sie ab. Der Raguer hatte die wehenden Schleier der Moskitonetze zurückgeschlagen und stand hochaufgerichtet über der Brüstung. Er winkte mit beiden Vorderpranken. »Dort oben sind sie«, sagte Mario. »Hinauf?« »Natürlich!« erwiderte die Funkerin. Sie hatten schlechte Nachrichten. Das Funkgespräch der vergangenen Nacht hatte die Klärung einiger Vermutungen gebracht. Auf der Erde breitete sich die Sucht aus. Die Epidemie der Träume wälzte sich über die Erde wie eine Flutwelle. Trotz erbitterter Abwehr schien der Nachschub von Libellen ungeheuer groß zu sein. Jeder, der nicht in den Träumen
befangen war, und jeder einzelne Beamte machte Jagd auf Libellen, und unzählige der Tiere mit den kräftigen Farben und den auffallenden Ringen am Hinterleib starben. Aber trotzdem nahm die Zahl der Träumer zu – und die Anzahl derjenigen, die mit allen Mitteln versuchten, sich einen zweiten und dritten und viele folgende Träume zu verschaffen stieg langsam, aber mit einer tödlich erscheinenden Sicherheit. Die Kliniken, Lazarette und Krankenhäuser waren überfüllt. Das medizinische Personal war hoffnungslos überfordert. Die »Schakale« machten unerwartete Geschäfte. Und die GSD-Leute nahmen laufend Verhaftungen vor, räucherten Zuchtstationen für Libellen aus und vernichteten Millionen von Eiern und Larven. Dennoch ... die Erde schlief und träumte. Die große Stunde der Komputer und der Roboter kam. Überall dort, wo Menschen jede Art von Anlagen überwachten, wurden sie durch Robotmechanismen oder Regeltechnik ersetzt. Aber auch dazu brauchte man Fachleute, und diese Techniker schliefen ebenfalls und träumten. Diese Situation hatte sich jetzt, elf Tage nach Cliffs Start mit der ORION, eingestellt. Es sah schlimm aus – sehr schlimm ... Während sie langsam auf die Treppe zwischen den Pfahlbauten zugingen, registrierten sie, daß in Port Nirwana alles schlief. Der Raguer turnte gewandt die Leiter herunter und kam in einem langsamen Trott auf die beiden Mädchen und den Chefingenieur zu. Er blieb dicht vor ih-
nen stehen und sagte leise: »Ich gelte hier als Hund. Klar? Ihr bleibt am besten irgendwo hier am Ufer und stellt eure Zelte auf.« »Warum?« fragte Helga erstaunt. »Weil sich einiges geändert hat. Unsere Freunde schlafen noch fest. Es gibt hier eine Frucht, die den Rausch schlagartig beseitigt.« Mario ließ das Gepäck fallen und sagte verblüfft: »Ich muß mich verhört haben. Tatsächlich?« »Ja. Aber es ist etwas komplizierter, als wir zuerst dachten. Es ist ein Problem der Zeitspanne zwischen Pflückvorgang und Anwendung. Der heilende Fruchtsaft darf nicht älter als eine Stunde sein.« Helga winkelte den linken Arm an, schaltete das Funkgerät ein und sagte deutlich: »Hier Legrelle. Ich rufe Shubashi in der LANCET!« Atan meldete sich sofort. »Atan ... es ist wichtig. Wir werden versuchen, hier einen Teil des Strandes abräumen zu lassen, damit die LANCET landen kann. Wir haben das Gegenmittel. Aber es gibt eine lange Reihe wissenschaftlicher Probleme. Hole bitte Gant und seine besten Männer. Und jede Menge von Instrumenten. Klar?« Atan erwiderte: »Ich stehe bereits kurz vor der Landung, Helgamädchen!« »Ende.« Helga wandte sich an Mario und sagte entschlossen: »Dann also werden wir hierbleiben und tatsächlich hier einige Zelte aufschlagen. Ich kann mir aber vorstellen, daß die Einwohner von Port Nirwana damit nicht recht einverstanden sein werden.«
Sie stellten die Gepäckstücke ab, und Mario umfaßte die schmale Bucht mit den überhängenden Bäumen mit einem langen Blick. Wenn sie hier die Boote wegschoben, dort die Holzstapel wegräumten und den großen Stein hier sprengten, gab es einen tadellosen Landeplatz für die LANCET. »Das ist mir vollkommen gleichgültig«, sagte der Chefkybernetiker hart. »Es geht hier nicht um die Ruhe von einhundertdreißig Menschen, sondern um einen Planeten. Was hat es mit diesem Fruchtsaft auf sich, Prac'h?« Leise schilderte der Raguer, was sie erfahren hatten. Dann setzte er hinzu: »Hasso und Cliff schlafen noch. Merkwürdig – ich habe den Kommandanten noch nie so tief schlafen sehen. Als ob er ... bei allen Sonnen! Arlene – komm mit!« Arlene und Helga warfen sich einen verständnisvollen Blick zu, dann begriffen sie langsam. Arlene fragte stockend: »Träumt er etwa?« Der Raguer bewegte seinen runden Raubtierschädel. »Ich glaube es, bin aber nicht sicher. Komm, wir gehen zurück in die Pfahlhütte!« Er sprang in großen Sätzen davon, und das dunkelhäutige Mädchen folgte ihm. Atemlos kam sie am Ende der Leiter an und kletterte daran hoch. Sie sah keine Libellen, aber irgendwie wurde sie von einer dunklen Furcht beherrscht. Wenn die Träume schon in die Mannschaft einzudringen vermochten, dann schien das gesamte Unternehmen aufs höchste gefährdet zu sein.
Der Raguer sprang durch den Eingang. Hinter ihm tauchte das Mädchen auf. Die ersten Geräusche der Siedlung waren zu hören. Die Menschen in Port Nirwana erwachten. Licht fiel durch die Türöffnungen, und in dieser Helligkeit erkannte Arlene die regungslosen Gestalten von Hasso und Cliff. Prac'h schlich auf Hasso zu, ließ die menschlichen Finger zwischen den Tatzen hervorschnellen und rüttelte am Oberkörper des Bordingenieurs. »He«, sagte Glanskis. »Aufwachen! Das Frühstück ist fertig!« Hasso bewegte sich unruhig, öffnete die Augen und setzte sich auf. Arlene kauerte sich auf die Matte neben Cliff nieder und hielt dem Kommandanten die Nase zu. Cliff warf den Kopf hin und her, bewegte unschlüssig die Hand und sagte lallend: »Laß mich schlafen. Ich träume ...« Arlene schüttelte ihn voller Verzweiflung. »Cliff! Wache auf! Wir brauchen dich!« Cliff öffnete die Augen für eine Sekunde, sah Arlene an, ohne sie zu erkennen, und murmelte schläfrig: »Du bist nicht in meiner Welt. Geh! Ich träume ...« Arlene setzte sich verblüfft hin und hob Cliffs Arm auf. Sie suchte nach den beiden charakteristischen Einstichen der Libellenmandibeln und fand sie schließlich nach einigen Minuten an Cliffs Hals. Hasso stand bereits auf den Beinen und trank einen riesigen Schluck heißen Kaffees aus der Thermosanlage seines Gepäcks. Er kam langsam näher und fragte leise: »Er schläft?« »Ja«, sagte Arlene und drehte Cliffs Kopf herum, so daß Hasso den Biß am Hals sehen konnte. »Unser Kommandant wurde von einer Libelle gebissen und
träumt. Er ist für die nächsten sechsundneunzig Stunden ausgeschaltet – und es ist fraglich, ob er nicht anschließend die typischen Merkmale eines Süchtigen zeigt.« Hasso starrte schweigend und bewegungslos auf Cliff hinunter. »Vielleicht kann ihm Ulrike helfen«, sagte er. »Wir haben scharf aufgepaßt. Hier kam keine Libelle herein.« »Offensichtlich fand eines dieser lieben Tierchen die Möglichkeit«, sagte der Raguer und deutete auf die geflochtene Decke über Cliff. »Dort sitzt eine Libelle!« sagte Arlene. Sie zog die Gasdruckwaffe aus der Tasche, zielte sorgfältig und gab zuerst auf, als sie merkte, daß sie nicht treffen würde. Dann packte sie ihr rechtes Handgelenk mit der linken Hand und drückte dreimal den Auslöser. Drei Nadeln zerfetzten den Körper der Libelle, und noch während die Reste zu Boden fielen, verblichen die intensiven Farben und die breiten, silbernen Ringe des Tieres. »Ulrike hat diese Libelle mit hereingebracht«, stellte der Raguer fest. »Sie hatte nur eine Möglichkeit dazu.« Hasso runzelte die Stirn und fragte unruhig: »Wie?« »Ihr Haar, du Pfadfinder!« gab Glanskis zurück. »In ihrer Kleidung bestand keine Möglichkeit dazu. Sie brachte das Insekt mit den Blüten in ihrem Haar mit. Ich frage mich nur, ob bewußt oder unbewußt. Das wird zu klären sein.« Arlene behielt die Waffe in der Hand und sagte kalt:
»Und zwar in sehr kurzer Zeit. Wo wohnt diese Dame Ulrike?« »Reiche mir die Hand, Schönste«, sagte Prac'h. »Ich führe dich zu ihr.« »In schneller Gangart, bitte.« Arlene nickte Hasso zu und sagte noch: »Bitte, kümmere dich um Cliff. Ich werde versuchen, hier die Lage etwas zu klären.« »Geht in Ordnung«, erwiderte Sigbjörnson, aber er sah im Augenblick auch keine Möglichkeit, dem Kommandanten zu helfen. Seit sechs oder sieben Stunden schlief und träumte Cliff, und die Träume würden noch rund vierzig Stunden andauern. Wenn nicht der Saft jener merkwürdigen Frucht Cliff helfen konnte. Hasso zog sich langsam an und ging dann bis zum Eingang der Pfahlbauhütte, um zuzusehen, wie Helga und Mario den zweiten Teil des Gepäcks anschleppten und darangingen, einen Teil des Strandes zu säubern. Zwischen der Flutmarke und den mächtigen Ästen eines uralten Baumes war noch genügend Platz. Hasso sah, wie Arlene am Fuß der Leiter auf den breiten Rücken von Glanskis kletterte. Dieses erstaunliche Wesen trabte los und wurde schneller. Es rannte mit Arlene auf dem Rücken an den erstaunten Mitgliedern der Besatzung und am Gepäck vorbei und erreichte die andere Ecke der Bucht. Dort, neben einer etwas breiteren Leiter, hielt Glanskis an. Arlene stieg ab. Ihre Bewegungen drückten, selbst aus dieser Entfernung deutlich sichtbar, ihre Entschlossenheit aus. Sie kletterte langsam die Leiter hoch und war wenige
Zeit später im Eingang verschwunden. Hasso drehte sich um und betrachtete seinen schlafenden Kommandanten. »Verdammt!« sagte er. »Es wird Zeit, daß dieses Experimentieren aufhört. Wir brauchen Ergebnisse. Wenn Cliff erfährt, was der Funkspruch ergeben hat, wird er wesentlich schlechter träumen.« So war es. Hasso ordnete vorsichtig die Vorhänge der Moskitonetze neu, befestigte einige Ecken und verließ dann mit seinem gesamten Gepäck und einem Teil von Cliffs Ausrüstung den Raum. Nachdem er auch hinter sich das Netz sorgfältig befestigt hatte, sah er sich lange um. Es waren keine Libellen in der Luft, er vermißte das lautlose Schwirren und Flimmern der fast durchsichtigen, geäderten Flügel. Kurze Zeit später stand er auf dem feuchten Sand zwischen Helga und Mario. »Es ist eingetreten, was wir befürchtet haben, ohne es auszusprechen«, sagte er leise. »Ein Besatzungsmitglied ist zum Opfer dieser Sucht geworden.« Mario sah schweigend zu, wie sich die Balkone und Terrassen, die zwischen den Enden der Leitern und vor den eigentlichen Gebäuden vorhanden waren, mit Menschen zu füllen begannen. Die jungen Mädchen und Männer sahen neugierig, aber keinesfalls aufgeregt zu den Terranern herunter. »Etwas gespenstisch, diese Ruhe«, sagte Helga. »Als ob sie alle Marionetten wären.« Mario sagte: »Sobald es wärmer wird, werden sie sicher munterer. Es ist auch noch ziemlich früh.« Sein Funkgerät summte auf. Mario meldete sich,
und Shubashis Stimme quäkte in der Ruhe des Morgens aus dem Lautsprecher. »Ich werde in wenigen Minuten landen. Habt ihr einen Platz geschaffen?« Mario erwiderte schnell: »Noch nicht, aber sofort fangen wir an. Richte dich auf einige weitere Flüge ein. Es verspricht, dramatisch zu werden.« »Verstanden.« Jetzt waren sie unruhig geworden. Die bevorstehende wissenschaftliche Auseinandersetzung konnte über das Schicksal des Planeten entscheiden. Vielleicht hatten Gant Macauley und seine Männer eine andere Richtung herausgefunden, eine andere Möglichkeit, die Sucht anzuhalten oder gar auszuschalten. Vielleicht ... es gab zu viele unsichere Momente in der gesamten Aktion. Die Zeit drängte unerbittlich, denn jede Stunde, die sie hier verbrachten, schadete der Erde mehr, als man sich vorstellen konnte. »Los«, sagte Hasso. »An die Arbeit.« Sie schoben die kleinen Boote ins Wasser zurück. Die Flutmarke war inzwischen erreicht worden; das Wasser würde in den nächsten Stunden wieder zurückgehen. Dann zogen und schoben sie die hölzernen Schalen um dreißig Meter weiter nach Norden und belegten die Haltetaue wieder. Masten und Rahen, Bretter und Steine wurden zur Seite geschafft. Die Gepäckstücke wurden in den Schatten des Baumes getragen, und Mario verwandelte mit einigen gezielten Schüssen aus der HM 4 den großen Stein in eine Masse kochender Gase. Dann war ein freier Raum von ungefähr zwanzig Meter Durchmesser geschaffen worden, und die
LANCET schwebte ein. Atan hatte einige Minuten in der Luft gewartet und den Aufenthalt zu einem kleinen Erkundungsflug benutzt. Gant Macauley und drei Männer seines Teams kletterten ins Freie. Atan stellte die Maschinen ab und kam ebenfalls heraus. »Was ist los?« fragte er. Hasso Sigbjörnson übernahm es, den Professor und alle übrigen genau aufzuklären. Er schilderte ihnen, was geschehen war, und gab das Gespräch zwischen ihnen und dem Mädchen mit den Blüten im Haar wieder. Schließlich, als sämtliche Unklarheiten beseitigt waren, sagte der Professor: »Ich kann Ihnen auch eine gute Nachricht geben.« Alle starrten ihn schweigend und voll gespannter Erwartung an. »Ich habe herausgefunden, daß wir eine sehr gute Chance haben, die Weibchen der Libellen zu verändern. Wir können genetisch die Anlage der Libellen verändern. Sie werden dann ein um achthundert Prozent geringeres Konzentrat entwickeln.« Einer der Männer erklärte: »Wir verändern die Erbanlagen. Die Libellen vererben die Veränderung rein weiter; es ist eine echte Mutation. Die Substanz, weitreichend mit LSD verwandt, wird dann schwächer. Jemand, der gebissen wird, kann dann selbst aus seinem Traum aussteigen, wann immer er es will.« Hasso erkundigte sich: »Der entscheidende Punkt hierbei ist, daß erst einmal sämtliche Libellenweibchen der jetzigen Genera-
tion aussterben müssen. Das aber dauert rund ein Jahr. Ist das wissenschaftlich korrekt?« Gant nickte und machte ein bekümmertes Gesicht. »Ja, leider.« Dann schwiegen sie und hörten zu, wie sich am anderen Ende der geschwungenen Bucht Arlene und Ulrike stritten. Sie taten dies mit einem ziemlich großen Aufwand an Sarkasmus und Lautstärke. * Arlene blieb vor dem Vorhang aus vielen ausgehöhlten und gefärbten Holzstückchen stehen, lauschte einige Sekunden lang auf eventuelle Geräusche und schlug dann mit einer entschlossenen Handbewegung den Vorhang zurück. Sie trat mit zwei großen Schritten in einen Raum hinein, der von einem milden Dämmerlicht erfüllt war. Sämtliche Fenster waren mit einem gelben Gespinst aus Pflanzenfasern verkleidet. Der Raum war bis auf einige Matten, kleine Kisten und Gestelle aus Holz leer. In der Mitte befand sich ein Lattenrost, der mit einigen Fellen abgedeckt war. Darauf lagen bunte, handverzierte Decken aus terranischer Produktion, ausnahmslos in schreienden Farben und etwas schmutzig. Auf diesen Decken lag, schlafend, ein schlankes Mädchen mit langem, dunkelbraunem Haar. Zwei große Libellen krochen auf der gelben Decke herum und putzten sich unaufhörlich. »Guten Morgen, gnädiges Fräulein!« sagte Arlene. Das Mädchen bewegte sich leicht. Arlene machte
drei weitere Schritte, trat die Libellen von der Decke und zerstampfte die Insekten wütend mit dem Absatz. Sie schienen ermattet zu sein; jedenfalls hatten sich ihre Flügel kaum bewegt. »Schalten Sie Ihren Traum ab, Bürgermeister!« sagte Arlene lauter und schärfer. Wieder bewegte sich Ulrike. Sie tastete um sich, stieß einen Korb mit kleinen, gelben Früchten um, die wie Mandarinen aussahen, in Form und Farbe gleich. Die suchende Hand erwischte eine der Früchte und führte sie zum Mund. Ulrike biß in die Frucht, der Saft lief über das Kinn und an den Seiten der Lippen herab. Arlene verzog das Gesicht. »Sie brauchen ziemlich lange, bis Sie in der Lage sind, eine Audienz zu geben, Bürgermeister Ulrike!« rief Arlene. Jetzt war sie schon ziemlich laut geworden, und in den Nachbarhütten schienen einige Schläfer aufzuwachen. Es störte sie nicht. Und wenn sie an Cliff dachte, der halb besinnungslos in einer fremden Welt gefangen war, dann begann es sie vor diesem Treiben zu ekeln. »Was wollen Sie?« fragte Ulrike endlich. Sie wischte sich mit dem Unteralm die Lippen ab und faßte ihr Haar im Nacken zusammen. »Eine Erklärung!« sagte Arlene. Sie merkte, daß ihre Waffe noch immer auf das Mädchen deutete. Langsam sicherte Arlene die Gasdruckpistole und schob sie wieder in die Schutzhülle zurück. Ulrike richtete sich jetzt auf und betrachtete Arlene schweigend und aufmerksam, mit einem fast klinischen Interesse, wie es schien. »Erklärung? Worüber?« fragte sie leise. Erbittert sagte Arlene:
»Sie haben gestern abend den beiden Raumfahrern einen Besuch abgestattet. Daran ist nichts Besonderes; schließlich haben Sie uns verraten, wie man diesen verdammten Traumwahnsinn abstellen kann.« Ulrike sagte, noch immer schläfrig und unter den letzten, verschwimmenden Eindrücken ihres eigenen nächtlichen Sucht-Traumes stehend: »Nicht ganz.« »Wie kann ich das verstehen, Sie Schläfrigste aller Bewohner von Port Nirwana?« Ulrike lächelte vage. »Sie wissen nicht, welche Frucht diesen Effekt hervorbringt.« »Das«, erwiderte Arlene entschlossen, »werde ich sicher in ganz kurzer Zeit in Erfahrung bringen. Notfalls scheue ich mich nicht, sehr nachdrücklich zu werden.« Ulrike zuckte die Schultern und erwiderte trocken: »Das glaube ich Ihnen ohne weiteres.« »Nicht zu Unrecht«, meinte Arlene. »Und bei dieser Gelegenheit versäumten Sie nicht, in Ihrem entzückenden Haar eine Libelle in das Quartier der Raumfahrer hineinzuschmuggeln. Die Folge davon war, daß der Kommandant begann, einen schönen, langen Traum zu träumen; Cliff wurde nämlich am Hals gebissen. Was haben Sie dazu zu sagen?« Ulrike zog die Nase kraus. »Sie sind an diesem Herrn persönlich interessiert, ja? Ich beneide Sie nicht darum!« »Das ist auch nicht Ihre Aufgabe!« schrie Arlene. »Weichen Sie mir nicht aus. Warum haben Sie diesen Zwischenfall provoziert?« »Ich hielt es für richtig«, sagte Ulrike. »Niemand
soll über unsere Träume urteilen, ehe er sie nicht kennt.« Arlene atmete tief ein und aus und versuchte, sich zu beherrschen. Mühsam sagte sie: »Ich muß auch niemanden ermorden, ehe ich ein moralisches Urteil über einen Mörder abgebe. Das ist Unsinn, und vor einer Stunde dachte ich noch, die Bewohner von Port Nirwana wären intelligent und hätten vielleicht sogar eine akzeptable Begründung dafür, daß sie sich hier in die Träume vergraben. Leider habe ich mich getäuscht – zumindest in Ihnen, Frau Bürgermeister!« Ulrike kam langsam und etwas schwankend auf die Beine. Mit Erstaunen registrierte Arlene, daß der Saft dieser kleinen, gelben Frucht tatsächlich in verblüffender Geschwindigkeit wirkte. »Sie sehen alles sehr vordergründig«, sagte Ulrike jetzt deutlicher und mit mehr Selbstbewußtsein. »Außerdem vereinfachen Sie alle Probleme. Was wollen Sie wirklich, liebste Freundin?« Arlene erwiderte wütend: »Sie gehen jetzt augenblicklich mit mir. Wir versuchen, mit Hilfe Ihrer bemerkenswerten Frucht unseren Kommandanten wieder in die normale Bezugswelt zurückzubringen. Und dann haben unsere Wissenschaftler einige Fragen an Sie.« Ulrike schob den Vorhang zur Seite und sah in den Sand der Bucht hinunter, wo inzwischen einige Bewohner dieses vergessenen Dörfchens um die Gruppe der Raumfahrer und Wissenschaftler herumstanden. Mario de Monti organisierte bereits mit gewohnter Perfektion den Aufbau einer kleinen Station, die aus Zelten und Sonnensegeln und sehr viel Mos-
kitonetzen bestand, alles wurde von einem Gerüst aus Plastikrohren gehalten. »Nichts gegen die Fragen, ich werde sie gern erschöpfend beantworten«, sagte Ulrike. »Aber ...?« fragte Arlene. »Ich kann Ihrem Kommandanten nicht helfen. Die Frucht wirkt nicht beim ersten Kontakt eines menschlichen Organismus mit dem Sekret der Libellen. Ich kann ihm den Saft der Gamonpflanze literweise einflößen. Das hätte höchstens zur Folge, daß sich seine Gesichtsfarbe etwas bessert, weil er mehr Vitamine aufgenommen hat.« Arlene zischte wütend: »Ist das wahr?« »Ja, natürlich. Warum sollte ich Sie anlügen?« »Ich glaube Ihnen bestenfalls jedes dritte Wort. Los, kommen Sie. Wir pflücken einige der Gamons, und ich versuche, Cliff wieder der Realität zurückzugeben.« »Also Ihnen zurückzugeben« sagte Ulrike mit heiterer Liebenswürdigkeit. »Das ist nicht die beste der Realitäten.« »Aber ich bin im Gegensatz zu einem Traum durchaus in der Lage, gewisse Wünsche zu erfüllen!« schrie Arlene. Sie begann, über sich wütend zu werden, weil sie sich zu ärgerlichen Reaktionen hinreißen ließ. »Soso«, sagte Ulrike. »Gehen wir in den Wald.« Sie sah Arlene nicht an, sondern begann, die Leiter hinunterzusteigen. Arlene folgte ihr. Das Mädchen schlang einen Knoten in das Haar, ging quer über die Lichtung und watete ins Wasser hinaus. Sie schwamm etwa fünf Minuten lang, wäh-
rend Arlene wütend am Ufer stand und wartete. Dann kam Ulrike zurück und schüttelte das Wasser aus dem langen Haar. »Ich kann den Tag nicht ohne gründliches Bad anfangen«, erklärte sie unbefangen. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht?« »Oh«, sagte Arlene. »Ich versuche es lieber mit Seife und Handtuch. Es ist kultureller, wissen Sie?« »Deswegen sind Sie so gescheit«, meinte Ulrike und ging zwischen zwei niedrigen Pfahlbauten in die grüne Dämmerung des Waldes hinein. Arlene folgte schweigend. Eine Viertelstunde später kamen die beiden Mädchen zurück und hatten ungefähr dreißig dieser Früchte bei sich. Sämtliche Taschen der Expeditionsjacke von Arlene waren prallvoll und standen weit ab. »Jetzt können Sie versuchen, Ihren Herzallerliebsten zu retten«, sagte Ulrike. »Und den Rest des Obstes geben Sie Ihrem Professor. Ich hatte eigentlich seine Mitarbeiter stets nach ihm beurteilt. Leider falsch. Er ist nämlich ein feiner, ruhiger Mensch.« Arlene drehte sich nicht um, rief aber über die Schulter zurück: »Deswegen hatte er auch so schnell Port Nirwana wieder verlassen, als er das erstemal hier war.« Sie wußte fast, was Ulrike antworten würde, und sie ärgerte sich, dieses Stichwort geliefert zu haben. »Inzwischen scheint er zurückgekommen zu sein, Ihr Chef«, sagte Ulrike und wendete sich anderen, morgendlichen Beschäftigungen zu. Aus dem Schilf am Ufer des kleinen, schmalen Baches stiegen die ersten Libellen auf und begannen mit der Jagd nach Insekten. Irgendwann am Tag würden sie versuchen,
sich Blut zu holen – dann würde die Jagd auch den Menschen gelten. »Verdammt!« sagte Arlene und blieb bei der Gruppe der terranischen Wissenschaftler stehen, die ihre Geräte aufstellten. »Merkwürdige Morgengrüße«, sagte einer der Bewohner. Arlene ging an ihm vorbei und packte drei Viertel der Früchte aus. Sie legte sie in einer Reihe auf einen klappbaren Labortisch. Gant Macauley kam hinzu und fragte leise: »Sind das die bewußten Früchte, Arlene?« Das Mädchen nickte und erwiderte: »Ja. Glauben Sie, daß wir reelle Chancen haben, Prof?« Macauley zuckte die Schultern. »Für Wunder ist vielleicht Oberst Villa zuständig oder Bela Rover. Nicht ich. Aber grundsätzlich müßte es möglich sein, diesen Stoff zu analysieren, die Formel herauszufinden und ihn dann in riesigen Mengen künstlich herstellen zu können. Ich bin solange Optimist, bis ich mich vom Gegenteil überzeugt habe.« »Das ist auch der Grund, warum ich Ihre am meisten begeisterte Mitarbeiterin bin und bleiben werde«, sagte Arlene. »Ich sehe jetzt nach McLane.« Macauley grinste kurz: »Passen Sie auf«, sagte er abschließend. »Obstsaft gibt Flecken auf Hemden.« Kopfschüttelnd und an sich und der Welt zweifelnd, ging Arlene auf die Leiter zu, die in den Raum hinaufführte. Cliff lag noch immer regungslos da. Er befand sich in einer anderen Welt, die ohne jede Sorge war, und Arlene machte sich daran, eine Anzahl der Früchte auseinanderzuschneiden und den Saft in
einem Becher zu sammeln. Viel Hoffnung hatte sie nicht ... Und eine Stunde später hatte sie es auch aufgegeben. Cliff schluckte, als sie ihm die Nase zuhielt und den Kopf hochstützte, mindestens einen halben Liter dieses gelblichen, aromatischen Saftes. Er glaubte, es wäre in seinem Traum edler Sekt aus Silberkelchen oder ein ähnliches Getränk. Vielleicht dürstete er anschließend weniger. Aber er träumte weiter ... Arlene setzte sich auf, wischte sich automatisch die Hände ab und lehnte sich erschöpft an die Wand der Hütte. Sie sah keinen Ausweg. Die kommenden vierzig Stunden würde Cliff McLane hier liegen, schlafen und träumen. Und nachher war er erschöpft und völlig verwirrt. Arlene murmelte: »Eine verfahrene Situation!« Sie stand auf, ging auf die umlaufende Terrasse hinaus und sah ins Zentrum der Bucht hinunter. Dort umstand ein Kreis von etwa fünfzig jungen Leuten, braungebrannt und ausgeschlafen, die Gruppe der Terraner, die mit fieberhafter Eile die kleine Forschungsstation aufbauten. Atan war schon wieder mit der LANCET gestartet, um neues Material zu holen. Würde das Team etwas Glück haben? * Es wurde Mittag. Die Hitze nahm in dem Maß zu, in dem das Wasser mit der Ebbe zurückging. Die Turbinen, die heiße Luft ansaugten, sie durch Kühlaggre-
gate leiteten und ins Innere des Zeltes bliesen, heulten ununterbrochen. Insgesamt sieben Männer und Arlene arbeiteten an den Labortischen, die ORIONCrew war im Dschungel und holte weitere Gamonfrüchte. Gant Macauley hatte zuerst versucht, sämtliche Bestandteile der Pflanze festzustellen. Eine Quantitätsanalyse wurde gerade angefertigt, und jeder der Bearbeiter notierte, was er fand. Sehr viel Wasser. Spuren von Mineralien und Fruchtzucker. Holz und Gewebezellen. Eine Menge Vitamine, Pektin und alles, was man auch in hochwertigen terranischen Früchten fand. Die Analyse fiel im ersten Moment negativ aus. »Verdammt!« sagte Gant. »Wenn wir eine terranische Mandarine untersucht hätten, wären wir auf genau dieselben Ergebnisse gekommen.« Auf den Sichtschirmen der Analysatoren standen die chemischen Formeln und die Mengenangaben. Gedankenlos drückte Gant unter dem Sammelgerät den Knopf für Addition und lehnte sich dann in dem knarrenden Faltsessel zurück. »Ein etwas merkwürdiges Ergebnis!« sagte Arlene und deutete auf den Schirm. Sämtliche Bestandteile und die Prozentzahlen waren vermerkt und zusammengerechnet worden. Die Summe ergab genau 97,08 Prozent. Gant murmelte: »Zwei Komma zweiundneunzig Prozent fehlen. Da hat sicher jemand nicht genau gearbeitet. Achtung!« Er hob den Arm und blieb dann in der Mitte des reichlich improvisierten Labors stehen. In zwei Sät-
zen erklärte er, was er festgestellt hatte, und noch ehe er ausgesprochen hatte, sagte einer seiner Männer: »Suchen Sie nicht weiter, Chef, ich glaube, bei mir liegt der Fehler.« Gant sah nach; sein Mitarbeiter hatte eine Quantitätsanalyse des reinen, gefilterten Fruchtsaftes gemacht. »Was ist los?« fragte der Professor. Sie alle waren Entomologen, keine Chemiker. Aber die Ausrüstung, die sie mitgenommen hatten, ließ sich entsprechend verwenden, außerdem hatte die ORION zusätzliche Geräte ausgeladen. »Ich habe hier etwas, was sich wie ein Vitamin benimmt. Dieses Ergebnis stand noch nicht auf meinem Schirm – Sie konnten es also nicht addieren«, sagte der Mitarbeiter entschuldigend. »Ein unbekanntes Vitamin?« erkundigte sich Arlene. »Ja. Es wäre in der Reihe der bekannten Vitamine der Kennbuchstabe V. Also eine echte Neuentdekkung. Die Prozentmenge stimmt mit dem Wert der Differenz überein. In einem Liter Fruchtsaft sind also knapp dreißig Gramm Vitamin V enthalten.« Gant blinzelte überrascht und murmelte: »Das wäre etwas. Versuchen wir einmal, logisch vorzugehen. Alle Vitamine, die wir kennen, werden auf Terra angewendet. Keines dieser Vitamine ist in der Lage, das Gift der Libellen erfolgreich zu bekämpfen: die fortschreitende Süchtigkeit beweist es, denn alle Terraner essen sozusagen ununterbrochen Vitamine der bekannten Arten, in direkter oder indirekter Weise. Würden Sie das für richtig halten, Kollegin Arlene?«
Arlene nickte heftig. Von ihrem Platz aus sah sie, wie die ORION-Crew mit gefüllten Säcken näherkam. Sie hatten einige Zentner Gamonfrüchte geholt. »Dieses Vitamin ist absolut neu, es sei denn, es wäre in den letzten Wochen unabhängig von uns auf einem anderen Planeten gefunden worden.« Einer der Wissenschaftler lachte kurz und sagte: »Sie haben recht, Chef. So ist es.« »Dann müßte eigentlich dieses Vitamin V der Faktor sein, der die Träume schlagartig beendet. Können wir eine größere Menge davon ausfiltern?« Langsam nickte Arlene. »Das müßte mit unseren Mitteln möglich sein. Versuchen wir es – Obst ist genügend da!« Aufatmend kamen die Mitglieder der Crew in das Zelt, das von einem kühlen Luftzug aufgebläht wurde. Die Netze und Säcke mit Früchten wurden abgestellt. Mit kurzen Worten informierte Gant Macauley die Crew, was sie entdeckt hatten. Atan Shubashi fehlte ... er schwebte zwischen dem Lager und der ORION und diesem Strand hier hin und her und transportierte Nahrungsmittel, Geräte und Ausrüstungsgegenstände herbei. »Da hilft nur ein Versuch!« sagte Hasso. »Sicher träumt gerade einer der lieben Sorglosen hier.« Gant sagte kurz: »Erstens: eine gewisse Menge des reinen Vitamin V – inzwischen als Faktor Vee bezeichnet – wird herausgefiltert und in destilliertem Wasser aufgelöst, damit die Konzentration gering wird. Wir können dann vielleicht mit homöopathischen Dosierungen arbeiten ... später. Wir geben einem Träumenden diese Flüs-
sigkeit ein, und die Reaktion wäre der Beweis.« Arlene schränkte widerwillig ein: »Wobei zwischen dem Zeitpunkt des Pflückens und der Anwendung nicht mehr als sechzig Minuten vergangen sein dürfen.« Wortlos machten sich Helga und Hasso daran, diejenigen Früchte auszusuchen, die zuletzt gepflückt worden waren. Der Versuch lief mit großer Schnelligkeit an.
7 Vitamine waren Bestandteile der Nahrung, die keinerlei Verbrennungsenergie für den Körper lieferten, aber unbedingt wichtig für die gesamten Stoffwechselvorgänge eines Organismus waren. Sie wurden entweder in den Körperzellen als Bestandteile von Enzymen wirksam oder aber an bestimmten Stellen, an denen sie direkt in den Stoffwechsel eingriffen. Dieser Effekt mußte bei Faktor Vee entscheidend sein – die Geschwindigkeit der Reaktion sprach dafür. Ein induktiv wirksames Vitamin wie dieses ausgefilterte konnte unter Umständen auch erst im Körper wirksam werden. Ein Vitaminmangel erzeugte die bekannten Mangelerscheinungen oder Mangelkrankheiten ... und ein Zuviel an Vitamingaben konnte ebenfalls krankheitserregend wirken. Die Mengen, die der Mensch brauchte, waren verschieden groß analog der verschiedenen Vitamine. Da der Körper Vitamine nicht speichern konnte, mußte ununterbrochen vitaminreiche Nahrung aufgenommen werden. Von einem Milligramm bis zu vierhundert Milligramm bei Vitamin C differierten die notwendigen Mengen. Wieviel würde bei diesem Versuch gebraucht werden? Arlene beschloß, es genau herauszufinden und ging aus dem Zelt, da sie in diesem Stadium der Untersuchung nicht mehr helfen konnte. Sie hatte eine andere Arbeit, und sie hatte eine Frage. Die Arbeit: Sie mußten einige Träumer finden und ins Zelt bringen.
Die Frage: Ulrike hatte glaubwürdig versichert, daß das Vitamin sehr flüchtig sei und sich rund eine Stunde nach dem Pflückvorgang auflöste. Sie selbst aber hatte, als Arlene sie so grob weckte, nach einer Frucht gegriffen, hineingebissen – und die Wirkung hatte sich eingestellt, obwohl es undenkbar war, daß diese Frucht von Ulrike eine Stunde vor dem Erwachen selbst gepflückt worden war. Arlene blieb im Schatten der Bäume und ging langsam auf die Leiter zu, die in das Haus des Mädchens hinaufführte. In der Siedlung war der ›normale Alltag‹ wieder eingekehrt. Einige junge Männer waren mit den kleinen Booten aus der Bucht hinausgerudert und hatten Segel aus Pflanzengeflecht gesetzt, als sie draußen, jenseits der Uferfelsen, in den Wind gekommen waren. Mädchen machten Feuer und brieten Fische. Andere wuschen im Seewasser irgendwelche Stoffetzen. Arlene ging an ihnen vorbei und hörte hinter sich das Tappen schwerer, schneller Tatzen. Der Raguer kam herangelaufen und blieb neben ihr. Arlene murmelte leise: »Gibt es etwas Neues, Prac'h?« »Nicht viel«, sagte der Raguer, ohne daß es jemand hören konnte. »Die Nirwanerianer sind sauer.« »Begreiflich. Würdest du dich aber etwas präzisieren?« fragte Arlene. »Sie fühlen sich durch uns außerordentlich in ihrer freien Entfaltung und auch in ihrer Intimsphäre gestört. Aber sie sagen sich, es ist gut für die Erde, also kann es nicht schlecht für sie selbst sein.« »Das«, stellte Arlene fest, »ist die richtige Einstel-
lung, die wir im Augenblick brauchen.« Sie nickte dem Raguer zu und kletterte die Leiter hoch. Oben angekommen, sagte sie laut: »Frau Bürgermeister?« Aus dem Innern der Stelzenhütte kam die Antwort: »Ja?« Es klang etwas gereizt. Nicht unbegründet, fand Arlene, schließlich hatten sie sich ein langes Duell geliefert. »Darf ich eintreten? Ich habe eine riesige Bitte und einige Fragen – tut mir leid. Es ist für die Erde.« »Kommen Sie herein!« Arlene schob diesmal mit weniger Schwung den Vorhang zur Seite und trat ein. Sie gewöhnte sich schnell an das Halbdunkel und sah, daß Ulrike damit beschäftigt war, aus verschiedenen Pflanzenfasern ein langes, dünnes Tau zu flechten. Arlene sah sich vorsichtig um und versuchte, eine Libelle zu entdecken, aber der Raum war ohne jene merkwürdige Verzierung. »Keine Haustiere?« fragte Arlene ruhig. »Nein. Sie fliegen herum und fressen andere Insekten«, bemerkte Ulrike und flocht weiter. »Was wollen Sie?« Arlene sagte eindringlich: »Ich glaube, es ist uns mit Hilfe unserer Geräte gelungen, jenen Stoff auszufiltern, der die Träume beendet. Wir nennen ihn Faktor Vee.« Ulrike warf das Haar in den Nacken und zog die Brauen erstaunt in die Höhe. Auf ihrer Stirn erschienen lange Falten. »So schnell schon?« fragte sie. »Ja, so schnell. Wir müssen aber noch einen Test
durchführen. Wissen Sie, ob einige Ihrer Bewohner hier im Augenblick träumen? Ich meine, nach einem Insektenbiß in die bewußten Träume gefallen sind?« Ulrike lächelte leicht. »Da bin ich ganz sicher. Mindestens zehn junge Männer halten ihren Mittagstraum jetzt ab.« »Genau diese brauchen wir!« sagte Arlene entschlossen. »Wann?« »In einer halben Stunde ungefähr«, sagte Arlene. »Ich kann mir deutlich vorstellen ...« »... das bezweifle ich sehr«, unterbrach sie Ulrike und schlang einen Knoten in das Tau. »... daß diese jungen Männer nicht besonders erfreut sein werden, aber es muß sein. Der Erfolg unserer Aktion hängt davon ab. Und wir sind hier stellvertretend für die Erde und alle Planeten.« »Meinetwegen, tun Sie, was Sie zu tun haben. Wecken Sie die Jungens auf. Ich zeige Ihnen, wo sie schlafen.« Arlene hob die Hand und sagte: »Nicht so hastig. Dies war die Bitte. Jetzt kommt die Frage.« Ulrike löste den Knoten wieder und schüttelte höchst verwundert den Kopf. Sie warf dem gutaussehenden, dunkelhäutigen Mädchen einen langen, erstaunten Blick zu und sagte dann sarkastisch: »Sie kommen nicht auf den Einfall, daß ich Ihnen eine Frage nicht beantworten oder eine Bitte nicht erfüllen könnte?« »Nein!« sagte Arlene voller Überzeugung. »Auf diesen Einfall komme ich nicht. Die Wichtigkeit des Auftrags ist so groß, daß sämtliche persönlichen Be-
lange zweitrangig werden.« »Typisch Erde. Typisch für Villa, Wamsler und Kublai-Krim!« sagte Ulrike. »Letzterer ist bereits dahingeschieden«, stellte Arlene fest. »Sie sagten, daß die Wirkung der Gamonfrucht eine Stunde nach dem Pflücken aufgehoben ist? Richtig?« »Ja, es stimmt.« »Sie haben heute morgen in eine Gamonfrucht gebissen, die sicher älter war als eine Stunde.« Ulrike lächelte und sagte spitz: »Sie haben sicher schon von der konservierenden Wirkung der Kälte gehört, nicht wahr?« Sie griff hinter sich und brachte den Korb zum Vorschein, in dem sich vorher die Früchte befunden hatten. Arlene faßte in die Höhlung hinein und fand, daß der Korb innen isoliert war. Ein winziges Kühlaggregat ohne bewegliche Teile lief im Boden des Behälters. Die Temperatur lag nahe dem Nullpunkt. »Aha!« sagte Arlene. »Das erklärt alles. Danke für den Hinweis. Er kann später wichtig werden!« »Sie möchten jetzt sicher wissen, wo Ihre Opfer schlafen?« erkundigte sich das braunhaarige Mädchen lässig und stand auf, ohne das Tau loszulassen. Sie ging mit Arlene durch den Vorhang, blieb auf der überdachten Terrasse stehen und deutete zehnmal nacheinander auf einzelne Pfahlbauten, die ausnahmslos in der ersten Reihe der Anlage standen. »Danke!« Arlene drehte sich um und begann, die Leiter hinunterzuklettern. Unten wartete der Raguer auf sie. Ulrike sah regungslos zu, wie Arlene die Sprossen hinunterturnte. Dann verschwand sie wieder in der
warmen Dämmerung des Raumes und spann an ihrem Tau weiter. Arlene fand dies alles sehr abseitig. Sie sagte zu Glanskis: »Bist du in der Lage, zehn junge Männer aus diesen Hütten dort herauszuholen und ins Zelt zu bringen?« Glanskis erwiderte leise: »Ja. Ich werde sie bringen. Wann?« Arlene erklärte ihm, wo er die jungen Männer finden konnte und daß er auf alle Fälle vorsichtig mit ihnen umgehen sollte. Man durfte Träumer nicht erschrecken, sagte sie und dachte an Cliff, der noch immer schwitzend und träumend oben im Haus lag und sich miserabel fühlen würde, wenn er aufwachte. Arlene beschloß, ihn während des Traumes mit Konzentraten zu füttern, um sicherzugehen, daß er nach dem Erwachen nicht vor Schwäche umfallen würde, falls es ihm gelang, aufzustehen. Dann erreichte sie das Zelt. »Alles klar?« fragte sie. Man hatte aus der gelandeten LANCET einige Geräte herausgeholt und aus den Früchten ungefähr einen Viertelliter oder rund zweihundertfünfzig Gramm des Faktors Vee herausdestilliert. Das Vitamin, eine leicht gelblich aussehende und ölig wirkende Flüssigkeit, die wasserlöslich war. Ein Gramm war in einem Viertelliter destilliertem Wasser aufgelöst worden. Es war also eine vierprozentige Lösung entstanden. Die Crew und sämtliche Wissenschaftler versammelten sich in dem größten Raum des halbdurchsichtigen Raumes. »Das ist die große Chance«, sagte Gant Macauley. »Und ich bin besonders froh, daß uns Nichtfachleu-
ten dieser Trick gelungen ist.« »Ich auch«, murmelte Hasso. »Jetzt brauchen wir nur noch ein mittleres Wunder und ein Schiff, das binnen einer Viertelstunde nach Terra fliegt.« Atan sagte: »Das ist das Kardinalproblem, Freunde.« »Lasse den Klerus aus dem Spiel«, meinte Helga. »Warten wir erst einmal, wie der junge Mann reagiert, den unser abenteuerlustiger Freund Glanskis soeben zwischen den Zähnen herbeischleppt.« Sie deutete durch den Vorhang nach draußen. Die Szene war filmreif und auf jeden Fall sehenswert. Glanskis trabte heran wie ein silberner Tiger. Er hatte seine breiten Zähne in den Gurt eingehakt, den der schlafende junge Mann um den Körper trug. Die Zehen und die Fingerspitzen des Mannes schleiften über den Sand und hatten lange, flache Spuren hinterlassen. Der Körper war fast halbkreisförmig gebogen und hing nach unten durch. Als ob er ein Taschenbuch trüge – so leicht lief Glanskis heran, schob sich durch den Eingang und verkantete dabei den Körper. Er stemmte ihn auf die Liege, die man bereitgestellt hatte, und setzte ihn vorsichtig ab. Der Träumer merkte nichts von alledem; niemand hatte ihn angesprochen. »Helga hat einen Kurs in erster Hilfe!« sagte Atan grinsend und deutete auf die Testflüssigkeit. »Danke, auch ohne deinen dummen Hinweis hätte ich mich geopfert!« sagte die Funkerin. Sie schüttete etwa fünfzig Kubikzentimeter der vierprozentigen Lösung in einen Becher, ging in die Knie und hob den Kopf des Träumers an. Dann hielt sie ihm die Nase zu.
Der junge Mann öffnete, nach Luft schnappend, den Mund. ... und trank einen großen Schluck, etwa die Hälfte der fünfzig Kubikzentimeter. Niemand sprach. Alle waren sie von einer Spannung erfüllt, die sie ziemlich genau definieren konnten. Vom Gelingen dieses Versuches hing sozusagen das Schicksal der Erde ab. Wachte der Träumer auf, hatten sie den ersten Schritt klar gewonnen. Träumte er weiter, bedeutete dies weitere Arbeit und Aussicht auf einen Mißerfolg. Und jede Stunde war kostbar. Jede Stunde bedeutete für den Planeten, auf dem sie geboren waren, eine riesige Anzahl weiterer Süchtiger und einen erneuten Zusammenbruch sämtlicher Versorgungs- und Kommunikationseinrichtungen. »Er ... er erwacht!« flüsterte jemand. Der junge Mann setzte sich ruckhaft auf, riß die Augen auf und betrachtete die veränderte Umgebung. »Was ist hier los? Warum starrt ihr mich so an?« fragte er. »Haben Sie sich von einer Libelle beißen lassen?« fragte Gant Macauley mit inquisitorischer Stimme. Der junge Mann stotterte verwirrt. »Ja ... natürlich ... meinen Mittagstraum. Der Traum ist mein bester Freund! Er ist es wirklich. Fremde ...« »Schon gut«, sagte Arlene erleichtert. »Wie fühlen Sie sich?« »Scheußlich. Ich bin noch nie so schnell und so ruckhaft zurückgekommen. Es ist direkt widerlich.« »Nie so schnell ...«, murmelte der Professor nachdenklich. »Helga, mischen Sie noch mehr Wasser in diese Brühe hinein. Einen halben Liter dazu und gut
verrühren. Danke, junger Mann, Sie haben sich um Terra verdient gemacht.« »Schon gut.« Der Junge blickte nicht ganz durch die Aktion hindurch. Er hatte von einer schöneren, aufregenderen und sorgenlosen Welt geträumt und war jetzt in die Hitze des Mittags zurückkatapultiert worden. Er war zutiefst verwirrt. Während er sich ganz aufsetzte und dann das Zelt verließ, nachdem er einige Male die schweigende Versammlung angestarrt hatte, holte Glanskis bereits den zweiten Kandidaten für das Weckmanöver. Helga verdünnte das Konzentrat noch mehr. Auf einen halben Liter destilliertes Wasser kamen jetzt nicht mehr ganz ein Gramm von Faktor Vee. Eine knapp zweiprozentige Lösung war hergestellt worden. Glanskis brachte den zweiten Jungen herein, und als der Aufgeweckte diese Transportmethode sah, erfaßte ihn eine heillose Furcht. Er spurtete über den Sand und kletterte die Leiter zu seiner Behausung hoch, als wäre er ein Eichhörnchen. Die Versuche gingen weiter. Auch der zweite Träumer wurde aufgeweckt. Die halbierte Konzentration von Faktor Vee wirkte fast ebenso schnell wie jene erste. Langsam begannen sich die Mitglieder dieser untypischen, aber erfolgreichen Forschungsexpedition zu entspannen. Der Erfolg schien nahe. Der dritte Versuch. Wieder wurde die Konzentration herabgesetzt. Man hatte aus Arlenes Ausführungen gelernt und kühlte jetzt den Bestand an Faktor Vee sehr stark, ohne daß sich Farbe und Konsistenz veränderten.
Der vierte und fünfte, der sechste und der siebente. Inzwischen war die Menge des Vitamins bei einhundert Milligramm angelangt. Der zehnte Versuch bewies, daß siebzig Milligramm genügten, um den Traum binnen fünf Minuten zu unterbrechen und den Schläfer voll in die graue Wirklichkeit zurückzubringen. Siebzig Milligramm! Siebzig Tausendstel eines Gramms. Gant Macauley betrachtete widerwillig den Haufen der ausgepreßten Gamonfrüchte, der langsam anfing, einen fauligen Geruch zu verströmen. Gant sagte leise: »Wir haben jetzt ein Sofortmittel, das die Zustände auf der Erde schlagartig bessern kann.« Hasso Sigbjörnson meinte: »Genau das Richtige. Konkurrenzfähig gegenüber den Libellenbissen. Siebzig Milligramm gegen einen einzigen Biß.« »Aber wir haben rund vierhundertfünfzig Parsek Entfernung zwischen hier und der Erde. Eine Fahrtdauer von etwa zehn Tagen, und wenn wir die Maschinen ruinieren, von mehr als neun Tagen. In neun Tagen ist die Wirkung von Faktor Vee dahin – restlos verschwunden.« Atan sagte düster: »Es gibt keinen schnelleren Weg.« Er betrachtete gedankenlos das Kühlaggregat, in dessen Schlangen der gläserne Behälter mit der hellen Flüssigkeit stand. Helga Legrelle dachte nach. Schließlich sagte sie leise: »Ich erinnere mich an mein erstes Kochbuch. Darin
stand, daß Vitamine ihre Wirkung nicht verlieren, wenn sie ...« Gant ließ sie nicht ausreden. Er kannte den zweiten Teil des Satzes. Er sprang auf, umarmte Helga und drehte sich mit ihr zweimal im Kreis. Überrascht sahen die Wissenschaftler und die Raumfahrer diesem Tanz zu. »Tadellos! Hausfrau des Jahres! Miß Vitamin von Terra!« schrie Gant und ließ Helga los. Sie begriffen es. Wenn man Nahrungsmittel voller Vitamin schockgefror, dann hielten sich die Vitamine, bis man das entsprechende Menü oder das Nahrungsmittel wieder auftaute. Das war das Prinzip der Tiefkühlkost, und es funktionierte, solange die Kühlkette, die sich vom Punkt der Ernte bis zum Grill der Hausfrau spannte, nicht unterbrochen wurde. »Eine perfekte Kühlkette!« sagte Mario de Monti. »Das ist wirklich die Idee des Jahrhunderts. Hätte von mir sein können, Helgamädchen!« »War aber von mir«, sagte die Funkerin. »Sollen wir Villa anfunken?« Gant hob die Hand. »Noch nicht«, sagte er. »Noch nicht. Was gehört dazu?« Sie entwickelten in einer heißen, langen Diskussion die einzelnen Punkte eines Verfahrens, das innerhalb eines Monats arbeitsfähig war. Diese dreißig Tage mußten verstreichen – es gab keine andere Möglichkeit. Es ging einfach nicht schneller. Die große Entfernung war schuld daran. *
Zuerst brauchte man eine größere Menge von Menschen, die hier im Dschungel pausenlos Gamonfrüchte sammelten und sie – entweder zu Fuß oder mit Hilfseinrichtungen wie Sammelbehältern oder schnellen, kleinen Fahrzeugen – zu einem Zentrum brachten. Hasso schlug vor: »Vielleicht stoße ich auf Kritik, aber ich halte es für einen deutlichen Akt sozialer Gerechtigkeit, wenn Oberst Villa zum Pflücken dieser Gamonfrüchte seine Gefängnisse leert. Und zwar sollten alle ›Schakale‹, also sämtliche verurteilten Händler und Züchter von Libellen hierher deponiert werden. Das gäbe uns die Möglichkeit, diese Typen genau unter Kontrolle zu halten. Denn erwiesen ist ja, daß sie sich auf Kosten ihrer Opfer und zum Schaden der Erde bereichert haben.« »Das wäre immerhin ein Vorschlag, den Villa akzeptieren könnte«, sagte Arlene. »Vielleicht tut er es«, meinte Helga. Als zweites würde hier eine kleine, sehr leistungsfähige Fabrik aufgestellt werden müssen. Sie müßte an einem Ende des Fabrikationsganges mit hohem Druck die Gamonfrüchte auspressen, den Saft filtern und kühlen und anschließend binnen Minuten den Faktor Vee herausfiltern. Die dann entstandene Konzentratflüssigkeit müßte augenblicklich schockgefroren werden. »Wieviel brauchen wir eigentlich?« fragte Mario de Monti. Gant sagte: »Das läßt sich leicht ausrechnen.« Er setzte sich vor eine kleine Handrechenmaschine und sagte:
»Rechnen wir einmal, daß wir vier Milliarden Portionen brauchen.« Er schrieb die Zahl aus. »Siebzig Milligramm – das sind achtundzwanzig Milliarden, nein zweihundertachtzig Milliarden Portionen. Drei Nullen streichen, dann haben wir den Betrag in Gramm.« Zweihundertachtzig Millionen Gramm. Die schnellen Finger des Wissenschaftlers kürzten den Betrag weiter herunter. Zweihundertachtzigtausend Kilogramm. »Das sind rund zweihundertachtzigtausend Liter«, sagte Arlene. »Einige Raumschiffsladungen voll. Natürlich Schiffe mit Kältecontainern.« Zweihundertachtzig Tonnen Faktor Vee wurden benötigt. »Das ist eine Menge, die durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Wir müssen etwa zehntausend Tonnen Gamonfrüchte sammeln. Das aber ist ein rein organisatorisches Problem«, meinte der Raumschiffingenieur. Sie konnten es so lösen, daß die Fabrik entweder transportabel war oder daß man an verschiedenen Punkten Sammelstellen einrichtete. Der Dschungel auf Cassina war planetenweit – es würde also genügend Früchte geben. Helga sagte: »Ich werde mit Gant Macauley zurück zur ORION fliegen und ein langes Gespräch zu Villa und den anderen Verantwortlichen anmelden. Ich bin sicher, daß alle benötigten Maschinen bereitgestellt werden können. Wenn es uns gelingt, auch noch die Formel von Faktor Vee herauszufinden, dann kann man auf der
Erde bereits versuchen, dieses Medikament synthetisch herzustellen.« Gant wandte sich an seine Mitarbeiter und fragte besorgt: »Glaubt ihr, daß wir es schaffen können? Ich bin nicht sicher!« Schulterzucken. »Versucht es jedenfalls. Ich werde Villa sagen, daß er gleichzeitig mit den Maschinen und den Raumschiffen den besten Chemiker losschickt, den die Welt besitzt. Wir brauchen ihn.« »Einverstanden. Trotzdem versuchen wir es!« Die Spannung hatte sich gelöst. Sie besaßen jetzt das Mittel und auch die Wege, es herzustellen und anzuwenden. Es brauchte auf der Erde nur wieder aufgetaut und aufgelöst zu werden. Jetzt ging es darum, das schnellste und sicherste Verfahren zu finden. »Gehen wir?« fragte Gant. »Sofort!« Atan stand auf. Auch Helga verließ das Zelt und ging hinüber zur LANCET. Atan startete und raste zurück zur ORION. Sie fuhren mit dem Zentrallift nach oben, und die Funkerin schaltete ihre Geräte ein. Das Bild, das sie durch die störende Lufthülle des Planeten empfing und stabilisieren konnte, war miserabel, aber es reichte aus. Macauley begann zu berichten. Gleichzeitig machte sich Villa Notizen. Tonbänder liefen mit und Aufzeichner des optischen Teiles der Unterhaltung. Villa stellte Fragen und rief unaufhörlich durch Knopfdrucke andere Männer in sein Büro. Der Kreis der Zuhörer wurde größer. Fachleute kamen hinzu.
Eine Stunde lang wechselten sich Fragen und Antworten ab, dann schloß Oberst Villa: »Es ist im Augenblick eine bessere Stimmung eingetreten. Zwar nimmt das Chaos von Stunde zu Stunde größere Ausmaße an, aber wir haben hier inzwischen ein Mittel gefunden, Weibchen unfruchtbar zu machen. Der erste Ausstoß ist bereits gezielt freigelassen worden.« Gant fragte: »Woher haben Sie die Weibchen?« Villa erwiderte in schneidendem Ton: »Aus den Züchtungen der ›Schakale‹ natürlich. Wir haben vernichtet, was nur ging. Trotzdem gibt es noch mehr Libellen, Züchter, Geschäfte im dunkeln und immer mehr Träumer. Wir werden eine weltweite Aktion starten müssen.« Gant fragte: »Wir können uns darauf verlassen, daß sämtliche Aktionen mit großer Eile durchgeführt werden?« Oberst Villa hob den Arm und sagte hart: »Bereits jetzt ist die Maschinerie angelaufen. Hier in der Basis 104 gibt es weder Libellen noch Süchtige noch Träumer, die mehr als einen Traum hinter sich haben. Von hier aus können wir ungehindert und mit bestem Erfolg arbeiten. Wir sind gerade dabei, die Insel zu säubern. Bereits jetzt startet das erste Schiff, der Chemiker ist an Bord.« Macauley fragte kurz: »Wissen Sie, daß McLane ebenfalls von einer Libelle gebissen worden ist?« Oberst Villa starrte ihn ungläubig an. »In vierzig Stunden wird er der Erde wieder voll zur Verfügung stehen«, sagte Helga. »Dazu kommt,
daß er eigene Erfahrungen mit Libellen, Träumen und den Zuständen danach haben wird.« »Gut«, schloß Villa. »Wenn Sie etwas brauchen, oder wenn sich etwas ändern sollte, nehmen Sie bitte wieder Kontakt mit uns auf.« »Selbstverständlich.« Die Verbindung wurde getrennt. Atan, Helga und der Professor blieben noch in der kühlen, dunklen Kommandokanzel des Raumschiffes. Sie saßen in den körpergerechten, bequemen Sesseln vor den verschiedenen Anlagen und erholten sich. Helga brachte einige Sandwiches und Kaffee. Ab jetzt lief die großangelegte Aktion. Würde sie den erhofften und notwendigen Erfolg bringen? * Genau neun Tage und zwei Stunden später: Die transportable Fabrikationsanlage war in einem Raumschiff untergebracht. Man hatte sie auf Terra in einer wahren Rekordzeit aus einem fahrenden Teil einer Großanlage ausgebaut und in ein Schiff installiert. Die Monteurmannschaft war mitgeflogen und hatte die meisten Arbeiten während des Fluges unternommen. Ein Mann genügte, um die Anlage zu fahren. In allen Stauräumen waren Roboter untergebracht worden, denen man mit Hilfe eines speziellen Programms ihre Arbeit genau vorgegeben hatte. Cliff McLane sah zu, wie die zwanzig Robots, fünfzig Mädchen und Männer von Port Nirwana, die gesamte ORION-Crew und die Hälfte der Wissen-
schaftler, verstärkt durch sämtliche Männer der Schiffsbesatzung des Fabrikschiffes und den Monteuren, durch den Dschungel liefen und Gamonfrüchte pflückten. »Einfach umwerfend!« sagte er und grinste. Inzwischen fühlte er sich wieder ausgezeichnet. Er hatte zwei Tage gebraucht, um wieder richtig arbeiten zu können, trotz der Konzentratnahrung, die ihm Arlene ununterbrochen eingeflößt hatte. Der Kommandant hob das Netz auf, in dem etwa ein halber Zentner Gamonfrüchte gesammelt lagen. »Noch fünf Minuten«, brummte er. Vor zehn Minuten hatte er angefangen zu sammeln. In den nächsten dreihundert Sekunden lief er langsam von Baum zu Baum und sammelte, was er konnte. Als die Zeit um war, lief er, so schnell er konnte, auf den Wagen zu. Auf halbem Weg ertönte unüberhörbar eine Sirene. Von allen Seiten kamen jetzt die Pflücker herbeigerannt und schütteten, was sie gesammelt hatten, in den großen Drahtkorb. Die Maschine des Wagens lief bereits, und Atan kletterte schnell in den Sitz. Er hielt die Steuerung in der Hand und rief: »Ich bin in zehn Minuten wieder da – dort drüben, bei den Felsen!« Dann kuppelte er ein und raste davon, so schnell er konnte. Aus dem Expeditionsfahrzeug hatte man mit Hilfe einiger Drahtelemente einen kleinen Lastwagen hergestellt, der zwischen der Fabrik und dem Pflückgebiet verkehrte. Wenn die Entfernung zu groß werden würde, konnte Atan die LANCET einsetzen. Die Ladefläche wurde mit einem kleinmaschigen Netz
bespannt, und die riesigen Räder steuerten den Wagen sicher in die Bucht hinunter. Alles andere ging mit rasender Schnelligkeit vor sich. Die Ladefläche wurde gekippt, die Gamonfrüchte rollten und purzelten in einen Trichter. Sie wurden zerschnitten und kamen in die Pressen, aus denen ein breiter Bach von gelbem, zuckerigem Saft herausfloß. Dann durchlief er die verschiedenen Maschinen, Geräte und Aggregate, dort wurde Faktor Vee ausgefiltert. Der Rest des Saftes wurde in Plastikbehälter abgefüllt, versiegelt und ebenfalls eingefroren. Die würfelförmigen Glasbehälter mit je einem halben Liter – man hatte eine Anlage montiert, die einmal in einem Parfümwerk gearbeitet hatte; daher verwendete man auch die dafür genormten Behälter, die aber ihren Zweck hervorragend erfüllten – wurden versiegelt und schockgefroren. Flüssiges Helium war das Kühlmittel. Dann wurden die Behälter durch eine geschlossene Transportstraße in die Kühlräume des ersten Begleitschiffes geschafft und dort gestapelt. Inzwischen raste Shubashi in halsbrecherischem Tempo durch die Schneise des Dschungels zurück, stoppte die Zeit und wartete einige Minuten, bis er wieder seine Sirene einschaltete. Zwischen dem Augenblick, an dem die erste Frucht von den Ästen genommen wurde, bis zu dem Moment, an dem ein kleiner Robot die Glasgefäße bruchsicher in dem Kälteraum verstaute, waren jeweils nicht mehr als dreißig Minuten vergangen. Liter um Liter des Faktors Vee wurden gewonnen.
Ungefähr hundert Menschen hatten keine andere Arbeit, als mit aller Kraft riesige Mengen dieser kleinen gelben Früchte zu sammeln. Die Gruppen hatten zunächst das Dschungelgebiet rund um die kleine Siedlung förmlich gesäubert. Nur einige Früchte für den Eigenbedarf der hundertdreißig Siedler hatten sie übriggelassen. Dann waren die Sammler weitergezogen, den Hang aufwärts und in einigen Kreisen nach rechts und links. Das Gebiet wurde jetzt größer und ausgedehnter, aber die Terraner hatten überraschend viel Glück. Überall gab es jene Bäume mit den seltsam gedrehten Stämmen und den kleinen, gezackten Blättern. Der Wagen raste hin und her. Später steuerte Cliff den Wagen, und Atan flog mit der LANCET halsbrecherische Manöver, wenn es darum ging, die vollen Netze hochzuhieven. Zwei Tage lang ging diese Kampagne ... ununterbrochen, vierzehn Stunden lang jeden Tag. Dann landete ein Schwarm Raumschiffe. Es entließ eine Mannschaft von alternden GSDBeamten, die als Wachtposten noch ausgezeichnet zu gebrauchen waren. Sie beaufsichtigten ungefähr einhundert der Schakale, die man aus den Untersuchungsgefängnissen entlassen hatte. Das war ein Signal für die ORION-Crew, ihren Aufenthalt hier abzubrechen. Cliff stand mit Professor Macauley vor dem Zählwerk des Transportbandes. Der Kommandant tippte auf das Abdeckglas über den Digitalziffern und sagte: »Eine stolze Zahl, nicht wahr?« Die Ziffern wiesen aus, daß sämtliche Laderäume
des Schiffes gefüllt waren. Faktor Vee war dort, tiefgekühlt und unversehrt. Auf der Erde mußte es innerhalb von einer halben Stunde angewendet werden. »Ja«, sagte Macauley. »Ich habe fünf Pfund Gewicht verloren. Ungeheuer gesund, diese Obstsuche.« Cliff und er grinsten sich an. »Übermannt Sie nicht der Abschiedsschmerz?« fragte der Professor. »Vermutlich werde ich auf Terra sehr leiden«, sagte Cliff. »Meine Erinnerungen an diese bewegliche DaliAusstellung verfolgen mich garantiert die nächsten vierhundertfünfzig Parsek. Ich starte in einer Stunde – wollen Sie mitfliegen?« Macauley schüttelte den Kopf. »Nein. Der Chemiker ist da, und wir stehen kurz vor dem Punkt, wo wir die Formel ausschreiben können. Bereiten Sie Villa darauf vor ... Entschuldigung, Sie brauchen ja mindestens neun Tage, und unsere Nachricht wird Sie überholen.« Cliff schüttelte Macauley die Hand. »Hoffentlich!« sagte er voller Inbrunst. Die Mannschaft versammelte sich um die beiden Männer und hörte zu. Es wurden nur noch einige Sätze ausgetauscht, die sich auf Verfahrensweisen und die Behandlung des Gegenmittels bezogen. Hasso grüßte nachlässig und murmelte: »Hoffentlich sind Sie viel schneller als wir und dieser Kältekreuzer. Sie haben ja genügend Fruchtsaft, den Sie beim Arbeiten eisgekühlt trinken können.« Wenige Minuten später kletterte die gesamte Crew einschließlich des Raguers in das Beiboot. Atan startete.
Sie schwebten aus der Bucht heraus, über die Wipfel der Bäume und entlang des steilen Hanges. Sie sahen unter sich die Schneisen, die sie in den Wald geschnitten hatten, um mit dem Wagen besser die Früchte heranbringen zu können. Dann raste das kugelförmige Beiboot über den Dschungel hinweg und nahm direkten Kurs auf die Lichtung, über der das Schiff schwebte. Sie starteten und flogen mit äußerster Kraft in Richtung Erde. Am zweiten Tag des Fluges erreichte sie der Funkspruch von Professor Macauley. Sie hatten in Port Nirwana Faktor Vee erforscht und dessen chemische Strukturformel aufgezeichnet. Cliff hörte begeistert zu, wie sich Macauley mit Villa unterhielt. »Phantastisch!« sagte Mario. »Wenn wir landen, haben sie das Zeug synthetisiert, und wir werden es über den Planeten regnen lassen können.« Helga grinste. »Wie sich Klein Mario eine Wunderrettung Terras vorstellt!« sagte sie. Villa versprach, sofort mit der Produktion zu beginnen, aber er hatte natürlich keine Ahnung davon, wie leicht oder schwer es war, ein großes chemisches Werk auf eine Massenproduktion dieses Vitamins umzustellen. Jedenfalls war die Laune der Crew wesentlich besser als beim Flug nach Cassina. Irgendwann bemerkte der Astrogator: »Wir haben ein Mittel, das in der Lage ist, jeden Süchtigen sofort aus seinem zweiten Traum zu reißen. Aus dem zweiten und allen folgenden.«
»Ja«, sagte Hasso. »Und wir haben unfruchtbare Weibchen, deren Eier keine lebensfähigen Larven mehr hervorbringen können.« »Und außerdem«, meinte der Raguer, »entwickelt Macauley eine Strahlungsart und eine Dosierung, die jeden Biß einer Libelle der nächsten Generation entschärfen wird. Was brauchen wir mehr?« Cliff legte die Füße auf sein Pult und sagte bedächtig: »Keiner von euch hat eine Ahnung, was uns noch alles bevorsteht. Unser Glück wird sein, daß die Basis 104 frei von Libellen und Träumern ist.«
8 Die Landeroutine dauerte nicht lange. Dann senkte sich die ORION langsam in den erleuchteten Landeschacht und hielt an. Der Zentrallift fuhr aus und berührte den Boden. Sechs Terraner und der Raguer stiegen aus, setzten sich auf den Robotwagen und fuhren zur Personenschleuse. Sie hatten kaum Gepäck bei sich. Hinter ihnen bemühte sich eine sichtlich zusammengeschmolzene Mannschaft um das Schiff. Jeder, der abkömmlich war, blieb in den Kampf gegen die Libellen eingeschaltet. In der Schleuse erwartete Oberst Villa die Crew. Er schien ganz entgegen seiner sonstigen Art freundlich zu sein – und ausnahmsweise nicht mißtrauisch. »Ich begrüße Sie, Kommandant«, sagte er und schüttelte Cliff die Hand. »Sie waren sehr erfolgreich.« Cliff erwiderte: »Die Geheimdienstleute sind ein Volk, das die Untertreibung übertreibt. Darin sind sie den Raumfahrern ähnlich. Haben Sie Ihre Libelle mitgebracht?« Villa grinste dünn und erwiderte: »Noch nicht. Wir haben die ersten Auslieferungen des Faktors Vee vor uns. Kommen Sie mit? Es ist gleich Ihr erster Einsatz.« Cliff nickte. »So ungefähr habe ich es mir vorgestellt. Was haben Sie vor?« Villa machte eine einladende Handbewegung und sagte: »Bitte kommen Sie in mein Büro. Ich werde Ihnen
dort genau sagen, welche Pläne wir verfolgen.« »Einverstanden«, sagte Hasso. »Dürfen wir vorher noch duschen?« Sie fuhren mit einem der kleinen, lautlosen Robotwagen durch die unterirdischen Stollen der Basis. Oberst Villa und zwei Männer aus seinem engsten Stab saßen neben der Crew. Der Raguer stand auf der Motorhaube und schaute um sich, als sei dies sein persönlicher Triumphzug. Cliff fragte leise: »Schwierigkeiten, Oberst Villa?« Villa zuckte die Schultern. »Wenn es nur Schwierigkeiten wären! Wir haben ungefähr eine Milliarde Träumer auf diesem Planeten. Wissen Sie, was das bedeutet?« »Eine erstaunlich niedrige Zahl«, meinte Mario und grinste. »Wir haben mit mehr gerechnet.« Villa gab nicht einmal eine Antwort darauf. Sie kamen in das Büro, Villa bat sie, Platz zu nehmen, und ließ Speisen und Getränke kommen. Das Büro hatte sich nicht verwandelt, aber einige neue Dinge erregten die Aufmerksamkeit Mario de Montis. Es war eine riesige Weltkarte in vielen Farben; sie war mit magnetischen Nadeln bespickt. Die Nadeln hatten eine bestimmte Bedeutung. Keiner der Crew kannte diese Bedeutung. Atan erkundigte sich: »Befallene Stellen?« Er deutete auf die blauen, gelben und roten Punkte, die sich überall dort, wo es Städte und Flüsse oder Seen gab, massierten. »Ja«, sagte Villa. »Wir feiern auch jedesmal ein Fest, wenn wir einen der Punkte wegräumen konnten.«
»Wie lange rechnen Sie, Oberst, dauert die gesamte Aktion?« fragte Hasso. Villa gab zur Antwort: »Ich rechne mit insgesamt einem Jahr. Aber in drei Monaten haben wir die Hauptarbeit hinter uns.« Atan hob die Hand. »Sie wollten uns einteilen. Welche Einsätze stehen auf Ihrem Programm?« Villa deutete auf den australischen Kontinent. Dann schwenkte seine Hand vor der Weltkarte herum und deutete auf einen kleinen Ort im Norden der Insel. Dort befanden sich zwei gelbe und ein roter Punkt. »Gelb – das sind Großteile der Bevölkerung, die süchtig geworden sind. Rot, das ist einer dieser lieben Zeitgenossen, die für Geld Libellenbisse verkaufen«, sagte der Oberst. Er schilderte ihnen, was er vorhatte. Danach gab es drei Gruppen: Helga und Mario de Monti – Cliff, der Raguer und Arlene – Hasso und Atan. Sie brachen auf, nachdem ihnen die anderen Teilnehmer an den Aktionen vorgestellt und der Einsatzplan abgesprochen wurden. Helga und Mario waren die erste Gruppe. * Der Helikopter senkte sich etwa in der Mitte der kleinen Siedlung auf den Boden. Die sechs Terraner in den dunklen Uniformen, ausgerüstet mit Waffen und verschiedenen Geräten, verließen die Ladefläche und sprangen in das Gras des kleinen Parks. Der Ort lag
wie ausgestorben da – er hatte rund zehntausend Einwohner. »Los!« sagte der Einsatzleiter. »Langsam in Richtung Großwasserbehälter.« Einige von ihnen trugen schwere Kanister mit Faktor Vee bei sich. Sie bildeten eine weit auseinandergezogene Kette und bewegten sich zwischen den Büschen, Bäumen und Skulpturen des Parks hinaus in die Sonne. Schon nach einigen Metern stolperten sie über Menschen, die zwischen den Wurzeln und im Gras lagen und schliefen. Sie schliefen nicht nur – sie träumten. Die Bevölkerung war zu neun Zehnteln vom Rausch erfaßt. Mario fragte laut durch die lastende Stille: »Wenden wir unsere Vorräte an?« »Jawohl!« Mario und Helga waren ein eingespieltes Team, sie arbeiteten schnell und zuverlässig. Aus einem Kühlbehälter wurde eine kleine Portion des Konzentrats genommen und als gefrorener gelber Würfel in einen Liter Wasser geworfen. Es löste sich rasend schnell auf. Helga lief mit einem großen Becher von Träumer zu Träumer und hielt ihnen die Nasen zu. Wenn sie zum Luftholen den Mund öffneten, tranken sie jedesmal einen Schluck der Lösung. Es war wie in einer Theaterszene – hinter dem Kommando des GSD erhoben sich die Schläfer, orientierten sich und begriffen, was geschehen war. Meter um Meter ging es auf diese Art durch den Park. Und dabei stellte sich, ohne daß es vorerst jemand
merkte, ein weiterer Effekt von Faktor Vee ein. Etwa zweihundert Leute wurden binnen kurzer Zeit versorgt, dann schlossen Helga und Mario auf. »Wir brauchen nur noch die Spitzen der Verwaltung«, sagte der Chefkybernetiker. »Und wir erwischen sie am Rückweg. Erstaunlich, wie viele Libellen es hier gibt. Sie müssen ununterbrochen gebissen haben.« »Jemand wird nachgeholfen haben«, sagte einer der GSD-Beamten. Sie verließen den Ort und liefen langsam eine leichte Anhöhe hinauf. Hier mündeten die unterirdisch verlegten Röhren der SeewasserEntsalzungsanlage in die riesigen Reservoire des Ortes. »Schneller!« Ein Hügel, der ausgebaut war und dessen Höhlung sich einige hundert Meter in die Tiefe fortsetzte, beherbergte eine gewaltige Wassermenge. Sie war gestiegen, seit die Menschen schliefen und weniger Wasser verbrauchten. Die Mannschaft erreichte die gesicherten Tore, und der Zentralschlüssel, den die GSD-Leute hatten – sie besaßen die Hauptschlüssel für fast alle öffentlichen Anlagen dieser Art –, öffnete die Schotte. Lampen flammten auf. »Hier entlang!« schrie jemand. »Verstanden. Hast du die Kanister?« »Ja.« Sechs Terraner liefen über die langen stählernen Stege und hielten an, als sie das Zentrum der Anlage erreicht hatten. Unter ihnen lag der Wasserspiegel des Hauptbeckens, das mit einem System von Aus-
gleichsrohren mit allen Nebenspeichern verbunden war. Sie kannten den Inhalt dieser Speicher. Aus den Kälteboxen wurden die Behälter mit dem Faktor Vee herausgerissen, die Gläser wurden geöffnet und einfach in das Wasser geworfen. Sie versanken geräuschlos. Die Lösung in der gewünschten Konzentration wurde erreicht, indem man einfach wartete. Nach dem Prinzip des Diffusionsgefälles verteilte sich das synthetisch hergestellte und nun nicht mehr flüchtige Vee. Alles, was inzwischen auf Terra hergestellt wurde, litt nicht mehr unter der Einschränkung des natürlichen Vitamins. »Fertig?« Die Stimmen hallten in dem Hohlraum wider. Lampen und Lichtschein, Tritte und ein Fluch, als sich jemand das Schienbein anstieß. Die Mannschaft verließ den Großspeicher und hörte, kaum daß die Schotte wieder geschlossen waren, über sich das Summen der Hubschrauberturbinen. Die Maschine setzte auf, und das Team kletterte an Bord. »Geklappt?« fragte der Pilot und zog die Maschine steil in die Höhe. »Einwandfrei. Die nächsten acht Monate trinken alle Menschen dieses Ortes dieses Zeug. Sie waschen sich sogar damit. Das wird vermutlich eine Dauerwirkung erzeugen, die von noch so viel Bissen nicht besiegt werden kann.« Das war richtig. Dadurch, daß pausenlos neuer Faktor Vee in den Kreislauf geleitet wurde, waren die folgenden Insektenbisse völlig unschädlich. Aber von dieser Wirkung
wußte noch niemand, sie würde sich erst nach Monaten herausstellen. Jedenfalls galt dieser Ort im Norden der Insel ab jetzt als sicher. Der Helikopter landete direkt vor dem Verwaltungsgebäude, und jeweils zwei Personen bildeten ein Team. Sie flößten allen Träumern Faktor Vee ein und klärten sie darüber auf, was jetzt zu tun sei. Diese Aktion, in deren Verlauf eintausend Menschen ruckartig aus einem Traum gerissen wurden, dauerte den gesamten Tag und die halbe Nacht. Dann meldete Mario an die Zentrale: »Der Ort ist sauber. Wir fliegen zurück.« Gleichzeitig mit diesem relativ unbedeutenden Ort geschah an allen möglichen Punkten des Planeten genau das gleiche. Die Wasserspeicher wurden mit dem konzentrierten Vitamin versehen. Zahllose Menschen in wichtigen Positionen wurden aus dem Traum gerissen. Dadurch, daß sie anschließend Durst bekamen und sofort etwas tranken, sicherte sich der GSD eine starke Folgewirkung. Mehr und mehr Meldungen kamen durch, und immer mehr Punkte wurden von der Karte genommen. Gleichzeitig streiften Pfadfindergruppen, die ihrerseits immun gemacht worden waren, durch das Gelände. Sie suchten die schönen großen Libellen und töteten sie, wo immer sie sie fanden. Sie setzten überall dort, wo sie ihre brennenden Spuren hinterlassen hatten, unfruchtbar gemachte Weibchen aus. Oder: *
Sie schlugen hart und ohne jede Rücksicht zu. Zehn Mann, ein fremdes Wesen und ein Mädchen bildeten dieses Kommando. Sie kamen fast geräuschlos in zwei schwarzen, schnellen Turbinenwagen und fuhren von beiden Seiten heran. Ihr Ziel war ein schönes Haus irgendwo am Strand der Insel. Einer der Wagen schoß mit nachschleppender Sandfahne über den Strand, der andere bremste in der stillen Straße. Der Raguer war der erste, der den Wagen verließ, und mit einem Sprung setzte er über die weiße Mauer aus Plastikbausteinen. »Absolut geräuschlos und schnell!« sagte Cliff. Er flüsterte etwas ins Funkgerät, und die Antwort fiel ebenso leise aus. Beide Wagen standen, und aus beiden Fahrzeugen sprangen die Männer heraus. Sie bildeten ein Viereck, drangen über den Strand und durch die Hecken vor und hielten die Gasdruckpistolen in den Händen. Eine junge Frau rannte im Zickzack durch den Garten, wurde gefangen und in den Wagen gebracht. Unterwegs flößte man ihr einen großen Schluck Vee ein. Sie wehrte sich nicht, und ihre Flucht war ein sicherer Beweis. Hier arbeitete ein ›Schakal‹. Lautlos schlichen die Männer heran. Sie entdeckten einen kleinen, flachen Tümpel voller Sumpfgewächse und mit Tausenden von Libelleneiern. Zwei der Männer blieben stehen und verständigten die anderen. »Vorgehen nach Plan.« Die Männer zogen ihre Strahler und holten Ersatzmagazine aus den Taschen. Dann trafen die Strahlen aus den HM 4 auf das Wasser. Dampf erhob
sich, das Wasser erwärmte sich mehr und mehr, und verstörte Libellen flogen auf und versuchten, sich im kochenden Dampf zu retten. Die Libelleneier verdarben – sie wurden förmlich gekocht. Die Larven, die im Wasser waren, starben ebenfalls, ehe sie sich in Sicherheit bringen konnten. Einige Minuten später, als das Schilf brannte, trocknete der Boden des Teiches aus und bildete ein Muster wie der Boden einer zentralaustralischen Wüste, zackig und unregelmäßig. Ein Schaumlöscher trat in Tätigkeit, und einer der Männer rannte in einem Kreis um die brennende Fläche. Der kleine Brand wurde erstickt und fiel zusammen, als die Flammen den Ring aus Schaum erreichten. Tausende von Libellen waren vernichtet worden. Einer der Männer öffnete eine Kunststoffschachtel und ließ drei Libellenweibchen frei. Sie waren unfruchtbar gemacht worden. Cliff, Arlene und der Raguer erreichten die Haustür. Sie bestand aus Milchglas, und sie entging nur dadurch der Zerstörung, weil die junge Frau sie bei ihrer Flucht nicht geschlossen hatte. »Hinein!« Mit einem riesigen Satz sprang der Raguer los, Cliff und Arlene folgten. Sie kamen durch eine luxuriös eingerichtete Halle. Niemand hier. Nacheinander wurden Zimmertüren aufgerissen, Schiebewände betätigt und sämtliche Räume durchsucht. Der Bungalow war leer – scheinbar. In der Bibliothek entdeckte der Kommandant eine große, wertvolle Wendeltreppe, die abwärts führte. Er rannte sie hinunter, die Waffe im Anschlag. Er
polterte durch einen kleinen Raum, der seltsam feucht und stickig roch. Dann flog eine Tür auf, und der Kommandant prallte zurück. »Nicht rühren«, schrie er, »ich schieße sofort!« Hinter ihm federte der Raguer auf den Bodenbelag, und Arlenes schnelle Schritte waren zu hören. Der Raum war voller Menschen. Cliff begann zu zählen. Es waren etwa fünfundzwanzig. Ein Teil des großen Raumes, der direkt unter der geräumigen Diele lag, war durch ein dünnes Gitter aus Maschendrahtglas abgeteilt. Dahinter sah man etwa zweihundert Libellenmännchen, die auf Zweigen umherkrochen oder nach dem Fliegenschwarm jagten, der in dem riesigen Käfig umherschwirrte. Cliff hob die Hand und sagte: »Hier ist der GSD. Sie alle sind verdächtig, sich gegen Bezahlung einen Traum erkaufen zu wollen. Wer ist der Hausherr hier?« Niemand antwortete, aber die Blicke sagten mehr. Langsam wichen die Menschen vor einem hageren, gutaussehenden und sehr gut gekleideten Mann zurück, der gedankenverloren einige Geldscheine in der Hand hielt und Cliff bewegungslos anstarrte. Cliff deutete auf ihn und sagte scharf: »Ich verdächtige Sie, gegen Geld Libellenbisse zu verkaufen. Dies ist strafbar. Sie haben sich alle als verhaftet zu betrachten, und ich werde Sie«, er deutete auf den Mann, »persönlich vor Gericht bringen.« Er dachte an die Gamonfrüchte pflückenden Schakale und grinste kalt. »Ihr Geschäft ist geschlossen, Freund«, versicherte er.
Hinter ihm kamen jetzt die übrigen Männer des Kommandos die Treppe hinunter. Sie trieben schnell die Menschen aus dem Raum und zwangen sie ausnahmslos, je einen Schluck dieses fruchtsaftähnlichen Getränkes einzunehmen. Dann verteilten sie einige Ratschläge und Warnungen und ließen die Leute frei. Die Personen stellten etwas wie einen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung dieses Strandabschnittes dar. Akademiker waren ebenso vertreten wie Schüler, Handwerker wie Beamte und Hausfrauen wie Fabrikarbeiter. Der Lärm nahm ab, als die Menschen das Haus verlassen hatten. In den nächsten Monaten würden auch sie mit jedem Schluck Wasser oder Gerichten, die mit Wasser zubereitet worden waren, den Faktor Vee einnehmen und gegen Bisse immun sein. Cliff ging langsam auf den Händler zu. »Und jetzt zu Ihnen, Kamerad«, sagte er. »Sie sind sich darüber im klaren, daß Sie hier etwa ein halbes Dutzend krimineller Taten verübt haben?« Der Mann murmelte: »Werden Sie nicht ausfallend. Was geht jetzt vor?« Cliff sagte hart: »Sie werden verurteilt werden. Vermutlich deportiert man Sie auf einen anderen Planeten ... man wird sehen. Ihre Bestände an Libellen werden vernichtet.« Der Mann ließ das Geld zu Boden flattern und rief: »Das können Sie nicht tun ... das ist gegen die Verfassung!« Cliff, der die Verfassung neben Shakespeares Werken und seiner Biographie für eines der besten Schriftstücke dieses Planeten hielt, wurde richtiggehend ärgerlich. Er sagte kalt:
»Sie machen besser keine Scherze – das wirkt strafverschärfend. Gehen Sie langsam nach oben und lassen Sie sich die Handschellen anlegen.« Der Mann schien wahnsinnig geworden zu sein; er machte einen Satz und versuchte, den Kommandanten anzugreifen. Der Raguer und Cliff reagierten gleich schnell. Das raubtierähnliche Wesen sprang nach vorn, und Cliff schoß dem Mann eine Betäubungsnadel in die Brust. »Bringt ihn in unseren Wagen, Freunde!« sagte er zu Arlene und den anderen. »Und dann nehmen wir uns diese lieben Tierchen vor!« Vier GSD-Leute schleppten den bewußtlosen Besitzer dieses Bungalows hinaus und verstauten ihn in dem schwarzen Wagen. Andere wieder suchten die Unterlagen, und binnen einer Stunde hatten sie gefunden, was sie brauchten, um eine Anklage zusammenstellen zu können. Sie hatten festgestellt, daß seit Ausbruch der ersten Traumepidemie dieser Mann sich von Tag zu Tag mehr bereichert hatte. Bargeld und Kontenauszüge ließen darauf schließen, daß er Tausende von Libellenbissen verkauft hatte. Einer von vielen. Und leider nicht der letzte. Aber zur gleichen Zeit erfolgten in der gesamten Welt viele ähnliche Einsätze. Während die Männer ihre Geräte bereitmachten, sahen sich Cliff und Arlene die Anlage an. »Verdammt gerissen. Er baut sich hier ein Gelände, das die idealen Lebensbedingungen für die Libellen bietet.« »Ja. Scheinwerfer für Tageslicht, genügend Hitze und freier Raum, genügend Wasser und Futter.« Es waren etwa dreißig Kubikmeter, die der Mann
sich in einen schönen Käfig für Libellen eingerichtet hatte. Der technische Aufwand war beträchtlich. Es gab alles, was die Tiere brauchten. Und wenn einer der Käufer einen Traum wollte, mußte er nur den Arm durch eine Öffnung in der Glasdrahtgaze stekken. Dann wurde er binnen weniger Sekunden garantiert gebissen, denn in dem Käfig gab es keine Kleintiere, von denen die Libellen Blut abzapfen konnten. Arlene sagte erschüttert: »Raffiniert. Immer wieder spielt uns die primitivste menschliche Natur einen Streich. Wir erobern den Weltraum, und hier breiten sich die Laster aus. Ich meine damit weniger die Träumer, sondern die schmutzigen Geschäftemacher.« Cliff klaubte die Geldscheine zusammen und rechnete nach; es war ein sehr hoher Betrag. »Los jetzt«, sagte er. »Wir haben noch andere Kunden dieser Klasse.« Die Ventilatoren wurden abgeschaltet. Dann steckte jemand eine Düse zwischen das Gitter und drehte auf. Fluchtartig verließen die anderen den Raum und warfen die Tür zu. Der Mann mit dem Hochdruckzylinder hatte eine Maske aufgesetzt. Nach wenigen Minuten hatte das Gas sämtliche Lebewesen in diesem Käfig getötet. Mit dem Beweismaterial und vielen Fotos verließ die Gruppe das Haus und versiegelte es. Zwei ›Kunden‹, die von der Aktion überrascht worden waren, sahen die schwarzen Wagen und machten nicht einmal mehr den Versuch, sich dem bewußten Haus zu nähern. Das Kommando durchsuchte noch die angrenzenden Gärten, setzte noch ein
paar unfruchtbare Weibchen aus und entdeckte endlich, fast in der letzten Sekunde, einen zweiten, versteckten Libellenteich. Auch er wurde rücksichtslos vernichtet. Dann stoben die Wagen davon – dem nächsten Ziel entgegen. »Voller Erfolg«, sagte der Kommandant. »Oberst Villa kann wieder einen roten Punkt von seiner Karte nehmen.« »Das ist eine gigantische Arbeit!« stöhnte der Fahrer. Sie wußten: Es war in dichtbesiedelten Gebieten relativ einfach, Schakale und deren Kulturen aufzustöbern und zu vernichten. Diejenigen Menschen, die sich einen Traum kaufen wollten, verrieten ihre Zulieferer, ohne daß sie es wollten. Merkwürdigerweise waren die Schakale nur in Ausnahmefällen selbst süchtig; es waren trockene, phantasielose Menschen, die an solchen Träumen keinen Gefallen fanden und sie anderen überließen. Sie kannten nur ein Ziel: persönliche Bereicherung. Aber ein Feldzug, der auf so breiter Front und mit einem derartigen Maß an Einsatzfreude geführt wurde, mußte irgendwann zu einem vollen Erfolg werden. Cliff und sein Team räucherten noch drei weitere Schakale aus, dann waren sie erschöpft, und die Arbeit für diesen Tag war getan. Zwei Tage später war Groote Eylandt frei. Niemand träumte mehr. Jeder arbeitete, und von Tag zu Tag wurden die Schäden weniger, wurde mehr und mehr aufgeräumt. Die Fabriken arbeiteten
wieder in voller Besetzung. Wenn jemand fehlte, bildeten seine Kollegen einen Trupp, holten ihn und ließen ihn von einem der vielen GSD-Beamten »aufwekken«. Die Säuberungswelle griff auf den Kontinent über. Es dauerte eine Woche, bis Australien – etliche Ausnahmen gab es natürlich noch – wieder in der Hand der Nichtträumer war. Überall gingen sie in der gleichen Art vor. »Zuerst«, sagte Cliff zu Arlene, »rasen die Sonderkommandos los und versetzen das Trinkwasser sämtlicher Behälter und die Reservespeicher der Wasserwerke mit dem Faktor Vee. Das ist der erste Schlag gegen die Träume.« Sie standen am Ende eines langen Tages, der sie auf dem Festland gesehen hatte, auf dem Band, das sie durch die unterirdische Röhre brachte. Eben verließen die beiden die Transportanlage und näherten sich dem Lift. »Besonders dein Alleingang, in dem du dieses Wohngebirge befriedet hast, nur mit Prac'h als Hilfe, verdient lobende Erwähnung!« Cliff grinste unbehaglich und erwiderte flüsternd: »Sage das bitte nicht laut. Vielleicht wohnen in diesem Haus Menschen, die lieber träumen als wachen wollen. Sie würden es mir niemals verzeihen, wenn sie wüßten, daß ich der Unhold war.« Cliff hatte systematisch eine ganze Nacht lang sämtliche Träumer in ORION-Hill gezwungen, Faktor Vee in wässeriger Lösung zu trinken. Der Lift brachte sie ins hundertste Stockwerk. Einige Minuten lang blieben sie in der Dunkelheit stehen und betrachteten die Sterne und die auffallend
wenigen Lichter, die auf dem Meer zu sehen waren. Arlene sagte leise: »Es ist grauenvoll. So schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Der Müll lag auf den Straßen und begann zu stinken. Es gab in weiten Teilen der Erde keine Elektrizität, kein Wasser und kein Essen. Die Menschen verwahrlosten innerhalb von sechs Wochen. Aber sie träumten.« Cliff öffnete die Tür zu seiner Wohnung; er konnte sich schon nicht mehr erinnern, wie es innen aussah, so lange hatte er nicht mehr hier gewohnt. Es schien etwas Wahres daran zu sein, daß Raumfahrer derartige Ausfallerscheinungen von Zeit zu Zeit offenbarten. »Nichts gegen Träume«, sagte der Kommandant leise. Er meinte es ehrlich. »Abgesehen von den nächtlichen Träumen, die für das Seelenleben wertvoll und lebenswichtig sind träume ich lieber am Tag. Und ohne jede Art von Rauschgift, pflanzlich oder organisch.« Sie standen jetzt in Cliffs Arbeitszimmer. Cliff stapelte sein Gepäck auf einen niedrigen Tisch und drehte sich um. »Du hast recht«, sagte Arlene. »Du scheinst immer recht zu haben, Cliff.« Cliff schüttelte den Kopf. »Keineswegs«, sagte er. »Ich habe immer nur dann recht, wenn ich etwas ungemein Pessimistisches äußere.« Er war müde. Cliff hatte seit zwei Wochen nichts anderes getan, als auf der Insel Groote Eylandt, in Australien, und zwar in allen vier Richtungen der Windrose, und auf den Inseln der Archipele nach Libellen und Schakalen
gejagt. Er hatte koordinierende Arbeiten übernommen, hatte kaum geschlafen und war restlos erschöpft. Er fühlte sich, als habe er niemals in seinem Leben Urlaub gehabt, als wäre die lange Fahrt mit dem weißen Boot nie erfolgt. »Ich werde erst einmal vierundzwanzig Stunden schlafen«, murmelte er. »Dann bin ich wieder der alte McLane.« Arlene nickte; sie war nicht weniger erschöpft. Sie schlief diese Nacht in Cliffs Zimmer, und der Kommandant nahm zwei Decken und legte sich in seinem Wohnraum auf den knöcheltiefen Teppich. Er schlief tief und traumlos. Er schlief allerdings keine vierundzwanzig, sondern nur achtzehn Stunden, aber das war schließlich auch eine respektable Leistung. Dann fühlte er sich wieder in der Lage, den Kampf mit dieser Welt aufzunehmen. Der Kampf begann am Nachmittag des folgenden Tages. Das Videophon summte auf, herrisch und unüberhörbar. Cliff ging durch die halbe Wohnung und drückte den entsprechenden Knopf herunter. Wamsler war auf dem Bildschirm zu sehen. »Na, mein Junge«, sagte er in übertriebener Jovialität, »gut geschlafen? Angenehm geträumt?« Cliff knurrte: »Wer gibt Ihnen das Recht, mich erstens so unverschämt lustig anzugrinsen und zweitens ausgerechnet nach meinen Träumen zu fragen?« Wamsler lachte trompetend. Die letzten Meldungen aus allen Teilen der Erde schienen beruhigend gewesen zu sein. »Im Ernst«, rief er. »Wie geht es Ihnen, Cliff?«
Cliff erwiderte: »Ich muß zuerst heiß und kalt duschen. Dann muß ich mich rasieren und anziehen, und schließlich muß ich eine Stunde lang frühstücken. Dann stehe ich gern wieder zu Ihrer Verfügung. Was gibt es eigentlich?« Wamsler antwortete: »In zwei Stunden ist die längst fällige, weltweite Sendung im Videophon. Wir geben einen Rechenschaftsbericht und außerdem einen Bericht über die Lage. Es sieht so aus, als sei der kritische Punkt überwunden.« Cliff knurrte: »Wie schön für Sie und diesen Planeten. War das alles?« »Ja«, sagte Wamsler. »Das ist alles, und ich bitte Sie, sich einzuschalten, denn dann wissen auch Sie, wofür Sie gearbeitet haben.« Cliff schüttelte fassungslos den Kopf. Er knurrte: »Das weiß ich schon seit über drei Jahren, wertester Vorgesetzter. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte; die harten Eier werden sonst wieder weich.« Wamsler grinste ihn an und schaltete ab. * Jetzt herrschte wieder jene Art von Ruhe die Cliff liebte. Seine Probleme waren kleiner geworden, die langen Ansprachen und Schilderungen, die Rechenschaftsberichte und die Diagramme, die farbigen Landkarten und die Trickzeichnungen waren längst vorbei. Sie hatten einwandfrei bewiesen, daß die vier Stufen der Gegenaktion ein voller Erfolg gewesen waren.
Das Mischen des Trinkwassers mit Faktor Vee ... Das gnadenlose Ausrotten von Libellenteichen und Züchtungen ... Der Zwang, ständig dieses Vitamin zu sich zu nehmen ... Die unfruchtbar gemachten Libellenweibchen und jene, die ein derart harmloses Gift absonderten, daß dies keinerlei Gefahr mehr bedeutete ... Cliff war nicht mehr länger eine Mischung zwischen Entomologe, Obstpflücker, GSD-Mann und Raumfahrer, sondern nur letzteres. Und das im Augenblick in einem sehr glücklichen Zustand, nämlich im Urlaub bis zum nächsten Einsatz. Er hoffte schon wieder, daß eines Tages die Notwendigkeit, mit der ORION und der Crew zu einer dramatischen Aktion starten zu müssen, nicht vorhanden war. Dieser völlig unangebrachte Optimismus bewies, daß er sich wieder wohl zu fühlen begann. »Eines Tages hänge ich alles an den berühmten Nagel«, sagte er. »Dann werde ich alt und weise sein und nur hier auf dem Schaumpolster sitzen und meditieren.« Arlene saß ihm gegenüber an dem reich gedeckten Tisch. Auf der Platte befand sich offensichtlich der gesamte Inhalt der Küche, und der Arm des Hilfsrobots hielt geduldig und ohne zu ermüden, die riesige Thermoskanne mit dem Kaffee hoch. Arlene lächelte und sagte: »Du, Cliff Allistair McLane, wirst niemals alt und weise. Vielleicht etwas klüger, und vielleicht vertiefen sich die bitteren Linien um deine Mundwinkel noch etwas mehr ... aber weise, ich glaube nicht.« Er betrachtete sie schweigend.
Sie war tatsächlich seit damals, seit dem Einsatz wegen der Mordwespen, hübscher geworden. Und anders. Sie war nicht mehr so grundlos sarkastisch, sondern ruhiger und weniger aggressiv. Und im Augenblick, unter dem Sonnendach im hundertsten Stockwerk von ORION-Hill, sah sie im weißen Bikini besonders aufregend aus. »Warte es ab«, sagte er. »Schicksalsschlag nach Schicksalsschlag hagelt auf mich herunter. Das alles kommt mit den Jahren.« »Haha«, machte sie. »Was war eigentlich der letzte Schlag des Schicksals?« Cliff legte eine daumendicke Scheibe ausgesucht guten Schinkens auf den Toast und sagte undeutlich: »Ich bin verkannt worden.« Sie lächelte ungläubig. »Du, verkannt? Merkwürdig. Du bist so wenig undurchsichtig wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch.« Cliff murmelte: »Ich bin von Ishmee verkannt worden. Sie dachte, daß ich wahllos jedem hübschen Mädchen nachrenne, und dies mit lichtschneller Geschwindigkeit, das mir über den Weg läuft. Und merkwürdigerweise laufen mir niemals häßliche Mädchen über den Weg. Obwohl beispielsweise zwischen Raghilt La Grange ...« Sie fragte: »... dem weißhaarigen Mädchen mit dem schicken Segelschiff?« »... richtig. Obwohl zwischen ihr und mir nichts anderes war als eine gute Kameradschaft zu Lande und zu Wasser, nahm Ishmee genau dies zum Anlaß, mir durch Oberst Villa ihre Verlobungsanzeige zukommen zu lassen. Und wenn ich daran denke, daß
ich die Turceed entdeckt und gerettet habe, dann kommt nur eine Menge von durchaus unpazifistischen Gedanken.« Arlene erwiderte ernsthaft: »Tröste dich. Alle Dinge im Leben sind vorübergehend.« »Auch unsere ... Freundschaft?« fragte er. Sie nickte etwas traurig. »Auch diese. Keiner von uns weiß, wie lange sie dauert. Du kennst dank Bishayr meinen Charakter besser als ich deinen, aber ich habe alle Presseberichte über dich gelesen und auch die scharfsinnigen Analysen des berühmten Pieter-Paul Ibsen. Ich glaube, wir halten es eine ganze Weile miteinander aus.« Cliff schluckte den letzten Rest Schinken hinunter und sagte: »Ich bin da auch recht optimistisch. Schließlich hast du dich in meinen Lebensweg geworfen, als ich noch tägliche Duelle mit Fräulein Jagellovsk ausfocht. Das einigt, glaube ich.« »Vermutlich.« Sie schwiegen. Über ORION-Hill stand die Nachmittagssonne. Die Anzahl der Schiffe auf dem Meer hatte sich vergrößert. Ein gutes Zeichen. Aber überall waren die Menschen noch dabei, die unübersehbaren Spuren zu beseitigen, die viele Wochen wilder, unkontrollierter Träume hinterlassen hatten. Cliff dachte an seinen eigenen, achtundvierzig Stunden langen Traum. Er war verlockend gewesen – eine Welt, in der alle Wünsche erfüllt wurden, in der jedes Problem lösbar und keine Frage ohne Antwort war. Eine farbige, verwirrende Welt, in der sich niemand anzustrengen brauchte, in
der es keinerlei Zwang gab. Cliff versuchte sich zu analysieren: Wollte er einen solchen plastischen Traum noch einmal erleben? Wollte er noch einmal zurück in diese Scheinwelt, die ihre Vorzüge hatte? »Nein«, sagte er. Arlene schaute auf und sah ihm mit ihren großen Augen ins Gesicht. »Was denkst du?« fragte sie. Er winkte ab. »Ich dachte an einen Traum. Aber ich habe mich eben entschlossen, in Zukunft den Realitäten das Beste abzugewinnen. Träume sind nichts für einen leidenschaftlichen Raumfahrer. Und wenn ich dich ansehe, dann brauche ich keinen Traum. Die Wahrheit und die Realität sind in diesem Fall unbestreitbar besser.« Arlene hob den Kopf und verfolgte mit den Augen etwas, das hinter Cliff zu fliegen schien. Der Kommandant drehte sich um und sah eine Libelle der bewußten Cassina-Art über die Terrasse fliegen. Sie sah aus wie ein Edelstein, in silberne Bänder gefaßt. Aber sie war keine Gefahr mehr. Ein Windstoß schien sie zu packen. Die schmalen, geäderten Flügel wurden unsichtbar, und der Leib trieb ab, kippte über die Brüstung und verschwand über der See im Glast des Sonnenlichtes. War es ein Symbol? »Bei allen Planeten«, sagte Cliff leise. »Es wird einem Mann wie mir wirklich leichtgemacht, zu träumen. Aber es bleibt bei meinem Versprechen.« Er lächelte Arlene an, und sie lachte zurück. Die Libelle war verschwunden. ENDE