Manfred Flügge
Die Unberührbare Ein Lebensroman
s&c by Ute77 Die Münchener Schriftstellerin Hanna Flanders ist schön, ...
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Manfred Flügge
Die Unberührbare Ein Lebensroman
s&c by Ute77 Die Münchener Schriftstellerin Hanna Flanders ist schön, exzentrisch und einsam. Sie lebt gegen den Strom und gegen die Zeit, doch sie hebt die Gegenwart nicht aus den Gleisen, sondern wird zum Flüchtling aus einem gescheiterten Leben. Als nach dem Mauerfall alle Welt jubelte, ist ihr erster Impuls, sich umzubringen. Ihr Weltbild ist zerbrochen. Dann aber sucht sie die Konfrontation mit den neuen Verhältnissen, fährt in das verrückt gewordene Berlin. Die Reise endet im Fiasko.
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Manfred Flügge
Die Unberührbare Ein Lebensroman Nach dem gleichnamigen Film von Oskar Roehler
Aufbau Taschenbuch Verlag
Mit 8 Fotos aus dem Film »Die Unberührbare«
ISBN 3-7466-1331-0 1. Auflage 2001 © Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin 2001 Umschlaggestaltung Preuße & Hülpüsch Grafik Design unter Verwendung eines Fotos aus dem Film »Die Unberührbare« © Advanced Filmverleih Druck Eisnerdruck GmbH, Berlin Printed in Germany
»Nichts ist so schwierig wie die Hinwendung zu den Dingen, wie sie wirklich sind, zu den Ereignissen, wie sie wirklich passieren, wenn man ihrer lange entwöhnt war und ihren Abglanz in Wünschen, Glaubenssätzen und Urteilen für sie selbst genommen hat.«
Christa Wolf, Nachdenken über Christa T.
Alles ist verdreht, denkt sie, die Hand des Fremden ist so warm, nur meine Haut überzieht ein leichter Rauhreif, den seine Berührung kaum zum Schmelzen bringt. Er scheint zu wissen, was mir fehlt, was ich will, denn ich weiß es schon lange nicht mehr. Vielleicht denkt sie auch: Ich erlebe das nicht, ich schaue nur zu. Vor meinen Augen geschieht etwas, und ich schaue zu und spiele gleichzeitig mit, es ist eine Geschichte, die entsteht, meine letzte Geschichte, die nichts mit meinem Leben zu tun hat, eine Ablenkung, eine Zuflucht vor dem, was mich erdrückt. Aber warum muß alles, was mir gut tut, unerwartet und von ferne kommen? Es ist keine Einbildung: Der Mann auf dem Barhocker neben ihr hat wirklich ihre linke Hand genommen und drückt ganz sanft auf den kleinen Hügel zwischen Daumen und Zeigefinger. Sein cremefarbener Anzug läßt seine Haut noch dunkler erscheinen. Ich bin entzweit, denkt sie, ich bin gerade dabei, mich zu entzweien. Etwas anderes ergreift Besitz von mir, Stück für Stück. Sie achtet so sehr auf ihre Empfindungen und Gedanken, daß sie ringsum nichts mehr wahrnimmt. Nicht die leere Hotelbar, nicht den blassen Barkeeper mit dem weißen Jackett, der nichts zu tun hat und doch andauernd beschäftigt ist, und auch nicht das Fernsehgerät, das stumm vor sich hin flimmert und Bilder aus einer fernen Welt zeigt, aus der Stadt, in die sie jetzt auch gekommen ist, Bilder, die sie verhöhnen und ihr wehtun, Bilder, vor denen sie flieht. Durchschauen, sagt man so? Selbst die Wörter werden ungewiß. Er hat mich durchschaut, dieser Fremde, denkt sie, er hat es mir angesehen. Er spricht, als hätte er alles verstanden, 5
was in mir vorgeht. Warum gerade er? Oder macht er es immer so? Sitzt er da und wartet auf seinen Augenblick, auf leichte Beute? Die Welt ist voller Menschen, die getröstet werden wollen. Aber ich? Bin ich nicht anders als die vielen? Die vielen, die sich auf den Straßen dieser verrückt gewordenen Stadt drängen? Sie feiern. Sie feiern meine Niederlage. Ich bin keine Beute, ich bin nur ein Überbleibsel, menschliches Aas, Abfall der Geschichte. Aber ein schickes Raubtier macht sich da heran. Aus Ägypten, sagt er. Er komme aus Ägypten. Wahrscheinlich hat er meine Perücke gesehen, bei der die Leute immer an Kleopatra denken, und glaubt, er macht mir eine Freude, erfüllt mir einen heimlichen Wunsch. Er hat seine Hand auf ihren Unterarm gelegt, er preßt seinen Mund an ihr Ohr, flüstert ihr einige Wörter zu, Wörter wie Eiswürfel. Es ist völlig gleich, was er sagt. Alles läuft von allein ab, von anderer Hand in Szene gesetzt. Ihr Leben ist ab sofort eine fremde Affäre. Ich fühle mich wie hinter Glas, denkt sie, hinter einer Glasfassade in einem erleuchteten Raum, verloren und herausgefallen aus allen Zusammenhängen, in einer Raumkapsel auf ihrer Umlaufbahn. Ich bin in dieser Stadt, an dieser Hotelbar, mit diesem fremden Menschen, der mit mir auf mein Zimmer will. Daß er fremd ist, ist mir das liebste. Er ist nicht von hier, das genügt. Seine Haut ist so dunkel, seine Augen sind feucht und braun, er spricht gutes Deutsch, sein leichter Akzent wirkt etwas künstlich, der Ring an seinem rechten Mittelfinger viel zu klobig. Modebranche, Dressman, ich höre ihn kaum. Welche Modemesse? Er hat meinen Dior-Mantel gesehen und spricht deshalb von Mode, und ich lasse ihn reden. Was jetzt Mode ist, geht mich nichts mehr an. Meine Produkte kommen gerade aus der Mode.
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Ich lasse ihn sagen und tun, was er will. Am besten übernimmt ab sofort jemand anders die Regie über mein Leben. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, ich bin hilflos und dumm und von Ereignissen abhängig, die ich nicht in der Hand habe, und von Leuten, die auf mich pfeifen. Dieser Modemann, Liebesmann, Beutemann kommt von weither, und ich bin auch nicht von hier, nicht mehr. Ich kenne mich hier nicht mehr aus. Die Mauer ist gefallen, und ich habe keinen Halt mehr. Ich taumele durch fremde Geschichten. Er drückt seine Lippen auf ihre Hand und läßt sie wieder los. Willkommen im Jenseits, denkt sie. Er hat eine Art, ihr in die Augen zu schauen, daß alle Gedanken verschwimmen. Dabei lächelt er kaum. Er bestellt Champagner für sie. Er nennt seinen exotisch klingenden Namen. Er wartet, aber sie reagiert nicht, läßt ihn spielen. »Und wie heißen Sie?« »Nennen Sie mich Hanna, einfach Hanna.« »Sind Sie Journalistin?« »Nicht ganz falsch geraten«, sagt sie, »ich bin Schriftstellerin.« Aber sie hat das Gefühl, daß sie lügt. Er redet von der Modemesse und was er dort alles zu tun hat. Er bestellt ihr noch ein Glas Champagner. Er tut es wie jemand, der etwas verordnet. Er stößt mit ihr an: »Auf unser Kennenlernen!« Und sie sagt: »Sie sind der erste, der nicht auf den Fall der Mauer mit mir anstoßen will.« Er setzt sein Glas ab und sagt mit vager Geste zum Fernseher hinüber: »Ich sehe doch, wie sehr Sie unter dem leiden, was jetzt geschieht.« Sie schluckt, aber sie sagt nichts. Was sieht er ihr denn an? Daß sie abseits steht im neuen Spiel, daß sie auf dem falschen Fuß erwischt wurde, daß sie ins Leere gelaufen ist? Spott der Redensarten. 7
Er kramt eine Brieftasche aus seinem Jackett hervor und zeigt ihr Fotos von zu Hause, aber sie schaut kaum hin. Wer weiß denn, ob sie echt sind? Leben nicht alle nur noch mit falschen Verwandten in dieser neuen, unbestimmten Situation? Achtlos nimmt sie ein Foto in die Hand. Hell gekleidete Menschen stehen auf einem Bürgersteig vor grauweißen Häusern, neben einer vollgestopften Straße. Am rechten Bildrand ahnt man den Stamm einer Palme. Sie schließt die Augen. Sie läßt sich treiben, läßt ihn spielen. Sie läßt sich sogar die Zigarette aus der Hand nehmen. »Sie rauchen zuviel«, sagt er. Sie raucht zuviel. Sie raucht ununterbrochen, als dürfe dieses kleine Feuer nicht mehr ausgehen, das sie allein noch wach hält und gegenwärtig. Ich liege an dieser Kette, könnte sie sagen, aber könnte sie noch Scherze machen? Nach dem dritten Glas Champagner vielleicht. Vielleicht könnte sie jetzt von sich reden, vielleicht könnte sie sagen: Wer bin ich? oder eher noch: Wer war ich? Ab sofort rede ich von mir in der Vergangenheit, ab sofort habe ich mich selbst überlebt. Ich habe nur noch blasse Erinnerungen an das, was ich gemacht habe, an die Bücher, die ich geschrieben habe, die Menschen, die ich gekannt habe, die großen Städte, in denen ich gelebt habe. Vielleicht denkt sie: Ich bin aus der Zeit gefallen. Bis vor kurzem war ich ganz auf eine starke Zukunft ausgerichtet, Zukunft, Wahrheit, Veränderung, und jetzt, wo sich alles mit einem Schlag zu verändern scheint, wo nichts mehr gilt, was vorher galt, bin ich hoffnungslos von gestern, auch eine dumme Redensart, aber auf mich trifft sie zu. Auf das, was ich jetzt mache, kommt es nicht mehr an. Die Zeit trennt uns von uns selbst. Man sieht sich wie auf alten Fotos, peinlichen Aufnahmen, die man längst hätte wegwerfen sollen, und versteht nur, wie lächerlich man war in den überlebten Maskeraden der Jahre, in den Moden des Ich. 8
Dagegen hatte sie sich gewehrt. Sie wollte ihr Bild bestimmen, immer das gleiche, seit Jahren schon. Sie trat auf wie eine künstliche Gestalt, schon damals, schon immer, künstlich wie eine Königin, eine Königin ohne Land, eine Chimäre, als Frau in Schwarz und Rot, mit der ausufernden schwarzen Perücke, in der mehrere Vogelnester Platz gefunden hätten, mit dem geschminkten Gesicht, mit den breiten, schwarzen Rändern um die Augen und um ihre ganze Person, Trauerränder für das, was sie niemals sein konnte. Ihr Bild war bekannt und nicht ohne Wert. Ihr Bild, ihr Name, ihre verblüffende Erscheinung. Sie existierte, sie vermochte Ärger zu erregen, zu provozieren. Jetzt wird ihr Bild verblassen. Fatal - die Gegenwart ist fatal. Woran wir scheitern, ist der Augenblick. Die Erinnerung und die Zukunft beherrschen wir (deshalb schreibe ich), aber die Klippe ist der Augenblick. Wenn die Zeit umkippt, uns dabei auskippt. Ein kleines Beben in der Zeit, und auf einmal bist du von gestern. Nichts davon sagt sie, und ob sie es denkt, wissen wir nicht. Wird man jemals sagen können, was mit ihr geschah? Ein Mensch macht eine Erfahrung, und dann sucht man die Geschichte zu dieser Erfahrung. Aber seine Erfahrung steht über Kreuz mit allem, was die andern empfinden, erleben, bejubeln. Dieser Mensch hat zum Beruf das Erzählen von Geschichten, aber diese eine Geschichte wird er selbst niemals erzählen können. Hände. Fremde Hände. Jemand, der nach ihr greift. Sie erlebt es, sie träumt es, sie hat es aufgeschrieben. Sie kann es nicht mehr unterscheiden. Sie preßt ihr Knie gegen das kalte Holz der Theke. Sie preßt immer stärker, als müsse sie sich Schmerzen zufügen, als wäre dieser Schmerz ein Schutz vor Berührung, als könnte jede Berührung sie jetzt auslöschen. Sie selbst muß diesen Schmerz erzeugen, sie muß bestimmen,
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wann er endet. Ihr Leben ist nur noch Dosierung der Schmerzen. In Bilderfetzen kehrt der alte Alptraum wieder. Sie geht durch einen Raum oder über eine Terrasse und alles, was sie anfaßt, wird zu Eis. Sie erschrickt, aber sie macht weiter. Zwanghaft muß sie alles berühren, was in ihre Nähe kommt. Immer größer wird das Eisfeld, das sie umgibt. »Woran denken Sie?« Sie schüttelt den Kopf, schaut ihn an, hat seine Frage nicht verstanden. »Sie sind mit Ihren Gedanken ganz woanders«, sagt der Ägypter. »Ich bin mit meiner ganzen Person woanders«, sagt Hanna. »Sehen Sie, jetzt können Sie schon Witze machen«, sagt er und lächelt, als habe er einen Heilungserfolg erzielt. Wenn er wüßte, wie tödlich meine Witze sind, denkt Hanna. Ab sofort ist sie in einer fremden Welt. Bisher war alles schön geschieden in Hier und Drüben, in selbst und fremd, aber jetzt geht alles durcheinander, und niemand ist ihr näher als dieser Ägypter. Welche Wege hat sein Körper zurücklegen müssen, bis er hierher kam, und ihr Körper, wie viele Touren und Torturen hat er mitgemacht, bis sie gerade hier auf ihn trifft und sich mit seinem Körper mischen wird? Es ist absurd und eben deshalb so selbstverständlich. Die Welt steht auf dem Kopf, auf ihrem Kopf, so kann es weitergehen. Draußen vermischen sie sich auch, auf andere Weise, aber es ist so unnatürlich. Seit man diesen Staudamm weggesprengt hat, werden die Straßen dieser Stadt von einem Menschenmeer überflutet, einem Menschenbrei, vor dem ihr ekelt und der sie abstößt wie einen Fremdkörper. Der Ägypter hat die Regie übernommen. Er steckt dem Barkeeper einen Geldschein zu, er führt Hanna zum Fahrstuhl. 10
Er nimmt den Schlüssel aus ihrer Hand und öffnet das Zimmer. Er nimmt ihren Mantel ab und hängt ihn auf den kleinen Garderobenständer. Er glaubt ihre Wünsche zu kennen, agiert wie ein erfahrener Heilpraktiker, ein Facharbeiter der Liebe. Will er hören, was sie erlebt hat, was sie hinter sich hat, was sie nicht mehr vor sich hat? Zur Rede stellen - sagt man nicht so? Müßte man sie jetzt nicht zur Rede stellen. Müßte sie jetzt nicht sagen: woher und wohin? Dies ist ein Abstieg, eine schiefe Bahn, noch so eine Redensart, ab jetzt gelten nur noch Redensarten, Formeln, gestanzte Rede, wie bei Beerdigungen, wo man keine eigenen Worte findet, sondern nur sagen kann, was immer schon gesagt worden ist und vielleicht immer schon falsch war, falls es im Leben überhaupt so etwas gibt wie falsch und richtig. Dabei hat sie an die Wahrheit geglaubt. An die Wahrheit eines Kampfes gegen die Welt, aus der sie kam. An die Wahrheit einer Gesellschaft, die noch zu entwickeln war. Aber was ist jetzt noch falsch oder richtig? Ist es richtig, daß sie sich auf das Zimmer begleiten läßt? Ist es richtig, daß sie dem Ägypter widerspruchslos die vierhundert Mark in die Hand drückt, die er vorher von ihr verlangt? Ist sie so sehr abgeschnitten von allem, daß sie jetzt für jeden Kontakt bezahlen muß? Wer wird sie, wer kann sie denn noch berühren, welche wird die letzte Berührung sein? Ist es richtig, daß sie sich ausziehen läßt von ihm, der längst ausgezogen ist? Es gibt kein Richtig und kein Falsch, es geschieht, stumm und einfach, wie in einem Film ohne Farbe, in einem der schwedischen Lichtspiele, in denen die Figuren vom puren Augenblick niedergedrückt werden, vom bloßen Dasein, als wäre es schon eine Schuld, überhaupt auf der Welt zu sein. War nicht immer alles falsch, jede Lebensgeste eine Verfälschung, Verbiegung, Verbeugung vor unbekannten Mächten? Konnte man nicht der aufgenötigten Komödie nur die eigene Komödie entgegensetzen? 11
Menschenmassen drängen sich in der Stadt, feiernde, fröhliche Menschen, in Ekstase gesetzt durch einen ungeplanten Karneval der Politik. Alle Gesetze sind aus den Angeln gehoben. Es ist eine endlose Feier, ein Auflösen, ein Zusammenbruch, in dem jede Zukunft plötzlich vergessen ist und jede Geschichte. Und in derselben Stadt, in einem kalten, kargen Hotelzimmer, läßt sich die Frau, die all dem fremd geblieben ist, von einem gemieteten Mann lieben, der sich Mühe gibt, zärtlich zu sein und mit keinem Wort und keiner Geste zeigen will, daß er sich vor ihr ekelt. Und einen Augenblick lang kann sie glauben, dieses kleine Geschäft unter Fremden sei so etwas wie eine liebevolle Begegnung. Was immer Hanna sich vorgestellt hat, es ist dann doch nur wie eine Filmszene, ein Mann und eine Frau in einem beliebigen Zimmer, eine Szene in einem Film, in dem sie selbst nicht vorkommt. Und wenn er wieder gegangen ist, wird sie zu den Tabletten greifen, die ihr längst keinen Schlaf mehr bringen. Und sie wird in ihrem Kopf nach einem Wort suchen. Gibt es nicht eine Krankheit, die so heißt? Gibt es nicht einen Namen für Wesen, die keine Ruhe mehr finden, die durch die Welt irren, in der sie nicht mehr heimisch sind, von der sie sich aber auch nicht lösen können? Aber wozu das jetzt noch herausfinden? Sie wird nie mehr erzählen. Sie erlebt keine Geschichte, sie erlebt eine Auslöschung.
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Die Grenze war längst überschritten, und sie wußte es. Nichts konnte sie noch halten, nichts, was von innen kam, und schon gar nichts, was draußen hätte geschehen können. Nutzlos und tot stand die Schreibmaschine auf dem Tisch. Kein Wort konnte mehr gesetzt werden und sich ans andere reihen, jedes Satzgebilde hätte seine Fratze emporgereckt und gehöhnt: umsonst, für nichts, das führt nirgends hin: das wird dir niemand abkaufen. Denn ums Abkaufen ging es jetzt. Nur noch ums Abkaufen. »Die Mauer ist gefallen.« Sie begann diesen Satz zu hassen. An jenem Novemberabend der Anruf aus Berlin und dann dieser Satz, der sie ganz blöd machte, wie ein widerlicher Refrain, der sich im Ohr festsetzt. Die Mauer ist gefallen. Und was hieß das? Das hatte sie nun zu lernen. Eine ungeheure Wut war in ihr, Wut gegen einen unfaßbaren Gegner, eine Zerstörungswut, aber was hätte sie zerstören können, außer ihrem Bild im Spiegel? November in München, diesem falschen Italien. Nur verwaschener Glanz über dieser Stadt, nicht einmal poetische Herbstnebel über den Wiesen und Gärten und dem bescheidenen Fluß. Wie eine Verbannte saß Hanna in ihrer Wohnkapsel und starrte ins Leere, ihre langen dünnen Finger spielten elegant und aufreizend wie je, wenn sie sich eine Zigarette anzündete, nestelten eine Schachtel auf, fischten eine kleine Tabakrolle in weißem Papier heraus. Alles hektisch und doch sicher wie im Schlaf. Sie sah sich um in ihrem Bungalow, in dem sie sich plötzlich fremd fühlte. Nichts schien zu ihr zu gehören, das Leninbild an 13
der Wand, die Bücherregale, der Stapel beschriebener Blätter (Heilig Blut stand auf dem Deckblatt, aber das wollte nichts mehr heißen), auch nicht der Fernsehapparat, in dem tonlos Bilder von aufgebrachten, weinenden Menschen flimmerten. Sie wünschte, blind und taub zu sein, um nicht mehr dieses furchtbare Volksfest miterleben zu müssen, wenn auch nur als Reportage aus der Ferne. Blind und taub sein, aber für immer. Sich in die Stille retten. Wie eine Schlafwandlerin stand sie auf und ging zum weißen Regal, schob einige Bücher beiseite wie eine lästige Sperre, griff zielsicher nach hinten und fischte eine kleine braune Flasche hervor, auf der noch das Etikett der SchwanenApotheke klebte. Zurück auf dem Sofa, starrte sie den Glasbehälter an, wie schon so oft, und schien nichts mehr zu denken. Von diesem Punkt gab es kein Vor und kein Zurück. Hier war der Ausgang aus allem Elend, aus diesem engen Flaschenhals. Die Zeit war aus den Fugen, und sie war zu schwach, noch etwas zurechtzurücken, es blieb nur der Wunsch nach dem großen Schlaf, in dem keine Träume mehr kommen. Sie saß in ihrem Bungalow, erleuchtet in einer dunklen Stadt, in der sie einmal geglänzt hatte und mit der sie kein Faden mehr verband. Abgenabelt von der Wirklichkeit, konnte sie nur das Fläschchen austrinken, um ins Nichts geboren zu werden. Das Telefon hörte sie erst nach einer Weile. Sie ließ es läuten. Was sollte sie jetzt noch unternehmen, was konnte sie jetzt noch anfangen, was sagen und zu wem? Für wen existierte sie noch? Aber dann hob sie doch ab, als hätte sie sich die Reflexe aus diesem Leben noch nicht abgewöhnen können. Sie hob ab, aber sie sagte nichts, starrte auf das kleine Fläschchen und versuchte, weiter an der Zigarette zu ziehen.
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Ronald meldete sich, der unfaßbare Begleiter der letzten Jahre, der schmale blasse Junge mit dem nicht zu zähmenden dunklen Haarschopf, den sie kannte, seit sie in die Kommunistische Partei eingetreten war, die verhaßte oder belächelte Statthalterin der anderen Seite, in der sie bald zur Vorzeigefigur wurde, Ronald, der sie immer unterstützt hatte, wenn sie sich auf Empfängen jenseits des Eisernen Vorhangs hofieren ließ, wenn sie wütende Interviews gab. Seine Stimme war unverkennbar, seine knappen Sätze hart und klar wie immer, er schien zu wissen, wie es um sie stand. Ronald hatte immer wieder davon gesprochen, das beste für ihn sei es, nach drüben zu gehen. Freunde hatten davon abgeraten. Wovor wollten sie ihn bewahren? War es denn wichtiger, sich nach drüben zu sehnen als drüben zu sein, für diesen Wunsch zu werben, den Reiz der anderen Seite zu pflegen, als dorthin zu gelangen? Und wie hing dieser Wunsch mit dem Schreiben zusammen, zu dem Ronald eine genauso unglückliche Zuneigung hegte wie zum Sozialismus? Bei Ronald war es etwas anderes als rationale Überzeugung. Es war eine verwandelte Sehnsucht, die keinen Namen hatte, eine große Erwartung, in der etwas lag wie eine heimliche Sucht, etwas, dessen man sich schämt und auf das man nicht verzichten kann, wie ein Virus, der den Leib auffrißt, sich aber lange nicht als Krankheitskeim zu erkennen gibt. Infizierte waren sie, aber wovon? Sie wußten es selbst nicht, dachten nie darüber nach und auch die nicht, die darüber ihre Freunde wurden. »Hanna?« Ronalds Stimme klang sehr behutsam. »Ich habe das Arsen schon in der Hand«, sagte sie nach langem Zögern, und er blieb stumm, atmete nur schwer. »Ich will dieses Leben nicht mehr. Ich mach jetzt Schluß«, sagte sie. »Ich leg auf.« 15
Aber sie legte den Hörer noch nicht aus der Hand, und er sagte: »Leg noch nicht auf.« Belanglose Sätze gingen hin und her wie kleine Weberschiffchen, schufen für Augenblicke einen Zusammenhang, der sie aneinander band. Sie rauchte, und er sagte, daß er auch raucht, und dann schlug er vor, daß jeder noch eine Zigarette rauchen solle. Zeit ausfüllen mit Nichtigkeiten. Mehr blieb jetzt nicht übrig vom Leben. »Ich kann nicht einfach so weiterleben. Jetzt kommen nur noch Demütigungen. Ich sehe es genau vor mir, jede Einzelheit. Nur noch Quälerei. Das muß ich nicht mitmachen.« Ronald blieb stumm, aber sie fühlte, daß er sie verstand. »Was soll uns hier noch halten? Bring dich doch auch um!« Ronald nahm es wie einen Scherz auf und versuchte zu lachen. »Was willst du denn jetzt noch machen?« Ronald antwortete nicht sofort. »Heute morgen habe ich einen Flug nach New York gebucht.« »Ja«, sagte sie, »bloß weg von hier. Ein Verrat ist das alles, ein furchtbarer Verrat. Bist du denn nicht verzweifelt?« »Nur wütend. Und das spornt mich an. Es ist eine neue Lage entstanden, das stimmt. Jetzt ist bald überall Amerika, eine Gesellschaft, in der Widerspruch nur eine andere Spielart des Systems ist. Wir müssen eine neue Form des Widerspruchs finden. Unser Kampf ist noch nicht zu Ende. Keine Bange.« »Es tut gut, dich zu hören, Ronald. Ich kann überhaupt nicht mehr klar denken. Ich will mich nur noch in die Tiefe fallen lassen.« »Stell das Fläschchen aus der Hand«, sagte Ronald. Und Hanna stellte das Fläschchen auf den Tisch, eine halbe Zigarette in den zitternden Fingern. »Warum ziehst du jetzt nicht einfach nach Ost-Berlin«, sagte er plötzlich, »das wolltest du doch schon immer tun.« »Ost-Berlin gibt es nicht mehr.« 16
»Eben drum. Laß dich nicht unterkriegen. Die wollen doch, daß wir alle aufgeben, daß wir uns alle umbringen. Aber dieser Einheitsrausch ist bald wieder vorüber, in drei Jahren sieht alles wieder anders aus, dann haben sie die Nase voll. Jetzt sind sie nur überrumpelt. Und dann braucht man Leute, die dagegenhalten.« Aber Hanna weiß, daß etwas Großes geschehen ist, eine wirkliche Veränderung, das ist kein Zwischenspiel, das wühlt alle Verhältnisse um. Etwas ist zu Ende gegangen, auf das, was jetzt kommt, hat sie keinen Einfluß, es gibt keinen Spielraum mehr. »Du kennst doch diesen Lektor von drüben, Joachim, wolltest du nicht zu ihm ziehen?« meldete sich Ronalds Stimme wieder, als wolle er sie sanft wieder zurück ins Leben schubsen. »Du warst doch eng liiert mit ihm, oder?« »Ich habe seit Wochen nichts von ihm gehört«, sagte Hanna. »Mach es wahr, geh nach drüben. Jetzt wo die Katastrophe perfekt ist, mußt du etwas Ungewöhnliches tun.« »Und wenn es schief geht?« »Dann kannst du dich immer noch umbringen. Und ich helfe dir, ich verschaffe dir einen Superabgang. Ich miete ein Zimmer im Waldorf Astoria in New York. Reicht dir der achte Stock?« »Nein«, sagte sie, »mindestens der dreißigste.« Und sie lachte tatsächlich. »Du wolltest schon immer hoch hinaus. Also gut, dreißigster Stock.« »Ich schaffe es nicht, ich bin so erschöpft«, sagte sie nach einer Weile. »Soll ich zu dir kommen, meinen Flug canceln?« »Nein, du mußt da jetzt hin. Ich versuch's.« »Eine Woche bleibe ich«, sagte Ronald, »hast du alles, was du brauchst?« »Ich brauche Baldrian«, sagte sie.
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»Gut, ich schicke dir jemand vorbei, der den Stoff bringt. Mach es wahr, geh nach Berlin. Vielleicht sieht von dort alles anders aus, vielleicht findest du dort einen neuen Ansatzpunkt. Ich rufe noch mal an, bevor ich abfliege. Courage, Hanna.« Ronald legte auf. Hanna saß noch lange neben dem Telefon, wie hypnotisiert. Wie in Trance griff sie zu einer Packung Prohypnon. Dieser Name war ihr Zauberspruch, ihr Gutenachtgedicht, Prohypnon, vier Tabletten aus dem Plastik gedrückt, ein Glas Wasser hinterher, das vertraute Ritual des Tablettenbrechens, mit dem allein schon eine leichte Daseinslust wiederkehrt, denn süß wie Paradiesäpfel sind diese kleinen Pillen, die alle Flattergedanken endlich einfangen und tief in die Erde sinken lassen. Sie liebte diesen Augenblick, der noch feierlicher war als das Anzünden einer neuen Zigarette, aber an diesem Abend hatte sie nicht mehr genug Aufmerksamkeit, das Ritual zu genießen. Ungewöhnlich rasch fiel sie auf dem Sofa in ihren künstlichen Schlaf.
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Und dann war es wieder ein anderer Tag, und sie trat vor den Spiegel in ihrem Badezimmer, beugte sich weit über das Waschbecken und vollbrachte mit sicheren Gesten die in langen Jahren geübte Zeremonie, ihr Gesicht herzustellen, denn ungeschminkt wagte sie sich nicht unter die Leute. Allmählich bekam sie wieder ein Gesicht, das Gesicht, das sie immer gehabt hatte, die Maske ihres Lebens. Sie nahm das Döschen mit silbrig schimmerndem Lidschatten, trug mit dem Zeigefinger etwas Creme erst auf das rechte, dann auf das linke Augenlid. Nun griff sie zu einem Fläschchen mit flüssigem Eyeliner, tauchte einen feinen Pinsel in die schwarze Tinktur, zog erst über dem rechten oberen Lidrand eine schwarze Linie, dann über dem linken, jeweils ein paar Millimeter länger als der Augenwinkel, nach Überprüfung der Länge erfolgte dann dieselbe Prozedur an den jeweils unteren Lidrändern, bis im spitzen Winkel beide Linien zusammenstießen, die sie erst jetzt breiter zog, die äußeren Ecken leicht korrigierend, dann kam die Prozedur mit der Wimperntusche, mit einem Bürstchen aufgetragen, wobei sie Härchen, die zusammenklebten, mit einer feinen Nadel trennte, schließlich nahm sie einen Stift, mit dem sie die Linien der sorgsam ausgezupften Augenbrauen verlängerte, fertig war der schwarze Blick. Als sie ihr Gesicht wiedergeschaffen hatte, fühlte sich Hanna voll neuer Energie und hellwach, aber ihr Wachsein war so künstlich wie ihr Schlaf, vier Tabletten haben sie munter gemacht, bereit, in das Leben außerhalb ihrer Raum-Kapsel zu tauchen, Captagol, weißblaue Patronen, stimmungsaufhellende Beruhigungsmittel, immer vier, eine heilige Zahl vielleicht für sie, Munition gegen die Angst, ohne die sie in ungeahnte 19
Tiefen gestürzt wäre. Jetzt war sie bereit, einen letzten Aufbruch zu wagen, ohne an ein Ziel zu glauben, die Probe zu machen, daß kein Exempel mehr möglich war. Endlich stand sie vor ihrem Flurspiegel, eine Frau Mitte Fünfzig, deren graues Haar niemand sehen würde, elegant wie immer, in einem Hosenanzug, so stand sie vor dem Telefon, eine Schriftstellerin mit Vergangenheit und einer fragwürdigen Zukunft, »mit dem Mut der Verzweiflung« hätte sie aufs Papier getippt, wenn sie noch geschrieben hätte. Sie wählte die Vorwahl des anderen Landes, das nun untergehen würde, aber noch galt die Nullnulldreisiebenzwei, so kam man hinüber ins andere Netz. Neue Welt hieß der Verlag, und sie meldete sich mit ihrem Namen Hanna Flanders, fragte nach Joachim Rau. Sie sagte ihren Namen und wartete ab, das war ihr letztes Spiel: ihren Namen zu sagen. Sie hatte sich einen Namen gemacht und eine Figur abgegeben, aber war ihr Name noch ein Wert, ein Schutz? Sie sagte ihren Namen, mehr nicht, dann waren die andern am Zuge. Erst nach mehreren Minuten hatte sie Joachim am Apparat. Er meldete sich aus einer anderen Sphäre. »Hier ist der Teufel los«, sagte er, und sie wußte nicht, meinte er die Stadt oder das Verlagshaus, »hier ist der Teufel los, ein unglaublicher Trubel«, und sie hörte das Stimmengewirr um ihn herum, und sie versuchte, sich das Gesicht von Joachim vorzustellen, genau so alt wie sie, moderat versoffen, etwa zu schnell dick geworden wie ein Spitzensportler nach dem Ende seiner Laufbahn, aber noch ansehnlich mit grauem, kurzem Bart. Er wurde immer wieder abgelenkt, mußte anderen Leuten etwas zurufen, etwas annehmen, grüßen, danken. »Ich komme nach Berlin«, sagte Hanna, und er sagte teilnahmslos: »Wie toll.« »Du bist nicht überrascht.« 20
»Hier kann einen nichts mehr überraschen.« »Hast du mich verstanden: ich komme für immer, ich ziehe um, ich lasse meine Sachen einpacken, und dann komme ich und suche mir eine Bleibe in Berlin.« Vom anderen Ende der Leitung kam nur Schweigen. »Wir haben doch so oft darüber gesprochen, und jetzt mache ich es wahr, wo die Katastrophe perfekt ist«, sagte sie und probierte den Satz von Ronald aus. »Hast du dir das gut überlegt?« Sie spürte sein Zögern, sein Vernünfteln, als gäbe es so viel zu überlegen, aber was galten jetzt noch alte Abmachungen, alte Geschichten zwischen ihnen. »Du freust dich ja gar nicht«, sagte sie etwas hilflos. »Willst du dir hier nicht erst einmal alles angucken, bevor du eine Entscheidung triffst?« »Aber dazu ist es zu spät. Es ist zu spät. Ich habe mit meinem Leben hier abgeschlossen. Ich habe schon genug gesehen hier. Ich bin hier so isoliert. Bei euch vielleicht nicht. Bei euch habe ich vielleicht noch Chancen.« Sie hatte bemüht gleichgültig gesprochen, aber Joachim schien zwischendurch mit jemand anderem zu reden. »Du klingst ja so fröhlich«, sagte sie. »Ist das ein Vorwurf?« Wie kann er fröhlich sein, hat er sich anstecken lassen von der allgemeinen Verblödung? Ist es eine Krankheit, die alle befällt? »Du klingst so erleichtert.« »Was ist daran erstaunlich? Soll ich jetzt Trübsal blasen, weil der Kommunismus zusammengebrochen ist?« »Ich lege auf«, sagte sie, »ich liege völlig daneben, auch bei dir. Ich kenne mich nicht mehr aus.« »Also gut, dann komm nach Berlin, wir werden schon einen Weg finden«, sagte er schließlich. »Aber mach dich auf was gefaßt. Hier herrscht der Wahnsinn.« 21
»Gut, dann komme ich«, sagte sie. Sie mußte weiterspielen, obwohl sie längst schon verloren hatte, obwohl noch das Einfachste über ihre Kräfte ging. Für die fragwürdige Zukunft mußte sie sich rüsten, mußte sie sich stärken und mit magischen Kräften ausstatten, wie sie es immer in schwierigen Situationen getan hatte, und so wählte sie mit sicherem Instinkt ihr nächstes Ziel: die Modeboutique in der feinen Straße. Sie trug Stiefeletten mit hohen Absätzen, einen langen Mantel mit Pelzkragen, hatte eine feine Handtasche am Arm, eine Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Und sie rauchte im Gehen unentwegt, dieses Feuer durfte nicht ausgehen. Mein kleines Höllenfeuer, dachte sie, auf dem ich gargekocht werde. Nach kurzem Zögern warf sie die halbe Zigarette weg und betrat die Boutique. Die Ladeninhaber, ein Paar im besten Alter, also wenn man sich keine falschen Vorstellungen vom Leben mehr macht, sondern weiß, wo man abkassieren kann, sahen so aus, wie man sich schicke Leute in München vorstellt, die ihr Geld und ihre sonnengebräunte Haut damit verdienen, daß die andern schick sein wollen. Man kannte sie hier, man erkannte sie, sie war eine gute Kundin, die Boutiquenfrau fragte, wie es ihr gehe, sie antwortete irgend etwas, es kam ja sowieso nicht darauf an, was sie sagte, lange nicht gesehen, Frau Flanders, sagte der Boutiquenmann, und dann sagte sie etwas davon, daß sie nach Berlin zieht, und man sagte ihr etwas Nettes über ihre Bücher, nur noch Leute, die gar nicht lesen, sagten ihr jetzt noch etwas Freundliches über ihre Bücher. Wenn sie etwas von ihr gelesen und es verstanden hätten, dann würden sie hier vielleicht nicht so rumstehen, oder?
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»München wird sie verlieren, wie schade«, sagte der Boutiquenmann. Die ganze Welt wird mich verlieren, dachte sie. Sie hatte keine Geduld, sich sehr lange umzusehen, sie entdeckte rasch den hellen Mantel mit den großen schwarzen Blumen, und sie ahnte vielleicht schon, daß dies ihre letzte Staffage war, ihr Kostüm für den Abgang. Viertausend Mark kostete der Mantel, und sie händigte ohnmächtig und willenlos die Karte aus, das kleine Plastikkärtchen, die Eintrittskarte zum großen Leben, das sie führen mußte. »Jetzt kann nichts mehr schiefgehen«, sagte die Boutiquenfrau, »so sind Sie für das neue Leben gerüstet.« Als Hanna den Laden verließ, dachte sie, daß sie ihn nie mehr betreten würde. Aber das war nicht ihr einziger Irrtum in diesem Prozeß. Und dann saß sie wieder in ihrem Bungalow und mußte sich entscheiden.
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Sie saß in ihrem Bungalow und mußte sich entscheiden. Sie nahm wieder Captagol, trank viel Wasser dazu, dann griff sie zu einem Aktenordner, kramte Fotos und alte Artikel hervor und breitete das Material auf dem Boden aus. Beschwörung der Vergangenheit, bevor sie aufbrach. Alte Briefe fielen ihr in die Hände, herausgefischte Sätze, Klagen über ihr schlechtes Aussehen, über den jämmerlichen Eindruck, den sie machte, Spuren vergangener Wut, alter Depressionen. Alte Artikel und Berichte, die sich mit ihrem Foto schmückten. Und wie viele Wörter waren nicht auf sie gemünzt gewesen, Shootingstar der jungen deutschen Literatur, geschmacksbewußt und tendenzsicher, frostige Sprache, sprachliche Rituale, Banalitäten werden als Waffen eingesetzt... Eine Hoffnung für morgen war sie. Und ihr Auftreten war viele Fotos wert, Dichterin und Covergirl, ihr unwandelbar scheinendes Gesicht, eine blendende Erscheinung. Hatte sie sich auch blenden lassen? Erkannte sie sich selbst noch auf diesen Fotos? Bemerkte sie diese ängstlich verlorenen, unsicheren, ungläubigen Augen, die um Erlösung von einer gewaltigen Last flehen, als wollten sie herausgeholt werden aus der Hülle, in der sie sich verfangen haben, wie in eine falsche Puppe eingesetzt, eine Pappfigur, eine ganz fremde Gestalt. Sah sie das spitze Gesicht, die fliehenden Wangen, und vor allem diese Augen, die vor ihr selbst gerettet werden wollen, vor der Gestalt, die sie abgibt, diese um Hilfe rufenden Augen, die zeigen, wie sehr sie eine Fälschung und Entfremdung gelebt hat? Tiefe Gräben unter den Augen, als Zeichen dafür, daß der Stoff, der sie ernährt und 24
belebt, sie zugleich auszehrt, als sei das bloße Leben eine Anstrengung, die sie eigentlich überfordert. Auf sehr alten Fotos trug sie eine Frisur, die wie ein Helm wirkte, übergestülpt und mit leicht ausufernden Rändern, aber immer zeichneten sich kräftige Wangenknochen ab, gerundet und stark hervortretend, so rund, daß die Wangen darunter noch steiler abfielen. Die Nase, ein steiler Grat im Gesicht, lief sehr spitz zu, war nur am äußersten Punkt doch wieder abgeflacht. Ein Gesicht aus lauter Gegensätzen, eigentlich lang und schmal, von der Nase noch betont, auch von den hohlen Wangen, nur die Perücke veränderte die Erscheinung ins Breite, machte sie zum Querkopf. Lange betrachtete sie das Foto von einer Zeremonie in Italien, als sie den renommierten Preis bekam für ihren ersten Roman, zusammen mit dem großen, immer leicht gebeugt stehenden Mann, der später den Nobelpreis erhielt. In diesem Leben ist sie einmal gewesen, in diesem künstlichen Raum des Ruhms. Welch ein Rausch, so im Licht zu stehen! Welchen Schwung verleiht einem die Droge Aufmerksamkeit, der gelenkte Blick, den man in feinem Spiel auf sich ziehen und immer ein wenig abschrecken muß. Sie sah sich wieder, bei Lesungen und Diskussionen in Theatern, in Clubräumen, in Kulturinstituten im Ausland, sie sieht ihre schwarz-weiße Erscheinung neben Freunden, Förderern, späteren Feinden, Wolf Wölffer etwa, der koboldhafte Dichter mit den Pausbäckchen, der manchmal dreinblickte wie eine Schildkröte, Hans Serdan, der Herr der Nachstudios, zu Zeiten als der Rundfunk noch eine Kulturschmiede war, Ludwig Binder, ihr erster Verleger, und dessen Nachfolger Georg Unscheid, der sie aus dem Verlag gedrängt hatte, und andere, deren Namen sie schon vergessen hatte. Lichtjahre lagen zwischen jener Person und ihr selbst. Sie ist nicht weitergekommen, weil sie sich gleich geblieben ist. Die 25
anderen haben sich verändert und sie stehenlassen, als erstarrtes Bild, als Idol, das nun verworfen ist. Sie fand schließlich Bilder von den Ihren: Bruno König, der Mann ihres Lebens, und ihr Sohn, auf dem letzten Foto der kleinen Familie, als Viktor zwei Jahre alt war. Er sitzt auf ihrem Schoß. Hat sie danach je wieder ein Kind auf ihrem Schoß gehabt? Für ihren Sohn hätte sie sich nicht verwandeln müssen, verkleiden und glänzen müssen, für ihn wäre es genug gewesen, sie wäre dageblieben. Noch einmal rief Ronald an. Er wollte wissen, ob alles wie versprochen liefe, und er nannte ihr seine Telefonnummer von drüben, drüben war über dem großen Teich, seine Nummer in Manhattan. »Das Rezept habe ich bekommen«, sagte sie. Sie redeten nur mit Codewörtern, sie hatten eine geheime Sprache, der Feind hörte mit, noch einmal hatten sie dieses Gefühl, daß es einen Feind gab, vor dem sie auf der Hut sein mußten und der sie ernst nahm, daß sie überwacht und verfolgt würden, daß Durchsuchung und Beobachtung ein Bestandteil ihres Lebens war, daß ihr jetziges Leben nur ein Vorspiel war zu einer ganz anderen Zeit, einem ganz anderen Leben, daß sie einer großen Verschwörung angehörten, die ihre eigene Sprache und Bilder hatte, und Ronald flüsterte mit seiner kratzigen Stimme Verse in den Telefonhörer. Es ist eine Angst Vor einem Gedanken. Es ist eine Angst, Einen Gedanken zu Ende zu denken. Es ist eine Angst,
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Mit diesem Gedanken Nicht mehr so weiterleben zu können Wie bisher Es ist eine Angst, Ein anderer werden zu müssen ... Zu Ende die Schlacht! O Angst vor dem Tod, Den wir nicht gestorben sind Und der Wind, Der in den Zweigen flüstert, Ist ein Lied Unserer Traurigkeit ... Ronald zitierte es, und es war wie ein Abschied, ein letztes Mal, danach galt der Zauber dieser Verse nicht mehr. »Ich liebe dich«, sagte Ronald. Und: »Ich muß jetzt Schluß machen.« Und vielleicht dachte sie: es macht Schluß mit uns. Es räumt mit uns auf. Es fegt uns hinweg. Aber vielleicht dachte sie auch nichts und versank im Sog der nächsten Zigarette. Dann rief sie ein Umzugsunternehmen an, sie wollte ihren Bungalow ausräumen lassen, denn nun wollte sie es wahr machen, sie wollte ihren festen Ort aufgeben und in dieses rätselhafte Berlin ziehen. Aber zuvor meldete sie sich noch einmal zu Wort.
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Hanna meldete sich noch einmal zu Wort, aus dem Jenseits der Gegenwart, der laufenden Ereignisse, der davonlaufenden Entwicklung, die niemand in der Hand hielt. Alle waren den Ereignissen ausgeliefert, nur die Ereignisse zählten, aber was sind Ereignisse? Sie brennen ein Loch in die Zeit und das Bewußtsein, sie bringen Verhältnisse zum Beben und das Ich. Das Subjekt der Geschichte hielt sich schön versteckt in diesem Herbst, in dem Regime fielen wie welke Blätter. Und wer sorgte noch für Widerspruch? Sie. Sie allein. So kommt es ihr vor. Eine junge Reporterin kam zu ihr, Meret Altan, die sie schon kannte, die schon mehrfach Stellungnahmen von ihr erbeten und auch veröffentlicht hatte, seit Hanna in die DKP eingetreten war. Hanna hatte eine Schwäche für diese junge Frau, die sich zu jeder Jahreszeit dick anzog, mit wattierter Jacke und festem Pullover, als müsse sie sich gegen eine Kälte schützen, die nur sie allein spürte. Wo sie politisch stand, gab Meret nie zu erkennen, aber Hanna spürte ein deutliches Wohlwollen bei ihr. Sie war ihr letzter Draht in die Öffentlichkeit. Meret kam in Hannas Bungalow, legte auch drinnen nicht ihre grüne Jacke ab, stellte ein kleines Tonbandgerät auf den Couchtisch und befragte sie, und Hanna gab letzte Erklärungen, ihr politisches Testament, bevor sie sich verlor in diesem vagen Treck in die Hauptstadt der neuen Bewegung der Zeit. Hanna zog an der Zigarette, nahm ihre Wut zusammen und erklärte: »Als Autorin werde ich im kommunistischen Teil Deutschlands mehr geschätzt als im Westen. Ich will nicht wahrhaben, was im Moment geschieht. Für mich ist das alles 28
ein Tiefschlag, ich bin sehr deprimiert, jetzt frißt die Konsumgesellschaft uns alle auf. Mich macht es krank, diese Einheitsmenschen zu sehen, wie sie in Unterhosen wühlen, wofür kämpfen sie? Für Fruchtjoghurt und Ketchup, für all diese Produkte mit den Täuschnamen, Mon Chéri und Du darfst und Nimm zwei. Diese Leute kämpfen nicht für die Wahrheit im Sinne von Lenin. Sie haben mit dem Kommunismus nichts am Hut. Haben nie dafür gekämpft. Sie haben jede Achtung und Selbstachtung verloren. Sie fallen herein auf die vergifteten Lockmittel der Warenwelt. Sie wollen sich Westtampons und Bananen in ihre Fotzen stopfen. Alles nur Arschlecker und Gesocks, hier wie da, Dissidenten sind auch nur Opportunisten.« Die junge Reporterin im Parka schluckte und notierte, und das kleine Aufnahmegerät lief brav und geduldig weiter. »Wahrheit«, sagten Sie, »aber was ist denn noch die Wahrheit?« »Die Wahrheit ist, daß hier die Verunstaltung zum Gebet wird.« Hanna holte tief Luft, nachdem ihr dieser Satz gelungen war. Ihre schwarzumrandeten Augen flackerten leicht. Dann sagte sie, plötzlich mit viel leiserer Stimme: »Die Wahrheit ist, daß ich keinen Traum mehr habe. Ich habe an Lenin geglaubt. Wenn ich zugeben müßte, daß nicht Lenin recht hatte, sondern dieser schmarotzerische Pöbel, der jetzt überall hervorkriecht, dann hat das Leben für mich keinen Sinn mehr.« Die junge Reporterin schaute sie an, wartete, richtete den Oberkörper auf. »Ich bin sehr froh, Sie so entschlossen zu sehen, so kämpferische Sätze von ihnen zu hören. Ich hatte, Angst, jemand wie Sie könnte jetzt resignieren.« »Ich habe keinen Rückhalt mehr, aber ich muß auch keine Rücksicht mehr nehmen.« 29
»Gut. Aber ist Ihre Bemerkung über die Dissidenten nicht zu hart?« »Die wahre Dissidentin bin ich. Ich bin die Abweichlerin, bin es immer schon gewesen, und ich habe dafür bezahlen müssen. Ich habe nein gesagt, grundsätzlich nein, habe mir vorgenommen, niemals Konzessionen zu machen. Das war mein Vorsatz, und den habe ich nie aufgegeben.« »Aber ist nicht eben deshalb bei Ihnen Krise angesagt?« »Ich habe schon lange gespürt, daß der Widerstand nachläßt, daß die Linke schlaff wird und feige, daß sie sich einfangen läßt, einkaufen läßt, daß man noch stolz darauf ist, ein Teil des Spiels zu werden.« »Sie denken an Leute wie Wolf Wölffer, den Sie ja sehr gut gekannt haben? Und der sich früher so stark exponiert hat?« »Der geht in jeden Sturm, aber nur um sich weiter vorantreiben zu lassen. Aber ich bin keine Tänzerin im Strom. Ich halte dagegen.« »Auch jetzt?« Hanna schwieg, kämpfte mit Tabakfusseln zwischen ihren Zähnen. »Wo jetzt mein Platz ist und mein Weg, wird sich noch finden. Es wird jetzt natürlich sehr schwer werden, Signale des Protestes zu setzen.« »Aber wogegen sollte man denn jetzt noch aufbegehren?« »Vielleicht steht eines Tages wirklich ein neuer Faschismus vor der Tür, und dann ist die sogenannte Linke matt und mau und abgeschlafft und fällt von alleine um.« Meret ließ eine kleine Pause eintreten. »Hängt Ihre Verbitterung vielleicht damit zusammen«, fragte sie vorsichtig, »daß westdeutsche Verlage Ihre Manuskripte nicht mehr haben wollen?« Hanna rauchte weiter, sagte erst einmal gar nichts. Jener Verlag, der sie einst so hofiert hatte, wollte nichts mehr von ihr wissen, »aber dieser Verlag«, sagte sie schließlich, 30
»arbeitet doch mit der CIA zusammen, der ist nur ein Außenposten des amerikanischen Kulturimperialismus, das ist doch bekannt, denen bin ich zu links. Ich will aber gar nicht mehr in der Bundesrepublik veröffentlicht werden. Ich habe nur nicht die Mittel, nach Paris, Rom oder London zu gehen, Berlin ist erst einmal Ausland genug.« »Haben Sie Angst vor dem Scheitern, Frau Flanders?« Da war es, das tödliche Wort. Die Zeit rückt ein Kästchen weiter und du bist aus dem Spiel. Aber auf den Grund ihrer Trauer kam sie noch nicht, sie fühlte sich verraten und verkauft, verlassen, sie spuckte Haß und Verachtung aus gegen einen unnennbaren Feind. »Kann schon sein, jetzt wird unbarmherzig ein Resümee gezogen«, sagte Hanna, »ein Resümee über mein Leben, meine Auffassung von Kunst. Und dann entsteht die Frage, ob ich noch eine Chance habe. Ob ich weiterschreibe, bis ich den Büchner-Preis erhalte, oder ob ich Blumen verkaufen gehe auf dem Markt. Und das kann ich mir durchaus vorstellen.« Und tatsächlich lächelte sie dabei. »So lächelnd sehe ich Sie am liebsten«, sagte Meret. »Aber ich hoffe, ich muß nie bei Ihnen Blumen kaufen. Obwohl die Vorstellung nicht ohne Reiz ist.« »Warten Sie ab, bis ich ein altes Mütterchen bin«, sagte Hanna, aber das konnte sich Meret beim besten Willen nicht vorstellen. So ging dieses Gespräch versöhnlicher zu Ende, als es begonnen hatte. Die Reporterin verabschiedete sich herzlich, wünschte ihr alles Gute wie einer Schwerkranken. Mit ihrer Ablehnung war Hanna nun allein. Sie hatte ihre Worte gesagt, die sich irgendwo im Stimmengewirr der Zeit verlieren würden. Die Möbelpacker arbeiteten rasch und genau, räumten die letzten Regale und Schränke aus, Hanna brach die Brücken hinter sich ab, sie räumte ihren festen Ort für ein vages 31
Versprechen. (Aber hatte sie sich nicht ein Leben lang von Versprechungen vorwärts treiben lassen?) Sie wollte einen Zipfel dieser Zukunft erhaschen, die so plötzlich und so anders hereingebrochen war in dieser verkehrten Revolution. Schließlich war das Haus leergeräumt, ihre Einrichtung hatte nichts als Flecken und Streifen hinterlassen, und sie schaute sich um und fragte sich, ob sie auch ihre Person so leerräumen lassen konnte, all das herausrücken konnte, was sie angefüllt, was ihr Leben, Denken, Schreiben ausgemacht hatte, sie stand da und rauchte und dachte an ihre Auswanderung nach Berlin und vielleicht auch an diese französische Redensart: Wozu soll man denn reisen, da man sich selbst niemals verlassen kann. Dann rief sie noch einmal in Berlin an, konnte aber Joachim nicht erreichen, wußte also nicht, ob er sie abholen käme am Bahnhof, hinterließ im Verlag eine Nachricht für ihn, nannte ihr Hotel. Man reichte ihr die Rechnung für den Umzug, sie war gepfeffert, aber sie mußte quittieren, jetzt mußte sie jeden Augenblick Quittungen unterschreiben, Quittungen für alles, was sie je gedacht, geschrieben, gewollt hatte. Sie hatte einen Mantel gekauft, sie ließ die Möbel einpacken, sie hatte einfach noch zu viel Geld auf dem Konto gehabt, abgebrannt, ausgezehrt und ohne Reserven wollte sie in diesem seltsamen Berlin ankommen. Höchstens noch zweihundert Mark in der Tasche, genau wie damals, als ihr kurzes Glück begann, als sich ihr Leben so sehr veränderte, weil sie den großen Preis erhielt: zehntausend Dollar für ihr erstes Buch.
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Zehntausend Dollar auf einen Streich, das tut gut, das macht leicht, das macht fröhlich: für seine Fantasien so belohnt zu werden. Eine freche Abrechnung mit der eigenen Familie wird draußen in der Welt honoriert. Draußen ist alles anders als in der Familie, das Schreiben hat sie davon befreit. In ihrem Schreiben sprengt sie alle Fesseln, kennen ihre Wut und Lachlust keine Grenzen. Wie das kam, war ihr selbst nicht klar. Sie hatte es immer gewußt, ihr würde der große Streich gelingen oder sie würde kaputtgehen. Wie war das zugegangen? Ihre ertrotzte Ehe mit Bruno war noch jung, ihr Kind gerade ein Jahr alt, und plötzlich waren lauter große Namen in der Nähe, dank Brunos Beziehungen, durch seine Arbeit zunächst im Rundfunk, dann im Verlag, plötzlich machten ihr einflußreiche Leute den Hof. Man lud sie ein, sie las ihre ersten Texte, und sie las gut, sie brachte das Publikum immer zum Lachen. So viel Zerstörungswut imponierte. Solche rhythmischen Satzgeschosse, die trafen ins Ziel. Und dann war es soweit, daß sie ihren ersten Roman zur Welt brachte, gut beraten und betreut. Ihr Angriff ging nicht ins Leere. Sie erinnerte sich noch an den warmen Händedruck des Verlagspatriarchen Binder, der sie auf der Schaulesung angesprochen hatte. Alle hatten gelacht über ihre Geschichte vom guten Esser, dem Lebensknirps, dem Giganten der Winzigkeiten. Binder hatte eine ganz weiche Hand, schwitzend und schwammig, kommen Sie zu uns, hatte er gesagt, wir werden Sie groß herausbringen, und er hatte sie an seinen Tisch geholt und ihr das Gefühl gegeben, schon dazu zu 33
gehören, und er hatte mit seiner dröhnenden Stimme Geschichten erzählt, alle seine Autoren mußten seine tolldreisten Geschichten anhören, das war ihr Katechismus, auch die Geschichte von der Prostituierten mit dem Holzbein, einer Attraktion auf der Reeperbahn, seine Erlebnisse beim Tischtennisspielen mit dem amerikanischen Autor, der als Sexguru galt, weil er in seinen Büchern dieselben Liebesszenen immer neu erzählte, der aber ein ganz friedliches und zurückgezogenes Leben in einer Hütte an der kalifornischen Küste führte, wir bringen Sie groß heraus, hatte der Patriarch gesagt, (später kamen junge, smartere Herren, die solche deftigen Stories nicht mehr zu bieten hatten), wir machen aus Ihnen das neue Fräuleinwunder, er hatte ihre Hand geküßt, und sie sah schon ihre künftige Rolle als aufreizende Gestalt, über die man bald auch kesse Stories erzählen würde, und dann sie hatte den Preis erhalten, Binders Einfluß machte es möglich, ihr Foto war überall groß herausgebracht worden, aber sie merkte nicht, daß sie eher ein Pin-up-Girl der Literatur war als eine geachtete Autorin, daß sich diese Rolle nicht durchhalten ließ. Was ist schlimmer als ein Fräuleinwunder von gestern? Man läuft ewig den Versprechungen hinterher, die man angeblich verkörperte. Ein paar Jahre hatte sie so gelebt, hoffnungsvoll und rauschhaft. Auf welchen Zauber war sie da hereingefallen? War sie selbst Emma Bovary, aber nun als Autorin, nicht als Leserin? Wer würde diesen Roman schreiben? Sie nicht mehr. Solche Gedanken hatten keine Chance mehr bei ihr. Sie konnte nichts umkehren, nichts ironisch brechen, sie hatte nicht genügend Distanz zu sich selbst, der große Spaßvogel unter den schreibenden Frauen konnte nur den begonnenen Weg zu Ende gehen. Und schon bald las sie Artikel in den Journalen, die sich mehr mit ihrer Person beschäftigten als mit ihren Büchern.
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Man fand die Autorin aus Oberfranken so gar nicht altfränkisch, man sprach von der monströsen MonsterErfinderin, dem erschreckten Bürgerschreck. Ihre Erscheinung wurde zum Schleifstein des Witzes der anderen. Dabei trug sie damals noch eine Kurzhaarfrisur und kleine Hüte, nur ihre Augenränder schminkte sie schon tiefschwarz. Man versäumte nicht zu erwähnen, daß ihr Elternhaus im Dichterviertel ihrer Heimatstadt lag, man befragte ihre Mutter, die nicht wußte, ob sie sich über den unerwarteten Ruhm ihres Früchtchens empören oder freuen sollte, und die Reporter doch wissen ließ, daß sie in einigen Dingen ganz andere Auffassungen habe als ihre Tochter. Kultur fange mit einem sauberen Badezimmer an, und: Wir leben nun mal in einer ziemlich bürgerlichen Welt. Zur ersten Lesung ihrer Tochter im heimischen Theater erschienen die Ernährer aber doch. Stolz oder Groll - die Eltern wußten es wirklich nicht. Der Vater, Herr Doktor und Herr Direktor in einem Weltkonzern, ließ verlauten, daß man Kritik an der Gesellschaft doch auch in andere Form kleiden könne, und außerdem mißfiel ihm ihr Auftreten, vor allem die schreckliche Frisur, mit der sie nun herumlaufe, wo sie doch früher ein so reizendes Mädchen war. Kleopatrafransen, sagten die Leute, die sieht ja aus wie Kleopatra, aber welches Reich würde von ihr beherrscht und mit ihr untergehen, welche fremden Herren würden sie umschmeicheln und zu gewinnen suchen, wer würde nach ihrem Ende ihr Reich zur Kolonie machen? Das sagten sie nicht. Als das durchgebrannte und aufreizende Direktorentöchterlein den großen Preis in der Literaturlotterie erhielt, war sie siebenundzwanzig und besaß gerade noch zweihundert Mark. Danach begann die große Sause, durch alle Zeitungen wurde sie gejagt, quick quick wurde sie zum Stern gemacht, man schickte sie in die großen Städte, fotografierte sie über den Dächern von Rom, machte sie zum 35
Ausstellungsobjekt. Schwungvoll ging es hinein ins glänzende Leben. Sogar ein Deutschbuch für japanische Studenten arbeitete mit ihren Texten. Er sollte zu ihrer Legende werden, dieser erste Titel, dieser erste Erfolg, der alle Maße sprengte, dessen genauen Grund bald niemand mehr wußte. Sie lebte und schrieb mit dieser Vergangenheit. Sie konnte es sich leisten, die immer böser werdende Kritik zu überhören. Ihre Texte wurden dabei auch immer böser. Alltagsmassaker in fröhlichem Stakkato. Aber bald war sie kein Sternchen mehr, sondern saß allein vor ihrem leeren Tisch. Da mußte sie sich beweisen. Und immer mußte sie von der alten Hoffnung zehren, immer bitterer wurde dieser frühe Lorbeer. Sie wurde zu ihrem eigenen Maßstab, dem sie nicht mehr genügte. Sie wehrte sich, es wurde stiller um sie, aber sie pflegte ihre Erscheinung, ihre Auftritte, machte ihr Make-up und ihre Sätze immer extremer. Man lud sie noch ein, schmückte Podien mit ihr, und ihr Name blieb eine Referenz. Nur die Auflage ihrer Bücher sank und sank. Sie mußte bald mit ihrer Vergangenheit hausieren gehen, um neuen Kredit zu erhalten. Wenn sie allzu große Selbstzweifel plagten, lud sie ein paar Freunde ein, las ihnen die Bravourstücke aus dem ersten Roman vor, und fand im Feuer der Lachsalven wieder zu sich. Und dann lernte sie auf einer Buchmesse in Leipzig Joachim Rau kennen, der immer bestens aufgelegt war, mit dem sie sich auf Anhieb so gut verstand, daß es geradezu unheimlich war. So spielerische Menschen, die einen großen Vorrat an Witzen hatten und auf alles eine Antwort wußten, hatte sie drüben nicht erwartet. Das war eine Entdeckung und Erholung. Und bald hatten sie sich auch in Berlin getroffen, in einem winzigen Apartment in einem Plattenbau nahe der Friedrichstraße, in einem fünfstöckigen Haus mit lauter verschwiegenen kleinen Wohnkästchen, von denen sie sich vorstellte, daß sie alle konspirativen Liebesverhältnissen dienten. Dieses zweite 36
Leben beflügelte sie, gab ihr neuen Auftrieb. Und bald erschienen zwei ihrer Bücher auch in der DDR. Offizielle Empfänge folgten, kleine Auszeichnungen, sie begann wieder eine Perspektive zu sehen. Ihre Laufbahn fing von vorne an. Daran war nicht zu zweifeln. Bücher, Männer, Hauptstädte. Die Listen wurden länger, aber nicht belangvoller. Sie hielt sich an ihre eingespielte Rolle. Sie pflegte ihre Auftritte. Sie lief und lebte ihrem frühen Ruhm hinterher. Von Zeit zu Zeit kreuzte sich ihr Weg mit dem von Bruno König, ihrem ersten Mann. Zuweilen tauschten sie Briefe aus, in der alten Mischung aus Zank und Zuneigung. Aber ihrem Leben fehlte der Pfeffer. Ihren Büchern auch, monierten die Kritiker und maßen sie an ihrem ersten Roman, dem angeblich so guten, dessen Titel jeder kannte, den niemand mehr las. Und irgendwann, Mitte der achtziger Jahre, überschritt sie eine Grenze. Leipzig im Dämmerlicht. Es ist Ende März, aber es will nicht hell werden. Ein zäher grauer Nebelschleim liegt über den Straßen. Hanna, müde und kaum noch mit Zigaretten versorgt, steht am Fenster des Hotelzimmers, schaut durch den dünnen Vorhang über die breite Straße, auf der Straßenbahnen rumpeln und quietschen, und über die Magistrale hinweg auf das Gewandhaus, in das Menschen mit eiligen Schritten gehen, als könnten sie dort Schutz finden. Sie wartet auf Joachim, der noch am Stand seines Verlages zu tun hat. Aber sie ist nicht nervös oder ungeduldig. Plötzlich hat sie das Gefühl, daß sie ihr Leben lang nur durch einen Vorhang geschaut hat. Auf einmal hat sie das Gefühl zu verstehen, daß ein ganz anderes Leben vorstellbar ist, eine Zukunft ohne Lüge und Verstellung und ohne verbitterte Kämpfe, in einem Land, das vorbehaltlos auch das ihre wäre, einem Land, das es noch nicht gibt, das aber zum Greifen vor ihr liegt. Sie muß sich nur dafür entscheiden, muß sich 37
verändern. Ihr ganzes Leben war nur Spinnerei gewesen, nur wenn sie jetzt ernst macht, geht es weiter voran, auch mit ihrem Schreiben. Sie muß den Sprung wagen. Und erst in dieser bilderlosen Vision kann sie das unangenehme Ereignis des Nachmittags in Gedanken wiederholen. In dem verschachtelten Gebäude neben dem Rathaus, das die Büchermesse beherbergt, war ihr der neue Leiter des R.Verlages begegnet, Georg Unscheid, ein schneidiger junger Herr, schlank, gut gekleidet nach hanseatischem Geschmack, selbstbewußt trotz eines kleinen Sprachfehlers. Am Telefon hatte er ihr schon eine Woche zuvor unfreundliche Sätze über ihr neues Manuskript gesagt. Am Verlagsstand kam es nur zu einem kurzen gereizten Dialog. »Sie müssen sich doch wohl fühlen hier.« »Allerdings, hier habe ich Freunde.« »Wie schön für Sie. Vielleicht können die ja das für Sie tun, was wir nicht mehr wollen.« »Die Zählebigkeit der Spießer hat mich immer schon beeindruckt. Ich hätte aber nicht gedacht, daß es auch im Kulturleben die Spießer so weit nach oben bringen.« »Denken Sie, was Sie wollen. Ich jedenfalls kann die breite moralische Kluft zwischen Ihrer Person und Ihren Büchern nicht mehr ertragen.« Am Abend im Hotel, ein paar Stunden später, kann sie fast darüber lachen. Und sie sieht ihren Weg: sie wird in diese Partei eintreten, die sich DKP nennt, sie wird ihren Namen hergeben für Petitionen und Appelle, sie muß Front machen, auch wenn man sie dafür anfeinden wird. Ihre Texte wären kein Spiel mit der Destruktion mehr, sondern Wegmarken. Sie ist kein schreibender Clown, das würde man schon sehen. Schreibalarm. Und doch enttäuscht es sie an jenem Abend, daß Joachim so kühl ist und so abgelenkt. Sie sagt ihm nichts von dem, was sie 38
in den Minuten im Hotelzimmer gedacht hat. Aber die Leipziger Vision würde bleiben, würde sie stark machen. Ihre Zukunft hatte einen Namen und ein Bild. Noch auf der Messe besorgte sie sich zwei braune Bände der Lenin-Gesamtausgabe. Sie machte es wahr, sie trat in diese Partei ein, und ihre erste Entdeckung dort war Ronald. Seine schroffen politischen Bekenntnisse gefielen ihr, sein exzentrisches Auftreten, blaues Hemd, lange Mähne, ein Lippenbärtchen wie Zorro; das unterschied sich doch sehr von der Biederkeit der Funktionäre in den sackartigen Anzügen, die niemals spontan antworten konnten, sondern immer erst suchen mußten, wie sich noch die kleinste Äußerung mit der jeweils gültigen Linie in Einklang bringen ließ. Ronald hatte eine frische Art des Neinsagens, die sie an ihre eigenen Anfänge erinnerte, eine anarchistische Spiellaune und ein ungeübtes Dandytum, das ihr Spaß machte und gewissermaßen den Rest der Partei verdeckte. Ronald war ein Leichtfuß, der sich selbst zu disziplinieren suchte (seine unbändige Liebe zu kleinen Knaben etwa, die ihn zu endlosen Streifzügen durch die Hallenbäder großer Städte trieb), indem er in eine Partei eintrat, die ihm spartanisch vorkam. Bruno hingegen konnte Hannas Konversion nicht verstehen. Sie trafen sich bei einer Theatervorstellung in Frankfurt, sie gingen lange am Mainufer spazieren, einträchtig nebeneinander und sich heftig beschimpfend. »Hanna, du machst dich lächerlich.« »Und du hast keine Argumente. Du redest wie ein Kritiker, voll bösartigem Neid und humorlos.« »Was soll bloß dein alberner Kult mit Lenin, den nimmt niemand ernst, nur du.« »So einer wie Lenin fehlt uns heute, jemand, der unser politisches Denken auf den Stand der Dinge bringt.«
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»Aber dieses ganze Denken ist von vorgestern, da ist nichts zu modernisieren.« »Ich weiß jedenfalls, wo ich hingehöre. Ich habe genug von euch heimatlosen Linken, die im politischen Niemandsland herumstromern.« »Aber wenn du mit diesem Parteibeitritt hausieren gehst, halten dich alle für übergeschnappt.« »Ich weiß, daß die Partei lächerlich ist und aus komischen Leuten besteht, ohne Format, aufgestellte Puppen, Gartenzwerge nur, wie sie dein Vater verkauft hat, ich weiß es besser als andere. Ich weiß aber auch, was dahintersteht. Als Einzelkämpfer kommst du nicht weiter, ich habe meine Gründe, drin zu bleiben.« »Du bist genau solch ein Wendehals wie Wölffer, nur zur anderen Seite hin. Ihr braucht etwas, das ihr bejahen könnt, irgendwann werdet ihr einfach schwach.« »Aber mein Bekenntnis ist riskanter als das von Wölffer.« »Oder dümmer. Es trägt dir nicht mal was ein. Aber es schmeichelt deinem Hochmut.« »Aber schau dir den Wölffer an, einst hat er den wilden Max markiert, und jetzt spielt er den abgeklärten Dichterfürsten, der sich von einem bewegten Leben erholt.« »Und der kein Werk aufzuweisen hat. Nur eine Gesellschaftsbilanz.« »An dem mußt du dich noch immer messen, wie?« »Und du, woran mißt du dich?« »An meinen alten Träumen. Ich hasse die Bourgeoisie, dem Kampf gegen sie opfere ich alles, dem habe ich unsere Beziehung geopfert und meine Familie.« »Aber was du machst, ist ein Schattenboxen gegen die Bourgeoisie. Wenn ich deine Unerbittlichkeit sehe, deine Zurechtweisungen höre, dein Pochen auf Lenin und die Wahrheit, dann glaube ich, deine Mutter zu hören.« »Jetzt wirst du unfair.« 40
»Doch, deine Mutter sitzt dir im Nacken, mehr als du glaubst.« »Du solltest lieber Lenin lesen, das hilft dir vielleicht weiter.« »Du hast keinen Sinn für Scherze, du bist so überspannt, du bist kalt wie eine Statue, kein Witz kann dich kitzeln. Lebst du überhaupt noch? Wie kalt und steif bist du geworden. Du hast nur Angst, Angst vor Nähe. Du bist völlig unberührbar geworden. Ich hätte Lust, dir weh zu tun, dich zu verletzen, nur um dich reagieren zu sehen. Was ist denn übrig von deinem Leben: Sätze basteln. Du versteckst dich hinter deinen Büchern. Und auch die schreibst du nur noch für dich selbst. Und so verwechselst du die Welt mit deinen Büchern. Du hörst nur noch deine eigene Sprache, du bist eingesponnen in deinen endlosen Monolog, und die Werke dieses ominösen Lenin sind der Schutzwall, hinter dem du dich einmauerst.« »Du plusterst dich mächtig auf, Bruno König, das hast du immer getan. Vor allem, wenn du mich belehren wolltest. Das waren deine größten Augenblicke. Aber ansonsten warst du klein und unbedeutend. Dein Vater hat mit Gartenzwergen gehandelt. Aber der größte Zwerg, den er erzeugt hat, bist du.« » Hanna, du bist noch immer die siebzehnjährige Prinzessin, du schlägst zu, du teilst aus, weil du selbst so verletzlich bist. Wir stehen uns wie Feinde gegenüber, in verschiedenen Lagern, wir können uns verständigen, wir erinnern uns, daß wir uns sehr geliebt haben, in Zank und Hader und überängstlicher Zärtlichkeit. Es gibt ihn nicht, diesen großen Riß zwischen uns, die Welt ist nicht auf diese hoffnungslose Weise zweigeteilt, eben drum muß man künstliche Gräben, Grenzen, Mauern schaffen. Aber vielleicht geht dieser Riß mitten durch dich.« Zu solchen Parodien mit verbitterten Reden über Ideen war ihr Leben verkommen, ihre Wiederannäherungen und Streitigkeiten wie Wirbelstürme aus heiterem Himmel, eine unauflösliche Zweisamkeit über alle Trennungen hinweg. 41
»Hanna, ich hasse dich.« »Danke, Nils, das höre ich gern.« »Wirklich, ich meine es ernst. Endlich geht dein Spiel zu Ende.« »Was hast du denn getrunken?« »Gar nichts. Nur die Bilder aus dem Fernsehen.« »Die machen natürlich besoffen.« »Kann schon sein. Aber den Kater kriegst du.« »Eigentlich wollte ich dich nur um einen Gefallen bitten, ich wollte dir meinen Wohnungsschlüssel lassen, weil ich nach Berlin gehe, aber wenn du so besoffen bist ...« »Nicht besoffen. Nur seltsam erleichtert.« »Erspar mir die Sprüche vom Mauerfall.« »Das kam in deinem Weltbild nicht vor, daß so was passieren kann?« »In meinem Weltbild kommen noch viel schlimmere Sachen vor.« »Schlimm? Schlimm für dich vielleicht. Für die meisten ist das eine ziemlich gute Sache.« »Also nimmst du nun meinen Schlüssel? Ich weiß nicht, bei wem ich ihn sonst lassen kann.« »Als beim Klassenfeind? Wülste denn abhauen? Rüber machen ist nicht mehr.« »Ich löse meine Wohnung auf und suche mir was Neues in Berlin.« »Wow! Das sind Neuigkeiten. Wülste auch noch auf den Zug springen? Die Revolution einleiten? Die Revolution machen jetzt andere.« »Das wundert mich nicht, daß du das für eine Revolution hältst.« 42
»Hast du denn in Berlin etwas in Aussicht? Wartet man dort auf dich?« »Was ich in Berlin mache, wird sich schon finden. Ich will nicht streiten, ich will nur meinen Schlüssel bei dir deponieren. Aber du hast nur darauf gelauert, mir jetzt die Leviten zu lesen.« »Du brauchst jemanden, der dir mal die Meinung sagt.« »Irgendwie haßt du mich wirklich, glaube ich.« »Ich habe Mitleid mit dir, Hanna. Jahrelang hast du unsereins beschimpft als heimatlose Linke, kamst du dir grandios vor in deiner Kommunistischen Partei, klein, isoliert, verachtet, aber von Moskau gestützt. Und jetzt bist du ziemlich heimatlos.« »Ich hätte natürlich auf dich hören sollen.« »Ich weiß, daß du nichts gibst auf das, was ich sage. Aber dieser Parteibeitritt war dein großer Fehler, wenn auch ganz in der Logik deiner Entwicklung. Ich glaube, daß du nur krank bist, daß ihr alle nur eure Krankheiten mit dem Kommunismus heilen wollt, die große Kraft im Hintergrund, die mächtige Verbindung, der Glauben, der so realistisch wirkt und doch noch illusionärer ist als jede Religion. Deshalb seid ihr jetzt auch so aufgeschmissen.« »Was du dir alles zusammenreimst.« »Ja, kein Mensch in der Welt macht sich noch Gedanken um dich, nur ich, ich will sehen, worauf es mit dir hinausläuft. Das Ende ist die Wahrheit.« »Deine Wahrheit ist das Zuschauen, du Voyeur. Was hast du denn schon erlebt, du Maulquappe?« »Natürlich nicht das große Leben der Hanna Flanders.« »Gut, ich suche jemand anders.« »Nein, komm erst mal rein. Streiten können wir uns drinnen besser als im Hausflur. Dir muß es ja wirklich schlechtgehen, daß du dir so viel von mir sagen läßt.« Nils stand im Türrahmen und grinste etwas hilflos. 43
Sein Kopf reichte nur bis zu Hannas Schultern, sein speckiges Gesicht war von tiefen Furchen zerschnitten, der Hals quoll aus dem Hemdkragen, das Doppelkinn wucherte hervor, übersät von einem Stoppelfeld schwarzer Barthaare. Seine Stimme wirkte viel zu piepsig für seine umfangreiche Person. Ein Mensch, der seine Stimme nie gefunden hatte und an dem zu ersticken schien, was in ihm an halbfertigen Sätzen brodelte. »Was genau haßt du denn an mir?« fragte Hanna, als sie im Wohnungsflur stand und sich nicht weiter vorwagte. »Wie du dich gibst, wie du schon rumläufst! Du setzt dir deine Haarwolke auf und gehst damit einkaufen, Zigaretten holen und Wodka. Aufgedonnert wie eine Diva gehst du bis zum Kiosk. Aber du bist keine Diva. Du kostümierst dich für ein Stück, das längst abgesetzt ist.« »Ich seh schon, ich kann dich auch vergessen.« »Jetzt kannst du allerhand vergessen.« »Dann fang ich mit dir an, Nils Kummer. Wer kräht schon nach deinen kleinen Aufsätzen? Was hast du denn schon zuwege gebracht?« »Das wird sich schon zeigen, wenn ich deinen Roman herausbringe.« »Was meinst du damit?« »Da schaust du verwundert, gell? Ich schreibe über dich, Hanna. Ich studiere dich schon lange. Ich schaue dir zu und warte.« »Und worauf?« »Auf deinen Untergang. Es fehlt nur noch das letzte Kapitel. Aber jetzt lieferst du es mir gerade. Und dann spieße ich dich auf wie einen Schmetterling. Ich hoffe, du bescherst mir die passende Katastrophe. Ich weiß noch nicht, wie es mit dir zu Ende geht.« »Ich bin nur eine Figur für dich.«
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»Du bist deine eigene Figur geworden, Mädchen. Das ist es, was mich interessiert. Ein Kulturzombie. Eine dieser abgewrackten Figuren, die Kultur produzieren wollen, aber dabei stranden. Weil sie kein Leben hinkriegen, in dem sie zuverlässig produzieren könnten. Oder weil sich die Spielregeln zu schnell ändern. Als großbürgerlicher Autor kann keiner von euch leben, weil ihr ja gegen eure Herkunft Front gemacht habt, aber als Popstar existieren, wie man das als Autor heute muß, könnt ihr auch nicht. Dafür nehmt ihr euch zu ernst, eure blöde Politik. So habt ihr am Ende kein Leben und kein Werk. Und was von dir bleibt, ist nur ein Gesicht.« »Dein Gesicht will bestimmt keiner sehen, du Speckknödel.« »Ich bin auch nicht zum Aussehen da, sondern zum Zusehen. Ja, später wird man dein Gesicht zeigen, in einer langen Montage, die Geschichte deines Gesichts, das wird ein toller Film sein. Deine ganze Geschichte ist in dein Gesicht geschrieben.« »Ich dachte, du haßt mich?« »Ich liebe dich, Hanna. Ich werde verrückt, wenn ich über dich nachdenke. Du bist eine Figur, ein Bild, du hast dich selbst zur Erscheinung gemacht. Aber irgend etwas steckt in dir, was auf Erlösung wartet, ein menschlicher Schatz, den keiner kennt, nicht mal du selbst.« »Und was sollte das sein?« »Etwas, das vor der Berührung mit der Wirklichkeit bewahrt werden muß, mit der du dich nur zum Schein eingelassen hast.« »Und du glaubst, du kannst meine Geschichte aufschreiben?« »Ja. Einen Künstlerroman von heute. Woran heute einer kaputtgeht. Kaputtgemacht von der Politik, von Ideen gegen das Leben und von den Drogen.« »Na denn, prost! - Nun will ich dir mal was sagen, du kleiner Ideenscheißer. Für mich bleibt das bestehen: man braucht 45
dieses andere Land, in dem alles ist, wie es sein soll oder was man sich darunter vorstellen kann. Man braucht die Herausforderung der anderen Seite. Jetzt heißt es überall: es gibt keine Alternative. Aber es gibt immer Alternativen. Immer. Und man braucht Leute, die für diesen Widerspruch sorgen.« »Ach, mit Alternative meint ihr ja bloß das andere Ufer.« »Das ist vielleicht dein Problem.« »Na und was ist mit diesem schwarzhaarigen Jüngelchen, deinem Dealer und Ideendealer? Diesem Dali im Blauhemd? Er wollte immer nach drüben, aber die Freunde wollten ihn gar nicht haben. Das hätte dir zu denken geben sollen.« »Eifersüchtig? Danke, du Giftspritze. Du wirst an deinem eigenen Gift noch verrecken.« »Auf mich würdest du natürlich nie hören. Ich sehe nicht so gut aus wie dein Ronald. Ist ja klar. Aber der ist ein noch größerer Spinner als du.« »Du machst dir wirklich viele Gedanken um mich.« »Das wundert dich, was? Für dich bin ich nur ein nützlicher Idiot, der deinen Schlüssel aufbewahrt.« »Ich hoffe nur, daß du nie meine Post durchwühlt hast. Vielleicht arbeitest du ja für den CIA, wo du so gut Bescheid weißt über mich und meine Freunde?« »Verfolgungswahn. Ich sag's ja, ihr seid alle krank. Doch, es stimmt, ich bin mächtig gefährlich, ja. Aber nur, weil ich dir die Wahrheit sage. Vielleicht bin ich ja ein Bote aus einer Engelsagentur, die dich überwacht und retten will. Denn das schaffst du nicht allein.« »Engel habe ich mir immer etwas dünner vorgestellt.« »Das sind alte Klischees. Hanna, du müßtest in Distanz zu dir treten, brechen mit allem, anders werden. Vielleicht selbst deine Geschichte erzählen. Dann hättest du noch eine Chance. Aber das schaffst du nicht. Du schaffst es nicht. Oder beweise mir das Gegenteil.« 46
»Der Feind als Retter! Sieh mal an! Von dir gerettet werden, das ist schlimmer als das Fegefeuer.« »Da ist sie, die vielgerühmte Spottlust der großen Satirikerin. Aber du weißt noch nicht mal, welche Rolle du gespielt hast.« »Das weißt nur du in deinem Kellerloch, Nils Kummer.« »Ich weiß es. Du warst nur ein schreibendes Mannequin. Ja, du hast eine gute Figur gemacht mit deiner Helmfrisur und deinen schwarzen Augenrändern. Aber das war eine Schmetterlingsgeschichte, das hast du nicht verstanden, hast es nicht verstehen wollen, hast immer weitergemacht, bis du am Ende der Sackgasse angekommen warst. Deine Karriere hat zu wenig von dir selbst abgehangen, immer nur von anderen Leuten und von Umständen, auf die du keinen Einfluß hattest. Und jetzt fällt die Mauer, und du kippst aus den Latschen. Jetzt kommen Verhältnisse, in denen du nicht mehr zählst.« »Hier hast du die Schlüssel. Ich rufe dich an aus Berlin, um dir zu sagen, was mit meiner Wohnung geschieht.« »Dein Hintertürchen. Also okay. Laß die Schlüssel hier. Gute Reise!« Etwas betäubt torkelte Hanna zurück zu ihrem Bungalow. Sie war wütend, daß sie keine Wodkaflasche beiseite gestellt hatte. Noch eine Nacht hatte sie in leeren Räumen hinter sich zu bringen. Wie ein lästiger Gast mußte sie sich mit einem Schlafplatz auf dem Fußboden begnügen, nur mit einer Wolldecke versehen. Mit zwei Koffern verließ sie am nächsten Morgen den Bungalow. Kein Gedanke an Morgenröte, der Himmel war schmutzig und grau. Und grau war der Himmel, als sie in Berlin eintraf, wo sie niemand abholte, niemand erwartete. Mit dem Taxi fuhr sie vom Flughafen zu dem Hotel an der Hardenbergstraße, in dem sie immer in Berlin abstieg und dessen Name mit bedrohlich großen Lettern weiß an der gläsernen Fassade prangte. Dort begrüßte sie der 47
Empfangschef, der sie wiedererkannte und Komplimente für ihre Bücher machte, er wußte, was eine Dichterin hören will. Er sagte noch: »Sie sehen ja, was draußen los ist. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich schön finden soll.« Diesen Ort hatte sie also noch, für eine Nacht und vielleicht einen Tag, das übliche Hotelzimmer. Sie vergaß bald, warum sie gekommen war, traute sich vorerst nicht auf die Straße, hockte nur in der Hotelbar, ließ sich mit diesem Ägypter ein, um sich wirklich wie in der Fremde zu fühlen, in einem ganz anderen Leben. Sie war allein mit dieser Stadt, die sich mit Menschen gefüllt hatte wie ein Stausee. Am nächsten Tag begann die Reihe ihrer Begegnungen, von denen sie noch nicht wußte, daß es lauter Abschiede waren.
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Er trägt schwarz, er ist nicht mehr ganz jung, an seinen unruhigen Fingern kleben dicke Ringe, und sie hat ihn in die Welt gesetzt. Viktor ist nervös und überrascht, als seine verlorene Mutter vor ihm steht, in ihrem auffälligen Mantel. Sein Gesicht zeigt keine Spur von Freundlichkeit. Er ist reizbar wie jemand, der zu wenig Schlaf gehabt hat. Muß das jetzt sein, scheint er zu denken, und: hoffentlich geht sie bald wieder. Hanna ist peinlich unwillkommen. Ihr Kontakt ist zu sporadisch, sie weiß wenig von ihm, nur daß er in Berlin mit diesem Mädchen lebt, dessen Namen sie vergessen hat. »Echte Überraschung. Was machst du denn in Berlin?« »Ich bleibe jetzt für immer hier. Mein Freund hat mich darum gebeten.« »Ich wußte nicht; daß du einen Freund hast«, sagt er, und sie antwortet nichts. Zonen der Unbestimmtheit zwischen Mutter und Sohn, auseinander hervorgegangen, auseinander gegangen, fremd gegangen. Sie suchen kein Verständnis, keine Hilfe, keinen Halt aneinander, sie suchen nur die Bestätigung, daß sie nichts miteinander gemein haben, sie suchen den Punkt, an dem sie sich endgültig aus den Augen verlieren, nachdem sie in den letzten fünf Jahren vergeblich versucht haben, eine Art Verhältnis zu finden. Viktor fragt sehr unbestimmt nach den Schreibplänen der Mutter. Sie schreibe nicht mehr, sagt Hanna, sie werde ohnehin nicht mehr verlegt, sie passe nicht mehr in den neuen Trend der Verlage. »Und du«, fragt sie, »versuchst du auch noch zu schreiben?« »Was heißt versuchst? Ich schreibe, ja. Warum fragst du so komisch?« Viktors Stimme klingt hart und abweisend.
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Er meint es jetzt ernst, er spielt nicht mehr mit dem Untergang, wegwerfen, sich wegwerfen, das läuft nicht mehr, das Schreiben ist kein Vorwand mehr für ein ungeregeltes Leben. Einst war er stolz darauf, seiner Mutter Speed zu besorgen, er seiner Mutter den Stoff! Jetzt verzichtet er auf Drogen und das Rauchen, nun macht er ernst, nun läuft ein neues Spiel, auch ohne sie, vielleicht gegen sie; er läßt sich mitziehen von den neuen Verhältnissen. Jetzt fängt etwas Neues an. Und so macht es ihn aggressiv und böse, daß die Mutter in seiner Bude raucht, wo er jetzt auf Entzug ist. Er ist auf Entzug, aber er zieht viel umher, wie alle jetzt, er ist jetzt jeden Tag im Ostteil von Berlin, die Mauer ist gefallen, eine große Neugier ist auf allen Seiten hervorgebrochen, und so leicht lernt man neue Leute kennen, lädt ein und läßt sich einladen, man macht Entdeckungen m der eigenen Umgebung, jeder Tag ist jetzt Heimatkunde, der nahe Osten (oder Westen) so fern. Nur die Mutter ist von diesem Spiel ausgeschlossen, eingesponnen in ihre ganz andere Welt. Sie sitzen sich gegenüber in seiner engen Wohnung, zwischen ihnen steht, wie eine Barrikade, sein Schreibtisch und darauf ein kleiner Computer, an den er sich zu klammern scheint. »Du schreibst mit dem Computer, Viktor?« »Na ja, wie alle heute, was soll's. Was ist daran Besonderes?« »Ich hasse Computer. So könnte ich nie schreiben. Die Wörter sind so federleicht, ohne Geschmack und Gewicht, man spürt sie gar nicht. Ich kann nur mit der Hand schreiben oder auf der Maschine. Gegen Widerstand. Ich muß Widerstand spüren, die Wörter vorschieben gegen die weiße Leere, gegen alles, was mich niederhalten will. So war das schon immer. Verstehst du das?«
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»Nein. Es muß wie ein Spiel sein. Ich schreibe, um mich leicht zu fühlen. Ich will keine Sätze wälzen. Außerdem hast du doch gesagt, daß du gar nicht mehr schreibst.« »Ich sollte gar nicht darüber reden. Ich schreibe nicht mehr, vielleicht nie wieder. Der Widerstand ist zu groß geworden. Ich komme nicht mehr dagegen an. Kannst du dir das vorstellen? Man hört einfach auf. Ich kann diesen Stein nicht mehr wegschieben.« »Dann mußt du eben etwas anderes schreiben, oder anders schreiben.« »So denkst du? So einfach ist das bei dir? Du willst nur Ware liefern? Ich sehe schon, du paßt gut in die neue Zeit.« »Sollen wir denn ewig eure Kämpfe von gestern führen? Ach, warum lasse ich mir überhaupt etwas von dir sagen. Du redest wie meine Mutter, und nur ganz zufällig bist du es auch, also laß mich mein Ding machen.« Die Wohnungstür wird aufgeschlossen, Viktor geht schnell in den Flur und flüstert Isabelle etwas zu, seiner Frau oder Freundin, das wird auch dieses Mal nicht geklärt, dann kommt sie ins Zimmer und begrüßt Viktors Mutter mit eisigem Blick. »Wollen Sie auch sehen, was in Berlin jetzt so los ist?« Hanna schluckt einen unbestimmten Widerwillen hinunter, sie spürt, daß sie etwas sagen muß, um sich abzugrenzen. »Berlin, was ist das denn schon? Das gibt es doch gar nicht. Ein Flecken in der Steppe, ein zusammengeflickter Trümmerhaufen, viel zu breite Straßen, ein öder Häuserbrei, Straßenzüge und Kreuzungen, die sich alle ähneln. Vor hundert Jahren war fast alles noch Wiesen und Teiche, dann haben sie Häuser hingeplempert, und ziemlich schnell war alles wieder kaputt, und zu Recht. Was soll hier noch Großes geschehen?« »Hier fängt jetzt die Zukunft an. Man spürt es schon. Bald kommen alle hierher.«
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»Zukunft? Was für eine Zukunft denn? Vielleicht nur die Wiederholung, alles noch einmal?« »Du siehst, meine Mutter hat ihre beste Laune mitgebracht. Eigentlich will sie ihr München verlassen und hierher ziehen, aber wenn sie hier ist, mißfällt es ihr.« »München ist natürlich ganz was anderes.« »In Berlin jedenfalls verlaufe ich mich immer, eine Straße sieht aus wie die andere, alle Kreuzungen zum Verwechseln ähnlich.« »Aber jetzt geschieht hier was Neues, eine Art Urknall. Sie werden schon sehen.« » Ich hasse diesen Sog, den die Stadt jetzt erzeugt.« »Warum sind Sie denn gekommen, wenn Sie sich nichts erwarten?« »Meine Mutter hat nur eine besondere Art, über Dinge und Leute zu reden, auf die sie angewiesen ist.« »Ich glaube, ich gehe besser. Ich will euch die Freude nicht verderben an den neuen Verhältnissen. Mein Sohn ist mir genauso fremd wie diese Stadt.« »Wir müssen jetzt sowieso bald los. Wir haben eine Verabredung drüben. Man lernt jetzt so leicht andere Leute kennen. Das Leben hier hat schon lange nicht mehr so viel Spaß gemacht.« Sie geht, die Mutter, sie räumt das Feld, schon wieder verläßt sie ihren Sohn, der sie längst verlassen hat, in das Leben von Viktor gehört sie nicht mehr, jetzt weniger denn je, wie konnte sie nur zu ihm gehen, was hatte sie erwartet? Daß er sie rettet, ihr einen Weg zeigt, wie sie zurechtkommen kann? Er kann ihr kein neues Leben schenken. Sein Leben spielt anderswo, er kann sich in die Zukunft retten, auf neue Felder, ihr bleibt nur, die alten Partien zu Ende zu spielen. Sie kehrt ins Hotel zurück, den einzigen Ort, wo sie noch willkommen ist. Das Hotel ist Niemandsland zwischen allen Verhältnissen, ist Heimat für die Unbehausten, Komfort für die 52
Ausgesiedelten, im Hotel begrüßt sie wieder der Mann an der Rezeption mit seinen aufdringlichen Sprüchen und mit Allüren wie ein alter Zirkusdirektor, im Hotel sind alle dienstbar und freundlich und gleichgültig.
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Am nächsten Morgen kommt endlich ein Fax von Joachim. Der langhaarige Rezeptionist überreicht es ihr und verabschiedet sie mit kessen Sprüchen in den Tag, macht ihr Komplimente für den Mantel, den sie nun spazierenführt. Im Fax steht nur eine vage Entschuldigung dafür, daß er sie nicht abgeholt hat, sie solle sich doch melden. Gewappnet, gerüstet mit Diors bestem Stück, verläßt sie das Hotel. Sie sagt kein Wort davon, daß sie nicht mehr zurückkehren wird, daß sie nicht weiß, wie sie die Hotelrechnung bezahlen könnte. Also Berlin. Nun ist sie in Berlin, allein mit dieser Stadt. Sie geht die ewiggleichen Häuserzeilen entlang, verwundert über den Karneval auf den Straßen, alle Gesetze und Vorschriften scheinen aufgehoben, es gibt keine Vergangenheit und keine Visionen mehr, das Hier und Jetzt ist ein zeitloser Strudel geworden, ein uferloser Trubel. Einander völlig fremde Leute scheinen sich hier verabredet zu haben. Und dann macht sie es auch, sie geht auch zu Leuten im Osten auf Besuch, aber es ist kein Besuch, es ist eine Flucht, der letzte Versuch, eine andere Sphäre zu erreichen. Achtung, Sie verlassen jetzt den diesseitigen Sektor. Sie ist etwas schockiert, wie leicht ihr der Übertritt auf die andere Seite gemacht wird, wie die Löcher in der Grenze lauter dichte Ameisenstraßen mit taschen-, tütenund beuteltragenden Wesen erzeugt haben. Alles ist aufgelöst in pure Gegenwart, die im Kreis sprudelt und fließt wie ein Springbrunnen. Sie versucht sich an frühere Empfindungen zu erinnern, an Empfänge auf Friedensdelegationen, an Privattermine bei politischen Funktionären, bei den Mächtigen des Verlages. Aber jetzt fällt sie nicht weiter auf, sie geht unter im 54
allgemeinen Trubel, und ihre leicht verheulten Augen könnten auch als Rührung und Anteilnahme, als Freude und Erleichtertsein aufgefaßt werden. Was kann man noch davon erzählen, von ihrem Versuch, in dieser aufgewühlten Stadt irgendwo anzukommen? Es müßte heißen: R.zählen, weil ihre Bücher einst im R.Verlag erschienen sind, schick und radikal wie sie war, hatte sich der Verlag mit ihr schmücken können, denn radikal war damals schick und erfolgreich, aber nun ist es ungesund, und nun sind ihre Romane dort unR.wünscht. (Ein kurzes Gastspiel bei einem anderen Verlag hatte auch nicht weitergeführt.) Jetzt ist sie kein Schmuckstück mehr, sondern ein Ärgernis. Aber was zählt jetzt noch, was kann sie jetzt noch R.zählen, was wird man ihr denn noch abkaufen, denn man schreibt nicht ins Blaue, es gibt diese Maschine, diesen Prozeß, diese unfaßbare Instanz, der Verein, wie sie immer sagt, ein hartnäckiger Versprecher, der Verlag, ein stilles Haus, in dem schweigend geschmiedet wird. Nur auf diesem Umweg, nur in dieser Sklaverei gilt sie etwas. Als sie anfing, war es klar: wer schreibt, darf nicht dazugehören, muß sich abgrenzen, muß gegen die Leute schreiben, muß stören, nicht versöhnen, muß verändern wollen, auch und gerade seine Leser. Aber nun soll man ihnen wieder schmeicheln, muß ihnen süßes Futter geben, ohne jede Prise Salz, jetzt packt die Konsumgesellschaft sie alle beim Kragen, auch die Erzähler, jetzt gibt es nur noch friedliche Geschichten, die das Gewissen und die Erinnerung einschläfern, Gutenachtgeschichten für ein geschichtsvergessenes Land? Muß man jetzt R.zählen, daß der Rubel rollt, erfreulich, positiv, lustvoll, spaßig, leicht bekömmlich, nur keine Fischgrätentexte mehr, die im Halse steckenbleiben, noch der Schock und der Schreck muß gestylt sein - ihr Leben lang war sie gestylt auf
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bad girl, aber in ihrer Person, nie in ihren Texten, wie konnte sie das verwechseln? Wie hat sie einst gelacht, wenn sie die himmlisch himmelblauen Bankauszüge mit närrisch hohen Summen erhielt. Und jetzt? Wofür bekommt sie jetzt die Quittung? Sie geht zu ihrem Verlag im Osten. Dort hat man zwei ihrer Bücher als Lizenzausgaben herausgebracht. Dort gab man ihr das Gefühl, mehr zu gelten als im eigenen Land. Und dort gab es diesen einflußreichen Freund, der ihr so viel versprochen hat und der nun so schwer zu erreichen ist. Sie betritt den Bau mit den hohen Fenstern und Portalen alte Postämter oder übriggebliebene Gymnasien sehen so aus -, im Baustil der besiegten Macht, jetzt höchstens ein Abglanz einer unbestimmten Macht, sie stapft hinein, die Ohnmächtige, aber das Haus ist gar nicht still, es ist nicht die gediegene Schmiede, die sie in Erinnerung hat, es ist ein Bienenkorb, ein Rummel, ein Narrenschiff, das sich für eine Kirmesgondel hält. Sie versucht, ruhig zu bleiben, als sie sich durch volle Flure zwängt, auf denen ein Fest tobt, aber es will ihr kaum gelingen. Hinter ihrem kühlen Auftreten ahnt man nicht, daß sie innerlich kocht, daß in ihr eine namenlose Wut rumort und gärt, daß sie voller Wut und doch die Ruhe in Person ist, aber es ist nicht mehr die fröhliche Wut von einst, eine Wut, die sie übermannt, die sie dazu brachte, außer Rand und Band zu geraten, eine Wut, die eine ungemein heilsame, kräftigende Wirkung hatte. Es ist nur noch eine verzweifelte Wut, die keine Richtung hat. Der Trubel, vor dem sie flieht, ist bis hierher geschwappt, tobt sich auf den Gängen und in den Büros aus, alles ist aus den Fugen, die Menschen sind ganz anders, verändert von endlosem Feiern und Trinken, ein Jahrmarkt ist das, eine Auflösung, nur wissen sie noch nicht, daß sie ihre eigene Abwicklung feiern, sie sind erleichtert, weil man sie von uneinlösbaren Ansprüchen befreit hat, und jetzt taucht sie auf, 56
Hanna Flanders, wie ein Schatten von gestern. Schatten ihrer selbst. Niemand bemerkt sie in dem großen Gewühl, das hier herrscht, sie kann auch kein bekanntes Gesicht entdecken. Da wird sie am Ärmel gepackt und herumgezerrt, ein Mann mit glasigen Augen und einem vollen Glas in der Hand giftet sie an: »Die Flanders! Die hat uns gerade noch gefehlt! Von ihresgleichen haben wir die Schnauze voll. Sie haben doch nie etwas kapiert von den Verhältnissen hier. Sie haben sich einladen und hofieren lassen von den Mächtigen. Von ihren Lobliedern auf den Kommunismus haben wir genug. Sie kannten vom Kommunismus doch nur die Sektempfänge in Moskau und die inszenierten Friedenskongresse.« Hanna ist verwirrt und hilflos, weiß nicht, wie sie sich losreißen soll. Soviel blanker Haß macht sie wehrlos. Da wird der Betrunkene beiseite geschoben, und plötzlich steht Joachim vor ihr, auch er scheint nicht mehr ganz nüchtern zu sein, und sie hat das Gefühl, daß er sie nicht gleich erkennt, nicht erkennen will, hat er sie je erkannt, erinnert er sich noch an alte Gespräche und Versprechungen, an ihre heimlichen Abende? »Hanna!« Seine Stimme klingt etwas schleppend, als müsse er sich mühselig erinnern. Wollte er sie abholen? Hat er ihr wirklich ein Fax geschickt? Er weiß es nicht mehr, das tagelange Feiern hat ihn ausgebleicht, alles ist ausgelöscht, vergessen, nicht mehr wahr. Es ist alles nicht mehr wahr. »Ich weiß, was ich alles versprochen habe«, erwidert er auf ihre Vorhaltungen, »aber ich kann meine Versprechungen nicht halten, die Zeiten haben sich drastisch geändert.« »Das hört sich an wie ein Satz aus einem schlechten Film über die Nazizeit.« »Böse Übertreibung war schon immer deine Stärke.« »Ich habe gehofft, du kannst mich unterbringen?« »Das geht nicht, 57
Hanna, ich kann es nicht.« Sie kommt sich vor wie ein bettelnder Flüchtling. Er kann sie nicht mehr unterbringen, nicht in seinem Haus, in seinem Leben, denn er lebt nicht mehr allein, wie er geheimnisvoll raunt, und nicht in seinem Programm, in seinem Verlag, der bald nicht mehr sein Verlag sein wird, vielleicht gar nicht mehr existieren wird. Aber das weiß er noch nicht. Jetzt ist er noch betrunken vom historischen Augenblick. Den Verlag wird es morgen vielleicht nicht mehr geben, sein Leben schon, aber ihr's? Was ist sie, wenn sie nicht mehr erscheinen kann? Rückzug, ihr bleibt nichts als Rückzug, es gibt keine Begegnungen mehr, keine Empfänge, sie ist peinlich und lästig, spukhaft, kann sich überall nur für ihre Präsenz entschuldigen, für alles entschuldigen, was sie je geglaubt, gedacht, geschrieben hat. »Dann ist es wohl besser, daß ich gehe«, sagt sie. Sie versucht förmlich zu bleiben, die große Ironikerin unter den deutschen Autorinnen, es bleiben ihr nur noch Rückzugsgefechte, an ihrer Ostfront, geräumte Positionen, Abweisungen. Ihr Feldzug gegen Großdeutschland ist abgeschlagen. Und von der Geschichte mit Joachim, dem öffentlichen und dem nichtöffentlichen Teil, bleibt nur ein verlegenes Grinsen, ein kurzer Blick über die Schulter, ein graubärtiger Kopf, der in einem Männerknäuel verschwimmt. Im Treppenhaus kommt ihr Georg Unscheid entgegen, der Leiter des R.Verlags (er kommt wie der Geier zum Aas, denkt sie), der längst nicht mehr ihr Verleger ist, der sie erkennt - ihre Silhouette ist noch unverkennbar - und der sie geniert und brummig grüßt, ihr aber nichts zu sagen hat. Es ist nur konsequent, daß er sie jetzt auch von hier vertreibt. Wenn hier einer fremd und fehl am Platze ist, dann sie, und so räumt sie das Feld. Sie zählt nicht mehr. Sie hat nichts mehr zu R.zählen. Exit Hanna F. Sie verläßt das Haus und die Gefahrenzone der 58
deutschen Literatur. Ihre Existenz als Autorin ist mit diesem Abgang beendet. Nur eine Stimme hält sie noch auf, ein unvermuteter Zuruf, als sie schon blind und kalt zum Ausgang geht. Diesmal ist sie es, die nicht erkennt. Jemand ruft sie, sie dreht sich um auf dem engen dunklen Gang, eine Lektorin begrüßt Hanna mit ihrem Namen. »Nein, tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern«, sagt Hanna. »Ich bin Grete Stahnsdorf. Wir haben damals oft miteinander gesprochen, als ihr erstes Buch bei uns herauskam«, sagt die Lektorin. »Seien Sie mir nicht böse, aber ich kann mir keine Gesichter merken«, sagt die Geschminkte mit der breiten Perücke. Die Menschen, die sie aufsucht, auf die sie gezählt hat, lassen sie fallen. Nur überraschende Fremde können ihr noch helfen. »Zu wem wollen sie denn?« fragt Grete. Aber Hanna antwortet nicht, sie fühlt sich plötzlich so schwach, muß sich irgendwo setzen. Grete führt sie in ihr kleines Büro. Hanna setzt sich auf den schmalen Holzstuhl, stützt den Kopf auf ihre Hände. Grete läßt ihr zwei Minuten Ruhe, dann sagt sie: »Jetzt geht hier erst einmal alles durcheinander, so turbulent war es noch nie. Man hat sogar meinen Geburtstag vergessen, zufällig habe ich heute Geburtstag, aber niemand hat daran gedacht, kein Glückwunsch, keine Blumen, was völlig ungewöhnlich ist. Sonst wird hier großer Wert auf so was gelegt.« »Jetzt kommen andere Zeiten. Für alle.« Hanna resümiert ihre absurde Situation: »Ich habe keine Wohnung mehr, ich habe mein ganzes Zeug in München einpacken lassen, aber die versprochene Wohnung 59
hier ist geplatzt, jetzt habe ich alle meine Sachen in Berlin in einem Möbeldepot, weiß aber nicht wohin damit. Ich passe nirgends mehr hin.« Grete hört ihr zu und bietet ihr Kaffee an. Es ist KaffeeErsatz, alles war hier Ersatz, das ganze Leben, alles Vergängliche ist nur Ersatz, aber wofür, und Hanna trinkt, und ihr wird ganz anders, der Geschmack des falschen Kaffees erinnert sie an etwas Unbestimmtes, Verlorenes, Vergangenes, sie spürt die hoffnungslose Liebe zu einem Land, das es nicht mehr gibt, das sie nicht kennengelernt hat, und dessen sie doch so sicher war, jenes andere Land, ein Teil des eigenen Landes, versprochene Zukunft und zugleich die Rettung vor der bedrohlichen Vergangenheit. Wenn sie hinkommt und es berührt, ist aller Zauber verflogen, und es löst sich in Luft auf. So viel ist gestorben, ihr kommen die Tränen, und sie muß getröstet werden wie ein Kind, und diese Fremde nimmt sie in den Arm, will sie nicht mehr gehen lassen, schlägt ihr eine Bleibe vor, eine Autorenwohnung des Verlags, weit draußen am Stadtrand und sehr schlicht, aber fürs erste könnte es gehen. So brechen sie auf. Sie macht es wahr. Sie bleibt drüben, jetzt, wo es kein drüben mehr gibt, geht ins Ersatzland, ein falscher Flüchtling mit Schminktäschchen und Diormantel, ihre zweite Haut, ihr Schutzschild, ihr letzter Zauber. In Gretes kleinem Auto mit dem tuckernden Motor rollen sie nach Osten und reden über die Farce der Politik, über den verwirrenden Umschwung, den sie erleben, das Augenzwinkern der Weltgeschichte, den Wahnsinn dieser Tage. Grete weiß nicht, was sie davon halten soll, auch sie hat etwas gegen diese quirlenden Massen in den Kaufhäusern des Westens, aber sollte man sich nicht einfach mitreißen lassen von dem, was nun anbricht? Ja vielleicht, sagt Hanna unbestimmt. Sie fahren nach Osten, sie reden und rauchen und entdecken bald, daß sie beide Kette rauchen. Das haben sie gemeinsam, das immerhin, die schreibende Chimäre aus dem 60
Westen und ihre östliche Märchenfee, die sie in ein Abenteuer entführt. Es ist aber ein schwarzes Märchen. Die Wohnung liegt weit draußen, wo Berlin sich in Wälder und Ackerland verliert, man ahnt Fabriken und Fertigbauten. Das Haus, das sie suchen, ist nicht sehr alt und doch schon etwas verfallen, ein fast verlassenes Haus am östlichen Rand der Stadt, das ist ihre Zuflucht. Ihre Absteige. Grete ist entsetzt, so schlimm hatte sie sich das nicht vorgestellt. Klapprige Türschlösser, Wände mit Feuchtigkeitsflecken, ein sperriges Sofa, Schränke wie aus Preßpappe. »Und sowas nennt sich Autorenwohnung.« »Ja, nach dem Ende der Literatur!« »Soll ich Sie wieder zurückfahren?« »Nein, nein, es wird schon gehen.« »Ich muß für drei Tage nach Leipzig, dann schaue ich auf jeden Fall wieder vorbei.« »Ist schon gut, bis dahin wird es auf jeden Fall gehen«, sagt Hanna, die nur noch zwischen den Übeln wählen kann, aber vielleicht fühlt oder denkt sie schon nichts mehr. »Ich mag dich sehr gerne«, sagt Grete zum Abschied und umarmt die aus dem Westen angeschwemmte Frau, Treibgut, Treibholz, aber gegen den Strom der Zeit angespült. »Vielen Dank. Und beinahe hätte ich es auch vergessen: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Und dann ist Hanna allein. Sie greift zu den Kapseln.
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Sie sind das Volk, und Hanna kann nichts dagegen machen, also gesellt sie sich zu ihnen. Sie verläßt das Haus, sie verläßt die kleine Siedlung, stapft über Brachland, Niemandsland, zwischen nichts und nichts, mit ihrem Modemantel, ihrer geborgten Haut, mit hohen Schuhen stapft sie über Felder und Furchen, die Luft steht in kleinen Wolken vor ihrem Mund, kleine Eisseen haben sich zwischen Lehmklumpen am Boden gebildet, am Horizont surrt eine Stadtbahn vorbei. Hanna trippelt auf die untergehende Sonne zu. Man weiß nicht, ob es der Wind ist, der ihr die Tränen in die Augen treibt. Sie marschiert über das leere Feld, gefroren, verloren, ein versprengter Krieger aus einem geschlagenen Heer auf dem Rückzug, in ihren Augenwinkeln bilden sich kleine Pfützen. Die gefrorenen Pfützen in den Furchen unter ihren Stiefeln knirschen und brechen, wenn sie ihren Fuß darauf setzt. Da geht ein Mensch, der Schatten eines Traums, der auf das rettende Licht wartet, die befreiende Zeit, die Befreiung von der Zeit durch die Zeit. Sie kann sich an nichts mehr erinnern. Sie erreicht eine andere Häusergruppe. Neben einer Kaufhalle findet sie eine Kneipe mit johlenden, feiernden Menschen. Sie feiern, sie trinken, es ist für alle ein Fest, das nicht mehr zu enden scheint, das Leben hat sich in einen unaufhörlichen Karneval verwandelt, endlich können sie sich maskieren zu dem, was sie sind. Die Kneipe ist voll und verqualmt, hier tobt das Leben, sie zwängt sich hinein, steuert den Tresen an, da ist Halt. Der Mann hinter dem Tresen schwenkt eine große Wodkaflasche, und sie bestellt »dasselbe wie alle«, von Bezahlen redet hier
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offensichtlich keiner. Es ist ein Wunder geschehen, und der Wodka fließt wie Manna. Sie trinkt und läßt sich von der Stimmung aufsaugen, schaut sich um, merkt, daß sie Blicke auf sich zieht, ein Mann prostet ihr zu, sie schaut weg, sie leert ein zweites Glas und ein drittes, noch immer schaut sie der Mann an, und dann tritt er auf sie zu. Er sieht aus wie ein betrunkener Buchhalter und macht ihr Komplimente über ihre Trinkfestigkeit, er hat sie genau beobachtet, und sie sagt: »Ich habe schon manchen Russen unter den Tisch gesoffen.« Er hakt nicht nach, sondern schaut sie eine Weile mit triumphierendem Lächeln an, wie jemand, der gleich einen guten Witz erzählen wird, und sagt: »Weißt du, daß ich dich kenne?« Der da kennt sie, hat sie erkannt, hier an diesem verlorenen Fleck, schon wieder ein Fremder, der auf sie zukommt, sie in etwas hineinzieht. Die einen wollen nichts mehr von ihr wissen und die anderen bedrängen sie. Aber was hat sie an sich, das so wirkt? Er heiße Dieter, sagt er, er habe Bücher von ihr gelesen, habe sich über sie informiert. »Besonders der Roman über den Selbstmord Ihrer Schwester hat mir gut gefallen.« »Woher wissen Sie, daß es meine Schwester war?« »Ich habe eben recherchiert.« Wozu Geschichten erfinden, wenn die Leute doch nur immer fragen, ob das auch wahr ist, ob man das alles erlebt hat. Wie viele Diskussionen hat sie nicht darüber führen müssen, aber hier ist wirklich nicht der richtige Ort dafür. Daß man das Wahre nur in Erfundenem, das Eigene nur in Fremdem spiegeln kann, das scheint die Leute nicht zu interessieren. Dieter nennt Einzelheiten aus dem Roman, scheint ihn wirklich gelesen zu haben. »Ich habe Ihre Bücher im Unterricht durchgenommen.« 63
»Sieh mal einer an, ein Herr Studienrat.« »Studienrat gibt's bei uns nicht.« Deutsch und Geschichte unterrichtet er hier an der Schule, erzählt er ungefragt, in diesem Außenbezirk, an die Stadt angehängt, aber Berlin ist ja nur ein einziger Vorort, der sich immer weiter ausdehnt. Sie trinken, sie stoßen miteinander an, er redet auf sie ein, läßt sie nicht mehr los, betrachtet sie als seine Beute, noch sagt er ihr zwei, drei schöne Sätze zu den Büchern, aber dann redet er von ihrer Schönheit, wird rasch zudringlich, der Wodka wirkt als Brandbeschleuniger. Hat sie noch gesagt, daß sie das alles deprimierend findet, und hat er es verstanden? Er hat für beide Wodka bestellt, wer zählt sie noch? Läuft jetzt alles hinaus auf den Unterschied zwischen fünf Wodkas und zehn Wodkas? »Ich kann dich glücklich machen«, sagt er, »denn das sieht man, daß du unglücklich bist.« Dann läßt er alle im Raum anstoßen auf »diese tolle Frau, die tollste in der ganzen Runde«, und alle sagen »Prost!« und das Trankopfer geht weiter. Wie zum Hohn wird sie noch einmal gefeiert. Und dann wird sie geopfert. Sie trinken Brüderschaft, er küßt sie, und sie versucht noch Scherze zu machen, denn das war kein zarter Kuß auf die Wange, aber dann wird er handgreiflich, tastet nach ihren Brüsten, die er schon die ganze Zeit angestarrt hat, der verdiente Lehrer des Volkes ist ganz wild nach dieser verlorenen Dichterin aus dem Westen. Er betastet sie, sie läßt es sich eine Weile gefallen, dann schiebt sie ihn weg, aber das Spiel war schon zu weit gegangen, er läßt sich nicht wegschieben. Giftige Sätze fallen - Laß mich in Ruhe! - In Ruine? - Kein Studienrat, aber ein Wodkarat! - Hab dich nicht so, dich hat doch ewig keiner mehr angefaßt, sei doch froh, daß ich ...
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Sie reißt sich los, bittet den Wirt um Hilfe, der etwas sagt, dann wieder wegschaut, andere bedient, Dieter wird nüchtern und böse - was ist denn schon los, laß es dir doch gefallen ... Warum sind sie alle so wild darauf, mich zu erniedrigen, denkt sie, sehen sie es mir an, daß ich wehrlos bin, keinen Widerstand mehr leisten kann? Gefallene Idole muß man zertrampeln. Der Betrunkene wird böse, beschimpft sie, verhöhnt ihre welke Schönheit und ihre dummen Bücher, mit denen er seine Schüler quälen mußte, und die Dichterin weist den kleinen Lehrer zurecht: Du schulischer Unrat, wer hat dich denn hergebeten, geh hin, wo du herkommst, geh hin, wo du verkommst, mir kommst du so nicht ... Aber der Lehrerlümmel ist rasend, stößt sie fast um, er ist zu allem fähig, das wäre ein Ende für diese Frau, die so viele Affären mit feinen Leuten an renommierten Orten erlebt hat, mißhandelt und erschlagen hier in dieser Volkskneipe, abgeschlachtet beim Totenfest unter dem Wodkamond, aber schon kommen andere zu Hilfe, der Kneipier und einige Gäste, halten den entfesselten Pauker fest, schieben ihn mit Mühe in eine Ecke. Eine freundliche pummelige Frau kommt auf Hanna zu, lädt sie an ihren Tisch, entschuldigt sich für den besoffenen Kerl, der nicht mehr weiß, was er tut, und Hanna läßt sich widerstrebend mitziehen, sie ist ohnehin jedem fremden Einfall ausgesetzt, wie in einer Versuchsanordnung, in der darüber befunden wird, ob sie noch einen Platz hat oder ob sie unheilbar fremd ist. Und diese neuen Leute stoßen auch mit ihr auf den Mauerfall an, und ihnen nimmt sie es nicht übel: »Auf daß wir alle ein Volk werden!«, rufen sie, und Hanna prostet zurück: »Auf das Verstehen!« Sie wollen sie zu sich nach Hause einladen, aber Hanna hat genug, sie verläßt das Lokal.
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Nach langem Taumeln an den dunklen Feldern entlang findet sie ihre Bleibe wieder, die erste Heimkehr nach dem ersten Ausflug aus ihrem befremdlichen Asyl. Für sie gibt es nur noch falsche Orte. Sie will es nicht sehen, sie will diese Bude nicht anschauen, nicht die stumpfen Möbel, nicht die kargen Lampen, nicht den düsteren Flur. Sie will in den Schlaf fliehen, der nicht mehr zu finden ist, er ist aus ihr gewichen und jeder Rhythmus von Tag und Nacht. Prohypnon muß helfen, vier oder sechs Tabletten auf einmal, es bleibt nur die Couch und die Decke, sich hinzustrecken und auf die Wirkung hoffen, aber der Schlaf hat sich gut versteckt, er läßt sich nicht finden, die Augen bleiben an den fleckigen Wänden kleben, an den feuchten Tapeten. Sie steht auf und schaut aus dem Fenster, sie schaut auf die Müllkübel und die Wäscheleinen, auf die toten Fassaden und die winzigen Autos, sie fühlt sich wie weggeworfen, gehört selbst auf den Müll der Geschichte. »Das ist ein Alptraum«, sagt sie mit lauter Stimme, »ich kann nicht einmal mehr schlafen.« Sie geht ins Bad, macht sich leidlich zurecht, setzt ihre Perücke auf und geht hinaus in das letzte Dunkel der Nacht, die bald vorüber ist, sie geht wieder über die Felder, durch die Leere um sie, da sie die Leere in ihr selbst nicht betreten kann, nicht einmal im Traum, zu viel leeres Land liegt zwischen ihr und allen möglichen Zielen. Es ist der Alptraum der Traumlosigkeit, der sie befallen hat. Aber die Wirklichkeit an diesem Randort ist traumhaft genug. Sie geht über das Brachland des nunmehr traumlosen Landes. Es wird schon Morgen, und überall brechen Menschen zur Arbeit auf, beginnen einen Tag wie jeden Tag, obwohl die Zeit doch aus den Fugen ist, Sirenen hört man, Rauch steigt auf, und sie muß plötzlich an die Kindheu denken, als Kinder
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zu Besitzern von Ruinen wurden, und an den zerbombten Stachelbeerstrauch im Garten der Eltern. Es ist früher Morgen, und sie ist bereits erschöpft, Menschen gehen wie in einer Prozession an ihr vorbei, zur Arbeit gewiß, und sie hat schon Tränen in den Augen, sie trauert schon um den Tag, der nun kommt. Gibt es für sie ein gewöhnliches Leben - hat es das je gegeben für sie? Ist es nicht das, wovon sie sich selbst für immer ausgeschlossen hat, dieses einfache Leben von Aufstehen und Arbeit und den Wegen hin und zurück, die ewige Pilgerschaft des Alltags, beschwerlich und doch beruhigend? Still und in sich gekehrt, noch etwas müde und doch schon angespannt, gehen sie zur Arbeit, aber sie ist zerzaust, verwildert, verkommen, versumpft, sie torkelt einher wie ein Nachtschwärmer nach einer viel zu langen Party. Später einmal wird es gleichgültig sein, was die und die getan hat, was sie gedacht hat, versucht hat, wie sie lächerlich war oder süchtig, aber wenn sie mitten dabei ist, noch tief in ihrer ausweglosen Geschichte steckt, wenn sie über leere Felder stapft, in Stöckelschuhen und im Dior-Mantel, der hier keine Wirkung mehr tut, seine Magie verloren hat, wenn sie zwischen allen Ufern der Zeit torkelt, wenn die Erde aufhört, ein fester Boden zu sein, wenn sie kein Woher und Wohin mehr hat, nur als Gespenst über die leeren Zonen wankt, in dem Augenblick zählen nur der Schmerz und die Kälte, in die das übermütige Spiel ihres Lebens gemündet ist. Kann sie noch einen Fuß vor den anderen setzen? Kann sie noch ein Wort an das andere reihen? Die Wahrheit ist, daß sie nicht mehr vorwärts kommen kann. Jedes Wort war ein Schrei, ein Aufschrei, alles war Hohn und Protest. Sie kann sich nicht mehr mit sich selbst identifizieren. Jedes Wort war ein Todeswunsch und eine Ablehnung. Ein Stich gegen die Eltern, die andern, und gegen sich selbst. Alle ihre Ängste, Anfälle, Todeswünsche mündeten in dieses eine Wort, das so schwer so finden ist: Nein. Zu allem: Nein. Jede Geste, jedes Zeichen, 67
jedes Auftreten, ihr Gesicht und ihr Kostüm und die Schärfe ihrer Sätze, alles sagte nur dieses Nein. Das war der Bazillus, der sie immun machte gegen die Krankheiten, die sie ringsum wahrnahm. Das war ihr Kampf: dieses Nein zu bewahren gegen alles, gegen alle. So hat sie hinter einer Fassade gelebt, einer Trennwand, aber nun kommt die schmerzliche Enthüllung, sie hat ihre Maskerade gelebt, aber nun feiern die andern einen Maskenball, und sie ist ernüchtert, ausgeladen, unwillkommen. Schließlich gelangt sie an einen kleinen Platz, auf dem ein Imbißwagen steht, ein Kofferradio plärrt und Plastikdeckchen auf kleinen runden Stehtischen liegen. Ein freundlicher Mensch fragt sie, ob sie etwas Heißes trinken wolle, sie habe doch bestimmt die Nacht durchgefeiert. »Ja, gefeiert,« sagt sie, vielleicht wie im Reflex, und: »Etwas Heißes jetzt wäre gut.« Er bietet ihr einen Grog an, den sie lächelnd akzeptiert, ein kleines Wunder am Morgen. Oder ist das nur ein Traum, vielleicht ist das alles nur ein langer Traum, dessen Auflösung und Erklärung kurz bevor steht, vielleicht kann sie deshalb nicht schlafen und träumen, weil sie in einem Traum lebt, einem eigenen oder fremden, ein Traum hat sich erfüllt, und sie ist eine Figur darin, all dies geschieht nicht wirklich, es ist von jemand in Szene gesetzt, der sich noch versteckt hält, und sie muß mitspielen, willenlos jenem unsichtbaren Regisseur ausgeliefert. Was sie schmerzt und befremdet ist nur die Kehrseite eines unsäglichen Glücks. Den Grog spürt sie wirklich, schlürft sie wirklich, das alles geschieht tatsächlich, sie erlebt es, als er aber keine Bezahlung will und statt dessen ein paar schöne Verse auf den angehenden Tag hersagt, wird sie wieder unsicher. Sie schaut auf das nahegelegene Feld, über das noch immer die Karawane zieht, zu Arbeit und Schule ausrückt, das kleine Volk, das seinen Tag antritt, seine Zeit abtritt, sie hört einen 68
Song aus dem Radio in der Bude, einen Song von früher, das ist besser als träumen, und dann weckt sie eine Frauenstimme, die einen heißen Kaffee bestellt, und Hanna sieht, es ist eine Frau, die am Abend in der vollen Kneipe war. »Ich bin Carmen«, sagt die andere, »erkennen Sie mich wieder?« Hanna erkennt sie wieder und lacht und entschuldigt sich: »Ich muß schrecklich aussehen.« »Das macht nichts«, sagt Carmen, »so sehen wir alle mal aus.« »Ich habe eine furchtbare Wohnung bekommen, da konnte ich nicht bleiben«, sagt Hanna. »Dann kommen Sie doch zu uns«, sagt Carmen, als hätte sie nur darauf gewartet, »bei uns ist es gemütlich. Ich habe Mann und Kinder und Familienbesuch, da ist was los zur Zeit, einer mehr fällt da nicht auf, das gibt ein großes Hallo.« Hanna wundert sich über nichts mehr, dies ist ein Morgen für Träume, die man fühlen kann. Erst sucht sie noch Ausflüchte, redet von dem Hotel, in das sie zurück will, vielleicht mit dem Taxi, aber sie hat ja kein Geld mehr, und von der Bank, zu der sie muß (»gibt es hier eine Bank?«), aber Carmen lächelt nur schwach und wiederholt ihr freundliches Angebot. »Ich bin so müde, ich muß schlafen«, sagt Hanna. Und so läßt sie sich einladen in ein fremdes Leben. »Kommen Sie mit«, sagt Carmen, »lernen Sie meinen Mann und unsere Kinder kennen, und meine Mutter ist auch da, sie ist aus Witterda nach Berlin gekommen.« »So, Witterda in Thüringen«, sagt Hanna, »da stammt meine Mutter auch her, aber aufgewachsen bin ich in Nürnberg.« »Na, das ist ja komisch«, sagt Carmen, erfreut über diese indirekte Gemeinsamkeit zwischen ihnen, und Hanna läßt sich abführen wie ein willenloses Kind, dem die Tränen kommen, weil es nicht mehr nach Hause findet. 69
Sie landet in einer großen Familie, aber das Kind ist sie. Carmen, die zufällige Freundin, bettet sie und deckt sie zu, im Kinderzimmer mit der Tiermustertapete, gibt ihr zu trinken, zieht fürsorglich die Vorhänge zu und verläßt das Zimmer. Jede Katastrophe braucht ihren besänftigenden Moment, in dem auf einmal ein anderer Weg möglich scheint. Obwohl dieser Moment, den sie nun erlebt, absurder ist als alles sonst. Hanna liegt in einem fremden Kinderbett, schaut auf das Defilee der kleinen Elefanten an der Wand, einer hält den andern mit seinem Rüssel beim Schwanz, sie ziehen ringsum durch das schmale Zimmer, und ihr wird leicht schwindelig, Gedanken und halbe Träume verwirren sich, sie fühlt sich schwer genug, um in den Schlaf zu sinken. Plötzlich hat sie eine Familie, wenn auch nur eine geborgte, plötzlich gehört sie irgendwo dazu, wenn auch nur zum Schein und auf Probe, aber war es denn nicht immer so? Hat sie nicht immer experimentell gelebt, war nicht alles Schreiben, Meinen, Lieben nur ein Vorspiel, das niemals Ernst werden wollte? Plötzlich gibt es ein menschliches Umfeld, wie in einer gut ausgedachten Geschichte, Frau und Mann und Kinder, Nachbarn und Verwandte, eine ganze Clique in einer engen, gemütlichen Wohnung, plötzlich gibt es eine voraussetzungslose Herzlichkeit, Familie eben, einfache Dinge und Gefühle, die in ihrer künstlichen Welt nicht mehr vorkamen. Sie sitzen und feiern im Wohnzimmer, irgendwie hat das ganze Land Kindergeburtstag, bis in die kleinste Stube hinein, und ewig läuft der Fernseher. Er bringt die Familien wieder zusammen, wie in seiner ganz frühen Zeit. Das Fernsehen bestimmt jetzt alles, niemand kann sich entziehen und widersetzen, was jetzt als Wirklichkeit gilt, kommt aus dem Kasten, das Programm hat verrückt gespielt und ist eines Tages auf die Straße übergeschwappt, hat alles beiseite gefegt, Bilder 70
von Flüchtenden, Bilder von Demonstrierenden, die Montag für Montag um eine Stadtmitte zogen, aber nicht die Stadt sollte fallen, sondern ein Regime, ein Zustand, und als sie etwa sieben Mal gezogen waren, fiel die Mauer in einer ganz anderen Stadt und mit ihr eine Macht, ja eine ganze Epoche, und auch daran war das Fernsehen schuld, das Fernsehen entwirft jetzt das Programm für die Wirklichkeit. Niemand hat mehr etwas zu sagen, aber alle lachen, sind aus dem Häuschen. Hanna ist im fremden Häuschen, im anderen Land, aber überall sind jetzt dieselben Bilder, die Bilder reisen ihr nach, sie kann hingehen, wo sie will, überall flimmert die Kiste, die ganze Welt ist tapeziert damit, sie sind alle abhängig geworden von der Flimmerkiste, es ist ihre neue Droge, kein Wunder, daß im Lande alle wahnsinnig sind, überall liegen die Kinder auf dem Teppich vor der Glotze und sitzen die Erwachsenen trinkend und knabbernd und klug redend um die Couchtische herum. Hanna taucht aus ihrem Schlaf auf, tatsächlich, sie hat geschlafen, sie kommt, ungeschminkt und ohne Perücke, etwas verlegen und eingeschüchtert und doch angezogen von dieser trinkenden, knabbernden, plaudernden Runde, Carmen ermuntert sie einzutreten und stellt ihr die Leute vor: ihren Mann und ihre Schwester und ihren Schwager und ihre Mutter, und dazu noch ein benachbartes Paar. Allen reicht Hanna manierlich die Hand, das scheint hier so üblich zu sein, aber sie machen sonst keine Zeremonie, sind direkt und herzlich, bieten ihr Tee an und wollen nun wissen, wie das mit der thüringischen Herkunft ist, Carmen habe da was angedeutet. Was hat sie hierher verschlagen, das ist eine zu lange Geschichte, sagt Hanna, die sich immerzu davor retten muß, nicht in den Traum zurückzufallen, sich daran gewöhnen muß, daß dies hier wirklich geschieht, dieser kleine Aufschub, dieses kleine Zwischenspiel, dieser geschenkte Augenblick in einer
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ganz unwahrscheinlichen Geschichte, die nur der Versuch ist, eine unerzählbare Geschichte plausibel zu machen. Sie sind etwas albern, angeheitert, auch ohne viel Wodka, alle sind betrunken von dem Schnaps der Freiheit. »Also Sie sind aus Witterda?« »Ich nicht, aber meine Mutter stammt daher.« »Witterda, jetzt sin' mir widda da ...« »Ja, wir sind zurück in der Geschichte, wir zählen wieder.« »Laßt sie doch erzählen!« Sie sitzt in dieser fröhlich-neugierigen Runde wie eine Außerirdische und erzählt von ihrem so anderen Leben, das durch keine Mauer mehr geschützt wird. Ich heiße Hanna, ich bin Schriftstellerin und komme aus München, das muß sie jetzt sagen, alle zerren ein bißchen an ihr, sind auf herzliche Art neugierig, nur Carmen versucht, sie gegen die vielen Fragen zu verteidigen. »Laßt dem Mädchen doch seine Ruhe«, sagt sie, »laßt sie doch erst mal auftauen.« Aber nun wird Hanna rege und fragt, was Carmens Mann Alfons beruflich macht, und sie erfährt, Alfons ist Setzer in einer Druckerei, er war früher Journalist, da hat man ihn gefeuert, wer weiß, was er gemacht hat, was man mit ihm gemacht hat, das wollen wir nicht fragen, die Vergangenheit ist ein Abgrund, in den man nicht zurückblickt, jetzt fängt das Leben an, für Alfons, für viele, und Hanna kämpft schon wieder mit dem Schlaf, das kleine Glück macht so müde, sie muß den Raum verlassen, muß zur Tablette greifen, mit Captagol fühlst du dich wohl, immer vier auf einmal, etwas Wasser dazu, und nach einer Weile kommt sie erfrischt zurück, und langsam gewöhnt sie sich an die Leute, die Wohnung, die unverhoffte Aufnahme. Sie trinkt mit den anderen, hört, was sie denken, wie sie von Befreiung reden und aufgehobenen Denkverboten, und daß das alles wie ein Rausch sei, sie seien glücklich wie noch nie. 72
»Na ja«, sagt Hanna, »mich hat das alles ziemlich aus der Bahn geworfen, aber ich will euch nicht die Laune verderben, man ist ja nur so selten glücklich.« Sie versucht, ein paar Sätze zu sagen, daß sie doch an den Kommunismus geglaubt hat, der Kommunismus bei euch, das war für mich wie eine heile Welt, ich habe unter den Verhältnissen im Westen immer gelitten, ich wollte immer nach Ost-Berlin, aber jetzt ist alles zusammengebrochen, für mich ist auch etwas zusammengebrochen, aber vielleicht nehme ich mich auch nur viel zu ernst, also dann: Prost. »Aber Sie haben doch schon neue Freunde gefunden«, sagt einer, Horst oder Alfons. »Bei euch ist es gemütlich«, sagt Hanna, »hier fühle ich mich das erste Mal wohl«, und ihre Gastgeber bieten ihr an, sie solle doch einfach dableiben, als könnten diese Fremden sie adoptieren. Und Hanna bedankt sich schön und schaut in die lustige Runde, schaut auf die erstaunlichen Freunde und auf die Kinder, die auf dem Boden liegen und schon eingeschlafen sind, direkt vor dem Fernseher, in dem noch immer die unglaublichen Bilder flimmern und fassungslose Menschen halbe Sätze stammeln.
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Zwei Tage später ist sie bei ihrer echten Familie, nicht mehr bei der Adoptivfamilie, bei der sie Rettung nur spielen konnte, sie ist daheim, zu Hause, bei den Ihren, in der Erfinderstadt, der Würstchenstadt, der Parteitagsstadt, der Stadt des Gerichts, der Abrechnung. Ihrer Heimatstadt. Die Heimkehr ist eine Niederlage, keine freudige Begrüßung kann die verlorene Tochter bei ihrer überraschenden Rückkehr erwarten, kein Erbteil wird ihr präsentiert, nur die Abrechnung, denn es ist ein Fiasko, auch wenn sie anfangs noch Ausflüchte sucht und kleine Lügen, es ist eine Niederlage, und sie versucht, sich der Niederlage zu stellen; doch der moralische Kniefall allein reicht nicht: sie braucht Geld, sie braucht Stoff von ihren Eltern, und das ist fast zu schwer. Sie hat kein eigenes Leben mehr, ist auf Bettelei bei den Ihren angewiesen. Und sie muß kämpfen. Was ist die Begegnung mit den Eltern anderes als ein Kampf der sich kreuzenden Erwartungen, Pläne und Ideen für das Leben, oder der Abrechnung mit Enttäuschungen und alten Kränkungen. Aber das ist eine Generation, die nichts zu sagen hat; sie haben schon versagt und Unheil gestiftet. Und doch haben sie es geschafft, haben sie das Sagen, sie sind etwas, haben Rang und Haus und Ansehen und Geld, und nur die Kinder der Schuld schaffen es nicht, gehen unter, verzehren sich in sinnlosem Aufbegehren gegen die Eltern und sind am Ende noch auf deren Almosen angewiesen. Die Berliner Eskapade war zu Ende, irgendwann sah Hanna, daß sie kein Geld mehr hatte, daß es nicht weiterging, daß es nur die Rückreise geben konnte. Für sie war die Probe gemacht, daß es keine Zuflucht mehr gab, kein Ausweichen, keinen Weg mehr nach vorne, nach außen, es gab keine 74
rettende Fremde mehr. Jetzt blieb nur noch der Rückzug. Die Rückkehr zu den aufgegebenen Positionen, Orten, Leuten. Es blieb nur die Konfrontation mit sich selbst. Irgendwann hatte sie mit gepackter Tasche vor dem Bahnhof Zoo gestanden, irgendwann hatte sie Ronald in New York angerufen, den fernen rätselhaften Ronald, dünn und karg und langhaarig, ihm hatte sie sagen müssen, daß alles schiefgegangen war, auch daß sie zuletzt bei freundlichen Leuten gewesen war, die sie gar nicht kannte. Aber gerade bei diesen Leuten hatte sie ihre Lage begriffen: die andern sind frei, begrüßen ihre Freiheit, ihre neue Chance, für die andern war es ein Befreiungsschlag, für sie persönlich war es ein Hammerschlag, der alles zum Einsturz brachte, worauf sie ihr Leben und Schreiben gebaut hatte, aber nun hatte sie keine Chance mehr, weder hier noch dort, weder so noch so (»das sind doch ganz andere Menschen, da gehöre ich doch nicht hin, was habe ich nur gemacht, wieso bin ich in diese Partei eingetreten, der meine Radikalität so suspekt war wie meine Verzweiflung. Aber hat die Verzweiflung eine Stimme? Ich habe es verpaßt, habe mich in eine Sackgasse gebracht«). Sagt sie es oder denkt sie es nur und hofft, daß es Ronald durch die Leitung spürt (»ich kann mich da nicht integrieren, ich hinke hinterher, ich habe den Zug der Zeit verpaßt. Ich habe mir etwas vorgemacht«)? Sie ist zur Selbstanklage bereit, aber es gibt keine Gnade, keine Bewährung, keine Verwandlung. Die Zeit verhängt nur Höchststrafen. Vorbei ist vorbei. Sie hat gesungen und gespielt, nun muß sie tanzen. Das ganze Leben ist eine Zerreißprobe, aber sie ist längst zerrissen, war es immer schon, zerrissen wie das ganze Land, und sie hielt es nur aus, sie blieb nur ganz, wenn sie an diese Zerrissenheit glaubte und daran festhielt, daß es im eigenen Land ein anderes gab, ein drüben, das vor einem stand, aber nicht zu erreichen war, das man besser nicht kennenlernte. 75
Das entzweite Land findet seine Einheit wieder, aber sie geht darüber endgültig entzwei, weil es keine Einheit für sie gibt, weil sie dagegen gelebt hat, wenn auch mit fremder Hilfe, jetzt kann man nur noch ja sagen und mittanzen, mitfeiern, aber sie kann nicht positiv sein, nicht ganz und nichts eins, sie war die lebende Alternative, so sicher, so frech, so überlegen, und doch war diese Haltung nur fremden Einflüssen geschuldet, fremden Stoffen, war immer nur ein Gegenspiel, konnte nichts anderes sein, und so blieb ihr nur der Fall, der Zerfall, die Entzweiung ihrer selbst, weil sie nur in diesem Untergang sich treu bleiben konnte, auch wenn es dafür keine Prämien gab. Und Ronald, schafft der es? Hat er einen neuen Weg gefunden? Er ist so viel ruhiger, will ihr Vorschläge machen, Geld schicken, aber sie weiß doch: Ich bin einfach am Ende. Und sie hörte seine Sätze durch die Leitung: Wir nehmen zu viel Tabletten, zu viel Stoff, wir haben längst den Bezug zur Wirklichkeit verloren, wir müssen damit aufhören, wir müssen uns wieder der Wirklichkeit annähern, wir sind ihr abhanden gekommen. Er sprach zu ihr wie zu einem Kind, dem man das Leben erst erklären muß. Sie sagte nichts, und plötzlich war das Kleingeld zu Ende oder die Telefonkarte leer, und es blieb nur ein rasches hartes »Tschüs!«, sie mußte zum Zug. Sie fuhr zurück, ganz zurück, und diesmal hatte sie kaum noch Gepäck.
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Hannelore Elsner als Hanna Flanders
Im Ost-Berliner Verlag Neue Welt trifft Hanna ihren früheren Lektor Joachim (Michael Gwisdek)
Hannas Sohn Viktor (Lars Rudolph) mit seiner Freundin Isabelle (Catherine Flemming)
Die Mutter (Helga Göring)
Der Vater (Charles Regnier)
Wiedersehen mit Bruno König, Hannas Ex-Mann (Vladim Glowna)
Ronald (Tonio Arango) besucht Hanna kurz vor ihrem Tod im Krankenhaus
Im Zug spürte sie nur noch ein Brausen im Kopf. Es gab kein Woher und kein Wohin mehr, draußen flogen kahle Herbstfelder vorbei und blattlose Wälder, und ihre Gedanken verloren jede Richtung. Sie nahm die letzte Aufmunterungstablette, das Päckchen war leer, und sie hatte kein Geld mehr, sie schluckte sie, spülte sie mit einem Glas Wein hinunter, und die anderen Leute im Speisewagen schauten auf diese Frau, die mit den Tränen kämpfte (wer hätte sich von ihr noch etwas erzählen lassen, hätte auch nur einen Satz gelesen, den sie geschrieben hatte oder hätte schreiben können?). Was lenkte jetzt noch ihre Schritte, welche Ziele konnte sie noch haben? Wie frei war sie denn, die Dichterin? Nur in Bruchstücken kamen ihr diese Gedanken, nur als Nachklang von Ronalds Sätzen am Telefon. Was war das Schreiben denn, wenn nicht dieser Versuch, durch die Mauer der Zeit zu brechen? Hing sie ganz an Verhältnissen, die andere bestimmten, und konnte dieser Faden jederzeit abgeschnitten werden? Und von wem? Welches waren die Bedingungen ihrer Freiheit? Hatte sie überhaupt genug nachgedacht über Freiheit und Schreiben? Hatte sie nicht zu viel an ihren inneren Zustand gedacht, durch Drogen, Tabletten, Zigaretten, und durch ein Umfeld, das sie in ihrer Lebensweise bestärkte? Sie schaffte es nicht mehr, an ihr bisheriges Leben zu denken. Einzelne Bilder und Stimmen kehrten wieder wie ein zerstörter Film, aber keine zusammenhängende Schau. Das ganze aufgeregte Leben ist plötzlich im Vergessen verschwunden, zwischen Berlin und einer anderen Stadt.
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In dieser Zeit kommt ihre Wut zur Welt, ihr stärkster Antrieb, ihre größte Energiereserve. Eine kleine stille namenlose Wut, ein winziges Feuer zunächst, das vor sich hin flackert, das niemand löscht, das aber auch nie voll zum Ausbruch kommt. Es wartet noch auf sein Objekt. Alles, was sie schafft, vollbringt sie mit dieser Wut. Sie nennt es ihre Anfälle, der Psychiater nennt es ihre destruktiven Triebe, Bruno nennt es »deine Zerstörungslust« (aber der hat es gerade nötig, über anderer Leute Wut zu reden). Sie kriegt ihren Anfall, ihr kribbeln die Hände, ihr kribbeln die Gedanken und Wörter, sie muß irgend etwas zertrümmern, zerschmettern, sie braucht jemanden zum Fertigmachen (am besten Bruno), sie muß toben und tollen, dann fühlt sie sich grandios, diese Wut, diese herrliche Wut, diese köstliche Wut, die ist das beste an mir ... Ich bin ein Vulkan. Dieses ganze Leben ist Humbug (wie sie sich einrichten, wie sie sich kleiden, wie sie reden und denken, wofür sie Geld bekommen, wie sie sich geben: die Hand, die Tür, die Klinke), ich weiß auch nicht, wie es anders sein sollte, aber ich fang schon mal an mit dem Zertrümmern (und aus der Mischung dieser Wut mit dem Schreiben, ihres Hasses auf Bruno und ihre Eltern und alles Hergebrachte entsteht ihr Stil, der Lohn für Angst und Wut). Am schönsten blüht ihre Wut auf, wenn sie große Menschenmengen sieht (»ich könnte zehn Atombomben auf den ganzen Haufen schmettern - was für ein Volksfest«) . Ja, sie ist krank, aber es ist die Krankheit ihres Landes, sie muß die Krankheit dieses Landes austragen, dessen Geschichte gespalten ist in den dunklen und den hellen Teil, und das überdies in zwei ungleiche Teile zerlegt ist, das nach einer friedlichen Ordnung sucht, nachdem hier Mord und Terror Staatslosung waren, sie allein.
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Von den eigenen Leuten fühlen sie sich wie abgestoßen. Reden können Sie nur mit Fremden, gerade über sehr Persönliches, meine ich. Verstehen Sie das?« »Das gibt es heute in jedem Fernsehprogramm.« »Und wie finden Sie das, wenn Sie ein fremder Mensch so anspricht?« »Sie täuschen sich, Frau Flanders, ich kenne Sie. Ich bin zufällig Literaturredakteur. Und ich sehe genau, was mit Ihnen los ist.« »Schöner Schock! Fast wie im Krimi. Man trifft den Mörder gerade dort, wohin man sich gerettet hat.« »Ja, Sie haben recht, ich bin ein Mörder.« »Solange es Ihnen Spaß macht...« »Spaß? Es ist meine Pflicht als Kritiker. Zu Autoren muß man grausam sein. Manche Autoren muß man rechtzeitig ermorden. Wer nur mittelmäßig ist, hat kein Recht darauf, gedruckt zu werden. Es gibt nur sehr wenige, die der Rede wert sind.« »Nur der Kritiker selbst unterliegt keiner Kritik, für ihn gilt kein Maßstab, er hat nur zufällig die Knarre in der Hand und kann losballern. Er riskiert niemals etwas.« »Wir sollten uns nicht streiten, in Wahrheit sitzen wir in einem Boot.« »Das heißt, Sie gehen jetzt auch unter.« »Es gibt bald keine Literatur mehr und also auch keine Kritik, die diesen Namen verdient. Ihr teurer Lenin hat von den Ingenieuren der Seele gesprochen ...« »Das war Stalin, aber nur weiter.« »Jedenfalls braucht man jetzt nur noch Ingenieure der Unterhaltungsindustrie. Die schöne alte Idee vom Schriftsteller, der seine Persönlichkeit und seinen Stil den Verhältnissen entgegensetzt, der ein Werk schafft, eine eigene Welt und damit überhaupt erst die Maßstäbe setzt, die ist passe.
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Kommunikation, Technik, Distributionsapparate, gegen diese neue Dampfwalze kommen wir nicht an.« »Das Bild kommt mir etwas altertümlich vor, Dampfwalze.« »Jetzt machen Sie die Kritik! Ich will ja nur sagen, ihr ganzer Protest geht jetzt ins Leere, aber die ernst zu nehmende Kritik vielleicht auch, fürchte ich.« »Auf jeden Fall gehen wir zusammen unter in den neuen Verhältnissen. Das ist ja beinahe tröstlich.« »Fragt sich nur, wer das letzte Buch schreibt. Ich meine das letzte Werk, das man noch Literatur im alten Sinne nennen kann.« »Das können Sie ja machen. Der Kritiker begräbt die Literatur, das ist nur konsequent. Vielleicht in Form eines Nachrufs auf mich. Ja, schreiben Sie einen schönen Nachruf, aber schreiben Sie bitte auch: sie hat einen großen Krieg geführt, einen Krieg gegen das Leben. Und diesen Krieg hat sie verloren. Ich kann mich jetzt nur noch einbunkern und das Ende abwarten.« »Und was glauben Sie, warum Sie verloren haben?« »Weil ich zu früh das Lachen verlernt habe. Aber daran sind Sie schuld. Wenn man zu oft mit Leuten wie Ihnen zu tun hat, dann vergeht einem das Lachen.« Der Zug schlängelte sich in langsamem Tempo durch einen Kleinstadtbahnhof, auf dem größere Bauarbeiten vonstatten gingen. Hanna schaute aus dem Fenster, hörte kaum noch auf ihr Gegenüber. »Ich ahne, wie die jetzigen Ereignisse auf Sie wirken müssen. Ihre radikalen Positionen sind ja bekannt. Aber auch mir ist das alles nicht geheuer, ich habe meine Befürchtungen. Sicher, die radikalen Positionen einiger Autoren werden sich als das herausstellen, was sie immer waren: als aufgeregtes Gerede und Geflatter, ohne Substanz. Sie haben aus rein methodischen Gründen nach einer Gegenposition gesucht, gespielt oder ernst gemeint, egal, aber Sie haben nicht für eine 88
große Alternative gestanden, wie sie selbst gemeint haben. Zu denken gibt mir etwas anderes. Die Rolle des Fernsehens in all diesen Ereignissen. Und das wird zunehmen: das Fernsehen zeigt die Wirklichkeit nicht bloß, es verändert sie auch, es wirkt auf sie ein, nicht nur auf die Wahrnehmung der Leute, sondern auf den Gang der Ereignisse. Und das auf eine Weise, die der Literatur nie zur Verfügung gestanden hat. Jetzt wird alles widerspruchslose Bilderwelt, eindimensional, wie ein gewisser Denker gesagt hat, den jetzt keiner mehr nennen will.« »Entschuldigen Sie, ich habe Ihnen nicht zugehört. Ich habe das Gefühl, das geht mich alles nichts mehr an. Vor ein paar Wochen noch hatte man mich zu einer Diskussion eingeladen, Politik und Literatur, das übliche Spiel. Aber jetzt ... jetzt bin ich irgendwie aus dem Spiel.« »Das sage ich ja die ganze Zeit.« »Wie bitte?« »Darf ich Sie zu einem zweiten Glas Wein einladen?« »Gern. Solange das keine Verbrüderung wird.« »Ein bißchen Feindschaft muß sein?« »Die Mauer zwischen uns beiden darf nicht fallen.« »Auf ... keinen Fall! Das war jetzt schon der Trinkspruch!«
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Als die höhere Tochter noch bei den Englischen Fräulein unterrichtet wurde, schrieb sie stets die besten Aufsätze, was zu größten Hoffnungen Anlaß gab, denn das ganze bevorstehende Leben war eine Anhäufung von Aufsatzthemen, vor ihr lag die Welt als Hausaufgabe und Traktat. Man wußte, daß man die Technik zu verachten hatte, aber nicht zu sehr, daß Moral mehr galt als Macht, daß Kultur über allem stand und jeder Mensch an seinen Platz gehörte. Alle Differenzen und Mißstände lösten sich auf in der Harmonie ausgewogener Sätze. Das magere zähe Mädchen galt etwas in ihrer Klasse, sie war ein Leitbild, sie schuf die neuen Trends, und wenn sie ihre Bücher und Hefte auf einmal nicht mehr in einer Mappe mitbrachte, sondern in einem Badebeutel, tat es ihr bald die ganze Klassenmeute nach. Das Töchterchen spielte Tennis, bis ihr die Hand zitterte, und wenn die Hand nicht mehr zitterte, bearbeitete sie brav und ehrgeizlos ein Klavier. Sie ging selten aus, sie las sehr viel, vielleicht etwas zu viel, fürchtete ihre Mutter, und mit sechzehn lernte sie einen Burschen kennen, der ihr bald Briefe schrieb (»Liebes Fräulein Johanna«), die sie in manierlicher Schönschrift, wenn auch leicht nach links geneigt, beantwortete (»Lieber Herr König«). Aber mit König kam die Krise. Später sollte sie ihn anreden mit Mein Sputnik, aber die Klärung der Frage, wer wessen Satellit war, hätte gewiß einen ihrer gewaltigen Kräche ausgelöst. Sie küßten und sie zankten sich und sie blieben zusammen, weil sich keiner fand, mit dem sich so köstlich und maßlos streiten ließ. Am Anfang flüsterte er ihr noch Stichwörter für ihre Deutschaufsätze zu (für ihr künftiges Leben vielleicht auch), 90
sie nannte sich Deine Sissi (des Königs kleine Sissi) oder, wenn sie sich in ihren Briefen in drollige Nonsensgeschichten verlief und dabei sehr wohl fühlte, auch die »heilige Johanna von Narratien«. Brav und müde waren ihre Lieblingswörter, brav und müde schob sie sich durch die Zeiten, müde Bravheit füllte ihre Tage, brave Müdigkeit schützte sie vor dem Schlimmen, zu dem sie fähig war. Doch einmal mußte sie aufwachen, einmal mußte sie ihre Bravheit abschütteln. Ihr Erfolg im Leben hing davon ab, daß sie gegen alles Front machte, was die Eltern von ihr verlangten, und dabei keinen Augenblick die Vorteile vergaß, die ihre Herkunft mit sich brachte. Das geordnete Leben in stillen Häusern war ihre Schreckensvision. Einst hatte ihre Stadt in Trümmern gelegen, aber die Trümmer waren längst beiseite geräumt, die leeren Flächen begannen sich wieder zu füllen, kantige Bauten mit schmucklosen Fassaden, ihr Vater hatte schon seinen eigenen Chauffeur, die Zahl der Sparkassenfilialen vermehrte sich rasch, alles war wieder ordentlich und übersichtlich, nur irgendwo in der Vergangenheit ruhten unnennbare Schrecken, und außerdem gab es hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang das unbestimmte Drüben, ein Phänomen, das man nur als Schreckbild anerkannte. Die größte Freiheit, der erste Verstoß gegen die Bravheit war das Rauchen, das heimliche Rauchen in Abwesenheit der Eltern (Freiheit ist immer die Freiheit von ihrem Kontrollblick), ohne Filter natürlich (Fotos zeigen Bruno und Hanna stolz und mit strahlendem Gesicht beim Synchronpaffen), und ihr Leben lang hatte jede Zigarette diese Bedeutung: Ich höre nicht auf die Alten (lieber Rauchzwang als Vaterzwang). Jedes auf geschmauchte Stück Tabak zeigte ihr, was sie nicht war. Mit achtzehn war sie kein Fräulein mehr, aber das wußten die Eltern nicht, nach dem Rauchen war dies die nächste 91
Revolution in der blickfreien Nachmittagszone. Es geschah, weil Bruno es wollte, an einem warmen Nachmittag im Juni, ein Frühsommeropfer, verborgen wie das Paffen, und eher ein Test und ein Turnen als sonst etwas. Er notierte es sachlich in seinem Tagebuch (»Auf ihrem Zimmer.«), und erst im Oktober kam die Ernte: er notierte ihre erste Lustempfindung. Die Liebe hatten sie zu lernen wie kleine Tiere. Sie wußte selbst nicht, ob das die Liebe war, aber etwas Ähnliches mußte es schon sein. Sie liebte ihn und liebte ihn nicht, das beste daran war, daß sie ihm lange Briefe schreiben konnte, in ihren Briefen kam sie gut in Fahrt, sie schimpfte und jammerte, sie schwärmte und haßte, sie verdrehte die Wörter, erfand ganze Listen neuer Verben, die nachgekauten Wörter waren ihr nicht genug, jeder Begriff wurde zur Tätigkeit, jeder Satz zur Tätlichkeit, wehe der Sprache, wenn sie aus ihrer müden Bravheit erwachte. An ihn zu schreiben, dafür war die Liebe gut, und sie bog sich die Sprache zurecht für ihre Launen. Wenn er nicht da war (er studierte schon außerhalb), wollte sie zu ihm, und wenn sie bei ihm war, wollte sie gedankenschnell wieder fort, Anziehung, Abstoßung widersprachen sich unablässig. Sie brauchte etwas, das außerhalb lag, das sie anzog, herauszog, aber sie wollte nicht verlorengehen, sie war noch für etwas aufgespart (bis aus der Müdigkeit Verneinung wurde, dauerte es seine Zeit, ihre Zeit). Sie durfte schon allein reisen, das immerhin, aber in jener grauen Vorzeit, jener Zeit der Grauheit, jener Zeit nach dem Grauen (und den Greueln), hielten die Ernährer ihren Nachwuchs noch in einer Art Leibeigenschaft, kontrollierten jeden Schritt, jeden Versuch, und jeder Schritt vom Wege verlangte einen hohen Preis. Selbst beim Studium in anderen Städten hing Hanna an der Leine, umstellt von Agenten der Eltern und von Ärzten. Hausarrest abzusitzen hatte sie oft genug. Bei jeder Verfehlung wurde Gericht über sie gehalten. 92
Auf der ersten Reise nach Berlin verzichtete sie dem Vater zuliebe darauf, auch den Ostsektor aufzusuchen (Bruno lachte sie später dafür aus), der Vater hatte sie eindringlich gewarnt vor möglicher Entführung. Jenseits der eigenen Gartenmauer lauerten die Zügellosigkeit und das Böse. Bruno setzte ihr zu, vor allem, wenn er ihr fehlte. Sie brauchte ihn, sie verachtete ihn, sie ließ sich von ihm sagen, was sie lesen und wie sie es verstehen sollte, Schulstoff für das andere Leben, das noch hinter dem Horizont lag. Aber das Leben als solches gefiel ihr nicht, stieß sie ab, jeder vorstellbare Weg erschien als Selbstverlust. Es konnte ja keine Form annehmen, das Leben, jede Form machte es lächerlich. Sich einrichten? Etwas darstellen? Idiotisch. Nicht mitspielen. Man kann nur die bekämpfen, die sich abfinden, die sich anpassen, aber niemals auf eigene Kappe leben, auf etwas festlegbar sind. Die ganze Lebensordnung von Familie, Beruf, Status war ein fremdes Gebiet. Aber wo lagen die Chancen, das ganz andere zu tun, das sie gereizt hätte? Auf ihrer ersten Reise nach Paris wurde sie in einem Cafe von einem Filmregisseur angesprochen, der ihr eine Rolle vorschlug, und später wird sie oft denken: das wäre die Chance gewesen. Spielend hätte sie anders werden können. Wenn sie gespielt hätte, nur mit ihrer Erscheinung, ihrem Auftreten gewirkt hätte, das wäre ein anderes Leben gewesen. Einundzwanzig, das ist die magische Zahl. Volljährig. Dann wird sie aus der Obhut entlassen. Dann ist das Leben kein Schulaufsatz mehr. Und sie weiß: wenn sie die geschützte Baude verläßt, das Direktorentöchterchen, dann stürzen sich die Räuber auf sie, die schon darauf lauern, ihr Leben zu verderben, um sie samt ihrer Freiheit zu verschlingen. Was die Freiheit verspricht, ist genauso schwindelerregend wie das, was sie auslöschen kommt.
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Und was würde sie tun, wenn sie ganz alleine die Wahl hätte? »Ich sah es ganz klar vor mir: ich steige auf einen Turm und springe hinunter.« Ihre Hand muß gezittert haben, als sie diesen Satz an Bruno schrieb. »Ach was, keine Bange, das bringe ich doch nie fertig. Ich treibe das Spielchen immer weiter.« (Sich umbringen darf man nicht, wohl aber rauchen und trinken?) Der Turm der Versuchung stand in Hamburg, oberhalb des Hafens, oberhalb des breiten Flusses, der so rasch dahinströmte, daß ihr schwindlig wurde beim Hineinschauen, daß die Ufer sich zu bewegen schienen, unsicher wurden. In Hamburg durfte sie ein Semester studieren, bei einer Tante wohnen (die Familie hatte ihre Agenten überall) und sich gelegentlich mit einem Arzt unterhalten, einem schmalen dürren Mann jenseits der achtzig, mit kleinem rundlichem Kopf, von einer grauen Wolke umkränzt, stets im perfekt sitzenden Anzug, mit Hemd und Krawatte, niemals im weißen Kittel. Was er dachte, sagte er ihr nur verdeckt: er hielt sie für gefährdet, latent krank, und vor allem für ungeeignet für die Ehe, für die Mutterschaft; dafür war ihr Körper noch nicht gemacht, wie der sehr betagte Herr diagnostizierte. In Hamburg lernte sie das Wort Schiet. Es kam ihr zupaß. Alles ist Schiet, das war ihr Weltbild, alles ist Schiet, nur die Liebe nicht, die ihr Bruno verspricht, in dem großen Schiet ist die Liebe das klitzekleine Fleckchen Glück. Aber das sang ja auch jeder Schlager. Auch die Liebe ist gefährlich, filterlos, schutzlos, kaum ein Glück und niemals Ruh', immer die Sorge, daß etwas passiert ist, während der Psychiater vor verfrühter Mutterschaft warnt und Bruno Buch führt (»Auf ihrem Zimmer.«) und sich auch gelegentlich die Vornamen anderer Mädchen in seine Liste verirren.
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Die Liebe ist eine Einübung in Konspiration. Das ganze Leben wird zur Revolte gegen alles, was durch Vorschriften und Erwartungen geregelt ist. Die Familie ist bieder und still, genießt dezent ihren Wohlstand, aber in Wahrheit ist alles eine blutige Kasperei. Es ist ein monströser Kampf der Ernährer mit dem Nachwuchs, ein Ducken und Buckeln, ein Stopfen und Krampfen, ein ganz abscheuliches Theater. Jede Zigarette (ohne Filter) ist ein Sieg, jeder Nachmittag auf dem Zimmer (ohne Schutz) ist ein Triumph über die Tyrannei des geordneten Lebens. Der Psychiater hörte nicht auf zu warnen, und sogar Bruno schrieb an ihn, versuchte ihn zum Verbündeten zu gewinnen (und später, als er ihr diese Geheimdiplomatie gesteht, wird es einen ihrer großen Kräche geben), denn er mußte seine Prinzessin (die er längst besaß) aus der familiären Zwingburg des Herrn Dr. Ing. und Direktors entführen, so lautete nun einmal das Libretto des Lebens. Bruno ist ein Ekel. Bruno ist ein Märchenprinz, Bruno ist ein geschniegelter Pedant und viel braver, als er sich gibt (»Liebe mami, lieber pappi«), Bruno schreibt in schülerhafter Schönschrift, aber doch in gemäßigter Kleinschreibung, die hat er sich schon abgeguckt (und man sieht, er will literarisch hoch hinaus, aber zu hoch auch wieder nicht), Bruno hat nur etwas zu viel Kraft und unkontrollierbare Wut für eine so schmale Person wie sie, Bruno bringt sie um den Verstand, Bruno suggeriert ihr die besten Texte, Bruno ist ihr Schicksal, Bruno beschert ihr eine Art von Leben. In dieser Zeit kommt ihre Wut zur Welt, ihr stärkster Antrieb, ihre größte Energiereserve. Eine kleine stille namenlose Wut, ein winziges Feuer zunächst, das vor sich hin flackert, das niemand löscht, das aber auch nie voll zum Ausbruch kommt. Es wartet noch auf sein Objekt. Alles, was sie schafft, vollbringt sie mit dieser Wut. Sie nennt es ihre Anfälle, der Psychiater nennt es ihre destruktiven 95
Triebe, Bruno nennt es »deine Zerstörungslust« (aber der hat es gerade nötig, über anderer Leute Wut zu reden). Sie kriegt ihren Anfall, ihr kribbeln die Hände, ihr kribbeln die Gedanken und Wörter, sie muß irgend etwas zertrümmern, zerschmettern, sie braucht jemanden zum Fertigmachen (am besten Bruno), sie muß toben und tollen, dann fühlt sie sich grandios, diese Wut, diese herrliche Wut, diese köstliche Wut, die ist das beste an mir ... Ich bin ein Vulkan. Dieses ganze Leben ist Humbug (wie sie sich einrichten, wie sie sich kleiden, wie sie reden und denken, wofür sie Geld bekommen, wie sie sich geben: die Hand, die Tür, die Klinke), ich weiß auch nicht, wie es anders sein sollte, aber ich fang schon mal an mit dem Zertrümmern (und aus der Mischung dieser Wut mit dem Schreiben, ihres Hasses auf Bruno und ihre Eltern und alles Hergebrachte entsteht ihr Stil, der Lohn für Angst und Wut). Am schönsten blüht ihre Wut auf, wenn sie große Menschenmengen sieht (»ich könnte zehn Atombomben auf den ganzen Haufen schmettern - was für ein Volksfest«) . Ja, sie ist krank, aber es ist die Krankheit ihres Landes, sie muß die Krankheit dieses Landes austragen, dessen Geschichte gespalten ist in den dunklen und den hellen Teil, und das überdies in zwei ungleiche Teile zerlegt ist, das nach einer friedlichen Ordnung sucht, nachdem hier Mord und Terror Staatslosung waren, sie allein, die schmächtige Hanna aus der Stadt der Meister und der Mörder, muß den Tanz der Symptome vollführen. Man fürchtet sogar, sie könne in den Osten flüchten (hartnäckige Phantasie ihrer Mutter, dabei ahnt Hanna doch nur die andere Seite in der einen, eigenen Person), und wenn diese Wut sich legt, bleibt dieser Wunsch, diese Sucht: den Turm zu finden, von dem sie niedersegelt. Hamburg macht sie krank, sie kann dort nicht bleiben, Berlin ist zu gefährlich, findet der Vater, Paris wird erwogen und 96
verworfen, ein bißchen Ausland muß sein, und so wird ihr konzediert: nach Wien. Denn auch dort hocken familiäre Verbindungsagenten. Nur der Psychiater an der Elbe ist unglücklich über diese Wahl. Paris hätte sie heilen können von dem Unheil, das in ihr lauert, schreibt er, aber Wien? Wien ist doch viel zu slawisch und schlaff, das verstärkt nur ihre fatale Tendenz (von daher weht der Begriffswind). Bald schreibt er nicht mehr, der alte Herr, bald legt er sich nieder zum längsten Schlaf, er kann diese Frau nicht retten. Sie darf um Gottes willen kein Kind bekommen, das ist sein einziger Gedanke, dies zu verhüten ist seine letzte Aufgabe in dieser Welt, sein letztes Duell. Aber was ist mit ihm, dem Herrn Doktor, woran leidet er? Er redet von Zwiespalt (Fehlsteuerung des inneren Denkens), er nimmt ein schlimmes Erbgut an, in solchen Kategorien denkt er, er meint es so gut, es geht nur um sie, er hat ja sein Leben gehabt, Spaß und Macht, und ist damit zufrieden, er kann sich jetzt niederlegen und aufs Ende warten, er weiß ja Bescheid, er steht in Verbindung mit Koryphäen, tauscht Briefe mit dem großen C. G. Jung über »Schizophrene genialen Charakters«. Sie ist doch erst fünfzehn, rein drüsenmäßig gesehen, sie muß erst das Drüsenalter von einundzwanzig erreichen (schon wieder die Zauberzahl), aber bei ihr ist es erst soweit, wenn sie tatsächlich fünfundzwanzig ist (zu früh fürs Leben), dann kann sie Mutter werden (drüsenmäßig ist sie halbwertig). Du bist so reif wie deine Drüsen. Und wann kann sie ihren ersten Roman schreiben? (Immerhin hat sie ihm anvertraut, daß sie es mit einem Theaterstück probiert, so in Richtung Ibsen, Familienmassaker.) Dazu kein Wort. Drüsenroman, Drüsenkind, Drüsenjäger. Er legt sich nieder, der müde Drüsiater, er hat sein Leben hinter sich, aber sie, welche Chancen bleiben ihr, jetzt werden 97
die Weichen gestellt. Ein Kampf um Hanna. Ein Kampf im Vorfeld der magischen Zeitgrenze. Warten. Warten auf den Tag des Loslassens. Warte nur, balde: einundzwanzig. Sie zählt schon die Tage. Die Freiheit wächst in ihrem Schoß. Noch ist sie zum Studium in Wien, zur Untermiete bei Herrn und Frau Schnaderl, Bankdirektor und Gattin, gut bekannt mit Hannas Eltern. Der Kampf um Hanna spitzt sich zu. Mutter, Vater, Tanten, Ärzte, auch der Freund und von ihm in ihr Leben eingeschleppte Autoren (darunter einige, die schon lange tot sind und deren Werke aus ihrem Zimmer verschwinden) ringen um ihre Seele und ihren Leib. Mit welchem Teufel wird sie den Lebenspakt schließen? Auf welche Ziele wird sie losgehen? In diesem einundzwanzigsten Jahr entscheidet sich alles. Nur gut, daß sie keine Bienenkönigin ist, von deren Reproduktionsfähigkeit ein ganzes Volk abhängt. Das Volk ist sie nicht. Bloß kein Kind (denken der Hamburger Drüsenrater und ihr Prinz, und in ihren Gedanken nennt sie beide den großen und den kleinen Klaus), bleib ein Kind (denken die Eltern), ihr könnt mir alle gestohlen bleiben (denkt das Kind). Die fatalen Gabenfeen lauern ihr schon auf, bei einer Schwangerschaft sei mit Frühgeburten zu rechnen oder mit Kindern idiotischen Charakters, tönt es aus Hamburg (und vielleicht hätte es von dort geheißen, daß die Fehlsteuerung des inneren Denkens zu einer fatalen Neigung nach drüben werden wird, zum Unbestimmten, zum Überlaufen, zum nur scheinbar Konkreten, hätte man ihren weiteren Weg geahnt). Von all dem weiß Hanna nichts, von diesen geheimen Verschwörungen im Hintergrund, sie geht durch die Wiener Straßen, wenn sie alleine ist, zwischen Brunos heimlichen Besuchen, sie stiert die Leute auf dem Bürgersteig an und sucht sich aus, wen sie am liebsten ermorden würde, ein kurzer Blick
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in ein Gesicht genügt, und schon weiß sie, wie sie es anstellen könnte. Und dann hockt sie wieder auf ihrem Zimmer und schreibt Aufsätze über ihr künftiges Leben (»Lieber Sputnik, damit du gleich Bescheid weißt: es kann nicht immer nach deinen Wünschen gehen, ich lasse mir schon zu viel gefallen, die hündische Stellung der Frau widert mich an ...«), und er antwortet ihr in Kleinschrift: »du schleppst zu viel verzweiflung mit dir herum, ich fürchte, ich kann sie dir nicht nehmen.« Manchmal gerät ihr Pakt etwas ins Wanken, steht kurz vor der Aufkündigung, aber meistens tauschen sie etwas blöde Schreibübungen über die Liebe aus, fehlt bloß noch, daß sie zurückfallen ins »liebes Fräulein Sissi«, »sehr geehrter Herr Kandidat«... Und dann ist Krieg, und das schweißt die Koalitionäre wieder zusammen, Hausarrest droht, die Mutter will ihrer Tochter das Abitur aberkennen lassen (Mit welchem Argument? Weil ihr Bruno geholfen hat?), dann kommt die Polizei ins Spiel, nicht das Standesamt. Was war geschehen im zweiten Semester (das Studium blieb bloße gute Absicht)? Nicht Wien, Italien war der Schauplatz: der verdammte Eidam hatte die Tochter mit nach Italien genommen, auf einem Campingplatz mit ihr in einem Zelt genächtigt. Aber der Sicherheitsdienst der Eltern hatte die beiden aufgespürt, der echauffierte Vater (mit Chauffeur) entriß seine Erbin dieser Kröte von König, drohte damit, ihn der Polizei auszuliefern, malte ihm die vielen Jahre im italienischen Knast aus. Und zog es dann doch vor, den Skandal auf sich beruhen zu lassen. Nur mußte jetzt die Überwachung verschärft werden. Der verbündete Bankdirektor in Wien bekam neue Anweisungen, wie der Familienschatz vor dem Zugriff Königs besser zu hüten sei.
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Bruno ist der Verderber, der Teufel, er gibt ihr den gefährlichen Stoff, die falschen Ideen (denken Herr und Frau Direktor), und oft findet Hanna die Bücher nicht wieder, die er ihr gegeben hat (Voltaire, Gide oder Sartre), sie findet die Bücher nicht wieder, oder zerrissen, Aufklärungsfibeln der anderen Art. Zum Teufel mit den Büchern! Aber Bruno macht einen Beruf daraus, als Alchimist des Büchermachens, eine gefährliche Geheimwissenschaft (wie macht man Sätze haltbar, wie bringt man sie in Zirkulation?), er bekommt kleine Anstellungen in Verlagen, beim Rundfunk, und beflissen schreibt er dem Herrn Direktor Flanders, über welch grandioses Einkommen er schon verfügt (immerhin fast sechshundert Mark, so viel wie ein mittlerer Angestellter), und welche glänzenden Aussichten er als Redakteur hat (achthundert Mark, wenn nicht mehr). Er wird gelacht haben, der Herr Direktor, über diese sachdienlichen Hinweise in Brunos förmlichem Heiratsantrag (Hanna gegenüber genauso verschwiegen wie einst die Briefe an den Psychiater nach Hamburg, von wo längst keine Botschaft mehr kommt). So scheinbürgerlich bleibt es nicht, in Wellen verläuft die Konspiration, bricht die Bravheit zusammen. Fräulein Johanna ist eigentlich gegen das Heiraten (»das wollen wir ein für allemal klarstellen, kleiner König«), aber es heiraten ja nur Leute, die eigentlich dagegen sind, nur wenn es sich nicht vermeiden läßt, stellen wir legitime Verhältnisse her, zum Schutz gegen familiäre Verfolgung. Diese kleine Unterwerfung garantiert die große Befreiung, und sie kündigt schon an, daß sie sich keineswegs mit Begeisterung auf die Kochtöpfe stürzen wird (»Bügeln, Einmachen, Stopfen: da kannst du lange warten, mein Lieber, mein Haushalt wird das pure Chaos sein«). Aber sie hält an ihrem Kurs auf Kap Bruno fest. In der Sprache der Eltern heißt das: sie ist ihm hörig.
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Sie studiert - was man so studieren nennt: sie stapelt hoffnungslos viele Bücher zu einem Thema auf, sie schreibt an hoffnungslos schwierigen Referaten über Fragen, auf die es keine Antworten gibt, und sie geht ins Theater, oft dreimal die Woche. Und sie hungert. Freiwillig. Das ist ihr Lebensstil. Die Wiener Zeit ist eine Hungerkur. Sie trainiert ihren Hunger. Damit steuert sie ihr Gefühl, ihre Arbeit, ihre Einstellung zum Leben. Die Tochter aus bestem Hause wohnt bei besseren Leuten (wenn auch im Souterrain) und ist so unglücklich, daß sie sterben möchte (oder morden). Was fehlt ihr? Ein Mann mit Mercedes und Aufstiegschancen? »Dieser Bruno König ist ein völlig unbedeutender Mann«, läßt ihre Mutter sie wissen, die ihre umfassende Kontrolle beibehält, damit ihre Perle nicht auf die schiefe Bahn rollt. Hanna fühlt sich begraben und eingeschlossen. Hat keinen freien Blick auf die Zukunft. Sie ist die Gefangene ihres Gefühls, das nichts zersprengen kann. Sie hat 200 Mark pro Woche zur Verfügung, gibt aber nur 20 Schilling pro Tag aus, ihr Gesicht wird schmal und spitz, sie ißt nur harte Eier und Knödel. Sie raucht die billigsten Zigaretten. Später wird sie ihre Wiener Zeit eine verbrödelte Existenz nennen. »Ich kann nicht mehr schlafen«, schreibt sie aus Wien, »und ich will es auch nicht. Wie kann man in dieser blöden Welt gut schlafen? Schlafen heißt sich ergeben, sich einlullen lassen und abfinden mit allem. Ich kämpfe gegen den Schlaf, aber gewinne nicht immer. Auf zum letzten Schlafgefecht. Und weh dir, Bruno, du erdreistest dich, den Schlaf zu verteidigen!« Ihr einziges Interesse ist das Theater, mit naivem Gutwillen gegenüber den Bildungsgütern. Den größten Reiz üben Kostüme aus, das ist der einzige Zauber, der auf sie wirkt. Wäre das eine Chance? Sie wälzt alte Bildbände über Kostüme aus früheren Zeiten, über die Arbeit moderner Kostümbildner. 101
In ihren Gedanken probiert sie allerlei Kostüme für sich selbst aus, erfindet Rollen und die passenden Kostüme dazu. Was trägt sie beim ersten Mord? Was trägt sie beim Sprung vom Stephansdom? Was trägt sie beim Attentat auf den Papst? Was trägt sie an ihrem letzten Tag? Und wenn sie lange genug in Kostümideen geschwelgt hat, kriegt sie einen Anfall, dann schreibt sie an Bruno: »Wenn ich schließlich doch nicht vom Stephansdom springe, dann zerreiße ich dich in tausend Stücke. Ich sehe dich schon auf dem Boden liegen, ein Puzzle aus lauter Fleischklumpen, das keiner mehr zusammenkleben kann.« Er hatte ihre Briefe Konfektionsware genannt (ich kann auch anders, ich, Hanna Fl.Anders), und sie nannte ihn Schulmeisterlein (»warum willst du mich unbedingt umformen, ich habe dich doch auch genommen, wie du bist«). Er bleibt ganz ruhig, denkt methodisch, hört im Spätprogramm die Eheschule vom Südwestfunk (denn inzwischen wohnt er bei Stuttgart). Und er hat schon ihren frühen Hamburger Brief vergessen: »Kein Mann kann einer Frau Sinn für ihr Leben geben, und wie ich eine Ehe ertragen soll, weiß ich noch nicht.« An ihren Künftigen schreibt sie: »Du Pedant! Du Lebenskalkulierer! Alles ist so durchdacht bei dir! Und wo führt das hin? In ein grauenvoll abgezirkeltes Leben. Aber das hält nicht, du weißt es, du spürst es, du hältst es nicht aus, die kluge Lebensform zerläuft schnell wie alter Käse. Und dann flippst du aus, dann heulst du, dann brüllst du, dann tobst du (daß er dann viel trinkt oder sich ein anderes Mädchen aufs Zimmer holt, weiß sie nicht), denn auch du hast deine Anfälle, mein Lieber, und kein Arzt kümmerte sich um deine Drüsen, du wirst wütend, weil dir die Dinge aus den Händen gleiten. Aber du gibst mir die allerklügsten Ratschläge. Ich bin beraten vom großen Herrn Überdoktor. Soll ich dir was sagen,
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Brunello? Ich schreibe heute den ganzen Tag an einem Schlager, die erste Zeile geht so: Ich pfeif auf deinen Arzt, Chéri! Du blöder Hund, warum bist du nicht hier, daß ich dich ausschimpfen kann und abküssen? Wenn du nicht kommst, dann muß ich springen. Der Dom ist ja so hoch. Ich bin total besoffen, wie soll ich da raufkommen? Die Ginflasche neben mir glotzt voller Mitleid, aber ich kann ihr nicht helfen. (Zuhause bei ihr gucken sie derweil die Fußballweltmeisterschaft in Schweden.) Ich pfeif auf deinen Arzt, Chéri! und auch auf deinen klugen Rat, Kann sein, ich bin zu dumm, Chéri! für guten Rat ist es zu spat. Kann sein, ich bin zu dumm, Chéri! wo Osten und wo Westen ist, nicht einmal das weiß ich, Chéri! Und weil's für mich am besten ist, leb ich total verdreht. Kann sein, ich bin zu dumm, Chéri! sag mir, wo geht die Sonne auf, und wenn du's auch nicht weißt, Chéri geb' ich die Hoffnung auf. Ich pfeif' auf deinen Arzt, Chéri, Bis mich der Wind verweht. Ja, ich weiß nicht mehr, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht, ob du es glaubst oder nicht, ich bleib so lieb und dumm, wie du es magst, dann kannst du viel an mir herumerziehen, ich kann mich nicht orientieren, Chéri, kannst du dir das vorstellen, ich würde mich auf freiem Feld glatt 103
verlaufen, ich kann mich einfach nicht orientieren, wieso habe ich als Kind das nicht nötig gehabt? Ich bin dumm ohne dich, Chéri. (P. S. Aber glaub das ja nicht alles, ist ja nur so ein Song). Nirgendwo geht es erbitterter zu als in den Briefen dieser Liebenden aus der Lebkuchenstadt. (Und warum läuft sie nicht einfach vor ihm weg? Nur weil sie vor sich selbst nicht weglaufen kann?) Zu Hause in Nürnberg sitzen sie vor dem Fernseher und jubeln über jedes Tor für Deutschland, schimpfen auf den schrecklichen Nationalismus der schwedischen Zuschauer und den Platzverweis für Juskowiak (»Das Nachtreten war doch provoziert!«). In Wien streiten sich Bruno und Hanna und vertragen sich wieder, verbringen eine Nacht auf ihrer schmalen Klappcouch (der Herr Bankdirektor Schnaderl samt Gattin ist aushäusig). Hanna träumt von einem Schlangenknäuel, von Biß und Gift und Gegengift. Natürlich ist es Frühling in Wien, fast schon Sommer. Das Wiener Blut ist beschwingt, aber Hannas Blutung bleibt aus. Da hilft nur der Krötentest. Eine diskrete Apotheke bescheinigt, »alle Versuchstiere wurden positiv getestet«. Wer ist das Versuchstier in diesem Leben, welcher Versuch wird unternommen, und was läßt sich daran lernen (am Scheitern wie am Erfolg)? Was gibt es zu beweisen, welches neue Gesetz wird entdeckt, welches alte bestätigt? Darauf gibt noch niemand eine Antwort. In Hamburg fährt der geachtete Gutachter in die Grube. In München gehen zwei junge Leute, die seine Warnungen nicht ernst nahmen, zum Standesamt. Die Eheschließung erfolgt konspirativ, wie alles bisher. Die Verschwörung des Lebens und der Liebe geht in die nächste Phase. Brunos Familie findet sich ab. Hannas Familie wird überrumpelt, um ihr Eigentum geprellt (mein Haus, mein Auto, meine Tochter). 104
Einundzwanzig. Zauberzahl der Freiheit. Freiheit zur Mutterschaft. Jetzt heißt sie Hanna König, erwartet ein Kind, und ihre Handschrift neigt sich immer stärker nach links. Und irgendwann ist das Winterkind Viktor auf der Welt, und zunächst ist alles vergessen, was vorher gesagt und befürchtet wurde. Hanna stürzt sich mit Elan auf die Kochtöpfe, auf die Waschmaschine, sie wickelt ihren Tag ab und verscheucht die Alpträume vom vollgeschissenen Baby, sie wundert sich, wie zahm auf einmal ihre Eltern sind, wie interessiert an dem unbestellten Enkel. Sie lassen sich vom Chauffeur in den Münchner Vorort kutschieren, in dem die drei Königs nun wohnen (Bruno hat eine Anstellung bei einem Verlag erhalten), demselben Chauffeur, der ihnen Jahre später helfen wird, das Kind aus dem Haus des Vaters zu entführen, damit es in gesicherten Verhältnissen aufwächst. Noch ist alles friedlich, das Kind macht alle friedfertig, dieses Kind hat seine Eltern überrumpelt, hat sich in die Existenz gemogelt, hat einen neuen Frontverlauf geschaffen in diesem unerklärten Bürgerkrieg gegen die Bürgerlichkeit, der nun in die nächste Phase tritt. Kaum ein Jahr nach dem Kind wird ein anderes Leben geboren, nicht die bescheidenen Turbulenzen einer Kleinfamilie, sondern der permanente Taumel der literarischen Society, gepflegte Boheme, die Feste der Wörterwärter, Bruno lernt durch seine neue Arbeit in Funk und Verlag bedeutende oder bedeutend werdende Leute kennen, und Hanna ist zunächst nichts als die Frau eines Freundes bedeutender Leute, aber bald wird sie als Verfasserin von Texten wahrgenommen, angenommen, eingeladen, Bruno sei Dank, sie wird zu Lesungen gebeten, wird beklatscht und Objekt von Klatsch, verbringt Abende und Nächte in guter Gesellschaft, der eine oder andere förderliche Seitensprung ereignet sich (Bruno führt längst kein Tagebuch mehr), das Leben nehmen wir nicht mehr so genau, wir sind unter bedeutenden Leuten, der lange dünne 105
Wolf Wölffer zum Beispiel, der Bahnbeamtensohn, der genau spürt, wie künftige Trends lauten (Zertrümmern, Angreifen, Tun, was niemand von einem erwartet, Leugnen, was man tut, und vor allem, auf die Literatur spucken), ein wenig zu oft ist sie mit Wölffer zusammen, findet ihr Mann (»der Wölffer ist doch nicht links«, knurrt Bruno, »der ist doch höchstens flinks, immer vornweg und obenauf«, aber das war nicht nur Eifersucht, es war auch der Neid, daß er kein solcher Weichensteller wurde wie dieser Eisenbahnersohn), Bruno und Hanna machen immer weiter, bringen es sehr weit, haben glänzende Perspektiven (bald werden wir auch bedeutende Leute). Und seltsamerweise sind diesem Betrieb immer ein paar Leute beigemischt, die besondere Beziehungen nach drüben haben, beigemischt wie die Hefe dem Teig, die Ideen, die sie unter die Leute bringen, sind auch nur eine Droge wie eine andere, und alle werden schick und geheimnisvoll, und ganz langsam verwandelt sich die Revolte. Der Feind steht jetzt draußen, nicht mehr im Elternhaus. Gerade als alles so leicht werden könnte, Vatermutterkind, Opasomastanten, Sprechen, Laufen, Schwimmen lernen, große Reisen und kleine Häuschen, gerade da erreichte das konspirative Gegenleben seine nächste Stufe. Die Hoffnung von Hannas Eltern, in Viktor einen Verbündeten zu finden, der ihre hochtrabende und wirklichkeitsvergessene Tochter auf den Boden der Bürgerlichkeit zurückbringt, lief ins Leere. Ein Strudelleben begann, ein Lebensstrudel, in dem Hanna und Bruno kaum noch Zeit hatten, ausgiebig miteinander zu streiten, und so lebten sie sich auseinander, verfolgten ihre eigene Strategie. Sie rauchten und tranken mehr denn je, und Hannas Gesicht wurde immer eingefallener und spitzer, ihre Garderobe immer ausgefallener, sie wählte überraschende Kostüme, soignierte ihre Auftritte, ihre Effekte. Das Kind 106
konnte endlich laufen, und die Mutter lief davon. Mit der Ehe war es schnell vorbei, die Komödie der Trennung wurde eingeleitet (die ganze Bürgerlichkeit ist eine Komödie, sagte Wölffer, die Literatur weiß es seit dreihundert Jahren), ein Künstlerfreund fand sich, Bühnenbildner, der sich für einen notarnotorischen Seitensprung hergab, und schon hatten die Amtsgerichte zu tun und Papiere auszufüllen. Hanna und Bruno lebten getrennt seit jener Nacht im Hotel, der Nacht mit dem Maler, in flagranti ertappt, aber nur als Inszenierung für den Scheidungsanwalt, eine kleinbürgerliche Komödie, mit jenem Maler, der das begrenzte Privileg hatte, als ihr zweiter Mann zu gelten und doch nur irgendeiner war in einer langen Reihe, einer ungeschriebenen Liste von Männern, die nicht zählten. Endlich hatte sie das Leben auf Distanz zu sich gebracht. Sie mußte erst Mann und Kind und beinahe eine Familie haben, um sich für immer aus dem bürgerlichen Formenzwang zu befreien. Blieb nur noch, sich vom literarischen Formzwang zu befreien. Auch das gelang ihr spielend. Und wenn ihre Trennung von Bruno auch Komödie war, so hinderte sie das nicht daran, immer wieder einmal herzlichen Streit zu pflegen und zu ahnen, was sie aneinander verloren hatten. Nie würden sie sich ganz aus den Augen verlieren. Bruno blieb der Mentor im Hintergrund. Aber ihr Stern als Autorin ging erst auf, als sie sich von ihm gelöst hatte. Und auf ihrem ersten Buch stand als Autorenname Hanna Flanders (und nicht etwa Sissi König). Bruno erhielt als Scheidungsgeschenk einen langen Brief von Hanna, bitter, schwarz und komisch, wie einst ihre Wiener Korrespondenz. Alles endete mit Bildern, wie es mit falschen Bildern begonnen hatte. Am Ende ihrer kurzen Ehe mit Bruno
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zeichnete sie ihren häufigsten Traum, eine böse Karikatur, denn Karikaturen, das konnte sie am besten. Von einem hohen Turm stürzt sich eine Frau. Sie segelt kopfüber zu Boden, sie ist schon auf halber Höhe, das lange Haar flattert ihr voran, in der Hand hält sie die Stoppuhr, denn sie nimmt alles genau, auch die Blumen fürs Grab hat sie in der Hand (und wie oft wird sie in Geschichten ihr eigenes Begräbnis beschreiben, ihr grandioses Begräbnis, eine Feier für viele Leute), die Steckkämme fallen schneller und die Haarklammern liegen längst auf dem Boden, ihre Accessoires fallen zuerst. An einem der oberen Fenster des Turms streckt ein Mann entsetzt die Arme zum Himmel. Ihr Fall ist unaufhaltsam. Ihr ganzes Leben hat sie diesen Traum geträumt. Aber es war nie ein Angsttraum, es war das Bild einer Befreiung, einer Erleichterung, einer fröhlichen Tat. Ein Glücksfall. In einer Welt der entfesselten Möglichkeiten war es so schwer geworden, Glück und Unglück zu unterscheiden, Freiheit und Versklavung klar zu trennen. Wieviel fröhliche Unterwerfung hatte sie nicht bei anderen gesehen und gehaßt. Die ganze Welt war verhext mit Konsumlügen und Anpassungslügen, dagegen mußte man seine geschriebenen Entzauberungssprüche setzen, man mußte protestieren, aber schick auftreten, das lernte sie bei Wölffer, während Bruno eher eine Verwilderung pflegte, also ungepflegt auftrat, nie über das Stadium des Rollkragenpullovers hinauskam, dabei hatte er doch einen markigen Dandykopf gehabt, als sie ihn kennenlernte. Aber ihre Trennung wurde nur zu einer anderen Form der Verbundenheit. Bruno behielt ihre Briefe, ordnete und numerierte sie, und er behielt auch das Traumbild von ihrem Ende: Fallen, springen, zerspringen, entzweigehen, um endlich aus einem Stück zu sein.
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In allen Städten standen Türme, von denen sie in Gedanken schon gesprungen war. Seit sie sechzehn ist, hat sie dieses Bild im Kopf. Würde es vom Ulmer Münster gehen? Von der Michaeliskirche in Hamburg, vom Wiener Stephansdom? Vom Tower in London? Von Notre-Dame in Paris? Gift wäre ganz falsch. Etwas zu sich nehmen, das einen auszehrt, das war vielleicht die richtige Methode für ihre Schwester, die passiver war, wehrloser, die nicht genug Wut aufbrachte. Sie aber mußte hinüber fliegen.
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Als Hanna das Schild Nürnberg Hauptbahnhof sieht, durchzuckt sie ein leichter Schrecken. Beim Aussteigen sind ihre Knie so weich, daß sie beinahe stolpert. Für ein Taxi hat sie kein Geld mehr. Langsam und sehr vorsichtig geht sie durch die Straßen. Vermintes Gelände. Achtung, Erinnerung. Sie schreitet auf ihr Stammhaus zu und hat das Gefühl, daß sie in einem großen leeren Raum versinkt, der in ihr selbst klafft und den nichts füllen kann, nur noch das Echo ihrer eigenen Texte. Sätze kommen wieder hoch, ganze Kapitel, geschriebene und ungeschriebene, Fetzen aus dem Text des Lebens, Echo der Erinnerung, jetzt Echo im inneren Ohr, die eigenen Sätze werden zu rituellen Formeln, Nachklängen heimlicher Feiern. Was ist noch Wirklichkeit im Schwindelgefühl des Schreibens, im Räderwerk und Rausch der Wörter, im Gewebe der Anklänge, Nachklänge, lautlichen Durchstechereien? Fliegeralarm, Fliederalarm, Frühlingsalarm, Sätze, Kapitel, Titel, entschärfte Blindgänger aus anderer Leute Schlachten, wir wollen Bombensplitter sammeln und aus dem Nähkästchen plaudern, das immer wieder zu Boden fällt, wenn der Vater es mitnimmt in den Bombenkeller, die Eltern in Angst und Schrecken, die Kinder aber spielen SS und Führer und halten sich einen Juden zum Quälen im KZ in einem Ruinenkeller, doch die Mutter will keine Socken stricken für die Winterhilfe, Killerhilfe, und die Kinder stellen sich Fragen über die zweifelhafte Erbmasse ihrer Eltern, sammeln Geschoßteile und echte Russenkugeln in Camelia-Schachteln aus Mutters Nachtschränkchen ... Wann haben diese Spiele aufgehört? Hanna weiß es nicht mehr. Wann hatte sie angefangen, sich ihrer Eltern zu 110
schämen? Wann war der erste Streit? Sie wußte es nicht mehr. Erinnerung war nie ihre Stärke gewesen. Sie lebte in einer rauschhaften Gegenwart, wärmte sich an den kleinen Feuern des Gehirns. Ihr Vater, das war dieser dickliche, aufgedunsene Riese, ein schwabbeliger Koloß, auf dessen stämmigen Oberschenkeln sie gerne saß, dessen dicke, weiche Hände über ihre Wangen fuhren. Ihre Mutter war ganz dürr und hart im Vergleich, als wäre ihr Körper aus lauter Stricken zusammengeknotet. Dürr und hart war auch ihre Stimme, die sich fast überschlug, wenn sie sich aufregte, und das geschah sehr oft. Aber diese Zeit ist vorbei, und vorbei ist die Zeit ihrer Bombenangriffe auf Großdeutschland, jetzt machen sie reinen Tisch mit uns, dabei wollten wir reinen Tisch machen mit den Verdrängern. Und was ist mein letztes Gefecht, mein Abgang, mein Gefecht gegen die Vergangenheit, gegen meine eigene Vergangenheit, die eine verpatzte Zukunft ist. Ich kehre heim. Spätheimkehrer. Zu Fuß kommt sie vor dem prächtigen Haus aus massiven Steinquadern an, sie drückt den kleinen Messingknopf am Gartentor, und in der Tür erscheint der Vater, groß und weißhaarig, sehr gebeugt schon und völlig überrascht. Sie kommt ohne Anmeldung, diesen kleinen Vorteil muß sie haben, ihre Position ist schwach genug, und er begrüßt sie liebevoll und erfreut. »Hätte ich nur gewußt, daß du kommst, dann hätte ich dich vom Bahnhof abgeholt«, sagt er, er weiß doch, wie gern sie sich abholen läßt, wenn sie irgendwo ankommt, so selbständig wie sie tut, ist sie gar nicht. Hanna betritt die seit Jahren unveränderten Räume wie die Kultstätte einer unbekannten Religion, bei deren Besichtigung man nicht weiß, wie man sich korrekt verhält.
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Aber als dann die Mutter die Treppe herunterkommt - Hanna hat schon ihre Reisetasche abgestellt -, weiß sie sofort Bescheid beim Anblick dieses kalten Gesichts mit der verhaltenen Wut dahinter, sie hat auch hier keine Chance auf mildernde Umstände, Pardon wird nicht gegeben. Der Zorn über frühere Konfrontationen und erlittene Enttäuschungen ist stärker als die Freude über das Wiedersehen - oder ist es nur verwandelte Freude, für die sie schon lange keine Sprache mehr hat, die sich in alte Bitterkeit verwandelt hat? Ehe Hanna etwas Zusammenhängendes sagen kann, ist schon von Geld die Rede und von monatlichen Überweisungen. Nur der Vater versucht, die Atmosphäre zu entspannen, öffnet eine Flasche Wein, will auf ihr Kommen trinken, will eine kleine Familienfeier daraus machen. Jeder will jetzt anstoßen mit der Anstößigen, aber jeder feiert ein anderes Fest. Hanna sagt, sie könne auch zwei Tage bleiben, ein schüchterner Versuch, sich akzeptabel zu machen Doch schon beginnen die Vorwürfe der Mutter, sie muß ihren Streit haben: »Du bist dünn und schmal, du ißt nicht genug, du rauchst zu viel und du rufst niemals an. Nie weiß man, wo du gerade steckst, was du gerade anstellst.« Litanei der Mütter. Und auch sie redet vom Mauerfall, nimmt es als Waffe gegen die Tochter, als Rache an ihr (»Hast du denn jetzt endlich begriffen?«), doch Hanna will nicht streiten. »Ich bin ein zu schwacher Gegner«, sagt sie, aber Schonung erwirkt sie nicht. Für die Mutter sind alle Ideen und Politik und großen Erklärungen und Auftritte ihrer Tochter, vor allem dieser Eintritt in die geächtete Partei, doch nur Frechheiten eines undankbaren Kindes, Stöße gegen die besorgte Mutter. Hanna hat heute den schwächeren Part. Wie hart und selbstsicher war sie in ihren Angriffen und ihrer Ablehnung. War sie nicht sicher, daß es ganz und gar unmögliche Eltern 112
waren, daß sie nur gegen sie existieren konnte, daß alles, was ihr wertvoll, spaßig, lebenswert erschien, gegen die Eltern gerichtet war und wofür sie standen, und jetzt soll sie klein beigeben? Sie würde es vielleicht auch tun, aber die Mutter reibt Salz in die Wunden. Und man ahnt, welche Kränkung in ihr schwärt, für die es gar keinen Trost gibt, Leben muß sich am Leben rächen, es bleibt bitter und böse und ohne Versöhnung. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, sagt der Vater leise, aber die Mutter fällt ihm ins Wort und giftet: »Woher sollen wir wissen, daß du dich nicht gerade umgebracht hast.« »Ich bitte dich ...« »Schließlich hat deine Schwester es ja auch getan!« Hanna schließt die Augen und mit leichtem Schwindel denkt sie an das kleine Fläschchen mit den zusammengeklumpten Stücken wie alter Zucker, dem Rest Zyankali, mit dem sich ihre Schwester um das Leben getrunken hat in einem billigen Hotelzimmer. Daß sie sich zum Sterben keine schönere Umgebung ausgesucht hatte, war für Hanna eine bittere Enttäuschung. Die Schwester konnte ihr Leben nicht mehr korrigieren, hatte sich in lauter Sackgassen gebracht, ins Abseits des Lebens, hatte vergeblich Zuflucht im Elternhaus gesucht, wo sie, Hanna, es jetzt noch einmal probiert. Jetzt ist sie am selben toten Punkt wie ihre Schwester. Beide Töchter des Herrn Direktors haben am Leben vorbei gelebt. Über sie hatte er keine Macht. In Hannas Stille hinein startet die Mutter, die noch lange nicht zufriedengestellt ist, einen neuen Angriff: »Nimmst du immer noch so viele Tabletten? Einen neuen Entzug zahlen wir dir nicht, du kostest uns so viel Geld, du hast ja nicht mal eine Krankenversicherung!« »So kann ich nicht reden«, sagt Hanna. (Sie hat immer ohne Versicherung gelebt.) Sie versucht sich zu wehren und zu 113
winden, versucht, ihre Fassung zu wahren, ihre Fassade, aber dann kapituliert sie, dann legt sie die Waffen nieder und die Maske ab, dieses Duell kann sie nicht gewinnen, sie gesteht: »Du hast recht, Mama, ich bin pleite, du hast recht, wie du immer nur recht hast, ich bin einzig deshalb gekommen, weil ich Geld brauche, ich bin vollkommen pleite, bei mir klappt nichts mehr, ich wollte nach Berlin ziehen, etwas Privates, wegen einem Mann, und es hat nicht geklappt, der Mann will nichts von mir wissen«, (es ist wie ein Monolog in einem Theaterstück, eine Bankrotterklärung, eine Abdankung, auf nicht ganz leerer Bühne), »wenn ihr mir kein Geld gebt, verliere ich die Wohnung in München, kann ich mir keine Zigaretten und keine Tabletten mehr kaufen, nichts mehr, gar nichts mehr, keinen Stoff. Ich habe ein neues Buch in Arbeit, ich bekomme im nächsten Frühjahr einen Vorschuß, dann kann ich einen Teil von dem zurückzahlen, was ihr mir gebt.« Auf dem Theater ihrer Gedanken würde sie weiterreden, würde sie noch sagen: meine ganze Person ist pleite, mein ganzer Lebensentwurf ist pleite, die Weltgeschichte hat gegen mich entschieden, ich habe den falschen Tango getanzt, ich bin zu weit aus der Reihe getanzt, aber was soll sie verstehen, die Mutter, sie hört nur, daß dieses Geständnis auf eine Forderung hinausläuft: ich brauche zehntausend Mark. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« bellt die Mutter, und der Vater schweigt betreten, und schon ist die Lage da, gehen oder bleiben, Tasche rauftragen, als wäre sie hier wieder zu Hause, oder gleich zur Tür hinausgehen, auf die Straße, ins Ungewisse, weg von zu Hause, wie doch ihr Umweg angefangen hat. Und dann steht sie auf, und die Mutter will sie nicht halten, zwei sich abstoßende Magneten, da ist nichts zu machen, auch die halbherzigen Vermittlungsversuche des Vaters beschwichtigen nichts. Und die Frau Direktor läßt ihren Gatten ihre Verachtung spüren, er ist ihr zu weich, eine Memme. 114
Welche Erfahrungen hat sie mit ihm machen müssen? Doch wer interessiert sich für ihre Geschichte? Worum kämpfen Mütter und Töchter? Sie gehören zu verschiedenen Zeiten. Nie war der Zeitbruch so stark wie zwischen diesen Generationen, der Anspruch, gegeneinander recht zu behalten. Hannas Schreiben war Spott, war spottende Beschreibung von Familienkämpfen. Gewusel in der Schlangengrube der Familie. Krieg und Familie, das war ihr Thema. Spotten heißt: von sich fernhalten. Der Krieg war ein Kinderspiel, an dem sie nichts schrecken konnte, die Familie war eine Fortsetzung des Krieges mit Messer, Gabel und Meinungen. Hat sie später, in ihren Romanen, dieses Spiel nur fortgesetzt, herrschte dort immerzu Fliegeralarm, wie in ihrer Kindheit? Drohte immerzu ein Angriff aus dem Hinterhalt von oben, von außen, von den Großen? Sie spielte in den Trümmerlandschaften der Zukunft. Der Vater redet der Tochter zu, will sie halten, zwischen Vater und Tochter herrscht heimliche Komplizenschaft, stillschweigendes Einverständnis, und so läßt sie sich überreden, noch zu bleiben, ihrem Vater zuliebe, und sie geht auf das Zimmer im Obergeschoß, wo soll sie auch hin, vielleicht findet sich ja doch noch ein Ausweg. Wo soll man friedlich kapitulieren, wenn nicht zu Hause? »Wieso glaubst du immer, daß du etwas Besseres bist, daß du dir solche Extravaganzen leisten kannst?« hatte die Mutter einmal gesagt, »du bist nur überheblich und leichtfertig. Du beschäftigst dich nur mit dir selbst und hast kein klares Ziel vor Augen.« Die Sätze hatten der Schwester gegolten, und Hanna hatte sie nicht vergessen. Familiengeschichte, ein böses Knäuel aus Sätzen, deren Gift lange nachwirkt. Ihre letzte Zuflucht: die Villa der Eltern, das Clubzimmer mit Perserteppichen und Perserbrücken, mit einer ausladenden 115
Sitzgarnitur aus Leder, einem massiven Eichenholzschrank und drei Ölgemälden. Und der unglaublich große Garten mit Beeten in ovaler Form oder als Halbkreis, ein ebenfalls ovaler Swimmingpool, weiße Steingefäße, die jedes Frühjahr neu bepflanzt werden, dieser Garten, der so endlos wirkte, besonders abends, wenn er durch geschickt plazierte schmiedeeiserne Ampeln beleuchtet wurde, so groß wie ein Gehege, das nicht erkennen lassen will, daß man nicht mehr herauskommt. Kommst du wieder angekrochen und willst Geld, du ewiges Baby des Lebens, du bist ein Schreckbild, aber nicht ernst. Für die Kinder des Schreckens gab es kein erwachsenes Leben. Sie hatten den Schrecken inhaliert und waren für das Leben verloren, es war ein ewiger Kampf gegen das Leben, gegen die einfachste Ordnung der Dinge und jedes Nachgeben, jedes Fügen, jedes Anpassen war eine Niederlage im Großen Kampf, den sie führten. Es war ein ewiges Weglaufen, Wegdrehen, als Maskerade, in erbitterten Momenten ein regelrechter Krieg, den dann aber Stellvertreter führten, schrecklich ins Ausweglose hinein, von fremden Mächten geleitet oder von innerem Wahnsinn, als Marionetten in unsichtbaren Händen oder am Faden der eigenen Sturheit, aber man bewunderte sie, war stolz darauf, sie zu kennen, sie logiert zu haben, selbst Teil eines großen schweren Kampfes zu sein, Feinde zu haben, so lange bis man sich umzingelt, belagert, belauscht glaubte, ständig überwacht von unsichtbaren Feinden, die das Telefon anzapften, die Zimmer durchsuchten (ohne Spuren zu hinterlassen, außer im Hirn), die den Alltag zur Zitterpartie werden ließen. Vorbei das große, blutige Puppenspiel, und so blieb ihr nichts als immer wieder angekrochen zu kommen, all die kleinen Lügen zu tun, die inneren Verdrehungen, Verharmlosungen der eigenen Lage, nur um die Ihren um Geld 116
zu bitten, um weiter das Leben zu führen, das mit deren Vorstellungen und Plänen nicht das Geringste zu tun hatte. Aber sie sitzen fest im Leben, sie fischen das tote Laub aus ihren Pools, sie haben erbauliche Bilder an den Wänden, Silberrahmen und Teppiche, ihr Leben gilt, und die Kinder versäumen sich beim Gespensterspielen. Sie hat sich ergeben, sie hat sich gefügt, hat Vaters Wunsch erfüllt, ist auf ihr Zimmer gegangen wie ein braves Mädchen. Hanna nimmt ihre allerletzte Tablette, vollzieht ihren heimlichen Ritus, Heimlichkeiten vor den Eltern, setzt sich hin und schaut auf die Wände. Sie sitzt da und muß an ihre Schwester denken, in deren leerem Zimmer immer noch die roten Tapeten kleben, die sie sich als Jugendliche gewünscht hatte. Auch die Schwester war als Flüchtling aus ihrem gescheiterten Leben in die Villa gekommen. Sie hatte nur die Heirat als Weg aus der zermürbenden Fürsorglichkeit der Eltern gefunden, aber ihre Ehe war gescheitert, vor ihrem Mann hatte sie nur Ekel und Langeweile empfunden, mit ihrem Kind hatte sie nie etwas anfangen können. Sie war in Schwabinger Künstlerkreise gekommen, hatte ein anderes Leben kennengelernt, aber da verwirrte sich Hannas Erinnerung, sie hatte einen Roman daraus gemacht und darin die Geschichte ihrer Schwester mit dem eigenen Erleben vermischt, den Roman einer Madame Bovary in einer Vorortsiedlung von München, und sie erinnerte sich besser an ihre Erzählung als an die Wirklichkeit, die sie nur in Bruchstücken erfahren hatte. Ihre Schwester nahm Liebhaber, zwei nacheinander, einen älteren und einen jüngeren, wie das französische Vorbild, dachte an Trennung, Ausziehen, Neuanfang, aber nichts wollte gelingen. Als sie keinen Weg mehr wußte, sich weder mit ihrem Mann neu arrangieren noch mit ihrem jugendlichen Liebhaber anderswo etablieren konnte,
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hatte sie sich wieder in den Bannkreis der Mutter begeben, aber das Elternhaus war eine Falle gewesen, hier löste sich nichts. Die Schwester (die Figur, die Hanna aus ihr gemacht hatte) arbeitete in einer Apotheke (auch ein Motiv aus dem Romanvorbild von Flaubert), dort stahl sie das Zyankali, das sie in einem Hotelzimmer schluckte. Was folgte, in Hannas Roman (dessen subtile Grausamkeit von der Kritik gelobt wurde), vielleicht auch im Leben, war eine Friedhofsgroteske, ein Streit unter den jeweiligen Familien um das verbliebene Kind. Wer würde meinen Lebensroman erzählen und nach welchem Muster, fragt sich Hanna. Bald bin ich soweit, daß ich eine Romanfigur werde, denkt sie finster und fühlt sich wie ein sterbender römischer Kaiser, von dem man sagte, er werde bald ein Gott sein. Sie schaut sich um, starrt endlos lange auf den Druck mit den betenden Händen, das Motiv aus der Lesefibel, aber sie hat keine Zeit, sich darüber klarzuwerden, warum es sie so anzieht, warum sie es berühren muß, mit zwei Fingern über den Silberrahmen streicht. Hier ist sie doch gerettet und gesichert, auch gegen ihre eigenen Ausbrüche und Aufbrüche, Ausflüchte in das falsche Leben, hier kann sie doch von vorne anfangen, hier werden doch Kapitulationen vergeben, nicht verrechnet. Irrtum. Sie hat zu viel Schuld angehäuft, sie hat zu viel verlangt, zu viel sich vergeben lassen, zu viel Wunden geschlagen auch. Und diese Schuld ist notiert, vermerkt, vergoren. Die Tür wird aufgerissen, im Türrahmen steht die Mutter, böse und kalt, wie eine antike Rachegestalt. Und nun geht es wie immer zwischen Eltern und Kindern, es genügt, daß die Eltern etwas wollen, wünschen, in einem bestimmten Ton fordern, um die Kinder daran zu hindern, eben das zu tun, was sie selbst schon im Begriff waren zu tun, auch gern getan 118
hätten, vorausgesetzt, die Eltern würden darauf verzichten, es ausdrücklich zu verlangen. »Wir haben beschlossen«, verkündet die Mutter, »daß du jetzt hier wohnst, daß du bei uns bleibst, bis du wieder eigenes Geld verdienst. Hier kannst du in Ruhe arbeiten, hier hast du alles, was du brauchst. Das ist unser Vorschlag, überleg es dir gut.« Von Mutters Gnaden. Sie hat sie zur Welt gebracht, aber sie kann sie nicht zurück ins Leben zwingen, das hat sie nie gekonnt. Hanna läßt sie gehen und sagt gar nichts, sie nimmt das Bild von der Wand und steckt es ein wie ein Hoteldieb, nimmt ihre Tasche, die noch nicht ausgepackt war, geht hinunter. Sie braucht nicht zu überlegen. Sie weiß es schon. Den Vater trifft sie allein. Sie führen ein friedliches Gespräch. Mit ihm ist es kein Kampf. Zwischen Vater und Tochter herrscht eine wortlose Vertraulichkeit, über alle Trennungen und Konflikte hinweg, aber nun ist es das letzte Gespräch, dieser Augenblick ist da. Sie sagen keine Abschiedsworte, sie läßt ihn nicht beschwichtigen, nicht noch einmal. »Hier halte ich es nicht aus, hier bekomme ich Anfälle«, sagt sie, das muß genügen, sie sagt nicht: Hier werde ich ganz klein und dumm, hier müßte ich anders werden, um es aushalten zu können, hier müßte ich mich aufgeben, aber eben das kann sie nicht, Abschied vom Selbst, wie soll das gehen, hier ist es wie eine Entziehungskur von einem Selbstbild. Die Villa würde zur Klinik. Der Vater schaut sie an, abgemagert und gebeugt steht er da, keine Spur mehr von dem stämmigen Riesen, der er einmal war. Hanna ist reisefertig, mit Tasche und Perücke, aber er sieht nicht das von den Pressefotos und Buchumschlägen bekannte Gesicht-Kunstwerk, er sieht durch die Maske hindurch, wie sie einmal war, sieht ihre sich wandelnden 119
Gesichter und Gestalten, all die gespeicherten Bilder in ihm, die mit ihm verlorengehen werden und deren Zauber nur ihn allein bezwingt. »Ich brauche Geld«, sagt sie so hart sie kann, »ich muß zurück nach München, ich will meine alte Wohnung wiederkriegen, wenn das noch geht.« Und er gibt ihr alles, was er gerade in der Brieftasche hat, der Vater, der Direktor, der Pensionär, fünfhundert Mark. »Das vergesse ich dir nie«, sagt sie, aber er denkt nur daran, welches Gefecht er gleich mit seiner Frau führen muß, der verlorene und gefesselte Göttervater, mit ihrer Mutter, der nun auch die zweite Tochter für immer verlorengegangen ist. Gescheitert, Mutter und Töchter, an der Erbitterung gegeneinander gescheitert, unerfüllbare Erwartungen, unüberbrückbare Gräben der Zeit, Schützengräben der Generationen, Fortsetzung vergessener Feldzüge zwischen den vier Wänden. Dann verläßt Hanna die väterliche Villa. Was wird aus den Eltern, in welcher Geschichte spielen sie weiter, wie wird es mit ihnen zu Ende gehen? Sie wird es nie erfahren. Sie stellt sich tot gegen sie. Was geht es sie an? Was hat sie mit ihnen zu schaffen? Sollen sie sich doch ans Leben klammern, so lange sie wollen. Welche Nachspiele erwarten Hanna noch? Wo ist die letzte Verteidigungslinie bei dieser Umzingelung, die sie erlebt, bei dieser Rückeroberung ihrer Zitadelle, ihres Bunkers durch die Wirklichkeit (wenn sie noch Bilder suchen würde für ihre Texte) ? Wie lange kann ihre Verteidigung noch halten? Und vor allem: wer ist der Feind?
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Dann trifft sie Bruno. Hatte sie nicht seinetwegen das Elternhaus verlassen? Nun verläßt sie es für immer, und ihr Weg kreuzt sich wieder mit dem von Bruno. Neues, altes Schicksal. Bruno König hatte sie zu jenem anderen Leben verführt, sie in die Welt der großen Auftritte, der Feste, des Ruhms und der Eitelkeiten gelockt, hatte er nicht alle Illusionen geweckt und eingefangen, die Illusionen des jungen Mädchens und der angehenden Autorin, Bruno, der einsame Wolf, Bruno mit dem Durchblick, Bruno, der heimliche Schmied im Literaturbetrieb, der den großmäuligen Trommler betreute, ja es ging die Sage, er habe dessen erstes Manuskript, das dann ein Welterfolg werden sollte, überhaupt erst lesbar gemacht. Bruno der Korrektor, der Zuarbeiter, Bruno, der besonders Genaue, Bruno, die graue Eminenz im Vorhof der Bücher. Obwohl er doch erst einmal ein Taugenichts war. Das waren die Worte ihres Vaters gewesen: was willst du denn mit dem Taugenichts? Er sah aber gut aus, der junge Taugenichts, er hatte dieses schmale elegante Gesicht, diese hohlen Wangen, schon etwas zu stark eingefallen und sehr früh schon mit bitteren Einschnitten neben Nase und Mund, etwas zu kleinen Augen, die in einem großen runden und leicht schattigen Tal lagen, eine sehr hohe Stirn und wie an den Kopf gepreßte Ohren. Sein Haar war immer schon sehr spärlich gewesen, dafür war die Nase etwas zu kräftig, im Laufe der Jahre sollte sie immer stärker hervortreten, genau wie sein kantiges Kinn, wodurch sein Kopf einen Anflug von Marmorbüste erhielt, ein Standardscherz zwischen ihnen (»Bald siehst du aus wie die amerikanischen Präsidenten, deren Köpfe sie aus den Felsen
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gehauen haben« - »Das machen sie für mich auch noch, aber nicht in Amerika«). Als sie ihn kennenlernte, war er immer elegant gekleidet, gute Anzüge, immer mit Fliege und schickem Hemd. Und schon bald waren sie, Hanna F. und Bruno K., das Traumpaar der jungen deutschen Literatur, angehimmelt und gefeiert auf Partys und Messen. Später lernte sie den heimlichen Bruno kennen, der nicht nur die großen Leute kannte, deren Namen auf den erfolgreichen Büchern glänzten, sondern auch die jagenden Gejagten, deren schwarz gerahmte Bilder auf den Fahndungsplakaten drohten. Zweierlei Ruhm, in dessen Abglanz sich Bruno sonnte. Aufregende Zeiten. Tägliches Abenteuer. Nun verläßt sie ihr Elternhaus für immer, nach dieser historischen Niederlage, und sie trifft Bruno und wundert sich nicht, es mußte so sein. Zwei Reisende ohne Gepäck, sich kreuzende Routen im Gewebe der Zufälle. Auf dem Bahnhof nimmt sie Tabletten ein, die sie sich von Vaters Geld nun wieder leisten kann, mit etwas Mineralwasser dazu, schluckt, trinkt, geht unentschlossen weiter, zum Zug. Da schlurft ein Mann in die leere Wartehalle, ein alkoholisierter Bettler, hätte man auf den ersten Blick denken können, unrasiert, struppig, etwas heruntergekommen, der Schritt nicht ganz sicher, Anfang Sechzig, etwas aufgeschwemmt, abgeschlafft und ausgepumpt vom Leben, das ihm nichts mehr zu bieten hat. Hanna sieht ihn und erschrickt. Es ist ein anderes Gesicht und doch ein Spiegel, ein Gesicht, das an frühere Gesichter erinnert, ein spätes Selbstimitat, leer und tot, nur die Augen dicht neben der Nase mit dem gezackten Rücken (als hätte er viele Schläge einstecken müssen) wirken etwas feucht. Sie sehen sich, sie erkennen sich, sie sagen erstaunt des je anderen Namen, woher, wohin, und dergleichen Belanglosigkeiten, eine Begegnung ohne Bedeutung, wie jede 122
Begegnung, außer man gibt ihr eine, außer man investiert seine Person, seine Erwartungen, seine Zeit, seine heimlichen Wünsche in diese Person, wie sie es getan hat vor mehr als dreißig Jahren und wie sie es nun wieder tut. Sie könnte sich hinstellen und der Menge (aber die Halle ist nicht sehr belebt) mit lauter Stimme verkünden: Meine Damen und Herren, dies ist mein Mann, vielleicht sollte ich sagen, dies war mein Mann, oder ist man es einmal für immer? Sie hätten uns früher einmal sehen sollen, das kesse Paar mit dem Schalk im Nacken. Sie reden nur karge Sätze, woher, wohin, das ist sehr einfach und doch so kompliziert, verlorene Wege, die sich hier kreuzen in der Bahnhofseinöde, Zufallsopfer des Schicksals wie bei einem großen Unfall, einer Naturkatastrophe, warum sie, warum er? »Das ist sehr einfach: ich war bei meinen Eltern«, sagt Hanna. »Und wie war's?« »Giftig wie immer. Und du?« »Ich war bei meinem kleinen Bruder, er hatte Geburtstag«, sagt Bruno. »Und wie war's?« »Zum Besaufen trostlos, wie immer.« Sie lachen beide, schauen sich an, wundern sich, warten. Jenseits der Banalitäten ist jedes Wort schwerer, geht jedes Wort schmerzlich in die Vergangenheit, ist eine Rechnung für Früheres. »Ich habe viel an dich gedacht in der letzten Zeit«, sagt Bruno. »Lauter sentimentales Zeug, wie du unseren Jungen das erste Mal gebadet hast, wie er zum ersten Mal einen Löffel halten konnte, und all so was.« Der Junge, der Mann, die sie beide verlassen hat, schon nach zwei Jahren Ehe, um nach London zu gehen. Das große Leben.
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Die weite Welt. Die großen Ideen. Die große Veränderung. Die fremden Freunde. Ihr anderes Leben. Der Glanz der Ferne. »Ich habe ihn in Berlin besucht«, sagt Hanna. »Er scheint gut zurechtzukommen.« »Ja, unser Junge ist mehr wert als wir beide zusammen. Aber wie geht es dir? Du siehst aus wie immer.« »Findest du? Schlecht geht es mir, die Maueröffnung und dieser beschissene Trubel darum, das hat mich ganz durcheinandergebracht.« Bruno fängt ihre aufsteigende Unsicherheit ab, legt seinen Arm um sie und sagt: »Komm, gehen wir einen trinken«, denn das fällt ihm immer ein, und sie hat Zeit, sie hat nichts mehr vor sich, sie hat ja nichts mehr zu tun, außer ihr Leben zu retten, sie hat viel Zeit zu verlieren, seit die Zeit sie im Galopp verloren hat, also läßt sie sich mit diesem Mann ein, von dem sie doch schon längst abgelassen hatte, aber Bruno hing noch an ihr, an dem, was sie gewesen war. Was sie erlebt hatten, wurde in der Erinnerung immer wertvoller. Wie oft hatte er bei ihr anzurufen versucht, doch sie war nur selten zu erreichen, und irgendwann hatte er es satt, ihr besoffen auf die Nerven zu gehen. Hanna ist es ganz recht, daß es gerade Bruno ist, den sie hier trifft, er ist er der richtige Partner für den Augenblick, auf ihrer Rückreise, ihrem endlosen Rückzugsgefecht, ist er jetzt an der Reihe. Er lädt sie zu einem Wodka ein, zur Feier des Zufalls. Sie trinken einen doppelten Wodka, und dann noch einen, vor einer Imbißbude in der Bahnhofshalle, und allmählich blitzt die alte Frechheit wieder hervor, der alte Witz. »Du hast dich kaum verändert«, fällt Bruno ein, »du bist nur ein bißchen älter geworden.« Hanna ist schon entspannt genug, um selbstironisch zu sein: »Du siehst nur meine Maske, ich schminke mich seit dreißig Jahren auf dieselbe Weise, du verwechselst mich mit meiner Maske.« 124
Aber tut sie das nicht selbst? Hat sie sich nicht hinter der Schminke versteckt, dem bemüht makabren Anstrich? Ist ihr gemaltes Gesicht nicht der Panzer zum Schutz vor Berührung? Und dann reden sie noch und trinken noch, kein bitteres Wort fällt, keine Auseinandersetzung oder Abrechnung beginnt, hier nicht, jetzt nicht, sie werden fast übermütig, tanzen ihren Sorgen auf der Nase herum, nur Andeutungen und Anspielungen, erstaunliche Gelöstheit, fast Heiterkeit, dieses Treffen ist ein Glücksfall, ob daraus nicht etwas Glückliches werden kann? Und sie stoßen an auf diese blöde Stadt, in der sich ihre Wege schon wieder gekreuzt haben. Woher, wohin, sie hat keine Eile, ein Zug früher oder später kann ihr Leben nicht mehr verändern. Die Wahrscheinlichkeit von schicksalhaften Begegnungen ist rapide gesunken. Bruno muß als Zufallstreffer genügen. Irgendwie muß sie zurück nach München, irgendwann, in der Hoffnung, daß sie da noch eine Bleibe hat, und er muß nach Darmstadt, wo er wohnt, eine heimliche Literaturhauptstadt. »Komm doch einfach mit«, sagt er. Sie muß schlucken, warten, überlegen, sich entscheiden, und das dauert eine Weile. »Okay«, sagt sie, »okay. Laß uns gehen. Ich komme mit. Aber du müßtest mein Ticket bezahlen.« Fast spürt sie einen Hauch von Abenteuer und Heimlichkeit wie in den alten Zeiten, die Erwartung von Verbotenem, Überraschendem. Doch schon einen Tag später sitzt sie wieder im Zug, allein im leeren Speisewagen auf der Strecke Darmstadt - München.
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Bruno wurde kein Weichensteller wie Wölffer, kein Trendbestimmer, keine brillante Galionsfigur, auch keine graue Eminenz. Er wurde nicht einmal ein großer Name, so sehr er sich auch bemühte. Er war nützlich und hilfreich, aber nicht angesehen. Jeder im Literaturbetrieb kannte ihn, er wurde oft eingeladen, um Rat gefragt, um Vermittlung gebeten, man ließ sich gern von ihm korrigieren, edieren, hofieren, aber nie dachte jemand daran, sich für ihn zu verwenden, seine Bücher so zu loben wie die von Wölffer. In ihm wuchs eine namenlose Enttäuschung, eine unbestimmte Wut, die nur ausbrach, wenn er zuviel getrunken hatte, was immer häufiger passierte. Dann wurde er maßlos, verlor jede Kontrolle über sich selbst und später die Erinnerung über seine Entgleisungen im Suff. Wenn er wieder darüber lachen konnte, nannte er sich selbst »den großen Abwesenden«. Hannas Erfolge aus der Ferne mit anzusehen, fiel ihm besonders schwer. Mindestens einmal im Jahr provozierte er einen Streit, einen schweren Zwischenfall, einen kleinen Skandal. Bei der Hochzeit des von ihm betreuten Großdichters pöbelte er einen Dorfpolizisten an, der die betrunkene Gesellschaft am Autofahren hindern wollte. So wurde aus einem kleinen Zwischenfall ein großes Ärgernis, das mit Blutproben, Anzeigen und Führerscheinentzug für eine Schriftstellergattin endete, die am Steuer gesessen hatte. Bruno selbst war plötzlich verschwunden, wurde drei Tage lang gesucht, man befürchtete schon, ihn hinterm Deich in einem Flutgraben wiederzufinden, aber nach einer Woche stellte man fest, daß er längst wieder zu Hause war. Auf den Zwischenfall angesprochen, konnte er sich an nichts erinnern, wußte auch 126
nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Bruno war ein Mann, dem seine Zukunft und seine Vergangenheit abhanden kam. Immer wieder verglich er sich in Gedanken mit dem Politdandy Wölffer, der einen rätselhaft großen Einfluß in der Szene hatte und die besten Verbindungen. Damals gaben sich alle ziemlich revolutionär und antibürgerlich, aber Wölffer war der Oberrevolutionär. Dabei sah Bruno klar, daß er keinerlei Überzeugungen hatte, sondern einfach nur die Tendenz des Augenblicks am extremsten verkörperte. Es kam darauf an, sich mit Revolutionären aus fernen Ländern fotografieren zu lassen, seinem Image etwas Schwefelgeruch beizumischen, mit Paradoxien zu spielen (als Literaturzerstörer zum Topautor werden). So blieb man im Gespräch, obenauf und vorneweg. Auch Wölffer hatte eine Nürnberger Kindheit gehabt, auch er hatte ein Lebkuchenherz, wie sein Mentor Serdan sagte, auch er hatte als Kind in den Ruinen der Stadt der Aufmärsche gespielt mit dem Strandgut des untergehenden Reiches. Er war ein langer Schlaks, der alle überragte, körperlich und geistig, der mit jedem Blick und jeder Geste zeigte, eigentlich gehöre ich hier nicht hm, aber ich lasse mich jetzt mal dazu herab, euch zu erklären, was ihr eigentlich zu tun und zu denken habt, während Bruno bemüht und verbissen neuen Trends hinterherrobbte, ihm fehlte die Wendigkeit, die leichte Hand, er war eben nur ein Dandy im Gartenzwergformat, der immer wieder in bösen Streit geriet und sich Feinde machte. Wölffer war entwaffnend und überlegen, gab mit mildem Lächeln Sätze wie Dolchstöße von sich, behielt stets seine guter Laune, offensichtlich auch ohne stimulierende Hilfsmittel, denn er wußte, was immer passiert, es vermehrt sein literarisches Gepäck und seine Legende, er schwimmt oben, geht nie unter, segelt fröhlich gegen den Wind, sein Leben ist ein Spiel, in dem er immer gewinnt, dieser 127
Basketballspieler mit dem Lausbubengesicht, der ewige Klassenprimus, der sein Prestige noch dadurch vermehrt, daß er zugleich die tollsten Streiche ausheckt, der nie da ist, wo man ihn erwartet, der kommt und verschwindet, wann, wo und wie es ihm paßt. Dieses Wörterchamäleon führte ein Leben mit Fahrplan, seinem Fahrplan, war auf hochmütige Art bescheiden und lässig mit seiner Ick-bin-all-da-Schnute. Seine Lektion gelernt hatte er bei Hans Serdan, der in einem engen Büro in seinem Funkhaus saß, nur selten schrieb, als Herr der Nachtstudios die besten Leute heranzog, die feine Hörstücke für das Spätprogramm schrieben, oft genug kulturelle Konterbande. Serdan war eine unfaßliche Gestalt, einst Wehrmachtssoldat, dann in amerikanischer Kriegsgefangenschaft geläutert, mit modernen, kritischen Autoren und den neuen Medien vertraut geworden, ein verwirrender Zampano des Äthers, der radikale Ansichten von sich gab, sich selbst lächelnd als Kommunist bezeichnete und dann wieder seine Mitarbeiter verblüffte (denn alles blieb in kleiner Runde) mit Lobeshymnen auf Autoren und Denker, die als reaktionär oder, schlimmer noch, als unpolitisch galten. Von ihm konnte man viel lernen, und Wölffer tat es, Bruno nach ihm dann nicht ganz so gut, etwa daß Kultur strategische Distanz ist, daß Schreiben für die Öffentlichkeit eine schmale Gratwanderung ist zwischen Tanz und Duell, daß es nicht darauf ankommt, brillante Aufsätze oder Erzählungen zu verfassen und irgendwie in den Wind zu hängen, unsichtbaren Lehrern zur wohlwollenden Beurteilung einzureichen, sondern daß man sich auf dem Markt der Eitelkeiten feilbieten müsse, als Bild unter Bildern, sorgsam inszeniert, denn in der Öffentlichkeit ist alles irreal, gerade ein namhafter Autor. Werk, Person, Legende, Aura müssen eine subtile Wechselwirkung entfalten, das lernte man bei diesem Paten (von dem aber das Gerücht ging, er habe - ganz gegen seine 128
eigenen Prinzipien - unter falschem Namen Romane veröffentlicht). Bruno, aber auch Hanna waren zu brav geblieben, zu gutgläubig, zu passiv. Er hörte stundenlang die NachtstudioBeiträge (alles Moderne, Kritische, Neue kam aus dem Äther), fand dort die Lehrer, die er auf der Universität nicht gehabt hatte (weil sie im Exil gelebt hatten und meist dort geblieben waren); bei seinen Professoren fragte man besser nicht nach ihrer Vorgeschichte. Hanna, die kaum Radio hörte und die Serdan nur flüchtig kennenlernte, erhielt ein wenig Unterricht bei seinen beiden Musterschülern, die später im Guten wie im Bösen bewiesen, wozu seine Methoden taugten und wozu nicht. Wölffer wurde zum Zeitgeistsouffleur und mit aufgeblasenen Wörtersouffles zum Agitator des eigenen Ruhms, Lust und Wut paßte bei ihm bestens zusammen, Angewidertsein und fröhlich stimmender Angriff, so konnte man leben und vor allem schreiben, prominent werden, beachtet werden, aber so konnte man nicht ewig leben. Er stand mit seiner Empörung auf so gutem Fuß, daß er rechtzeitig aufhören und weise werden und nunmehr die entgegengesetzte Linie einschlagen konnte, ohne daß es seiner öffentlichen Wertschätzung abträglich war. Dafür hatten Bruno und auch Hanna einen zu naiven Begriff von Wirklichkeit, machten auf ihre Weise ernst. Während Hanna sich den Parteikommunisten annäherte, kam Bruno in Verbindung mit der Anarchistenbande, deren Fotos bald landesweit bekannt wurden. Nun entwickelte er ein paralleles Leben, eine echte Konspiration, in bescheidenem Rahmen, ohne Aktion zwar, dazu war er völlig ungeeignet, aber doch als Freund und Helfer. Die Geldsäcke aus Banküberfällen deponierte die Bande zuweilen bei ihm, auf dem Zwischenboden seiner Altbauwohnung in Berlin, wohin er mit seinem Sohn Viktor 129
gezogen war, neben dem alten Spielzeug des Jungen, der nur zwei Groschen Taschengeld bekam. Lange dauerte diese Phase nicht, denn die neuen Freunde mißtrauten ihm bald, er war ihnen zu oft betrunken, schwadronierte zu viel. Aber es blieb doch eine gewisse Befriedigung bei ihm zurück, etwas getan zu haben, was man diesem Wölffer niemals zutrauen konnte. Brüsten konnte er sich mit seiner umstürzlerischen Phase aber nur im kleinen Kreise. Wölffer pflegte seine Karriere von Trend zu Trend, er hatte eine wohlorganisierte Lobby, die ihn mit lukrativen Aufträgen versorgte, und selbst Bruno konnte ihm eine gewisse Brillanz und Leichthändigkeit nicht absprechen. Wölffer hatte einen großen Namen, wenn man ihn auch nicht mit einem großen Text identifizieren konnte, sondern nur mit einer Attitüde, einem Stil, einer Art, präsent zu sein und zu bleiben. Aber das schaffte Hanna mit ihren Auftritten auch, mit ihrem wie eine Monstranz herumgetragenen Gesichtskostüm, ihrer kleinen Barriere gegen die Zeit. Besonders ärgerte es Bruno, daß Wölffer zu Beginn ihrer Laufbahn mehr für Hanna getan hatte, als er je hätte tun können, dabei war sie für ihn die Frau seines Lebens und für jenen nur ein Zwischenspiel gewesen, kaum eine Affäre. Wölffer war immer wieder ein nützlicher Kontakt für viele andere, er verstand es, alte Bücher und neue Namen zu lancieren, etwa eine kleine Amerikanerin mit Wuschelkopf, die unglaublich gut lügen konnte und ihre Familiengeschichte jedes Mal völlig anders erzählte. In diesen Kreis der Spieler und Spinner gehörte er nicht. Aber wohin ging es mit ihm? Um Bruno wurde es stiller und einsamer, vor allem nachdem die besorgten Großeltern Flanders den kleinen Viktor von ihrem Chauffeur (immer noch derselbe, man hätte ihn in jedem Kriegsfilm sofort verwenden können, in Wehrmachtsuniform versteht sich) aus seiner Berliner Wohnung herausholen ließen 130
wie eine Geisel, man hatte da allerlei Gerüchte gehört über das schlechte Umfeld. Und so hatten sie wieder einen menschlichen Schatz zu hüten in ihrer Villa mit dem großen Garten und der hohen Mauer ringsum.
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Schon einen Tag nach dem Treffen mit Bruno sitzt Hanna wieder im Zug, allein im leeren Speisewagen auf der Strecke Darmstadt - München. Sie nimmt die unvermeidlichen Tabletten (Tag innen / Tag außen), sie raucht die ewige Zigarette (Feuer innen / Feuer außen), im endlosen Kreislauf von Anzünden, Ziehen, Inhalieren, Verglimmen, Ausdrücken, und vielleicht gelingt es ihr, sich alle Zigaretten ihres Lebens vorzustellen, aneinandergelegt, als Kette rings um die Welt, die Kette ihres Lebens, Gefühle, Stimmungen, Nervenzustände, abhängig von dem Stoff, sie raucht und sie trinkt und sie nimmt dieses weiße Zeug, sie will sich ihre Gifte selbst aussuchen, Gift für die Wirklichkeit, für ihr ganz eigenes, anderes Leben, das eigene Leben des Körpers und des Hirns, fernab der Ereignisse und ein Schutz gegen sie, das lebende Gegengift gegen die herrschenden Zustände. Sie sitzt im Zug, sie hat den Salonwagen für sich, den Öffentlichkeitswagen, auf ihrer letzten Rückfahrt, zurück von allen Eskapaden. Zurück nach München heißt zurück ins Nichts. Wo sie war, wo sie herkommt, wo sie hätte bleiben können, ist sie nur noch ein Nichts. Hätte sie noch einmal die Öffentlichkeit, diese gewesene Schriftstellerin, hätte sie noch einmal Publikum, Menschen, die auf ihr Wort etwas geben, und könnte sie noch erzählen, dann könnte sie vielleicht den letzten Versuch, den letzten Besuch schildern. Die letzte Niederlage. Meine Damen und Herren, würde sie sagen oder schreiben, ich war eine Dichterin, ich kann mich selbst kaum noch daran erinnern. Mein heilig' Blut, mein heilig' Wort, es war teuflisch scharf und witzig, aber meine heilig' Tinte fließt nicht mehr. Ich war einmal Dichterin, aber von anderer Leute Gnaden, als 132
da sind der R.Verlag, der R.Lektor, der feine R., sowie die Freunde im Osten, die zuverlässigen Feinde im Westen, ich hing als Puppe an all diesen Strippen, sie alle haben mich aufgebaut und vorangeschubst und hochgehalten, nie war ich Autorin aus eigenem Recht, eigener Macht, eigener Herrlichkeit, wie dieses von Bruno gekaperte Fischmaul, nie habe ich Maßstäbe gesetzt, ich habe immer nur Erwartungen entsprochen, indem ich behende gegen Erwartungen verstieß. Diese scheinbare Freiheit ist die größte Abhängigkeit, die Knechtschaft der Dichterin, ich habe auch als Dichterin Schminke und Perücke getragen, trat immer nur verwandelt auf, verkleidet, nie als ich selbst, denn meine Herrschaften, wir lebten in der Zeit der unendlichen Verfremdung, wir mußten uns fremd stellen gegen uns selbst, gegen alles, was unser Herkommen bestimmt hat. Etwas ist in mir, das mich zum Schreiben gebracht hat und das nun völlig nutzlos ist, wertlos geworden ist (oder immer schon war?). Die Zeit, in der unsere Ängste etwas galten, ist vorbei. Die Zeit ging über sie hinweg. Jetzt bleiben Zerstörungswut und Angriffslust ohne verbale Maskerade und ohne Angriffsziel, sie verätzen unsere ungeschützten Hände. Aber das Ich ist kein öffentlicher Schauplatz, der Tanz der Wörter und Sätze und die inneren Prozesse, die Abrechnungen und Überschreitungen, die Aufbrüche und Stürze, all das heimliche Theater, aus dem das Schreiben besteht, ist nicht publik zu machen, rührt niemanden, es ist nur ein grausames Spiel für den, der schreibt, der vom Schreiben lebt. Wir lebten in einer seltsam verkehrten Zeit, einem Strom der Erwartung, auf ein Ereignis zurasend, einen Umsturz, eine gewaltige Veränderung, auch wenn sie nicht kam, aber dieses Gefühl des baldigen Endes hat alles bestimmt, alle Verdrehungen und Verkehrungen.
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Ich habe mich an die Zeit geklammert als ihr Gegenteil, ihr Gegenstück, mit ihr zerfallen, aber an sie gekettet, durch sie versklavt, weil ich nur so schreiben konnte. Ich stand in der ersten Reihe, aber ich habe auf ganzer Linie versagt. Was kann ich jetzt noch sagen? »Ich weiß nicht, was ich machen soll?« Das ist mein neuer Refrain. Ist das noch einmal ein frecher Slogan von den Wänden? Ein Schlager, der in den Ohren dröhnt? Nichts, nichts, nichts, ich habe nichts zu sagen. Ja, mein Leben war ein Irrtum, ein produktiver Irrtum, weil ich nur aus diesem Irrtum heraus schreiben konnte. Ich stellte mich fremd gegen mich selbst und gegen alles, was ich war oder hätte sein sollen, was mich bestimmt hatte, Familie, Herkunft, Werte. Nur in dieser Stellung konnte ich erzählen: mit dem Blick auf die andere Seite, wo alles war, wie es sein sollte. Nur in dieser Selbstentfremdung, dieser gesuchten Fremdheit, in dieser Hoffnung auf die ganz andere Zeit war ich frei, fidel, lebendig, energisch, genau, konnte ich singen und tanzen und zum Tanzen bringen. Was weiß man denn schon von den Voraussetzungen des Erzählens? (Aber sie sagt das alles nicht, sie denkt es nicht einmal, sie verkörpert es als Wrack eines Dichterlebens, auf der letzten Fahrt im Salonwagen.) Wie konnte man denn schreiben in der Gefahrensphäre dieser Sprache? Was konnte es denn heißen, eine deutsche Autorin zu sein, wenn in den Krankenhäusern in Amsterdam Menschen lagen, die schon beim bloßen Klang der deutschen Sprache in Panik verfielen? Es zittern die morschen Knochen Aber hörte uns Deutschland? Hörte uns die Welt? Die Romantik war ins Blutrünstige gewendet worden, poetisch klingende Namen wie Buchenwald und Birkenau ließen ein ganz übles Aroma aufsteigen. 134
Wir haben den Schrecken gebrochen Nein, der Schrecken hat uns gebrochen, uns entzweit, entzweit mit uns selbst, mit unserer Muttersprache. Wir haben den Schrecken gebrochen Die Kinder des Schreckens waren wir, wie konnten wir da unschuldig bleiben? Und mögen die Alten auch schelten Sie haben gesungen und gegrölt, Schutzes bombige Kriegsschnulzen, sie haben Ja gesagt zum Unheil. Ich warte nur auf den einen Tag - der große Sieg am Sankt Nimmerleinstag. Schreiben in Deutschland, was hieß das denn? Sie brauchten uns als Gift und Gegengift, und unser Körper steckte unheilbar voll Gift, da war kein Entrinnen. Es gab keine Gesundung, keine Wende zum Guten, keine Versöhnung. Kräfte der Zerstörung wirkten in uns, der Ablehnung, der Verweigerung, und in dieser Spannung lebten wir, in dieser Spannung schrieben wir, gegen uns, gegen die unsrigen, um nicht sein zu müssen, wie einmal andere gewesen sind. Und mögen die Alten auch schelten Denn so hat man uns gebraucht, um uns als Schreckensmaske in die Luft zu halten, aber die Ablehnung war bei unseren Regisseuren nur Spiel und Koketterie, aber wir nahmen es schrecklich ernst. Es zittern die morschen Knochen Sie haben es gesungen und das böse Echo hallt in uns wider, bis wir selbst zerfallen wie die Asche des Feuerreiters. Als die Entzweiung endete, die große deutsche Teilung, die doch Ruhe und Frieden gebracht hatte und Stabilität, die Verhältnisse vereinfacht hatte, auch zwischen Gegenwart und Zukunft, wurden die Zeiten durcheinandergemischt, die Zukunft ertrank in der Vergangenheit. Als die Mauer fiel, da ging ich entzwei, unheilbar, alles wurde eins und ich wurde keins, mir blieb nur mein Keins-Mal. 135
Einst haben sie mich hochgejubelt (in der Presse), nun werde ich (vom Volk) niedergejubelt. Das Land brach auf, und ich brach zusammen. Ich war immer schon außerhalb der Zeit, ich hatte nur Luftwurzeln, ich war nichts, ich war nur ein Phantom mit Perücke. Und nun? Ein Gespenst irrt herum in Europa, und das Gespenst bin ich. Nichts wird von mir bleiben, nur ein dunkler Name. Ich werde ein Gespenst sein, das Gespenst ihrer aufgegebenen Hoffnungen und Vorstellungen, ihres verblaßten Hasses, ihrer feigen Feindschaft, ihrer korrupten Inkonsequenz, das Gespenst all der Ideen und Vorstellungen, vor denen die Zeit und ihre Bequemlichkeit sie bewahrt haben. Sie mußten niemals ernst machen, jetzt sind sie fein raus aus der Zeit der Illusionen, jetzt haben sie nur noch eine starke Gegenwart. Ja, sie haben es weit gebracht, die andern, die jetzt verstört und leicht entsetzt auf die Geschichte meines Untergangs herabschauen. Sie werden ihre Anerkennung äußern, wenn einmal meine Geschichte erzählt werden wird, auch die, die mich hinausgestoßen haben, ja die vor allem, die werden dann in der ersten Reihe der Gratulanten stehen. Und so bin ich eine entzweite Dichterin, bin nur noch eine unerzählbare Geschichte, und soeben ist mein letzter Versuch gescheitert, durch einen kleinen Umweg über die Vergangenheit wieder in meine Gegenwart einzusteigen, mein Leben zu heilen, München, Berlin, Nürnberg, Darmstadt, lauter verlorene Orte, lauter verlorene Schlachten, Nachspiele eines Lebens. Noch sitze ich hier im Salonwagen der Öffentlichkeit, aber gleich, wenn ich in München aussteige, ist es vorbei mit mir. Dies ist meine letzte Chance, etwas zu erzählen, und die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist die einer gescheiterten Begegnung, oh, nichts Besonderes, eine Frau geht mit einem 136
Mann, aber es klappt nicht, wie oft kommt das vor, es läuft nicht zwischen ihnen, und so laufen sie wieder auseinander. Ich habe meine Eltern verstoßen und meinen Mann, meinen ersten und meinen letzten Mann, der doch der Mann meines Lebens war. Wie würde ich es erzählen, wenn ich noch Dichterin wäre, wenn man mich noch erzählen ließe, mich begnadigen könnte zu einer letzten Erzählung, über diesen letzten Tanz. Aber die Zeit hat ihren Punktsieg über mich errungen, hat mich ins Abseits geschoben, andere sind ins Zentrum gerückt, ich habe die Zerreißprobe nicht bestanden. Ich bin entzwei. Entzweiung. Seltsames Wort, das scheinbar die Einheit verkündet: aus zwei wird eins, die Zweiheit endet, aber sie endet nicht, die Ent-Zweiung ist der endgültige Verlust der heilenden Einheit. Das würde ich Ihnen erzählen, meine Herrschaften. Ich bin im Abseits, und andere sind indessen ins Zentrum gerückt, die mir vorher in meinem Abseits applaudiert haben, mich ermutigt haben, dort auszuharren, denn wir waren göttlich in unserem aggressiven Abseits, diese Randgruppe, die die Gesellschaft aufmischen sollte, aber so haben sie uns immer weiter aus dem Spiel gedrängt, haben verhindert, daß wir zum Zuge kamen, nach innen, nach oben, und jetzt hocken wir auf dem toten Ast, jetzt rudern wir im toten Arm der Geschichte. Bald gehen wir unter. Wie hätte ich das erzählt, den Interruptus mit Bruno, bei dem keine Zukunft gezeugt werden konnte? Denn die Wiedervereinigung mit Bruno ist gescheitert. Und woran hat es gelegen? An der Perücke. An dem magischen Stück, das alle Kraft und vielleicht auch meine Seele enthielt, an dem Querkopf. Sie haben sich wiedergefunden und wieder verloren, vereint, entzweit, das konnte nicht anders sein, aber diesmal für immer, ab sofort ist alles für immer. Interruptus, unterbrochene Teilung, sie konnten zusammen nicht bleiben, die 137
Königskinder der deutschen Literatur von einst, das Wasser war viel zu flach. Es fing so schön an. Heimkehr in ein früheres Leben. Fotos werden lebendig. Das Museum wird zum Liebesnest. Als Hanna in die Wohnung ihres Ex rauschte, keß gekleidet wie George Sand in ihrer Redingote, dem ausladenden Gehrock mit dem Schwalbenschwanz, mußte sie lachen. Sie fand es so komisch, in seiner bescheidenen Bude zu stehen und zu sehen, daß es dort aussah wie immer, daß er noch dieselben billigen Tische und Regale hatte, denselben alten Plattenspieler, und dieselben Sachen im Kühlschrank: Graubrot, Pflanzenmargarine, Pflaumenmus und Thüringer Rotwurst und natürlich eine Flasche Wodka. Obwohl sie vorsichtshalber noch am Bahnhofskiosk in Nürnberg eine Flasche gekauft hatten. »Ich habe eben Angst vor Veränderung, und wenn sich etwas ändert, dann tue ich alles, um es wieder so hinzukriegen, wie es war«, sagte der stillose Einsiedler. »Es sieht irgendwie bei dir aus, einfach irgendwie, aber darauf kam es ja nie an bei uns«, sagte sie. »Außer bei deiner Kleidung«, sagte er. »Du hast immer auf Stil gehalten in deinem Auftreten.« Hättest du das mal in deinen Büchern auch gemacht, dachte er vielleicht, sagte es aber nicht. Sie hatten getrunken und getanzt. Er hatte alte Platten aufgelegt und sie auf dem Teppich herumgewirbelt, und sie hatte erst gelacht und sich dann mitziehen lassen. Tanz und Konsum und Protest, wie hatte das zusammengehangen, was machte man mit, was verweigerte man, war das nicht alles bestimmt gewesen? Hatten sich die Grenzen verschoben, und war nur noch die Musik geblieben? Sie wußte es nicht mehr im Wirbel der Schritte. Wir haben dem bürgerlichen Leben auf der
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Nase herumgetanzt, dachte sie, wir hatten unsere eigenen Tänze. Aber wer hat dazu aufgespielt? So schön hatte es angefangen, Bruno hatte eine Platte aufgelegt, und sie hatten getanzt und getrunken und angestoßen und wieder getrunken, aber er trank so viel, bis die Grenze überschritten war, jenseits der man nicht mehr mit ihm reden konnte, weil nur noch der Alkohol aus ihm redete, da quoll nur noch Dreck aus ihm heraus, sinnlose Sätze gluckerten hervor, Bruchstücke früherer Gedanken und Gespräche, Wörtermüll, eine Beleidigung für Dichter und für Psychoanalytiker. Bruno bremste den Tanz ab und japste nach Luft. »Ist unser Treffen auch legal? Machen wir schon wieder Konspiration? Aber wen betrügen wir? Niemand mehr, und das ist furchtbar, die ganze Verschwörung läuft ins Leere, irgendwann betrügt man niemand mehr, überlistet man niemand mehr, irgendwann ist alles erlaubt, nämlich gleichgültig, folgenlos, die kleinen Siege sind keine Schnippchen mehr, die man jemand anders schlägt, sondern nur noch sich selbst, man hat die Zeit belogen. Noch einmal von vorne? Noch einmal in das Leben beißen wie in einen Köder?« »Ich bin der Köder.« »Jawoll, Fräulein Generalstochter.« »Ach, diese blöde Vergangenheit, die andauernd dazwischenquatscht, andauernd redet sie einem ins Leben rein, will einen zwingen, Dinge zu wiederholen, wiederzusehen, wiederzuerleben.« »Wir haben so viel erlebt, wir kennen uns seit einem Vierteljahrhundert.« »Seit der letzten Eiszeit, meinst du.« »Bei dir war immer Eiszeit.« »Wir haben höchst unterschiedlich gelebt.« »Hast du wirklich gelebt, Hanna? Lebst du überhaupt noch?« »In Berlin sind mir die Männer nur so nachgelaufen.« 139
»Und du warst dabei glücklich?« »Glücklich wie eine Mülltonne.« »Jetzt geht's dir dreckig«, schrie Bruno, »da hast du in London, Rom und Paris gelebt, und jetzt wirst du tief in den deutschen Dreck zurückgestoßen. Jetzt hilft dir keine fremde Zone mehr. Jetzt werden wir alle überrollt und fertiggemacht, und wir haben nicht mehr genug Wut und Kraft. Man hätte diesen ganzen Scheiß rechtzeitig zerschlagen sollen, wie es die Mädchen aus der Bande gewollt haben. Jetzt haben wir keine Chance mehr. Jetzt gehen wir unter. Jetzt können sie machen, was sie wollen.« Hanna ging wortlos zum Sofa hinüber, ließ sich auf die Kissen fallen. Bruno folgte ihr keuchend, als hätte er einen Langlauf hinter sich. »Nimm die Perücke ab«, sagte er, »nimm doch endlich die Perücke ab.« »Aber nein«, sagte Hanna, »niemals, das wäre der äußerste Grad an Nacktheit.« »Aber doch nicht bei mir«, sagte er. Gerade bei dir, dachte sie, gerade bei ihm, der mich so gut kennt, diesseits der Schminke. Sich eine Blöße zu geben, das war immer das Schlimmste gewesen, man mußte sich gut abdecken im Freien, unter den Leuten, auch vor ihm. Er soll, gerade er, die Person lieben, als die sie erscheinen will, nur so kann er sie haben, und er will sie haben, die gezeichnete Person, ihren literarischen Astralleib, ihr Zeichen in der Ewigkeit, ihr Bild im Verzeichnis der Versuchenden, denn sie ist eine andere, jemand anders, Hanna Flanders, sie existiert jenseits von Haut und Haar, ist gar nicht von dieser Welt, ist nicht wirklich, nicht greifbar, er soll sie nicht ungeschützt anfassen, packen, umdrehen können, begreift er das nicht, sie ist sonst nicht zu berühren, denn unter seinen Händen, unter der Last seines Bauches, unter dem Gewusel, Gemenge, Gedränge seiner Schenkel würde sie zerplatzen wie ein fauler 140
Baumstamm am Waldboden, wie ein geschwollener Pilz, und der Staub würde aus ihr hervorquellen wie eine Fontäne, ausfließen würde sie, aber vor lauter Staub. Sie aber muß ganz bleiben und unberührt, noch unter seinen Händen, intakt, integer, ihre Erscheinung ist eine Schutzschicht, ist ein Helm und ein Panzer, eine Rüstung, zusammengehalten von der Perücke der Königin vom Nil, besiegbar, aber nicht zu unterwerfen, der märchenhaften Schönheit, für die sich die mächtigsten Männer, ihre Besieger, ruiniert haben, die Königin der absoluten Fremdheit und der Unnahbarkeit. »Nimm die Perücke ab«, sagte er wieder. Und sie sagte: »Niemals, noch beim Jüngsten Gericht will ich so auftreten, noch vor Gott.« »Und Lenin?« fragte er. »Wenn mich Lenin darum bittet, dann nehme ich sie ab.« »Aber ich bin Lenin, siehst du nicht, daß ich er bin?« Und dann redeten sie und spielten sie und zankten sich und küßten sich und brachten die Couch zum Einsturz und verzogen sich ins Schlafzimmer und versauten den Augenblick. Sie zogen sich aus, und sie spielten der Wolf und das Mädchen, sie setzte ihm ihre Perücke auf und er lachte und bellte und schnappte nach ihr, ein nackter Krieger im Liebeskampf, den er aber bald verloren gab. Ein Deserteur. Er nahm sie, er hörte wieder auf, es gab keinen Tanz zu zweit, nicht den Hauch von Lust, sie hatte längst aufgehört, wirklich zu sein für ihn, sie war nur noch ein erinnertes Bild, ihrer Gegenwart war er nicht mehr gewachsen, und sie konnte ihn nicht heranholen, zu lange schon war er eingesponnen in seinen Schmerz, seinen Verlust, seine Feigheit, er redete von den Feuermädchen und wie er sie geliebt hat, und daß niemand jemals etwas kapiert hätte, nicht sie, Hanna, mit ihrem blöden Lenin, und nicht das literarische Supermaul, auch nicht Wölffer, der immer nur abgeräumt hat, allein jene, die alles 141
zerschlagen wollten, die schon längst verloren und verbrannt waren, an die kam niemand ran, sie sind vergessen, erschrecken niemand mehr, sind nur noch eine kleine Flamme in seinem stumpfen Herzen. Was der Mann sagte, zählte längst nicht mehr, es war nur noch Vollaufen und Leerreden. Die Frau brachte ihn zu Bett, verzog sich in eine Kammer, schimpfte ihn aus, aber nichts half, es lief seine tote Redemaschine, große Sprüche und echte Schmerzen, er war längst herausgefallen aus dem Bezirk, in dem Schreiben, Wörter, Stil noch etwas gelten, herausgefallen aus der Arbeit, die einst sein Bestes gewesen war, er hatte den Wörtern irgendwann nicht mehr getraut, und doch zu viel von ihnen verlangt, verquollen und aufgedunsen in seiner ganzen Person, ihm würde nur ein langer feiger Tod bleiben. Ohne Belang. Keine zwei Zeilen wert, der Abgang, dem er entgegenwankte. Kein Wort gab es für seinen Schmerz. Sein Schmerz war ein alter Bombensplitter, der erst viel später explodieren kann, wenn man zufällig die Trümmer wegräumt. Hanna ging ins Nebenzimmer, ließ ihn allein, vielleicht hatte sie noch ein paar Stunden lang geschlafen, vielleicht gab es beim Abschied ein paar böse Worte von ihm (»Dann geh doch, geh, noch mal nehme ich dich nicht auf!«), vielleicht gab es auch noch eine stumme Umarmung, Einzelheiten verwirrten sich schon bald in ihrem Kopf, aber es brauchte diese Verstoßung und Verwünschung nicht mehr. »Mit dir kann man nichts anfangen«, sagte Hanna, »du bist völlig betrunken, und ich bin erschöpft, aber das ist dir egal. Du hast gar keinen Respekt. Lieber gehe ich ins Nirgendwo, als daß ich bei dir bleibe. Bei dir ist kein Leben mehr.« Aber vielleicht hat ihre Kraft, bevor sie die Tür endgültig schloß, nicht einmal mehr für diese Sätze gereicht. Und so blieb ihr Abschied von Bruno unerzählt. Wer nichts mehr zu erzählen hat, zählt nicht mehr. Nicht einmal die Schilderung des eigenen Verfalls konnte sie erzählen, die Vertreibung, 142
Verhöhnung, Erniedrigung. Passion ohne Erlösung. Seinen Niedergang erzählen - kann nicht allein das Schreiben diese Lügenübung vollbringen, sich am eigenen Haar aus dem Sumpf ziehen? Und wenn das eigene Haar nur eine Perücke ist? Erzählen wie es ihr erging, wie es mit ihr zu Ende ging, das können andere, spätere, glücklichere, die nicht in Schach gehalten werden von unerfüllbaren Ansprüchen.
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»Schade, daß du keinen Sinn für Metaphysik hast, daß du den einzelnen Menschen nicht als Clown seiner Zeit sehen kannst, mit den Zöpfen, Trends und Kostümen seiner Zeit, und seine Ideen sind nur ein Teil davon, schade, daß du an Inhalte und Werte glaubst, an Zukunft, das geht doch immer blöd aus, schade, daß dein Sinn für Komik verloren ist. Das Leben ist nur ein grotesker Tanz, von Anfang bis Ende, wer hat das besser gezeigt als du, aber man wird an dich denken als schwarz und tragisch, als depressiv und krank, man wird nicht mehr sehen, was das Beste an dir war, der Ulk, der Spaß, der Biß. Und niemand wird dein eigenes Leben im Stil einer Groteske erzählen, dabei warst du eine komische Figur (je ernster du dich genommen hast). Deine Karriere, deine Erfolge, deine Ehe, deine Männergeschichten, dein Streit mit Verlegern, deine Auftritte, deine Aufmachung, was für ein putziges Puzzle. Aber du warst immer zu dicht am Leben. Mit allem kannst du brechen, du große Revolutionärin, nur mit dir selbst nicht. Du glaubst an politische Ziele, an Radikalität, an Konsequenz, du willst deinen Weg zu Ende gehen, bis es mit dir zu Ende geht. Deine Hoffnung hattest du auf einen Untergang gesetzt, aber nun passiert der falsche Untergang. Es schockiert euch Revolutionäre, daß überhaupt etwas passiert. Die Zweiteilung der Welt war bequem, schuf eine Spannung und zugleich scheinbar klare Verhältnisse. Aber damit ist es aus. Nun schreit ihr aus Angst vor der Orientierungslosigkeit, die doch am Anfang allen Denkens und Schreiben stehen sollte.« Nils hatte sich so viel zu sagen vorgenommen, falls Hanna wirklich ihren Schlüssel zurückfordern würde. Er hoffte eigentlich, daß sie niemals mehr käme, denn dann hätte sie ja 144
in Berlin einen neuen Anfang gefunden. Der hinterlassene Schlüssel zu ihrem aufgegebenen Häuschen war eine Art Pfand auf ihre Zukunft. Wenn sie zurückkommen würde, hätte sie keine Chance mehr, und ihm bliebe nur, von ferne ihrem Ende zuschauen, wie er ihr immer von ferne zugeschaut hatte, und er müßte zeigen, ob er es ernst meint mit dem Schreiben ihrer Geschichte. Aber als Hanna dann doch an seiner Tür schellte, bleich und müde, statt der Perücke ein Tuch um den Kopf gewickelt und kaum geschminkt, vergaß Nils den zurechtgelegten Sermon. Er spürte nur eine seltsame Angst im Bauch, als würde nun von ihm etwas verlangt, wovon er immer geträumt hatte und wofür er sich ein für allemal als zu schwach erwies. Bleich und müde stand Hanna im Flur, er reichte ihr den Schlüssel, lieh ihr fünfzig Mark und brachte nicht mehr über die Lippen als: »Dieses Jahr kriegen wir bestimmt keinen richtigen Winter.«
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Irgendwann sitzt sie wieder auf dem Ausgangsfeld dieser vergeblichen Reise, in ihrer Betonwabe. Sie sitzt im Bungalow, obdachlos in der eigenen, leergeräumten Wohnung, diese letzte Linie ist schon verloren, und sie schüttet den Inhalt ihrer Reisetasche aus und legt sich zum Schlafen in den Müll, der ihr geblieben ist, macht sich ein Schlafnest am Boden zurecht, nicht mit Zeitungspapier zugedeckt, sondern mit dem Mantel von Dior, als wäre er ein Stück Lumpen, eine Flasche in Reichweite, ein Clochard der Existenz. Sie war in die Boutique gegangen, hatte es über sich gebracht, den wertvollen Mantel zurückzubringen, zurückzubetteln, aber sie wußte schon, daß es vergeblich sein würde wie alle Versuche zuvor, nur mußte sie auch diesen Beweis noch antreten. Der teure Mantel, die letzte große Anschaffung ihres Lebens, ihr letztes Kostüm für ihre letzten Auftritte, die sie nun hinter sich hat, aber man läßt sie es nicht ablegen. Sie weiß den Zauberspruch nicht mehr, um diese Verwandlung rückgängig zu machen. Niemand rettet sie aus ihrer zweiten Haut. Die Boutiquenfrau wies sie kühl ab, den Mantel nahm sie nicht zurück, nicht zum halben Preis und nicht zum Viertel, und der Boutiquenmann gab sein eisiges Sonnenbanklächeln dazu. Die ehemalige Dichterin versuchte, ihre Wertstücke zu verramschen. »Das machen wir prinzipiell nicht«, sagte die Boutiquenfrau, nicht sagte sie: wir leben von teuren Illusionen, und Illusionen kann man nicht zurückerstatten, auf Illusionen gibt es keine Garantien, vor allem nicht auf Illusionen über sich selbst. Und was hätte sie alles zurückgeben müssen? Das Leben wäre zum Flohmarkt geworden, alles, was für sie gezählt hatte, 146
hätte man verhökern müssen. Die Zeit macht alles zu Müll. Lenins Werke und die Bilder mit den großen Gesten. Ihr naives Vertrauen auf eine Strömung der Zeit, ein vages Versprechen, eine unbestimmte Hoffnung. Wer nimmt ihre Illusionen zurück? Die Zeit verflüchtigt sich, worauf hatte sie gebaut? War sie nicht immer die Schwester des Lichts gewesen? Aus dem Osten das Licht? Und nun aus dem Osten das Nichts, eine Leere, die sie verschlingt. Was soll man sich noch für sie ausdenken? Wie tief soll man sie sinken lassen? Soll man sie zeigen, wie sie ihren Diormantel zu verhökern versucht, an japanische Touristen oder auf dem Flohmarkt? Die Dichterin beim Lumpenhandel? Soll man sie zeigen, wie sie in Lokalen unangenehm auffällt und auf die Straße geschickt wird? Wie sie ihren Bungalow aufgibt und in eine spärlich möblierte kleine Wohnung zieht, vermittelt durch Nils, von der sie niemals erfahren wird, daß sie eigentlich Wölffer gehört? Zeit vergeht, allerlei geschieht, sie erbettelt noch Tabletten und Zigaretten, ihr tödlicher Reim, sie kommt durch die Tage, leere Tage in einer leeren Wohnung. Vielleicht fliegen auch die letzten beschriebenen Blätter davon. Aber sie selbst ist ja längst wie totes Laub im Wind. Sie lebt irgendwie, zehrt ihre Kräfte auf. Ein Mensch ist viel zu zäh, die plumpe Masse des Körpers, das sinnlos blöde Ticken des Herzens geht weiter, ein Körper zerbricht nicht so gedankenschnell wie Figuren auf dem Theater oder im Kino. Noch am Ende laufen Leben und Phantasie auseinander. Doch irgendwann ist es soweit, ein letzter lichter Moment, nach zu vielen unbezahlten Wodkas an der Theke einer Bar, in der eine vertraute Melodie erklingt, die große schwarze Stimme, die jedes Wort so klar sagt und singt wie im Gebet, ein letzter Drink, ein letzter tröstender Satz eines nachsichtigen Barkeepers, der sie wohlmeinend wegschickt, ihr den Drink 147
nicht berechnet, auf den keiner mehr folgen sollte, und sie geht, das Gesicht noch von der Musik verklärt, ein letzter Weg ins Freie, über den feinen Platz in dieser feinen Stadt voller feiner Leute, die genau wissen woher, wohin, dort drüben steht ein Taxi, das sie mitnehmen könnte, noch hat sie die Stimme im Ohr und versucht, dieses letzte Ziel im alten Leben zu erreichen. Take me home. Noch einmal der Versuch, über die Erde zu balancieren und irgendwo anzukommen, Schritt für Schritt all die kleinen Abgründe zu überwinden, aus denen ein Leben besteht. Aber was sie hinter sich bringen will ist so schwer, daß es sie in die Tiefe zieht. Das Kopfsteinpflaster, die unendlich hohen Schuhe, der weiche Schritt, und dann der Fall, als keine Kräfte sie mehr halten und keine Illusionen. Das alte Leben der Hanna F. war aufgebraucht. Dieses Leben taugte nicht mehr. Aber ein anderes gab es nicht.
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Und dann ist es nur noch ein Kampf um den Körper. Falsche Engel und echte Teufel kämpfen um die Beute. Um zu verstehen, was geschieht, müßte man alte Tafelbilder vom Jüngsten Gericht bemühen, von den Qualen in den verschiedenen Kreisen der Hölle, exquisite Folterspäße, Martern aller Arten. Die Unberührbare hat zu viel Gift in sich hineingelassen, welcher Rausch, welche Ekstase, welches Anderswerden, Anderssehen, wenn die Gifte in ihr aufblühten, aufglühten, explodierten. Welche Tortur, wenn sie wieder vertrieben werden sollen. Jetzt ist sie in des Teufels Küche, hört sie höllischen Engelsgesang, jetzt lernt sie, was Heulen und Zähneklappern ist, dabei ist sie längst zu verzweifelt, um zu weinen. Sie darf nicht mehr rauchen, diese Kette muß zerschlagen werden. Dieses falsche Feuer muß gelöscht werden. Immerhin hat sie jetzt klare Feinde. Und diese Feinde sind mächtig, haben furchtbare Waffen, und die schlimmste ist der Verzicht, den sie einem abverlangen. Sie soll entgiftet werden, jetzt kommt das Ende des Gifts. Und vielleicht das Licht am Ende des Gifts. Tage. Wochen. Monate. Sie steckt fest in der Zeit. Irgendwann ist sie aufgewacht, irgendwann hat sie begriffen, wie ihre Lage ist: ausgeliefert. Vorzeitig aus dem Leben zurückgezogen. In ihren Händen. In der Obhut der Gutmeinenden. Ein letztes Duell. Es ist nur noch ein Kampf, der nutzlose, verlorene Schmerz eines beliebigen Menschen, ohne Belang für andere. Hier ist sie ein Fall. Drama und Statistik.
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Dahin ist es gekommen mit uns, wir haben kein Leben mehr. Unsere Ehre hieß Untreue, wir haben alles abgelehnt und blieben doch angelehnt an die Verhältnisse, umklammernde Negation, Herr Lenin, nie konnte es negativ genug sein, aber wie konnte man positiv sein in diesem Land der großen Verneinung, in der so viele Namen und Orte nur noch Chiffren für den unnennbaren Schrecken waren? Das war unser Spiel, der Tanz des Negativen, der fröhliche Tango im Nichts, denn es war so fröhlich in den Anfängen, eine Befreiung, nicht an die Schwärze dieses Landes versklavt zu sein. Es gab ein Anderswo, eine greifbare Zukunft. Nur fort von hier. Wie haben wir alle bewundert, die weit genug gingen im Verneinen. Das war die Melodie, die uns vorgespielt wurde, der Tanz mit dem Teufel, »don't care about nothing«. Die großen Denker, die Kritiker, die Ablehner, die Preisverleiher, sie haben uns gepuscht, sie brauchten uns so, am Rande, im Abseits, im Risiko, aber sie selbst kamen mit heiler Haut davon und blicken jetzt betreten und leicht verächtlich auf uns zurück. Und die Freunde waren ungreifbar auf der anderen Seite. Sie wollen nichts mehr von uns wissen, von uns hören, schon gar nichts von uns lesen. Sie drängen uns hinaus, können mit unserer Verweigerung nichts anfangen; die Zeit der Zumutungen ist vorbei. Aber warum haben sie mich denn hofiert und promoviert und vorangetrieben? Warum haben sie mich denn in die erste Reihe geschoben, sich hinter meiner Perücke und meinen Texten versteckt, warum haben sie denn Preise ausgelobt, und warum haben sie über meine Bücher geschrieben: Sie zeigt in satirischer Präzision, wie mit dem Seziermesser geschrieben, wie Radikalität sich ad absurdum führt. Ja, meine gallige Komik, unerbittliche und erbarmungslose Gallenkomik, meine wehtuende Komikkolik ...
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Hanna sitzt im Flur einer Klinik und starrt auf die Wände, in ihrem Zimmer hält sie es nicht mehr aus, es gibt kein Innen und keinen Raum, in dem sie es aushielte, sie muß ins Freie, ganz ins Freie, raus aus sich selbst, sie findet keinen Schlaf und keine Einkehr, sie sitzt und starrt auf die Zeiger der großen Uhr, die mit jedem Ruck ein Stück von ihrem Leben abhacken. Das Kruzifix hat sie längst umgedreht, an die Wand mit Jenem! Sie steht auf und hebelt die Wanduhr aus. Leere, leere Zeit. Sie preßt die Minuten aus wie saftlose Zitronen. Sie hat die Gegenwart nicht aus den Gleisen bringen können, nichts hat sie verändert, sie hat sich an einen zeitlosen Traum gekrampft. Jetzt übermannt sie die Zeit. Sie ist leer, wird ausgeleert, von Gift und Illusionen, und sie fühlt sich doch so schwer, sie hängt in der Luft wie ein Bleigewicht, aber die Gedanken und Gefühle kommen wieder, steigen auf wie Ballons, wie Seifenblasen, sie lösen sich von ihr und schweben davon, sie driften davon, sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten, keine weiße Seite fängt sie mehr auf. Die Krankenschwester kommt herbei und schimpft sie aus und hängt die Wanduhr wieder ein, und Hanna bettelt sie um Zigaretten an, wie ein kleines Kind um Schokolade bettelt. Aber die Krankenschwester kann nichts für sie tun. Nicht das. Und irgendwann steht Ronald vor ihr, ein verlorener Sohn, ein Geliebter, ein Kurier, Ronald der schwarze Bote. Er hat noch ein Leben, er ist noch von dieser Welt, hat noch Pläne, hat noch Kraft, er redet von lauter Dingen, die er schaffen will. Er kann noch Witze machen, dabeisein und über den Dingen schweben. Dabei und dagegen, das war doch die Zauberformel für das freie, schöpferische Leben, warum konnte ihr das nicht gelingen, die geschmeidige Entzweiung, die so viel Gutes hervorbringt? Warum konnte es ihr nicht gelingen, noch aus ihrem Schiffbruch Profit zu schlagen, wie es manch anderer 151
verstanden hatte, von Wende zu Wende? Hatte sie hinter ihrer großen Verweigerung so viel Sehnsucht aufgespart (die Sucht, sich nach Unerreichbarem zu sehnen) ? »Ich habe dich überall gesucht«, sagt Ronald. »Ich bin so froh, daß ich dich endlich gefunden habe.« Sie schaut ihn an, sein Gesicht, die Strähne in der Stirn, sie faßt ihn beim Arm, denn sie glaubt zu kreisen und zu schweben, sie schaut auf seine schmale hohe Silhouette, diesen schwarzen Schatten, der doch so warm ist, und sie spürt, wie ihre Stimme wieder weich wird. »Ich bin im Krankenhaus aufgewacht, und man hat mir gesagt, ich sei am Viktualienmarkt zusammengebrochen. Ich war in einer Bar gewesen und wollte dann ein Taxi nach Hause nehmen. Aber dazu kam es nicht mehr. Sie haben mich vom Boden aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht, und sie haben mich untersucht und festgestellt, daß ich Barbiturate im Blut hatte. Außerdem drohten sie mir, ich müsse mit dem Rauchen aufhören, ich bekäme sonst ein Raucherbein, sie müßten mir dann das Bein amputieren, wenn ich nicht auf Entzug gehe, deshalb bin ich hier, in dieser Klinik. Laim oder so ähnlich. Sie machen auch gleich den Tablettenentzug, alles auf einmal.« Sie wundert sich selbst, wieviel sie schon zu erzählen hat, seit sie wieder zu sich gekommen ist. Und jetzt ist Ronald da, schwarz und rätselhaft, aus diesem unbegreiflichen Jenseits, das man auch Wirklichkeit nennt, und wo er gut zurechtzukommen scheint. Er ist ihr doch so ähnlich, er sollte auf sich aufpassen, denkt sie oder sie sagt es sogar, er darf sich nicht fallenlassen, er muß übrigbleiben, ihr Bote, ihr Zeuge, der sie wortlos versteht, ihr wirklicher Sohn. Ronald der Engel. Ronald sagt ihr liebe Sätze, macht Scherze darüber, daß sie nicht mehr rauchen darf, versucht, alles leichtzunehmen. Sagt, daß er auch mit dem Rauchen aufhören will. Und vor ihren
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Augen zerbröselt er seine letzten beiden Zigaretten in der Hand. »Wie war Amerika?« fragt Hanna. »Ich habe nichts gesehen. Ich habe Tag und Nacht in meinem Hotelzimmer gehockt. Es war gut, so weit weg von allem zu sein. Deutschland ist dort nur ein fernes Gerücht.« »Auch eine Art Entziehungskur also?« »Ja. Ich habe verstanden, daß wir uns ändern müssen. Wir haben uns immerzu ein anderswo gesucht. Aber jetzt müssen wir zurückkehren.« »Wenn das so leicht wäre!« »Einverstanden sein mit sich selbst ist sehr schwer. Es gibt Leute, die leben da, wo sie leben wollen, sprechen die Sprache, die sie gelernt haben, leben unter den Menschen, zu denen sie gehören. Aber solche einfachen Verhältnisse konnte es für uns nie geben. Unser Leben war verdreht, überdreht, zerrissen. Unsere Identität war die Entzweiung. Aber wir müssen aufhören, immer gegen uns selbst zu spielen. Und wir sollten froh sein über unsere Entlastung.« »Das hast du alles in Amerika gedacht?« »In meinem Zimmer.« »Werde du mir mal nicht zu vernünftig, Ronald. Ich mochte deine Überspanntheit. Sie stand dir so gut, genauso wie deine Phantasieuniformen.« »Du meinst, wir beide wären ein tolles Paar?« »Waren wir doch auch! Wenn wir nebeneinander saßen bei der Sitzung des Parteivorstandes!« »Deren Anzüge immer einen Stich ins Bräunliche hatten, was ich nie verstanden habe. Aber diese Späße sind vorbei, Hanna. Jetzt müssen wir etwas anderes spielen.« »Du vielleicht. Du bist noch jung.« »Du auch, Hanna. Eines Tages wirst du auch deine Irrwege akzeptieren können.« »Du meinst, ich sollte auch nach Amerika.« 153
»Hier ist Amerika, hier kannst du alles vergessen.« »Du redest wie ein Verführer. Ich werde niemals dementieren, was ich gedacht und geschrieben habe. Niemals.« Ronald hat Hanna jetzt bei den Schultern gefaßt. Ihr Blick ist wieder hart geworden, sie scheint eine aufsteigende Wut niederzuhalten. »Bleibst du jetzt in München?« fragt Hanna mit bemüht weicher Stimme. »Ich fahre nach Wien. Da spielen sie etwas von mir. Fragmente aus einem Stück. Vielleicht wird es auch ein Roman.« »Du bist produktiv, wie schön.« »Ja, seit ich aus New York zurück bin, kann ich wieder schreiben. Es ist die Geschichte eines Jungen, der sich nach dem Osten sehnt. Seit Vater war nach Westen abgehauen, aber bevor Frau und Kind nachkommen konnten, wurde die Mauer gebaut. Und Jahre später, als beide endlich ankommen, im Kofferraum eines Diplomatenautos herausgeschleust, da ist der Vater schon längst wieder verheiratet. Die Mutter nimmt sich das Leben, und der Junge kommt in ein Heim, in dem es ziemlich brutal zugeht. Immerzu träumt er von der Rückkehr, er malt sich sein Leben aus, das er drüben geführt hätte, in der Stadt, an die er aber gar keine Erinnerung hat. Vor allem diese Träume bestimmen sein Leben. Und die will ich festhalten.« »Ist das deine Geschichte, Ronald?« »Auch nur die übliche Interviewfrage. Aber es stimmt, es ist so ungefähr meine Geschichte.« »Warum hast du mir das nie erzählt?« »Ich konnte nicht darüber reden. Und jetzt auf einmal kann ich es. In Wien spielen sie ein paar Szenen, die ich dazu geschrieben habe.« »In Wien habe ich auch mal gelebt. Da bin ich so oft ins Theater gegangen. Da hat so vieles angefangen. Ich freue mich für dich. Viel Glück!« 154
Und sie hält ihn noch fest, schmiegt sich an seine Schulter, sagt ihm zuversichtliche Dinge über ihren Zustand und die Behandlung, und wie gut es sei, sich einmal in der Obhut anderer Menschen zu befinden. Nur der Schlaf will nicht kommen. Aus Angst vor den Träumen, die dann aufsteigen könnten? Sie ist endgültig ein Gespenst geworden, ein Wiedergänger aus einem anderen Leben, aber das sagt sie nicht. Dann geht Ronald fort, letzte Worte, letzte Umarmung, rascher Abgang zu seinem Theaterstück, Wien wartet, und Hanna ist allein mit sich und der Zeit. Tage. Wochen. Monate. Ihre Gedanken wandern rückwärts. Und immer öfter denkt sie an den alten Traum vom barmherzigen Turm. Und irgendwann ist die Grenze überschritten. Irgendwann macht sie den letzten Schritt und ihr Leben zur Legende. Irgendwann und von fernher wird ihr Leben eine Geschichte sein, die sich erzählen oder aufführen läßt. Jemand, der ihr nahestand oder sie sich vorstellen kann, wird eine künstliche Mutter erfinden, eine Dichterin, in der sich für alle, die sie gekannt und verkannt haben, die wirkliche spiegeln läßt, verstehen läßt, was vielleicht nicht zu verstehen ist: daß sie keinen Ausweg und keinen Rückweg fand, der keine Selbstverleugnung gewesen wäre. Woher kommen die Gestalten dieser Geschichte? Aus ihren Romanen, den geschriebenen und den ungeschriebenen. Abgetriebene Romane, die in der Welt nicht leben konnten. Romane gegen die Zeit, gegen sich selbst. Schreibt man nicht, damit sich das Erzählte allmählich und heilend über die Wirklichkeit legt? Wenn das Vergessen sein kleines reinigendes und vereinfachendes Werk getan hat, wenn ihr Bild, ihr Weg, ihre Person nicht mehr befremdet oder schmerzt, läßt sich alles verdichten und anschauen. 155
Aber es bleibt eine Erfindung und ein Versuch, ein nachgetragener Abschied. Ein Abschied, in dem sie weiterlebt und präsent bleibt, als Gedankenfigur, als Stachel, als flimmernde Gegenwart, in der sie das tut, was von jeher ihre Rolle war: stören, ärgern, herausfordern, beunruhigen, anzweifeln, wie ein Rätselwesen aus einer abgestorbenen Kultur. Sie kommt einher wie eine antike Sagengestalt, die schon von weitem Furcht einflößt, sie muß ein schreckliches Opfer bringen, eine alte Rache vollziehen, rätselhaften Göttern gehorchen, die in ihr selbst hausen, sie wird zur Schreckgestalt, die eine alte Schuld begleichen muß. Sie ist ein Opfer, denn ein Opfer muß gebracht werden (nach diesem Mauerfall, diesem schweren Ereignis, das sich die ändern so leicht machen), eine muß geopfert werden, eine muß sich selbst opfern. Ein Opfer für die Ideen, die so viele zusammengehalten hatten, die sie auch zusammenhielt, mit denen sie sich gewehrt haben gegen das Land, das jetzt über sie hereinbricht, die Menschenwogen, die nun über ihr zusammenschwappen. Sie ist das Opfer, das die anderen erlöst, befreit, für neue Geschichten öffnet, in denen sie nicht mehr vorkommt. Man wird sie erzählen, diese schwärzeste aller Geschichten: ein Mensch geht verloren, gescheitert an sich selbst, und es hat vielleicht nichts zu bedeuten. Sie werden ein wenig Angst haben, sich auf diese Geschichte einzulassen, sie werden Angst haben, das Kino zu betreten oder das Buch aufzuschlagen, wie vor einem Stierkampf oder einem Opferritual, bei dem man vorher weiß: eine bleibt auf der Strecke. Man wird sie besänftigen müssen. Schonen. Und wenn ihre Geschichte dann konsumierbar und akzeptabel gemacht ist, die gespielte Auferstehung der Hanna R (ganz anders als in ihren Erzählungen über ihr Begräbnis und ihre Wiederauferstehung vorweggenommen), wird man wieder 156
über sie schreiben und sie loben, hohe Persönlichkeiten, die die wirkliche Gestalt einst vom Spielfeld gedrängt haben, werden Auszeichnungen überreichen, und man wird sehen: die einen haben es geschafft, über Kritik und Distanz und radikale Selbstinszenierung hinwegzukommen, und stehen nun an der Spitze des Systems, als seine Vertreter und Darsteller, und die anderen sind nur noch Stoff für ein erschrecktes Nachdenken über eine Verlorene, eine Unberührbare, deren Geschichte bei den anderen zu viel Verdrängtes und eigene Irrtümer und Irrwege anrührt, aufrührt, so daß die Verbliebenen sie nicht sehen und hören wollen und sich geschickt vom Leibe halten durch wohlfeile Anerkennung. Das Leben der Hanna F. ist dann aber längst auf dem sicheren Ufer. Noch aber ist es nicht soweit. Noch muß der Ausgang gefunden werden. Zuletzt ist sie wie eine Verurteilte in einer kahlen Zelle, die auf den Henker wartet und auf die letzte Gnade, die letzte Freude, die letzte Zigarette, Konterbande, wie alles, was ihr wichtig war. Diese Gnade ist der Gnadenschuß. Sie erteilt ihn sich selbst. Sie zündet die Zigarette an, die sie einem Krankenpfleger aus der Jacke gestohlen hat, und in diesem Feuer holt sie der Teufel. Das anzuzünden heißt, das Leben auszulöschen. Jetzt ist sie frei und gewichtslos und wirft alles fort. Das Ambiente widerspricht ihrem Geschmack, ihren Vorstellungen, ihren Romanen. Kein feines Hotel und kein dreißigster Stock und keine feinen Klamotten, nur ein hellgrauer Kittel, dazu rosa Anstaltspantoffeln, die sie aber auf dem gekachelten Boden zwischen Uhr und Kreuz gelassen hat, und mit den Pantoffeln hat sie alle Erdenschwere, alle Erdenkomödie abgelegt und ist im gelblackierten Treppenhaus die vier Etagen in die Höhe geschwebt.
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Sie hätte gerettet werden können, aber das bloße Leben war ihr nicht genug. Das Leben sollte sie nicht haben, nicht kleinkriegen, nicht zurechtbiegen. Manche schaffen es glänzend, als Riesen und Zwerge des alltäglichen Lebens, aber das ist nie ihr Spiel gewesen. Sie wechselt wieder einmal die Seite, aber nur um sich treu zu bleiben, ihrer Ablehnung, ihrer Weigerung, ihrem unauslöschlichen Bild. Sie geht auf das Fenster zu, von dem ihr eine unglaubliche Lichtflut entgegenströmt. Dahinter ist alles heiter und klar. Sie hat es so oft geträumt und durchlebt, daß sie wie eine Schlafwandlerin durch den Gang treibt. Der große Augenblick ist endlich da, und doch scheint alles nur Wiederholung zu sein. Sie schiebt den dünnen Vorhang beiseite, öffnet die gläsernen Flügel und schwingt sich mühelos auf das Gesims. Eine Sekunde lang befürchtet sie, daß sie zu leicht sein könnte. Dann kippt sie vornüber und fällt in das Licht.
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Nachbemerkung Dieser Roman ist angeregt worden von dem Film Die Unberührbare von Oskar Rochier sowie dem Drehbuch zu diesem Film, an dessen Arrangements, Verdichtungen und Situationen er sich orientiert, über die er aber hinausgeht. Auch mit anderem Material wird frei umgegangen. Nur kursiv gesetzte Passagen sind Zitate aus dem Briefwechsel von Gisela Eisner und Klaus Rochier bzw. aus privaten Notizen von Klaus Rochier, die Oskar Rochier freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Mutmaßungen über eine fiktive Gestalt schließen nicht aus, daß die Wirklichkeit mitgemeint ist, wenn auch nicht in einem biographischen Sinn. Das Gedicht auf Seite 28 f. stammt von Johannes R. Becher: Für diesen Beitrag zu einem Lebens- und Zeitbild gilt der Satz von Christa Wolf: »Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.« M. F.
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